Nachsicht

Denk oft zurück ins eigne Leben;
Verlang von Andern nicht zu viel!
Du weißt, es führte dich dein Streben
Auch nur so nach und nach ans Ziel.
Du hast den Schwachen gern zu schonen;
Du wurdest doch wohl auch geschont.
Die Liebe wird bei ihm sich lohnen,
Wie sie sich einst bei dir gelohnt.
Und bist du auch nicht ganz zufrieden
Mit dem, was er für dich gemacht,
Wir Menschen sind ja so verschieden:
Er hat es anders sich gedacht.
[305]
Du solltest dich darüber freuen,
Daß er dir guten Willen zeigt.
Auch du hast Manches zu bereuen,
Auch dir fiel wohl nicht Alles leicht.
Drum laß den Zorn nicht überfließen;
Ueb immer Nachsicht, hab Geduld;
Denn, wenn dich Etwas will verdrießen,
Bist du vielleicht auch selbst mit schuld.
[306]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). May, Karl. Gedichte. Himmelsgedanken. Nachsicht. Nachsicht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2D27-2