Jakob Michael Reinhold Lenz
Über Götz von Berlichingen

[378] Wir werden geboren – unsere Eltern geben uns Brot und Kleid – unsere Lehrer drücken in unser Hirn Worte, Sprachen, Wissenschaften – irgend ein artiges Mädchen drückt in unser Herz den Wunsch es eigen zu besitzen, es in unsere Arme als unser Eigentum zu schließen, wenn sich nicht gar ein tierisch Bedürfnis mit hineinmischt – es entsteht eine Lücke in der Republik wo wir hineinpassen – unsere Freunde, Verwandte, Gönner setzen an und stoßen uns glücklich hinein – wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die andern Räder und stoßen und treiben – bis wir wenn's noch so ordentlich geht abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen – das ist, meine Herren! ohne Ruhm zu melden unsere Biographie – und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglichkünstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser oder schlimmer hineinpaßt.

Kein Wunder, daß die Philosophen so philosophieren, wenn die Menschen so leben. Aber heißt das gelebt? heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbstständige Existenz, den Funken von Gott? Ha er muß in was Besserm stecken, der Reiz des Lebens: denn ein Ball anderer zu sein, ist ein trauriger niederdrückender Gedanke, eine ewige Sklaverei, eine nur künstlichere, eine vernünftige aber eben um dessentwillen desto elendere Tierschaft. Was lernen wir hieraus? Das soll keine Deklamation sein, ihr Herren, wenn Ihr Gefühl Ihnen nicht sagt, daß ich recht habe, so verwünscht ich alle Rednerkünste, die Sie auf meine Partei neigten, ohne Sie überzeugt zu haben. Was lernen wir hieraus? Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, [378] nicht spitzfündeln, daß wir dadurch allein Gott ähnlich werden, der unaufhörlich handelt und unaufhörlich an seinen Werken sich ergötzt: das lernen wir daraus, daß die in uns handelnde Kraft, unser Geist, unser höchstes Anteil sei, daß die allein unserm Körper mit allen seinen Sinnlichkeiten und Empfindungen das wahre Leben, die wahre Konsistenz den wahren Wert gebe, daß ohne denselben all unser Genuß all unsere Empfindungen, all unser Wissen doch nur ein Leiden, doch nur ein aufgeschobener Tod sind. Das lernen wir daraus, daß diese unsre handelnde Kraft nicht eher ruhe, nicht eher ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, als bis sie uns Freiheit um uns her verschafft, Platz zu handeln: Guter Gott Platz zu handeln und wenn es ein Chaos wäre das du geschaffen, wüste und leer, aber Freiheit wohnte nur da und wir könnten dir nachahmend drüber brüten, bis was herauskäme – Seligkeit! Seligkeit! Göttergefühl das!

Verzeihn Sie meinen Enthusiasmus! Man kann nicht [zu] enthusiastisch von den Sachen sprechen; da unsere Gegner soviel Feuer verschwenden, uns das Leiden süß und angenehm vorzustellen, sollen wir nicht aus Himmel und Hölle Feuer zusammenraffen um das Tun zu empfehlen? Da stehn unsre heutigen Theaterhelden und verseufzen ihre letzte Lebenskraft einer bis über die Ohren geschminkten Larve zu gefallen – Schurken und keine Helden! was habt ihrgetan, daß ihr Helden heißt?

Ich will mich bestimmter erklären. Unsre heutigen Schaubühnen wimmeln von lauter Meisterstücken, die es aber freilich nur in den Köpfen der Meister selber sind. Doch das bei Seite, sein sie was sie sein was geht's mich an? Laßt uns aber einen andern Weg einschlagen, meine Brüder, Schauspiele zu beurteilen, laßt uns einmal auf ihre Folgen sehen, auf die Wirkung die sie im Ganzen machen. Das denk ich ist doch gewiß wohl der sicherste Weg. Wenn ihr einen Stein ins Wasser werft, so beurteilt ihr [379] die Größe Masse und Gewicht des Steins nach den Zirkeln die er im Wasser beschreibt. Also sei unsere Frage bei jedem neuen herauskommenden Stück das große, das göttliche Cui bono? Cui bono schuf Gott das Licht: daß es leuchte und wärme, cui bono die Planeten: daß sie uns Zeiten und Jahre einrichteten, und so geht es unaufhörlich in der Natur, nichts ohne Zweck, alles seinen großen vielfachen nie von menschlichem Visierstab, nie von englischem Visierstab ganz auszumessenden Zweck. Und wo fände der Genius ein anderes, höheres, tieferes, größeres, schöneres Modell als Gott und seine Natur?

Also cui bono? was für Wirkung? die Produkte all der tausend französischen Genies auf unsern Geist, auf unser Herz, auf unsre ganze Existenz? Behüte mich der Himmel, ungerecht zu sein. Wir nehmen ein schönes wonnevolles süßes Gefühl mit nach Hause, so gut als ob wir eine Bouteille Champagner ausgeleert – aber das ist auch alles. Eine Nacht drauf geschlafen und alles ist wieder vertilgt. Wo ist der lebendige Eindruck, der sich in Gesinnungen, Taten und Handlungen hernach einmischt, der prometheische Funken der sich so unvermerkt in unsere innerste Seele hineingestohlen, daß er wenn wir ihn nicht durch gänzliches Stilliegen in sich selbst wieder verglimmen lassen, unser ganzes Leben beseligt; das also sei unsre Gerichtswaage nach der wir auch mit verbundenen Augen den wahren Wert eines Stücks bestimmen. Welches wiegt schwerer, welches hat mehr Gewicht Macht und Eindruck auf unsre Meinungen und Handlungen? Und nun entscheiden Sie über Götz. Und ich möchte dem ganzen deutschen Publikum wenn ich so starke Stimme hätte, zurufen: Samt und sonders ahmt Götzen erst nach, lernt erst wieder denken, empfinden, handeln, und wem ihr euch wohl dabei befindet, dann entscheidt über Götz.

Also meine werten Brüder! nun ermahne und bitte ich euch laßt uns dies Buch nicht gleich nach der ersten Lesung ungebraucht aus der Hand legen, laßt uns den Charakter [380] dieses antiken deutschen Mannes erst mit erhitzter Seele erwägen und wenn wir ihn gutfinden, uns eigen machen, damit wir wieder Deutsche werden, von denen wir so weit weit ausgeartet sind. Hier will ich euch einige Züge davon hinwerfen. Ein Mann der weder auf Ruhm noch Namen Anspruch macht, der nichts sein will als was er ist: ein Mann. – Der ein Weib hat, seiner wert, nicht durch Schmeichelei sich erbettelt, sondern durch Wert sich verdient – eine Familie, einen Zirkel von Freunden, die er alle weit stärkerer liebt, als daß er's ihnen sagen könnte, für die er aber tut – alles dran setzt ihnen Friede, Sicherheit für fremde ungerechte Eingriffe, Freude und Genuß zu verschaffen – sehen Sie da ist der ganze Mann, immer weg geschäftig, tätig, wärmend und wohltuend wie die Sonne, aber auch eben so verzehrendes Feuer, wenn man ihm zu nahe kommt – und am Ende seines Lebens geht er unter wie die Sonne, vergnügt, bessere Gegenden zu schauen, wo mehr Freiheit ist, als er hier sich und den Seinigen verschaffen konnte, und läßt noch Licht und Glanz hinter sich. Wer so gelebt hat, wahrlich der hat seine Bestimmung erfüllt, Gott du weißt es wie weit, wie sehr, er weiß nur soviel davon als genug ist ihn glücklich zu machen. Denn was in der Welt kann wohl über das Bewußtsein gehen, viel Freud angerichtet zu haben.

Wir sind alle, meine Herren! in gewissem Verstand noch stumme Personen auf dem großen Theater der Welt, bis es den Direkteurs gefallen wird uns eine Rolle zu geben. Welche sie aber auch sei, so müssen wir uns doch alle bereit halten in derselben zu handeln, und jenachdem wir besser oder schlimmer, schwächer oder stärker handeln, jenachdem haben wir hernach besser oder schlimmer gespielt, jenachdem verbessern wir auch unser äußerliches und innerliches Glück.

Was könnte eine schönere Vorübung zu diesem großen Schauspiel des Lebens sein, als wenn wir da uns itzt noch [381] Hände und Füße gebunden sind, in einem oder andern Zimmer unsern Götz von Berlichingen, den einer aus unsern Mitteln geschrieben, eine große Idee – aufzuführen versuchten. Lassen Sie mich für die Ausführung dieses Projekts sorgen, es soll gar soviel Schwürigkeiten nicht haben als Sie sich anfangs einbilden werden. Weder Theater noch Kulisse noch Dekoration – es kommt alles auf Handlung an. Wählen Sie sich die Rollen nach Ihrem Lieblingscharakter, oder erlauben Sie mir sie auszugeben. Es wird in der Tat ein sehr nützlich Amüsement für uns werden. Durchs Nachahmen durchs Agieren drückt sich der Charakter tiefer ein. Und Amüsement soll es gewiß dabei sein, da bin ich Ihnen gut vor, größer als Sie es jetzt sich jemals vorstellen können. Aber nur Ernst und Nachdruck bitt ich mir dabei von Ihnen aus, denn meine Herren Sie sind jetzt Männer – und ich hoff ich habe nicht mehr nötig, Ihnen den Ausspruch des Apostels Pauli zuzurufen: Als ich ein Kind war tat ich wie ein Kind, als ich aber ein Mann ward, legt ich das Kindische ab. Wenn jeder in seine Rolle ganz eindringt und alles draus macht was draus zu machen ist – denken Sie meine Herren! welch eine Idee! welch ein Götterspiel! Da braucht's weder Vorhang noch Bänke! Wir sind über die Außenwerke weg. Zwei Flügeltüren zwischen jeder Szene geöffnet und zugeschlossen – die Akte können wir allenfalls durch eine kleine Musik aus unsern eigenen Mitteln unterscheiden – Und kein Sterblicher darf zu unsern Eleusinis, bevor wir die Probe ein drei- viermal gemacht – und dann eingeladen alles was noch einen lebendigen Odem in sich spürt – das heißt, Kraft Geist und Leben um mit Nachdruck zu handeln.


Tantum

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Lenz, Jakob Michael Reinhold. Essays und Reden. Über Götz von Berlichingen. Über Götz von Berlichingen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E223-3