Neuntes Kapitel
Die Geschichte Don Alphonsos und der schönen Seraphine
Ich will Euch nichts verhehlen, mein Vater, sowenig wie diesem Kavalier, der mir zuhört; nachdem er sich so großherzig gezeigt hat, täte ich unrecht, ihm zu mißtrauen. Ich [214] will Euch mein Unglück erzählen. Ich bin aus Madrid, und meine Herkunft ist die folgende: Ein Offizier der deutschen Garde, der Baron von Steinbach, fand eines Abends, als er nach Hause kam, am Fuß der Treppe ein weißes Wäschebündel. Er nahm es auf und trug es zu seiner Frau ins Zimmer, und dort stellte sich heraus, daß es ein neugeborenes Kind war, eingehüllt in sehr sauberes Linnen; dabei lag ein Brief, nach dem es vornehmen Leuten gehörte, die sich eines Tages zu erkennen geben würden; man fügte hinzu, das Kind sei getauft und habe den Namen Alphonso erhalten. Dies unglückliche Kind bin ich, und das ist alles, was ich weiß. Als ein Opfer der Ehre oder der Untreue weiß ich nicht, ob meine Mutter mich nur ausgesetzt hat, um schmähliche Liebe zu verbergen, oder ob sie sich, von einem meineidigen Geliebten verführt, in der grausamen Notlage gesehen hat, mich verleugnen zu müssen.
Wie dem auch sei, den Baron und seine Frau rührte mein Schicksal; und da sie keine Kinder hatten, beschlossen sie, mich unter dem Namen Don Alphonso aufzuziehen. Je älter ich wurde, um so mehr begannen sie an mir zu hängen, und sie erwiderten mein einschmeichelndes, gefälliges Wesen mit Liebkosungen; kurz, ich war glücklich genug, mir ihre Liebe zu gewinnen. Meine Erziehung wurde zu ihrer einzigen Sorge; und statt voll Ungeduld darauf zu warten, daß meine Eltern sich zu erkennen geben würden, schienen sie vielmehr zu wünschen, daß meine Geburt ein ewiges Rätsel bliebe. Sobald der Baron sah, daß ich die Warfen zu tragen imstande war, schickte er mich in den Kriegsdienst. Er erwirkte mir eine Fähnrichsstelle, ließ mir eine Kriegsausrüstung besorgen und stellte mir, um mich für die Fahrt nach dem Ruhm zu begeistern, vor, daß die Laufbahn der Ehre aller Welt offenstehe und daß ich mir im Kriege einen um so ruhmreicheren Namen erwerben könnte, als ich ihn einzig mir selber verdanken würde. Zugleich offenbarte er mir das Geheimnis [215] meiner Geburt, das er mir bisher verborgen hatte. Da ich in Madrid als sein Sohn galt und da ich mich wirklich dafür gehalten hatte, so will ich Euch gestehn, daß mir diese Enthüllung großen Schmerz bereitete. Ich konnte und kann noch jetzt nicht ohne Scham daran denken. Je mehr mich mein Gefühl überzeugte, daß ich edlen Ursprungs sei, um so weniger begriff ich, daß mich die, denen ich das Leben dankte, im Stiche ließen.
Ich diente in den Niederlanden, aber nach kurzer Zeit schon wurde der Friede geschlossen; und da Spanien nunmehr ohne Feind war, wenn auch nicht ohne Neider, so kehrte ich nach Madrid zurück, wo ich von dem Baron und seiner Frau erneute Zeichen der Liebe erhielt. Zwei Monate war ich schon zurück, als eines Morgens ein kleiner Page zu mir ins Zimmer trat, um mir ein Briefchen zu überbringen, das etwa folgende Worte enthielt: ›Ich bin weder häßlich noch mißgestaltet, und doch seht Ihr mich oft am Fenster, ohne mir Blicke zuzuwerfen. Dies Verhalten entspricht Eurer ritterlichen Erscheinung wenig, und es ärgert mich so, daß ich Euch aus Rache gern Liebe einflößen würde.‹
Ich zweifelte nicht, daß die Schreiberin eine Witwe namens Leonore war, die unserm Hause gegenüber wohnte und im Ruf einer großen Kokette stand. Ich fragte den kleinen Pagen aus, der erst den Verschwiegenen spielen wollte; aber für einen Dukaten befriedigte er meine Neugier. Er übernahm sogar eine Antwort, durch die ich seiner Herrin sagte, ich bekennte mein Verbrechen und fühlte schon, daß sie bereits zur Hälfte gerächt wäre.
Ich war nicht unempfindlich für diese Eroberung. Ich ging den Rest des Tages nicht aus und hielt mich am Fenster, um die Dame zu beobachten. Ich warf ihr Blicke zu; sie erwiderte sie; und gleich am folgenden Tage ließ sie mich durch ihren kleinen Pagen wissen, wenn ich in der nächsten Nacht zwischen elf und zwölf auf der Straße stehen wollte, so könne [216] ich sie am Fenster eines unteren Zimmers sprechen. Obgleich ich in eine so lebhafte Witwe nicht sehr verliebt war, schickte ich ihr doch eine leidenschaftliche Antwort, und ich erwartete die Nacht mit einer Ungeduld, als wäre ich wirklich sehr entflammt. Als sie hereinbrach, wollte ich bis zur Stunde des Stelldicheins im Prado spazierengehen. Ich war noch nicht dort, als plötzlich ein Reiter dicht neben mir von einem schönen Pferde sprang und mich schroff ansprach: Kavalier, sagte er, seid Ihr nicht der Sohn des Barons von Steinbach? Ja, gab ich zur Antwort. Ihr also, fuhr er fort, sollt heute nacht Leonore an ihrem Fenster unterhalten? Ich habe ihre Briefe und Eure Antworten gesehn; ihr Page hat sie mir gezeigt; und ich bin Euch heute abend von Eurem Hause aus gefolgt, um Euch zu sagen, daß Ihr einen Rivalen habt, dessen Eitelkeit sich dagegen empört, mit Euch um ein Herz zu streiten. Ich denke, mehr brauche ich nicht zu sagen. Wir sind an einem entlegenen Ort; zieht den Degen, wenn Ihr mir nicht, um der Züchtigung zu entgehn, versprecht, daß Ihr jeden Verkehr mit Leonore abbrechen wollt. Opfert mir die Hoffnungen, die Ihr hegt, oder ich werde Euch ums Leben bringen. Ihr hättet, sagte ich, um dieses Opfer bitten, nicht es fordern müssen. Eurer Bitte hätte ich vielleicht gewährt, was ich Eurer Drohung versage.
Gut! rief er, nachdem er sein Pferd an einen Baum gebunden hatte, also zieht! Es ziemt sich nicht für einen Mann meines Standes, daß er sich herabläßt, einen Mann von Eurem Stande zu bitten. Die meisten meinesgleichen würden sich an meiner Stelle sogar auf weniger ehrenvolle Weise rächen. Diese letzten Worte empörten mich, und da er den Degen schon gezogen hatte, so zog auch ich. Wir schlugen uns mit solcher Wut, daß der Kampf nicht lange währte. Sei es, daß er zu hitzig dranging, sei es, daß ich gewandter war als er, ich durchbohrte ihn bald mit tödlichem Stoß. Ich sah ihn wanken und stürzen. Da dachte ich nur noch an meine Rettung, [217] stieg auf sein Pferd und schlug die Straße nach Toledo ein. Ich wagte nicht mehr, zu dem Baron von Steinbach zurückzukehren, denn ich fürchtete, mein Abenteuer würde ihn nur betrüben; und wenn ich mir vorstellte, in welcher Gefahr ich schwebte, so glaubte ich, mich nicht schnell genug von Madrid entfernen zu können.
In traurigen Gedanken ritt ich den Rest der Nacht und den ganzen Vormittag weiter; aber um Mittag mußte ich haltmachen, um meinem Pferde Rast zu gönnen und um die furchtbare Hitze verstreichen zu lassen. Ich blieb bis zum Sonnenuntergang in einem Dorf; dann setzte ich in der Absicht, Toledo auf einen Ritt zu erreichen, meinen Weg wieder fort. Ich war schon bis Illescas und sogar zwei Meilen darüber hinaus gekommen, als mich gegen Mitternacht auf offenem Felde ein ähnliches Gewitter überraschte wie das heutige. Ich ritt an die Mauer eines Gartens heran, den ich dicht vor mir entdeckte; und da ich keinen bessern Schutz finden konnte, so drängte ich mich mit meinem Pferde an die Türe einer Halle am Ende der Mauer, über der sich ein Balkon befand. Als ich mich gegen die Tür lehnte, merkte ich, daß sie offen war; ich schob es auf die Nachlässigkeit der Diener. Ich saß ab, und weniger aus Neugier, als um vor dem Regen Schutz zu suchen, der mich auch unter dem Balkon noch traf, drang ich mit meinem Pferd, das ich am Zügel führte, in die Halle ein.
Während des Gewitters bemühte ich mich, zu erkennen, wo ich war, und obgleich ich nur beim Licht der Blitze sehen konnte, merkte ich bald, daß dieses Haus nicht gewöhnlichen Leuten gehören konnte. Mit dem Weiterreiten wollte ich noch warten, bis es aufhörte zu regnen, aber ein helles Licht, das ich in der Ferne sah, änderte meine Absichten. Ich ließ mein Pferd in der Halle, deren Tür ich schloß, und ging auf das Licht zu. Ich war überzeugt, daß man in diesem Hause noch wach war, und entschlossen, um eine Unterkunft für [218] die Nacht zu bitten. Nachdem ich mehrere Gänge durchschritten hatte, kam ich zu einem Salon, dessen Tür ich gleichfalls offen fand. Ich ging hinein, und als ich beim Licht eines Kronleuchters, auf dem mehrere Kerzen brannten, die ganze Pracht des Gemachs erblickte, zweifelte ich nicht mehr, daß ich bei einem großen Herrn war. Der Boden war aus Marmor, das Getäfel sauber und kunstreich vergoldet, das Gesims vortrefflich gearbeitet und die Decke offenbar das Werk der geschicktesten Maler. Ich hatte Muße, mir all das anzusehn, denn wie sehr ich auch horchte, ich hörte kein Geräusch und sah keinen einzigen Menschen.
Auf der einen Seite des Salons befand sich eine nur angelehnte Tür; ich öffnete sie und sah eine Flucht von Zimmern, deren letztes erst beleuchtet war. Was soll ich tun? fragte ich mich. Ich dachte, das klügste sei, umzukehren; aber ich konnte meiner Neugier, oder besser, der Gewalt meines Sterns, die mich fortzog, nicht widerstehn. Ich ging durch die Zimmer und kam zu dem, wo ich Licht sah: in einem vergoldeten Leuchter brannte auf einem Marmortisch eine Kerze. Zunächst bemerkte ich eine sehr elegante Sommereinrichtung, dann aber fiel mein Blick auf ein Bett, dessen Vorhänge der Hitze wegen halb zurückgeschlagen waren, und ich sah etwas, was meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Dort lag eine junge Dame trotz des Lärms des Donners in tiefem Schlaf. Ich trat ganz leise näher, und beim Licht der Kerze erkannte ich einen Teint und Züge, die mich blendeten. Meine Sinne verwirrten sich; ich fühlte mich hingerissen; aber wie sehr ich auch bewegt war, ich hatte eine zu hohe Meinung vom Adel ihres Blutes, um verwegene Gedanken zu fassen, und die Achtung siegte über die Empfindung. Während ich mich an dem Vergnügen berauschte, sie zu betrachten, erwachte sie.
Stellt Euch ihre Überraschung vor, als sie mitten in der Nacht einen Fremden in ihrem Zimmer sah. Sie zitterte und stieß [219] einen lauten Schrei aus. Ich bemühte mich, sie zu beruhigen, und indem ich ein Knie zur Erde bog, sagte ich: Gnädige Frau, fürchtet nichts; ich komme nicht her, um Euch zu schaden! Ich wollte fortfahren, aber sie war so entsetzt, daß sie mich nicht anhörte. Sie rief wiederholt nach ihren Frauen, und da ihr niemand Antwort gab, ergriff sie ein leichtes Gewand, das am Fuß ihres Bettes lag, sprang auf und eilte durch die Räume, durch die ich gekommen war; immer noch rief sie nach ihren Mädchen und einer jüngern Schwester, die unter ihrer Obhut stand. Ich erwartete, alle Diener erscheinen zu sehn, und ich hatte Grund zu der Befürchtung, sie würden mir, ohne mich anzuhören, übel mitspielen; aber zu meinem Glück erschien auf all ihre Rufe nur ein alter Diener, der ihr keine große Hilfe gewesen wäre, hätte sie etwas von mir zu befürchten gehabt. Aber sie wurde doch durch seine Anwesenheit etwas kühner und fragte mich schroff, wer ich wäre und weshalb ich die Dreistigkeit besäße, in ihr Haus einzudringen. Da begann ich meine Rechtfertigung; und kaum hatte ich ihr gesagt, ich hätte die Tür der Halle offen gefunden, so rief sie aus: Gerechter Himmel! Welcher Verdacht kommt mir in den Sinn!
Mit diesen Worten setzte sie die Kerze auf den Tisch, lief durch alle Zimmer und fand weder ihre Frauen noch ihre Schwester; sie sah sogar, daß sie alle ihre Sachen mitgenommen hatten. Da schien ihr der Argwohn nur allzusehr bestätigt; sie kehrte zu mir zurück und sagte in großer Erregung: Ehrloser! füge nicht die Lüge zum Verrat! Nicht der Zufall hat dich hierher gebracht: du gehörst zum Gefolge Don Fernando de Leyvas, und du hast teil an seinem Verbrechen. Aber hoffe nicht, mir zu entgehn; mir bleiben noch Leute genug, dich zu verhaften. Gnädige Frau, erwiderte ich, verwechselt mich nicht mit Euren Feinden. Ich kenne Don Fernando de Leyva nicht; ich weiß nicht einmal, wer Ihr seid. Ich bin ein Unglücklicher, den ein Ehrenhandel zur [220] Flucht aus Madrid zwingt; und ich schwöre bei allem, was heilig ist, ich wäre ohne das Gewitter nicht hier eingedrungen. Beurteilt mich günstiger; statt mich für den Mitschuldigen eines Verbrechens zu halten, glaubt mir vielmehr, daß ich Euch zu rächen bereit bin. Diese Worte und der Ton, in dem ich sprach, beruhigten die Dame, die mich nicht mehr als ihren Feind zu betrachten schien. Aber nun, als ihr Zorn gewichen war, gab sie sich ihrem Schmerz hin. Sie begann bitterlich zu weinen. Ihre Tränen rührten mich, und ich war kaum weniger bekümmert als sie, obgleich ich den Grund ihres Kummers noch nicht kannte. Ja, voll Ungeduld, den ihr angetanen Schimpf zu rächen, fühlte ich mich von einer Regung der Wut erfaßt. Gnädige Frau, rief ich aus, welche Schmach habt Ihr erfahren? Redet! Ich mache Euren Groll zu dem meinen. Wollt Ihr, daß ich dem Don Fernando nachsetze und ihm das Herz durchbohre? Nennt mir alle, die ich Euch opfern soll: befehlt! Welche Gefahren und welches Unheil sich auch an die Rache knüpfen mögen, dieser Fremde, den Ihr Euren Feinden verbündet glaubt, wird sich ihnen gern für Euch aussetzen.
Der Ausbruch überraschte die Dame und unterbrach den Strom ihrer Tränen. Ach, edler Herr, sagte sie, entschuldigt meinen Argwohn mit der grausamen Lage, in der ich mich befinde. Diese hochherzige Gesinnung klärt Seraphine auf; ja, sie befreit mich von der Scham, daß ein Fremder Zeuge eines Schimpfes ist, der meiner Familie widerfährt. Ja, edler Unbekannter, ich erkenne meinen Irrtum, und ich weise Eure Hilfe nicht zurück; aber ich verlange nicht Don Fernandos Tod. Nun, gnädige Frau, versetzte ich, welche Dienste wollt Ihr von mir fordern? Herr, erwiderte Seraphine, hört, worüber ich klage: Don Fernando de Leyva liebt meine Schwester Julia, die er zufällig in Toledo sah, wo wir gewöhnlich wohnen. Vor drei Monaten erbat er sie vom Grafen von Polan, meinem Vater, zur Frau; der aber wies ihn wegen einer [221] alten Feindschaft zwischen unsern Häusern ab. Meine Schwester ist noch nicht fünfzehn Jahre alt; sie wird schwach genug gewesen sein, dem schlimmen Rat meiner Frauen zu folgen, die Don Fernando zweifellos für sich gewonnen hatte; und dieser Kavalier hat, als er erfuhr, daß wir in diesem Landhaus allein seien, diese günstige Gelegenheit benutzt, sie zu entführen. Ich möchte wenigstens wissen, welchen Zufluchtsort er für sie ausersehen hat, damit mein Vater und mein Bruder, die seit zwei Monaten in Madrid sind, ihre Maßregeln danach treffen können. Im Namen Gottes, fügte sie hinzu, macht Euch die Mühe und durcheilt die Umgebung von Toledo und forscht nach dieser Entführung; möge meine Familie Euch das zu danken haben!
Die Dame vergaß, daß ein derartiger Auftrag kaum für einen Menschen paßte, der Kastilien nicht schnell genug verlassen konnte; aber wie hätte sie sich das überlegen sollen! Ich dachte ja selber nicht daran.
Entzückt von dem Glück, dem liebenswertesten Wesen der Welt notwendig zu sein, nahm ich den Auftrag begeistert an und versprach, mich seiner mit so viel Eifer wie Eile zu entledigen. Wirklich wartete ich den Tag nicht erst ab; ich verließ Seraphine auf der Stelle, indem ich sie beschwor, mir die Angst, die ich ihr verursacht hatte, zu vergeben, und ihr versicherte, sie werde bald Nachricht von mir haben. Ich ging auf demselben Wege, auf dem ich gekommen war, aber ich war so mit der Dame beschäftigt, daß ich unschwer merkte, wie sehr ich schon in sie verliebt war. Ich erkannte es noch mehr an dem Eifer, mit dem ich für die Dame dahinritt, und an den verliebten Träumereien, denen ich mich hingab. Ich stellte mir vor, Seraphine habe trotz ihres Schmerzes meine aufkeimende Liebe bemerkt und sie vielleicht nicht ohne Freude gesehen. Ich bildete mir sogar ein, wenn ich ihr sichere Nachricht von ihrer Schwester bringen könnte und alles nach ihren Wünschen ginge, so würde mir die ganze Ehre zufallen.
[222] Den Geist von diesen schmeichlerischen Bildern erhitzt, suchte ich Julias Räuber zwei Tage lang, ohne die geringste Spur von ihm zu finden. Sehr betrübt über die Fruchtlosigkeit meiner Nachforschungen kehrte ich zu Seraphine zurück, die ich mir in tödlicher Unruhe ausmalte. Aber ich fand sie ruhiger, als ich dachte. Sie sagte mir, sie sei glücklicher gewesen als ich: sie wüßte, was aus ihrer Schwester geworden sei; sie hätte von Don Fernando selber einen Brief erhalten, in dem er ihr schriebe, er hätte Julia heimlich geheiratet und sie dann in ein toledanisches Kloster geführt. Ich hoffe, alles wird in Güte enden, fuhr Seraphine fort; ich habe seinen Brief an meinen Vater geschickt, und hoffentlich wird eine feierliche Hochzeit den Haß, der unsre Häuser trennt, überbrücken.
Dann sprach die Dame von den Anstrengungen und Gefahren, denen sie mich unklugerweise ausgesetzt hätte, ohne daran zu denken, daß ich infolge eines Ehrenhandels floh. Sie entschuldigte sich mit den liebenswürdigsten Worten. Da ich Ruhe brauchte, so führte sie mich in den Salon, wo wir uns beide setzten. Sie trug ein Hauskleid aus weißem Taft mit schwarzen Streifen, einen kleinen Hut aus gleichem Stoff und mit schwarzen Federn. Ich schloß daraus, sie könnte Witwe sein; aber sie schien mir so jung, daß ich nicht wußte, was ich davon halten sollte.
Wenn es mich nach Aufklärung verlangte, so war sie nicht minder begierig zu hören, wer ich wäre. Sie bat mich, ihr meinen Namen zu nennen, denn, sagte sie, nach meinem edlen Äußern und mehr noch nach dem hochherzigen Mitleid, das mich für ihre Interessen gewonnen habe, zweifle sie nicht, daß ich aus angesehener Familie sei. Die Frage machte mich verlegen: ich errötete, ich wurde verwirrt. Ich will gestehen, ich schämte mich weniger der Lüge als der Wahrheit und sagte, ich sei der Sohn des Barons von Steinbach, eines Offiziers der deutschen Garde. Sagt mir, fuhr die Dame [223] fort, weshalb Ihr Madrid verlassen habt. Ich biete Euch im voraus die ganze Hilfe meines Vaters sowie Don Kaspars, meines Bruders, an. Und als ich ihre Neugier befriedigt hatte, bat ich sie, die meine zu stillen. Ich fragte sie, ob sie frei sei oder gebunden. Vor drei Jahren, erwiderte sie, zwang mich mein Vater, Don Diego de Lara zu heiraten, und seit fünfzehn Monaten bin ich Witwe. Sie fügte noch mancherlei über den sonderbaren Charakter ihres Mannes hinzu, den sie nicht hatte lieben können und der den Tod in der Schlacht gesucht hatte, um sie von sich zu befreien, als ein Kurier eintraf und unsre Unterhaltung unterbrach. Er überreichte Seraphine einen Brief des Grafen von Polan. Sie bat mich um Erlaubnis, ihn zu lesen; und ich merkte, daß sie während des Lesens erbleichte und zu zittern begann. Sie hob die Augen zum Himmel, stieß einen tiefen Seufzer aus, und in einem Augenblick bedeckte sich ihr Gesicht mit Tränen. Ich konnte ihren Schmerz nicht ruhig mit ansehn. Ich wurde verwirrt, und als hätte ich den Schlag, der mich treffen sollte, schon geahnt, erstarrte ich in einem plötzlichen Angstgefühl. Gnädige Frau, sagte ich mit fast erloschener Stimme, darf ich Euch fragen, welches Unheil dieser Brief Euch meldet? Lest selber, was mein Vater mir schreibt, sagte sie traurig und reichte mir den Brief. Es geht Euch nur zu persönlich an!
Bei diesen Worten erzitterte ich; ich nahm den Brief und las: ›Don Kaspar, Euer Bruder, hat sich gestern im Prado geschlagen. Er erhielt einen Degenstich, an dem er heute gestorben ist. Auf dem Sterbebett hat er erklärt, der Kavalier, der ihn getötet habe, sei der Sohn des Barons von Steinbach, eines Offiziers der deutschen Garde. Das Schlimmste bleibt, daß mir der Mörder entschlüpft ist. Er hat die Flucht ergriffen; aber wo er sich auch verbergen mag, ich werde nichts versäumen, um ihn zu entdecken. Ich will an ein paar Gouverneure schreiben, die nicht verfehlen werden, ihn verhaften zu lassen, wenn er durch die Städte ihrer Rechtsprechung [224] kommt, und durch weitere Briefe werde ich ihm alle andern Wege sperren. Graf von Polan.‹
Stellt Euch vor, in welchen Aufruhr dieser Brief all meine Sinne versetzte. Ich war ein paar Augenblicke starr und außerstande, zu sprechen. In meiner Hilflosigkeit stellte ich mir vor, wie grausam dieser Tod Don Kaspars meine Liebe durchkreuzte. Plötzlich faßte mich wilde Verzweiflung. Ich warf mich Seraphine zu Füßen und hielt ihr meinen blanken Degen hin. Gnädige Frau, rief ich, erspart dem Grafen von Polan die Mühe, einen Menschen zu suchen, der sich seinen Streichen entziehen könnte. Rächt Euren Bruder selbst, opfert ihm seinen Mörder mit eigner Hand: stoßt zu! Dasselbe Eisen, das ihm das Leben nahm, werde seinem unseligen Feind verhängnisvoll. Edler Herr, erwiderte Seraphine ein wenig gerührt, ich liebte Don Kaspar; obgleich Ihr ihn als tapferer Mann getötet habt und obgleich er sich sein Unglück selber zuzog, müßt Ihr überzeugt sein, daß ich den Groll meines Vaters teile. Ja, Don Alphonso, ich bin Eure Feindin, und ich werde alles gegen Euch tun, was Blut und Freundschaft von mir verlangen können: aber ich will Euer Unglück nicht mißbrauchen; wenn mich die Ehre gegen Euch bewaffnet, so verbietet sie mir auch eine feige Rache. Die Rechte der Gastfreundschaft müssen unverletzlich bleiben, und ich will den Dienst, den Ihr mir geleistet habt, nicht mit einem Meuchelmord vergelten. Flieht! Entzieht Euch, wenn Ihr es könnt, unsrer Verfolgung und der Strenge der Gesetze und rettet Euer Haupt vor der Gefahr, die ihm droht.
Wie! rief ich aus, Ihr könnt Euch selber rächen und überlaßt es den Gesetzen, die Euren Zorn vielleicht enttäuschen werden! Nein, gnädige Frau, nicht gegen mich schlagt ein so edles Verfahren ein. Wißt Ihr, wer ich in Wahrheit bin? Ganz Madrid hält mich für einen Sohn des Barons von Steinbach, aber ich bin nur ein Unglücklicher, den er aus Mitleid aufgezogen [225] hat. Ich weiß nicht einmal, wer die Urheber meines Daseins sind. Einerlei, unterbrach Seraphine mich, als bereiteten ihr meine Worte neuen Schmerz, und wäret Ihr der geringste der Menschen, ich würde tun, was die Ehre vorschreibt. Nun, gnädige Frau, rief ich, wenn der Tod eines Bruders Euch nicht zum Blutvergießen zu treiben vermag, so will ich Euren Haß durch eine neues Verbrechen stacheln, dessen Verwegenheit Ihr, so hoffe ich, nicht entschuldigen werdet. Ich bete Euch an: ich habe Eure Reize nicht sehen können, ohne daß sie mich blendeten; und trotz der Dunkelheit meiner Geburt hatte ich die Hoffnung zu Euch erhoben. Dies verwegene Geständnis, versetzte die Dame, würde mich ohne Zweifel zu andrer Zeit verletzen, heute halte ich es Eurer Erregung zugute. Nochmals, fuhr sie fort, indem sie einige Tränen vergoß, verlaßt ein Haus, das Ihr mit Schmerz erfüllt; jeder Augenblick, den Ihr bleibt, vermehrt meine Qual. Ich widersetze mich nicht mehr, gnädige Frau, sagte ich, indem ich aufstand; ich muß Euch verlassen; aber glaubt nicht, ich werde, besorgt um ein Leben, das Euch verhaßt ist, eine Zuflucht suchen, wo ich in Sicherheit bin. Nein, nein; ich widme mich Eurer Rache. Ich werde voll Ungeduld in Toledo auf das Schicksal warten, das Ihr mir bestimmt.
Mit diesen Worten zog ich mich zurück. Man brachte mir mein Pferd, und ich begab mich nach Toledo, wo ich acht Tage blieb und wo ich mir wirklich so wenig Mühe gab, mich zu verbergen, daß ich nicht weiß, weshalb ich nicht verhaftet wurde; denn ich kann nicht glauben, daß der Graf von Polan, der daran denkt, mir alle Straßen zu sperren, nicht daran gedacht haben sollte, daß ich über Toledo reiten könnte. Das, mein Vater, ist meine Not. Ich bitte Euch, helft mir mit Eurem Rat.