Friedrich Maximilian Klinger
Geschichte eines Teutschen
der neusten Zeit

[215] Erstes Buch
1.

Der teutsche Mann, dessen Geschichte ich, aus mir selbst aufgelegter Pflicht, zu schreiben unternommen habe, ist durch seine ihm eigne Denkungsart und besondre Stimmung des Herzens ebenso merkwürdig als durch sein Schicksal. Für mich war er eine Erscheinung in der moralischen Welt, einem Luftzeichen ähnlich, das durch seinen strahlenden Ausfluß die Augen so lange ergötzt, als es sich noch am fernen Horizont bildet; zieht es aber im düstern Dunstkreise den Bogen des Himmels herauf, so fliehet der Haufen vor der ihm zweideutigen Erscheinung, und nur der Kundige freut sich, wenn auch unter kleinem Schauder, eine nicht alltägliche Wirkung der Natur gesehen zu haben. Unter diesem Bilde stelle ich euch Ernst von Falkenburg als Jüngling und Mann dar. Als er in blühender Jugend die Bahn des tätigen Lebens betrat, zog er die Blicke der Menschen auf sich; als er aber die Mitte derselben kaum erreicht hatte und Bosheit und Wahnsinn seinen Glanz verdunkelten, ward er eben diesen Menschen ein Gegenstand des Schreckens, des Abscheus. Was er dem Kundigen werden wird, hängt von dieser Geschichte ab. Hier, wo nur Wahrheit spricht, wo nur sie Zweck ist, zieht sich der Schriftsteller zurück.

Von ihr allein geleitet, soll und muß ich dartun, warum, wie und wodurch Ernst von Falkenburg aus dem mildesten, freundlichsten und edelsten Jüngling ein Mann geworden ist, den man in den Gegenden seines Aufenthalts nur zu nennen braucht, um die Herzen erkalten oder ergrimmen zu sehen; den man nie nennt, ohne daß eben die Lippen, welche einst nie ermüdeten ihn lobzupreisen, den Spruch des Hasses und der Verwerfung über ihn aussprechen.

Ich muß der Welt zeigen, warum ihn seine Lästrer verkennen, und es soll aus seiner Geschichte hervorgehen, daß keiner der ihn so schnöde und schonungslos Richtenden je nur das erhabene Gefühl geahndet hat, das sein Führer im Leben war, welches [215] ihn nun auf einen Punkt des moralischen Daseins geführt hat, worauf ich ihn zwar mit ängstlichem Schauder, aber mit dem Schauder, den Bewunderung erzeugt, stehen sehe. Seine Lästrer sollen einsehen, daß er sich selbst nie untreu ward, daß er sich noch jetzt treu ist und daß sie in dem Verdammungsspruch über ihn nur sich, ihrem Wahne und ihrem gesamten Wesen, Denken und Tun das Urteil sprechen. Doch diejenigen, mit welchen er nie etwas gemein hatte als die Erde, die sein Fuß nur betrat, sie, deren Weg von dem seinen so weit entfernt liegt als die Heerstraße, die der Karrnführer im nassen Herbste durchackert, von der Sonnenbahn, auf welcher der Gott des Lichts seinen fliegenden, feurigen Wagen lenkt, werde ich ihm schwerlich zuführen. Auch kümmert mich ihr Urteil ebenso wenig als den Mann, von dem ich zu euch rede, und ich halte mich für belohnt genug, wenn ich für ihn die Teilnahme, das Mitleiden, die richtige Erkenntnis seines Zustands einiger Edlen unseres Volks gewinne. Mit ihnen war er immer verwandt und ist es jetzt noch, da er, getragen von dem Gefühl, wodurch er ihnen gleicht, über der Brandstätte seines herrlichen jugendlichen Gebäudes emporgehalten schwebt und sein düstrer männlicher Geist über die Leiche des Jünglings stille klagt, der unter dem dampfenden Moder in Asche zerfiel. Nie konnte er ganz fallen, weil er fühlte, was er als Jüngling war, was ihn als Jüngling beglückte, weil er über den Schauplatz von seinem einsamen Schlosse hinsieht, auf welchem seine schönen blühenden Jugendträume, seine edlen Entwürfe und die versprechenden Keime uneigennütziger Tugenden entstanden, sich bildeten und entwickelten.

In diesen muß ich euch führen; denn der Schauplatz der Jugend hat auf Menschen der Art, wie der Mann ist, dessen Seele ich euch nun zu enthüllen beginne, nicht mindern Einfluß als die Felsenklippen in der Einöde, zwischen welchen der Adler nistet, und der Myrtenbusch im geselligen Rosengarten, auf welchem die Nachtigall den jungen Sänger der Liebe erzieht, auf die Brut des Königs der Luft und die Brut des Sängers der zärtlichen Gefühle.

[216] 2.

Nicht weit von den Ufern des *** Flusses lag auf einer Anhöhe das Schloß der Herren von Falkenburg, seit Jahrhunderten im Besitze dieses edlen Geschlechts. Ein biedrer, treuer teutscher Sinn hatte mit dem alten, festen Felsenschlosse in diesem Geschlechte fortgeerbt und wurde vermutlich dadurch so unverfälscht erhalten, daß sie den größten Teil ihres Lebens hier zubrachten. Ein dichter Eichenwald, der unsern Urvätern, den alten Germaniern, Schatten verliehen zu haben schien, empfing den Knaben in seinem kühlen feierlichen Dunkel. Felsen, mit der Erde geboren, lockten ihn auf ihre Höhe, daß er von ihren Spitzen die Anmut, den Reichtum, die Herrlichkeit und Macht, womit die Natur die Gegend so schön und erhaben geschmückt hatte, in einem Überblicke genösse. Eine Höhle in dem nahen Gebirge, zu deren düsterem, weitklaffenden Schlunde man durch Felsenkrümmungen mühsam gelangte, in deren Mitte die Natur ein kühnes wunderbares Werk gebildet hatte, indem sie einen großen Raum zu einem Riesensaale wölbte und die ganze Masse des Gebirges auf ungeheure wild und regellos geformte und geordnete Säulen stellte, die verschlungen in labyrinthischen Gängen endlich zu einem Abgrunde führten, welcher sich, der Sage nach, weit unter dem Flusse weg verlor, lud die Seele des Jünglings zum Nachsinnen über die dunkeln Geheimnisse der Ober- und Unterwelt und ihre mächtigen, unfaßlichen Kräfte ein. Fleiß und Kunst hatten die wilden Striche der Gegend mit Wiesen, Feldern und anmutigen Gärten durchschnitten. Betriebsame, gesunde und ruhige Bewohner belebten diesen großen und lieblichen Schauplatz und prägten dem heranwachsenden Jünglinge früh ein reines, sanftes, durch die glückliche Beschränktheit einfaches und leicht zu fassendes Bild des menschlichen Lebens in das zarte Herz.

Glückliche Bewohner dieses Bezirks! Ihr kanntet keine Klagen über die Menschheit und ihr Elend, da ihr ihre Torheiten, ihre Laster, ihren Wahn, die Quellen dieses Elends, nicht ahndetet. Euer froher Sinn, eure Genügsamkeit, eure Geduld und eure [217] Hoffnungen, bei dem unabänderlichen Leiden, das uns die Notwendigkeit aufgebürdet hat, um ihre geheimen Zwecke zu befördern, bewahrten selbst die Bewohner des Schlosses vor dem Mißbehagen, dem Mißmut, dem grämlichen Nachsinnen, nicht selten dem einzigen Gewinn des verfeinerten Teils der Bewohner der Erde. Ja selbst der Städter, der Welt- und der Hofmann vergaßen, wenn eure reine Luft sie anwehte, der große Schauplatz eures Wirkens sie in Erstaunen setzte und eure gesunden Kinder sie anlächelten, was sie Bittres in der Welt erfahren, was sie sich durch Wahn und rastloses Jagen nach Glück zugezogen und was sie der leicht- und tiefsinnige Philosoph über das Menschengeschlecht und seine Bestimmung gelehrt hatte. So ist das Leben auf dieser unsrer Mutter, der Erde, nur denen kein Rätsel, die sie im Schweiße ihres Angesichts bebauen.

Hier nun erblickte Ernst von Falkenburg das Licht der Welt, hier empfing seine Seele die ersten lebendigen und kräftigen Eindrücke der Natur und nahm für immer die Farbe der Gegenstände an, die ihn umgaben. Unter solchen Menschen keimten die ersten, einfachen, reinen, moralischen Gefühle und Gesinnungen in seinem Herzen auf. Sein Vater, der im *** Dienste beim Anfange des Siebenjährigen Kriegs so schwer verwundet ward, daß er jahrelang darnieder lag, erwählte nach seiner Wiedergenesung den ruhigern Reichsdienst, um wenigstens etwas für eine Verfassung zu tun, die er aus Vaterlandsliebe schätzte und als unmittelbarer Reichsritter, als Herr solcher Untertanen zu schützen alle Ursach hatte. Seinem Ernst gesellte er einen Jüngling zu, den ihm sein Jugendfreund und Dienstgefährte nach der blutigen Schlacht bei Zorndorf als Erbschaft hinterlassen hatte; und er erfüllte dessen Pflicht mit so vieler Treue und Zärtlichkeit, daß er das Glück genoß, Vater zweier hoffnungsvoller Söhne zu sein.

Diesen beiden Jünglingen gab er Hadem, den Feldprediger seines ehemaligen Regiments, zum Führer, den er wegen einiger nicht gewöhnlichen Taten nie vergessen konnte und den er für ebenso bescheiden, klug und rechtschaffen als unterrichtet hielt. Er machte ihm Bedingungen, wie sie der teutsche Adel selten[218] macht, und nahm ihn auf, wie der teutsche Adel selten Männer aufnimmt, denen sie so viel anvertrauen.

Hadem trat zu seinen Zöglingen mit Offenheit und Vertrauen und ward von ihnen in eben dem Geiste aufgenommen, mit welchem er sich ihnen nahte. Er faßte dadurch ein gutes Vorurteil für seinen Beruf und entdeckte bald mehr als er erwartete.

3.

Hadem ward früh gewahr, daß Ernstens Dasein und Wirken mehr in seinem Innern ruhte, sich mehr gegen dieses richtete als nach außen und um sich her. Er bemerkte schon in den ersten Tagen, daß er ohne Aufwand und Geräusche höher und tiefer empfand und dachte als Ferdinand von *** mit dem lebendigsten Ausguß und Gebrause einer feurigen Einbildungskraft; mit einem Worte, er sah, daß sich die Welt in der Seele Ernstens abspiegelte und Ferdinands Seele in der Welt. Er hielt diese Entdeckung für so wichtig, daß er seine Erziehung darauf bauen zu müssen glaubte. Fragen und Proben überzeugten ihn in kurzer Zeit, daß in Ernsten vermöge seiner moralischen Kraft der Stoff zu einem Manne verborgen läge, der einstens wohl das Wagestück mit seinen Sinnen, der Welt und dem Schicksale bestehen könnte; daß Ferdinand, mehr auf den Flügeln einer warmen Phantasie getragen, zwar kühnere Dinge unternehmen möchte, das Maß seiner moralischen Kraft aber sehr schwer mit der Leichtigkeit und Kühnheit seines Wollens und Begehrens in ein richtiges Verhältnis treten würde. Nach diesen Beobachtungen fürchtete er nur für den letztern. Er strebte nun, die moralische Kraft in Ernsten zu entwickeln, ihn durch dieselbe über alle Ereignisse des Schicksals zu erheben und in Ferdinand die Einbildungskraft mehr in Einverständnis mit der seinigen zu bringen, ihn so fest daran zu knüpfen, daß er bei den feurigen Aufwallungen der Begierden und den ersten Schlägen des Schicksals nicht erläge, jenen nicht auf Kosten seines bessern Werts nachgäbe oder vor diesen, um denselben hohen Preis, sich zu bergen suchte.

[219] In diesem Sinne unternahm Hadem die Bildung der Jünglinge; und da er mehr entwickelte als lehrte und nichts lehrte, was nicht mit seinem Hauptzwecke in Verbindung stand, so bildete sich der Geist aus der moralischen Kraft des Herzens, und jede neue Kenntnis und Anschauung dienten nur dazu, diese zu verstärken, zu erheben und zu veredeln. Durch den milden und schimmernden Glanz guter und großer Taten des Altertums und der neuern Zeit führte er sie mit der Erlernung der Sprachen zur Kenntnis der Welt und der Geschichte. Ferdinands lebhafte Einbildungskraft folgte der Bahn der Helden. Er erkämpfte ihre Siege mit ihnen, zog mit ihnen die Augen der Menschen auf sich, genoß ihres Ruhms, sprang an das Ziel, pflückte mit ihnen den Lorbeer, und, trunken von dem Siegesgeschrei, verblendet von dem Glanze der Taten, übersprang sein feuriger Geist die Mühe und Aufopferungen, die sie erforderten, übersah er die Mittel und die Folgen dieser täuschenden Taten für ihre Urheber, ihr Glück und das Glück ihrer Zeitgenossen. Nur auf dem Siegeswagen erblickte er die Helden der Vorwelt, und ihr schimmernder Glanz verbarg ihm sowohl ihr wahres Bild, als das Bild der echten Menschengröße.

In tiefer Stille aber betrat Ernstens Geist jenes Land der reinen, erhabenen Tugend, das die Menschen idealisch nennen, weil sie, versunken im Schlamme des Eigennutzes und der niedrigen Begierden, das Gefühl bis zur Ahndung verloren haben, daß der Mensch sich nur als Bewohner dieses Landes von den Tieren unterscheidet, daß wir dieses unsichtbare Land nicht nur ahnden, daß wir uns bis in sein innerstes Heiligtum schwingen können. Wer es erreicht hat, ist über das Schicksal erhaben, ihn tragen für immer die Fittiche der hohen und echten Begeistrung der Dichtkunst, die nur aus jenem Lande die Farben und die Kraft zu ihren Darstellungen erhält. Es eröffnet sich den Geistern der Geweihten in dem Augenblicke, da die moralische Kraft ihres Herzens die Wolken durchdringt und dort ihr Dasein mit höhern Zwecken verknüpft. Die dieses Land betreten, werden von der Beherrscherin desselben mit hohen Gesinnungen, mit unüberwindlichen Waffen zum Kampfe ausgerüstet, und ihre [220] Taten, ihre Gedanken und ihre Empfindungen tragen das unnachahmliche Merkzeichen ihres wiedererrungenen Vaterlands an sich. So sind alle großen und edlen Menschen, die von dem Wege des Haufens abtraten und Gutes, Wahres, Edles denken, tun und laut sagen, die Bewohner jenes unsichtbaren Landes, das die Menge nicht ahndet und durch dessen Einfluß gleichwohl auch sie von diesen unter sich verwandten Geistern zu den Zwecken geführt werden, welche der erhabenste Geist dem Menschengeschlecht dort aufgestellt hat. Daher entspringt das Eigentümliche, Kräftige, Feste und Sichre jener Dichter, tätiger Menschen und Helden, und umsonst bemühen sich alle andern, die sich über die Erde, ihre Verhältnisse und die Vorteile, die sie gewährt, nicht erheben, den sichern Schwung, die feste Haltung in Wort und Tat nachzuschweben oder nachzuahmen; ihre Handlungen, wie ihre Darstellung, sind nur Abdrücke ihres eignen, um sich besorgten Selbsts. Ihre kalte, berechnende Vernunft, die über Tat und Darstellung wuchernd und künstelnd dasitzt, entfernt den Geist jener Geweihten. Ernst drang in die Mitte dieses Heiligtums und ward da zum Dichter für dieses Leben eingeweiht. Ungern setze ich zur Erläuterung dieses Worts hinzu, daß er seine Gefühle weder in Versen noch in Prosa der Welt mitgeteilt hat, daß er Dichter in einem Sinne war, den ich nicht nötig hätte anzudeuten, wenn Dichter dieser Art so gemein wären, als es diejenigen sind, die sich darum Dichter nennen, weil sie die Spiele ihres Witzes und ihrer Phantasie in wohlklingenden Versen zur Schau ausstellen. Die Spuren der Theorie der Dichtkunst, von welcher ich rede, findet man ebenso selten in geistigen Darstellungen als in Taten und Handlungen; denn ich rede von der hohen moralischen Kraft, die allein den Helden und den Dichter macht und ohne welche es zwar mancher durch Talente und glückliche Umstände scheinen, aber nie es wirklich in seinem Innern sein kann.

Gleich der Tochter Jupiters, mit Schild und Speer bewaffnet, sprang die Göttin, welcher sich Ernst im stillen weihte, plötzlich aus seinem Herzen: mit dem Speer, um die niedrigen Ungeheuer, die Feinde des Lichts und der Wahrheit, zu bekriegen, [221] mit dem Schild, um den Liebling gegen die Pfeile des Schicksals, gegen die Angriffe des Neides und der Bosheit zu decken. So schwebte sie vor ihm, so wandelte er, ein anderer Telemach, an der Seite der unsichtbaren, erhabenen Führerin: von ihr war Hadem ihm zugesellt. Selbst in reifern Jahren verließ ihn dieses über ihm schwebende jugendliche Bild nicht; und oft, wenn ihn alles verließ, wenn er in Gefahr war, sich selbst zu verlassen, trat es in seiner ganzen Klarheit aus den verdunkelten Wolken hervor.

Schon lange war Ernst in dieses idealische Land gedrungen, schon hatte er sich dort angepflanzt, es gleich den Gärten der Hesperiden ausgeschmückt und mit den Geistern bevölkert, deren Asche um ihn her zu lebendigen Wesen wurde, ehe Hadem bemerkte, daß der Jüngling das Irdische übersprungen, das Land seines Ursprungs erobert hätte und sich dort an der Tafel der Unsterblichen labte.

Ein besondrer Vorfall mußte ihm dieses entdecken. Oft gingen die Jünglinge durch den Eichenwald, in welchem ihre Phantasie die vergangenen Zeiten träumte, sie mit den jetzigen verband, wieder trennte und alle tätig im Geiste durchlebte, nach der Höhle im nahen Gebirge. In dem Riesensaale der Höhle überfiel sie das erhabene Erstaunen, der gedankenvolle geheime Schauder, der uns bei den mächtigen Gegenständen der Natur ergreift; und aus diesen Gefühlen erwachten in der Seele der Jünglinge das Nachsinnen und Ahnden über die Höhe, Tiefe, den Zweck, die Mittel alles Geschaffenen, der denkenden, der fühllos scheinenden Wesen, die diese Schöpfung beleben und darstellen.

Ferdinand nannte den Riesensaal den Tempel des Ruhms, weil ihn keine menschliche Kraft zerstören könnte, weil er so alt wäre als die Welt und so lange als sie dauern müßte. Ernst nannte ihn den stillen Tempel der Tugend, weil ihn Menschenhände nicht gebaut hätten. Ferdinand schuf die Säulen um sich her zu Denkmälern der von ihm bewunderten Helden und nannte sie nach ihnen. Ernst behielt sich, fern von den Denkmälern seines Gespielens, nur eine Blende in der Felsenwand des Bergs nahe bei [222] dem Abgrund vor, deren Mitte zu einer Stunde des Tags ein Lichtstrahl traf und erleuchtete.

Eines Tages drangen die Jünglinge weiter in dieses unterirdische Labyrinth als sie bisher noch gekommen waren. Ihre Schritte und abgebrochenen Worte hallten dumpf an den Felsen. Ohne Verabredung schien jeder von ihnen das schwere Rätsel der Natur in ihrem düstern, geheimnisvollen Schoße auflösen zu wollen. Hand in Hand wandten sie sich forschend aus einem Gang in den andern. Auf einmal standen sie beide vor dem ihnen bekannten Abgrund, der sich der Sage nach in einem Gange unter dem Fluß weg endet und nach einem Gebäude führt, von dem die Bewohner der Gegend viele wunderbare Geschichten zu erzählen wußten. Und eben dieses Wunderbare entflammte Ferdinands Phantasie; seine aufkeimende Ehrbegierde sah in diesem Dunkel seine erste Heldentat vergraben. Zuckend drückte er Ernstens Hand, und sein kühner Vorsatz sprang durch die Adern in Ernstens Herz über. Er erwiderte den Druck und zog ihn sanft zurück. Nun erst erglühte Ferdinands Einbildungskraft, und er rief in einem starken Tone:

»Ernst, ich will hinunter, das Geheimnis enthüllen und aus dieser Finsternis an das Licht bringen. Herkules stieg in den Schlund des Orkus, um den Höllenhund herauszuziehen – ich muß der erste sein, über dessen Haupte der Strom hinrollt!« Ernst bewies ihm das Verwegene und Unsinnige des Unternehmens, die Unmöglichkeit der Tat und der Rückkehr, die unvermeidliche Gefahr des Todes und reizte durch den Widerspruch Ferdinands stolze Kühnheit nur um so mehr. Schon machte er Anstalten, den Abgrund hinabzugleiten, als Ernst vor ihn trat und entschlossen zu ihm sagte:

»Du willst? Wohlan! so warte nur eine Sekunde. Den Weg der Gefahr muß man nicht so langsam kriechen, wie du tun willst, man muß ihn überspringen. Dieses will ich nun tun. Tritt zurück.«

Ernst war im Begriff den Sprung zu wagen, als ihn Ferdinand umfaßte, an sein Herz drückte, seine Wangen und Lippen küßte und, vor Freude bebend, rief:

[223] »Ernst! ich weiß, warum du es tun wolltest! Mich, der eine Tollheit begehen wollte, durch eine wahre Heldentat zu retten!« »Eine Heldentat?« erwiderte Ernst ruhig.

FERDINAND: Wäre sie es nicht, da der Tod, wie du selbst sagtest, bei der Tat unvermeidlich ist?

ERNST: Könnte sie es sonst sein? Aber daran dachte ich gar nicht. Würde ich dir nicht ohnedies gefolgt sein, wenn du die Tollheit, wie du es nun selbst nennst, begangen hättest? Sollte ich ohne dich zurückkehren? Freilich hätten vielleicht mein guter Vater und der gute Hadem nie erfahren, was aus uns geworden wäre. – Und, Ferdinand, sprang ich allein hinein, so hatte ich auch mehr Hoffnung als du, an das Licht zurückzukehren. – Dein Führer war ja nur die Ruhmbegierde, aber ich – ich trat unter den Schild einer Göttin, die mich nicht verlassen, die mich in diesen Schlund begleitet hätte.

FERDINAND: Und wer ist diese Göttin?

ERNST: Die Tugend, die, wie Hadem sagt, ruhig und prunklos einhergeht, die denen immer zur Seite steht, welche den Pfad nach ihrem erhabenen Tempel wandeln. Erinnerst du dich, wie uns Hadem vor einiger Zeit die Fabel von Minerva erklärte? Freilich nannte er es eine Fabel, aber er erklärte sie sehr schön. Auch ich deutete sie, und zwar nach meinem Sinne; und seit dieser Zeit schwebt diese Tochter Jupiters immer vor mir – und ich sah sie in dem tiefen Abgrund, wie ich sie in der lichten Höhe sehe.

FERDINAND: Was du sagst, begreife ich nicht ganz, aber ich bewundre dich jetzt mehr als Alexandern, der allein über die Mauern der feindlichen Stadt sprang. Du wolltest für mich Toren aus Liebe tun, was er um seines Ruhmes willen tat, und darum nenne ich die ihm geweihte Säule meines Tempels nach deinem Namen. Er sprang in die Stadt wie ich in den Abgrund, aber du! du!

Ferdinands ganzes Herz war in seinen Umarmungen; zum erstenmal nannten sich die Jünglinge Freunde und schworen an dem gefährlichen, dunkeln Abgrund, der ihnen wie ein Bild des Lebens vorschwebte, den Bund der Liebe, und jeder von ihnen verpfändete der Seele des andern sein Leben und Dasein.

[224] Hadem, der die Jünglinge nie aus den Augen verlor und ihnen oft, unbemerkt von ihnen, folgte, um die Früchte seines Unterrichts in ihren Reden, ihrem Tun und den freien Ergießungen ihres Herzens zu beobachten, hatte hinter einem Felsen die ganze Szene angehört. Als Ernst den gefährlichen Sprung zu wagen unternahm, wollte er schon hinzuspringen, als er aber gewahr wurde, daß Ferdinand ihm zuvorgekommen war, zog er sich leise zurück. Auf den Schrecken und den Schauder, die ihn bei dem Wagestück der Jünglinge überfielen, erfolgte Staunen und Bewundrung, und bei den letzten Worten Ernstens, die den Grund seines Entschlusses so klar enthüllten, erglühte sein Herz in sanfter Wonne. Er blickte gegen das Gewölbe der Höhle und lispelte leise:

»Braucht dieser mich noch, da du ihm zur Seite stehest?«

Die Jünglinge eilten aus der Höhle. Als Ferdinand an Alexanders Denkmal vorüberging, rief er: »Du heißest Ernst!«

Hadem folgte ihnen und erreichte sie in dem Eichenwald, Sie hatten sich unter dem größten Baum gelagert; noch glühten ihre Wangen sanft von der vergangenen Szene, und der Abendwind spielte in ihren Locken.

Hadem setzte sich nicht weit von ihnen auf eine Anhöhe, noch tief über das bewegt, was er vernommen hatte. Er sah die Jünglinge nah bei dem Abgrunde stehen. Plötzlich stellte sich ihm das menschliche Leben, in Rücksicht ihrer, unter diesem düstern Bilde vor, und unter diesem Gesichtspunkt fühlte er nun den ganzen Vorgang. Ferdinands Kühnheit, die ihn um des Wahns willen zu der Erforschung des Abgrunds trieb, erregte Sorge und Angst in seinem Busen. Selbst Ernstens Entschluß, der ihn in dem ersten Augenblick des Vorgangs dahinriß, erschien ihm nun unter düstrer erhabener Gestalt, und er konnte seine Gedanken lange von der Zukunft nicht ablenken, die sich ihm hier in weissagendem Gesichte enthüllt zu haben schien. Die Geschichte und seine Erfahrung hatten ihn gelehrt, was den Mann in der Welt erwartet, was das Schicksal von dem fordert, der sich der Göttin weiht, unter deren Schutze sich sein Zögling für so sicher hielt. Er kannte die Gefahr der Proben, die ihre [225] Verehrer zu bestehen haben, er wußte, daß man selten mit dem Geist und Herzen aus ihnen hervortritt, mit denen man sie beginnt. Der rastlose Kampf mit den Menschen, ihren Verfassungen, ihren wirbelnden Leidenschaften, ihrem Wahne und Eigennutze malte sich in wilder Gärung vor seinen Augen. Auf dem Schlachtfelde stand endlich der ermüdete Kämpfer zwischen nagenden Zweifeln, grämlichem Mißmut, der kalten Selbstigkeit, dem bittern Menschenhaß, und statt des Triumphgesangs hört er zischendes Hohngelächter und die frostigen, erstarrenden, giftigen Sarkasmen der Vernünftler. Sein Herz rief ihm zu, so könne sein Ernst nicht enden, aber ob er ihn gleich am Ziele der Laufbahn in sich selbst unbesiegt sah, so faßte er doch den festen Entschluß, seines Zöglings Begriffe über die Tugend in Rücksicht auf die Menschen und ihre Verhältnisse so zu berichtigen, daß sie nicht in schimärische Überspannung ausarteten: eine Stimmung der Seele, in welcher sich nur die Edelsten der Erde befinden können und die gewiß die glücklichste, beneidungswürdigste wäre und bliebe, wenn nur diejenigen, zu deren Bestem diese Stimmung immer wirkt, sie nicht auf Tod und Leben davon zu heilen suchten. Ernsten dachte er nun dahin zu leiten, daß ihm zwar die Höhe und Reinheit seines Geistes und Herzens verblieben, seine Begriffe aber sich so berichtigten, daß ihn die Widersprüche und Mißverhältnisse von außen mit seinem Gefühl weder irre machen, noch zerrütten möchten. Vorzüglich sollte er das, was ihn belebte, in den Menschen nicht mit der Kraft suchen, noch von ihnen erwarten, wie er es zu empfinden schien; und zu dieser gefährlichen Erkenntnis wollte er ihn durch Nachsicht und schonende milde Menschlichkeit führen. Ferdinands eitle Ruhmsucht hoffte er durch Ernstens milden Geist und seine eignen, absichtslos scheinenden Lehren zu läutern.

Nach diesen Betrachtungen nahte er sich den Jünglingen.

Das Abendrot glühte an dem Horizont, und der Eichenwald glänzte in seinem goldnen Feuer. Ferdinand stand heftig redend vor Ernsten, und dieser blickte ihn soeben mit sanfter Begeistrung an und sagte: »Ferdinand, ich habe es gefunden.«

[226]

Hadem trat hinzu: »Was hat Ernst gefunden?«

FERDINAND: Den Stoff zu einem Heldengedicht über unsre Altväter, die Cherusker, Chatten und Sveven.

HADEM: Und wie kommt ihr darauf?

ERNST: Der Strom, die Abendröte, die Vergangenheit, Homer, der Eichenwald – die Schatten unsrer Vorfahren traten herein, wir träumten sie lebend, mit den Römern im Kampfe um ihre Tugenden.

HADEM: Wie das? Ernst, wie das?

ERNST: Dies ist eben der Sinn des Heldengedichts, das wir dachten oder träumten, als Sie kamen. Der Teutsche kriegt mit den ihn angreifenden Römern um seine Tugenden, seine Sitten, seine Freiheit. Hermann ist der Held. Der Kampf wird nun geführt zwischen den unverdorbenen Söhnen der Natur und den durch Glück, Kunst und Üppigkeit ausgearteten Römern. Spott, List, Betrug, Biederkeit, Aufrichtigkeit und Treue stehen gegeneinander auf. Es ist der Krieg der edlen, einfachen Natur mit der Ausartung der Kultur. Die römisch-griechischen Götter schweben über dem Schauplatz im Kampfe für ihr Volk mit den Göttern unsrer Väter, die Sie uns bekanntgemacht haben. –

HADEM: Gut, recht gut, aber ich fürchte für die Götter des Nordens.

ERNST: Fürchten Sie nichts, Hadem; jedem der griechisch-römischen Götter haben wir einen kühnern und mächtigern entgegenzustellen.

HADEM: Und doch fehlt eine Göttin, die leicht den Ausschlag zum Vorteil der Götter des griechisch-römischen Himmels geben könnte.

ERNST: Und diese?

HADEM: Wer anders als Minerva, die erhabene Tochter Jupiters, die Göttin der Weisheit und Klugheit.

ERNST: Oh, auch sie war unter den Göttern des Nordens, unsre Väter kannten sie recht gut und unter einem viel reinern und kräftigern Bilde.

HADEM: Sagen Sie doch! Unter welchem?

ERNST: Unter dem Bilde der männlichen Tugend, um deren [227] Besitz sie eben mit den Römern stritten, von denen sie sich die griechisch-römische Göttin nicht aufdringen lassen wollten, weil die Klugheit derselben ihrem geraden, aufrichtigen Sinne zuwider war, weil Klugheit so gern in List ausartet, sich so leicht in List gefällt. Unsre Väter dachten sich ihre Götter wie sie selbst waren: ohne alle List, Betrug und Feinheit. Und siegten sie nicht unter dem Schilde ihrer Göttin über die Zöglinge der Kunst? Ja, eben diese Göttin müßte die Muse des Heldengedichts sein, den Dichter begeistern und die Helden so beleben, daß sie sich selbst in ihnen kräftig darstellte.

Hadem sagte lächelnd: »Ernst, Sie sprechen ja selbst wie ein Dichter.«

Ernst erwiderte: »Macht dieses, was ich empfinde, den Menschen zum Dichter, Hadem, so soll mein ganzes Leben unter ihrer Leitung ein Heldengedicht werden; denn auch ich will unter dem Schilde dieser erhabenen Göttin stehen. Die Tugend der Helden blüht nicht allein auf dem Schlachtfelde, dieses haben unsre Vorfahren gezeigt.«

HADEM: Wozu auch immer Heldentugend? Warum ein so großes, ein so schallendes Wort?

ERNST: Nicht wahr? Denn ist nicht Ausübung der Pflicht, wenn ein Sieg über uns, unsre Leidenschaften, unsern Eigennutz vorausgeht, eine Heldentat? Lehrten Sie uns dieses nicht?

HADEM: Freilich, wenn wir sie ohne Rücksicht auf uns selbst, mit Gefahr für uns, zum Besten andrer ausüben. Ich wünschte nur dem schönen, guten Gefühl ein bescheidneres Beiwort. Ich kenne zum Beispiel einen Mann, der sich keiner Heldentugend und Heldentat bewußt ist, sich wenigstens keinen Helden nennt und gleichwohl, nach meiner Meinung, ein reinerer Held ist als euer Mazedonier.

FERDINAND: Als Alexander? Oh, lassen Sie uns geschwind seine Taten hören!

HADEM: Taten? Ich sagte ja, er weiß nichts von Taten. – Ich rede nur von dem Kammerrat Kalkheim. Lachen Sie immer, Ferdinand; Sie werden dessenungeachtet sehen, daß dieses Mannes Geschichte, in dem Herzen einer großen Anzahl von Mensehen [228] im stillen gefühlt, einen Wert hat, um den ihn wohl mancher große Held beim letzten Überblick seiner Taten beneiden möchte.

Dieser Kalkheim hatte früh einen großen Teil seines Vermögens zu einer Reise angewendet, um die Entdeckungen zur Verbesserung der Landwirtschaft praktisch ausüben zu sehen. Mit diesem Zwecke, den er sich zur künftigen Bestimmung machte, allein beschäftigt, versagte er sich allen andern Genuß, den sonst junge Leute auf Reisen suchen. Als ihm bei seiner Rückkehr ins Vaterland der Fürst diese Stelle anvertraute, machte er viele Versuche der gesehenen Neuerungen auf seinem eignen Lande nach; er hoffte, die Aufmerksamkeit andrer dadurch zu reizen. Aber die Vorliebe oder das Vorurteil für das Alte schien unüberwindlich, und ob er es gleich über sich nahm, den aus seinen Versuchen entstehenden Schaden zu ersetzen, so konnte er doch nur mit großer Mühe einige Landleute dahin bringen, sie nachzuahmen. So erreichte er seinen Zweck nur nach und nach, nur unter Streit, Kampf und Mühe. Durch den nähern Umgang mit den Landleuten lernte er so viel Elend und Armut kennen und sah die Quellen davon so genau ein, daß er sich bald mit der fürstlichen Kammer in eine Fehde einließ; aber da er hier nichts ausrichten konnte und doch helfen wollte, so war er in kurzem dahin gebracht, von seinem beträchtlichen Vermögen nichts mehr übrig zu behalten als ein kleines Haus und ein kleines Gärtchen, in welchem er Gesäme zieht. Seinen Sold teilt er mit den Dürftigen. Der Verlust seines Vermögens zog den Verlust der Freundschaft eines Mannes nach sich, der ihm ohne alle Schonung seine versprochene Tochter, in welcher der Kammerrat den Lohn für alles hoffte, versagte. Dieses verwundete sein Herz, und doch ist er glücklich; denn er sieht seine Taten auf den Feldern der einst Armen blühen, und die ganze Gegend unter seiner Aufsicht gleicht einem von ihm gebauten Paradiese, in welchem ihn der reinste Segen und Dank von den Lippen und Augen der Bewohner empfängt, wenn er es betritt.

ERNST: Hadem, lassen Sie uns diesen Mann, diesen Glücklichen in seinem Paradiese besuchen.

[229] FERDINAND: Wäre der Mazedonier ein Kammerrat gewesen, er hätte dies auch getan; denn Gold achtete er nicht.

ERNST: Ich fürchte, Ferdinand, um die Herrschaft über dieses Paradies hätte er es im Kampf zerstört.

FERDINAND: Um es schöner wieder aufzubauen.

ERNST: Führen Sie uns zu ihm, Hadem?

HADEM: Gern und bald. Ihr Herr Vater will ohnedies, daß wir uns in der Residenz bei Ihrem Oheim aufhalten sollen, während er nach den Bädern reist.

4.

In der Residenz *** wohnte nun Hadem mit seinen Zöglingen in dem Hause des Präsidenten von ***, Ernstens mütterlichem Oheim. Hier fanden sie alle die feine Höflichkeit und allen den kalten Anstand, wodurch sich die Vornehmen von dem Volke unterscheiden und womit sie ihre Genüsse zu veredeln glauben. Hadem hatte die Jünglinge hierzu weder vorbereitet, noch ihnen Regeln des Betragens vorgeschrieben; er wollte auch hier ruhiger Beobachter sein und bleiben. Ernst schien ihm in den ersten Tagen einer Pflanze zu gleichen, die, durch Versetzung, in dem einheimischen Boden ihre Lebenskraft gelassen hat; aber Hadems Gegenwart wurde auch ihm bald, was dieser der erste Morgentau und die wiederkehrende Sonne sind. Er drang sich hier noch fester, noch inniger an ihn, und in ihren Blicken drückte sich ohne weitere Erklärung ein Verständnis über alles Neue und Besondre aus. Bald ging auch Ernst so sicher und fest einher wie in seinem Eichenwalde. Ferdinand ward in kurzem der Liebling des ganzen Hauses. Die neuen Gegenstände belebten seine Einbildungskraft, reizten seine Ehrbegierde, seinen Stolz, seine Eitelkeit: und durch die Aufregung dieser Empfindungen wurden ihm die Verhältnisse der Menschen untereinander so deutlich, daß er, gleichsam aus natürlichem Triebe, ohne weiteres Nachsinnen und weiteren Vorsatz, jedem gab, was er zu wünschen schien; denn es war das, was er selbst von ihm erwartete. Dem Oheim, der die Jünglinge von seinem Schwager auf einige [230] Zeit gefordert hatte, um zu sehen, was sie versprächen, gefiel zwar Ernstens festes Betragen, weil er es dem Bewußtsein zuschrieb, das der junge Mensch von seinem Range und seiner künftigen Rolle in der Welt empfände; aber ihm gefiel auch das Lob, das jeder dem muntern, artigen und gewandten Ferdinand erteilte.

Er sprach hierüber mit Hadem, doch bevor ihm dieser seine Gedanken sagen konnte, fiel er ihm ins Wort:

»Verstehen Sie nur! Ich will darum gar nicht, daß Ernst eigentlich so wie dieser arme Ferdinand werden soll. Ernst soll fühlen, was er ist, was aus ihm wird, was ihn erwartet. Ferdinand ist ein armer Waise, der sein Glück machen muß; und ein solcher Mensch kann nie artig genug sein. Was ich eigentlich wollte, wäre, daß Ernst zuzeiten zeigte, auch er könnte es sein, wenn es ihm so gefiele. Dadurch, lieber Herr Hadem, unterscheidet sich der Mann von Stande, dessen Glück und Ansehen gewiß ist, von dem, der beides noch suchen muß: der eine tut alles, weil es ihm so gefällt, und der andere, weil er muß. Hätte Ferdinand zu hoffen, was mein Neffe zu hoffen hat, so sagte ich, er tut zu viel; und nun sage ich, er kann nicht genug tun.

Und sehen Sie doch nur! Die Natur hat das, was ich sage, selbst in den beiden jungen Leuten angedeutet. Bemerken Sie nur den schönen, schlanken, kühnen Wuchs Ferdinands! seine feurigen schwarzen Augen! seine anlockende Gesichtsfarbe! sein Feuer, seine Lebhaftigkeit, sein einschmeichelndes, immer zuvorkommendes, lächelndes Wesen! Da steht der Abenteurer, der Wagehals, ganz ausgerüstet zum Kampfe mit der Glücksgöttin. Es wird ihm nicht fehlen, glauben Sie mir. Und nun mein Neffe – man kann eigentlich nicht sagen, daß er schön sei; aber er ist mehr als schön, er hat etwas Feierliches, etwas Eignes, ihn von allen Unterscheidendes an sich, etwas, das mehr auf die Seele als auf die Augen wirkt – und da liegt ja der Unterschied, den ich bemerkte. Ferdinand wird den Weibern gefallen, und das kann ihm nützlich sein; Ernst verständigen Männern – und den Weibern, wenn er will!«

Hadem schwieg nach diesen ihm unerwarteten Äußerungen, und [231] der Präsident legte ihm sein Schweigen als Bescheidenheit aus, in seinen Augen das Hauptverdienst an Leuten ohne Stand.

Hadem ließ Ernsten gehen und nutzte jede sich darbietende Gelegenheit, Ferdinands gereizte Eitelkeit zu mäßigen.

In dem Hause des Präsidenten versammelten sich der Hof und die Angesehensten der Stadt. Seine zwei Töchter und sein Sohn empfingen von ihrer Seite die Fräulein und jungen Herren mit ihren Gouvernanten und Gouverneuren und übten sich in ihren Zimmern in den Rollen, die in dem großen Gesellschaftssaale gespielt wurden. Natürlich mußte Hadem mit seinen Zöglingen dieser Versammlung beiwohnen. Ernst hörte und sah zwar, aber er schien nur zu träumen bei dem, was er hörte und sah; Ferdinand hingegen war hier ganz in seinem Elemente.

Zum erstenmal hörten sie jetzt von Romanen und wunderbaren Begebenheiten reden; und als die junge Gesellschaft ihre Unwissenheit in einer so wichtigen Sache entdeckte, erstaunte man, bedauerte und ließ es sich sehr angelegen sein, sie mit dieser nötigen Kenntnis zu bereichern. Hadem sah die Unmöglichkeit ein, seine Zöglinge vor einem Übel zu bewahren, das alle Stände unsers Zeitalters ergriffen hat. Man gab den Jünglingen die Romane des Tages. Ferdinand verschlang sie; Ernst, dem ein Wunderbares andrer und höherer Art vorschwebte, konnte das Wesen, Leben, Handeln und Denken der Menschen in denselben gar nicht begreifen und würde von aller weiteren Neugierde auf immer geheilt worden sein, wenn ihm die Tochter des Präsidenten nicht einen gegeben hätte, der sein Herz zerriß, ausdehnte und seine Seele folterte, spannte, erhob, niederdrückte und zermalmte. Wer kennt nicht die feurigste, vollendetste Darstellung des heutigen Genius?

Auch Ferdinand las diesen Roman, und seine Einbildungskraft entbrannte so gewaltig, daß er von diesem Augenblick nichts Größeres, Erhabneres und Nachahmungswürdigeres kannte als die Lage dieses jungen Helden, sein pathetisches Ende, das er als ein Opfer hoher Tugend für ein Geschlecht ansah, für welches man nach seiner jetzigen Stimmung nichts weniger tun könnte. Alles, was sonst so tief, stark und schön Gedachtes [232] und Gefühltes über Menschen, Schicksal und Natur darin lag und was einen so mächtigen Eindruck auf Ernsten machte, entwischte ihm.

Natürlich ward nun dieses der Hauptgegenstand der ersten Unterhaltung in dem jugendlichen Kreise. Ferdinand malte seine Gefühle mit den stärksten und lebhaftesten Farben und fand in den jungen Fräulein um sich her, die sich als den Gegenstand seiner Begeistrung und seines Heldenmuts ansahen, sehr aufmerksame und gespannte Zuhörerinnen. Begeistert rief er, indem er seine feurigen schwarzen Augen gegen Amalien, die dreizehnjährige Tochter des Ministers ***, eins der reizendsten Geschöpfe, wendete: »Oh, es muß ein süßer, erhabener Tod sein, für seine Geliebte zu sterben! Ich wünsche mir ihn!«

Keine der Zuhörerinnen widersprach, und nur einige Junker, die schon weiter in der Erfahrung gekommen waren, lächelten. Amalie errötete sanft, und die Tochter des Präsidenten fragte Ernsten, in dessen Augen sie ein ihr fremdes Gefühl zu bemerken glaubte, was er davon dächte. Er antwortete gelassen, indem sein Blick auf eben diese reizende Amalie fiel: »Ich schlage des Mannes Bestimmung höher an.«

Alles schwieg, und Amaliens Wangen färbten sich höher. Ein Blick schoß unter ihren langen Augenwimpern auf Ernsten hervor, dann sah sie gegen den Boden.

Hadem trat nun näher und sprach:

»Ich höre Ihnen wirklich mit Verwunderung zu und kann gar nicht begreifen, wie junge Leute, die weder den Wert des Lebens noch die Bestimmung des Menschen kennen, sich anmaßen, über Dinge zu reden, die ihnen ebenso fremd als dunkel sein sollten. Da es aber nun einmal so ist, so will ich Ihnen doch sagen, was mein Zögling unter den Worten gedacht hat, die Ihnen so sonderbar vorzukommen scheinen. Er meint, der Mann habe höhere und bedeutendere Pflichten, als für ein Mädchen zu seufzen oder zu sterben; und ich hoffe, er soll auch dann noch so denken, wenn er erfährt, was dies ist, von dem Sie so früh vor der Zeit reden. Jetzt weiß er es gewiß nicht; aber sollte er es einmal empfinden, so bin ich gewiß, er würde für die Person, für die [233] er es empfände, noch weit größre Übel ertragen, als das ist, welches man sich unter dem Tode denkt; und doch würde er leben und eben durch sein Leben beweisen, wie würdig er ihrer sei. Die Liebe, um das Wort nur zu nennen, das Sie so leicht aussprechen, soll den Mann erhöhen, nicht niederwerfen; und derjenige, welcher darum stirbt, weil ihm das Schicksal den Gegenstand seiner Leidenschaft vorenthält, ist ein Kranker, der vermutlich an der Versagung jedes andern heißen Wunsches gestorben wäre: denn er wollte über seine Kräfte. Des jungen Menschen Schicksal, das dieses Buch so meisterhaft darstellt, lag ebenso sehr in seiner ihm eignen Denkungsart, der düstern, forschenden Stimmung seiner Seele, seinen Begriffen über die Natur und die Verhältnisse der Menschen gegeneinander als in seiner leidenschaftlichen Lage; ja sie gaben eigentlich seiner leidenschaftlichen Lage die auszeichnende Farbe und mußten endlich die Katastrophe hervorbringen, die schon so früh in ihm vorbereitet war, gegen die er auch so wenig kämpfet, daß er ihr vielmehr langsamen Schritts und mit einer Art innern Genusses entgegengeht. Er gleicht einem seltnen, lieblichen, interessanten Kinde, das einen düster erhabenen dichterischen Traum schwärmt, bevor seine Vernunft ganz erwacht ist. Ich bewundre das Buch als dichterische Darstellung der Wirkung dieser gefährlichen Leidenschaft gewiß mehr als Sie; aber ich bewundre nicht den Helden, den es uns darstellt. Ich könnte ihn zuzeiten sogar hassen, weil er den Mut unsrer Jünglinge erschlafft und die Köpfe unsrer Mädchen so verwirrt, daß sie beide das zu einem übertriebenen, romantischen Spiele machen, was doch die Natur und die Gesellschaft zum wichtigsten und ernsthaftesten Geschäfte des Lebens gemacht haben. Die Männer sind in der Welt, um Beweise ihres Verstandes und Mutes zu geben; und die Weiber, wenn ihr Verstand und ihr Herz nicht durch Romane verdorben sind, achten nur die Männer, welche dieses tun. So war es bei den Völkern, die wir noch jetzt bewundern, die wir nur so lange zu bewundern Ursache finden, als dieses dauerte. Welche seelenkranke, erbärmliche und niedergedrückte Männer müssen die nicht sein, die in solchen Spielen der Phantasie Ersatz für [234] Tätigkeit und Mut finden können, die ihre Weiber und Töchter schon bis dahin gebracht zu haben scheinen, daß sie ihnen solche Erschlaffung, Weichlichkeit und Feigheit für die einzigen Heldentugenden anrechnen, deren sie noch fähig sind! Glauben Sie darum ja nicht, daß ich dieses dem Dichter zuschreibe. Er denkt weder der Toren noch der Schwachen, noch weniger will er ihnen Bilder zur Nachahmung in seinem Helden aufstellen. Ihn ergreift die Liebe zu einem Gegenstand, die Begeistrung übt ihre Gewalt an ihm aus. Sein entflammter Genius tut dasselbe an euch, indem er euch durch Angst, Staunen, Furcht, Grausen und alle menschliche Gefühle in seinen magischen Kreis bannet, in welchem eine Gottheit ihn gefesselt hält und aus dem er selbst nicht eher treten kann, als bis ihn seine mächtige Beherrscherin entläßt.

Ich sehe wohl, daß ich Ihnen lästig falle; mein Rock mag es entschuldigen. Eigentlich spreche ich hier nur um eines einzigen willen, und dieser versteht mich. Um Ihnen übrigens den Unterschied zwischen meinen beiden Zöglingen zu zeigen, will ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, dann mögen Sie selbst urteilen, wer von ihnen im Fall der Not für Freundin und Freund mehr zu tun fähig wäre.«

Er erzählte hierauf den Vorfall in der Höhle, beschrieb den furchtbaren Abgrund, seine Angst, den Ausgang des Vorfalls und endigte mit den Worten:

»Wer war nun hier der mutigste? Er, der in die Höhle gleiten wollte, um der erste zu sein, der uns sagen könnte, ob die einfältigen Märchen des Volks gegründet wären; oder der, welcher, um den törichten Freund zu retten, hineinzuspringen drohte, hineingesprungen wäre?«

Keiner der Gesellschaft schien das Edle des Zuges zu fühlen, den ihnen Hadem von Ernsten mitteilte, und aller Augen, außer Amaliens Augen, wendeten sich jetzt nach Ferdinand. Sein Vorsatz schien ihnen größer, kühner, obgleich seine eigne jetzige Beschämung so laut gegen ihn sprach. Hadem bemerkte hier die gewöhnliche Wirkung des Romanenlesens auf die alltäglichen Menschen, das alle einfache, natürliche Gefühle in ihnen verzerrt [235] und verdunkelt und an deren Stelle einen erkünstelten Kitzel der Phantasie und der Eitelkeit setzt.

Ernst schien in diesem Augenblick ein Verbrechen begangen zu haben. Er atmete kaum, und nur die sichtbare Verwirrung seines Freundes erweckte ihn aus seiner Betäubung. Er eilte auf ihn zu; die glühenden Wangen der Jünglinge berührten sich, und einige Tränen, von verschiednem Gefühl erzeugt, drängten sich zwischen ihre Küsse.

Amalie allein sah gerührt dieser Umarmung zu. Sie sah immer auf Ernsten, aber nun verweilte ihr begeisterter Blick länger auf Ferdinand. Dieser bemerkte es und drängte sich zu ihr, von ihrem Blicke angezogen. Noch ganz von dem vorigen Gefühle belebt, das jetzt unter dem Rosenschimmer der Scham, von Beleidigung der jugendlichen Eitelkeit hervorgebracht, sanfter auf seinen Wangen und in seinen Augen glühte, stand er schweigend vor ihr. Sie sah ihn lächelad an und sagte:

»Sein Sie froh, daß die Fräulein in der Residenz zu mitleidig oder zu klug sind, Sie bei dem Worte zu nehmen, das Sie so rasch ausgesprochen haben. Wir würden sonst bald über Ihre Leiche weinen müssen, und das wäre doch zu früh.« Ferdinand erwiderte, und ein Flammenblick begleitete seine Worte:

»Für eine einzige Träne aus solchen Augen wollte ich es schon wagen.«

Und noch kühner setzte er hinzu:

»Spotten Sie nur; aber hüten Sie sich, diesem Fenster hinauszuwinken; denn ginge auch der Sprung durch die Erde, ich folgte dem Winke doch.«

Nun zog sich Amalie sanft von ihm weg, faßte eine Gespielin unter dem Arme und ging an das Klavier im Nebenzimmer.

5.

Beim Niederlegen sagte Hadem zu seinen Zöglingen:

»Morgen besuchen wir den Kammerrat Kalkheim; aber ihr müßt früh aufstehen, damit wir durch seine blühenden Felder wandeln, [236] bevor die Sonne den Morgentau ganz aufgetrocknet hat. Die Lerche erhebt sich dann mit schmetterndem Gesange.«

Sie brachen früh auf, und nach einigen Stunden sagte Hadem zu den Jünglingen:

»Hier fangen die Felder an, die unter des Kammerrats Aufsicht und Leitung bebauet werden. Vergleicht sie mit denen, an welchen wir vorübergegangen sind. Bemerkt doch, wie viel höher und voller die Ähren stehen, wie auf diesem überall blühenden und grünenden Schauplatze kein Fleckchen unbenutzt geblieben ist. Das ganze Land gleicht einem einzigen großen Garten: so unschädlich und geschickt für Äcker und Wiesen sind die Fruchtbäume angelegt. Ehemals entbehrten die Einwohner der Gegend diesen frischen und erquickenden Genuß, und nun danken alle diese Bäume dem Kammerrat ihr Dasein und füllen reichlich die Behälter der Hausmütter. Die Kinder empfangen die süßen, gesunden Früchte aus den Händen der Mutter und genießen sie unter dem Andenken ihres Wohltäters. Von jenem Hügel werden wir das Dorf schon sehen, in welchem der Glückliche wohnt, dessen wohltätiger Geist diesen einst rauhen und unfruchtbaren Strich Erde so schön und blühend geschmückt hat. Es soll heute das Ziel unsrer Wanderung sein; den Rückweg nehmen wir durch eine andre Gegend, denn seine Verwaltung erstreckt sich über mehrere Dörfer und Felder.«

Ferdinand hatte viel zu fragen. Hadem mischte in seine Antworten seine Gesinnungen über das Glück der Beschränktheit und Einfalt, um dem Geiste des reizbaren Jünglings die Richtung zu geben, die er ihm wünschte.

Als sie an das reine, wohlgebauete Dorf kamen, führte Hadem sie gerade nach dem Hause des Kammerrats. Sie traten hinein, und Hadem bemerkte schon in dem Vorhause eine ihn befremdende Veränderung. Er öffnete die Tür des Zimmers, worin sonst Kalkheim wohnte, und fand hier alles verändert. Die Wände, die er bei seinen ehemaligen Besuchen mit den verschiednen Werkzeugen des Ackerbaues bemalt sah, waren blendend weiß übertüncht. Die Schränkchen an diesen Wänden, in welchen der Kammerrat in Flaschen oder unter Glase alle nötigen [237] Gesäme in systematischer Ordnung aufbehielt, waren abgebrochen; das Bücherbrett im Winkel, alle Gerätschaften waren verschwunden, und das ganze Zimmer strotzte von langen Tischen und leeren Bänken. Hadem glaubte sich in dem Hause geirrt zu haben und wollte schon umkehren, als ihm aus dem Winkel eine traurige Stimme zurief:

»Nur immer zu, meine Herren!«

Hadem fragte nun nach dem Kammerrat, und der Mann sagte noch klagender:

»Ach, daß Gott erbarme! Er wohnt schon lange nicht mehr hier; aber ich armer, zugrunde gerichteter Mann – ein Gastwirt ohne Gäste – wohne hier in einem Wirtshause, das Ihr zum erstenmal als Gast betretet!«

HADEM: Ein Wirtshaus?

WIRT: Ja, ja! ein Wirtshaus, so schön als nur eins im Lande sein kann und so unbesucht als eins in dem großen Teutschland. Haben Sie denn das Schild nicht gesehen, das so prächtig vergoldet über die Straße hinüberhängt? Pracht von außen, Herr, und Elend im Innern. Gras wächst vor meiner Türe, daß der Hirt die Kühe nicht vorüberbringen kann, wenn er hinaustreibt. Haben Sie das nicht bemerkt?

Hadem trat an das Fenster und las die Aufschrift »Zum Verschwender« mit großen goldnen Buchstaben. Das Schild selbst war mit einem anspielenden Gemälde geziert, das den Geist verriet, der es angegeben hatte. Und nun erfuhr Hadem: der Kammerrat sei von der Kammer abgesetzt worden, man habe das Haus um einiger Schulden willen verkauft und zu einem Wirtshause gemacht. »Aber«, setzte der Wirt hinzu, »es ist ein Kauf, der mich zum Bettler macht. Kein Bauer des Dorfs und der Gegend hat noch den Fuß über meine Schwelle gesetzt. Mit Vergnügen sieht jeder das Gras vor meiner Türe wachsen und sagt laut: ich müßte in diesem Hause entweder verhungern oder toll werden. Der Kammerrat, der mich bedauert, ist noch der einzige, der mich zuzeiten besucht; aber selbst sein Beispiel vermag nichts über die Halsstarrigen, die nie an meinem Hause vorübergehen, ohne einen Fluch in ihren Bart zu murmeln. Und [238] mich recht elend zu machen, spricht keiner ein Wort mit mir, keiner dankt meinem Gruße, in der Kirche muß ich allein sitzen, und selbst die kleinen Kinder laufen schreiend weg, wenn ich sie anreden will. Ich war bei dem Pfarrer, auch der schweigt und seufzt und scheint unzufrieden mit der Kammer.«

FERDINAND: Und warum setzte denn die Kammer ihn ab? Was hatte er Böses getan?

WIRT: Böses? Junger Herr, darüber wäre vieles zu reden! Die Kammer muß es ja wohl wissen. – Ich klage und jammre nun auch umsonst bei ihr. –

»Und wo ist denn der Kammerrat?« fragte Hadem besorgt.

WIRT: Dem geht es recht gut! Jetzt wohnt er bei dem Schulzen. Er ändert seine Wohnung von Woche zu Woche, und ist er bei den Wohlhabenden eines Dorfes herum, so zieht er auf das nächste, und so immer fort. Da ist es denn ein Lärmen, Singen und Schreien, wenn der Sonnabend kommt! Da führen ihn Mütter, Kinder und die Alten mit Hund und allem was lebt so freudig und mit solcher Ehrfurcht in die neue Wohnung ein, als wäre ein Engel vom Himmel gestiegen, um das Haus reich, glücklich und alles darin gesund zu machen. Hadem eilte nun mit seinen Zöglingen nach dem Hause des Schulzen. Die Hausfrau war in der Küche beschäftigt, und als man sie nach dem Kammerrat fragte, öffnete sie freundlich die Türe. Den Kammerrat fanden sie an dem Bette eines kranken Knaben sitzen, mit der rechten Hand einen Fliegenwedel und mit der linken ein großes Pflanzenbuch auf dem Arme haltend. Als er die Eintretenden gewahr wurde und Hadem erkannte, bewillkommte er ihn, ohne aufzustehen und ohne sich anders zu entschuldigen, als daß er mit einem Blick auf den kranken Knaben hinzeigte.

Hadem stellte ihm seine Zöglinge vor, drückte ihm die Hand, zog einen Schemel näher und setzte sich bei dem Bette nieder. Der Kammerrat stellte nun sein Kräuterbuch zwischen seine Füße und bewegte leise den Wedel über dem Angesicht des Kindes.

Hadem erkundigte sich, was dem Kinde fehle, das er so freundlich besorge, und der Kammerrat antwortete: [239] »Ein böser Bube hat ihm einen Stoß gegeben, der üble Folgen haben könnte, wenn das Kind nicht so artig und geduldig litte, was wir zu seiner Heilung tun. Ich suche nun noch kräftigere Kräuter zu Bähungen aus – denn, unter uns gesagt, ich lege mich seit einiger Zeit auf die Kräuter- und Heilkunde, um doch dem guten Volke durch etwas nützlich sein zu können. Sie müssen mich aber ja nicht verraten, Herr Hadem, und auch Ihre junge Herren nicht. Erführen es die Apotheker und der Landphysikus, so würden sie gewiß schreien, ich schade ihnen.«

HADEM: Sollten sie?

KAMMERRAT: Ich habe es ja erfahren, daß man nicht behutsam genug gegen Leute sein kann, die der Eigennutz zu einem Körper verbindet. Ich war es nicht genug, Herr Hadem; wenigstens sagen sie so. Aber was soll ich tun? Wie Sie sehen, werde ich den Fehler wohl behalten.

Hadem drückte ihm noch wärmer die Hand, und Ernst trat näher.

HADEM: Wir sind in Ihrem Hause gewesen, lieber Kammerrat.

KAMMERRAT lächelnd: Und haben mich dort nicht gefunden, weil es mein Haus nicht mehr ist. Aber doch haben Sie mein Porträt auf dem großen Schilde gesehen. Wenigstens soll es mich vorstellen, getroffen oder nicht.

HADEM: Sie?

KAMMERRAT: Sagen Sie, ist es nicht eine Torheit von der Kammer, dem armen Manne mit aller der Vergoldung und närrischen Pracht so viele Kosten zu verursachen? Wenn die Kammer sich einen Spaß machen wollte, so hätte sie doch ökonomischer dabei verfahren müssen. Dafür heißt sie die Kammer, und das hätte sie auch hier nicht vergessen sollen.

HADEM: Was wir da sahen, lieber Kammerrat, ist nichts anders als ein dauerndes Denkmal Ihrer Tugend und durch seine Bosheit ein noch schändlicherer Beweis von dem Unsinn und der Undankbarkeit der Kammer. Ich ahnde, woher es kommen mag, und Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir sagten, wie es möglich war, wie das geschehen konnte, was ich von dem jetzigen Bewohner Ihres Hauses erfahren habe.

[240] KAMMERRAT: Der arme Mann dauert mich; ich mußte die unschuldige Ursache zu seinem Elende sein.

HADEM: Wollten Sie uns erzählen –

KAMMERRAT: Ich rede so ungern davon.

HADEM: Nun, so kurz, als es die Bosheit verdient; wir lernen dann von Ihnen sie zu vergessen.

KAMMERRAT: Nur auf diese Bedingung. Nun, lieber alter Freund, die Kammer sagt, der Kammerrat Kalkheim sei ein Narr; und daran mag wohl etwas sein. Aber das weiß die Kammer nicht, daß ich immer ein sehr glücklicher Narr war und es noch bin. Ich habe für die Bewohner der hiesigen Gegend allerlei getan, und die Leute wußten mir es Dank. Sie werden wohl gesehen haben, wie es mit ihren Feldern, Häusern, Scheunen und Ställen steht; das nun machte mir so viele Freude, daß ich gar nicht daran denken konnte, es mache andern Leuten Kummer. Auch dachte ich so wenig daran, was es mir etwa kostete, daß ich mir gar nicht einfallen ließ, die fürstliche Kammer, die doch dabei gewann, würde mir es verargen. Aber sie sagen, ich sei nicht klug, verdürbe die hiesigen Bauern, die unter andrer Leute Aufsicht ständen, und machte sie unzufrieden, weil die, unter deren Aufsicht sie ständen, gescheitere Männer wären und man sie nicht darum als Kammerräte über die Bauern gesetzt hätte, um solche Narren wie ich zu sein. Sie sagen, ein Strich Landes müsse nach eben der Regel behandelt werden wie der andere und der Kammerrat, welcher von dieser Regel abweiche, schade denen, die bei dieser Regel blieben. Ja, ein solcher Kammerrat schade am Ende dem Fürsten selbst; denn der Fürst könne doch unmöglich so verfahren wie der Kammerrat, der von der Regel abweiche, wenn er Fürst bleiben wolle. Man müsse sich wohl hüten, sagen sie, die Ansprüche der Bauern über die Gebühr zu reizen, weil es sonst kein Ende damit nehme, und das Allerklügste wie das Beste sei, alles bei dem alten zu lassen. Dies kann nun so wahr als klug sein; mir tut es nur leid, daß es so ist. Und sehen Sie nur, wie sich alles sonderbar fügen und schicken muß. Vor einiger Zeit brannten in einem der benachbarten Dörfer einige Häuser mit Habe, Fahrt und der eingeführten Ernte [241] ab. Das Elend war groß, und ich wußte, wie langsam alles bei der Kammer vermöge dieser Regel geht. Ich wich also, mit gutem Gewissen, meinte ich, ein wenig von dieser Regel ab, nahm von meinem Eignen, was ich zusammenbringen konnte, und lieh das Fehlende aus der fürstlichen Kasse; denn sehen Sie nur, zehn Monate hatte ich schon von meinem Gehalt verdient, zwei Monate hatten bis zur Zahlung noch zu laufen. So borgte ich demnach nur, was ich schon abverdient hatte. Wie dieses die Kammer erfahren hat, das weiß ich nicht. Man kam auf einmal, untersuchte die Kasse vor der gewöhnlichen Zeit, und als man sie eröffnete, sagte ich den Herren, was und warum ich es getan. Man erschrak gewaltig, bedauerte höchlich den besondern Vorfall, wollte gehörigen Orts melden, und ich erhielt nicht lange hierauf meinen Abschied wegen des gefährlichen Beispiels, das ich gegeben. Der Abschied enthielt noch allerlei sonderbare Vorwürfe, Vorwürfe, Herr Hadem, die ich gar nicht vermuten konnte. Aber man erfährt allerlei in dieser Welt, wenn man nicht so klug ist wie die Herren. Es meldeten sich noch einige Schuldner, und so verkaufte man geschwind mein Haus mit dem Gärtchen und machte den Mann, der jetzt darin wohnt, zum Bettler. Ich kann ihm nicht helfen, so viele Mühe ich mir auch gebe; denn die Bauern sind so eigensinnig, so aufgebracht – und, denken Sie, der arme Mann kann nicht einmal das Gärtchen nutzen – was soll er mit den Kräutern und Gesäme machen, das ich dort gepflanzt habe, das Ihnen so viel Freude machte! Alles fault, lieber Herr Hadem!

Einen Augenblick, ich muß doch der guten Schulzin sagen, daß sie etwas mehr zum Mittag anrichte, die jungen Herren werden Hunger haben. Der Schulze wird nun bald nach Hause kommen. Denken Sie nur, der eigensinnige Mann wollte den Branntwein zu den Umschlägen nicht bei dem Wirte »Zum Verschwender« kaufen, so sehr es auch not tat; er lief lieber nach dem Städtchen. – Er gab Hadem den Fliegenwedel und ging hinaus.

Hadem setzte sich vor das Bett und blickte nach seinen Zöglingen. Ferdinand bat um den Fliegenwedel. Ernst sah unverwandt nach der Türe, und als der Kammerrat wieder hereintrat, [242] ging er ihm entgegen, begleitete ihn bis zu seinem Schemel und setzte ihn zurecht, als Hadem aufstand. Der Kammerrat sagte: »Alles ist bestellt. Mir ist es sehr lieb, Herr Hadem, daß ich einmal der häuslichen Sorgen los bin. Ich konnte nie mit dem Gesinde zurecht kommen, weil ich das Zanken nicht verstehe; und recht zu zanken ist eine größre Kunst, als Sie wohl glauben. Man muß nach dem Sinne eines jeden zu zanken wissen, wenn es wirken soll. Nun habe ich mehr Häuser als unser guter Fürst und nicht die geringste Sorge dabei. Darum sage ich eben: wenn die Kammer recht hat, daß ich ein Narr bin, so bin ich ein sehr glücklicher Narr!«

Ernst ergriff seine Hand: »O Gott! laß mich es so werden!«

Hadem sah Ernsten gerührt an. Ferdinand bewegte den Fliegenwedel stärker. Der Kammerrat lächelte und sagte zu Ferdinand: »Sie machten es recht gut, wenn es ein wenig langsamer ginge. Ich will indessen die Kräuter dort pflücken!« Ernst half ihm, und Hadem unterhielt sich mit dem Kinde, das ihm erzählte, was es von dem Kammerrat gelernt habe.

Der Schulze kam nach Hause. Man setzte sich zu Tische, und die Zeit verflog unter Gesprächen über das Leben des Landmanns. Der Kammerrat legte zuzeiten die Umschläge auf, und Hadems Zöglinge gingen ihm zur Seite, wohin er sich wendete. Er begleitete die Rückkehrenden: der Abschied ward wie von Freunden genommen, und Ernst pflückte beim Heimwandeln in den blühenden Feldern einen Kranz von Feldblumen und Ähren, den er sehr fest und sorgfältig zusammenfügte und dann am Arme trug. Er bestimmte ihn im Geiste zur Zierde seiner gewählten Blende in der Höhle; da sollte er als ein Denkmal des Mannes hangen, der dieses Paradies geschaffen hatte und dessen Tugend und Güte so rein waren.

6.

Beim Abendtische erzählten die Jünglinge dem Oheim, wie angenehm sie diesen Tag auf dem Lande zugebracht hätten. Der Oheim ließ sich erzählen und sah während der Erzählung verdrießlich [243] auf Hadem. Als aber Ernst über den Undank und die Ungerechtigkeit klagte, die man gegen den Kammerrat ausgeübt, und von diesem Manne in dem Gefühle sprach, in welchem er ihn ansah, endlich gar seinen Oheim dringend bat, sich für ihn zu verwenden, sagte der Präsident in einem rauhern Tone, als er bisher noch getan hatte:

»Herr Hadem, wissen Sie wohl, daß ich Präsident dieser Kammer bin? daß ich des Toren Abschied unterschrieben habe? daß ihm widerfahren ist, was er mehr als verdient hat? Soll mein Neffe etwa von Ihnen lernen, sein Oheim sei ein ungerechter Mann? Und was soll das heißen, daß Sie die jungen Leute zu einem Toren führen, dessen Beispiel, Narrheit und Spiegelfechterei so verderbend als ansteckend für sie sind? Zu einem Phantasten, der die fürstliche Kasse mit der Rechten bestiehlt, um mit der Linken, wie Hans Eulenspiegel, Almosen zu spenden! Ich mag mich jetzt nicht weiter über diese Sache herauslassen und sage Ihnen nur so viel, daß dieses nicht die Leute sind, zu denen ein Hofmeister die ihm anvertraueten jungen Edelleute führen muß, da sich in der Residenz und vorzüglich in meinem Hause bessere, anständigere und nützlichere Bekanntschaften für sie machen lassen.«

Hadem antwortete kalt und trocken:

»Den Schaden, Eure Exzellenz, der durch diesen Besuch diesen jungen Edelleuten widerfahren sein mag, habe ich gegen Herrn von Falkenburg zu verantworten.«

»Sie vergessen, mein Herr, daß ich nun seine Stelle vertrete!« sagte der Präsident mit Unwillen.

Hadem erwiderte: »Das weitere nach der Tafel, Herr Präsident!« Ernst trat bittend zu seinem Oheim, ergriff sanft seine Hand und küßte sie. »Sie irren sich, lieber Oheim; dieser Besuch ist uns sehr nützlich gewesen. – Verzeihen Sie mir meine Zudringlichkeit; und sollten Sie mir dieselbe auch nicht verzeihen, so muß ich doch noch einmal für den Kammerrat bitten, dem so viel Unrecht geschehen ist. Gewiß hat man Ihnen in Ansehung seiner nicht die Wahrheit gesagt; er hat Feinde, der gute Mann. – Hören Sie die Wahrheit von mir!«

[244] PRÄSIDENT: Ich weiß sie recht gut, lieber Neffe, die Wahrheit, und weiß auch, daß dieser Tor keinen größern Feind hat als sich selbst. Vernimm nun mein letztes Wort über diesen mir jetzt noch gehässigern Punkt. Laß dir dasselbe als ein Edelmann, der einst tätig in der Welt auftreten muß, von einem erfahrnen Geschäftsmann gesagt und unvergeßlich sein. Jeder Staat, er sei groß oder klein, besteht durch ein Ding, an das alles gefesselt ist und gefesselt bleiben muß, das alles durch feste, unabänderliche Ordnung in Abhängigkeit von sich hält. Dieses Ding, Ernst, heißt System, und nach ihm muß sich ein jeder von uns bequemen, er sei und heiße wie er wolle. Es ist unser aller gewaltiger Herr und Herrscher. Der Fürst selbst muß sich ihm unterwerfen und gleicht dadurch dem Gott der alten Fabel, der zwar alles beherrscht, aber von dem ewigen Schicksal, vor ihm selbst geboren, abhängt. Sieh, ich kann auch in Bildern reden und beweise dir nun, daß ich die Bücher gelesen habe, die dich zu erhitzen scheinen. Er blickte nach Hadem und fuhr fort. Jeder kühne Vernünftler nun oder jeder heiße Schwärmer, der durch anmaßende Zurechtweisungen, unregelmäßige Eingriffe den festen Gang dieses kalten, unbiegsamen, notwendigen Wesens, das alles zermalmet, was sich ihm entgegenstellt, und das die Menschen zu ihrer eignen Erhaltung als Herrscher über sich erschaffen mußten, zu stören wagt, zerstößt sein leeres oder feuriges Gehirn an diesem in Erz gepanzerten Riesen. Ich habe bemerkt, daß die Metapher deine Lieblingsfigur geworden ist; so wirst du mich ja um so leichter verstehen.

Hadem saß da, als führen verzehrende Blitze aus dem Munde des Redenden. Er sah durch einige Atemzüge des gereizten kalten Mannes sein ganzes Gebäude erschüttert, die Blüten seiner Hoffnung von einer giftigen Luft in dem Augenblick angehaucht, da sie eben aus der Knospe dringen wollte.

Ernst stand da, als habe sein Oheim durch einen Zauberspruch die Sonne verfinstert und ihn mitten in den Kreis scheußlicher, der Finsternis entsprungener Gespenster gestellt.

Hadem wollte reden. Der Präsident hob die Tafel auf und trat mit ihm in ein Seitenzimmer. Er sprach:

[245] »Es scheint nicht, Herr Hadem, daß Ihnen das sehr gefalle, was ich soeben notgedrungen sagen mußte. Ich glaube es gerne; denn ihr Herren, die ihr auf eurer Studierstube die Menschen und ihr Wesen nur aus Büchern kennenlernt, tragt gar zu gern eure abgezogenen Begriffe in die Welt über, in welcher ihr immer Fremdlinge seid und bleibt. Ich dachte wohl, daß Sie so etwas diesem Ähnliches vorbringen würden; darum endigte ich das Gespräch im Speisesaal. Glauben Sie mir, Herr Hadem, nichts ist jungen Leuten von lebhaften Gefühlen nachteiliger, als wenn man ihre Erwartungen von den Menschen und ihrem Wert über die Grenzen der Wirklichkeit treibt. Denn entweder sieht der junge Mann ein, daß man ihm zu viel gesagt hat, und wirft plötzlich alles als Lüge weg, wird ein schlechter Kerl; oder, hat er Kraft und Stolz, so wird er am Ende ein mißmutiger, melancholischer Tropf, sich und andern zur Last. Darum frage ich Sie nun als ein Mann, der beides haßt: was denken Sie eigentlich in meinem Neffen zu erziehen?«

HADEM: Und so antworte ich Ihnen als ein Mann, der auch beides haßt. – Wenn es mir glückt, wie ich zu hoffen Grund habe, wenn Äußerungen, wie ich soeben vor der Zeit vernehmen mußte, mich nicht in meinen schönen Hoffnungen betriegen ...

Der Präsident ward finster-ernsthaft.

Hadem fuhr fort: »Warum sollt ich Ihnen nicht sagen, daß Bemerkungen, Bilder über die Gesellschaft, der wir einst beitreten sollen, so fürchterlich und ohne alle Vorbereitung aufgestellt, wie Sie es eben taten, nur dann von uns ertragen und richtig beurteilt werden können, wenn unser Herz schon so weit ausgebildet, schon seiner so mächtig geworden und mit der Vernunft in eine so richtige Übereinstimmung gebracht ist, daß es unsre eigennützigen Leidenschaften, unsre selbstigen Triebe und Begierden, die aus dergleichen auf sogenannte Erfahrung gegründeten Sätzen entspringen, meistern kann? Leicht nimmt der Mensch die Stelle des Ganzen ein und sieht es gerne für einen Gegenstand an, mit dem der am besten auskommt, der ihn am klügsten zu seinem Vorteil zu benutzen weiß. Ich denke Ernsten und seinen Freund so hoch zu stellen, daß sie nie im Schlamm [246] des Eigennutzes versinken können; und darum müssen die Flügel, die sie über diesem Pfuhl emporhalten sollen, aus ihrem eignen Herzen wachsen. Hier haben Sie meine Antwort auf Ihre Frage und den ganzen Sinn meines Erziehungsplans.«

PRÄSIDENT: Und nochmals frage ich: was wollen Sie in meinem Neffen erziehen?

HADEM: Einen Menschen.

PRÄSIDENT: Einen Menschen!

HADEM: Und zwar in dem Sinne, weil Sie doch die Bedeutung von mir hören wollen, daß er es nicht für sich allein sei, daß er es für jeden sei, es für sich selbst, in jeder Lage des Lebens, er sei glücklich oder unglücklich, reich oder arm, verbleibe; daß er jeden Schlag des Schicksals, der Bosheit der Menschen ertragen lerne und keinem unterliege, daß er keinen größern Sieg kenne als den Sieg über sich und seine eigennützigen Leidenschaften, über das Böse und Unrecht anderer. Einen Menschen hoffe ich in ihm zu erziehen, der eine stille, gute Tat der größten und rauschendsten vorziehe und der den Menschen so durch sich und sein Wirken achten lerne, daß er ihn in keinem, auch in dem Geringsten nicht, verachte, der fest glauben lerne und nie vergesse, daß es nur Leute der Art sind, wozu ich ihn bilden möchte und wozu er so vielversprechende Anlagen hat, die das gepanzerte Gespenst, das Sie so fürchterlich schreckend auftreten ließen, noch so im Zaume halten, daß es die Menschen, die es, wie Sie selbst sagen, nur um ihrer Erhaltung willen geschaffen haben, nicht unter seinem ehernen Fuße zermalmen kann.

PRÄSIDENT: Ein Stoiker könnte nicht erhabener sprechen! Setzen Sie das Horazische »Er ist König!« hinzu, und das Bild des Weisen ist vollendet. Freilich sind dieses gewaltige Machtwörter, Herr Hadem; aber ihr zauberischer Glanz verdunkelt sich gar schnell vor dem Zwitterlichte, das uns in diesem Sumpfe, wie es Ihnen das menschliche Leben zu nennen beliebt, noch immer leuchtet. Wir stecken nun einmal darin und müssen es sogar leiden, daß es uns Leute Ihrer Art von ihrer glänzenden Höhe zurufen. Indessen ist leider auch meinem Neffen ein Platz in diesem Sumpfe angewiesen, und er muß einmal darnach erzogen [247] werden, daß er darin nicht versinke. Darum, Herr Hadem, einen Edelmann und keinen Menschen – Sie verstehen ja, was ich sagen will.

HADEM: Und so, Ew. Exzellenz, daß jede Antwort überflüssig wäre.

Der Präsident wendete ihm verdrießlich den Rücken zu.

7.

Ernst ging wie im Traum auf das Zimmer. Sein innrer Sinn schwankte, und das hohe Gebilde seiner Seele, in jugendlicher Begeistrung errungen, schien hinter fernen dunklen Wolken außer seinem Gesichtskreise zu schweben. Der Sinn der Worte, die der Präsident gesagt hatte, bildete sich in ein furchtbares, drohendes Wesen um ihn aus; und schon jetzt würde es sich ihm in dieser Spannung enthüllt haben, wenn der Mann, der die Veranlassung dazu gab, nicht aus dem ihn umschattenden Dunkel hervorgetreten wäre. Seine reine, einfache Tugend warf einen sanften Lichtstrahl auf den Kranz, den er heute gepflückt hatte und der jetzt über seinem Hauptküssen hing. Die Wolken, die seine Göttin verhüllten, wurden wieder lichter.

»Ferdinand!« rief er nach langem Schweigen; »du hast gehört, daß ich meinen Oheim umsonst für den Kammerrat gebeten habe. Der arme, gute Kammerrat! Wie konnte der Oheim mir eine so billige, so kleine, so gerechte Sache abschlagen!«

FERDINAND: Wenn ich deinen Oheim recht verstanden habe, so hat er dir sie eben darum abgeschlagen, weil sie gerecht ist und er unrecht hat. Auch dünkt es mich nach seinen Reden, daß es eben nicht die kleinste und leichtste Sache in der Welt ist, gerecht zu sein. Und um so besser, Ernst! Es ist mir recht lieb, daß es sich so verhält. Um so mehr können die, welche den Mut haben, gerecht zu sein, Lob und Ruhm in der Welt erwerben. Wie, wenn wir nun dem guten Kammerrat trotz dem Oheim zu helfen suchten, helfen könnten!

ERNST: Trotz dem Oheim? Und wie?

FERDINAND: Ich möchte gar zu gerne das ganze Fürstentum [248] in einen solchen Garten verwandelt sehen, den Hadem mit allem Rechte ein Paradies nennt. Und wenn ich mich so mitten hineinsetzen könnte, als sein Schöpfer –

ERNST: Dich? Was träumst du nun wieder von der Zukunft! Ich dachte, du wüßtest ein Mittel, dem Kammerrat zu helfen, ihm sein Haus, seinen Garten, seine Stelle wieder zu verschaffen!

FERDINAND: Dies ist es eben, was mich beschäftigt; und darum, Ernst, muß etwas Kühnes unternommen werden, etwas, das kein Mensch von uns erwartet, so etwas, das deinen klugen Oheim selbst in Erstaunen setzt.

ERNST: Und was?

FERDINAND: Es wird in der ganzen Stadt, am Hofe selbst Aufsehen machen, darauf verlasse dich. Ich dachte es mir schon heute, als ich an dem Bette des kranken Knaben stand, die Fliegen wegjagte und den guten Mann so reden und handeln hörte und sah.

ERNST: Schon da dachtest du es? Nun, so muß es gewiß ein guter Einfall sein, da du ihn in diesem Augenblicke gehabt hast. Ich dachte an weiter nichts als wie glücklich er wäre, wie er gar nichts zu bedürfen schiene. Aber nun, Ferdinand, da ich meinen Oheim so von ihm reden hörte, denke ich ganz anders, und jetzt denke ich auch, daß ihn die Menschen brauchen, daß ihn die brauchen, die an das Wesen, von welchem mein Oheim so ängstlich für mich sprach, gefesselt sind. Er nannte das kalte, ungeheure Ding System; und mich überläuft ein frostiger Schauder, wenn ich das Wort ihm nachspreche. Ach, ich sehe es wohl, eben dieses furchtbare Wesen hat den guten Kammerrat zermalmet; und herrscht wirklich ein solches Ungeheuer überall, so fürcht ich, Ferdinand, es wird auch mich zermalmen.

FERDINAND: Das würde es gewiß, wenn wir uns vor ihm fürchteten, aber das wollen wir nicht. Wir fürchten uns ja nicht vor andern Gespenstern, sondern lachen über den Wahn, der sie erzeugt. Und mit diesem da, das der Oheim so schrecklich malt, möchte ich am liebsten kämpfen.

ERNST: Auch ich könnte es; aber was hast du ersonnen?

FERDINAND: Geradezu an den Fürsten zu schreiben, der, wie [249] alle sagen, so gut ist, und ihm die ganze Geschichte des Kammerrats zu erzählen. Ich wette, er gibt ihm alles zurück, und dann kann der Kammerrat noch mehr Gärten in des Fürsten Lande pflanzen.

ERNST ging auf und ab: Und mein Oheim?

FERDINAND: Deinen Oheim hat die Kammer betrogen; wie hätte sonst er, ein so kluger Mann, etwas zum Nachteil der Kammer und des Fürsten tun können? Hätte er es aber gekonnt, Ernst, so muß einer aus eurer Familie wieder gutmachen, was der andere schlecht gemacht hat, und so die Ehre der Familie retten. Mein Timoleon schonte seines Bruders nicht, als dieser anfing, ungerecht zu sein.

ERNST: Ferdinand, ich will hoffen, mein Oheim hatte keinen Teil daran.

FERDINAND: Und wenn nun? Wir zeigen ihm doch, daß wir uns vor seinem Gespenste so wenig fürchten als Hadem, den dessen Hervorrufen nur deshalb zu bekümmern schien, weil er ganz anders von der Sache denkt. Und sagt uns Hadem nicht immer, daß man bei guten, gerechten Unternehmungen weder auf sich noch andre Rücksicht nehmen müsse? Sollte ich nun etwas unternehmen, so würde ich eher Hadem als deinen Oheim um Rat fragen; denn mich dünkt, dein Oheim weiß recht gut, was sein Gespenst ihm nützt, kümmert sich aber nicht sehr viel darum, was es andern schadet.

ERNST: So laß uns Hadem um Rat fragen.

FERDINAND: Auf keine Weise. Ich teile den Ruhm der ersten guten Tat, die wir unternehmen wollen, nur mit dir, mit keinem andern, selbst mit Hadem nicht. Nur dir bin ich dieses und alles schuldig, von der Höhle her. Ernst, es muß eine Jugendtat sein – und soll sie ihn recht freuen, die Tat, soll er sie als eine Wirkung seiner uns gegebenen Lehren betrachten, so muß sie ohne seine Leitung geschehen. Leicht könnte es ihm auch bei deinem Oheim, der ihn eben nicht zu lieben scheint, Verdruß machen, und da es etwas für die Gerechtigkeit Gewagtes ist, so müssen wir alle Gefahr allein bestehen.

In Ernstens Seele arbeitete die Vorstellung des Unternehmens [250] mächtig. Schon entwarf er im Geiste, was er dem Fürsten schreiben wollte. Er wendete sich zu Ferdinand:

»Aber wie dem Fürsten den Brief zustellen?«

FERDINAND: Nichts ist leichter. Erinnerst du dich der dunkeln Laube am hellen Teiche, der grünen Insel gegenüber, wo wir ihn jeden Morgen von fern mit einem Buche allein sitzen sehen? Wir legen den Brief auf die Bank und verschwinden. Er kommt, findet, liest; und der Kammerrat erhält, was wir ihm wünschen.

Die Jünglinge kleideten sich aus. Hadem kam; er fand sie ruhig, sah in Ernstens Augen den Duft der schönen Begeistrung und schmeichelte sich mit der Hoffnung, daß die Reden des Oheims ohne gefährliche Wirkung an ihm vorübergegangen wären.

Im Traume arbeitete der Gedanke in Ernstens Seele fort. Er erwachte sehr früh und rief Ferdinand. Da dieser von dem gestrigen Vorhaben nichts erwähnte und ganz ruhig im Bette blieb, so sprang Ernst auf, kleidete sich schnell an und schrieb dem Fürsten die Geschichte des Kammerrats in eben dem schönen und einfachen Gefühle, wie sein junges Herz sie gestern empfunden hatte. Er endigte mit den Worten: »Ich fürchte durch eine Bitte für den Kammerrat einen so guten Fürsten zu beleidigen, da jede Bitte einen Zweifel an seiner Güte und Gerechtigkeit voraussetzt.« Ehe Hadem und Ferdinand aufstanden, war Ernst schon in dem fürstlichen Garten gewesen und hatte sein Schreiben an Ort und Stelle gebracht. Auf den Schwingen der ersten guten Tat flog er nach Hause und lispelte die Zeitung davon in das Ohr des noch schlafenden Ferdinands.

Es war der erste Schritt, der erste Gedanke, den er Hadem verheimlichte, und dieser Schritt entschied über seine Denkungsart, die Stimmung seines Geistes und verdunkelte über den wichtigsten Punkt seines Lebens sein Gefühl so sehr, daß er dessen in spätern Zeiten nie mehr so mächtig werden konnte, wie er es in seiner schönen, blühenden Jugend im Busen trug.

[251] 8.

Der Präsident ward nach Hofe gerufen, und der Fürst gab ihm mit freundlicher Miene den Brief seines Neffen, Er las, beobachtete dabei diese Miene, gab den Brief lächelnd zurück und erzählte dann dem Fürsten in einem leichten Tone, was abends vorher zwischen ihm und seinem Neffen vorgefallen sei. Zugleich gab er dem Fürsten zu verstehen, er glaube, der Hofmeister verwirre dem jungen Menschen den Kopf, bat dann für den Jugendstreich um Vergebung und versicherte dem Fürsten, er wolle alles in der Stille in Ordnung bringen.

Der Fürst antwortete:

»Ich habe Ihrem Neffen gar nichts zu vergeben und bin so wenig gegen ihn aufgebracht, daß ich ihn vielmehr zu sehen wünsche. Der Brief ist schön, ruhig und bescheiden abgefaßt. Ich erinnere mich von langer Zeit her keines, der mir so viel Vergnügen gemacht hätte. Herz und Verstand sprechen hier, und meine Räte schreiben nie so. Der junge Mensch tat, was ich selbst so gern tue, er will einem nützlichen Manne helfen, und dazu wählte er den geradesten Weg. Diese Einfälle kommen unsern jungen Leuten jetzt ebenso selten wie den Alten, und darum muß man ihn so behandeln, daß man ihn nicht abschrecke. Leicht könnten wir hier das Gute zerrütten, das sich mit so vieler Güte, mit so unschuldigem Vertrauen zeigt. Sorgen Sie nur dafür, daß der Kammerrat wieder angestellt werde; denn ich glaube der Erzählung Ihres Neffen mehr als Ihren Räten. Diese verdrehten aus Liebe zur Ordnung einen Umstand, den der junge Mensch viel richtiger gefaßt hat.«

Der Präsident äußerte, es sei nie sein Wille gewesen, den würdigen Kammerrat in Untätigkeit zu lassen. Was geschehen sei, habe ihm selbst sehr leid getan; aber das Sonderbare der Umstände habe ihn dazu gezwungen. Der Posten, den er ihm jetzt bestimme, sei von der Art, daß der Kammerrat in demselben alle seine Eigenheiten ohne Nachteil für andere ausüben könne; nur bitte er Seine Durchlaucht, ihm noch einige Frist zu geben, damit sein Neffe nicht etwa glauben möge, er habe es durch die [252] Klage bewirkt. Er fürchte die Folgen davon nur für seinen Neffen, da die Welt seinem Benehmen wahrscheinlich eine andere Wendung geben werde, als es die wirklich gute Absicht des Jünglings verdiene. Auch wage er es, Seine Durchlaucht zu bitten, seinen Neffen jetzt nicht zu sehen, es könnte zu viel Aufsehen machen, vielleicht gar den Stolz des jungen Menschen reizen; und nichts sei gefährlicher für Jünglinge von der sonderbaren Geistesstimmung seines Neffen. »Gewiß«, setzte er hinzu, »wird niemand in der Residenz, da doch im Grunde die Klage seinen Oheim betrifft, so darüber denken wie Ew. Durchlaucht und ich. Soll ich nun den Jüngling dem Unwillen der Welt über eine Handlung aussetzen, für die er, wie Sie selbst zu sagen geruhen, Lob verdient?«

Der Fürst fand seine Vorstellung billig und weise. Er nahm den Brief aus den Händen des Präsidenten zurück und äußerte: »Sagen Sie Ihrem Neffen, daß ich diesen Brief als ein mir getanes Gelübde aufbewahren will, daß ich, wenn er ein Mann sein wird, nach diesem Briefe urteilen werde, ob er gehalten hat, was er hier verspricht, wozu er sich durch einen solchen Schritt als Jüngling verpflichtet. Sagen Sie ihm, daß ich auf ihn rechne – und Ihnen wünsche ich Glück zu einem solchen Neffen.«

9.

Der Präsident spottete in seinem Herzen über das Benehmen des Fürsten bei einer Sache, die ihm so widerlich und empörend vorkam. Gleichwohl war er mit der Wendung sehr zufrieden, die sie genommen hatte. Mit ganz andern Empfindungen kehrte er nach Hause zurück. Die Handlung seines Neffen malte sich mit den schwärzesten Farben vor seinen Augen. Er betrachtete sie als ein Verbrechen gegen seinen nächsten Verwandten und ihn selbst als einen gefährlichen Aufrührer gegen die Gerechtigkeit, die er nach Gesetze und Recht gegen einen schädlichen Toren ausgeübt zu haben glaubte. Die ganze Tat kam ihm durch diese Vorstellung so frech und unerhört vor, daß sein ganzer Haß auf den Neffen gefallen sein würde, wenn der stärkere Haß [253] gegen Hadem nicht in diesem Augenblick auf diesen, als den Urheber der ihm so widrigen Tat, gezeigt hätte. Hadem mißfiel ihm von dem ersten Augenblick an, da er ihn sah; er war nun froh, ihn schuldig zu finden, und seinen Neffen, den er als Sohn seiner Schwester und dadurch als einen zu seiner Familie Gehörigen zu lieben glaubte, entschuldigen zu können. Er ließ sogleich Hadem rufen und fragte ihn mit spöttelnder, verachtungsvoller Kälte:

»Herr Hadem, wollen Sie einen Don Quichotte in meinem Neffen auferziehen, der sich mit der Welt für die Dame Gerechtigkeit auf Leben und Tod herumschlage, um seine Tage endlich im Tollhause oder auf einem Dorfe zuzubringen wie der Held, um dessentwillen er den dummen Streich gemacht hat?«

HADEM: Ich verstehe Ew. Exzellenz nicht.

PRÄSIDENT: Verstellen Sie sich nur! Wenigstens soll es Ihnen hier an Zeit fehlen, auch diese Kunst meinen törichten Neffen zu lehren.

HADEM: Wie sollte ich zu dieser Kunst kommen? wie ihrer bedürfen? Präsidiere ich doch weder am Hofe noch in einem Departement! – Sie scheinen eine Klage gegen mich zu haben; warum bringen Sie diese nicht ebenso gerade und bieder vor als ich sie, wie Ew. Exzellenz wohl sehen, erwarte?

PRÄSIDENT: So hören Sie denn, biedrer, ehrlicher Mann! Ich habe soeben in den Händen des Fürsten einen Brief meines Neffen gesehen. In diesem Brief klagt mein Neffe über die Ungerechtigkeit, welche die Kammer, deren Präsident ich bin, wie Sie und er wissen, gegen den Narren von Kammerrat begangen haben soll. Herr Hadem, glaubte ich, daß mein Neffe diesen Brief aus eignem Antrieb geschrieben hätte, ich würde ihn zur Stelle aus dem Hause stoßen, in welchem er Blutsverwandtschaft und Gastrecht so schändlich beleidigt und gebrochen hat. Aber es ist Ihr Werk; meine gestrige vernünftige Vorstellung hat Sie beleidigt, und um sich zu rächen, haben Sie den jungen Phantasten gegen seinen nächsten Verwandten empört – haben ihn selbst dem Fürsten auf immer lächerlich gemacht. Ich denke doch, Sie wissen, was für Folgen dieses für ihn haben muß. Erfährt [254] es nun die Stadt, so muß er ein Gegenstand des allgemeinen Hasses und Absehens werden. Und noch einmal – bei Gott! – könnte ich glauben, die Bosheit käme von ihm her, ich würde ihn den Augenblick aus dem Hause jagen – ihn wegschleudern wie ein giftiges Ungeziefer – die ganze Verwandtschaft vor dem jungen Ungeheuer warnen, das schon so früh den Busen derer verwundet, mit denen es durch das Blut verwandt ist.

Kaum faßte Hadem den ganzen Sinn der Worte des Präsidenten, als er alle die Folgen dieses unüberlegten Schrittes für sich und seinen geliebten Zögling einsah. Er begriff die Tat, ihren reinen Bewegungsgrund in dem Herzen des Jünglings, und schmerzlich drangen die Worte des Präsidenten, er habe sich bei dem Fürsten lächerlich gemacht, er müsse ein Gegenstand des Abscheus werden, in seine Seele. Dieser Schmerz wurde aber bald durch ein noch peinlicheres Gefühl verdrängt. Wenn er erklärte und bewiese, daß er von dem ganzen Vorfall nichts wüßte, so würde der edle Jüngling, beladen mit dem Hasse seines Oheims, aller seiner Verwandten, vielleicht selbst seines Vaters, dastehen; und wie müßte dieser Haß auf sein fühlbares Herz, seinen hochgestimmten Geist wirken! wie ganz seine Denkungsart verkehren, vergiften und alles geträumte Glück vernichten! Sollte er ihn aus dem Hause seines Oheims stoßen lassen? sich mit ihm? wie ein mit ihm von seinem nächsten Verwandten Verstoßner und Verbannter zu dem Vater wandern?

In dieser Angst für den von ihm so unaussprechlich geliebten Jüngling sah er für ihn keine andere Rettung als die Schuld allein auf sich zu nehmen, alle Vorwürfe des Oheims, ohne Entschuldigung, ohne ihn weiter zu reizen, als verdient geduldig und bescheiden anzuhören. Er schwieg und sah ihn mit den Blicken eines Mannes an, der sich zum Besten eines andern vergißt, dessen Glück er seinem eignen vorzieht.

Der Präsident sah sein Schweigen als ein Geständnis an und sagte:

»Ihr schweigendes, demütiges Geständnis söhnt mich wieder mit meinem Neffen aus, und ich bin so erfreut darüber, daß ich Ihrem eignen Gewissen die Vorwürfe überlasse, die ich Ihnen zu [255] machen so sehr berechtigt wäre. Ich ziehe einen Schleier über das Geschehene, weil ich die ganze Geschichte zur Ehre meines Hauses, der Familie und zum Vorteil meines Neffen unterdrücken will. Sie können nur dadurch einen Teil des von Ihnen veranlaßten Übels wiedergutmachen, daß Sie mir hierin behülflich sind. Ernst soll von allem nichts erfahren, er soll nicht wissen, wie der Fürst über seine Torheit denkt. Den Grund davon werden Sie, hoffe ich, begreifen. Sie verlassen in einigen Stunden mein Haus; ich sorge dafür, daß alles zu Ihrer Abreise fertig ist. Sie versprechen mir jetzt, mit meinem Neffen nicht über das Geschehene zu reden und ihm zu verschweigen, daß Sie ihn verlassen, warum Sie ihn verlassen. Ich werde ihm dieses auf eine Art ankündigen, die ihn gewiß befriedigen wird. Und ferner geben Sie mir Ihr Wort, an meinen Neffen nicht zu schreiben; wir haben schon an dieser Probe genug.«

Der Gedanke an die plötzliche Trennung von seinem geliebten Zögling, die Furcht vor den Folgen dieser unvorbereiteten Trennung für denselben erschütterten Hadems männlichen Mut. Die Tränen brachen aus seinen Augen hervor, er wankte gegen einen Stuhl hin, um sich daran zu stützen.

Der Präsident, welcher seine Empfindungen falsch deutete, klopfte ihm leise auf die Schulter und sagte kalt:

»Ich wünsche von Herzen, daß dieses die letzte Torheit sei, die Sie zu beweinen haben mögen.«

Hadems Tränen erstarrten in seinen Augen, er sah den Mann mit einem Blick an, den dieser nicht ertragen konnte.

»Sie geben mir Ihr Wort?« fragte der Präsident abgewendet.

HADEM: Ja, ich gebe es Ihnen; es ist zugleich das letzte, das Sie von mir hören sollen. Vergessen Sie nur nicht, Herr Präsident, daß in dem Jüngling, den Sie einen Phantasten nennen, ein Mann keimt, für den Sie weder in Ihrem Herzen noch in Ihrem Geiste einen Maßstab haben. Hüten Sie sich deshalb, da nach Ihrer Art modeln und künsteln zu wollen, wo die Natur so kräftig und schön gebildet hat!

Er ging nach dem fürstlichen Garten, um sich zu sammeln. Unter dem tiefen Schmerz des Abschieds von dem liebenswürdigen [256] Jüngling, in welchem er alle seine schönen Träume von edler Menschheit nach und nach lebend aufblühen zu sehen hoffte, tröstete ihn jetzt nur der einzige Gedanke, daß er durch sein Benehmen die Härte des Schlages für ihn gemildert habe. Der gestrige Tag, die Veranlassung zu dem Besuche bei dem Kammerrat, der alle die Ereignisse erzeugt hatte, drangen auf ihn ein; er sah sich von allem als die Ursache an. Obgleich der Bewegungsgrund seiner Handlung und seiner Reden so rein war, so sah er doch jetzt mit trübem, traurigem Blicke zum Himmel auf, und seinen bebenden Lippen entfielen die Worte:

»Sieh das Schicksal eines von deinen edelsten Geschöpfen durch Zufälle herbeigeleitet, die ich veranlaßte, weil ich ganz andere Folgen davon erwartete! Gehört der unvermutete, für mich so peinliche Schlag zu meiner, zu des Jünglings Prüfung? Mußte ihn darum eine so rauhe Hand aus dem süßen Traume aufschrecken, aus welchem ich ihn ohne Erschütterung zu erwecken hoffte? Ich hatte sein Erwachen vorbereitet, und mitten in dieser Welt sollte er so leise und sanft erwachen, wie der Säugling an dem Busen der sorgfältig wachenden Mutter. Gleich ihm sollte er wissen, wohin er sein Haupt legen könnte. Ganz sollte er erst fühlen, wie und wozu du den Menschen gebildet hast, eh er erführe, was der Mensch aus sich gemacht hat! Ich kann es nun nicht mehr. Erhalte du ihm die Denkungsart, die ich so sorgfältig gewartet habe; entferne den finstern Eindruck dieser Ereignisse von seinem reinen Geiste und laß die Worte der Beschwörer von seinem guten Herzen abgleiten. Gib ihm einen guten Führer, der seine Seele nicht mit Tand, Wahn und Gaukeleien vergifte. Bewahre das Heiligtum seines Herzens, in welchem sich die Schöpfung, dein erhabenes Werk, so schön und treu abspiegelt. Laß mich ihn einst wiederfinden, wie du mir ihn gabst!«

Hadem kam spät nach Tische zurück. Seine Zöglinge, gespannt durch die Erwartung des Ausgangs von ihrem Unternehmen und beunruhigt über die ungewöhnliche, lange Abwesenheit ihres Lehrers, sprangen ihm entgegen, als sie ihn die Treppe heraufkommen hörten, und führten ihn in ihr Zimmer. Er trat bis in [257] die Mitte desselben, sah Ernsten mit seiner gewöhnlichen Freundlichkeit an und sagte:

»Lieber Ernst, vergessen Sie nicht, was ich Ihnen in diesem Augenblick und viel früher sagen muß, als es mein Vorsatz war.

Auch das, Geliebten, was den Menschen allein gut, groß und erhaben macht, was seinen Ursprung von dem allein beweist, mit welchem er durch seinen unsterblichen Geist verbunden ist – auch die Tugend hat auf Erden und unter den Menschen ihr Maß und ihre Regel – auch sie verträgt, zum Besten derer, für die sie ausgeübt wird, wie zum Besten derer, die sie ausüben, keine Übertreibung. Das Herz –«

Er wollte seine Empfindungen und Gedanken weiterentwickeln, als der Präsident hereintrat:

»Sie haben mir nur halb Wort gehalten, Herr Hadem; aber da es das erste gescheite Wort ist, das Sie den jungen Leuten gesagt haben, so mag es darum sein. Das letzte ist es gewiß.«

HADEM: So lassen Sie mich denn in Ihrer Gegenwart den Abschiedskuß von meinen Zöglingen nehmen und verantworten Sie die Folgen vor dem, der diesen Geist so erschaffen hat, wie ich ihn kenne. Zu den Jünglingen. Die Notwendigkeit gebietet hier; lernen Sie von mir ihr Joch tragen.

Er drückte Ferdinanden und dann Ernsten an sein Herz. Ferdinand schrie laut und heftig. »Was ist das? Verlassen Sie uns?«

Ernst sah, mit der Aschfarbe des Todes bedeckt, auf Hadem, auf den Präsidenten und stammelte seinem Freunde nach: »Verlassen!«

Hadem bedeckte seine Augen und eilte davon.

PRÄSIDENT: Es tut mir leid, lieber Neffe; aber es kann nicht anders sein. Der verräterische, schändliche Brief, den er dem Fürsten geschrieben hat oder durch dich schreiben ließ, veranlaßt seine Entfernung. Er kann von Glück sagen, daß der Fürst mich rufen ließ und mir die Sache anvertraute; ohne meine Bitten und Vorstellungen wäre er für die Tat bestraft worden, wie er es verdiente.

ERNST: Er gestraft? Er den Brief geschrieben? Er hat ja nicht [258] das mindeste davon gewußt! Ich, ich habe den Brief erdacht und geschrieben, als er und Ferdinand noch schliefen, und ihn in dem Garten des Fürsten auf seine Ruhebank gelegt, ehe Hadem noch aufgestanden war.

PRÄSIDENT: Neffe, ich sage, er hat ihn geschrieben!

ERNST: Er hat ihn nicht geschrieben; er weiß kein Wort davon. Ist es eine Torheit, um so schlimmer für den Fürsten; aber ich allein beging sie.

Der Präsident stampfte zornig mit dem Fuße auf den Boden und rief:

»Neffe, bei meinem Gott! er muß den Brief geschrieben haben!«

ERNST: Kennen Sie Ihren Neffen als Lügner?

PRÄSIDENT: Er gestand es selbst.

Sobald Ernst diese Worte vernahm, sprang er nach der Türe. Der Präsident trat vor ihn:

»Umsonst, du siehst den Pedanten nicht wieder; er hat seinen Abschied, und ich kam, es dir anzukündigen.«

ERNST: Seinen Abschied? – Oheim! – seinen Abschied von mir? – Mit starrer Kälte. – Herr Oheim, geben Sie ihm seinen Abschied nicht – jetzt nicht – oh, nur jetzt nicht! –

PRÄSIDENT: Es ist nicht zu ändern. Aber warum nur jetzt nicht? Hast du ihn noch zu einem solchen Geschäfte nötig?

ERNST: O ja; ich habe ihn zu einem sehr wichtigen Geschäfte nötig. Tun Sie es nur jetzt nicht! – nur jetzt nicht! – Es wird Sie gewiß reuen – denn ich glaube, es wird mich sehr unglücklich machen – jetzt, in diesem Augenblick, wird es mich mehr als unglücklich machen!

Es lag etwas Erschütterndes, unbeschreiblich Rührendes in dem sanften ernsten Tone, den zitternden Bewegungen der Lippen, dem schüchternen Umherblicken der Augen und der ganzen Stellung des Jünglings. Er setzte selbst den Präsidenten in besorgtes Erstaunen. Ferdinands Tränen und Schluchzen nahmen mit jedem Blicke, jedem Worte von Ernsten zu. Er rief: »Ernst, wir sind verloren!«

PRÄSIDENT: Schweige du! – Sanft zu Ernsten. Und was ist es denn, das eben jetzt von so vieler Bedeutung für dich ist?

[259] ERNST: Oh, er hat mein Herz mitten entzwei geschnitten – er hat vor meine lichte Seele einen schwarzen Vorhang gezogen. Lassen Sie ihn schnell zurückkehren, daß er mein Herz wieder ergänze, meiner Seele wieder das Licht gebe, das er um sie her erschuf.

PRÄSIDENT: Du schwärmst und träumst gleich einem faselnden Phantasten.

ERNST: Ja, freilich träume ich jetzt; aber so zu träumen ist fürchterlich – so zu schlafen ist ängstlich. Lassen Sie Hadem schnell zurückkehren, daß er mich aufwecke! daß ich ja erwache, Oheim, daß ich ja nicht lange so träume! Oheim, er hat die erhabne Göttin gelästert, die mich leitet; und er soll, er muß mir sagen, warum er sie gelästert hat.

PRÄSIDENT: Welche Göttin?

ERNST: Kennen Sie denn diese Göttin nicht? Sie hörten ja, wie er sie lästerte! – Oheim, er hat auch Sie gelästert, alle Menschen; denn seine letzte Rede ist eine Satire, eine Schmähung auf das ganze Menschengeschlecht. Er sagte: die Tugend habe auf Erden ihr Maß und ihre Regel, vertrage keine Übertreibung. Sie, die ich mir denke als das ganze Menschengeschlecht in einem Kreise umfassend, der von dem Throne dessen ausgeht, der es erschaffen hat, sie, die es erhält, allein emporhebt über diese Erde, sie, diese Himmlische, Unendliche, müßte beschränkt und vorsichtig ausgeübt werden? – nach Maß? – nach Regeln? – Die Menschen vertrügen sie nicht in ihrer ganzen Kraft? – Und ihr ganzes volles Dasein in meiner Brust – was ist denn das? Und was ist sie, wenn sie allen Menschen nicht so natürlich und willkommen ist wie mir! Darf sie auf Erden nicht in ihrem vollen Glänze erscheinen, nur stückweise, nur behutsam, wie ein Gast an einer Tafel, den man nicht eingeladen hat? Oder ist das Wesen der Menschen auf Erden so eingerichtet, daß ihre Gegenwart sich nicht damit verträgt? Gründet sich das Wesen und Tun des Menschen nicht auf sie? O gewiß, Oheim, ist das gepanzerte Gespenst, von dem Sie gestern so abschreckend für mich sprachen, ihr Feind – Und wenn dieses ist – Oheim – wenn dieses ist – so sagen Sie mir geschwind: warum ist es so? warum sind [260] die Menschen da? warum bin ich da? – Sie schweigen! – Lassen Sie Hadem zurückkehren, daß er mich belehre, meinen Zweifel beruhige, meine Göttin versöhne! – Soll ich ihm durch das Fenster, über Berge, durch Flüsse folgen? – Fort! nach meinen Bergen, meinen Tälern, meinem Eichenwalde, in meine düstre Höhle! Dort werde ich ihn und meine Göttin wiederfinden, dort er schien sie mir, dort ist ihr ungestörter Aufenthalt.

Die Empfindungen, die Gedanken des Jünglings, mit dieser Kraft, dieser Begeistrung ausgesprochen, verwirrten den Präsidenten immer mehr, und die Bewundrung des Neuen, Unerwarteten fesselte einige Augenblicke seine Zunge. Er faßte sich, so viel er konnte:

»Jetzt erst beweisest du mir recht klar, wie notwendig die Entfernung dieses Mannes von dir ist. Beruhige dich! Du kannst den Sinn der einzigen wahren und klugen Worte, die er gesprochen hat, jetzt nicht begreifen; wenn du mehr bei dir bist, will ich ihn dir deutlich machen.«

ERNST: Versuchen Sie es ja nicht! Von ihm muß ich es hören. Er nur weiß, wo es mir not tut; er nur weiß, was ich bedarf. Wüßten Sie es, Sie würden ihn nicht entfernt haben.

PRÄSIDENT: Du wirst, du kannst ihn nicht wiedersehen. Willst du ihn dem Zorne des Fürsten aussetzen und ihn unglücklich machen? Nur in seiner Entfernung liegt seine Rettung.

ERNST: Oheim, Hadem fürchtet keinen Fürsten der Erde, und um meinetwillen trotzte er der ganzen Welt, so wie ich um seinetwillen die ganze Welt nicht fürchte. Ich liebe ihn – Oheim, o wenn Sie wüßten, wie ich ihn liebe! – Für ihn zu sterben, wäre das wenigste, was ich für ihn tun könnte. – Er tät es für mich – und er sollte mich aus Furcht vor Menschen verlassen? mich, seinen Schüler, dem er tausendmal sagte, daß er durch mich seinem Leben Wert zu geben hoffte? Lassen Sie ihn zurückkehren, Oheim! Ich beschwöre Sie bei Ihrem Leben! bei meines Vaters Leben! bei meiner Mutter in jenem Leben! bei der Tugend, die er mir entstellt hat! lassen Sie ihn zurückkehren! Mein Leben, alles, was ich bin, was ich werden soll, liegt auf dem Flügel dieses vorübereilenden Augenblicks! – Oh, nur diese Nacht! Nur eine [261] Stunde! Nur eine Viertelstunde, daß er den Gedanken ausführe, den Sie unterbrachen, daß er mein Herz heile, daß er mich wieder zu dem schaffe, der ich war!

PRÄSIDENT: Er selbst verläßt dich; er selbst sagt, nach diesem Streiche könne er nicht mehr in unserm Hause bleiben.

ERNST: Sagt er das? Er verläßt mich? verläßt mich willig? So muß es recht sein, was er tut, so fällt die ganze Schuld auf mich allein. So habe ich ihn vertrieben! durch eine Tat vertrieben, wobei ich von ihm nichts befürchten zu dürfen glaubte! So muß es sein; denn anders hätte Hadem mich nicht verlassen können. Er handelt auch hier gerecht; denn, sehen Sie, Oheim, an Hadem glaube ich, wie ich an meine Göttin glaube.

Er stand mitten in dem Zimmer, erhob seine Augen gegen die sich neigende Sonne, deren Strahlen durch einen dunkeln, vor dem Fenster stehenden Kastanienbaum gebrochen in das Zimmer fielen. Die Begeistrung schimmerte in seinen Augen; ein Licht, wie es von dem unsterblichen Geiste des Menschen ausgeht, wenn dessen ganze Kraft ihn durchdringt, umglänzte seine Stirne und schoß nun in Blitzen aus seinen Augen. Er rief:

»Nein! nie werde ich dir untreu werden, erhabene Göttin! Dir folge ich, von Hadems Lehren geleitet. So ferne du auch schwebst, so bist du mir doch nahe und sichtbar. Ich stehe unter deinem Schilde, ich gehöre dir an, und sollte mich auch das furchtbare Gespenst meines Oheims mit seiner gepanzerten Faust zerschmettern. Bin ich nicht unsterblich, unvergänglich wie du?« Sein Blick fiel auf den Blumen- und Ährenkranz, den jetzt die Abendsonne beleuchtete:

»Schon welkte deine Blüte in der Sonnenhitze; erst gestern pflückt ich sie frisch in den Feldern der Glücklichen als ein Denkmal der stillen Tugend. Und doch bist du es noch, und zerfielest du auch in Asche – du bleibst es doch!«

Er nahm den Kranz von der Wand, und seine Tränen benetzten ihn:

»Alles hat mich verlassen – denn er hat mich verlassen; und von dem Dasein meiner Göttin habe ich keinen andern Beweis als dich! So umwinde nun meine Schläfe und lispele meinem Geiste [262] und Herzen die Gedanken und Empfindungen zu, unter denen ich dich pflückte!«

Ferdinand fiel ihm um den Hals.

»Und ist dir Ferdinand nichts? Hat Hadem nicht auch mich verlassen?«

ERNST: Ja, und nun erst bist du eine Waise! Doch du sollst mich haben, und auch du sollst diesen Kranz tragen, und wir wollen durch ihn in eins verbunden sein.

Die Jünglinge umarmten sich, und ihre Seelen, ihre Tränen flossen ineinander.

Einen Augenblick legte Ernst Ferdinanden den Kranz auf das Haupt; dann hängte er ihn wieder an die Wand.

Der Präsident sah dem Schauspiele gerührt zu; aber der kalte Geist der Welterfahrung sagte ihm bald: »Die feurige Ergießung des Jünglings ist gut und heilsam; die Ruhe wird um so gewisser und schneller darauf erfolgen.«

Ernst bestärkte ihn in dieser Meinung, da er nun gefaßt zu ihm trat und sagte:

»Mein Vater wird bald kommen und Ihnen die Sorge für Ihren Neffen abnehmen. Bis dahin wird ihn der Geist Hadems führen. Dieses Zimmer verlasse ich nicht, bis zur Rückkehr meines Vaters. Ich traue nun der Welt nicht mehr; Ihre Worte und diese Ihre Tat dienen mir zur Warnung.«

Der Präsident versuchte ihm zu liebkosen; aber Ernst antwortete:

»Dieses ist die Stunde, in welcher Hadem mit uns die Taten der Männer der Vorwelt las. Er wird nicht kommen; aber wir werden denken, er sitze bei uns, und alles das tun, was wir in seiner Gegenwart zu tun pflegten.«

Er legte ein Buch auf Hadems Platz, stellte einen Stuhl für ihn hin, dann zwei andre für sich und Ferdinand und sagte zu diesem:

»Ferdinand, er ist mitten unter uns!«

[263]

Zweites Buch
1.

Der Präsident hoffte durch Vorstellungen des Unschicklichen und durch freundliche Begegnung Ernsten von seinem Vorsatz abzubringen; aber an der Ruhe, der Kälte, womit dieser darauf beharrte, sah er wohl, daß er damit nichts ausrichten würde. Er schmeichelte sich indes, der beschränkte, einförmige Aufenthalt würde dem jungen Menschen bald lästig werden; doch auch hierin irrte er sich. Ein Tag verfloß nach dem andern, und er sah in dem Gesichte des Jünglings keine Spur des Verlangens oder der Unbehaglichkeit; er bemerkte nicht die sanfte Melancholie, welche Ernst in seinem Busen darüber nährte, daß er durch seinen Brief Hadems Entfernung veranlaßt hatte. Es schien, als hielte er seinen Schmerz für einen geheimen Schatz, der an seinem Werte verlöre, wenn er ihn einem menschlichen Auge zeigte. Diese Stärke, diese Ruhe wirkten auf den Präsidenten, und in den ersten Tagen bewunderte er sogar dieses Betragen; da aber Ernst ohne weitere Äußerung immer dabei beharrte, so setzte sich ein bitterer, tiefer Unwille in dem Herzen seines Oheims fest, der nur eine neue stärkere Veranlassung zu erfordern schien, um in unauslöschlichen Haß überzugehen. Jetzt sah er sich von seinem Neffen einem Fremden nachgesetzt, von einem Knaben verachtet und beleidiget, und um so mehr beleidiget, da er alles zu dessen Bestem getan zu haben glaubte und für alle seine Bemühungen nichts als Beweise eines störrischen, undankbaren Gemüts entdeckte, das, durch eine Schimäre verzerrt, keines einzigen natürlichen und vernünftigen Verhältnisses unter Menschen achtete.

Ferdinand sah in den ersten Tagen den Entschluß seines Freundes als etwas Heroisches an, und es gefiel ihm ungemein; aber bald merkte Ernst, daß sein lebhafter Gesellschafter sehnende Blicke nach der Ferne warf, daß er den im Garten Spazierenden verlangend nachsah. Er bat ihn, in Gesellschaft zu gehen und ihn allein zu lassen.

[264] Ferdinand antwortete:

»Ich sollte dich verlassen, ich, der ich schuld an deinem Kummer und an Hadems Entfernung bin? ich, der ich dich angefeuert habe, den Brief zu schreiben?« –

Ernst legte seine Hand auf seine Brust:

»Sieh, dieses allein ist schuld – und war es ein Fehler, so muß ich wohl dafür leiden. Hadem verzeiht mir ihn gewiß. Laß du mich nur immer allein; es scheint ja doch nur so, als sei ich allein.«

Er konnte Ferdinand auf keine Weise bewegen, ihn zuzeiten zu verlassen. Dieser gestand ihm geradezu, er fände ihre freiwillige Gefangenschaft wohl langweilig, aber er würde es anderwärts, ohne ihn, noch unerträglicher finden. »Es würde mir gehen«, setzte er hinzu, »wie damals, als du krank warst. Lief ich auch einen Augenblick in den Wald, so hörte und sah ich doch nichts anders als dein schweres Atemholen, dein im Fieber glühendes Gesicht.«

Ernst drückte ihm die Hand und rechnete ihm in seinem Herzen das Opfer um so höher an.

Ernstens Geistesstimmung schildert sich am besten in den Bruchstücken von Briefen an Hadem, die er niederschrieb, während daß Ferdinand schlief, und dann sorgfältig aufbewahrte.

Ernst an Hadem

Ich habe meinen Oheim gebeten, Ihnen schreiben zu dürfen; er antwortete mir, Sie hätten ihm Ihr Wort gegeben, weder einen Brief von mir anzunehmen, noch zu beantworten. Das Vergehen Ihres Schülers muß sehr groß sein, da Sie gar nichts von ihm hören, ihn vielleicht ganz vergessen wollen. Doch vergessen können Sie ihn nicht, lieber Hadem; verlassen mußten Sie ihn und konnten gewiß nicht anders. Sie mußten, und vermutlich mußten Sie auch Ihr Wort geben, mir nicht zu schreiben; sonst wäre es nicht geschehen, sonst konnten Sie es nicht tun. Und der Grund, der Sie dazu nötigte, muß ebenso gerecht als zwingend sein; denn, lieber Hadem, was sollte aus mir werden, wenn ich dieses [265] nicht glaubte! Ich glaube daran wie an die Tugend, und darum will ich Ihnen auch gar nicht sagen, wie weh mir dies alles tut, damit es Ihnen nicht wehe tue, damit Sie mich nicht allzu sehr bedauern. Wie schmerzlich müßte es Ihnen nicht sein, mich verlassen zu haben, wenn Sie wüßten, in welchem Zustande ich bin! Aber was wollte ich Ihnen doch schreiben? Dieses war es wenigstens nicht. Es geht mir so wunderlich durch den Kopf – durch das Herz, wollt ich sagen – daß ich gar nicht weiß, wovon ich reden will und soll. Ja, das war es!

Warum mußten wir den stillen, ruhigen Aufenthalt meiner glücklichen Kindheit verlassen? warum die hohen Felsen, die sprudelnden Quellen, die blühenden Täler mit ihren guten freundlichen Bewohnern, den rauschenden Strom, den dunkeln Eichenwald – die Wiege Ihres Schülers, verlassen? Nun dringt mein trauriger, gebeugter Geist immer dahin; wir sitzen unweit des Stroms auf einer Anhöhe – die kühle Abendluft umsäuselt uns – wir sehen die untergehende Sonne auf goldnen Wolken ruhen – ihr Glanz verklärt Ihr Angesicht, und Ihre Gedanken bei diesem Schauspiele, die alle Keime meines innern Wesens entfalteten, steigen wieder in meinem Herzen auf. Ich fühle dann die Luft, die dort wehte, an meinen Wangen; ich höre das Säuseln der Bäume – die Schalmei unsrer Hirten – den Gesang, das frohe Gelächter unsrer Mädchen – und alles, was ich dachte und fühlte, steigt in meinem Busen lebendig auf. – Und erwache ich aus diesen süßen Träumen, so frage ich ängstlich: »Warum haben wir dieses verlassen? Darum, daß erfolge, was mir widerfahren ist?« Mir antwortet keiner, lieber Hadem; und ich vermag es ja nicht, da mir alles dunkel ist.


Ja dort, da kannte ich keinen Kummer, keine Veränderung; da stand der Tempel des Glücks und der Freude auf jeder Stelle, denn das unschuldige Herz bauete ihn überall auf. Wütete auch zuzeiten ein Sturm, so geschah es nur, die Gegend um uns her erhaben-schauerlicher zu machen; und beleuchtete das Licht sie wieder, so lag sie vor uns in neuer, erfrischter Herrlichkeit. Wir bebten staunend und schaudernd bei den Blitzen, den Schlägen [266] des Donners, bewunderten die Macht der Natur in ihren großen, erschütternden Erscheinungen, und süße Freude durchströmte uns, wenn wir nach der Gefahr die einsame Lilie unverletzt im Tale wiederfanden. Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen einmal kindisch sagte, als die dicken Tropfen des nächtlichen Sturmregens von den noch leise schwankenden Pappeln auf unsre Häupter fielen: »Hadem, die Pappeln weinen vor Freude, daß sie den gewaltigen Sturm überstanden haben und noch grünen, noch leben.« Ich kann dieses nicht von mir sagen – der Sturm, der mich überfiel, dauert fort – und noch lebe ich – es ist der erste, Hadem, und ich bin noch zu jung. Noch hat die Zeit den Stamm, auf dem mein Wipfel ruhen soll, nicht abgehärtet. Die Stütze, deren ich bedarf, sank weg; mein Licht verschwand mir plötzlich und kehrt nicht wieder. Vor meinen Augen liegt nun eine Dämmerung wie die Dämmerung meiner Höhle, wenn ein plötzlicher düsterroter Fackelschein die dunkelsten Winkel derselben erleuchtet. Kaum entdecke ich meine Göttin in dieser Dämmerung, und nur dann werde ich sie wieder in ihrer ganzen, reinen Klarheit sehen, wenn ich da sein werde, wo sie mir zum erstenmal erschienen ist. Und wenn sie mir nicht wieder erschiene! Hadem, wenn auch sie mich verlassen hätte, da der mich verlassen hat, der mir die Wolke öffnete, die sie mir verbarg!


Ich las einmal in einem Buche von einem frommen Jünglinge: es habe diesem frommen Jünglinge geträumt, ein schöner, glänzender Engel küsse ihn im Schlafe. Dieser Kuß habe auf seinen Lippen einen solchen unauslöschlichen, süßen Eindruck zurückgelassen, daß er ihn sein ganzes Leben hindurch gefühlt, sich nie von einem Sterblichen die Lippen mehr berühren lassen und nie ein unreines oder sündliches Wort gesprochen habe. Hadem, Sie sagten, es sei sonst ein sehr einfältiges Buch, aber diese einzige Stelle enthalte einen so tiefen Sinn, daß er alles andere Törichte reichlich bezahlte, und Sie möchten diese Stelle lieber geschrieben haben als das gelehrteste Werk. Ich verstehe jetzt diesen Sinn!

[267] Was habe ich nicht alles erfahren, seitdem wir den Ort verlassen haben, wo ich an Ihrer Seite wandelte! wo die schönsten Blüten des Geistes von Ihren Lippen auf mich herabregneten und Ihre Empfindungen und Gedanken mir immer so erschienen, als wären sie mir aus einer vergangenen Zeit, aus einem fernen Lande her bekannt, deren Erinnerung Sie bloß erweckten und auffrischten!


Aber was ich sagen wollte, Hadem! Ihre letzten Worte! – Ich muß es Ihnen sagen, und sollte ich Sie auch ängstigen – denn mich überfällt eine unbeschreibliche Angst, wenn ich sie höre – und ich höre sie immer – im Schlafe – im Wachen – ich höre sie im leisen Winde, der durch den Kastanienbaum vor meinem Fenster mich anweht. – Warum unterbrach Sie mein Oheim mitten in Ihrer Rede? – Sollte die Tugend das sein, was Sie mir sagten – was soll dann aus mir werden? Zerstückelt, in Teile zerstückelt, die vor meinem Geiste zerrissen schweben – nach Maße gemessen, nach Regeln gezogen – nach Verhältnissen abgewogen soll ich sie in Rücksicht meiner und der Menschen denken? Das einzige Gute, das einzige Wahre, die Tugend, leide keine Übertreibung? Was heißt hier Übertreibung? So soll ich das nie in seiner ganzen Kraft und Stärke ausüben können, was meine Brust ausfüllt, was mir allein der Mittelpunkt von meinem und der Menschen Dasein zu sein scheint? So ist sie zu erhaben für den Menschen, um sie ganz zu besitzen, um sie ganz auszuüben? Ihre Worte, Hadem, nicht die meines Oheims, von jenem unglücklichen Abend auf einen so glücklichen Tag, erzeugen quälende Zweifel in meinem Geiste; und doch scheint es, daß sie genau mit den Ihrigen zusammenhangen. Hadem, wenn es so ist – wenn es ganz so ist, so geben mir die Worte meines Oheims über einen mir so dunkeln, so weit entlegenen Gegenstand mehr Licht als ich je zu sehen wünsche, als ich je ertragen kann. So sprengte er zwischen mir und der Welt eine Kluft auf, in die ich mich stürzen muß, die ich nicht überspringen kann, weil Sie mir fehlen, nachdem Sie dieselbe so weit auseinandergerissen haben, daß sich meine Haare vor ihrem klaffenden Schlunde sträuben.

[268] Verstehen Sie, was ich sagen will? Ich empfinde wohl, daß ich dunkel rede, so dunkel, wie ich fühle; aber dies ist eben mein Unglück, dies ist es, worüber ich klage, was für mich so ängstlich ist – da eben liegt die Qual, daß ich das Dunkel nicht erleuchten, nicht durchdringen kann, in das mein Oheim mich geführt, in das Sie mich tiefer gestoßen und dann verlassen haben. Mich, einen siebzehnjährigen Jüngling! mich, Ihren Schüler, Hadem! Ich fühle wohl, daß ich den ganzen Kampf bloß meinem Herzen überlassen sollte, daß ich da gewiß Grund finden würde; aber, Hadem, kann ich auch die Gespenster in die Flucht schlagen, in deren Mitte mich mein Oheim gestellt hat und die nun mit ihren verzerrten Larven meine Einbildungskraft schrecken?


Es ist schrecklich! – Lesen Sie nur und sagen Sie mir geschwind, was daraus für mich werden soll. Beinahe fange ich an zu begreifen, daß solche Männer wie Sie und der Kammerrat, und wie ich durch Sie einer werden sollte, dem Gespenste meines Oheims zuwider sind, weil es durch sie als das erscheint, was es wirklich ist, was es nicht sein sollte. Bin ich auf der Spur? auf der rechten Spur? Nun, meine Göttin, so nimm du den verlaßnen Jüngling in Schutz! – Hadem, ist jenes Wesen ein Popanz, von Menschen zusammengesetzt, um Kinder und Schwache zu schrecken? Ist es ein falscher Götze, den seine Priester auferzogen, wohlgepflegt und dann in das Dunkel hinter dem Altar gestellt haben, damit keiner von den Anbetern den Betrug entdecke? Sagen Sie mir das! beantworten Sie mir nur dieses schnell! Muß es so sein? Vertragen es die Menschen nicht anders? Warum sagten Sie mir denn, die stillste, geräuschloseste Leitung der Menschen auf Erden sei die beste und weiseste, sie müsse einem Sommerregen gleichen, der die Erde befruchte, ohne daß man ihn höre?

Ich dachte, das Leben und Tun der Menschen unter- und gegeneinander sei so freundlich, ihre wechselseitige Not schlinge ein Band um sie alle, dem sich keiner entziehen möchte, das jeder gern fester zusammenzöge, und der beste und auch der glücklichste unter ihnen sei der, welcher am meisten Gutes tun könnte, auch [269] sei er der Beliebteste und Willkommenste. Und ist es nicht so? Darf es keiner auf seine Weise? Auf die gerade, die rechte Weise?


Auch für den guten Kammerrat ist es mir, wie es scheint, nicht gelungen. Mein Oheim sagt überdies, ich hätte mich lächerlich bei dem Fürsten gemacht. Lächerlich? Desto schlimmer für den Fürsten, wenn man sich mit solchen Erinnerungen bei ihm lächerlich macht! Oder liegt das Lächerliche nur in dem Neuen für ihn, oh, so ist es noch schlimmer! Was forderte ich denn von ihm? – Die Geschichte des Kammerrats ist mir nun so klar – übte nicht auch er die Tugend mit seiner ganzen Kraft, ohne alle Rücksicht auf sich, aus? Er ging ja nicht mit dem Maße in der Hand an das Werk, er berechnete ja sein Tun und Wirken nach keinen Regeln, folgte ja nur der Weisung seines guten, menschenfreundlichen Herzens! – Und darum? darum? – Von seiner Geschichte begann alles, was mir widerfahren ist; aus ihr entsprangen in meinem Kopfe die ersten ängstlichen Gedanken über das Wesen der Menschen – und was darauf erfolgte, entwickelte und verwirrte sie immer mehr. So liegt denn das Ding, das mein Oheim System nennt, wie ein Joch auf dem Nacken aller? und jedem, der es trägt, ist seine Furche so scharf abgezeichnet, daß er seinem Herzen und Geiste völlig entsagen muß, um, solange er es trägt, die einmal gezogene Linie, ohne auszutreten, auf und ab zu ackern? – Hadem, reden Sie doch! Ich fordere in meiner Not Ihren Geist auf, der um mich ist. Er schweigt, alles schweigt um mich; ich sehe die Sichel des Mondes am gestirnten, ruhig erhabenen Himmel, höre nichts als das Lispeln des Windes in dem Baume vor mir und das leise Atemholen meines schlafenden, glücklichen Freundes. Er ist es, Hadem; er weiß, er ahndet nicht, was mich quält, und er soll es nie erfahren. Genug, daß einer leidet. Und weiß ich, ob er es ertrüge wie ich? ob es nicht noch schlimmre Wirkung auf ihn hätte als es auf mich hat? – Gute Nacht, Hadem. Ich vernehme Ihre freundliche Antwort nicht mehr wie sonst, kann Ihnen nicht mehr nachsehen, wie Sie sich langsam nach Ihrem Zimmer begeben, [270] sich nochmals umwenden, mir noch zum letztenmal zuwinken. Ach, jetzt scheine ich mir ganz allein auf der Erde lebend, allein wachend. Die von der Nacht umschleierte Erde liegt vor mir wie ein düster geschmücktes Grab; die flimmernden Sterne und der helle Mond sind die Lichter, welche diesen Kirchhof mit ihrem sanften Scheine beleuchten. Ich rufe in der Einsamkeit über dieses Grab, und keiner anwortet mir, keiner löset meine Zweifel. Soll ich mir allein trauen? mich befragen? Ist die Zeit, die ich jetzt lebe, eine Prüfungszeit, so früh mir aufgelegt, mein Herz und meinen Verstand zu üben? Dieser Gedanke kommt jenseits dieses Grabes her; er kommt von Ihnen, Hadem. Ich will ihn fassen und mich fest daran halten.


Wir leben recht glücklich, und ich sehne mich nach meinem Vater, den wir in kurzem erwarten. Was wird er sagen, wenn er Sie nicht findet? Wie wird er seinen Sohn bedauern, der Sie verloren hat! Indes arbeiten wir so fort, als wenn Sie bei uns gegenwärtig wären. Wir lesen in den Ihnen bekannten Büchern von den Stellen an, wo wir mit Ihnen stehengeblieben sind. Bei schweren fragen wir Sie um Rat; und wenn Sie dann schweigen – es ist wahr, einigemal füllten sich meine Augen mit Tränen bei Ihrem Schweigen, aber ich suche sie vor Ferdinand zu verbergen, um ihn nicht zu bekümmern. Denken Sie, der Freundliche opfert sich mir zuliebe so weit auf, daß ich ihn nicht überreden kann, das Zimmer zu verlassen; und Sie begreifen leicht, was dieses dem Lebhaften kosten muß. Haben Sie einen Freund, Hadem? Möchten Sie doch einen haben! Sie würden weniger leiden, daß Sie mich verlassen mußten; denn ich weiß, ich fühle ja, wie weh es Ihnen tut, daß Sie mich haben verlassen müssen.


Mein Oheim sagte mir, er würde dem Kammerrat Kalkheim eine Stelle geben, die ihm reichlich die verlorne ersetzen sollte. Nun spricht er, der Kammerrat habe sie ausgeschlagen und äußere sich, er ziehe seine jetzige Lage jeder vor, selbst der ehemaligen. »Du siehst also«, setzte er hinzu, »für wen ihr den unbesonnenen Streich gemacht habt, daß man die Menschen erst [271] kennen muß, bevor man etwas zu ihrem Besten unternimmt. Erst hättet ihr bedenken sollen, ob der Tor des Dienstes bedurfte oder wert war. Du siehst also, Neffe, daß sich Hadems letzte Worte besser bewähren als seine Handlungen, daß die gute Absicht bei einer Handlung nicht genug ist, daß man dich durch Täuschung zu einer schlechten gegen deinen nächsten Blutsverwandten reizte und daß der, um dessentwillen sie geschah, dir nicht einmal Dank dafür weiß.«

Seine schrecklichen Worte durchdrangen tief meine Seele. Was sollte ich ihm antworten! Ich wußte es in diesem Augenblick wirklich nicht; denn das Gefühl, daß ich durch diesen Schritt, der selbst dem, für den er geschah, unnütz scheint, Sie, meine Ruhe, alles verloren hätte, preßte mein Herz zusammen. Habe ich mich nicht selbst aus dem Paradiese vertrieben, in welchem ich, an Ihrer Seite, in Unschuld, Sicherheit und Unwissenheit einherging? Wenn meine erste gut gemeinte Tat so ausfällt – solche Folgen für mich hat – mir solche Lehren aufdringt, mir solche Aussichten in die Zukunft eröffnet – Hadem, was soll ich von der Zukunft hoffen, was von der Welt denken, in welcher ich bald tätig auftreten soll! Wenn ich bei jeder Tat, die mein Herz für gut und gerecht erkennt, so verfahren soll, so wägend und berechnend – wird dann auch nur eine so kräftig und rein aus ihm hervorspringen, wie sie sein muß, um diesen Namen ganz zu verdienen? Wird bei diesem Wägen und Rechnen, bei dieser Rücksicht auf die Verhältnisse um mich her, deren Umriß kein Auge erreicht, mein Blick sich nicht nach und nach auf mich selbst zurückziehen? Und dann? Ja dann, wenn ich einmal angefangen habe, die Tugend zu zerstückeln, um gerade so viel zu tun, daß auch nicht das mindeste mehr geschehe als eben die Verhältnisse erlauben – dann, Hadem, ist es mit mir und der Tugend aus. Dann bin ich ein recht guter Handelsmann, der sein Kapital wohl anzulegen versteht, aber kein Mensch, wie Sie einen aus mir bilden wollten. Meinen Geist schwindelt es vor diesem leeren, starrende Kälte aushauchenden, sich immer weiter aufreißenden Abgrund – und ich fürchte, die Gedanken, die ihr in mir erweckt habt, entfernen meine Göttin so weit von mir, daß [272] ich sie nicht mehr werde erreichen können. Um mich ihr auf den Flügeln meines Geistes nachschwingen zu können, muß ich wieder fest glauben, daß sie mit der einen Hand den glänzenden Sitz des Ewigen berührt und mit der andern das Menschengeschlecht. Nach meinem dunkeln Eichenwalde! nach meinem rauschenden Strome! meinen blühenden Tälern! meinen schroffen Klippen, aus denen der einsame Adler zur Sonne emporsteigt! Wenn ich dann seinem kühnen Fluge nachsehe, und die Lerche aus der Saat aufsteigt und über meinem Haupte wirbelt, und diese Stadt, mit allem, was ich darin erfahren habe, aus meinem Geiste verschwunden ist, und die freundlichen, glücklichen Landleute mich wieder anlächeln als den künftigen Wohltäter ihrer Kinder – dann wird die Kluft verschwinden, die vor mir ist, dann erst wird mir der Sinn, der in dem Kusse des frommen Jünglings liegt, recht klar werden. Und sind nicht Sie mein Schutzengel? Küßten Sie mich nicht bei dem plötzlichen Abschiede? begleiteten Sie nicht Ihren Kuß mit einem Blicke, der meine Seele so durchdrang wie der Kuß des Engels die Lippen des träumenden Jünglings? Hadem, dieser Ihr letzter Blick verlöschte in etwas den Eindruck Ihrer Worte. Er sagte mir: »Verharre in der Lehre, die ich dir gegeben!« Und ich setze hinzu: die Tugend muß das sein, was ich mir dachte, oder das ganze Menschengeschlecht wäre längst zerfallen, es hätte sich längst zerstreuet, es hätte sich in diesem gefährlichen Zustande, in dem es mir zu schweben scheint, ohne sie nicht erhalten können. Sie ist ihm von dem Ewigen zur Erhalterin und Beschützerin gegeben, und sie führt es wieder zu ihm zurück. Sie ist uns, was die feste Ordnung der um uns rollenden Welten ist, die Sie uns so klar und schön beschrieben haben. So wenig als die regellosen Kometen ihren fest bestimmten Lauf nicht stören können, ebenso wenig vermögen die Toren und Bösen gegen die Tugend. Sie bezeugen ihr Dasein, da sie durch allen ihren Wahnsinn, alle ihre Bosheit das Band nicht lösen können, womit sie das Menschengeschlecht an den Thron des Ewigen gebunden hat. Ja sie beweisen die Macht der Tugend wie jene Kometen die Allmacht Gottes. Und was würde aus diesen Unglücklichen werden, wenn sie nicht wäre! wenn alle [273] ihres Glaubens würden! Hadem, sie erhält selbst die, deren Herz sie nicht erkennt, deren Wahnsinn gegen sie arbeitet. Und ich sollte nicht an sie glauben?

Hadem, der Mann, der um ihrentwillen leidet, gleicht dem Märtyrer, dessen vergossenes Blut den Glauben weiter ausbreitete, der selbst seinen Henker der heiligen Sache gewann, für welche er soeben starb.

2.

Einige Zeit nach Hadems Abreise brachte der Buchbinder Ernsten eine Anzahl Bücher. Als Ernst sie in Empfang nahm, fand er vier französische Bände, die er ihm nicht gegeben hatte. Er gab sie dem Buchbinder zurück und sagte ihm: »Diese Bücher gehören vermutlich einem andern zu.« Der Mann erklärte ihm, Herr Hadem habe sie ihm Donnerstag abends gebracht und ihm anbefohlen, sie seinem Zögling Ernst von Falkenburg mit den andern zu übergeben.

Es war der Tag der Abreise Hadems, und Freude floß aus Ernstens Herzen nach seinen Wangen, in seine Augen. Er drückte die Bücher an seine Brust; und als ihm der Mann sagte, Herr Hadem habe auf die Gegenseite des Titels vor dem ersten Bande etwas geschrieben, eröffnete er ihn schnell. Er erkannte Hadems Hand und küßte die Schriftzüge. Dann trat er auf die Seite und las leise:

»Der Jüngling, der keinen Führer hat, wähle diesen. Er wird ihn sicher durch das Labyrinth des Lebens leiten, ihn mit Stärke ausrüsten, den Kampf mit dem Schicksal und den Menschen zu bestehen. Diese Bücher sind unter der Eingebung der lautersten Tugend, der reinsten Wahrheit geschrieben, sie enthalten eine neue Offenbarung der Natur, die ihrem Liebling ihre heiligsten Geheimnisse zu einer Zeit entschleierte, da die Menschen sie bis auf die Ahndung verloren zu haben schienen.«

»Du siehst, Ferdinand«, rief Ernst entzückt, »daß Hadem uns nicht verlassen hat, daß er uns nicht verlassen konnte. In diesem Buche muß sein Geist leben, und er wird zu mir reden, ich werde ihn wieder hören.«

[274] Er schlug den Titel um und las: Emil.

Es war das erste Buch unsers Jahrhunderts, das erste Buch der neuern Zeit. Der Mann, der es schrieb, faßte den erhabenen Gedanken, die durch Üppigkeit, Selbstigkeit, Witz, überfeinerte Ausbildung, durch eine Philosophie voller Sophismen, eine alles zerstörende, sich selbst dadurch endlich auflösende Regierung erwürgte moralische Kraft in seinen Zeitgenossen wieder aufzuwecken. Dieses tat er so wahr und kühn, als er es fühlte, und mit der Stärke der Beredsamkeit, deren nur derjenige fähig ist, in dessen Brust und Geist diese moralische Kraft in ihrer ganzen Fülle wohnt. So tief wie er sah keiner die Gebrechen der Gesellschaft, so tief wie er fühlte keiner, daß wahre Menschen in derselben keine Stelle mehr finden können, auf welcher sie es ohne Gefahr verbleiben dürfen. Sein scharfes Auge, sein forschender Geist, sein zartes, verwundetes Herz entdeckten die Wurzeln des Übels; und mit kühner Hand riß der Begeisterte die sich im Dunkel windenden Gänge auf, in denen sie vergraben lagen, und verjagte die Gespenster, welche Stolz, Wahn, Eigenliebe und Gewalt zu ihren schreckenden Wächtern bestellt hatten. Offen legte er das Gift dar, welches das Edle und Wahre im Menschen zernagt, und nichts konnte ihn bestechen, nichts ihn zurückhalten. Je mächtiger, je glänzender, je höher diejenigen dastanden, welche dieses Gift erzeugten und unterhielten, desto schonungsloser, desto kühner griff er sie an. In weissagendem Geiste sagte er den Vergiftern, was ihnen bevorstände und wie eben das Gift, das sie ausstreuten, am Ende sie selbst verzehren würde. Sie verschlossen ihm ihre Ohren. Er empfing von seinen Zeitgenossen den Lohn, der jeden erwartet, welcher den Menschen die Wahrheit sagt; aber eben dadurch legten sie bei der Nachwelt ein Zeugnis ab, daß er der einzige Mann seines verderbten Zeitalters war, der ihnen den Spiegel der Wahrheit treu vorhielt und sie vor dem Abgrunde warnte, den sie in ihrem Taumel und Wahn selbst aufgruben.

Nach vielen Leiden und Verfolgungen ist er in das Land zurückgekehrt, in welchem er hier im Geiste wohnte: in das idealische Land, über welches der Witzling spottet, an das der Eigennützige [275] nicht glaubt und dessen Ahndung, dessen Anerkennen unsern Ursprung und unsre Bestimmung allein beweisen. Und trügen uns die schnellen Flügel des Geistes nicht dahin, wenn der Druck der Gewalt, das Hohnlachen der Spötter, das Schauspiel der Torheit und Bosheit uns drängt, verfolgt und empört – wo sollten wir Zuflucht vor ihnen finden? wie die marternden Zweifel, die bittern Empfindungen, die aufrührerischen Gedanken heilen?

In jenem Lande ist unsre Zuflucht, dieser Mann sprengte die goldnen Pforten unsers Vaterlandes auf, und vor dem Eingange rollte die Finsternis weg, welche die Menschen davor gezogen hatten.

Ernst verschloß die Bücher sorgfältig und sagte in seinem Herzen: »Da du mir von Hadem geschenkt bist, so wirst du in diesem Hause nicht willkommen sein; du sollst mich ja lehren, woran sie nicht zu glauben scheinen. Ich verschließe dich vor meinem Oheim und jedem, wie ich ihnen meine Brust verschließe. In der Nacht will ich dich öffnen und den Geist aus dir hervorrufen, der den Mann beseelte, welcher dich der Welt gegeben hat.«

Da Ernst in dem Französischen noch nicht sehr stark war, so enthüllte er mit vieler Mühe die ersten Worte dieses Buches: sie sind gleichsam die Inschrift an diesem Tempel der Natur, den ihr Liebling dem Menschengeschlecht wieder geöffnet hat.

»Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt; alles artet unter den Händen des Menschen aus. Er zwingt ein Land, die Erzeugnisse des andern zu nähren, einen Baum, die Früchte des andern zu tragen. Er vermischt und verwirrt die Himmelsstriche, die Elemente, die Jahrszeiten, verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven, er verkehrt, entstellt alles; er liebt die Mißgestalten, die Ungeheuer und will nichts, wie die Natur es gemacht hat, selbst den Menschen nicht: man muß ihn für ihn zurichten wie ein Schulpferd, ihn nach seiner Weise biegen wie den Baum seines Gartens.« (»Emile« 1. B.) Kaum hatte Ernst den Sinn dieser Worte gefaßt, als ihm ein lauter Schrei entfuhr, der Ferdinand aus dem Schlafe weckte. Er beruhigte diesen und legte sich dann in das Fenster. Seine [276] Brust dehnte sich aus, seine Augen durchflogen den gestirnten Himmel vom Niedergang zum Aufgang:

»Also ist sie nur des Menschen Werk, diese Verzerrung, diese Ungestalt, dieser Mißklang mit mir! Und du bist, bist ganz wie ich dich dachte, fühlte und sah! Diese Worte sagen mir es deutlich; ihr Sinn durchbebte meine Seele, und aus dem Zittern entsprang ein Lichtstrahl des Himmels. Die Menschen konnten ihre Bestimmung nur dadurch aus den Augen verlieren, daß sie das schönste, erhabenste Werk der Schöpfung in sich und den Gegenständen um sich her verunstalteten, verstümmelten und zerstörten. Und wie sie dieses bewirkten, wodurch sie so unglücklich wurden und wie sie glücklich werden können, das soll mich dieser dein Priester lehren, heilige Natur! Schon stehe ich vor den Geheimnissen; der Vorhang ist aufgezogen, und der Geist meines Hadems steht mir zur Seite.«

Mit eben der Anstrengung und Heftigkeit, mit welcher ein Durstiger in der Wüste Afrikas arbeitet, den feuchten Boden aufzusprengen, unter dem er eine Quelle wittert, sein kochendes Blut zu erfrischen, arbeitete Ernst an der Enthüllung der Worte, welche die Gedanken und Empfindungen verschleierten, von denen er die Ruhe seiner Seele erwartete. Er stand vor dem Buche wie der Unglückliche vor der begeisterten Priesterin zu Delphos, die ihm von ihrem Dreifuß einen Rat erteilt, dessen Sinn er nicht ganz begreift. Seine beschränkte Kenntnis dieser Sprache reichte nicht hin, den Mann zu fassen, der so viel mit wenigen Worten sagt. Auch wagte er es nicht, eine Zeile zu verlassen, deren Sinn er nicht hell begriffen hatte, aus Furcht, seinen neuen Führer zu mißdeuten. Über seiner Anstrengung ging die Sonne auf; er überblickte den erworbenen Gewinn neuer Ideen und Gefühle, verschloß seinen Priester der Natur, wie er ihn nannte, und freuete sich auf die nächtliche Zusammenkunft mit ihm.

[277] 3.

Der Präsident gab sich indessen Mühe, für Ernsten einen Hofmeister zu finden, der das alles zu verbessern und zurechtzusetzen imstande wäre, was Hadem nach seiner Meinung verdorben hatte. Er fand bald alles, was er wünschte, in einem Schweizer namens Renot. Eine empfangene Beleidigung, welche er an einem jungen Manne aus einer großen und mächtigen Familie in Frankreich zu gewaltsam und auffallend gerächt hatte, brachte ihn in diese Gegenden. Er mußte fliehen, um der Bastille zu entwischen.

Dieser Renot nun besaß in den Augen des Präsidenten alle mögliche Eigenschaften: Ton, Mut, Bekanntschaft mit den Gebräuchen der feinen Welt, Geschmeidigkeit im Umgange und tiefe Achtung für das, was Stände und Menschen so scharf unterscheidet und trennt. Den Angriff gegen einen Mann von hohem Stande verzieh ihm der Präsident als Offizier und vergaß darum, daß er nur ein Bürgerlicher war. Dieser Renot war seit einiger Zeit bei ihm eingeführt, aß oft an seiner Tafel, und je mehr der Präsident ihn sah und hörte, desto mehr überzeugte er sich, es sei der Mann für seinen Neffen. Er sprach von diesem mit ihm, erwähnte seiner Schimäre und hörte mit innigem Wohlgefallen Renots Äußerung hierüber. Dieser sagte:

»Der vorige Hofmeister hat höchstwahrscheinlich Ihres Neffen lebhaftes, versprechendes Gefühl der Ehre und der Ruhmbegierde nach einem Gegenstande geleitet, welcher ihm, als einem Manne, der die Welt und die Menschen nur aus Büchern kennt, bekannter war als jene. Diese Verzerrung, Ew. Exzellenz, ist nicht neu; es ist eine alte Krankheit aller derjenigen sogenannten aufgeklärten Leute, die ihre Lage und ihr Stand auf immer von der Rolle ausschließen, welche Leute von Geburt und Macht mit Recht sich ausschließlich zugeeignet haben. Auch ist es natürlich, vielleicht gar verzeihlich, daß ihr gekränkter Stolz, ihre zurückgedrückte Eigenliebe einigen Trost in dem Gedanken findet, sie besäßen etwas, das denjenigen fehlte, welche so weit über sie erhaben sind. Aber wenn sie dieses Leuten von Geburt, Ansprüchen [278] und Stand beibringen wollen und von diesen zu fordern wagen, daß sie das, was sie wirklich besitzen, für Schimären austauschen sollen, da muß man ihnen Einhalt tun, und ich sehe, daß Sie es zu rechter Zeit getan haben. Sie werden vermutlich dieselbe Krankheit an einigen neuen Schriftstellern Frankreichs bemerkt haben; die Teutschen, die diesen immer so gerne nachahmen, wollen auch hier nicht zurückbleiben. Diese Schimäre verschwindet aber leider sehr schnell, wenn man einmal selbst auf diesen Schauplatz tritt und die Menschen in ihrem tätigen Wirkungskreise handeln sieht. Gnädiger Herr, hätte ich die Kur eines solchen Jünglings zu übernehmen – wissen Sie, was ich tun würde? – Ich würde eine luftige Schimäre durch eine andere vertreiben, die gewisse Leute nur darum so nennen, weil sie, wie gesagt, der edelste Teil des Volks, vermöge Geburt und Stand, ausschließend in Anspruch genommen hat und sich mit Recht in dem Besitze behauptet.«

PRÄSIDENT: Und das wäre?

RENOT: Wovon ich soeben sprach: die Ehre, der Ruhm, der point d'honneur, den das erleuchtetste Volk zu einer Feinheit, einer Zartheit, einer Höhe und Bestimmtheit gebracht hat, daß er bei ihm alle andern Tugenden ersetzt, ja die einzige Tugend der Gesellschaft geworden ist.

Leiten Sie die Einbildungskraft Ihres Neffen auf diese Göttin, zeigen Sie ihm diese Tugend unsers verfeinerten Zeitalters in ihrem ganzen Glänze, beweisen Sie ihm, wie alle andren einen Mann von Stande zierenden Tugenden aus dieser allein entspringen, durch sie allein geltend werden, und ich stehe Ihnen dafür, er wird der phantastischen Göttin, welche sein grämlicher Hofmeister vor seine Augen gezaubert hat, bald den Abschied geben.

Der Präsident, höchst zufrieden mit den Gesinnungen Renots, erkundigte sich nun sorgfältig nach seinen Umständen und Verhältnissen; seine Kenntnisse glaubte er genug geprüft zu haben. Alles sprach zu Renots Vorteil, bis auf seine Kasse; doch eben auf diesen letzten Umstand bauete der Präsident die Erfüllung seines Wunsches. Er ließ ihm die Erziehung der jungen Leute [279] antragen und ihn versichern, daß er ihm am Ende derselben durch seinen Einfluß eine ehrenvolle Bestimmung verschaffen wollte, die ihn gewiß für dieses Opfer entschädigen würde. Renot nahm nach vielen Schwierigkeiten den Antrag endlich an, bewies aber dem Präsidenten sehr weitläuftig, welch ein Opfer er seinem einmal gewählten Stande hierdurch brächte.

Nun bereitete der Präsident seinen Neffen darauf vor. Dieser versicherte ihm gelassen, er brauche keinen Führer mehr, Hadem habe ihm einen zurückgelassen, und der Führer, den ihm die Natur gegeben, werde ihm bald in seinem geliebten Vater zurückkehren.

Der Präsident ließ sich hierauf nicht ein; er erzählte, es sei ein Mann von Ehre und Verdienst, ein Offizier, und rühmte unter andern, wie vortrefflich er französisch spreche, wie er den ganzen Reichtum, die ganze Feinheit und Gewandtheit dieser Sprache in seiner Gewalt habe. – »Und du weißt, Neffe«, setzte er hinzu, »wie nötig uns Leuten von Stande diese Sprache ist.«

ERNST: Ja, Oheim, diese Sprache ist mir nun sehr notwendig; ich fühle es nur zu sehr, wie wenig ich bisher Fortschritte darin gemacht habe – und darum, wenn er mir in dieser Sprache Unterricht geben will, soll er mir willkommen sein. Ob ich ihn als Führer brauchen kann – ob ich seiner dazu bedarf, davon sind mir andere Beweise nötig, als Sie mir von ihm gegeben haben. Ich weiß nur allzu sehr, was es bedeutet, einen Menschen zu erziehen, und was es von beiden Seiten voraussetzt.

Der Präsident glaubte, Ernst wollte wieder in seine alten Grillen verfallen. Er schwieg darüber und dachte, er habe für jetzt genug gewonnen und könne nun das übrige dem gewandten Renot überlassen.

Er freute sich noch mehr, als Ernst ihm sagte: »Schicken Sie ihn noch heute, ich möchte noch heute etwas von ihm lernen.«

Der Oheim liebkoste ihm und sagte:

»Ich hoffe, lieber Neffe, er wird dich bald zu uns bringen und du wirst uns allen wieder der willkommne Gast sein, den wir so lange vermißt haben.«

»Oheim«, antwortete Ernst, »glauben Sie, ich würde Sie so sehr [280] beleidigen, daß der Fremde von mir erhalten könnte, was ich Ihnen nicht gewähren konnte? gewiß nicht konnte, sonst würde ich es längst getan haben.«

PRÄSIDENT: Ich danke dir für die Feinheit der Empfindung. Behalte sie bei und du wirst bald können, was ich so sehnlich wünsche. Bedenke nur, mit welchem Kummer dein guter Vater das sonderbare Verhältnis bemerken wird, in welchem du in seines Schwagers Hause lebst. Wird er an mir, dem lang Erprobten, zweifeln? Wird er daran zweifeln, daß alles, was geschah, nur zu deinem Besten geschah? Was konnte mich anders bestimmen, so zu handeln, als dein Bestes? die Liebe zu dir, die Sorge für dich? Glaubst du, daß du die nie gestörte Eintracht zwischen deinem Vater und mir zerrütten könntest? Oder willst du es? willst du Verwandte trennen, die sich brüderlich lieben? in unsern Jahren trennen? – Ernst, ich habe durch dich meine einzige geliebte Schwester verloren – denn du weißt ja wohl, daß sie an den Folgen der Niederkunft mit dir starb – willst du mir nun auch die Freundschaft des Mannes rauben, mit dem ich durch sie verbunden bin? willst du mich bei ihm anklagen?

Tränen der Rührung traten in Ernstens Augen:

»Oheim, ich klage nur mich an, niemand anders; und – warum haben Sie mir dieses nicht längst gesagt, warum nicht längst so mit mir gesprochen? Ich fühle es wohl, ich bin ganz verkannt und werde es wohl immer bleiben; denn ward nicht er es? – Aber ich kenne ihn, und ich hoffe, auch ich werde mich immer erkennen. – Und, Oheim, noch heute sollen Sie mich an Ihrem Tische sehen, wenn Sie mich annehmen wollen.« –

Der Oheim küßte ihn, nannte ihn seinen lieben guten Neffen und sagte, er eile nun, seinen Kindern die Freude schnell mitzuteilen, da sie sich schon so lange nach ihrem Vetter sehnten.

Ernst wendete sich zu Ferdinand: »Ich danke dir für deine Treue, dein Ausharren und werde es nie vergessen.«

Ferdinand lobte seinen Entschluß, freuete sich der Veränderung und konnte, wie er Ernsten geradezu gestand, kaum den Augenblick erwarten, die Treppe hinunterzufliegen.

Ernst sprach von dem neuen Hofmeister (denn so nannte er ihn, [281] wie er Hadem nie genannt hatte) und sagte bedenklich: »Das einzige, was ich von ihm fürchte, ist, daß er die Einrichtung unsrer Zeit stören wird; und ich kann den Gedanken gar nicht ertragen, ihn an der Stelle sitzen zu sehen, wo Hadem zu sitzen pflegte.«

FERDINAND: Aber du kennst ihn ja noch nicht!

ERNST: Ich kenne ihn, Ferdinand; denn gliche er Hadem nur in etwas – glaubst du wohl, daß er dem Oheim gefallen hätte? Und gliche er ihm auch, so wäre es doch er nicht – er! – Doch um eines willen, und um deswillen, wird es Hadem mir gewiß vergeben; aber auf seiner Stelle soll er nicht sitzen. Wir wollen in dem Nebenzimmer lernen, die Bücher wechseln, und das Französische soll mit ihm unsre Hauptsache sein.

4.

Renot glaubte, in Ernsten einen träumenden Phantasten oder störrischen, mißmutigen jungen Menschen zu finden, und ward etwas betroffen, als ihm ein heiterer, schöner Jüngling frei und offen entgegentrat, ihn anständig grüßte und seinen Antrag zu erwarten schien. Er gab sich zu erkennen und sagte, es sei zwar bisher nicht sein Geschäft und seine Bestimmung gewesen, sich mit der Erziehung abzugeben, wie sie an seiner Kleidung wohl sehen würden; aber er hätte unmöglich dem Wunsche des Herrn Präsidenten widerstehen können. Es erfreue ihn nun, da er ihn und seinen Freund sehe, daß der Herr Präsident ihn der Ehre würdig gehalten, etwas zu der Bildung so vielversprechender Jünglinge beizutragen. »Das Opfer«, setzte er hinzu, »das ich etwa dadurch bringe, kann mir nun selbst nicht anders als zur Ehre gereichen!«

ERNST: Gereicht es nur zu Ihrem Vergnügen und zu unserm Vorteil, so gönnen wir Ihnen das gerne, was Sie so hoch anschlagen. Aber ich wünschte nicht, daß es ein Opfer wäre; denn ein Opfer kostet so viel, und man wagt so viel dabei, daß Sie mich dauern sollten, wenn es wirklich nur ein Opfer wäre.

[282] Renot empfand den abgewogenen Sinn dieser Worte recht gut und sah etwas verwundert den Rosenmund an, aus dem sie so sanft flossen. Er antwortete:

»Freilich wage ich es nicht, mir zu schmeicheln, den Verlust, welchen Sie in Ihrem vorigen Hofmeister erlitten haben, zu ersetzen« –

ERNST: Oh, mein Herr, er war mein Freund. Nennen Sie ihn nicht so – denn eben in diesem Worte liegt ja, was ich vorhin sagen wollte.

RENOT: Glauben Sie denn, ich würde dieses Geschäft übernommen haben, wenn ich mir nicht mit der angenehmen Hoffnung schmeichelte, ihn ersetzen zu können?

Eine leichte Röte flog auf Ernstens Wangen. Sein Herz klopfte – seine Augen konnten den Eindruck der schmerzlichen Erinnerung nicht verbergen. Hadems männliche, feste Gestalt, sein ruhiger, seelenvoller Blick, seine ernste, gedankenvolle Stirne, von sanfter Freundlichkeit gemildert, sein lockiges, ungepudertes braunes Haar, das sich um seinen Nacken ringelte und seine Schläfe beschattete, der volle schöne Laut seiner Stimme, der nie durch Unwillen, Zorn oder andre Leidenschaften in Mißton überging – dies alles stellte sich in diesem Augenblicke lebendig vor Ernstens Seele. Er sah ihn, hörte ihn, verglich mit ihm das zuversichtliche, anspruchsvolle Wesen und Betragen des vor ihm Stehenden, seine glatte, wie ein Spiegel glänzende Stirne, die nichts von dem zu verraten schien, was sie verbarg – seine süße Lieblichkeit, seine lispelnde Aussprache, sein mit Sorgfalt gekräuseltes und weiß gepudertes Haar, seinen hastig lebhaften Blick, dem er zu gebieten strebte; und er fühlte tief, wie unersetzlich sein erlittner Verlust sei. Sein Geist sagte ihm: »Dieser kennt den Weg zu deinem Tempel nicht!«

Renot beobachtete ihn genau, ohne es sich merken zu lassen. Sein Blick schien auf Ferdinand um so mehr zu verweilen, je mehr er mit Ernsten beschäftiget war. Auch tat seine Gegenwart eine bessere Wirkung auf jenen, wozu sein Rock und das Neue, Glänzende, Versprechende und Feine seines Betragens sehr viel beitrugen.

[283] Ernst erwachte aus seinem tiefen Nachsinnen und sagte zu Renot: »Mein Oheim hat mir Ihre Stärke in der französischen Sprache gerühmt. Ich freue mich sehr darüber, und Sie können auf meinen Dank rechnen – Sie können mich sehr glücklich machen, wenn Sie mich den kürzesten, leichtesten Weg zur Kenntnis dieser Sprache führen. Aber ich muß sie in ihrem ganzen Umfange kennenlernen – Sie müssen mir die ganze Stärke ihrer Ausdrücke, alle ihre Eigenheiten und Wendungen recht deutlich machen. Ich bedarf es, den Wert, die Kraft der Worte so kennenzulernen, daß ich mich in keinem irre, daß ich ja den Sinn eines jeden recht fasse – keines zu mißdeuten Gefahr laufe. Dieses halte ich für das Allerschlimmste – für das Allerschwerste.« –

Renot freute sich über Ernstens heiße Begierde, eine so wichtige Sprache in ihrem ganzen Umfange lernen zu wollen, er sagte laut, dies sei ein gutes Zeichen; und nun ließ er sich in ein weitläuftiges Gespräch über diesen Gegenstand ein. Er entdeckte sehr bald, daß Ernst die Hauptschwierigkeiten schon besiegt hatte; und um so wichtiger machte er jetzt das, was ihm noch zu tun übrig bliebe. Er bewies, daß ihm dieses nur ein Mann beibringen könne, der lange in der Hauptstadt von Frankreich gelebt habe. Und nun erfolgte ein großes, glänzendes Lob des französischen Volkes. Vorzüglich rühmte er dessen zartes, feines Gefühl für die Ehre und vergaß nicht, seine eigne Geschichte damit zu verweben. Weitläufig bemerkte er, wie viel er diesem Gefühle aufgeopfert und wie er die glänzendsten Aussichten nun aufgegeben hätte; »dafür aber«, fuhr er mit gefälligem Lächeln fort, »kann ich mich nun in meinem Unglücke mit dem Gedanken trösten, der Ehre genug getan zu haben. Mein Name wird in Frankreich wie bei meinem Regimente gewiß unvergeßlich sein.« Indem er sich so den Jünglingen bedeutend machen wollte, suchte er ihnen zu gleicher Zeit die glänzende Schimäre in der Ferne zu zeigen, deren Anbetung von nun an der Hauptgegenstand ihrer Erziehung sein sollte. An Ferdinand fand er einen sehr aufmerksamen Zuhörer; denn seiner lebhaften Einbildungskraft stellten sich alle die Szenen, die Renot leicht und flüchtig berührte und von denen er als dem Menschen ganz [284] eigen und natürlich sprach, lebendig dar. Er stand in der Mitte dieses Schauplatzes und bewunderte den Mann, der dieses alles erfahren und mitgemacht hatte.

Ernst hörte nur, wie vortrefflich er französisch sprach. Bei allen den neuen Vorstellungen, die einander so leicht und schnell folgten, dachte er nur an seinen geheimen Lehrer und sagte still in seinem Herzen: »Ja, der Mensch verdirbt alles an sich, sogar das Organ, wodurch er seine Gedanken mitteilt!« denn das Lispeln Renots war ihm unerträglich. Er leitete das Gespräch auf andere Kenntnisse. Renot blieb keine Antwort schuldig; er wußte alles, wußte wirklich vieles, wußte es leicht und verstand die Kunst vollkommen, schön und geläufig über alles das zu reden, was er nur berührt hatte. Er hatte in Genf den Wissenschaften geliebkoset; und da der Sinn ihm angeboren zu sein schien, das allgemein Nützliche und überall Angenehme schnell auszufinden und er die Wirkung auf andere sehr früh zu berechnen wußte, so hatte er die Ideen des Vertriebs sehr geschwind und leicht erworben. In der französischen Literatur war er sehr stark und sprach von ihren Schriftstellern mit Begeistrung. Ernst horchte auf und erwartete jeden Augenblick, daß Renot seinen Lehrer unter den berühmtesten Männern Frankreichs nennen würde, und besonders, weil dieser ein Genfer war, wie ihm der Titel seines Werkes gesagt hatte. Da aber dieses nicht geschah, so hielt er die sich immer vordrängende Frage über den einzigen Mann zurück, von dem er so gern etwas erfahren hätte. Er fühlte wohl, Hadem würde ihm Rousseau nicht gesandt haben, seine Stelle zu vertreten, wenn er der Liebling dieses Mannes wäre; und ihn selbst zu nennen, hieße den Schleier zerreißen, der sein schönes Geheimnis bedeckte, vielleicht gar seine Wirkung stören. Er bat nun Renot um eine Stunde und führte ihn in ein Seitenzimmer.

Renot verließ die Jünglinge, sprach gegen den Präsidenten hoffnungsvoll von ihren Fähigkeiten, leicht von ihren bisherigen Fortschritten und rühmte sich sehr bescheiden, er denke alles übrige bald in das gehörige und natürliche Geleise zu bringen.

Ferdinand ergoß sich in große Lobsprüche über Renot. Ernst [285] sagte gelassen: »Da du nun einmal Soldat werden willst, so kann er dir vielleicht nützlich sein. Ich aber bleibe bei dem, den du vergessen zu haben scheinst.«

Ferdinand fühlte das Gerechte des Vorwurfs, und da ihm plötzliche Wirkung so natürlich war, so traten ihm Tränen in die Augen. Er ergriff Ernstens Hand und sagte:

»Kannst du mich so mißverstehen?«

ERNST: Vergib mir; aber der Gedanke, du könntest ihn vergessen, machte mich um deinetwillen besorgt. Und die Möglichkeit, du könntest ihn vergessen, zeigt mir ja auch die Möglichkeit, daß du mich einst vergessen könntest. Denn mein Dasein ist mit dem seinigen eins, und du weißt, was es mit dem seinigen verbindet. Es soll mir lieb sein, wenn du von diesem lernest, was Hadem dich nicht lehren konnte. Aber bewahre wohl, was Hadem dich gelehrt hat; denn schwerlich wird es dieser ihm hierin gleichtun.

Die Jünglinge erschienen bei dem Abendessen. Der Präsident hatte jedem seiner Hausgenossen anbefohlen, weder durch Worte noch Mienen das Vergangne merklich zu machen. Ernst trat ein, als wäre nichts vorgefallen, und nur eine flüchtige Röte überzog seine Wangen, nur ein leises Zittern zeigte sich an seiner Oberlippe, als Renot sich zwischen ihm und Ferdinand niedersetzte. Der darauf folgende Gedanke, dieser Mann denke ihn nun unter seinem Schutze und seiner Leitung, war ihm so empörend, daß es ihm den schwersten Kampf kostete, das nicht zu zeigen, was jetzt in ihm vorging.

5.

Trotz der gleichen Ruhe und Kraft, die Renot täglich mehr in Ernsten bemerkte, zweifelte er doch nicht einen Augenblick daran, es würde und müßte ihm gelingen, den jungen Phantasten zu einem vernünftigen Menschen zu machen. So viel sah er nun wohl ein, daß es leise geschehen müsse, daß er das Vorhaben nicht merken lassen dürfe, daß er durch einen raschen Schritt alles verderben könne, mit einem Worte, daß man hier das aufgedunsene Herz durch Verstand, Spott und Witz erleichtern [286] müsse. Er bewunderte zwar Ernstens schnelle Fortschritte in dem Französischen, schrieb sich aber ganz natürlich bei dem Oheim das Verdienst davon allein zu. Gleichwohl konnten ihn seine Eigenliebe und seine Eitelkeit nicht so weit verblenden, daß er nicht hätte einsehen sollen, Ernst sei ein Wesen von so eigner sonderbarer Art, wie ihm noch keines vorgekommen sei. Lächeln konnte er zwar über ihn, aber die Achtung für ihn drang sich ihm wider seinen Willen auf, und dieses lästigen Gefühls wollte er für immer los werden.

Indes kam der Vater aus dem Bade zurück. Der Präsident hatte ihm den Vorfall, die Entfernung Hadems und die Anstellung Renots geschrieben. Mit welchen Farben, läßt sich leicht vermuten; und wie nachteilig er die Wirkung des Briefes auf den Fürsten vorstellen mochte, beweisen seine obigen Äußerungen. Doch schonte er Ernsten und versicherte seinem Schwager, er würde bei dem Fürsten alles wieder gutmachen. Nur sei es nötig, daß er Ernsten bei seiner Rückkehr so bald als möglich wieder auf das Land bringe und sich selbst jetzt dem Fürsten nicht zeige, um ihn nicht an die unangenehme Sache zu erinnern.

So sehr Herr von Falkenburg Hadem auch liebte, so nahm er es ihm doch sehr übel, daß er seinen Sohn zu einem solchen unüberlegten Schritte, den man so häßlich auslegen konnte und mußte, verleitet hätte. Er sah es, nach der Vorstellung des Präsidenten, als eine schlechte Tat gegen diesen an, als eine gesetzwidrige, aufrührerische Handlung gegen die Ordnung des Landes, als einen Eingriff in die Rechte des Fürsten, für den er die tiefste Achtung fühlte, als einen Vorwurf, den ein Jüngling seiner Gerechtigkeit gemacht habe. So sehr er nun auch den Verlust Hadems im übrigen bedauerte, so hielt er doch jetzt seine Entfernung für notwendig und nützlich. Das einzige, was ihn beunruhigte, war der Gedanke an das Leiden seines Sohnes, dessen Anhänglichkeit und unbegrenztes Zutrauen an und auf Hadem ihm so wohlbekannt waren.

Ernst flog in seine Arme, drückte sich so fest an seine Brust und umschlang ihn so innig, wie der Unglückliche den Erretter, der ihn eben der Gefahr des Todes entrissen.

[287] Der tief gerührte Vater blickte ihn an und sah nur Zärtlichkeit, nur Liebe, Vertrauen und Freude. Der Sohn blühte wie sonst, seine Augen strahlten das vorige Feuer, seine Seele sprach durch alle seine Blicke und Bewegungen wie ehemals; und nur, als er wieder zu Atem kam und zu reden anfing, zeigte sich dem Vater einige Veränderung. Es war das durch das Geschehene fester, bestimmter gewordene Wesen in seiner Haltung, seinem Tone, seinen Blicken, und er schien dadurch seinem Vater in der kurzen Zeit um einige Jahre dem männlichen Alter nähergerückt zu sein. Der Vater bemerkte dieses laut, und Ernst antwortete: »Ich hatte dessen wohl nötig, geliebter Vater; und was wäre aus Ihrem Sohne geworden, wenn er auch dieses nicht errungen – wenn es der, welcher ihn verlassen hat, nicht so früh in ihm erweckt hätte. Ich habe meinen Schutz verloren, meinen mich leitenden und bewachenden Engel selbst von meiner Seite entfernt, durch eine Tat entfernt, bei welcher ich auch auf Ihren Beifall rechnete. Ich bin gestraft genug dafür« –

VATER: Ich weiß alles, Ernst. Aber er tat es ja, er reizte dich ja, den Brief zu schreiben; warum klagst du denn dich an?

ERNST: Er? Mein Vater, er tat es nicht, er wußte nichts davon. Sie glauben Ihrem Sohne auf sein Wort, und nie beteuerte er Ihnen, was er sagte. Sollt ich es jetzt bei einer für mich so wichtigen, ich möchte sagen heiligen Sache tun, so würde ich mich als tief gefallen ansehen. Und dieses wollen Sie gewiß nicht. Ich will gerne von dem Geschehenen schweigen; die Notwendigkeit gebietet hier. Aber machen Sie, mein Vater, daß wir schnell hier weg kommen – ich muß diese Stadt verlassen, wo mein Unglück entstanden ist, wo ich Dinge erfahren habe, denen ich kaum gewachsen war, die ich so schwer ordnen konnte. Sein Sie nun mein Führer, mein Freund!

Der Vater fragte, wie er mit seinem jetzigen Hofmeister zufrieden sei, und Ernst antwortete:

»Er spricht das Französische vortrefflich; und da ich das brauche, so bin ich zufrieden mit ihm. Reisen wir heute? Führen Sie mich heute nach unsern blühenden Tälern zurück?«

VATER: Morgen! morgen mit dem Aufgang der Sonne!

[288] Der ganze heitere Frühling der Jugend umschimmerte Ernstens Angesicht:

»Und sagen Sie mir nun, geliebter Vater – nur noch das, was ich keinen hier fragen konnte, nicht zu fragen wagte: – was ist aus Hadem geworden? Wo ist er nun? werde ich ihn nicht wiedersehen? ihm nicht schreiben dürfen? keine Antwort von ihm erhalten können?«

VATER: So bald wirst du ihn wohl nicht wiedersehen, und zum Briefwechsel ist die Entfernung viel zu weit. Er schrieb mir in einigen Zeilen den Abschied von dir und meldete mir zugleich, er würde mit einem Regiment an England verkaufter Teutscher nach Amerika gehen; und aus den Zeitungen erfahre ich, daß sein Regiment sich schon einschiffet.

ERNST: Also nach einem andern Teile der Welt vertrieb ich ihn – und ich bin nun so geschieden von ihm, daß ich die weite Entfernung nicht mehr messen kann! Aber, mein Vater, er ist hier, ist mir nahe; er wird, er kann sich nie von mir trennen.

VATER: Dieses wünsche ich in dem Sinne, wie du es verstehst. Er war ein edler Mann, und ich bedaure seinen Verlust –

ERNST: Oh, das war er, mein Vater, das ist er noch; und sein Lob aus Ihrem Munde verklärt sein Denkmal in meinem Herzen. Oh, er ist ein edler Mann!

Als sein Vater ihn verließ, suchte er Ferdinanden auf und rief ihm entgegen: »Höre die Worte meines Vaters! Er sagte: Hadem war ein edler Mann! – Und morgen fliehen wir diese Stadt, wo man ihn verkannte, morgen abend, Ferdinand, stehen wir wieder in dem Garten der Unschuld.«

Ferdinanden war diese Nachricht nicht so willkommen. Seine durch die Eitelkeit und die Mannigfaltigkeit der Gegenstände gereizte Einbildungskraft blickte mit Ekel auf den ihm nun tot scheinenden ländlichen Aufenthalt, zu dem er so plötzlich zurückkehren sollte. Ernst sah ihn an und sann seinem ihm unbegreiflichen kalten Betragen bei einer so fröhlichen Neuigkeit nach.

Ernstens Vater bezeugte dem Präsidenten seine Verwunderung darüber, daß er ihm so gerade geschrieben, Hadem habe den unüberlegten Schritt veranlaßt, da ihm doch sein Ernst, der nie [289] eine Unwahrheit gesagt, versicherte, Hadem sei der ganze Vorfall unbekannt gewesen.

»Bruder«, antwortete der Präsident, »unbekannt oder nicht, er hat es veranlaßt, deinen Sohn dazu gereizt; und eins ist so sträflich wie das andere und gleich nachteilig für deinen Sohn. Wenn dein Ernst ihn zu entschuldigen sucht, so entspringt dieses aus seinem guten Herzen, aus der närrischen Liebe zu diesem Menschen, gegen den ich, bis auf diesen Punkt, selbst nichts habe. Willst du übrigens aus deinem Sohne einen Phantasten oder ein störrisches Ungeheuer erziehen lassen, das gegen seine nächsten Verwandten schon so früh zum Ankläger wird, so ist dieses gerade der Mann dazu, ihn zu einem oder dem andern zu machen. Dein Sohn war schon ganz auf dem Wege, ein träumender Philosoph zu werden, dem alle bürgerliche Verhältnisse mißfallen, der mit Lufterscheinungen buhlt, während er jene mit Füßen tritt. Ich erwartete deinen Dank für das Geschehene und dachte wenigstens, du würdest meiner Weltkenntnis so viel zutrauen, daß ich wüßte, was sich für einen Edelmann von deinem Namen und Ansehen schickt. Schriebe ich die Tat deinem Sohne allein zu, so würdest du ihn wahrlich nicht in meinem Hause gefunden haben. Dafür danke mir wenigstens, daß ich ihn durch die Wendung, die ich der Sache gab, von dem allgemeinen Hasse der Stadt und des Hofes errettet habe.«

»Dafür danke ich dir«, antwortete Herr von Falkenburg; »und du hast als Bruder gehandelt. Hadems Absicht kann recht gut gewesen sein, aber der Schritt war immer unüberlegt. Nach seinem Schreiben scheint er es gewissermaßen selbst auf sich zu nehmen, da er des Vorfalls gar nicht erwähnt. Indessen, der Fürst hätte es auch nicht so ernsthaft aufnehmen müssen; wenigstens verdient ich's nicht um ihn. Und darum will ich deinem Rate folgen und ihn gar nicht sehen. Es möchte leicht sein, daß ich ihm meine Empfindlichkeit darüber zu lebhaft zeigte. – Es ist mir leid um das Geschehene, und ich wollte gerne meine alte Wunde wieder aufbrechen sehen, wenn es nicht vorgefallen, wenn Hadem noch da wäre. Du hättest immer nicht zu rasch verfahren, wenigstens meine Ankunft abwarten sollen – denn [290] du magst von ihm sagen, was du willst, er wollte nur das Gute; vielleicht ein wenig auf seine Weise, aber er wollte es. Und wenn dein Schweizer da meinen Ernst nur nicht gar zu weit von dem Wege abführt, auf den Hadem ihn leitete – mein Ernst hat freilich Dinge im Kopfe, die sonderbarer Art sind, aber sie sind so guter Art, daß ich es nicht gerne sähe, wenn er sie so ganz verlöre.«

6.

Ernstens Einbildungskraft schwebte mit leichten, rosenfarbenen Schwingen. Mit Ungeduld erwartete er den Untergang der Sonne; bei ihrem Aufgange stand er schon am Fenster, und als sie nun im Osten in ihrer ganzen Herrlichkeit auferstand und der Teppich der Nacht ganz verschwunden war und ihr goldnes Licht sich über die neue Schöpfung ergoß und sie schmückte, sah Ernst die Erfüllung aller seiner Hoffnungen, aller seiner Wünsche in diesem erhabenen Bilde am Horizont aufgehen.

»Du gehst mir auf«, rief er, »glänzendes Licht; und wenn du dort wieder hinter die Wolken trittst, so stehe ich schon in der Mitte meines wiedergefundnen Paradieses, und dann zieht die Nacht ihren Schleier zwischen mich und das, was ich hier erfahren habe. Dann stehe ich wieder in dem Tempel der Natur, ihr Priester wandelt mir zur Seite, und ich höre das Zulispeln seines Geistes – dort! dort werden mir seine Worte erst recht ganz lebendig werden!«

Und als sie nun ankamen und die Freude der Hausgenossen und aller Landleute sie empfing, als jeder herbeidrang, um die lange Vermißten zu sehen, und jedes Freude sich in Blicken und Gebärden zeigte, da fühlte sich Ernst, wie er gewesen war. Und als er den schmerzlichen Augenblick überstanden hatte, in welchem er Renot in Hadems Zimmer treten und da sich einrichten sah, eilte er mit Ferdinand nach seinem Walde, den Felsen, dem Flusse, den Tälern und jauchzte in seinem Herzen, alles so zu finden, wie er es verlassen hatte. Er trug ein weißes, feines Tuch in seiner Hand, in welches etwas eingeschlagen war; er verheimlichte selbst Ferdinanden, was es enthielte. Als [291] er aber in die Höhle trat und die Blende erreichte, sagte er zu diesem:

»Ferdinand, alle diese Riesensäulen, welche den Berg tragen, hast du deinen in der Geschichte berühmten Helden zu Denkmälern aufgestellt; ich lasse sie dir und fordere keine. Aber auch ich will ein Denkmal aufstellen, ein Denkmal meines Glaubens an die Tugend – an die Tugend, Ferdinand, die nicht erwägt, nicht berechnet, ein Denkmal der ungeteilten, die ganze Welt umfassenden und erhaltenden Tugend. Den Kranz, welchen ich in diesem Glauben in den blühenden Feldern des edlen Mannes pflückte, will ich dieser einsamen, schauerlich erhabenen Höhle anvertrauen und dem Auge der Menschen ganz verbergen. In dem dunkelsten, unbemerktesten Winkel soll er hangen, solange als ich an die Tugend glaube. Ferdinand, es ist ein Bundeszeichen zwischen ihr und mir. Noch einmal, zum letztenmal, umwinde ich meine Schläfe damit – dann die deinen. – Erinnere dich jetzt, was wir fühlten, als wir an dem Tage, da Hadem abreiste, vor meinem Oheim standen und uns so bekränzt umarmten. Verehre mein Denkmal!«

FERDINAND: Wie, Ernst? ein Kranz verwelkter Blumen, dürrer Ähren, den die Feuchtigkeit des Orts in kurzem ganz vernichten wird – ist dieses ein Denkmal der ewigen Tugend?

ERNST: Mein Glaube macht ihn dazu, zu einer Pyramide, die den Menschen und der Zeit trotzt. Ich werde Staub vor ihm sein, und mein Geist wird noch aus jenen Welten herabsteigen und den seinen sammeln; denn wenn ich denken, wenn ich fürchten könnte, daß je ihn meine Hand wegrisse, so wäre es besser für mich, ich hätte nie das Licht der Welt erblickt, wäre nie aus jenem Lande in das Land der Prüfung herabgestiegen. An dem Tage, Ferdinand, an welchem ich ihn wieder berührte, gehörte ich den Toten zu!

FERDINAND: Du wirst immer bleiben, wie du bist, so gut und edel. Aber warum wählst du diesen Winkel? Sieh, ich trete dir gerne die größte Säule in meinem Tempel des Ruhms ab. Sprich ein Wort, und ich stoße Cäsarn herunter – hänge den Kranz an das Felsenhaupt seiner Gedächtnissäule – sie scheint [292] ewig und fest wie die Tugend, scheint selbst der Erderschütterung zu trotzen.

ERNST: Ich danke dir, Ferdinand – ich wähle diesen Winkel. Die Tugend ist sehr bescheiden, und ich fürchte beinahe, man verstattet ihr in der Welt keine ansehnlichere Stelle. Wenigstens glaube ich nicht, daß man sie in der Höhe suchen muß. Und da dieses nur ein Denkmal zwischen mir und ihr ist, so soll es so sein. Wenn ich daran vorübergehe oder davor sitze, so werden sich meine Ansprüche darnach bilden, und die Lehren, die es mir dann zuflistern wird, die Gedanken, die mir von ihm kommen, werden von der Art sein, wie ich ihrer bedarf: groß im Innern, stark in sich selbst, still, ruhig, bescheiden im Äußern. Ferdinand, der Ruhm bedarf prächtiger Denkmäler; denn nur zu oft soll die Pracht uns die Wahrheit verhüllen. Dieses hier ist ein stiller Bund des Herzens.

Als er nun ein zugespitztes Holz zwischen die Spalte des Felsens in der Blende getrieben und den Kranz daran gehängt hatte, sagte er feierlich zu Ferdinand:

»Verehre meinen Bund! berühre nie diesen Kranz! Nie möge ich ihn berühren! Mein Geist sehe seinen Staub, sammle ihn und trage ihn in unser Vaterland.«

7.

Während nun Ernst aller der Wonne in seinem Herzen genoß, die ihm die blühende und wohltätige Natur so reichlich darbot, während er auf seinen einsamen Wanderungen auf die Stimme seines geheimen Führers horchte und dessen Geist in der reinen Luft, mitten im Schoße der Natur ihm immer näher trat, immer vertrauter und deutlicher ward und sein Blick in das Wesen und Leben der Menschen immer tiefer eindrang, sich immer weiter ausdehnte und er nun näher sah, was für Schätze der Mensch verloren und wodurch er sie verloren hat, während er von seinem geheimen Lehrer lernte, wie der Mensch, der auf den deutlichen Ruf der Natur, die reine Stimme des Herzens horche und allen ihr widersprechenden, sie zerstörenden Reizungen des Wahns, [293] der Eitelkeit, der Gewalt und Herrschsucht entsage, sich allein trotz allen wilden, empörenden, von diesen angebeteten Götzen erzeugten Äußerungen getreu verbleiben könne, sann Renot, ein Sklav dieser Götzen, auf Mittel, ihm dieses wiedergefundne Paradies der Unschuld, der Ruhe und des Glücks zu rauben. Und nicht allein, sie ihm zu rauben, sie ihm lächerlich zu machen und alle die Begierden, Leidenschaften und Torheiten in ihm zu entflammen, die ihm sein Führer als die Verwüster und Zerstörer dieses Paradieses so treffend und schrecklich geschildert hatte.

Zu diesem Zwecke sollte ihm das Werk Helvétius' »Von dem Geiste« dienen. Dieses hielt er für den besten Wegweiser für einen Mann, der sein Glück, ungestört von allen ängstlichen Träumen, nicht allein machen, sondern auch genießen will.

Dieses Buch ist durch vielerlei Beziehungen merkwürdig. Der Verfasser stellt uns in demselben ein treues, aufrichtiges Gemälde der Denkungsart seines Zeitalters, seines ganz in Sinnlichkeit versunknen Volkes dar, und so systematisch geordnet, daß, wenn die Zeit es allein dem Vergessen entrisse, es den späten Nachkommen zu einem sichern Leitfaden dienen könnte, die Ursachen der bald darauf erfolgten schrecklichen Ereignisse aufzufinden. Ohne alle Scheu und Rücksicht entschleiert uns dieser Mann in dem dogmatischen Tone der Überzeugung alle Triebe seiner Zeitgenossen, des Eigennutzes, der Selbstigkeit, Sinnlichkeit und aller ihrer zahllosen Gefährten, als wären nur sie die einzigen notwendigen Gesetze der menschlichen Natur. Kühn zerreißt er das Band, welches uns an eine höhere Welt bindet, und beweist uns, daß wir nur ausgerüstet mit diesen Trieben und Begierden in das Leben gestoßen werden und nur durch sie unsre Bestimmung erfüllen, daß alles andere Täuschung und erkünstelter Zusatz des Stolzes und einer aufgedunsenen Einbildungskraft sei, das zu weiter nichts diene, als uns zu blenden oder Dornen auf einen Weg zu streuen, den wir so leicht und froh hinwandeln könnten. Sein Werk zeigt uns von Anfang bis zu Ende, durch das ganze glänzende, witzige, metaphysisch und moralisch sein sollende Gewinde durch, daß er und seine aufgeklärten [294] Zeitgenossen samt allen Machthabern jedes Standes nicht allein an die Tugend nicht mehr glaubten, sondern so weit gekommen waren, daß sie es gerne hörten, wenn man ihren Unglauben durch sogenannte philosophische Beweise systematisch erhärtete. Und so legte er in diesem seinem Werke der Nachkommenschaft das Bekenntnis ab, daß nicht allein bei ihm und dem Volke, für welches er schrieb, alle wahre moralische Kraft aufgetrocknet sei, sondern daß es derselben entbehren konnte und wollte.

Und dieses System der Sinnlichkeit, dessen Lehre sich an seinen Bewunderern und Befolgern so schrecklich gerächt hat, sollte dem Schüler Hadems und des Priesters der Natur, dem Jünglinge, in dessen Busen beide nur leise zu rufen brauchten, um ihren eignen Geist sich antworten zu hören – diesem sollte es wie ein langsames Gift als die einzige, durch Erfahrung bewährte Weisheit eingeflößt werden!

Das einzige, was sich zu Renots Entschuldigung sagen läßt, damit er nicht wie Leviathan im »Faust« oder »Giafar« dastehe, ist, daß er es wirklich nicht für Gift hielt, daß er es früh auf dem Schauplatze eingesogen hatte, wo es aus der moralischen Fäulnis emporschoß; daß er wirklich dachte, seinen Zöglingen zu nützen, und um so mehr, da es sie dem Ziele näher bringen sollte, nach welchem allein ein Mann von Stand, Geburt und dadurch großen Ansprüchen zu streben hat. Auch kannte er in sich selbst keine andern Triebe, hatte nie nach andern gehandelt – wie konnte er nun an Götzen zweifeln, die er selbst anbetete?

Lange drehten sich seine Gespräche um den Lauf der Welt, um das, was sie in Bewegung setzt und in Bewegung erhält. Er zeigte von fern an, wie aus diesen Trieben allein alles Große, Glänzende und Nützliche, welches die Menschen getan hätten und täten, entspränge, wie diese Triebe sie zusammenhielten und wie sie eigentlich allein das Band der wechselseitigen Verhältnisse ausmachten. Gleich einem vom Aberglauben entflammten Priester stellte er einen seiner Götzen nach dem andern auf, schmückte jeden aufs herrlichste, rühmte jedes ihm eigne Wunder und zeigte begeistert auf das glänzende Glück, welches er [295] seinen Anbetern gewährt. Und nun ließ er zuzeiten seinem Witze freien, ungebundnen Lauf und malte bis zur Verzerrung die Göttin, welche Ernst im stillen verehrte. Die Geschichte und seine Erfahrung lieferten ihm freilich hierzu traurige Beweise, und er wußte sie zu nutzen; aber er ahndete nicht, daß Ernst von seinem geheimen Lehrer auf alles dieses vorbereitet war, er wußte nicht, daß ihn dieser fest überzeugt hatte, die Stärke der Seele sei der Grundstein aller Tugend und diese könne sich nur durch Proben erweisen.

Da Ernst immer ruhig und still zuhörte, so glaubte endlich Renot wirklich, der Zeitpunkt sei gekommen, worin er die nähere und gänzliche Entwickelung seines Systems würde vornehmen können. Nun flocht er es in alle Unterredungen ein, und jeder laute Gedanke, jede ausgesprochene Empfindung mußte ihm dazu Gelegenheit geben. Dabei vermied er die Miene des Lehrers so viel als möglich; alles sollte nur Erwerb der Erfahrung großer, berühmter und weiser Männer scheinen, damit es an Kraft und Glanz gewönne.

Von mir erwarte niemand, daß ich ihm dieses System des Eigennutzes und der Sinnlichkeit hier nach Renot vortrage und es mit ihm durch das ganze Schlangengewinde von Sophismen, Witz und Vernünftelei verfolge. Möchte mein Vaterland es nie ausüben lernen, nie so tief sinken, daß es unter uns die Triebe der Handlungen bestimme! – Meine Zeit ist zu kostbar, und mich drängt das Schicksal des edlen Mannes, der meine Seele so innig beschäftigt, zu gewaltig vorwärts. Sollte ich nun über diesen Schlamm der Menschheit mit gesenkten Flügeln hinschweben, in Gefahr, sie zu beflecken?

Ernst hatte während dieser Zeit lebhaft gefühlt, daß die ganze Lehre Renots die natürliche Folge der Zweifel sein müßte, welche ihn so lange gequält hatten, daß eine Moral, die das bloß Nützliche zum Grund unsrer Handlungen aufstellte, uns bald dahin bringen müßte, bei allen unsern Handlungen bloß auf das uns Nützliche zu sehen, und daß demnach alle Moral nur Spiegelfechterei der Schule wäre.

Ernst ließ Renot ruhig seine ganze Denkungsart mit allem dem [296] Wohlgefallen, das er dabei zu empfinden schien und das er täglich mehr zeigte, aufstellen. Dieser legte ihm sein stilles, ernsthaftes Nachdenken dabei so aus, als werde er nach und nach von der Stärke seiner Gründe überzeugt; aber ehe er es sich versah, erweckte ihn Ernst, auf eine Art, die er gewiß nicht erwartete, aus seinem Irrtum. Und der Jüngling, welcher ihm so lange ohne den mindesten Widerspruch zugehört hatte, bewies ihm plötzlich, daß er die ganze Zeit zu nichts anderm angewandt, als dem sich gefallenden Redner bis in den verborgensten Winkel des Herzens zu blicken, und daß er wirklich den Punkt seiner Schwäche richtig gefunden hätte.

Eines Morgens trat Ernst, nachdem er Ferdinanden entfernt, in Renots Zimmer und stellte sich so männlich gefaßt vor ihn, wie ihn dieser bisher noch nicht gesehen hatte. Er sprach mit einem festen, immer gleich gehaltnen Tone:

»Herr Renot, hören Sie mich nun einige Augenblicke mit eben der Aufmerksamkeit an, die ich Ihnen so lange, ohne Sie ein einziges Mal zu unterbrechen, geliehen habe. Es ist wirklich hohe Zeit, daß wir uns gegeneinander erklären, damit jeder von uns wisse, wie er den andern anzusehen und zu behandeln habe. Das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, muß auf immer zwischen uns entscheiden, es muß für immer über unser Verhältnis zu meiner Ruhe und, wenn Sie wollen, zu Ihrem Vorteil bestimmen.

Die Eltern bezahlen eigentlich die Hofmeister ihrer Kinder dafür, daß sie denselben gute Lehren geben; ich, Herr Renot, will etwas Ungewöhnlicheres tun: ich will Sie dafür bezahlen, daß Sie mir und meinem Freunde keine schlechte Lehren geben, daß Sie uns der Tugend, welcher Sie uns entweder nicht zuführen können oder wollen, wenigstens nicht zu entführen suchen. Meinem Versprechen können Sie gewiß glauben; denn Sie sehen ja wohl, daß es Ihnen mit allem Ihrem Witze, aller Ihrer Erfahrung und Ihrer wirklich glänzenden Beredsamkeit nicht gelungen ist, mich einem Wesen untreu zu machen, welches Sie Schimäre nennen. Darum meine ich nun, daß Sie dieser meiner Schimäre zuversichtlicher trauen können als derjenigen, die Sie an ihre [297] Stelle zu setzen suchten; und gewiß hat Ihnen Ihre Welterfahrung auch hier über einige Beweise gegeben. Ich will Sie nicht um Ihre Aussichten bei meinem Oheim bringen, will Sie vielmehr über Ihre Erwartung belohnen, sobald ich es imstande bin; denn lieber will ich doch den Hofmeister behalten, den ich kenne, als Gefahr laufen, mir für die noch kurze Zeit einen aufdringen zu lassen, der sich vielleicht sorgfältiger zu verbergen wüßte.

Zum Beweise, daß ich Sie nicht mit bloßen Worten bezahlen will – ich habe eine ziemliche Summe erspart; mein Vater gibt mir, wie Sie vielleicht wissen, immer mehr als ich bedarf. – Diese Summe hatte ich zwar meinem Freunde Hadem als ein Zeichen meiner Erkenntlichkeit bestimmt, aber er wird es mir gewiß verzeihen, daß ich sie so anwende; er würde sogar, das versichere ich Ihnen, sein Letztes hergeben, um sie zu vergrößern. Sie sollen dieses und alles künftig Ersparte haben, darauf können Sie, bis zu der Zeit, wo ich reicher sein werde, gewisse Rechnung machen.

Wundern Sie sich nicht über das, was ich sage, und hören Sie mir mit der Kälte zu, mit welcher ich rede.

Entweder Sie nehmen nun meinen Antrag an, oder wir trennen uns. Nehmen Sie ihn an, so lehren Sie uns Französisch, Geographie, Geometrie, schweigen aber von allen Ihnen ganz fremden, unbekannten Dingen und behalten Ihre ganze Welterfahrung zu eignem Gebrauche. Ich kann Ihre Lehren nicht allein nicht brauchen, ich kann sie gar nicht mehr anhören, wie Ihnen mein Vorschlag klar beweist. Gefällt Ihnen mein Antrag nicht, so verlassen Sie noch heute unser Haus; meinem Vater werde ich sehr leicht die Notwendigkeit davon begreiflich machen.«

Nach diesen Worten legte er einen Beutel voll Gold vor Renot auf den Tisch und schien ganz ruhig den Erfolg abzuwarten. Renot sah bald auf ihn, bald auf den Boden, bald auf das Gold. Endlich antwortete er:

»Sie verkennen und beleidigen mich, mißdeuten ganz, was ich bei meinen Reden über diesen Punkt beabsichtige. Bei meiner Ehre, ich denke nur an Ihr Bestes.«

ERNST: Mein Bestes kannte ich schon vor Ihnen; doch darauf [298] lasse ich mich nicht ein. Ich habe Ihnen meinen Entschluß bekanntgemacht, er ist unerschütterlich, denn er betrifft die wichtigste Angelegenheit meines Lebens. Erwägen Sie nun die Ihrige. Und um Ihnen nichts zu verbergen – wissen Sie, warum ich Sie von meinem Oheim angenommen habe? Nur darum, daß Sie mir durch die Mitteilung Ihrer Kenntnis der französischen Sprache einen Führer verständlich machen sollten, durch welchen Sie mir ganz entbehrlich waren, der mich jeden Tag mit neuen Waffen gegen Ihre gefährlichen Lehren ausrüstete.

Ernst ging in sein Zimmer und brachte den »Emil«.

»Hier sehen Sie meinen Freund und Führer, in dieser Verlassenschaft Hadems ruhet sein Geist und meine Stärke. Sie können, wenn Sie wollen, mein Geheimnis nun verraten; sein Geist wohnt in meiner Brust, und nie werden Sie oder die Menschen das austilgen, was er, dem die Tugend selbst den Griffel gab, in mein Herz geschrieben hat. Doch vergessen Sie ja nicht, Herr Renot, daß Sie nur ihm den Vertrag verdanken, den ich trotz allem, was ich von Ihnen hören mußte, bereit bin, mit Ihnen abzuschließen. Ich kann wenigstens nicht vergessen, daß ich ihn durch Sie erst recht habe verstehen lernen.«

Renot schlug indessen die Bücher um, schob sie kalt beiseite und sagte:

»Wissen Sie wohl, daß diese Bücher das gefährlichste Gift gegen die Religion enthalten?«

ERNST: Vielleicht gegen die Ihrige, gegen die meinige nicht. Wenn Sie sich die Mühe geben wollen, den dritten Teil aufzuschlagen, so werden Sie da einige Stellen bezeichnet finden, die mich gegen die Ihrige schützten.

RENOT: Es ist überflüssig. Folgen Sie diesem Führer in allem, Herr von Falkenburg? – Ich sehe, Sie verehren ihn ausschließend. Das einzige, was mir zu wünschen übrigbleibt, ist, daß Sie sein Schicksal nicht treffen möge.

ERNST: Und welches ist es?

RENOT: Allen Menschen lächerlich, von allen gehaßt und verfolgt zu sein.

ERNST: Von allen? Ich hoffe, von den Menschen nie schlecht [299] genug zu denken, um dieses glauben zu können. Und wäre es, so bewiese es ja doch nur, was ich glaube, was ich von ihm glaube. Der Mann Ihres Systems wird freilich ein glänzenderes Schicksal haben. Ich wette, er ist reich, geachtet, allgemein beliebt. Es sei so! Darum behandele ich auch Sie nach seinem System und fordere weiter nichts von Ihnen, als daß Sie mich nach dem meinigen behandeln möchten. Weiter habe ich Ihnen nun nichts zu sagen. Zeigt mir mein Vater an, daß Sie Ihren Abschied verlangen, so verwerfen Sie meinen Antrag, schweigt er, so ist alles zwischen uns ausgemacht.

Er ging.

Renot saß noch lange, in tiefes Nachdenken über diesen sonderbaren Antrag versenkt. Die Art und Weise, die Festigkeit, die Offenheit, der Geist und Mut, womit Ernst sich erklärt und ihn so geradezu auf den Punkt der Entscheidung gestellt hatte, brachten seinen Stolz, seine Eitelkeit und sein sogenanntes Ehrgefühl in ein peinliches Gedränge. Sein Lieblingsgötze, der point d'honneur, den der junge Mann so gewaltig und schonungslos geschüttelt hatte, spielte an seinem Herzen, bis er es empörte; aber die Empörung dauerte nicht sehr lange, denn sein ausgebildeter Verstand zeigte ihm schnell den ganzen Vorfall von einer so lächerlichen Seite, daß er in ein helles Lachen würde ausgebrochen sein, wenn er nicht befürchtet hätte, Ernst möchte sich in der Nähe befinden. Endlich lispelte ihm der Geist seines Systems zu:

»Warum sollt ich einen Toren nicht auf seine Weise behandeln? Tat ich nicht meine Pflicht, da ich ihm zeigte, daß er es sei, da ich mir die Mühe gab, ihn von seiner Torheit heilen zu wollen? Er will nun einmal zu der Zahl derjenigen gehören, die das Schicksal so gestaltet und gestimmt in die Welt wirft, daß sie Leuten von Verstande zum Spiel oder Mißbrauch dienen. Soll ich nun meine Zeit verloren haben oder mich von seinen Grillen anstecken lassen und mein Glück zerstören? Alles, was ich für den Toren tun kann, ist, ihn zu bedauern; denn seine Geistesstimmung verspricht ihm keine heitere Tage. Doch schaden wird er mir gewiß nicht, dafür steht mir seine Narrheit. Er ist so zufrieden [300] mit seinem Zustande, daß alle Sorge für ihn lächerlich wäre. Sein gewählter Führer hat, so viel ich weiß, noch keinem Menschen genützt; so nütze er mir! – Aber dem Knaben da, der mich so beleidigt hat, werde ich nie vergeben!«

8.

Nach obigen Betrachtungen lebte Renot in dem Hause des Herrn von Falkenburg so ruhig und heiter fort, als wäre nichts geschehen. Er behandelte Ernsten, wie dieser es wünschte, das heißt, er kümmerte sich nicht um ihn. Da aber auch Philosophen, von welcher Sekte sie sein mögen, ihren Systemen gerne Schüler gewinnen, um ihre Schätze durch sie auf die Nachwelt forterben zu lassen, so hielt sich Renot jetzt bloß an Ferdinand, in welchem er immer einen sehr aufmerksamen Zuhörer bemerkt hatte. Das unruhige Feuer der Ehrbegierde, der Reiz nach Genuß, das Verlangen, in der Welt zu glänzen und eine Rolle zu spielen, waren durch Renots schimmernde Schilderungen schon lange in seinem Herzen in brausender Gärung. Er konnte kaum den Augenblick erwarten, auf dem Schauplatze, den man ihm so anlockend und bezaubernd malte, ein tätiger Mitspielender zu werden. Gewisse andere Begierden, die in diesen Jahren so stark und laut anfangen zu sprechen und die der Blick der reizenden Amalie so mächtig erweckt hatte, zogen einen noch blendendern und reizendern Firnis über eine Welt, wo sie ihre Befriedigung ahndeten. Renots Unterhaltung setzte sie in volle Flammen; denn er erzählte ihm gerne seine und anderer Begebenheiten mit einem Geschlechte, das, nach seinen geäußerten Meinungen, nicht allein den Wert eines Mannes bestimmt, sondern auch über sein Glück entscheidet. Dieses alles tat nun Renot in der Absicht, den jungen Menschen für die Welt zu bilden und ihn zum wahren Glück zu führen. Demnach sah nun der lebhafte Ferdinand in seinem Hofmeister nicht allein den angenehmen Verkündiger aller der Genüsse, nach denen er sich sehnte, er sah in ihm auch den Mann, der ihm den leichtesten und sichersten Weg zu ihnen zeigte, der allein ihn lehren konnte, zu gefallen und die Herzen [301] dieser Glücksgöttinnen zu gewinnen. Seine Einbildungskraft ward durch diese Vorspiegelungen immer reger, und Genuß, Liebenswürdigkeit, Gefühl der Ehre in Renots Sinne wurden bald die einzigen Gedanken, mit denen er sich beschäftigte. Renot bewies ihm die Notwendigkeit seiner Lehre auch dadurch, daß er als eine Waise nur durch die Gaben, mit denen die Natur ihn so reichlich beschenkt hätte, das ersetzen könnte, was ihm vom Glück und Schicksal vorenthalten wäre. Und hier ergoß er sich gewöhnlich in ein großes Lob über seine Gestalt, seinen Witz, seine Lebhaftigkeit, Anmut und Gewandtheit und versäumte nie, Ernstens Betragen und Denkungsart lächerlich zu machen. Verteidigte Ferdinand diesen gegen seine Sarkasmen, so sagte er: »Den Reichen ist alles erlaubt, ihnen verzeiht die Welt sogar die sonderbarsten Grillen; aber ein Mann, der sonst nichts hat als seine Talente und empfehlende Gestalt, muß sich hüten, einer Schimäre nachzulaufen, die noch keinen glücklich gemacht hat und die gewöhnlich damit endiget, daß sie die Geißel derer wird, die mit ihr gebuhlt haben. Diejenigen, welche sie noch am besten behandelt, läßt sie, nachdem sie dieselben um allen wahren Lebensgenuß gebracht hat, als einen Gegenstand des Spottes und des Gelächters stehen; und die vom Elend Erdrückten und Erwürgten verweiset sie auf die Hoffnung über dem Grabe.«

Hörte und sah Ferdinand Ernsten, so dachte er freilich anders; aber doch glaubte er auch von ihm, es ließe sich zwischen Renots und Ernstens Denkungsart ein Vergleich stiften, vermöge dessen ein Mann von Ehre mitten im Geräusche und Genusse der Welt es verbleiben könne; und die Welt zu genießen und zu benutzen, schließe die Tugend und Rechtschaffenheit nicht aus.

Das schöne Band der jungen Freunde wurde, wenigstens von Ferdinands Seite, durch diese Verschiedenheit der Gesinnungen von Tage zu Tage lockrer. Ernst sah es mit tiefem Kummer. Er zeigte Ferdinand seine Besorgnisse; aber so schonend er es auch tat, so erblickte doch dieser in ihm mehr einen spähenden Beobachter und ernsthaften Zurechtweiser als einen wohlmeinenden Freund. Renot unterhielt ihn in dieser Meinung.

[302] 9.

Die Zeit der Trennung war nun gekommen; Ernst und Ferdinand hatten die Jahre erreicht, wo sie den Wirkungskreis ihrer Tätigkeit erwählen mußten. Ferdinand wurde durch den Präsidenten bei einem auswärtigen Regimente in Frankreich angestellt; Ernst sollte die Universität beziehen. Ferdinand reiste zuerst, und Ernst sagte ihm beim Abschiede:

»Ich bin dein Freund. Beweise mir, daß du der meinige bist, wenn du dich in Not befindest. Ich teile mit dir; und gelingt es dir in der Welt nicht, hier sollst du immer alles finden, dessen du bedarfst. Nur kehre mir zurück, wie du mich verlässest. Vergiß Hadem und seine Lehren nicht, so kannst du mich nie vergessen.«

Renot dachte noch immer, er würde Ernsten auf die Akademie begleiten; aber dieser wußte seinem Vater so klar zu beweisen, wie entbehrlich Renot ihm sei, daß man ihn entließ und ihn dem Präsidenten zuschickte. Ernst wiederholte sein Versprechen und gab ihm neue Beweise davon.

Ernst blieb noch einige Monate bei seinem Vater und genoß nun ungestört seines Zutrauens und seiner Liebe. Oft sprach er von Hadem mit ihm, und der Vater überzeugte sich immer mehr, daß er seinen Sohn diesem ihn schützenden Geiste anvertrauen könnte.

Nun durchstrich Ernst die Gegenden, wo er seine Kindheit und die Jünglingsjahre so glücklich und unschuldig verlebt hatte. Den letzten Abend vor seiner Abreise besuchte er die Höhle, küßte den Kranz und sagte:

»Blühend, wie ich dich gepflückt habe, schwebest du über meinem Haupte! Und nie wirst du mir verdorren! Laß mich dich mit dem Gefühl wiedersehen, mit welchem ich dich verlasse, und ich bin glücklich!«

[303]

Drittes Buch
1.

Vielleicht mißfiel es manchem, daß ich mich bei der Jugendgeschichte des Mannes, den ich darzustellen unternommen, so lange verweilt und Vorfälle erzählt habe, die diesem und jenem geringfügig scheinen mögen. Gleichwohl konnte ich nicht anders, wenn ich euch den Mann zeigen wollte, der so schrecklich verkannt wurde; und entsprang nicht aus eben diesen unbedeutend scheinenden Vorfällen seine ganze Denkungsart, die Stimmung seines Herzens auf sein Leben? – Hätte ich keine anderen zu melden, ihr würdet auch diese nicht gelesen haben; aber nun muß ich vorwärts und den glücklichen Szenen seiner Jugend den Rücken wenden. Solange ich ihn nur mit sich selbst beschäftiget schilderte, solange ich die schönen Blüten seines Geistes, die sein idealischer Sinn so lieblich färbte, zu malen versuchte, konnte ich oft vergessen, was auf diesen seligen Traum der Jugend erfolgte. Aber nun, da ich ihn, um der Ursache willen, die ich euch gleich anfangs gesagt, in dem Verhältnisse mit den Menschen aufführen und euch dartun muß, was Dummheit, Bosheit und Neid taten, einen Geist zu erschüttern, der gegen alle Schläge des Schicksals durch ein Gefühl gestählt ist, das zwar nicht vernichtet, aber doch verdüstert werden kann – nun wird mein Geschäft bei jedem vorwärts getanen Schritte trauriger und schmerzlicher. Fassen will ich mich, so viel ich kann, und ohne Bitterkeit und Haß das weitere treu und wahrhaft erzählen.

Ich überfliege, so viel ich kann und darf, um schneller den Begebenheiten näherzukommen, die jetzt auf mich zudrängen.

Nach einigen auf der Universität zugebrachten Jahren begab sich Ernst auf Reisen: zuerst durch Teutschland, dann durch England und Frankreich. Seine Kenntnisse erweiterten sich, aber sein innrer Sinn blieb derselbige; nur dehnte er sich mehr aus, nur ward er kräftiger durch die gemachten Beobachtungen. Sein geheimer Führer hatte ihm einen richtigen Maßstab gegeben, [304] die Erscheinungen der moralischen Welt zu bestimmen; und darum konnten ihm diese Erscheinungen, so auffallend und empörend er sie auch hin und wieder finden mochte, die Natur des Menschen und seine Anlagen, gut und edel zu sein, in kein zweideutiges Licht setzen. Sein Führer hatte ihm klar gezeigt, daß alles Verzerrte, Verstümmelte, Mißgestaltete und Ungeheure, welches in der Gesellschaft ohne Unterbrechen hervorschießt, bis ins Unendliche fortwächst und in allem, was der Mensch tut und denkt, sichtbar ist, nur in dem Augenblick entstehen konnte, in welchem der Mensch, dieses so vorzüglich geliebte, so glücklich ausgestattete Lieblingskind der Natur, seine Mutter verließ. Sie hatte ja ihre heiligen Lehren als die einzigen Quellen des Glücks seinem Herzen anvertrauet und ihm die Grenzen dieses Glücks so fest und bestimmt angezeigt, daß er nicht übersehen konnte, das Elend beginne, so bald er sie übertrete. Ernst wußte durch seine Lehrer, wodurch der Mensch diese Grenzen einriß und übersprang, er wußte, wer ihre Spur so ausgelöscht hatte, daß die aus ihrer glücklichen Heimat Verirrten wohl noch zuzeiten ihr verlornes Glück wie einen Jugendtraum vor ihrem Geiste dunkel schweben sehen, aber es nie wiederfinden können. Man glaube darum nicht, Ernst habe seinen Lehrer so verstanden, wie ihn mancher verstanden hat und noch versteht: als müsse man diese selige Heimat in dem wilden Zustande suchen, der darum dem Menschen nicht allein und vorzüglich eigen und natürlich sein kann, weil er in demselben seine hohe Würde, die seinen Ursprung allein beweiset, nie entwickeln könnte. Nachdem er die übrigen Schriften seines Lehrers gelesen hatte, die alle nur ein Geist durchhaucht und zu einem zusammenhangenden Ganzen verbindet und wovon jeder Teil zu einer Stufe des Tempels der Wahrheit dient, sah er klar ein, daß die oft wild und übertrieben scheinenden Gedanken des begeisterten Künstlers, der dieses erhabene Gebäude aufführte, nur deshalb da stehen, weil sie das entgegenstehende Gerüst des Wahns, der Torheit, Eitelkeit und Eigenmacht in seiner elenden Blöße zeigen sollen. Er wußte, daß Plato, als er die Gebrechen der Staaten seines Zeitalters [305] merkbar machen wollte, dasselbe tat, indem er das Gesetz, die Gerechtigkeit und die moralische Würde des Menschen als die einzigen Führer und Leiter seinen Zeitgenossen mit der ganzen Erhabenheit und Kraft seiner Seele darstellte; er wußte, daß ihn nur die mißverstanden, verhöhnten und haßten, welche ihn entweder nicht faßten oder, als Verbrecher gegen diese Gesetze und Würde, es nicht ertragen konnten, daß dieselben in diesem hohen Lichte der Wahrheit erschienen.

2.

In Paris machte er sehr viele und angenehme Bekanntschaften mit Gelehrten, Bürgern und Staatsleuten; und auch er fand, was so viele beobachtet hatten, daß trotz der Verderbnis der Sitten in keiner Stadt Europas mehr Kenntnisse, Annehmlichkeiten des Umgangs und gesellschaftliche Tugenden zu finden wären als eben in dieser verderbten Stadt. Auch hatte gerade die allzu offne und schreiende Äußerung dieser Verderbnis nach und nach alle diejenigen erweckt, in welchen die Funken des Edlen noch glimmten; ihre Tugend erhob sich an der Seite des Lasters, und schon hörte man einige laute Stimmen unter dem wilden Gebrause.

Franklin war um diese Zeit in Paris, und Ernst hatte das Glück, diesem seltnen Manne zu gefallen und von ihm geachtet zu werden. Als sich dieser nun zu seiner Abreise fertig machte, bat ihn Ernst um die Bestellung eines Briefes an Hadem, von dem er den edlen Greis so oft unterhalten hatte. Franklin versprach ihm, wenn Hadem in dem ungeheuren Bezirke von Amerika lebte, so sollte er diesen Brief gewiß bekommen. So viel hatte Ernst schon von Franklin erfahren, daß das Regiment, wobei Hadem stand, in einem für die Engländer und Teutschen unglücklichen Treffen beinahe gänzlich zugrunde gerichtet worden sei und man die übrigen als Kriegsgefangene in das Innere des Landes geführt hätte.

Ich darf dem Leser diesen Brief nicht vorenthalten.

[306] Ernst an Hadem

Ein Brief von Ihrem Schüler, Ihnen durch den edelsten Mann des Landes, in welchem Sie nun leben, zugesandt, wird Sie gewiß erfreuen. Und damit Sie ja nicht fürchten, daß etwas diese Freude stören möchte, so sage ich Ihnen gleich im Eingange meines Briefes, daß Ihr treuer Schüler noch in dem Lande lebt, in das Sie ihn eingeführt haben. Sie würden ihn trotz der Veränderung, welche die Zeit in seinem Äußern gemacht hat, gewiß wiedererkennen und so finden, wie Sie ihn verließen. Damit Sie sehen, wie und wodurch er sich auf seiner Grundfeste erhalten hat, sende ich Ihnen hiermit zugleich die Beweise des Kampfes 1, den Sie bei Ihrer schrecklichen und plötzlichen Entfernung durch Ihre letzte Worte veranlaßt haben. Und dann sage ich Ihnen, daß Sie mich nie verlassen haben, daß Ihr Geist mir immer zur Seite stand, daß ich nur in dem Gedanken lebte, Sie wiederzusehen, nur Sorge trug, von Ihnen wiedererkannt zu werden. Franklin, der erste Mann seines Volkes, hat mir versprochen, Sie in meine Arme zurückzusenden; und dann, Hadem, mag das Schicksal über mich beschließen, was ihm gefällt.

Denken Sie sich meine Lage, meine Traurigkeit, meine Furcht, meine Angst, meinen Kampf, als Sie mich verließen! Und denken Sie, wie ich Ihnen in der Stille des Herzens für den Führer dankte, dem Sie mich anvertraueten! Daran erkannte ich meinen Hadem wieder. So übergibt der schützende Genius den ihm anvertrauten, eben verschiednen Gerechten einem Engel, daß er ihn in unser Vaterland leite, weil ein Neugeborner seines Schutzes bedarf. Er hat mich geleitet, er hat den jungen, ganz verlaßnen Kämpfer ausgerüstet mit Stärke, er hat ihm wieder Mut eingeflößt auf der Bahn, auf welcher er einen Augenblick wankte. Und von dem Augenblick an, da ich den Geist verstand, dem Sie mich anvertrauten, stehe ich wieder in der Mitte meines Paradieses, und ich hoffe, Sie sollen mich darin finden.

Von dem Manne, dem man mich und Ferdinand nach Ihrer Entfernung übergab, sage ich nichts. Er konnte mir nicht mehr [307] schaden; er bestärkte mich nur in dem Glauben, den Sie in mir erzeugt hatten. Nur fürchte ich, daß er auf Ferdinand mehr Wirkung getan hat. Dieser ist jetzt im französischen Dienste, und ich habe ihn in seiner Garnison besucht. Nach den Begriffen dieses Landes besitzt er alles, was ein Mensch besitzen muß, um hier sein Glück zu machen; und ich glaube, er wird das seinige machen. Freude, Vergnügen und Hoffnung umgaukeln ihn, und er ist so liebenswürdig, so angenehmen Umgangs, daß der Zauber seines Betragens und seiner Liebkosungen mir selbst die Furcht verschleierte, die einige seiner Äußerungen in mir erweckten. Ich liebe ihn und werde ihn immer lieben, und da seine ihn ganz beherrschende Einbildungskraft nun einmal nicht zu bändigen ist, so wünsche ich nur, daß er bei Fehlern und Torheiten stehenbleibe, daß diese Fehler unter einem so leichtsinnigen Volke wie das französische nicht in Laster ausarten. Fehler kann er im Unglück bei mir vergessen, Torheiten kann ich vielleicht gut machen; aber Laster?

Ich habe mich vier Jahre auf der Universität *** aufgehalten und da das menschliche Wissen mehr geprüft als mir zum Eigentum gemacht. Ich lernte mich von der Beschränktheit des menschlichen Geistes überzeugen und fand bei meinem Nachsinnen darüber, daß uns zu unserm Glücke so vieles Große und Herrliche deutlich, klar und verständlich ist als wir bedürfen, um unsre Bestimmung zu erfüllen. Ihr Geist und der Geist des Mannes, den Sie mir zum Führer hinterließen, leiteten mich auch hier; ich ging mit ungestörtem Verstande und ruhigem Herzen an allen täuschenden Sirenen vorüber, die uns mit ihrem reizenden Gesange in Labyrinthe locken, aus denen wir uns selten herauswinden, ohne die Heiterkeit des einen und die Zufriedenheit des andern zu verlieren. Wie die goldnen Strahlen der Morgenröte schweben die Fäden meines Daseins, die mich an jenes Land so sanft binden, vor meinem Geiste – ich überlasse mich ihrem Zuge und vermeide alles, was sie düster färben könnte.

Ich war in England, Hadem, in dem Lande, das die Söhne der Teutschen von ihren Fürsten erkauft, um sie über das Meer zur Schlachtbank zu senden. Auch Sie sandte es dahin, aber zum [308] Schutz und Troste der dem Tode geweihten Opfer. Und nur dieser Gedanke, wenn ich Sie bisweilen zu lebhaft zurückwünsche und murrend über meinen Verlust klage, söhnt mich wieder mit dem Schicksal aus, das Sie mir vorenthält. Ich empfinde, was Sie diesen Unglücklichen sein müssen, welche die Goldsucht ihrer Fürsten von dem väterlichen Boden vertrieb, die nun seufzen in der Gefangenschaft, im Innern eines fremden Landes, dessen Erde schon den größten Teil ihrer Brüder in Wildnissen deckt. Ist der Teutsche dazu geboren? seinem Fürsten von der Natur als eine Ware gegeben? Was hofft dieser von den zurückgebliebenen Waisen, wenn die Zeit kommt, da das Vaterland seiner Söhne bedarf? Wird er mit seinem aufgehäuften Golde nun auch fremde Verteidiger erkaufen? oder wird er dem Feinde die Summe entgegentragen, die er für das Blut seiner Kinder erhalten hat, und damit Schonung erkaufen? Ich darf diese Gedanken nicht weiter verfolgen. Kein Volk der Erde verdient mehr Achtung und Schonung von seinen Fürsten als das teutsche; und dieses Volk wird von ihnen verkauft! Weg mit dem elenden Gedanken, der Teutsche habe kein Vaterland! – Er hat ein Vaterland; ich habe ein Vaterland, ich fühle es und fühlte es schon, als ich das erste lebendige Rauschen in meinem Eichenwalde vernahm. Ich fürchte, Hadem, durch diese Gesinnung sind Tugenden in Teutschland verschwunden, deren Verlust wir einst bereuen werden. Die Zeit kann kommen, wo sich dieser Gedanke, der Teutsche habe kein Vaterland, grausam an denen rächen wird, die ihn erzeugten und unterhielten. Der Teutsche hat kein Vaterland – was hat er denn, Hadem? Und was sind seine ihm eignen Sitten und Tugenden? Ist nicht Treue, Aufrichtigkeit und Tapferkeit sein unterscheidendes Merkzeichen? Und den Boden, der diese Tugenden nährt, auf welchem sie gedeihen, sollten wir nicht unser Vaterland nennen? Und wäre dieser traurige Gedanke wirklich wahr – wie, wenn nun der Teutsche fragte, warum er kein Vaterland habe in dem Sinne wie andere Völker und durch wen ihm diese Quelle edler Tugenden genommen sei – was würde man ihm antworten?

[309] In England forschte ich vergebens nach jenen Tugenden, mit deren Geräusche dieses nach allen Teilen der Welt handelnde Volk seine verblendeten Bewundrer so lange täuschte. Längst hat die Goldgierde sie verschlungen. Mich überfiel ein Schauder bei dem Gedanken, daß dieses von politischer Freiheit träumende Volk, welches gleichwohl allen wirklichen Wert nur in Gewinn setzt, die unschuldigsten und ältesten Bewohner der Erde in der scheußlichsten Sklaverei hält und uns ihre unter der Gewalt erzwungenen Erzeugnisse zuführt, um für das uns abgenommene Gold Teutschlands blühende Söhne von unsern Fürsten zu kaufen! Ich sehe sie alle Meere durchfahren, alle Küsten der kultivierten und wilden Völker besuchen, überall handeln, tauschen, Gewalttätigkeiten und Raub ausüben und selbst hier in der Hauptstadt für den Glanz des Goldes den Schatten ihrer noch übrigen Freiheit verkaufen. Hadem, und doch treibt dieses durch seine Reichtümer aufgeblähete Volk seinen mißverstandnen Stolz so weit, daß es alle Völker der Erde verachtet, ob es gleich bei ihnen seine Tugenden für Gold umsetzt. Und wenn die Engländer nun alles Gold der Erde zusammengehäuft haben, werden sie nicht ärmer durch ihren Reichtum sein? Wird das Elend bei dem größten Teile des Volkes nicht in eben dem Maße steigen wie der Reichtum des kleinern? Welches bloß kaufmännische Volk der alten und neuen Welt rief nicht in der Zeit der Not seinen Götzen vergebens um Hülfe an? Oh, es ist ein trugvoller Götze, Hadem; und die Zeit wird einst gewiß die gemißhandelten Völker der Erde an seinen feurigen Anbetern rächen! Und geschieht es nicht schon jetzt, in dem Erdteile, wo Sie leben? Tugend, Mittelmäßigkeit zu Gefährten, Eisen zur Verteidigung – was vermag das Gold gegen diese? Und ist dieses nicht das Los der Teutschen?

Ich durchreiste verschiedne Provinzen von Frankreich, bevor ich mich nach Paris begab. Da nun und in Versailles entdeckte ich freilich sehr geschwind die Quellen des Elends, von dem dieses gutmütige, muntre, geistreiche und freundliche Volk so vielfach leidet. Gewiß besitzen die Franzosen schon von Natur alle geselligen Tugenden in einem höhern Grade als andere Völker; [310] und darum können andere Völker auch nur ihre Torheiten nachahmen. Ich werde überall eine feine Urbanität und gefällige Redlichkeit gewahr, die nur der Haß oder der rohe Sinn verkennt. Der Franzose ist durchaus ein vollendeterer Mensch, und Feinheit im Denken, Sprechen und Handeln macht sein unterscheidendes Merkmal aus. Um so mehr ist es zu beklagen, daß die Urheber seines Elends ihm alles Böse mit einer Leichtigkeit, Zuversicht und Vergessenheit tun, als sei es ein unvermeidliches Gesetz der Notwendigkeit. Ich fliehe oft den Tumult dieser großen Stadt, um mich dem Nachsinnen dessen zu überlassen, was täglich vor meinen Augen vorgeht; und oft flüchte ich mich auf die ruhige, selige Insel, welche die Gebeine des Mannes in sich schließt, dessen Leitung Sie mich anvertrauet haben. Mit welchem Gefühle der Rührung und des Danks ich zum erstenmal sein Grab begrüßte, denken Sie wohl. Diese Insel, Hadem, war der letzte Zufluchtsort des verfolgten Priesters der Natur und der Wahrheit. Auch hat die Natur sie zur Ruhestätte ihres Lieblingssohns reizend ausgeschmückt. Schlanke Pappeln wiegen sich lispelnd um sein Grab, als sprächen Geister aus einer andern Welt von ihren Wipfeln herab. Hier sprach sein Geist stärker als je zu mir; und selbst der heiße Wunsch, daß er noch leben möchte, die stillen Klagen, daß ihn meine Augen nicht sehen, daß ich ihm für meine Errettung keinen Dank sagen konnte, verloren sich bei dem Gedanken: Werde ich ihn nicht finden in dem Lande, wohin er geflohen ist, zu welchem er mir die Bahn so fest, so bestimmt vorgezeichnet hat?

Hadem, nie vergehen die Worte dieses Mannes, und an seinem Grabe fühlt ich, was denen bevorsteht, die dem Edlen ihr Ohr verstopften – diesem Edlen, der ihnen so laut und schrecklich warnend den Abgrund zeigte, an dem sie so tätig und rastlos graben, als könnte er sie nicht früh genug verschlingen.

Hier, an seinem Grabe, schwor ich, seiner Lehre treu zu bleiben und alle widrigen, empörenden Erscheinungen um mich her mit dem Gedanken zu bekämpfen: »Die Natur machte den Menschen gut; in dem Augenblicke, da er sie verließ, hörte er auf, es zu sein.« – [311] Ja, Hadem, hier ist die Tugend nur ein Paradewort, nur ein Ausdruck des Vertrags. Hier weiß man nichts von Übertreibung derselben, als wenn man von ihr spricht, wenn man Handlungen aus Romanen zum Gegenstande des Gespräches macht. Hier übt man Ihre letzten Worte in einem Sinne aus, wie Sie dieselben gewiß nicht ausgesprochen haben; denn aus Vorsicht, die Tugend nicht zu übertreiben, sich und andern durch sie nicht schädlich zu werden, verliert man alle Kraft und allen Mut dazu.

Ich werde in kurzem Frankreich verlassen; denn ich sehne mich nach meinem Vaterlande, wo die goldne Mittelstraße noch betreten wird, wo Üppigkeit und ihre Quelle, der Reichtum, noch nicht alle Tugenden verschlungen haben, wo noch Einfalt, Zutrauen und inniges Verhältnis unter den Bürgern herrschen. Möchte es in diesem Zustande verbleiben! Möchten nie Witz und Spott die einzigen Bedürfnisse der Unterhaltung, die Hauptforderung an unsere Schriftsteller werden! Möchten dem Teutschen noch lange Wahrheit, Empfindung und Einfalt genügen, und ein Gemälde der schönen, ruhigen Natur, die Erzählung einer guten Tat, das rührende Schicksal eines ihrer Brüder sie mehr entzücken als die witzigste, geistreichste Spötterei, die glänzendste Schilderung des üppigen Wohllebens, die berühmteste Darstellung der mit dem schimmerndsten Firnisse übertünchten Laster! Euer Ruhm sei eure Treue, eure Aufrichtigkeit, euer Mut! Erhaltet diese Erbschaft eurer Väter und mißgönnt andern Völkern den Ruhm nicht, den sie sich auf Kosten dieser Tugenden erwerben!

Mit diesen Empfindungen werde ich den vaterländischen Boden wiederbetreten, mich auf den Schauplatz meiner fröhlichen, unschuldigen Jugend einschränken und da Sie erwarten. All mein Bemühen soll darin bestehen, mir diesen Sinn zu erhalten, meines Vaters und Ihre Lebenszeit aufzuheitern und alle die glücklich und zufrieden zu machen, die meiner Sorge anvertrauet sind.

Kehren Sie bald zu uns zurück, Hadem, so bald als Ihre Pflicht es verstattet. Sie fehlen mir und meinem Vater. Mitten in dem blühenden Schoße der Natur wollen wir einen Tempel bauen, [312] dessen Grund ich an Ihrer Seite mit zarter Hand anlegte. Ich bin nun kühner und zutraulicher geworden – und der Grundstein dieses Tempels liegt mitten in dem von Ihnen gebildeten Herzen, welches ich so rein erhalten will, daß Sie es nie abweisen werden. So bin ich, durch unermeßliche Entfernung getrennt, noch Ihr, so sind Sie noch mein; denn das Band, das uns vereinigt, umschlingt und erhält die Welten. Leben Sie wohl, Hadem!

Zwei Dinge vergehen nie in mir: die Gewißheit eines höhern Ursprungs, sichre Rückkehr dahin und die Freundschaft für Sie. An diesen Zeichen werden Sie Ihren Schüler gewiß erkennen, in welcher Lage des Lebens Sie ihn auch finden mögen. Noch einmal, leben Sie wohl!

3.

Nach Franklins Abreise kehrte Ernst zu seinem Vater zurück. Wie er Teutschland und seine Landsleute betrachtete, hat er selbst angedeutet; und ich brauche nicht zu sagen, daß er den vaterländischen Boden mit Gesinnungen betrat, die dem größten Teil unsres von Reisen zurückkehrenden Adels fremd sind. Von außen gebildeter und vollendeter, mit Erfahrung und Kenntnissen bereichert, kehrte er, was seine innere Denkungsart betrifft, unverändert zurück. Sein Äußeres hatte durch seine festere innre Stimmung gewonnen, seine ernste und oft düster nachsinnende Miene war durch gefällige Sanftmut gemildert. Aus seiner Liebe zum Guten, seinem Mute, seinem Zutrauen, seinem einfachen Gefühl floß ein schonendes Betragen gegen andere. Er konnte Torheiten mit ansehen, ohne aufgebracht zu werden. Er bedauerte still; denn da er die Menschen kannte, so kannte er auch die Ursachen ihrer Torheiten, und da er für sich ohne alle Anmaßungen und Ansprüche war, so ließ er sich nie verleiten, durch Bemerkungen und Zurechtweisen die Menschen zu reizen, überzeugt, daß man sie wohl dadurch erbittern, in ihrem Unsinne verstärken, aber selten bessern kann. Nur wenn er aufgefordert wurde, wenn man Wahrheit von ihm verlangte, wenn sie oder die Unschuld in Gefahr waren, nur dann trat er in der[313] ganzen Würde und Stärke seines Gefühls auf, ohne die Folgen für sich zu achten.

Die Freude seines Vaters, einen solchen Sohn nach allen ihm bekannten Gefahren in seiner Unschuld zu umarmen, ihn so zu finden, wie er ihn verlassen hatte, war unbeschreiblich. Es war immer sein Ernst, und in seinem Herzen lebte das Gefühl der Jugend, als sei ihre Blüte unvergänglich. Mußte sie nicht? Hatte er sie nicht in dem ewig blühenden Lande gepflückt, in das er so früh eingedrungen war? Auch sollten nur dort ihm die Früchte reifen, deren Keime er so sorgfältig wartete; denn nur dort blühet der Baum des wahren Lebens.

Als sein Vater nun alle Freude des Wiedersehens genossen und Ernst die Höhle besucht, den Kranz unversehrt gefunden hatte, ohne daß ein Vorwurf die geistige innre Verbindung mit ihm störte – drang sein Vater in ihn, sich dem Fürsten vorstellen zu lassen. Ernst empfand, daß es notwendig wäre; aber er versicherte seinem Vater, er würde sich durch nichts fesseln lassen, in seine Arme zurückkehren und nur ihm und dem stillen Berufe leben, den die Natur ihm so glücklich angewiesen hätte.

4.

Ernst kam in der Residenz an und stieg bei seinem Oheim ab. Sein Eintritt und sein Betragen überraschten den Präsidenten; der Jüngling, den er als einen phantastischen, träumenden Knaben kannte, war nun zu einem jungen Mann aufgewachsen, der bei allem Anstande, aller Freundlichkeit und Sanftmut doch mit jedem Worte und Blick anzeigte, daß er auf einem festen Punkte der Stärke und Entschlossenheit stände. Ich sage zu wenig, wenn ich sage: der erfahrne Mann ward dadurch verwirrt. Ernst drückte ihn; denn wenn er ihm gleich als sein Neffe und als Edelmann gefiel, so mißfiel er ihm doch als Mensch. Indessen war der Freude, des Bewillkommens und Wohlaufnehmens kein Ende, und der Tag seiner Ankunft mußte ein Fest in der Familie werden, wozu man alles einlud, was man seine Freunde nannte. Ernst mußte von seinen Reisen erzählen, und er sagte [314] eins und das andere darüber, das seinen Oheim in Erstaunen setzte. Zuzeiten dachte er, Renot habe trotz seinen Prahlereien doch nur gepfuscht und der alte Schade sei dem jungen Manne geblieben, er tauge nur für das Landleben oder für das Bücherschreiben. Als er aber endlich seinen Entschluß erfuhr, daß er sich dem Fürsten wolle vorstellen lassen, ward er ernsthaft, lobte indessen seinen Entschluß sehr und setzte hinzu:

»Sie werden Ihren Hofmeister Renot als Sekretär bei dem Fürsten finden, Neffe. Er hat mir diese ehrenvolle Stelle zu danken. Ich tat es um Ihrentwillen, und Sie können dafür auf seine Gefälligkeit bei jeder Gelegenheit rechnen. Wenigstens glaubte ich, ich sei verbunden, die Dienste zu belohnen, die er Ihnen erwiesen hat.« –

Ernst errötete; er hatte die Kunst nicht erlernt, einen Schlag an sein Herz abzuleiten, ohne daß er sich dem Geiste mitteilte. Er antwortete kalt:

»Ich sehe es gerne, daß es ihm wohlgeht, und da Sie wirklich glauben, er habe Ihre Vorsorge verdient, so danke ich Ihnen dafür; doch erlasse ich ihm seinen Dank und seine Gefälligkeit, wenn ich Ihre Worte recht verstehe, weil ich nie etwas suchen werde, als wozu ich Recht habe, und dazu ist ja der gerade Weg immer der beste.«

Ernst traf hier, ohne es noch zu ahnden, gerade den rechten Gesichtspunkt, den der Präsident bei der Anstellung Renots im Auge gehabt hatte. Er, der an dem kleinen Hofe gerne die Politik ausübte, wie sie an großen im Gange ist, um seine Geisteskräfte alle zu gebrauchen, hatte Renot dem Fürsten zum Sekretär gegeben, weil er gerade einen so gewandten und ihm zugetanen Menschen an dieser Stelle brauchte. Der Fürst hatte unter vielen Eigenheiten auch die, daß er gewisse Dinge gern allein tat und seine Minister und geheimen Räte nicht alles wissen lassen wollte. Da dieses nun eine Eigenheit an einem Fürsten ist, welche Minister und Räte an kleinen Höfen ebenso wenig vertragen können als die Minister und Räte an großen, so mußten sie natürlich diese ihnen unangenehme Eigenheit für sich so unschädlich als möglich zu machen suchen. Nehmen ließ der Fürst [315] sie sich einmal nicht; das hatten sie erfahren. Renot war nun freilich der Mann zu einem solchen Zwecke. Er legte, sobald er den Fürsten kennengelernt und das Verhältnis nebst allen daraus für ihn entspringenden Vorteilen durchschauet hatte, den Franzosen so weit als möglich ab und stellte nur den biedern, einfachen, treuen Schweizer dar. Der Fürst war mit ihm zufrieden; denn Renot besaß die Kunst, ihm jede Arbeit leicht und nach seinem Sinne zu machen. Und um diese Zufriedenheit bis zum Zutrauen zu erheben, zeigte er ihm bei jeder Gelegenheit das, was Große so gern an Kleinen sehen: eine besondere Anhänglichkeit und Ergebenheit; und er wußte es so zu drehen, daß er dieses noch mehr für den edlen Mann als für den Fürsten zu fühlen schien.

Der Präsident versuchte nun, Ernsten einige Regeln über sein Betragen gegen den Fürsten zu geben, und legte besonders auf diese einen starken Nachdruck: da der Fürst das Kühne und Mutige nicht liebe, so möchte er ja zurückhaltend in seinen Reden sein.

Ernst hörte ihn ruhig an und sagte:

»Ich gehe zu dem Fürsten, ihm die Achtung zu bezeigen, die er von mir, von jedem unter uns, von jedem seines Volks und von jedem Teutschen verdient. Kann ich ihn von diesem meinem Bewegungsgrund überzeugen, so habe ich meine Absicht schon erreicht.«

Der Fürst erlaubte Ernsten schon auf den folgenden Morgen Zutritt. Gerne hätte ihn der Präsident an den Hof begleitet, aber er wußte, daß er darum doch weiter nichts erfahren würde; denn der Fürst hatte auch die Eigenheit, daß er den Zutritt in das Innere seines Kabinetts erlaubte und sich da gern allein und ungestört mit denen unterhielt, die er sehen und kennenlernen wollte.

Dem Fürsten gefiel nun alles das an Ernsten, was dem Präsidenten nicht gefiel; und als er ihm angemeldet ward, erinnerte er sich augenblicklich seines ehemaligen Schreibens. Er las es durch, bevor Ernst zu ihm trat, und nun sah er den jungen Mann gerade in dem Lichte an, in welchem er ihm damals erschien. Der Eintritt, das Betragen, die Gesinnungen Ernstens bestärkten [316] den frühen guten Eindruck. Nachdem sich der Fürst lange mit ihm von seinen Reisen und auswärts gemachten Bekanntschaften unterhalten hatte, fragte er ihn, welchem Geschäfte er sich nun zu widmen gedächte, welchen Teil an der kleinen Staatswirtschaft seines Vaterlandes er wählen würde.

Ernst antwortete: »Meine Neigung geht vorzüglich auf ein beschränktes Leben; ich halte es jetzt für mein Hauptgeschäft, das Leben meines Vaters angenehm zu machen und ihm alle Sorgen abzunehmen. Ich muß mich erst im Kleinen versuchen, Ew. Durchlaucht, bevor ich mich an das Große wage.«

FÜRST: Sie reden von Beschränktheit, Herr von Falkenburg, das heißt von Ruhe. Der tätige Geist in Ihren Augen scheint über Ihre Worte zu zürnen. Was sollen wir Alten denn tun, wenn Rosenlippen von Ruhe reden? Nach Ihrer jetzigen Äußerung habe ich mich also in Ihnen geirrt. – Sie wundern sich? – Freilich geirrt. Denn Sie haben mir nicht Wort gehalten, Ihr Gelübde gegen mich gebrochen, das Sie mir schon in Ihrer Jugend durch diesen Brief ablegten.

Er gab ihm den Brief und bemerkte sein Erstaunen darüber. Nun fuhr er fort:

»Sie sehen, ich habe ein besseres Gedächtnis als Sie. Sie vergaßen den Vertrag, den Sie durch diesen Brief mit mir gemacht haben, ich vergaß ihn nicht. Es ist mir leid, daß Sie es taten; ich habe auf Sie gerechnet. Und doch hätte ich mich in Ihnen nicht irren sollen, Ihre erste Bitte wenigstens habe ich gleich erfüllt.«

ERNST: Verzeihen Sie, gnädiger Herr, mein Erstaunen über das, was ich höre und sehe. Wenn Sie wüßten, wie es mit diesem Briefe zugegangen ist, was er für Folgen für mich gehabt hat, ich würde leicht Ihren ernsten Blick mildern.

FÜRST: Reden Sie. Ich höre gerne von den Jahren, in welchen der Mensch beginnt.

ERNST: Darf ich eine Frage wagen?

FÜRST: Sie wagen bei mir nur dann, wenn Sie mit blühenden Wangen von Ruhe reden.

ERNST: Waren Ew. Durchlaucht nicht ungehalten über diesen Brief?

[317] FÜRST: Gar nicht. Ich trug ja Ihrem Oheim auf, er sollte Ihnen sagen, daß ich diesen Brief als ein an mich von Ihnen abgelegtes Gelübde ansähe, daß ich hoffte, Sie würden als Mann leisten, was Sie hier als Jüngling versprächen. Ich hörte in dem Briefe den jungen Mann, der hier vor mir steht; aber da nicht, als Sie von Ruhe sprachen.

ERNST: So muß mein Oheim Ihre gütige Äußerung dem Jüngling für nachteilig gehalten haben, und vielleicht hatte der erfahrne Mann darin recht. Und nun erlauben Sie mir, gnädiger Herr, daß ich Ihnen nicht erzähle, was für Folgen der Brief für mich gehabt hat.

FÜRST: Ich verstehe Sie, verstehe Sie gerne so und dringe darum nicht weiter in Sie; aber dafür werden Sie auch Ihr Wort halten und das mir getane Gelübde nicht vergessen. Ich bewahre es auf. – Herr von Falkenburg, versagen Sie sich Ihrem Vaterlande darum nicht, weil sein Umfang so klein und beschränkt ist. Das kleinste Land braucht gute Menschen; und vielleicht ist ein kleiner Bezirk denen, welche gut sind und es bleiben wollen, zuträglicher als ein großes Reich. Ich gestehe Ihnen, daß ich darum als teutscher Fürst mit meinem Lose sehr zufrieden bin. Jetzt kann ich meinen Wirkungskreis ganz übersehen; wär er größer, so müßt ich mein Geschäft zerstückeln und es mit so vielen Händen teilen, daß mein Fürstentum zwar größer, mein eigner Wirkungskreis aber eben um so viel kleiner und beschränkter wäre. Jetzt kann ich mir noch etwas zuschreiben, kann alles und jedes noch beobachten und in Ordnung halten; aber wenn Leute Ihrer Art mir fehlen wollen, wenn sie sich mir versagen, wenn sie die Probe mit sich und mit den Menschen aus Mißtrauen oder Gemächlichkeit nicht machen und ihre Tugend und ihr Talent vergraben wollen, so ist es traurig für den, der an der Spitze steht. Und warum suchen Sie die Ruhe? so frühe Ruhe? Herr von Falkenburg, das Amt in dem kleinen Staate schließt die Sorge für den eignen Herd nicht aus wie in dem großen. Es bereichert selten; und um so besser! So nimmt der Diener des Vaterlandes zugleich als Bürger und Hausvater teil am Staate.

Dieses sind meine Gesinnungen. Haben Sie etwas darauf zu antworten, [318] so will ich es gern anhören; haben Sie mir nichts zu antworten und verharren doch bei Ihrem Vorsatz, so haben Sie Gründe, die Sie mir nicht anvertrauen können, und in diesem Falle geb ich Ihnen Ihren Brief zurück.

ERNST: Ich wäre des teutschen Namens nicht würdig, nicht würdig, in einem Lande geboren zu sein, dem ein solcher Fürst vorsteht, wenn Ihre Worte meinem Herzen nicht zu Gesetzen würden. Der Sinn, in welchem Sie meinen Brief aufnahmen, als ich noch ein Knabe war, gnädiger Herr, ist so schön und selten, daß mir die Erinnerung daran zum ewigen Vorwurf würde, wenn ich ihn nicht so treu erfüllte als ich ihn lebendig fühle. So wird der Teutsche selten von seinem Fürsten geworben. Nehmen Sie mich denn ganz wie ich bin und nützen Sie mich, wo es Ihnen gefällt.

FÜRST: Ich nehme Sie an; und glauben Sie mir, an den Fürsten liegt es nicht allein, wenn sie ihren Adel nicht so werben, wie ich Sie geworben habe. Zeige sich nur unser Adel so teutsch und bieder, wie ich Sie finde, wie ich Sie mir denke, und erhalte sich auf den ihm vertrauten Posten so, dann werden teutsche Fürsten auf diesen Titel stolzer sein als auf jeden andern. Und nun begleiten Sie mich auf meinem Spaziergang.

Der Fürst führte ihn durch verschiedne Alleen gerade nach dem Teiche und ließ sich in der Laube nieder, wo Ernst einst seinen Brief niedergelegt hatte. Er lächelte über die schöne Wärme, die das Erinnern jenes Morgens auf Ernstens Wangen zog; da aber Ernst die weitere Erörterung so zart abgelehnt hatte, so vermied er jede Frage darüber. Ernst blieb zur Tafel.

5.

Renot sorgte dafür, daß der Präsident alles auf das genauste erfuhr, was zwischen dem Fürsten und Ernsten öffentlich vorgefallen war. Der Präsident erwartete Ernsten mit vieler Ungeduld; und als dieser endlich kam, fragte er ihn gleichgültig über seine Aufnahme. Ernst sprach von dem Fürsten, wie er es verdiente, und um so auffallender für seinen Oheim, da er es [319] mit Fassung tat. Als er endlich dem Präsidenten erzählte, daß er dem Lande dienen würde, sagte dieser: »So!« und als Ernst hinzusetzte, wie ihn der Fürst geworben, so rief er: »O der vortreffliche Fürst! der vortreffliche Fürst! wie will ich ihm dafür danken!« Diese Worte sagte er mit einem so sonderbaren, so lang gedehnten Tone, daß Ernst ihn darüber ansah. Der Ton schien bloß aus dem Kopfe zu kommen und durch eine Reihe von Nebengedanken verlängert zu werden.

Nun nahm das Gespräch eine andre Wendung. Den Inhalt desselben wird der Leser von Ernsten selbst lieber als von mir hören.

Renot unterbrach sie. Er war eilends gekommen, um Ernsten seine Aufwartung zu machen. Als der Präsident sich einen Augenblick entfernt hatte, sagte Ernst zu Renot:

»Sie haben mir Ihr Wort gehalten, als ich noch ein Knabe war; ich will nun das meinige erfüllen, da ich ein Mann geworden bin.«

Nicht die Sache, sondern die gerade Erinnerung daran verdroß Renot, aber um so freundlicher war er gegen Ernst, um so schmeichelhafter sprach er gegen den Präsidenten und andre von ihm.

Ernst fuhr den folgenden Tag zu seinem Vater zurück, und ich kann dem Leser seine Gesinnungen über seine gegenwärtige Lage nicht besser darstellen, als wenn ich ihm ein Bruchstück eines Briefes von ihm an Hadem vorlege. Er hatte die Gewohnheit, bei jedem ihm wichtigen Vorfalle sich mit diesem zu unterhalten; und eine solche Unterhaltung nannte er einen Geisterrat zwischen sich und diesem.

Ernst an Hadem

Mit welchem Entschluß ich in meine Einsamkeit zurückkehrte, habe ich Ihnen geschrieben, lieber Hadem. Doch alle die schönen Hoffnungen, die sichern Erwartungen muß ich nun aufgeben, und dagegen zu murren wäre ein Verrat an Ihren Lehren, an meinem Herzen. Ich soll ein Amt annehmen, fühle die ganze Stärke der Gründe unsers edlen Fürsten; und doch gehe ich hier [320] nachsinnend in meinen blühenden Tälern herum und sehe mit scheuem Blicke nach der fernen Zukunft hinter den Felsen. Wie ich jetzt hier herumwandere, denke ich mir den von der Habsucht und dem Geiz an die Europäer verkauften Neger, der nun zum letztenmal an dem Gestade seiner Heimat traurig umhergeht und bebend über das Meer nach dem fernen Lande hinblickt, wo er weiß, daß ihn harte, ewige Sklaverei erwartet. Und nicht darum, Hadem, nicht dieses ängstiget mich. Ihr Schüler kann nicht so klein und eigennützig denken, um nur Ketten für sich im Dienste des Vaterlandes zu sehen, weil er des Lohns nicht bedarf. Es ist nicht die Freiheit, mit seiner Zeit nach eignem Gefallen und Gewissen schalten zu können, die ich beklage; ich glaube vielmehr, daß ich sie nicht besser anwenden kann. Brauche ich Ihnen zu sagen, was es ist? Wenn ich an dieses lebhaft denke, so fühl ich einen kalten Schauder durch mein Herz laufen. Und doch – was will ich im Grunde? Kann ich wohl dem süßen Rufe mein Ohr verschließen? Kann ich meine Tugend als mein Eigentum ansehen, solange sie nicht unter den Menschen und dem Wirken mit ihnen die Probe bestanden hat? wenn ich nur mir in stiller Beschränktheit allein durch sie nutze, wo mich keiner stört? Daß die auf diesem glücklichen Flecke hier nichts verlieren, dafür sorgt mein Vater; denn dies ist die schöne Ernte seines herannahenden Alters. – Und sind es nicht Teutsche, aufeinem Boden mit mir erzeugt, von eben demselben Boden mit mir genährt, gleich mir für ihr Bestes besorgt, mit denen ich zu tun haben soll? Fordere ich mehr an sie als das, was billig, gerecht, ihnen nützlich ist? Und dieses mögen sie an mich so strenge fordern als sie nur wollen, darüber werde ich nicht mit ihnen ins Gedränge kommen. Also was ist es, das diesen geheimen Schauder verursacht? An Willen, meine Pflicht zu tun, fehlt es mir gewiß nicht; auf Mut, in Verwicklungen auszuhalten, auf Stärke im Kampfe wage ich zu rechnen. Und ich sollte fürchten, den Schauplatz zu betreten, wo sich dieses nun bewähren kann? Sind es nicht die gefährlichsten Versuche zum Bösen, welche die Legende den Heiligen am höchsten anrechnet? – Und doch, Hadem, ich muß es Ihnen sagen – verzeihen Sie, aber ich kann nicht [321] schweigen. Ihre letzten Worte erklangen in der Tiefe meines Herzens, während der Fürst mit mir sprach. Ich fürchte, die Menschen können die Tugend in ihrer Kraft, Würde, Reinheit und Unbestechlichkeit nicht ertragen, und nur halbe, schielende Tugenden leiten ihre Handlungen, so wie sie durch ihre Schwäche beständig nahe an der Grenze des Lasters hinstreifen. Sollte das ganze Erblicken dieser erhabenen Tochter des Himmels für ihren moralischen Sinn das sein, was das glänzende Licht des Himmels unserm physischen Sinne ist? Ist es so, Hadem, was soll aus Ihrem Schüler werden? Wo soll er seinen Standpunkt finden? Wo soll er seinen Fuß hinstellen? wo vorwärts schreiten? wo stille stehen? wo und wonach seitwärts blicken? Wie? ich sollte meinen festen, reinen Blick durch die strahlenbrechenden, dunkeln, verworrnen, sich kreuzenden Verhältnisse der Menschen teilen und färben lassen? Das innere Licht meiner Seele soll von fremden Schattierungen abhangen? Dies ist es, Hadem, dies ist es!

Jetzt erst kann ich Ihnen erzählen, wie es gekommen ist, daß ich meinen Entschluß so schnell geändert habe. Hadem, wenn Sie diesen Fürsten gehört hätten! Ich wollte Ihnen gerne jedes seiner Worte hinschreiben, aber wo blieben seine gutmütigen, menschenfreundlichen, väterlichen, geistreichen Blicke? wo das sanfte Spiel des Wohlwollens um seinen Mund? das Herz und Zutrauen Gewinnende in jeder seiner Äußerungen? der Nachklang seiner Stimme in dem Geiste? sein edler, ruhiger Anstand? – Sie wissen, Hadem, wie sehr ich das Ruhige, Feste im Betragen liebe, Sie wissen, an wem ich es so früh schon kennen und schätzen lernte! –

(Nachdem nun Ernst die obige Unterhaltung zwischen dem Fürsten und sich beschrieben, fährt er fort:)

Ich fühle, daß Sie Ihren Schüler glücklich preisen, dieses von seinem Fürsten, von einem teutschen Fürsten, gehört zu haben. Ich höre, daß Sie sagen: »Mein Ernst wäre meiner und des Führers nicht wert, dem ich ihn überließ, wenn er dieser Aufforderung nur mit dem leisesten Gedanken widerstanden hätte.« Und Sie haben recht, Hadem! Ich bin sein. Er fordere, was ich vermag; denn nie wird er fordern, was ich nicht vermöchte.

[322] Wie klopfte mein Herz, wie erhob sich mein Geist, als er von dem Briefe sprach, so davon sprach! Wie standen Sie an meiner Seite, wie griff meine Hand nach der Ihrigen! Wie strömte es aus meinem Herzen nach meinen Lippen, von Ihnen zu reden! Ich schwieg hier, ich mußte schweigen, aber das damalige Betragen meines Oheims war von so sonderbarer Art, daß ich wenigstens gegen ihn nicht schweigen konnte. Er schien betroffen, nachsinnend über die Veränderung meines Entschlusses, über das Benehmen, die Äußerungen des Fürsten gegen mich; und als ich ihm nun alles geradezu sagte, sprach er etwas von seinen guten Absichten und setzte endlich kalt hinzu, er habe es für klug gehalten, den Stolz des Jünglings nicht durch die Botschaft des Fürsten noch mehr zu reizen, und das aus der gegründeten Furcht, ihn durch das Gelungene des ersten Schritts zu mehreren zu verleiten, deren Erfolg nicht so glücklich ausfallen möchte.

Ich zeigte ihm das Widersprechende seiner damaligen und jetzigen Reden sehr gelinde und sagte:

»Gleichwohl hielten Sie mich zu jener Zeit für ganz unschuldig und schrieben meinem Hadem alles zu, so sehr ich Sie auch von dem Gegenteil versicherte.«

Er schwieg einige Augenblicke, und dann sagte er:

»Ich hatte meine Ursache dazu und habe sie noch jetzt.«

Ich erwiderte:

»Das Ding, welches Sie System nennen, mag vielleicht schuld daran sein; denn es erlaubt gar sonderbare Dinge. Freilich war ich nur ein Knabe, aber vielleicht waren Sie mir umso mehr die Wahrheit schuldig.«

Er antwortete:

»Der Mann sagt dem Knaben nur alsdann Wahrheit, wenn sie ihm wirklich nützt.«

Ich wollte ihn nicht aufbringen, ich wollte aus seinem Munde hören, was ich ahndete, und sagte:

»Ich bin es nun nicht mehr und bitte Sie jetzt als um eine Wohltat: sagen Sie mir, da Sie nichts mehr für mich zu fürchten haben, da Sie vernehmen, daß mir bekannt ist, wie der Fürst den Vorfall [323] ansah – hat Hadem Ihnen eingestanden, daß er mich zu diesem Schritte gereizt, daß er darum gewußt habe?«

Er erwiderte trocken, Sie hätten geschwiegen und Schweigen sei in einem solchen Falle ein Bekenntnis.

»Verzeihen Sie, lieber Oheim«, antwortete ich ihm, »machen Sie Ihre Wohltat ganz vollkommen! Zeigten Sie Hadem Unwillen über diese Tat? sagten Sie ihm, der Fürst habe das Geschehene übel aufgenommen?«

»Dieses tat ich«, erwiderte er verdrießlich, »weil es notwendig war, weil ich Sie fortlieben wollte.«

Und nun fiel die Hülle von meinen Augen. Sie standen verklärt vor mir, und der Schimmer Ihrer Verklärung verbreitete sich über mein ganzes Wesen. Ich dankte meinem Oheim mit Wärme und fühlte Tränen in meinen Augen.

Da erkannt ich meinen Hadem! – Es war ein Opfer, das Sie der Tugend brachten, ein schmerzliches, schönes Opfer. Und der Mann, der es brachte, der mir einen solchen bedeutenden Wink noch mitgab, eben der Mann, der dieses für einen Knaben, für seinen Schüler tat, mit Schmach und Vorwurf belastet ihn floh und alles stillschweigend ertrug, warnte den Knaben in dem letzten Augenblicke vor eben dem, was ihn zu der Tat antrieb – vor Übertreibung der Tugend, sprach von Maß und Regel der Tugend! – Hadem, ich halte mich an Ihre Handlung; in dieser liegt der Sinn, der mich leiten soll. Und ich sollte nach diesem Fingerzeige zweifelnd am Scheidewege stehen?

6.

Der Vater hörte das Betragen des Fürsten gegen seinen Sohn mit stiller Rührung an. »Gehe, mein Sohn«, sagte er, »es sind dein Vaterland und der edelste teutsche Fürst, die dich rufen. Fügte ich ein Wort hinzu, so müßt ich der Wirkung dieses Rufs auf dich nicht trauen. Für diese hier will ich schon sorgen. Riefe der Fürst mich an dem letzten Abend meines Lebens, so würde ich mich noch von meinem Lager aufmachen und ihm die letzten Stunden widmen. Eile zu ihm!«

[324] Als Ernst wieder vor dem Fürsten erschien, erklärte ihm dieser: »Ich habe eine Stelle für Sie gefunden, die Stelle eines Oberkammerrats in der Grafschaft ***; dem jetzigen Oberkammerrat dieser Grafschaft werde ich eine Stelle am Hofe geben, wie dieser, weil er alle Arbeit haßt, schon lange zu wünschen scheint. Sind Sie mit dieser Einrichtung zufrieden?«

Ernst sprach von seinen wenigen Kenntnissen in diesem Fache, und der Fürst antwortete ihm:

»Wille Gutes zu tun ist hier das Haupterfordernis, und was Ihnen an Kenntnissen fehlt, dazu wird Ihnen gern ein Mann behülflich sein, der sich Ihnen gewiß nicht versagt. Ich verweise Sie an den Kammerrat Kalkheim. Der eigensinnige gute Mann scheint nur auf Sie zu warten. Sie gewinnen ihn dem Lande gewiß wieder.«

Ernst ritt noch denselben Tag nach der Gegend, wo der Kammerrat sich aufhielt. Im ersten Dorfe seines Gartens fragte er nach ihm. Man wies ihn nach einem entlegenern, dort fand er den Kammerrat noch in derselben Lage und ebenso gesund, zufrieden und glücklich, wie er ihn das erstemal gesehen hatte. Kalkheims Freude war groß, als er Hadems Schüler in dem erwachsenen, bescheidnen, schönen jungen Mann erkannte. Und als sich der Kammerrat genug gefreuet und nach Hadem erkundigt hatte und immer froher ward, bezeigte ihm endlich Ernst seine Verwunderung, daß er sich aller Tätigkeit entzöge.

KAMMERRAT: Der Tätigkeit entzög ich mich? Lieber Herr von Falkenburg, im ganzen Fürstentum ist kein Mensch tätiger und eben darum auch glücklicher als ich. Mein Gott, sehen Sie mich doch nur an! Bin ich nicht so mager wie eine Nachtigall im Frühjahr? Sehen Sie denn das glänzende Fleisch der Trägheit an mir? Trag ich denn die Spuren der Langenweile in meinem Gesichte? oder der dummen Behaglichkeit oder der kalten, gefühllosen Gleichgültigkeit gegen das, was andern widerfährt? Sie glauben gar nicht, was ich alles zu tun habe. Ich bin der Arzt der ganzen Gegend für Menschen und Tiere. Da ich die Äcker der Bauern nicht mehr zu besorgen brauche (denn damit geht es noch immer gut), so sorge ich nun für ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Weiber, ihrer Kinder und ihres Viehes. Erschrecken [325] Sie nur nicht; denn ein so großer Arzt ich auch geworden bin, so brauche ich doch wenig Arzenei. Meine ganze Kunst besteht in gewissen Regeln der Diät; und da ich durch mein voriges Bemühen für die Zufriedenheit der Bauern gesorgt habe und weder der Kummer, die Sorge, noch das Elend meiner Kunst in die Hände arbeiten, so geht alles so herrlich, daß bisher an meiner Kunst noch keiner gestorben ist.

ERNST: Dies alles ist so vortrefflich als vernünftig. Aber sagen Sie mir doch – mein Oheim bot Ihnen ja nach unserm Besuche eine Stelle an; warum schlugen Sie die aus?

KAMMERRAT: Weil ich glücklich war und es mir schien, als ob Ihr Herr Oheim mit mir spaßte. Denn die Stelle, die er mir anbieten ließ, schien mir ein gar sonderbarer Einfall zu sein. Denken Sie nur – die Kammer wollte mich – was glauben Sie wohl! – die Kammer wollte mich in diesem Lande, unter diesem Himmelsstriche zum Vorsteher eines neu anzulegenden Seidenbaus machen. Lieber Herr von Falkenburg, in diesem ganzen Lande werden Sie keinen Strauch vom Maulbeerbaum finden. Doch dies ließe sich in Jahren wohl noch auftreiben; aber ich muß Ihnen sagen, daß ich in der Welt nichts mehr hasse als solche Künsteleien, solche unnatürliche Versetzungen, solche erzwungene Erzeugnisse. Doch auch dies täte noch nichts. Aber wozu ein Seidenbau? Unsre Bauern zugrunde zu richten? Ich weiß, daß dabei nichts herauskommt, ich weiß es so gewiß, daß ich, und wenn die Kammer mir tausend Dukaten Gehalt angeboten hätte, doch nein gesagt haben würde. Aber die Kammer hat es nie ernstlich gemeint, sie scherzte nur mit mir, und ich wunderte mich wirklich noch mehr darüber, daß sie dazu Zeit hat.

ERNST: Wie es scheint, hat die Kammer an Ihnen keinen Bewundrer, und sie machte es Ihnen darnach. Doch tut es mir jetzt leid; denn auch ich bin nun ein Mitglied dieser Kammer.

KAMMERRAT: Was Sie sagen!

ERNST: Und zwar Oberkammerrat, lieber Kalkheim.

KAMMERRAT: Wirklich? Nun, das freuet mich herzlich. Da hat doch der Fürst wieder etwas recht Vernünftiges getan, wie [326] er immer tut, wenn er aus eignem Triebe wählt und handelt. Ich wünsche Ihnen 7Glück.

ERNST: Aber bedenken Sie doch: ein junger, unerfahrner Mensch wie ich bin!

KAMMERRAT: Aber ein guter Mensch! Meinen Sie, daß ich vergessen hätte, wie Sie so jung um mich her gingen? Und Ihre Worte, und Ihre Blicke! – Ich sagte Ihnen freilich gar nichts, das ist so meine Art, denn dem Guten braucht man gar nicht zu verstehen zu geben, daß er gut ist. – Und sind Sie nicht ein Schüler Hadems? Das ist ein Mann, Herr von Falkenburg! Nicht wahr? Oh, wäre er nur hier! – Glauben Sie mir auf mein Wort, in solchen Geschäften macht ein guter Mensch selten dumme Streiche; denn eben darum, weil er gut ist, bekümmert er sich immer im voraus sorgfältig, was denen nützlich sein kann, für die er zu sorgen hat. Er dringt in alle ihre kleinen Angelegenheiten; und da er es ehrlich mit ihnen meint, so berechnet er den Gewinn nie auf den Augenblick, nie einseitig, er arbeitet für den Nutzen des Fürsten und des Landes, durch den Nutzen der Untertanen, und dann geht es. Sie können gar nicht glauben, Herr Oberkammerrat, wie einem alles gelingt, wenn man nur auf das Gute und Nützliche sieht und keine Nebenrücksichten hat.

ERNST: Sie sprechen ganz im Geiste unsers guten Fürsten. Doch – um auf das zu kommen, was mich heute eigentlich hierher führt und was ich von Ihnen zu erhalten wünsche – der Fürst schickt mich als einen Schüler zu Ihnen. Sie sollen mich durch Ihre Kenntnis in der Oberaufsicht der Grafschaft *** leiten, kurz, Sie sollen der Kammerrat dieser Grafschaft und mein Lehrer sein.

KAMMERRAT: Was? der Grafschaft ***? Und ich? ich soll sie an Ihrer Seite anbauen wie diesen Gau? Und das sagt der Fürst? das will der Fürst? Herr von Falkenburg, ich bin zu Ihren Diensten. Kommen Sie! Lassen Sie uns auf der Erde Gottes Gärtner sein und sie durch die Hände seiner Geschöpfe schmücken, solange wir darauf wandeln. Wir legen dadurch ein Fleckchen in seinem großen Garten an! Es lebe der Fürst! Er ist der erste, beste teutsche Mann seines Landes. Und gelegentlich werden [327] Sie ihm ja wohl sagen, daß Kalkheim der Narr nicht ist, für den die Kammer ihn hält.

ERNST: Das weiß er und soll es noch mehr erfahren. Morgen schicke ich Ihnen meinen Halbwagen, und Sie treten in der Stadt bei Ihrem Schüler ab.

KAMMERRAT: Gehorsamer Diener! Ich muß geschwind meinem Wirte die Neuigkeit sagen. Ach, die werden schreien! Sie glauben mich aufs Leben zu haben, und nun entwisch ich ihnen. Das wird ein Lärmen im Gau sein! Doch zum Glücke grenzen wir ja mit ihnen.

7.

Der Präsident hatte Ernstens Bestimmung schon erfahren, als dieser sie ihm anzeigte; doch stellte er sich, als hörte er etwas Neues von ihm. Auch wußte er, daß sein Neffe bei Kalkheim gewesen war.

PRÄSIDENT: So! Oberkammerrat, Neffe! Das geht geschwind! Ich gratuliere. Und der Oberkammerrat *** abgesetzt?

ERNST: Der Fürst stellt ihn nach seinem Wunsche am Hofe an.

PRÄSIDENT: So! am Hofe! Der Mann war mein Freund – er wird es ja wohl bleiben trotz der Veränderung. Sie glauben nicht, lieber Neffe, wie weh es einem tut, wenn ein Mann, mit dem man lange still und ohne Zänkerei den schweren Amtsweg gegangen ist, aus einem Departement abgeht.

ERNST: Liebster Oheim, das hieße doch auch diesen Amtsweg auf eine allzu ruhige Art wandeln wollen und setzte gar voraus, daß man sich gänzlich über diesen Weg miteinander verstände. Gleichwohl ist der Zweck nicht unser Einverständnis. Ich von meiner Seite freue mich wenigstens, daß ich bei dem Eintritt in die Geschäfte in meinem Oheim ein erfahrnes Oberhaupt vor mir finde.

PRÄSIDENT: Und zugleich Ihren ersten Blutsverwandten. Denken Sie denn, Neffe, daß mich dieses nicht auch freuet, recht sehr um meinetwillen freuet? Auch würde es mich um Ihrentwillen ebenso sehr freuen, aber nicht alle denken wie Ihr Oheim, lieber Neffe. Diese Geschäfte setzen so viele Erfahrung, so viele [328] Kenntnisse voraus! Freilich gibt sich das mit der Zeit, besonders wenn man einige Jahre bloß zuhört; aber werden die Alten nicht sagen: Ihr Neffe ist doch gar zu jung, um gleich da anzufangen, wo andre aufhören?

ERNST: Darin haben die Alten nicht unrecht; doch da es der Fürst nun einmal wollte, und auf eine Art wollte, welcher nicht zu widerstehen war, so halte ich mich an die Lehren des Kammerrats Kalkheim. Bei ihm will ich in die Schule gehen, und er ist eine so gute Quelle, daß er mich nicht Mangel leiden lassen wird.

PRÄSIDENT: So! Sind Sie etwa gestern bei ihm gewesen?

ERNST: Ja, ich habe ihn mir geworben, und der Fürst wies mich selbst an ihn.

PRÄSIDENT: So! Der Kammerrat hätte, der Rangordnung wegen, doch wohl zu Ihnen kommen können.

ERNST: Darauf sehe ich nicht; ich brauche ihn, nicht er mich. Und da mir der Fürst die Grafschaft *** übergab, wem hätte ich mich besser anvertrauen können als ihm?

PRÄSIDENT: So! Ist er wieder eingesetzt, und zwar als Kammerrat? Sonderbar, höchst sonderbar, daß der Präsident dieses alles nur so von der Seite hört! Ein Oberkammerrat abgesetzt, ein Oberkammerrat angestellt, ein abgesetzter Kammerrat von neuem eingesetzt! Das ist wahr, die Kammer wird sich wundern! Nicht darüber, lieber Neffe, daß Sie Oberkammerrat geworden sind, sondern daß es so geschah. Aber mit Ihnen geht alles einen eignen Gang, und ich wünsche Ihnen von Herzen Glück dazu.

ERNST: Ich danke Ihnen. Gleichwohl begreife ich nicht, wie sich die Kammer wundern sollte, da doch der Fürst den Oheim in dem Neffen zu ehren glaubt, wenn er den Neffen, sei es auch auf eine eigne Art, in eben dem Departement anstellt, dem der Oheim vorsteht. Natürlich konnte er auch den Gedanken dabei haben, daß der Oheim und der Neffe sich leichter und besser darüber verstehen würden, was seinem Lande, und dadurch ihm, nützlich sei. Hätte er diese Meinung nicht von meinem Oheim, so müßte er ja befürchten, daß er seine Macht in eben dieser Kammer zum Nachteil seines Landes verstärkte.

[329] PRÄSIDENT: Sehr richtig und fein bemerkt! Ja! es ließe sich so erklären; auch will ich es denen, die sich darüber wundern, so auslegen. Und was für einen Plan haben Sie bei der Verwaltung der Geschäfte? Wie werden Sie es angreifen? Alles ist jetzt durch mein Bemühen so schön im Gange – und das Neuern – lieber Neffe, hüten Sie sich ja vor dem Neueren! –

ERNST: Hier kann nie die Rede vom Neueren sein. Warum sollte man das Alte stören, wenn es gut ist! Etwas verbessern, hier oder dort nachhelfen heißt ja nur, der wohltätigen Natur zu Hülfe kommen, ihr durch Fleiß und gehörige Anwendung der Erfahrung von ihren reichen Schätzen mehr abgewinnen. Dies hat der Kammerrat Kalkheim dem ganzen Lande schon lange bewiesen.

PRÄSIDENT: So! der! Ich wünsche es von Herzen und werde dem vortrefflichen Fürsten für alles danken, was er der Familie zu Ehren getan hat, und das, sobald es ihm belieben wird, uns Ihre schriftliche Bestallung zuzusenden. Kommen Sie doch zum Abendessen; Sie werden Gäste im Saale finden. Da können Sie noch heute Bekanntschaften mit Leuten machen, mit denen Sie von nun an Verkehr genug haben werden. Sie müssen übrigens meine Äußerungen ja nicht mißdeuten! Wir im Amte grau gewordenen Leute sind so besorglich, daß wir von den jungen gar leicht mißverstanden werden. Und doch geht es den jungen Leuten gerade so, wenn sie dahin gelangen, wo wir Alten nun stehen.

Ernst fand den Ton und das Betragen seines Oheims sehr sonderbar, aber er war weit entfernt, die rechte Ursache davon zu ahnden. Seiner reinen Absichten allzu sicher, glaubte er, der Stolz seines Oheims sei nur dadurch beleidigt, daß der Fürst alles ohne sein Vorwissen getan habe. Daher glaubte er, diese Empfindlichkeit würde bald vorübergehen. Freilich hatte er einen Teil der Ursachen von dem Betragen seines Oheims erraten, aber er war weit entfernt, die Wirkung derselben zu vermuten. Der Präsident meinte, der Fürst hätte dieses auf keine Weise ohne ihn tun können und dürfen; und da er es doch gewagt, so müßte sein Neffe schuld daran sein und aus geheimen Ursachen auf [330] eine Art gebeten haben, wodurch der Fürst überrascht worden wäre. In dieser Meinung bestärkte ihn Ernst hauptsächlich dadurch, daß er sich äußerte, er würde sich dem Kammerrat anvertrauen und ihn bei der Grafschaft anstellen, die ihm übertragen sei. In diesem Augenblicke fiel dem Präsidenten die ganze Geschichte des Briefes für den Kammerrat, Ernstens Bitte für ihn und die Lobeserhebungen desselben wieder ein. Und so sah er in dem jetzigen Benehmen seines Neffen nichts als den festen Plan, die ganze Führung der Kammer in ein widriges Licht zu setzen und alles nach des Kammerrats närrischen Grillen einzurichten. Gelänge nun dieses, so sah er sein ganzes Ansehen von seinem Neffen verdunkelt, alle seine bisherigen Bemühungen als zwecklos dar gestellt; und erhielt er sich auch auf seiner Stelle als Präsident, so waren dann doch alle Hoffnungen verschwunden, sie seinem Sohne, der jetzt auf Reisen war, als Erbschaft zu hinterlassen. Von diesem Augenblick an sah er in seinem Neffen nicht nur einen gefährlichen Menschen, sondern auch einen schlechten Verwandten und glaubte sich verpflichtet, ihm auf eine Art entgegenarbeiten zu müssen, daß er keins von beiden öffentlich tätig werden möchte, sein eignes Betragen aber so einzurichten, daß er immer mit ihm in einem äußern guten Verhältnisse bliebe. Denn er merkte dem Toren wohl an, daß er den Oheim leicht seiner Schimäre und seinen vermeinten guten Absichten nachsetzen würde. Nun ging er sogleich an das Werk; er sprach zu den versammelten Gästen mit den größten Lobeserhebungen von seinem Neffen, rühmte die besondere Gnade des Fürsten für ihn, bewies sie durch die Art, wie er angestellt worden sei, und wünschte sehr, daß alles recht gut gehen – daß die alten, erfahrnen Leute die Sache nur recht nehmen und verstehen möchten. Dieses sei um so mehr nötig, da sein Neffe ein Mann von festen Grundsätzen wäre, der auf seinem Sinne beharre, der das, was er für gut halte, auf jede Gefahr behaupte und durchzusetzen suche, wobei ihm der vortreffliche Fürst, der gleich ihm das Gute wolle, gewiß mit allen Kräften beistehen werde.

Renot kam. Der Präsident zog ihn auf die Seite und sagte:

»Sie haben nur geprahlt, lieber Renot. Mein Neffe ist noch so [331] krank als er war, vielleicht noch kränker. Wissen Sie, was sein erstes Geschäft war? Nach dem närrischen Kammerrat Kalkheim zu reiten und sich einen Schulmeister in ihm zu holen. Das sagte er mir, seinem Oheim. Was meinen Sie, das der Kammer bevorsteht? Eine Reform! eine Reform! Mein Neffe ist in Frankreich gewesen; und wenn sich seine Schimäre mit der Schimäre der Physiokraten vermählt hat, so wird in unserm Lande etwas Artiges zum Vorschein kommen.«

RENOT: Einer gegen die ganze Kammer? Was Sie mir da sagen, Herr Präsident! Ein junger Mann gegen eine ganze fürstliche Kammer, und der erfahrne kluge Präsident, sein Oheim, an der Spitze dieser Kammer? Wenn ich für einen fürchtete, so wär es für ihn. Doch der junge Mann wird wohl auf den erfahrnen Oheim hören, wird bei dem ersten Fehltritt einsehen, daß es sich in dem Lande der Wirklichkeit nicht so leicht schwebt wie in dem Lande der Schimären. Es sollte mir leid um ihn tun, wenn er diese wirklich bittere Erfahrung machen müßte.

PRÄSIDENT: So bedenken Sie meine Sorge, die Sorge eines Oheims. Er ist der einzige Sohn einer geliebten Schwester. Aber sagen Sie, lieber Renot, kann ich es zugeben als Staatsmann, als Patriot, als Minister, als Bürger, daß ein junger Mensch, und sei er auch mein Neffe, sei er auch mein Sohn, die Ordnung störe, die ich mit so vieler Mühe endlich so weit gebracht habe, daß alles nach Tabellen geht? Sie sehen, ich hange auch an Schimären; aber die Schimären, denen ich nachlaufe, halten Land und Leute zusammen. Es tut mir wahrlich weh, so reden zu müssen, doch ich bin gerecht, und umso gerechter, da ich ein Mitglied meiner Familie tadle, da ich, bei Gott! alles darum geben möchte, ihn dem Staate so nützlich zu machen, als er sein könnte, wenn er sich leiten ließe. Da sehen Sie nun die Früchte von der Erziehung eines Pedanten!

RENOT: Sie werden noch sonderbarere Dinge sehen!

PRÄSIDENT: Das fürcht ich eben. – Sich so gar nicht mit klügern Leuten zu beraten, so seinen eignen Gang gehen zu wollen, als sei die Welt ein Wirtshaus, wo man eintritt, ohne sich um die Gäste zu bekümmern, die um einen her sitzen – das kann nicht [332] gut gehen. Alle Räte wundern sich schon über das Benehmen des Fürsten. – Mir macht es in allem Betracht Ehre; aber um seinetwillen wünscht ich, es wäre anders gegangen. Lieber Renot, er wird sich gewiß bald lächerlich und dann verhaßt machen. Und ich, der ich dieses alles voraussehe, muß es geschehen lassen; denn Sie glauben gar nicht, wie bestimmt er ist.

RENOT: Wenn er bestimmte Leute vor sich findet, wird er schon herunterstimmen.

PRÄSIDENT: Das eben glaube ich nicht. Höher, höher wird es ihn treiben, so hoch –

RENOT: Bis er fällt, meinen Sie doch.

PRÄSIDENT: Und das sollt ich erleben?

RENOT: Um Ihnen den Kummer zu ersparen, muß man ihn durch Mittel zu retten suchen, die seine Erfahrung schneller belehren.

PRÄSIDENT: Er wird sich jedermann zum Feinde machen.

RENOT: Kluge Feinde, Ew. Exzellenz, sind in solchen Fällen beßre Lehrer als nachgiebige Freunde. Das alles wird sich schon geben, das alles wird schon in das gewöhnliche Geleise kommen. Ich wundere mich nur über Ihre Unruhe; denn noch habe ich nicht erlebt, daß ein einzelner ein verbundnes Kollegium unter sich gebracht hätte, wenn allgemeines Interesse das Kollegium gegen den einzelnen verband. Gewöhnlich endigt der einzelne damit, daß er denkt, wie die andern wollen, oder daß er schweigt, weil er einsieht, daß er mit der Unmöglichkeit kämpft. Aber Ihrer zärtlichen Freundschaft für Ihren Neffen kommt in diesem Augenblick alles ganz anders vor; und das ist sehr natürlich.

Die Gäste waren so gut vorbereitet, daß Ernst wohl freundliche Gesichter, aber sehr empörte und unruhige Herzen antraf. So legte er in aller Unschuld des Herzens, mit den reinsten Absichten den Grund zu einer Zwietracht zwischen sich, seinem Oheim und dessen Anhang, aus welcher endlich der tätigste Haß wurde; und da er dieses nicht ahndete, so trieben seine Feinde ihr Spiel gegen ihn so lange im stillen fort, bis er, von seinem eignen Schicksal gedrängt, auf den Punkt getrieben ward, wo man alles offen, furchtlos und ohne Schonung wagen durfte.

[333] 8.

Als nun der Kammer die Bestallung übersandt worden war und Ernst nebst dem Kammerrat Kalkheim zum erstenmal der Sitzung beiwohnen sollte, fehlte der letztere. Man schickte nach ihm. Er kam; aber anstatt Platz zu nehmen, stellte er sich vor die Versammlung und erklärte, er fühle sich noch nicht würdig, neben seinen Herren Kollegen zu sitzen.

Man las ihm seine Einsetzung vor, und er sagte:

»Ich danke dem gnädigen Fürsten; auch sehe ich, daß ich vor ihm rein bin. Aber da ich es nicht vor Ihnen und dem Publikum bin, so sähe meine Einsetzung allzu sehr wie bloße Gnade aus. Wegen meines schlechten Beispiels, wegen Eingriffs in die Kasse oder wegen unerlaubter Verwendung der Kassengelder bin ich von der Kammer meines Amtes entsetzt worden, erscheine folglich als ein Mann, dem keine Kasse mehr anvertrauet werden darf. War mein Vergehen damals gegründet, so ist es noch heute gegründet, ist es niemals gegründet gewesen, so muß die Kammer mich reinigen; und dieses kann nicht anders geschehen, als daß man mein Vergehen nochmals untersucht. Zu diesem Behufe überreiche ich dem Herrn Kammerpräsidenten meine untertänige Bitte an Se. Durchlaucht, unsern Landesfürsten.«

Der Präsident sah bald den Kammerrat, bald seinen Neffen, bald die Räte während Kalkheims Rede an. Als dieser endigte, sagte er:

»Da Se. Durchlaucht den damaligen Beschluß der Kammer bestätigt haben, so ist jetzt jede weitere Vorstellung unnötig, sogar beleidigend für den Fürsten und die Kammer, weil sie einen Vorwurf angetanen Unrechts enthalten würde.«

KAMMERRAT: Das tut sie auch, wenn sich die Kammer geirrt hat, was nun zu untersuchen ist. Der Fürst wird mir den Vorwurf des Unrechts gewiß verzeihen; denn nach der Vorstellung der Kammer glaubte er recht zu tun. Doch dieses wird sich ja alles aufklären. In einem Punkt hat die Kammer sich gewiß einmal geirrt; denn sagen Sie mir doch: wie konnte die Kammer für das vorgegriffene Gehalt zweier Monate mein Haus [334] und meinen Garten verkaufen und die Sache meiner übrigen Gläubiger über sich nehmen, die gar nicht einmal erschienen, die gar nichts forderten, die die Kammer selbst aufsuchte? Wie konnte die Kammer vergessen, daß sie schuldig war, mir das für das Beste des Landes angewendete Geld zu ersetzen, wovon ich hier die gerichtlich bestätigten Rechnungen beigelegt habe?

PRÄSIDENT: Sie hatten es ohne allen Befehl getan, lieber Kammerrat; und bedenken Sie doch, wozu dieses führen würde, wenn jeder Beamte nach eignem Dünkel mit den fürstlichen Geldern verfahren wollte! Ich gestehe, daß es sehr drückend für Sie war, daß Sie es noch heute hart finden müssen; aber als ein so erfahrner und uneigennütziger Mann wissen Sie auch, daß die mit den besten Absichten unternommene Tat, wenn sie in Ansehung anderer schlimme Folgen haben kann, bestraft werden muß, sobald sie das Gesetz verletzt.

KAMMERRAT: Ew. Exzellenz haben wohl recht, aber auch ich kann recht haben; und da wir uns über diesen Punkt wohl schwerlich vereinigen können, so werde ich mein Amt nicht eher antreten, als bis ich durch einen neuen Spruch gänzlich gereinigt oder verworfen bin.

PRÄSIDENT: Der Fürst und die Kammer haben Sie dadurch freigesprochen, daß Sie wieder eingesetzt worden sind.

KAMMERRAT: Mich dünkt es nicht so. – Und dann, meine Herren, bedenken Sie doch den armen Wirt in meinem Hause und nehmen Sie nicht übel, daß ich in meiner Bitte da auf Ersatz meines Porträts, des Verschwenders, für ihn dringe. Er hat es, wie er behauptet, auf Befehl müssen machen lassen; und gewiß, es war so kostbar nicht nötig. Ich bitte demnach für ihn.

Er trat ab.

Alle schwiegen und sahen einander an.

»Was sagen Sie dazu, meine Herren?« rief endlich der Präsident ungeduldig. »So geht es immer, wenn man sich für Leute verwendet, die sich in keine bürgerliche Ordnung fügen wollen.« Er sah Ernsten bei diesen Worten an.

Man schwieg, und Ernst nahm das Wort:

[335] »Herr Präsident, mich dünkt vielmehr, daß der Kammerrat sich recht in die bürgerliche Ordnung hineinfügt. Denn nach seinem Gewissen könnte er ganz ruhig unter uns Platz nehmen; aber er achtet die Meinung anderer, wie jeder öffentliche Beamte tun muß. Auch beweist er Ihnen dadurch, wie viel ihm an der Ehre der Kammer gelegen ist. Würde es nicht selbst auf die Kammer einen Schatten werfen, wenn sie ohne weitere Untersuchung ein Mitglied wieder aufnähme, das sie wegen einer zweideutigen Handlung auszustoßen sich genötiget sah? War die Kammer damals gerecht, so muß sie bei ihrem Spruche verbleiben und den, welchen sie einmal ausstoßen mußte, selbst auf Befehl des Fürsten nicht wieder aufnehmen. War der Spruch übereilt, aus Irrtum oder Parteilichkeit gefällt, so hat die Kammer zweierlei zu beobachten: den gemachten Fehler zu verbessern und es so einzuleiten, daß der Mann befriedigt werde und die Ehre der Kammer dabei so wenig als möglich leide.«

Der Präsident ergrimmte in seinem Innern; denn von dem Augenblicke an, da Ernst zu reden anfing und er die Wendung vernahm, die dieser der Sache gab, hielt er sich für überzeugt, nur er habe den Handel mit dem Kammerrat abgeredet, um sich an ihm wegen dieses Mannes zu rächen und die Kammer bei dem Fürsten in einen übeln Ruf zu bringen. Brauch ich zu sagen, daß Ernst kein Wort von dem Vorhaben des Kammerrats wußte?

Der Präsident erhob nun laut seine Stimme:

»Herr Oberkammerrat, liegt Ihnen etwas an der Ehre der Kammer, deren Mitglied Sie sind und deren Sitzung Sie heute zum erstenmal beiwohnen, so können Sie unmöglich bei dieser Meinung verbleiben; denn ich will Ihnen klar beweisen, daß die Grille dieses Mannes, sie sei ihm nun eingeblasen oder er sei von selbst darauf verfallen, so unerträglich als beleidigend ist. Der Fürst verzeiht ihm seinen Fehler, um es gelinde zu nennen, aus Großmut, hält ihn für gestraft genug, und die Kammer selbst zeigt sich geneigt, alles Geschehene zu vergessen; würde sie sonst nicht gegen seine Einsetzung protestiert haben? Nun kommt dieser Mann aus eignem oder fremdem Triebe und will eben diese Kammer zwingen, daß sie sich vor den Augen des [336] Fürsten und des Publikums für ungerecht erkläre, damit nur er als ein ganz unschuldig Beleidigter dastehe!«

ERNST: Eben darum, weil es ihm nicht genügt, daß man ihm seinen Fehler bloß vergesse und verzeihe. Und wenn sich nun wirklich aus den Akten ergäbe, daß er unschuldig wäre? Was wird in diesem Falle die Kammer für größre Ehre halten: einzugestehen, daß sie sich in einem oder dem andern Punkte geirrt habe, oder in ihrem angetanen Unrecht zu verharren? Ich hoffe, die Kammer hält sich nicht für unfehlbar; denn ich sehe hier nur Menschen um mich sitzen, wie ich einer bin.

PRÄSIDENT: Die Kammer hält sich nicht für unfehlbar, wohl aber den Fürsten.

ERNST: Verzeihen Sie mir. So wie ich den Fürsten zu kennen die Ehre habe, wird er Ihnen für diese Meinung wenig Dank wissen, und in Angelegenheiten, wo er bloß nach Ihren Berichten urteilt, am allerwenigsten.

PRÄSIDENT: So hält sich die Ordnung des Staats, das System, wodurch er zusammengehalten wird, für unfehlbar. Herr Oberkammerrat; und in Kollisionsfällen, deren Ihnen noch genug aufstoßen werden, geht es über Vorurteile hinaus, um des Ganzen und seines Besten willen.

ERNST: Diese Worte sind mir nun nicht mehr so neu, daß ich davor erschrecken sollte. Die Kollisionsfälle erwarte ich, und die Lehre, auf die Sie jetzt deuten, habe ich in großen Staaten oft vernommen. Aber wann geschieht dieses? wann ziehen sich die Diener eines Staats hinter ein solches Bollwerk, das sie System in diesem Sinne nennen? Nur dann, wenn es dahin gekommen ist, daß sie das Licht scheuen; wenn sie alles so verwirrt und aufgelöst haben, daß sie sich nur durch schlechte Mittel zu helfen suchen, oder der schlechten so gewohnt sind, daß sie die guten, auch bei dem sichtbarsten Nutzen, verwerfen. Doch die Ursachen davon gehören nicht hierher, weil wir nicht in diesem Falle sind. Wir sind so glücklich, in keinem großen Staate zu leben, noch weniger in einem verderbten großen Staate, und haben gar nicht nötig, dem vermeinten Besten des Ganzen unschuldige Opfer zu schlachten, damit unser Spiel fortdaure [337] und sich nicht enthülle. Und aus diesem Zutrauen auf Sie, Herr Präsident, und auf diese Herren und alle Diener des Fürsten wage ich es, mich diesem Schreckenswort entgegenzustellen.

PRÄSIDENT: Ich bin zu alt zum Wagen. Doch davon ist jetzt nicht die Rede, und die Kammer ist kein Ort zum Streiten über Meinungen; auch kann hier die Meinung des einzelnen nicht bestimmen. Die Frage ist, soll die Bitte dem Fürsten vorgetragen werden? Hat der Mann da ein Recht dazu, es zu fordern?

ERNST: Hat er keins dazu, was wagt die Kammer?

PRÄSIDENT: Ich setze die Frage anders. Verstattet es das Herkommen, der Gebrauch?

ERNST: Die Frage ist durch Herkommen und Gebrauch beantwortet; und selbst das System, auf welches Sie sich stützen, erfordert, daß der wegen einer zweideutigen Tat durch einen Spruch verurteilte Beamte erst gereinigt werde, bevor er die Stelle wiedereinnimmt, aus welcher ihn der Spruch gestoßen hat.

PRÄSIDENT: Ich höre nur Sie.

ERNST: Vermutlich, weil diese Herren auch meiner Meinung sind.

Der Präsident brachte eine andere Sache vor. Nach Endigung der Sitzung bot er seinem Neffen einen Platz in seinem Wagen an und lud ihn zum Mittagessen ein. Er drang nun in ihn, den Kammerrat zu bewegen, von seiner Bitte abzustehen, und unterstützte seine Forderung mit allen den Scheingründen, die ihm hier seine Erfahrung darbot. Ernst antwortete, dies sei eine Gewissenssache des Kammerrats, in die er sich nicht mischen könne. Wolle Kalkheim abstehen, so möge er es tun; er würde ihm hierzu ebenso wenig raten, als er ihm geraten hätte, die Vorstellung der Kammer zu übergeben.

»Neffe«, sagte der Präsident, »Sie handeln nicht als Verwandter; Sie opfern einem Grillenfänger das Ansehn Ihres Oheims auf.«

ERNST: Ihr Vorwurf würde mich rühren und beschämen, wenn ich nicht eben jetzt die größte Achtung für Ihr Ansehen bewiese, freilich nach meiner Denkungsart. Erklärte ich mich weiter, so wäre es Vermessenheit, und ich könnte mir nur dadurch einen gerechtern Vorwurf von Ihnen zuziehen.

[338] PRÄSIDENT: Grillen! – Lassen Sie Kalkheim da, wo er ist. Ich will ihn anderwärts entschädigen, und wir schlagen die unangenehme Sache nieder.

ERNST: Sie vergessen, daß der Fürst mich an ihn wies, daß er ihn wieder eingesetzt hat.

PRÄSIDENT: Dem Fürsten wird die Sache vorzutragen sein. Überlassen Sie das mir und schweigen Sie nur von Kalkheim. Ich weiß, wie man es macht, daß der Fürst ein Ding vergißt.

ERNST: Oheim!

PRÄSIDENT: Nun, Neffe?

ERNST: Ich bin nicht Ihres Systems und werde es nie sein.

PRÄSIDENT: Immer jung in der Welt! – Desto schlimmer für Sie!

ERNST: Lieber das Schlimmere für mich.

PRÄSIDENT: Es wird nicht ausbleiben. – Sie wollen Krieg, junger Mann. Freilich, Sie sind stark, mutig, das Herz schlägt hoch, der Geist ist stolz; wir sind alt, zaghaft, niedergebeugt von der schweren Arbeit – wir bleiben nur bei dem Alten, weil wir bisher gut dabei gefahren sind – Also Krieg! Warum nicht, wenn es sein muß?

ERNST: So weit verkennen Sie mich, Oheim? Ich Krieg mit Ihnen? und so führen Sie mich in die Welt ein? So abschreckend deuten Sie mir auf die kaum betretne Laufbahn?

PRÄSIDENT: Fahren Sie nur so fort, Neffe, und ich sage Ihnen als ein Mann, der die Welt kennt: Sie werden auf dieser Bahn, die Sie so stürmend betreten, nicht weit kommen, sie noch weit vom Ziele verlassen müssen. Ihr Lohn wird Haß und Undank sein. Sie werden sich und die Menschen, für die Sie arbeiten zu wollen vorgeben, auch um das wenige Gute bringen, das die Menschen uns zu tun erlauben.

ERNST: Es ist traurig und niederschlagend, was Sie mir sagen, und doch für mich nicht abschreckend. Geschieht dieses, so werde ich mich damit trösten, daß es nicht meine Schuld ist. Diejenigen mögen die Schuld über sich nehmen, die uns zu solchen Erfahrungen zwingen.

PRÄSIDENT: Oh, sie tragen leicht daran.

[339] ERNST: Dieses weiß ich leider, so jung ich bin, und beneide sie nicht darum.

PRÄSIDENT: Ich sagte Ihnen das, weil ich mehr an Ihr Bestes denke als Sie selbst. Sie wollen Kalkheim nicht bereden?

ERNST: Bereden!

PRÄSIDENT: Das Wort ist teutsch, Neffe – warum nicht? Es sei denn, daß der Tor Ihnen lieber ist als Ihr Oheim, der Bruder Ihrer seligen Mutter. – Sie schweigen? – Gut, ich werde dem Fürsten die Vorstellung übergeben; denn mir liegt ja mehr an meines Neffen Freundschaft, an seiner guten Meinung als ihm, wie es scheint, an der meinigen.

ERNST faßte gerührt seine Hand: Liebster Oheim, hören Sie jetzt auf, Präsident der Kammer zu sein – vergessen Sie, daß wir verschieden denken; sein Sie mein Oheim, ich bitte Sie. Erinnern Sie sich, daß Ihr Neffe unter Ihrer Leitung, Ihrer Aufsicht in das bürgerliche Leben eintritt. Machen Sie ihm seinen Weg nicht allzu düster. Bedenken Sie, welchen Gefahren Sie den von den besten Wünschen ganz erfüllten Unkundigen aussetzen! Was für Eindruck Ihre Worte auf ihn machen müssen!

PRÄSIDENT: Davon sehe ich nichts; es wird sich ja schon alles geben. Jetzt geht es nach Ihrem Willen. Kommen Sie. Nun führt der Oheim den Neffen zurück, und der ungeschmeidige Präsident bleibt in diesem Kabinett. Lassen Sie den Oberkammerrat nur auch hier.

Er sagte dieses so freundlich, daß Ernst ihm die Hand drückte und ihm mit Zuversicht in die Augen sah. Sein Blick war so frei und unbefangen, daß er selbst den Groll des Oheims auf einen Augenblick besänftigte.

An der Tafel ging es so, als wäre nichts vorgefallen. Ernst verfiel in Nachsinnen über das, was er heute gehört und erfahren hatte; die anscheinende Gleichgültigkeit, das freundliche, zuvorkommende Wesen seines Oheims unterhielten dieses Nachsinnen. Die Frage kam ihm immer wieder: »Ist es wirklich die Frucht der Geschäfte, daß der Geist und das Herz des Menschen so eng, sein Blick so einseitig wird?« – Er konnte sich diese Frage nur damit beantworten: »Ach, es kommt daher, daß der Mensch bei [340] den Geschäften nicht sich selbst vergessen kann, daß er nur sich zum Zweck hat, und den Zweck des aufgetragenen Geschäfts nur insoweit befördert, als er sich mit dem seinigen verträgt. Will dieses nicht gehen, so opfert er das Fremde dem Seinigen auf. Und in der Mitte solcher Menschen stehst du nun und hast ihnen den Kampf schon angeboten!«

Er konnte nicht mehr heiter werden, und seine ernste, tiefsinnige Miene mißfiel den Anwesenden nicht weniger als seine Tätigkeit am Morgen. Sie legten ihm diese als Herrschsucht, auf Eitelkeit gegründete Ruhmsucht aus und jene als Verachtung, besonders da sie sich alle Mühe gegeben hatten, auf ihre Art munter und witzig zu sein. Eine solche Vernachlässigung verzeihen trockne, kalte Geschäftsleute denen am allerwenigsten, die im Rufe stehen, als besäßen sie Geist, Welt, Verstand und sogenannte feine Kenntnisse.

Ernst überließ ihnen das Feld und ward nicht vergessen.

Der Präsident unterhielt sich später allein mit Renot. Dieser spottete seiner Ängstlichkeit und sagte:

»Es geht ja alles erwünscht mit Ihrem Neffen. Er wird sich in kurzem einen erstaunlich großen Namen machen, viel Aufmerksamkeit erregen; und Sie wissen ja, was dieses nach sich zieht. Auch wissen Sie, wie ein großer Mann unmerklich wieder so klein wird, daß man am Ende gar nicht begreifen kann, wie und wodurch er groß gewesen ist. Ich habe schon manchen so im Echo verhallen hören wie die letzten Seufzer eines verlaßnen Verliebten. Es ist wirklich schade um den Herrn von Falkenburg! Man muß ihn aber einmal seinen gewählten Gang gehen lassen. Die Hindernisse finden sich von selbst; denn Geister dieser Art erschaffen sie, ohne daß andere Leute sich Mühe dabei geben. So viel ist gewiß, daß unser vortrefflicher Fürst nicht aufhört, von unserm jungen Oberkammerrat zu reden. Er ist stolz auf ihn und versichert laut, ihm sei noch kein teutscher junger Edelmann wie dieser da vorgekommen. Und tritt Ihr Neffe im Kreise des Hofes auf, Herr Präsident, so sollte man nach der Wirkung auf den Fürsten glauben, es träte ein Wesen höherer Art in die Gesellschaft. Und, bei Gott! Herr Präsident, Ihr Neffe hat so [341] etwas nur ihm Eignes in seinen Blicken, seinem Betragen, als erschiene wirklich ein Ding aus der Geisterwelt unter uns gemeinen Menschen. Man vergißt zu lachen über die Bewunderung des Fremden und Ungewöhnlichen.«

PRÄSIDENT: Sie haben ganz recht, daß Sie sich des Lachens enthalten, Herr Renot, und ich würde es nicht ertragen, weder von Ihnen noch von andern. Ich kann mich wohl über meinen Neffen ärgern; aber geachtet will ich ihn wissen. Doch dafür wird er selbst schon sorgen. Was ich tue, was ich wünsche, zielt nur auf sein eignes Bestes.

RENOT: Nun so wünsche ich, daß Sie Ihren Zweck erreichen mögen.

Als der Kammerrat Kalkheim Ernsten erblickte, rief er ihm zu:

»Nun, Herr Oberkammerrat? hab ich es nicht gut gemacht?«

ERNST: Das Rechte ist immer gut getan. Aber wie kommen Sie so schnell dazu?

KAMMERRAT: Das Ding kam mir gerade aus dem Herzen in den Kopf, und da dachte ich, lieber wollte ich zu meinen Freunden auf dem Lande zurückkehren als schweigen. Ich bin ein guter Narr, wie die Kammer sagt; aber wenn mir so etwas und auf diese Art einfällt, so laß ich ihm freien Lauf. Und hören Sie, Ihnen bleibe ich auf jeden Fall, die Kammer mag beschließen was sie will; und wenn es Ihnen gefällt, so gehe ich schon morgen hinaus und setze mich dort fest. Die Leute kennen mich alle, und wenn ich gar sage, daß ich von Ihnen komme, so wird der Freude kein Ende sein, denn der Schulze, bei dem Sie mich als Junker besuchten, hat schon damals einen so großen Lärmen von Ihnen gemacht – Sie sind doch nicht böse?

ERNST: Worüber könnte ich es sein?

KAMMERRAT: Wegen der Kammer da – wegen meiner Vorstellung. Gewiß, ich konnte nicht anders, und es betrifft mich ja nicht allein.

ERNST: Und wen betrifft es denn noch?

KAMMERRAT: Den armen zugrunde gerichteten Wirt in der Schenke zum Verschwender. Sehen Sie, wenn mir die Kammer [342] mein Haus zurückgibt, so muß sie die Summe dafür zurückzahlen, und das Ende seines Elends ist da.

ERNST: Vortrefflich! Ich dachte wohl, daß Sie noch einen besondern Beweggrund hätten. Ach, lieber Kalkheim, auch dieser Grund würde an den harten Ohren jener Herren vorüberrauschen.

KAMMERRAT: Wenn Sie ihn nur hören und die nur tun müssen, was rechtens ist. Und mein prächtiges Porträt, das müssen sie dem Wirte gewiß bezahlen.

9.

An dem Abend eben dieses Tages sollte Ernst durch die reinste und schönste Empfindung seines Herzens der harten Prüfung entgegengezogen werden, die das Schicksal ihm bestimmt hatte. Er konnte nicht ahnden, daß es den schönsten Rosenweg des menschlichen Lebens, auf dem die Natur uns zu ihrem schönsten Zwecke hinführt, dazu wählen würde. Ich kann nicht umhin anzudeuten, was ich vielleicht jetzt noch verbergen sollte. Das noch ferne, düstre Geschick des edeln Mannes, welches sich von nun an aus allem, was er beginnt, entwickelt, schwebt unter einem Trauerflore so nahe vor meinem Geiste, daß ich selbst bei den glücklichen Augenblicken, die ich nun beschreiben sollte, die tiefe melancholische Rührung nicht verbergen kann. Und schwiege ich auch davon – würde sie nicht sichtbar sein? würde ich dem Leser nicht als ein Mann vorkommen, welcher einen der Jugend zum frohen Tanze bestimmten Saal mit schwarzem Boie ausschlüge und unter rauschende Musik stille Trauerchöre mischte? Ich will mich fassen, so viel ich kann.

Ernst war von dem Minister *** zum Konzert eingeladen. Die blühende Jugend der Stadt hatte sich da versammelt, um die Alten durch ihre in der Musik gemachten Fortschritte in den Frühling des Lebens zurückzurufen. Amalie, die Tochter des Ministers, hatte nun den schönsten Grad ihrer Blüte erreicht, und vergebens würde ich es wagen, ihre Schönheit zu beschreiben; denn ihre Schönheit hatte sich mit dem erhabenen Ausdruck [343] des Geistes und der innern Anmut so vermählt, daß die Seele zwar diese Harmonie wahrnehmen und in ein Bild vereinigen kann, aber vergebens sich bemühet, sie durch sinnliche Zeichen und zerstückelte Züge zu schildern. Das, womit die Natur sie so liebkosend überschüttet hatte, erhielt durch die erworbenen Talente, und besonders durch die Musik, einen solchen unwiderstehlichen Reiz, daß ihr Anblick selbst diejenigen begeisterte, die nur für das bloß Sichtbare Sinn zu haben schienen.

Als sie aus dem Kreise ihrer Gespielinnen hervortrat und sich dem Klaviere näherte, erblickte sie Ernst. Er erkannte sie. Ihr Bild ruhete in seiner Seele, ihm unbewußt; nun enthüllte es sich. In diesem Augenblick erwachte die ganze damalige Szene in seinem Geiste; er erinnerte sich alles, der Worte Hadems über die Romane und seines eignen Gefühls, so lebendig, als habe die Zeit bis hierher stille gestanden. Er sah sich um und suchte Hadem, suchte ihn, als forderte er ihn auf, mit ihm zu bewundern, als einen Geist, an den er sich um Hülfe drängte. Amalie ging langsam an ihm vorüber, und sein Herz lispelte dem Geiste Hadems zu: »So würde meine Göttin einhergehen, wenn sie auf Erden in menschlicher Gestalt erschiene.« Und als sie die Saiten berührte und ihre Stimme sich mit den Tönen des Klaviers in muntern, dann sanft klagenden und erhabenen Gefühlen vermischte, malte sich das Bild seiner Jugend und seines ganzen Lebens, Denkens und Fühlens, wie von einer mächtigen, kühnen Zauberhand aus Farben einer hohen Welt geschaffen, vor seiner Seele. Und als sie aufstand und der Vater ihn seiner Tochter, mit Entschuldigungen darüber, daß er es nicht eher getan habe, vorstellte, zog die Liebe ihren Schleier, aus Morgenröte gewebt, leise über das Gemälde, das vor Ernstens Seele schwebte. Soll ich Liebe nennen, was Ernst nun fühlte? Bezeichnet dieses Wort das, was sein ganzes Dasein so plötzlich emporhob, als löste sich alles Sterbliche und Irdische von ihm? Er trat an der Hand des vor ihm stehenden Wesens in das Land des Unsterblichen, und, gleich dem Gebete des Opfernden, das über die irdische Flamme emporsteigt, erhob sich seine erste Empfindung über den Altar, den die Liebe sich jetzt in seinem Herzen erbauete. Gedanken [344] entsprangen, als lispelten ihm Geister zu: »Es ist das Wesen, das dich durch dieses Leben leiten und deinen Pfad mit Rosen bestreuen soll. Ihr Geist scheint aus dem Lande entsprungen zu sein, aus welchem du herabgestiegen bist!«

Auch Amalie hatte das Vergangene nicht vergessen. Sie erkundigte sich nach seinem Jugendfreunde, nach Hadem, wiederholte den Sinn von dessen Strafpredigt über die Romane und setzte lächelnd hinzu: »Sie sehen, ich habe, so jung ich auch war, nicht vergessen, wie Ihr Freund Ihre Worte erklärt hat; und von jenem Augenblick an warf ich die Romane weg. So verdanke ich es Ihnen und Ihrem Freunde, daß ich die Musik noch lieber gewonnen, daß ich in ihr Ersatz für alles andre gefunden habe.«

ERNST: Wie hätte auch Ihnen verborgen bleiben können, daß die Musik unsern Geist auf reineren Schwingen trägt, daß sie unser Herz in einer gleichen stillen Harmonie erhält, daß wir durch sie empfinden, woher wir stammen! Als Sie sangen, stand ich über den Grenzen dieses Lebens, und, von Ihren Tönen geleitet, würd ich kaum seine Last empfinden.

Amaliens Blick sank gerade vor sich hin wie damals, als Ernst jene Worte sprach; die zarteste Empfindung bildete sich in süßem Lächeln um ihren Mund.

»Man hat mir viel, oft artig, geschmeichelt, aber so wie Sie tat es noch keiner. Man sagt nicht umsonst von Ihnen, Sie wären nicht von unsrer Welt.«

ERNST: Sagt man dies von mir, Fräulein? Und was denken Sie davon?

AMALIE mit noch süßerem Lächeln: Ich glaube es beinahe selbst.

ERNST feierlich ernsthaft und mit dem seelenvollsten Ausdruck: Freilich gehöre ich, dem innern Sinne nach, einer Welt zu, in welcher Sie gewiß kein Fremdling sind. Wenigstens haben Sie mich in ihre Mitte eingeführt, und so teilen Sie den Spott mit mir.

Eine rauschende Symphonie unterbrach das Gespräch, und Amalie mischte sich unter ihre Gespielinnen.

Ernst betrat zum erstenmal sein einsames Zimmer in den süßen, seligen Träumen der Liebe, und so ruhig, so heiter in diesen [345] Träumen, als hätte seine Seele endlich das gefunden, wornach sie so sehnend strebte. Als er nun auf sein Hauptkissen sank und Amaliens Gestalt vor ihm schwebte, ihre Stimme in seinem Herzen erklang und er alles Empfundne unter dem harmonischen Lispeln in der stillen Nacht noch reiner, noch höher wiederempfand, entschlief er auf den leichten ätherischen Schwingen, auf welchen die Liebe ihre Geweihten trägt. Er erwachte leicht, mutig, voll Vertrauen, und die ganze Schöpfung schien ihm in einen rosenfarbenen Duft gehüllt. Er ging an seine Geschäfte, betrieb sie mit eben dem Eifer wie sonst und besuchte abends das Haus des Ministers. Je mehr er Amalien kennenlernte, je mehr ihr Geist und ihr Herz sich vor ihm entfalteten, desto ruhiger, glücklicher und vertrauter ward er.

Amalie hörte und sah ihn gern, erwartete ihn mit Verlangen und zeigte es ihm; aber noch wagte er es nicht zu sagen, was ihn so glücklich, so ruhig machte. Ihn dünkte, er würde dieses Glück, diesen stillen, unaussprechlich süßen Genuß in Gefahr setzen, wenn er laut davon spräche. In Amaliens Herzen erzeugte sich ein Gefühl für ihn, das sie von diesem Augenblick an nie verließ, das immer dasselbe blieb; und dieses war eine Art von Hochachtung, von Verehrung, die nahe an jene kalte Bewundrung grenzte, welche wir für Wesen fühlen, die wir uns nicht durch das Herz und die Sinne zueignen können. Seine Gesinnungen, seine Zurückhaltung, sein äußerst zartes und oft feierliches Betragen mußten diese Bewunderung erzeugen und unterhalten, da alle seine Sinnlichkeit unter dem Rosendufte schlummerte, in welchen ihn sein Schutzgeist eingehüllt zu haben schien. Noch lange, vielleicht für immer, würde dieses Verhältnis zwischen Amalien und ihm fortgedauert haben, wenn sein Oheim es nicht erschüttert hätte.

10.

Der Fürst hatte zugunsten des Kammerrats entschieden. Seine Sache mußte von neuem untersucht werden. Sie ward es; und nun fühlten der Präsident und die Räte der Kammer, daß man ihr unmöglich eine andere Farbe geben konnte als sie wirklich [346] hatte, besonders nach der Erklärung des Fürsten: die Kammer muß entweder Kalkheim lossprechen oder das Recht seiner Verurteilung dartun; in jedem Falle aber muß sie ihm die Auslage ersetzen und sein Haus ihm zurückgeben.

Der Präsident diktierte ein Reinigungsdekret, das der Kammer ganz wohlgefiel, welches aber der Kammerrat wegen der Zweideutigkeit verwarf. Es blieb also nichts übrig, als alles nach seinem Sinne zu machen. Kalkheim wohnte hierauf einer Sitzung bei, nach welcher ihn Ernst in der Grafschaft *** förmlich einführte. Dieser fuhr mit ihm nach allen Burgen und Dörfern, und überall wurden sie als Freunde aufgenommen. Ernst sah Menschen um sich, deren Bewillkommen, deren Blicke, deren Zutrauen ihn versicherten, daß sie des Glückes gewiß wären, welches er ihnen darbrächte. Er hielt den Mann an seiner Hand, durch dessen Hülfe er es zu bewirken hoffte; und zufriedner als dieser lebte nicht ein Mann auf dem teutschen Boden. Er sah Arbeit vor sich, und sein wohltätiger Geist erblickte schon das ganze Land in neuem Schmucke.

Der Präsident konnte Ernsten das Geschehene nicht verzeihen, aber noch hielt er an sich; denn das, was der Fürst selbst ihm über seinen Neffen sagte, machte ihn behutsam. Und da er sich trotz dem Geschehenen gleichwohl in seinem Neffen geschmeichelt fühlte und dessen Gunst bei dem Fürsten ihm für sich und seine Familie nützlich sein konnte, so wollte er noch eine Probe mit dem Starrkopfe machen. Ernstens öftere Besuche bei dem Minister waren ihm, wegen Amaliens und der daraus möglichen nähern Verbindung mit diesem, das Allerunausstehlichste. Er beneidete, er haßte den Minister und glaubte sich tief gekränkt und zu allem Hasse gegen ihn berechtigt, weil er eine Stufe unter einem Manne stehen mußte, der kein Eingeborner des Landes, von minder altem Adel und beinahe arm war. Es war ihm unbegreiflich, was der Fürst an einem solchen Manne fände, und seine immer dauernde Gunst bei dem Fürsten blieb ihm ein quälendes, unauflösliches Rätsel. Er wollte weder wissen noch glauben, daß dieser Mann durch seinen Verstand, seine Mäßigung, seine Kenntnisse des teutschen Reichs und durch die Achtung, [347] in welcher er an den großen und kleinen Höfen stand, seinen Fürsten vor allem dem Unangenehmen zu sichern wußte, dem kleine Fürsten dieses Reichs so oft ausgesetzt sind. In gutem, vertraulichem Einverständnisse mit diesem Manne hatte sich der Fürst aus vielen verdrießlichen Lagen glücklich herausgewunden. Der Präsident, dessen Politik und Denken sich nicht weiter erstreckten als auf seine Kammer und das, was das Land einträgt, sah in dem Minister nichts als einen politischen Marktschreier, der die Kunst verstände, den Fürsten mit seinem Gaukelspiele hinzuhalten und zu täuschen, um auf des Landes Kosten prächtig zu leben und dem Staate seine Kinder als eine Last zur Erbschaft zurückzulassen. Aber trotz dieser Meinung fürchtete er den Minister, und der Gedanke, sein Neffe möchte sich mit ihm verbinden, um seine schimärischen Entwürfe der Neuerung, die er ihm zuschrieb, durchzusetzen, brachte ihn aus aller Fassung. Seine Furcht, sein Unwille raubten ihm alle Ruhe; und da er diese Lage nicht länger mehr ertragen konnte, so ergriff er eines Tages plötzlich die Hand seines Neffen und führte ihn in sein Kabinett.

»Neffe«, sagte er schmeichelnd; »so wenig Dank ich mir auch bei Ihnen durch alle meine Bemühungen bisher erwerben konnte, so rechne ich doch jetzt darauf. – Nein, nein! Sie müssen mich erst ausreden lassen. Es ist natürlich, daß ein junger Mann wie Sie, so gebildet, so sonderbarer Art und so reich und so in der Gunst unsers vortrefflichen Fürsten, in allen alten Familien, wo eine Tochter zu verheiraten ist, eine große Gärung verursachen muß. Nach Ihrer Denkungsart müssen Sie doch einmal heiraten; so denkt jeder, so denke auch ich. Vielleicht denkt auch manches arme Haus so und wirft listig sein Netz nach Ihnen aus, um den reichen, schönen, seltnen Mann zu fangen. Ich muß aus Pflicht Sie vor diesen Schlingen warnen, Neffe; und damit Sie ihnen um so leichter entgehen können, bin ich berechtigt, Ihnen die einzige Tochter des ältesten Hauses nächst dem unsrigen anzutragen. Sie ist zugleich die reichste Erbin, wenn der Vater stirbt, und liebt Sie bis zur Schwärmerei.«

ERNST: Erbin? Und wenn der Vater stirbt –

[348] PRÄSIDENT: Sie kennen sie doch?

ERNST: Ich kenne sie nicht.

PRÄSIDENT: Nun, es ist die Tochter des Mannes, dessen Stelle Sie haben.

ERNST: Es tut mir leid, daß ich hierzu schweigen muß.

PRÄSIDENT: Haben Sie etwas gegen die Person?

ERNST: Was sollte ich gegen eine Person haben, die ich nicht kenne?

PRÄSIDENT: So werden Sie dieselbe nicht kennenlernen?

ERNST: In einer solchen Rücksicht gewiß nicht.

PRÄSIDENT: Ich sage Ihnen ja: es ist nicht allein das älteste, es ist zugleich das reichste Haus im Lande und die einzige Erbin eines Vaters, der nicht lange mehr leben kann.

ERNST: Oheim!

PRÄSIDENT: Was nun wieder? Wird sie es nicht werden? Zweifeln Sie daran?

ERNST: Ich hoffe, die Tochter denkt nicht an die Erbschaft.

PRÄSIDENT: Und wenn sie es täte! Auch sie wird Erben hinterlassen, die daran denken werden.

ERNST: Das kann sein; und denkt sie daran, so verdient sie es.

PRÄSIDENT: Was soll ich dem Vater antworten?

ERNST: Daß Sie mir nichts gesagt haben.

PRÄSIDENT: Wie? Ich tue es ja!

ERNST: Und um des Mannes zu schonen, weil es ihn beleidigen könnte, sagen Sie ihm nur, ich hätte Ihnen im voraus vertrauet, meine Wahl sei längst getroffen; und diese müßte es sein oder keine.

PRÄSIDENT: Neffe! Was Sie mir da sagen – sollte es wirklich Ernst damit sein?

ERNST: Sollte ich vergessen können, mit wem ich spreche?

PRÄSIDENT: Und dieses so geheim, Neffe? Ohne mit mir zu Rate zu gehen? in einer so wichtigen Sache auf das Leben?

ERNST: Ich habe einen Vater, lieber Oheim; der muß doch wohl der erste sein.

PRÄSIDENT: Allerdings! Und weiß es mein Schwager schon?

[349] ERNST: Nein.

PRÄSIDENT: Und der Vater der Gewählten?

ERNST: Ebenso wenig.

PRÄSIDENT: Und die Person?

ERNST: Noch weniger.

PRÄSIDENT: Das ist doch sonderbar! so sonderbar wie alles mit Ihnen! Indes, da ist ja noch nichts geschehen.

ERNST: Nichts geschehen? Es ist sehr viel geschehen. – Und nun seh ich, es ist hohe Zeit, daß ich das Schweigen breche. Ich tat es nicht, weil mich dieses Schweigen so glücklich machte; aber damit ich mich nicht mehr in den Fall setze, zu einem Ihrer Anträge nein sagen zu müssen, so will ich es morgen tun.

PRÄSIDENT: Auf einmal so eilig? – Und die Person, die den seltnen, sonderbaren Mann gefangen hat?

ERNST: Oheim!

PRÄSIDENT: Warum so feierlich, Neffe? Wir sprechen ja nicht von Staatssachen, über die wir so selten einig sind, wir sprechen ja nur vom Heiraten.

ERNST: Und doch ist mir diese Sache ebenso feierlich. Jene betreffen mein Gewissen, diese mein Herz, und die Feierlichkeit ist, denke ich, bei jeder an ihrer Stelle.

PRÄSIDENT: Sie werden die Person vor lauter Feierlichkeit doch nennen können?

ERNST: Nicht eher, Oheim, als bis ich weiß, ob ihr mein Antrag nicht mißfällt.

PRÄSIDENT: Er wird ja nicht!

ERNST: So sind Sie der erste, der mir mein Glück weissagt.

PRÄSIDENT: Neffe, dieses hätte Ihnen Ihr Verstand längst weissagen können. Väter, die ihre Kinder nur solange zu ernähren imstande sind, als sie selbst von dem Staate über ihr Verdienst ernährt werden, greifen gerne zu; und Töchter, die, in Pracht und Üppigkeit auferzogen, künftige Armut im Prospekt vor sich sehen, sagen selten nein, wenn ein Mann sich anbietet, durch den man das jetzige Leben fortzusetzen hofft. Sie sehen doch, daß ich Ihrem Herzen auf der Spur bin? Eine Sirene hat Sie mit ihren Zaubertönen gefangen, Neffe – habe ich [350] recht? – Nun, wohin? Hab ich es getroffen? Ich denke doch, daß der Oheim zu dem Besten seines Neffen reden darf? daß der Neffe sich wird gefallen lassen, ihn anzuhören?

ERNST: Wenn ich gehe, so tue ich es nur, um den Neffen nicht vergessen zu lassen, daß er vor seinem Oheim steht; denn dieses könnte leicht durch die Art geschehen, wie der Oheim jetzt zu meinem Besten spricht.

PRÄSIDENT: So vergessen Sie es denn! Sie taten es längst. Entsagen Sie allem Gefühle der Verwandtschaft und tun Sie, was Sie vorhaben. Sie wollen die Tochter des Ministers heiraten, des Mannes, den ich hasse, der mein Feind ist, dessen Feind ich bin; das wollen Sie. Können Sie es leugnen? Können Sie leugnen, daß die Sirene Sie mit ihrer Zauberkehle gefangen hat? Ich sehe alles durch, alle Ihre Absichten und die Absichten gewisser Leute, aber ich sehe auch die Zukunft. – Nehmen Sie die Person, feierlicher Neffe; bei Gott! sie wird Ihrem Herzen Feierlichkeiten von ganz anderer Art bereiten.

ERNST: Kann Ihr Haß Sie so verblenden, Oheim! Und wenn ich Sie nun fragte: worauf gründet sich Ihre fürchterliche Weissagung?

PRÄSIDENT: Ich weiß es nicht; bei Gott! ich weiß es nicht. Wenn es nicht dieses schöne Weib selbst ist, das mich zum Wahrsager macht – wenn es nicht der sonderbare Mann ist, der hier vor mir steht. Neffe, ich habe die Fabellehre nicht ganz vergessen: keiner glaubte der Weissagung Kassandras, bis Troja in Flammen stand.

Der Unwille, die Leidenschaften hatten des Oheims Blicke wild gemacht. Ernst stand, betäubt durch das Unerwartete, vor ihm, und es wurde einen Augenblick finster vor seinen Sinnen, aber plötzlich entstieg der Finsternis das Bild Amaliens – sein Herz verklärte es; er erinnerte sich an den Haß seines Oheims, an dessen gewöhnliche leidenschaftliche Äußerungen und sah sein Betragen als eine Wendung an, die sein Groll und sein Mißvergnügen einer ihm so widrigen Sache gaben.

Er antwortete nun mit Entschlossenheit:

»Oheim, schon in der frühsten Jugend haben Sie meinem Herzen [351] die erste Wunde geschlagen, und ich fühle ihre Folgen noch. Sie raubten mir den edelsten Mann. Ich ertrug es; und als ich entdeckte, wie Sie mir ihn geraubt haben, wie Sie dabei zu Werke gegangen sind, machte ich Ihnen keine Vorwürfe darüber. Ich entschuldigte Sie, indem ich Ihnen gute Absichten dabei zutraute. Als ich unter Ihrem Vorsitze mein Amt antrat, waren Sie der erste, der von mir forderte, mehr als einmal von mir forderte, daß ich mein Gewissen unter den Götzen beugen sollte, den Sie System nennen. Ich tat es nicht und werde es nie tun.

Und nun sind Sie noch nicht zufrieden, diese Versuche an mir gemacht zu haben; Sie wagen einen auf eine Art an mir, die wirklich meine Geduld und Achtung auf die schwerste Probe stellt. Und warum? Warum zerreißen Sie mein Herz? Warum wollen Sie einen Menschen leiten, den Sie von Anfang an verkannten, den Sie immer verkennen werden? in welchem Sie nichts achten, was er in sich allein für achtungswürdig hält? Vergeben Sie mir, wenn ich einen Augenblick aus den Schranken trete, in denen ich mich bisher gehalten habe. Es ist gut, es ist nötig, daß wir einander verstehen. Ich werde nie sein, wie Sie mich haben wollen; und so empfindlich, so schmerzend mir auch der Verlust Ihrer Gewogenheit ist, so kann ich sie doch auf keinem andern Wege suchen als auf dem, welchen ich eingeschlagen habe. Nicht Sie, nicht die Welt, nicht das Schicksal können mich von der Bahn ableiten, auf die mich etwas geführt hat, das stärker ist als die Menschen und das Schicksal. Und nur von der Person, die ich meine und die Sie in Ihrem Unwillen gelästert haben, nur von ihr erwarte ich ein sichres Glück, da jedes andere, wie ich täglich mehr einsehe, von so vielen Gefahren bedrohet ist. Sie haben mir jetzt Mut gemacht; es ist Zeit, daß ich mich dieses Glückes versichre, bevor die Stürme nahen. Denn sagen Sie mir, was kann Ihr Neffe Gutes von andern hoffen, da er von Ihnen so verkannt wird, da Sie seine schönsten Aussichten so verfinstern, seine besten Empfindungen so schonungslos zertreten?«

PRÄSIDENT: Ich wünsche dem Neffen Glück; der Oheim hat seine Pflicht getan. Beim Erwachen wird man sich meiner erinnern. Jetzt fehlt weiter nichts, als daß Sie mit meinen Feinden [352] ein Bündnis gegen mich schließen. Doch ich bin darauf gefaßt und habe den Verteidigungskrieg schon von langen Zeiten her gelernt.

In diesen letzten Worten vernahm Ernst den ganzen Grund von der düstern Weissagung seines Oheims. Er entfloh schnell und eilte zu seinem Vater, den er aber nicht antraf. Er durchwandelte den lachenden Schauplatz seiner Kindheit, und sein Herz besänftigte sich. Er ging nach der Höhle und saß nachsinnend vor dem Kranze seines Bundes. Gehüllt in den Morgentraum seiner Jugend, trat Amalie herein, und der Glanz des Gesichts erfüllte die düstre Höhle; der Kranz schimmerte in dem Lichte einer andern Welt. An ihrer Hand malte sich der Begeisterte die Tage seines Lebens aus, und in allem, was sie umgab, was sie tat und sagte, in ihren Bewegungen, ihren Blicken, ihrem Gesange lag, was sein reines Herz hier träumte. Jeder Zweifel, jeder aufsteigende Gedanke, der dieses erhabne Bild in ein andres Licht zu setzen drohte, schien ihm eine Lästerung der Natur in ihrem schönsten Werke. Und wer sah, wer hörte Amalien, ohne daß sich ihm dieses Gefühl aufdrang!

Ernst trat voll Begeisterung, voll Liebe und Zutrauen an das Licht des Tages.

Sein Vater hörte seine Wahl mit Freuden; und als er vernahm, daß Ernst sich noch nicht erklärt hatte, daß er es ohne Einwilligung des Vaters auch nicht wagen wollte, versprach er, den folgenden Tag zu dem Minister zu fahren. Er tat es, und der Minister gestand Ernstens Vater, daß dieses sein einziger Gedanke und Wunsch gewesen wäre, seitdem er seinen Sohn kennte. An der Einwilligung seiner Tochter zweifle er nicht; dafür stehe ihm der Wert des Mannes, der um sie anhielte.

Hierauf sprach er von seiner Lage: daß seine Tochter von ihm nichts zu erwarten hätte und daß ihre Bildung die einzige Aussteuer wäre, die er ihr mitgeben könnte.

[353] 11.

Amalie schien über Ernstens plötzlichen Antrag durch ihren Vater verlegen und verwirrt; sie sagte einigemale: »Das ist doch sonderbar! höchst sonderbar!«

MINISTER: Und wodurch, Amalie?

AMALIE: Daß er sich an Sie wendete – so gerade – ohne vorher mein Herz zu fragen, ohne mir auch nur durch ein Wort die Wirkung, die ich auf sein Herz gemacht habe, anzudeuten.

MINISTER: Sieh, so fremd scheint uns die Handlungsart edler Männer! Es wundert dich, daß dieser deinen Vater und dich in deinem Vater ehrt. Amalie, von dir hätte ich diese Bemerkung am wenigsten erwartet.

AMALIE: Vielleicht kommt dieses daher, lieber Vater, daß wir einander in diesem Punkte alle gleichen.

MINISTER: Du bist nun durch deinen Vater unterrichtet, und es hängt ganz von dir ab, seine Erklärung anzunehmen oder ihm jede andere zu ersparen. Liebst du ihn nicht, so ersparst du dem edlen Manne den Beweis von deinen eignen Lippen, er habe sich in dir geirrt und selbst seine seltne Tugend, die Erhabenheit seiner Seele seien in den Augen meiner Tochter nichts.

AMALIE: Oh, er ist viel, sehr viel in Ihrer Tochter Augen, mehr als sie je zu hoffen wagte! Und doch mein Vater – sagen Sie mir, was glauben Sie wohl, das diesem schön gebildeten, so geistreichen, der Vollkommenheit so nahen Manne in den Augen Ihrer Tochter fehlt?

MINISTER: Soll ich es dir sagen? Die Eitelkeit, der Wahn unsrer Jünglinge, Amalie; die Schwatzhaftigkeit, von dem zu reden, was sie zu fühlen glauben und eben darum nicht fühlen. Ihr wollt nur Leidenschaft, wollt, daß die Leidenschaft für euch in euren Anbetern die Vernunft, alle Tätigkeit im Leben und alle Würde des Mannes verschlinge; daß für den, der euch einmal gesagt hat, er liebe euch, nichts auf der Welt mehr Wert habe. Dies ist die Frucht eurer Romane! Aber hast du nichts von dem Erwachen aus diesem unnatürlichen, schwächlichen Zustande, der Krankheit unsrer Zeit, gehört?

[354] AMALIE: Sie wissen, daß ich keine Romane lese.

MINISTER: Weil du vielleicht die deinigen auf dem Klavier, der Laute und der Harfe in Musik setzest.

Amalie errötete. Der Minister fuhr fort:

»Der Mann, von dem ich rede, ist von so hohem Sinne, daß alle deine Reize, alle deine Talente, alles Anlockende, womit die Natur dich so überreichlich beschenkt hat, für ihn keinen Wert hätten, wenn er nicht glaubte, du seist von eben solchem Sinne, auch du könntest ihn um das lieben, warum er dich liebt.«

AMALIE: Und was ist das?

MINISTER: Was seinem Herzen dieser Schleier äußrer Schönheit nur andeutet: Tugend, reiner jungfräulicher Sinn und Mitgefühl für das, was er über alles achtet. Er liebt dich, wie er eben diese Tugend liebt, mit reiner Begeisterung; er hofft, wie sein Vater sagt, du werdest ihm Rosen auf den dornichten Weg des Lebens streuen und ihn dem Ziele entgegenführen, das er so scharf und männlich in das Auge gefaßt hat. Nun erwäge! Für diesen Mann bedarf es keiner Bitten und keiner Überredung; er selbst besteht seinen Wert. Ich kann dir sogar verzeihen, wenn du ihn ausschlägst, weil der Gedanke mir empörend ist, daß er durch dich nicht glücklich werden könnte.

AMALIE: Ist Ihre Tochter so plötzlich und so sehr in Ihrer Meinung gefallen?

MINISTER: Das sage ich noch nicht, werde es auch vielleicht später nicht sagen; aber, Amalie, ich bin kein Fremdling in deinem Herzen und kenne dein Geschlecht. Ich las Verwirrung in deinen Blicken und – soll ich es sagen? – ich erwartete auf deinen Wangen nur die Rosen der jungfräulichen schüchternen Freude, die wir aus Gefälligkeit Scham nennen, weil sie ihr so ähnlich sieht, weil die Liebe sich so gern unter diesem Schleier verbirgt. Aber dein Mund erklärte die Ursache der Verwirrung.

AMALIE: Wie, mein Vater!

MINISTER: War nicht deine Eitelkeit beleidigt, daß er ganz in dem Sinne handelte, in welchem er dich betrachtet? Du wolltest, daß er dich auf dem Wege der Romane suchen sollte; und dies ist nicht der seinige.

[355] AMALIE: Warum deuten Sie es so? Konnte nicht das Erstaunen, das Unvermutete diese Verwirrung erzeugen? Wenn ich nun gar nicht hoffte, daß dieser edle, seltne Mann je in dieser Rücksicht an Ihre Tochter denken könnte! Wenn mir nun meine Bescheidenheit diesen Vorwurf von Ihnen zugezogen hätte! Was konnte, was sollte mich veranlassen, da Liebe zu vermuten, wo ich nur Achtung, feierliche, sonderbare Bewunderung wahrnahm? Und nur dieses fühl ich auch in seiner Gegenwart – eine Verehrung wie für ein Wesen höherer, besserer Art; und ich glaube beinahe, eben dieses heißt in dem Sinne lieben, wie er geliebt sein will. Das Band, das ihn an mich zu fesseln scheint, mein Vater, ist, aus so geistigem Stoffe es auch gewebt sein mag, doch meinen Sinnen sichtbar, so weiblich Sie dieselben sich immer denken mögen. Er ist der edelste Mann, den Ihre Tochter je gesehen hat.

Der Minister umarmte seine Tochter:

»Ich höre meine Amalie wieder, erkenne sie – erkenne die feine Künstlerin, die durch zarte Wendungen so gern überrascht. Darf ich ihm das schöne Geheimnis vertrauen?«

AMALIE: Ich habe es längst getan, aber dieser Mann hat so wenig Eitelkeit, ist so wenig mit sich selbst beschäftiget, daß er diese leise Sprache eines Mädchens, für die unsre Junker so scharfe Ohren haben, weder vernimmt noch versteht. Sie mögen es ihm sagen, wenn Sie nicht glauben, daß es mir besser gelingen würde, es ihm vernehmlich zuzuflistern.

MINISTER: So gescheh es heute.

Es geschah. Ernst fühlte die Hand des Wesens seines Jugendtraums in der seinigen und hoffte nun, an dessen Seite alle Gefahren des Lebens zu besiegen, die ihn auf der einmal betretnen Bahn überfallen möchten.

12.

Um die schönsten Tage seines Lebens zu verherrlichen, erhielt er um eben diese Zeit einen Brief von Hadem, mit einer kleinen Zuschrift von Franklin, welcher ihm meldete, er habe den jungen teutschen Mann auch in Amerika nicht vergessen, seinen Auftrag erfüllt und sende ihm hiermit einen Beweis davon.

[356] Hadem an Ernst

Daß ich Ihnen, lieber Ernst, noch so schreibe, als wäre seit unsrer Trennung keine Zeit verflossen, dazu berechtigt mich Glücklichen der Geist Ihres Briefes, der Glaube, das feste Vertrauen auf diesen Geist. Nach der Durchlesung Ihres Briefes und Ihrer Beilagen fürchte ich nichts mehr für Sie. Der mutig bestandne Kampf des Jünglings läßt mich auf die Siege des Mannes hoffen. Ich wußte, wem ich Sie anvertraute; ich wußte, wen ich ihm anvertraute! Gesegnet sei die Asche des Mannes, dem ich Sie in jener Bedrängnis übergeben konnte! Gesegnet sei der Augenblick, daß er mir, dem so sehr Bekümmerten, damals erschien und mir zulispelte: »Übergib mir den Liebling deines Herzens; ich will ihn dir erhalten, wie du mir ihn übergibst.« Sie haben ihn verstanden, ihn richtig verstanden, Ihr rein gestimmter Geist mußte seine Sprache bei dem ersten Laute verstehen, das erwartete ich. Er schloß Ihnen ganz den Tempel der Natur, der Menschheit und der Wahrheit auf, zwar plötzlicher, als ich es zu tun willens war (denn ich wollte Sie von Stufe zu Stufe ihm zuführen und Ihrem zarten Geiste nur langsam das merkbar machen, was ihn dem Auge der Menschen verbirgt), aber die unerwarteten Ereignisse, die nur ein Jüngling wie Sie veranlassen und so veranlassen konnte, zerrissen meinen Plan. Es ist wahr, sie haben durch einen starken Schlag auf Sie gewirkt; aber eben dadurch, daß sie dieses taten und das noch weit Entfernte so plötzlich und grell Ihrem Geiste aufdrangen, gaben sie Ihnen auch Gelegenheit zu dem schönen, dem mutigen Kampfe. Und, Geliebter, die Deutung, die Sie nun meinen letzten Worten geben, ist so schön, daß ich jetzt mit Ruhe, mit Wohlgefallen auf die Begebenheit sehen kann, die sie veranlaßt hat. Doch das, was Sie von meiner Seite ein Opfer nennen, verdient nur durch das, was ich dabei litt, diese Benennung; denn ich durfte, ich konnte nicht anders handeln. Konnte ich Sie in diesem Alter, mit diesen über Ihr Alter weit erhabenen Gesinnungen dem Schlage aussetzen, womit man Ihr Herz bedrohte? Wär ich dann der Mann gewesen, der sein Glück, den schönsten Wert seines [357] Daseins in Ihnen blühen und reifen sah? Sollte eine rauhe Hand dies alles erschüttern, vielleicht zerstören? Entschied nicht hier die Notwendigkeit, und gebot sie nicht gewaltig? Ja, es war ein erschrecklicher Augenblick für mich; ich sah voraus, daß durch meine Entfernung und die Veranlassung dazu das schöne Ideal Ihres Sinnes Gefahr lief, entweder verdunkelt zu werden oder daß Sie seine Grenzen überschreiten würden. Das erste fürchtete ich weniger, da ich mich allein dem Unwillen Ihres Oheims aussetzte und durch meine Abreise Schonung für Sie erwarten konnte. Um so mehr fürchtete ich das letzte; und aus dieser Furcht entsprangen die Worte, die Ihnen so vielen Kummer verursacht haben. Möchten Sie nie in den Fall kommen, sich ihrer erinnern zu müssen; aber wenn Sie mit dem Geiste, der Sie belebt, unter den Menschen tätig sein wollen, so bewaffnen Sie sich mit Mut, Geduld und Stärke. Erwägen Sie das, was die Menschen ertragen können! Erwägen Sie, daß diese, von Stolz, Eitelkeit und andern niedrigen Leidenschaften angetrieben, unsern Handlungen selten reinere Bewegungsgründe zuschreiben! Vergessen Sie nie, daß der Geist, der Sie beseelt, den groben Sinnen des Haufens nicht faßlich ist, daß die Menschen von Gott und der von ihm ausgehenden Tugend am meisten reden, weil sie beide in ihrer erhabenen Reinheit am allerwenigsten denken und ahnden; und dann, daß den Tugendhaften wie den wahren seltnen Dichter, die einander beide in einem so edlen Sinne gleichen, hier gewöhnlich ein und dasselbe Schicksal erwartet.

Mag jede Ihrer Handlungen ganz und rein aus Ihrem Herzen, wie Ihre Göttin aus Jupiters Haupte, entspringen; aber bedenken Sie vor der Ausführung, daß eine gute, für den Zweck ersprießliche Handlung in dem Verhältnisse mit den Menschen, zu deren Bestem sie geschehen soll, freilich das Schönste, aber auch das Schwerste ist, was der Mensch bewirken kann. Eine zu rasch, zu schonungslos betriebene Tat bringt uns leicht um die vielen Früchte, die uns die Zukunft noch aufspart. Wir leben nicht mehr in den Zeiten großer, kühner Taten, wo ein Tag, eine Stunde über den großen Wert des Lebens entscheiden kann, wo wir in einem Tage den Kranz des Ruhms erwerben. Wir müssen ihn nun [358] unbemerkt, aus stillen, prunk- und geräuschlosen Taten bilden und ihn im Innern unsers Herzens der Tugend weihen, um durch unsern Schmuck das Auge der Menschen nicht zu reizen. Und lieben Sie nicht die stille Tugend? Werden Sie sich über unser Los beklagen? Besonders, Geliebter, hüten Sie sich vor den Folgen des Mißlingens guter Absichten auf Ihr Herz! Dieses ist der gefährlichste Felsen, der unter den Fluten des Lebens verborgen liegt; nicht selten scheitert der Edle an ihm. Aber hat Ihnen Ihr Führer, dem ich Sie übergab, dieses nicht alles schöner und stärker gesagt?

Für Ferdinand fürchtete ich immer; und nun stört er meine Ruhe, mich überfällt eine unbeschreibliche Angst, wenn ich lebhaft an ihn denke. Sein Verstand ist der Sklav seiner Sinne, und sein Herz ist zu leicht für den Sturm der kühnen Leidenschaften, die in seinen Adern toben, das fühl ich; und was wird aus ihm werden?

Jetzt, Geliebter, einiges von mir. Aus öffentlichen Nachrichten werden Sie wissen, daß der kleine Überrest des Regiments, bei dem ich angestellt war, in Gefangenschaft geriet. Ich wurde mit fortgeführt, ohne den Sterbenden den letzten Dienst leisten zu können. Was für Elend, was für Jammer habe ich erlebt und angesehen! Und liegt nicht schon alles in dem Gedanken begriffen: die Teutschen wurden für Geld nach Amerika verkauft? Ihre Verkäufer hätten sie sehen sollen, verschmachtend, den Blick nach ihrem Vaterlande, ihren Eltern, Weibern, Kindern, dann zum Himmel, dann auf die fremde Erde richtend, die sich ihnen zum Grabe öffnete! – Ich ward von den Gefangenen getrennt, eine Kolonie Teutscher an den Grenzen der Wilden bemächtigte sich meiner. Seit Jahren hatten sich diese Leute, weil ihnen ein Prediger fehlte, nicht zum Gottesdienste versammeln können. Sie trugen mir dies feierliche Geschäft auf, und es ward mir leicht, ihr Zutrauen, ihre Liebe in dieser Wildnis zu erlangen. Eilig baueten sie mir ein Haus und richteten es so bequem ein als es ihre Lage erlaubte. Ich lebte dem Berufe, den sie mir gaben, mit völliger Ergebung. Als aber der Friede geschlossen war und ich zu Ihnen zurückkehren wollte, nahm die [359] Liebe die Gestalt eines sehr verzeihlichen Eigennutzes an. Sie wollten mich nicht entlassen; und da sie mein Recht nicht bestreiten konnten, so forderten sie Ersatz für den Aufwand, den sie um meinetwillen gemacht hatten. Sie wußten, daß er von meiner Seite unmöglich war. Als ich ihnen nun ihr Unrecht und ihre Undankbarkeit sanft verwies, erkannten sie alles; aber sie hoben ihre Hände zum Himmel empor und riefen: »Er wird uns das Unrecht verzeihen, das wir an Ihnen tun. Er weiß, warum wir es tun! Er hat Sie zu uns gesandt, und Sie selbst werden zu ihm für uns beten, daß er uns verzeihe, was wir an Ihnen Böses tun.«

So bin ich nun gefesselt durch Pflicht und Gewissen. Ich schrieb an den edlen Franklin, und er nahm es auf sich, der Kolonie einen Prediger aus Teutschland zu verschreiben. Sobald dieser kommt, eile ich in Ihre Arme; und dann sollen Sie den Greis in den Tempel führen, an dem Sie bauen.

[360]

Viertes Buch
1.

Ernstens Jahre des Glücks und der Ruhe flogen schnell und mit guten Taten bezeichnet vorüber; aber das allgewaltige Schicksal schien ihn nur darum in einen so sanften Schlummer versenkt zu haben, um ihn schrecklicher daraus zu erwecken, um ihn beim Erwachen zu zermalmen. Warum muß ich die Feder wieder aufnehmen! ich, der Zeuge des an ihm ausgeübten Frevels! ich, dessen Herz bei dem Anblick der an ihm begangnen Ungerechtigkeit so unaussprechlich litt! Und doch muß ich dem Zuge folgen und das nun einmal übernommene Geschäft vollenden, so qualvoll es auch jetzt für mich wird. Die Ungerechten sollen wenigstens sehen, wen sie in diesem Manne verfolgt haben; und das Mitgefühl der Edlen wird mein Lohn sein. Fasse dich, mein empörter Geist, und wende dich von dem zerstörenden Gedanken weg, nur das, was du zu berichten hast, habe der Rechtschaffene von den Menschen zu erwarten!

Der Kammerrat hatte schon die Grafschaft *** zum Garten umgeschaffen, und Ernst ging neben dem treuen Pflanzer Gottes in dem blühenden Bezirke, den verschönerten reinlichen Dörfern, wo nun Zufriedenheit und einfaches Wohlleben herrschten. Hier wandelte er an der Seite des Kammerrats mit höherem Herzen als Alexander an der Seite seines Lieblings in den Ebenen des von ihm eroberten Asiens. Seine Trophäen waren blühende Bäume, reiche Kornfelder, grünende Wiesen, Striche, die einst das Wasser ertränkte, zu Wiesen durch Fleiß gewonnen. Und beide Freunde belebte die Hoffnung, das Glück, welches sie hier gestiftet hatten, noch weiter um sich her zu verpflanzen. Ernst hatte mit Genehmigung des Fürsten in diesem Bezirk eine neue Ordnung der Steuern und Abgaben zur Probe eingeführt, und diese Probe war so gut ausgefallen, daß er beweisen konnte, seinen beabsichtigten Zweck erreicht zu haben. Durch diese neue Ordnung fiel alles Drückende von dem Landmann ab, und der in den ersten Jahren von dem Adel und den Gutsbesitzern erlittene [361] kleine Verlust ersetzte sich in den folgenden vollkommen. Außerdem hatte sie das vorzüglich Gute an sich, daß sie allem Zwist, allem Hader, allen Klagen über Gewalt und allen heimlichen Eingriffen ein Ende machte. Ernst konnte dartun, daß alle Landleute ihre Abgaben richtig bezahlt hatten, daß keiner verarmt war und daß der Ertrag des Landes um ein Drittel mehr ausmachte als sonst. Dieses legte er seinem Schwiegervater, dem Minister, vor und teilte ihm sein Vorhaben mit, diesen seinen Plan mit Genehmigung des Fürsten dem versammelten geheimen Staatsrate für das ganze Land vorzuschlagen. Der Fürst, der von allem unterrichtet war und mit eignen Augen den guten Erfolg gesehen hatte, forderte Ernsten selbst dazu auf. Er war so entzückt darüber, daß er an seiner Tafel, in seinem Kreise mit Fremden und Einheimischen von nichts sprach als von der Hoffnung, bald sein ganzes Land so blühend und wohlhabend zu sehen als Ernst und Kalkheim den gesegneten Strich gemacht hätten. »Und dann«, setzte er hinzu, »werde ich erst recht fühlen, wie glücklich ich bin, Fürst eines kleinen Landes zu sein; denn nur hier fruchtet die Arbeit guter Menschen, nur hier sind Mittel und Hindernisse gleich sichtbar.«

Doch dieser Plan drohete nicht allein der Gewalt und dem Eigennutze verschiedner Landeskollegien; er griff zu gleicher Zeit auch den Stolz des Adels und der Gutsbesitzer an, denen die alte Ordnung schmeichelte, weil ihre Vorfahren dieselbe entworfen hatten. Sie sahen in der gelinden Abhängigkeit des Landmanns von ihnen, da diese doch allein den Fleiß und die Erfindungskraft desselben beseelt, indem sie ihn von den äußern, drückenden Zeichen der Herrschaft befreiet, nur die Auflösung ihres Ansehens und ihrer Eigenmacht. Es war ihnen nicht genug, daß der Landmann, und sie durch diesen, reicher würden; sie wollten auch, daß er immer in der knechtischen Furcht vor seinen gestrengen Herren verbleiben sollte. Sie wollten nicht dessen Wohltäter, Freunde und Ruhestifter, sondern dessen Herrscher und drohende Richter sein. In den freien, vertraulichen, heitern Gesichtern der Landleute dieses sich auszeichnenden Bezirkes sahen sie Hohn und Aufruhr; in ihren reichen Feldern, ihren[362] schön gebaueten Dörfern, ihrer anständigen bessern Kleidung Reiz zur Üppigkeit, Verschwendung und Eitelkeit, und ihr Spruch war: der Bauer muß immer fühlen, daß er nur Bauer ist.

Natürlich stimmte die Kammer in diesen Ton mit ein, und Ernst wurde bald als ein Feind des Adels und der alten guten Ordnung angesehen. Seine Ruhe, seine Zufriedenheit, seine Sorglosigkeit bei ihren hämischen Äußerungen entzündeten den Haß und Unwillen des Adels noch mehr, und es bildete sich, ohne Verabredung und mit Verabredung, eine geheime Verschwörung gegen ihn, die nur auf Gelegenheit lauerte, den gefährlichen Widersacher zu stürzen. Indes stellte man ihn allenthalben als einen Mann dar, der, stolz auf die Gunst des Fürsten, seinem Dünkel und seiner eingebildeten Weisheit alle zu unterwerfen strebt, der durch die Zerstörung alles Alten sich einen glänzenden Namen machen will und seinen herrschsüchtigen Geist unter dem sanften Schimmer gleisnerischer Tugend zu verbergen sucht.

Ernst ahndete das nicht. Er sah und fühlte wohl, daß den meisten das nicht gefiel, was er tat; doch hoffte er noch immer, der gute Erfolg würde jeden nach und nach von seinen reinen Absichten überzeugen. Bei seinem Plane rechnete er um so mehr auf das Gelingen, da der Vorteil eines jeden so sichtbar war. Aber als er ihn in dem geheimen Rate vorbrachte und sein Oheim heftiger als je auffuhr, als die meisten Anwesenden auf das Recht ihres Adels pochten und geradezu erklärten, der Fürst könne Privilegien nicht antasten, die von ihren Ureltern auf sie vererbt wären, die sie als des Reiches Ritterstand von alten Zeiten her genössen, und als sie ihn als den Schöpfer dieses Plans geradezu angriffen, da erkannte er, wie sehr er sich geirrt hatte, da sah er ein, daß die Menschen noch eher wirklichem Vorteil entsagen als dem eingebildeten des Stolzes und des Wahns. Diese sich ihm jetzt aufdrängende Meinung verbarg ihm auch noch in diesem Augenblick, daß der Haß gegen ihn vorzüglich die Haupttriebfeder seiner Gegner war. Aber sein Oheim öffnete ihm bald die Augen; denn er sagte ihm geradezu: »Neffe, meine Prophezeiung geht nun in Erfüllung. Sie sind nun endlich geworden, [363] was Sie so lange und so eifrig zu werden gesucht haben: der Gegenstand des Hasses aller Vernünftigen; und wenn dieses Ihren Stolz befriedigen, wenn Ihre Schimäre Sie dafür trösten kann, so haben Sie wirklich die höchste Stufe des so sehnlich gesuchten Glückes erreicht.«

Ernst antwortete:

»Es sei! Auf dem Wege, auf welchem ich es erreicht habe, werde ich gleichwohl verbleiben, und eben darum kann ich von der errungenen Höhe niemals fallen. Noch wohnt Ruhe in meinem Herzen; auch war ich auf das, was Sie mir nun ankündigen, nicht so unvorbereitet. Ich rechnete auf Undank, Unbilligkeit und Ungerechtigkeit, doch nicht auf Haß, wenigstens nicht von Ihrer Seite; und, Oheim, am wenigsten auf den Wahnsinn, der sich diesen Morgen bei einer Sache offenbarte, wobei die am meisten gewannen, die am heftigsten dagegen schrien.«

PRÄSIDENT: Dieses kommt alles daher, lieber Neffe, daß Sie nur dem Namen nach ein Edelmann sind; sonst würden Sie mit dem Kleinode, in welchem unsre Ehre und durch sie unser Dasein besteht, nicht so verwegen spielen. Ja, lächeln Sie nur. Aber vergessen Sie nicht, daß wir für dieses Kleinod alles zu wagen fähig sind, was Sie allenfalls um Ihrer Schimäre willen wagen könnten. Ich schenke Ihnen alle Weisheit, die Sie mir jetzt vortragen möchten – wozu? Mir soll der Neffe immer willkommen sein, aber nie der Staatsmann; denn als Staatsmänner sind wir Feinde, in offnem Kriege. Ich weiß wohl, daß Sie dieses nicht abschrecken wird; der Mut wächst Leuten Ihrer Art beim Widerstande. Dem Sieger bleibt am Ende doch das Feld. Wir wollen nun sehen, was der von Ihren Träumen verblendete Fürst weiter unternimmt; für jetzt scheint er Ihren Plan schon auf bessere Zeiten auszusetzen. Wir danken ihm für den Aufschub und wissen, woher es ihm kommt. Wie wohl hätten Sie getan, lieber Neffe, wenn Sie ein wenig mehr auf den klugen Renot gehorcht hätten als auf Ihren Pedanten! Freilich, solchen Leuten und Leuten, wie die sind, mit denen Sie zu Rate saßen, die keinen Fußbreit Lands besitzen und als von geborgtem Glanze übertünchte Bettler nichts zu verlieren haben – denen mag ein solcher Plan [364] ganz wohlgefallen. Sie verstehen hoffentlich, wen ich meine; und sollten Sie nicht, so fragen Sie mich nur!

Ernst erglühte. Zum erstenmal schwellte heftiger Unwille sein Herz, zum erstenmal faltete sich seine Stirn in Grimm, zum erstenmal verzog sich sein Mund, um den sonst nur Weisheit und Güte so sanft sich zeigten. Er sagte nach langem Kampfe:

»Lieben konnt ich Sie nie, Oheim; es war nicht meine Schuld. Von diesem Augenblick an kann ich Sie nicht mehr achten; und auch dieses ist nicht meine Schuld. Sein Sie mein Feind, das Sie schon lange mehr als Mensch denn als Staatsmann sind; als Staatsmann könnten Sie es ja nicht sein, wenn Sie nicht Mensch in dem Sinne wären, in welchem Sie sich mir immer zeigten. Da ich dies aber am wenigsten fürchte und eigentlich nichts mehr fürchte als ebenso tief zu sinken, so steh ich ganz offen und ohne allen Schutz da – das Ziel Ihres Hasses und des Hasses aller derer, die mich wie Sie verkennen. Ich habe viel von Ihnen ertragen, aber die Lästerung des edlen Hadem und des Mannes, bei dessen Bezeichnung Sie sich nur erniedrigten, konnt ich nicht ertragen, denn in diesen lästerten Sie Tugenden, für die Sie keinen Sinn haben.«

Er ging. Sein Oheim wütete, und in seiner Wut rief er: »Er hat Galle, er hat es gezeigt; und davon läßt sich etwas erwarten.«

2.

Nur als Ernst seinen einzigen Sohn sah und dieser ihm freudig entgegensprang, besänftigte sich der Unwille in seiner Brust. Es war die erste Empörung, die erste starke widrige Empfindung, welche Menschen in ihm erzeugt hatten. Er schauderte selbst vor der Wirkung der Erschütterung, er drückte seinen Liebling an das Herz und küßte die unschuldigen Augen, deren Blick die Finsternis erhellte, die jetzt seinen Geist umringte. Der kleine Franz schmiegte sich an ihn, und er hob ihn gegen den Himmel: »Du hast ihn mir gegeben! Und jene! ich bin ja noch, was ich vor einer Stunde war!«

Sein Blick fiel auf Amaliens Zimmer.

[365]

Sie kam, weil sie seine Worte vernommen hatte. Er bat sie um Musik, und während sie spielte, hielt er den Knaben auf dem Schoße. Der Knabe lauschte auf die Stimme seiner Mutter, auf die Blicke seines Vaters; und als nun ihr Gesang in das Besänftigende, das Feierliche überging und ihre Saiten wie das Gelispel der Geister ertönten und der Knabe bei dem hohen Gesange ihn starr, bei dem sanften wieder freundlich anblickte, da malten sich seine Jugendträume wieder lebend vor seinen Augen, und der erhabene Gedanke, der diese Träume erzeugt hatte, sauste durch seinen Geist. Er fühlte, sein Glück sei außer der Gewalt der Menschen, solange ihm dieser Gedanke, dieses Weib und dieser Knabe blieben. Amalie hatte seine Bewegungen bemerkt; sie nahte sich ihm nun, und er teilte ihr mit, was er empfand. Aber da sie bald nachher auf dem Klavier zu phantasieren anfing und ihre Klagetöne die Dolmetscher ihrer geheimen Schwermut wurden, die er solange bemerkt hatte, und ihre Blicke aufwärts flogen, als suche ihr Geist in der Ferne die Erfüllung ihrer Wünsche, da drangen leise Tränen in seine Augen, und er küßte den Knaben, um sie zu verbergen. Er fühlte sich von seiner Seite glücklich, aber zwischen ihm und Amalien hatte sich seit ihrer Verbindung ein seltsames Verhältnis entsponnen. Er zeigte ihr die zärtlichste Liebe, das grenzenloseste Vertrauen, und sein Tun, sein Betragen, seine Worte bewiesen ihr, daß er sie mit aller Kraft seiner hohen Seele liebte, daß er sich durch sie so glücklich fühlte als es nur ein Sterblicher werden kann. Sie fühlte dieses; sie sah, wie sie ihn durch ihren Geist, durch ihre Musik bezauberte, sie empfand, wie der Knabe sein ganzes Dasein mit dem ihrigen aufs innigste verbunden hatte, und immer blieb sie in ihrer ernsten Feierlichkeit, in ihrem sonderbaren, unnatürlich scheinenden Schwunge des Geistes. Immer sich gleich, bezeugte sie ihm für alles, was er tat und sagte, jene Achtung, jene Bewunderung, die nur Personen von dem zartesten Herzen, dem ausgebildetsten, edelsten Geiste zu empfinden und auszudrücken fähig sind. Er sprach in sanftem Entzücken von seiner Liebe und seinem Glücke; sie von dem Werte der Tugenden ihres Gemahls, aber nie überließ sie sich einer völligen Ergießung des Herzens, [366] nie einer innigen Zärtlichkeit, immer schien eine Scheidewand zwischen ihm und ihr zu stehen. Es genügte ihm lange; denn da er diese reine Stimmung am meisten achtete, auf sie vorzüglich sein Glück bauete und Amalien hauptsächlich um dieses hohen Sinnes willen gewählt hatte, so glaubte er, es müsse so sein und sein Glück sei um so sichrer. Aber da er sie seit einiger Zeit oft einsam und in Gedanken verloren überraschte und ihre Musik, ihr Gesang, womit sie ihn sonst emporhob und aufheiterte, immer klagender wurden, in ihren Blicken sich etwas bisher von ihm unbemerktes Düstere, Sehnende zeigte und sie seine Fragen nur mit Lächeln beantwortete und er mit der zärtlichsten Hingebung, der herzlichsten Aufforderung keine andere Antwort erhalten konnte als höchstens: »Kann ein Mann wie Sie an dem Glücke seiner Gattin zweifeln? Wer sollte sich dann auf Erden trauen!« – und sie sich in weiter nichts einließ und immer in dieser Stimmung verharrte, so vermutete er geheimen Kummer, schrieb sich die Ursache zu und spannte alle seine Aufmerksamkeit an, ihr zu gefallen. Sie bemerkte es und gab ihm die rührendsten Beweise davon, daß sie es bemerkte. Seine Zärtlichkeit überraschte sie oft; und wenn sie dieselbe nicht mit der Wärme erwiderte, wie sie aus seinen Blicken sprach, so sagte sie:

»Ich bin zu ernsthaft, ich muß die Musik lassen, sie zieht mich mit unwiderstehlicher Gewalt von dieser Erde nach dem Lande, von welchem Sie mir so oft gesprochen haben. Wirklich, ich muß die Musik lassen, sie spannt meine Phantasie über ihr Vermögen, sie macht mich zu weich, zu schwärmerisch. Ich glaube, es geht mir wie den Dichtern, von denen man sagt, sie vermißten immer etwas, sie möchten sein, wo sie wollten. Denn sie sehen, sagt man, alles mit den Augen ihres Geistes an, der sich mehr im Schaffen, im Hervorbringen als in dem Genießen gefällt, der das Geschaffene, um nie müßig zu sein, wenigstens mit den Farben seiner Träume schmückt.«

Ernst lächelte bei dieser Äußerung.

AMALIE: Lächeln Sie nicht! Ich glaube wirklich, daß ich ohne Musik viel glücklicher wäre; ich würde mehr bei mir und viel beschränkter sein, und Franz würde mir dann nicht so oft sagen:

[367] »Du liebst mich nicht, Mutter, du spielst nicht mit mir, du spielst nur mit dem Klavier. Und doch liebt dich das Klavier nicht, wie ich dich liebe.«

ERNST: Und doch küßt er mit mir die Hände, die diese Saiten so süß beleben, und den Mund, dessen Töne seinen Vater mit sanften Schwingen in jenes Land tragen, aus dem seine Mutter, mit dieser Harmonie begabt, herabstieg. Sie vergaßen oder wollten vergessen, daß es der Dichter allein ist, dessen Geist Welten und Schöpfungen sieht, die wir ohne ihn nur dunkel ahnden würden, daß er uns durch seine Schöpfungen von andern Welten ein Glück darbeut, welches uns diese hier nie gewähren kann. Dank sei diesen Lieblingen der Gottheit gesagt, auf denen der Geist der Schöpfung so sichtbar und wirksam ruht, in denen sich die Schöpfung so faßlich und hinreißend für andere abspiegelt! Sie erwecken durch ihre schaffende Kraft, durch die hohe Darstellung ihres innern Sinnes den schlafenden Funken in unsrer Brust und beweisen uns durch seine Entzündung unsre Abstammung aus jenem Lande und unsre Wiederkehr dahin. Ohne sie würde sich der Mensch nie über das Irdische erhoben haben. Und dieses sind Sie mir! Dieses ist mir meine Sängerin! Und Sie wären dadurch nicht glücklich? Sie wären glücklicher ohne die Kraft, dieses auf uns wirken zu können? Fragen Sie nur unsern Franz. Wie oft schleicht er zu mir und sagt mir leise ins Ohr: »Kommen Sie geschwind, Papa! die Mama spielt ohne Noten!« Ahndet der Knabe nicht, daß nun die Dichterin ihre Schöpfungskraft gebraucht?

So schien sich immer ein Rätsel in dem Augenblick aufzulösen, in welchem es sich noch mehr verwickelte.

3.

Trotz dem allen hätte Ernst ohne die Ereignisse, die jetzt so plötzlich unsern Weltteil erschütterten, durch seine Geduld, seine Gefälligkeit, seine Sanftmut dennoch den Neid und die Bosheit der Menschen besiegt, vielleicht gar selbst seinen heißesten Wunsch, seinem Vaterlande einen so wesentlichen Dienst zu [368] leisten, durchgesetzt. Aber die wunderbaren, großen und schrecklichen Begebenheiten, die nun in einem so kurzen Zeitraume sich aufeinander drängten und die alles zu enthalten schienen, was die Menschen in einer Reihe von Jahrtausenden Großes und Ungeheures mögen getan haben, sollte auch über Ernstens Schicksal wie über das Schicksal so vieler tausend Unschuldiger entscheiden.

Der unglückliche Zeitpunkt war gekommen, wo die ruhigen, friedlichen, treuen Bürger Teutschlands, welche die Wörter »Aufruhr« und »Empörung« nur als eine Schreckenssage aus vergangenen Zeiten kannten, plötzlich in Parteien zerfielen, wo in jedem Hause Zwietracht herrschte, die Familien sich trennten, der Freund den alten, erprobten Freund als Feind verließ und man nichts mehr vernahm als den bittern Zwist über politische Meinungen, vor dem alle Freude und alles Zutrauen aus dem gesellschaftlichen Kreise verschwanden. Alle Gefühle der Menschheit schienen in diesem wilden, schonungslosen Kriege über Meinungen, die niemand kalt prüfte, auf einmal zu verstummen; denn keiner fragte den andern: was bist du mir und dem Vaterlande? sondern: wie denkst du über die Ereignisse des Tages? Selbst das Mitgefühl, das Mitleiden, die bestimmtesten Gefühle der Natur, arteten aus; man beklagte nur das Unglück derer, die unsrer Meinung waren, verwendete sich nur für sie. Wissenschaften, Religion, Recht und Gesetz sollten sich nach neuen Formen bequemen; und die Verblendung ging so weit, daß man die Lehren, welche die Schreckensposten so laut ankündigten, weder vernahm noch nutzte. Die Fürsten traueten ihren Völkern nicht mehr, Völker traueten ihren Fürsten nicht mehr; und beide Teile schienen recht zu haben, denn jeden rissen Furcht und andere Leidenschaften über das Ziel. Ein wilder, bisher unbekannter Fanatismus hatte alle ergriffen, alle in einen Zauberkreis gebannt, in welchem rastlose Neugierde, gespannte Hoffnung, steigende Furcht, Angst und Haß sie gegen- und voneinander trieben. Ja, der Teutsche schien sogar seine alte väterliche Sprache mit seiner alten Treue zu verlieren und seine Denkungsart gegen neue Ausdrücke auszutauschen, die nur seine gereizten Leidenschaften dolmetschten.

[369] Aber als der Feind den teutschen Boden betrat und verwüstete, als das Blut der Teutschen die väterlichen Felder fruchtlos düngte, als der Teutsche besiegt ward und der kühne Feind immer vorwärts drang, da wütete die Zwietracht und zeigte dem Feinde die ferneren größren Siege.

Brauche ich zu sagen, von welcher Zeit ich rede? Hat sie nicht, zur Schande der getrennten Teutschen, ein schmähliches unvergeßliches Denkmal aufgestellt? Steht das jetzige Geschlecht nicht mit gebeugtem, überwundenem Nacken davor? und werden die künftigen bei seinem Anblicke glauben, daß ihre Väter Teutsche waren?

In der Stadt, wo Ernst wohnte, pries man anfangs alles, was in Frankreich geschah, und rechtfertigte es mit den alten Mißbräuchen, die dort so lange geherrscht hatten. Ernst, der diese Nation kannte, erlaubte sich bei ihren zu raschen Taten manche Bemerkungen und Zweifel. Man nahm ihm dieses sehr übel und hielt ihn für einen Fürstensklaven, welcher der Gunst des Hofes selbst seine vorige Denkungsart aufopfere. Als aber die so laut gepriesene Sache wirklich die Wendung nahm, die er verkündigt hatte, und alle schrien und er jetzt bei dem wilden Geschrei aus Ursachen schwieg, die der große Haufe nicht erraten konnte, so glaubte man sich berechtiget, sein Schweigen für Billigung alles dessen zu erklären, was Schreckliches geschah. Seine Feinde wußten dieses von ihnen ausgestreute Vorurteil zu benutzen, und Ernst mußte als ein bekannter Feind der alten bürgerlichen Ordnung für einen entschiedenen Gönner der gefährlichen französischen Grundsätze gelten. Wo er sich jetzt befand, in welche Gesellschaft er trat, hörte er nur von den greulichen Begebenheiten des Tages reden, und immer mit Verwünschungen aller Neuerer und aller derer, die solche Gesinnungen billigten und begünstigten. Er, der alles, was vorging, aus einem den Schreiern ganz unbekannten Gesichtspunkt ansah und sich von diesen schrecklichen Begebenheiten wie von einem finstern, bösen Dämon begleitet fühlte, konnte die wilde, sinnlose und wahnsinnige Art, wie diese Menschen davon redeten, nicht ertragen. Sein Geist ward düster unter ihnen, sein Herz litt; er floh und suchte [370] freie Luft; und sowie er den Rücken wendete, fiel man über ihn her.

Erst jetzt vertrauete Renot dem Präsidenten, warum er nicht auf Ernsten so habe wirken können, wie er gewünscht hätte. Rousseaus Schriften, die nun in Frankreich den Aufruhr entzündet hätten, wären schuld daran. Hadem habe ihm vor seiner Abreise dieselben heimlich zugeschickt und Ernst von der Zeit an nichts anderes gelesen. Und eben dieser Rousseau, dessen Geist jetzt Frankreich verheere, habe seines Neffen Gemüt von lange her auf diese Neuerungen vorbereitet; man müsse sich also nicht über sein Schweigen wundern. »Hat er nicht«, fügte Renot hinzu, »durch alles, was er bisher getan, sich als einen treuen Schüler des kühnen, gefährlichen Mannes gezeigt? Und wissen Sie nicht, daß Ihr Neffe, seitdem die Revolution ausgebrochen ist, in einem beständigen Briefwechsel mit den Parisern steht? und ist es nicht klar, daß er bei seinem Aufenthalt in Paris sich mit diesen gefährlichen Menschen in Verbindung eingelassen hat?«

Renot war jetzt Ernstens gefährlichster Verleumder. So wie er hier sprach, äußerte er sich gegen jedermann, besonders gegen den Adel. Er hatte dabei einen doppelten Zweck: er befriedigte seine Eitelkeit und seinen Haß. Ihn drückte Ernstens Wohltat, und nie konnte er diesem die Art, sie zu erweisen, vergeben. Und dadurch, daß er so heftig die Partei des Adels nahm, gab er sich das Ansehen, als gehöre er ihm zu; er war nicht der einzige, der sich aus diesem Grunde zu dessen Verteidigern schlug.

Ernstens Korrespondenz nach Paris wußte der Präsident und jeder. Von dem ersten Augenblicke an, da die Revolution ausbrach, bemühte sich Ernst, durch seine dortigen Bekannten genaue Nachrichten zu erhalten, weil er in einer so wichtigen Sache nicht einseitig urteilen wollte, weil er bei der Wendung, welche die Sache nahm, sehr bald einsah, daß sie für einen denkenden Geist ein ebenso unterrichtendes Schauspiel werden müßte als sie für das Herz empörend wäre. Und da dieses Schauspiel immer wilder und gräßlicher ward und nun hin und wieder ein Lichtstrahl dieses drohende, finstre Chaos erleuchtete, so deuchte ihn, das menschliche Geschlecht sitze auf diesem Punkte der [371] Erde über sich selbst zu Gerichte, um sich in der größten Angelegenheit, die seine Geschichte aufweist, das Urteil zu sprechen. Er bebte vor dem Endausspruch.

Der Präsident freuete sich über Renots Mitteilung, und bald sah man durch beider Bemühen alles, was Ernst getan und gesprochen hatte, in diesem Gesichtspunkt an. Nun hoffte der Präsident, allen fernern Unternehmungen seines Neffen und hauptsächlich dem Durchsetzen des ihm verhaßten Plans auf immer Einhalt tun zu können. Ernstens Verleumder fanden leicht Eingang; denn die Menschen glauben gerne alles Nachteilige von dem Manne, den sie hassen. Und sei es auch noch so ungereimt, sei man auch noch so sehr vom Gegenteil überzeugt, genug, es schadet; und das, was die Bosheit ersonnen hat, breitet die Geschwätzigkeit gern weiter aus. Der Ruf, in welchen der Adel und die Gutsbesitzer Ernsten brachten, wurde noch dadurch verstärkt, daß die Bürger und alle die, welche so dachten, wie man von ihm vorgab, sich mehr an ihn schlossen und ihn in eben dem Maße erhoben, in welchem die andern ihn heruntersetzten. Als aber die Anklagen und Verfolgungen angingen, suchten auch diese ihre Sicherheit in dem allgemeinen Geschrei gegen den Mann, den sie verehrten, liebten und als ihren einzigen Freund erkannten.

Ernst sah und fühlte die Wirkung dieses Vorurteils. Er vermutete dessen Ursprung, aber er glaubte es unter seiner Würde, sein Betragen zu ändern, und verwarf mit Unwillen den Vorschlag des Ministers, die elenden Urheber dieser Verleumdung zu beschämen und Beweise von ihnen zu fordern.

Er antwortete:

»Soll ich in ihren die Vernunft und die Menschheit entehrenden Ton einstimmen? Werden sie mich nicht der Heuchelei beschuldigen und mir noch das einzige zu rauben suchen, was mich über sie erhebt, was sie selbst anerkennen? Wenn mein Leben, meine Handlungen ihnen keine Beweise mehr sind, werden sie meinen Worten glauben? Noch erkenne ich mich, und ich werde ihnen weder das Feld räumen, noch mich vor ihnen beugen; denn nur alsdann hätten sie über mich gesiegt. Glauben Sie mir, das, was [372] Sie mir raten, wünschen diese Leute am sehnlichsten, sie halten mich für geschlagen, sobald ich mich mit ihnen öffentlich einlasse; und nur darin haben sie recht.«

4.

Als nun eine Schreckenspost über die andere erscholl und der Feind den teutschen Boden immer weiter verwüstete, als die Fliehenden durch die benachbarten Länder Schrecken und Furcht vor dem entschlossenen und gefährlichen Feinde verbreiteten und es immer mehr kund ward, daß die teutschen Krieger vergebens den väterlichen Boden mit ihrem Blute tränkten, da entflammte sich in dem Herzen des alten Herrn von Falkenburg die Vaterlandsliebe und der Haß gegen den alten Feind desselben. Sein kriegerischer Sinn fachte beide an. Mit Unwillen sah er auf die starre Ruhe der feigen, bebenden Schreier bei der immer näher rückenden Gefahr. Er erglühte vor Zorn über die Untätigkeit eines Volkes, das bei der Verheerung, der nahen Unterjochung seines Vaterlandes nicht zusammentrat; und sein graues Haar bewegte sich auf seinem ehrwürdigen Haupte bei dem Gedanken, Teutschland, die Mutter der tapfersten Söhne, von einem Feinde besiegt zu sehen, der, so ungerecht er auch in seinem Urteile sonst war, demselben wenigstens dieses nicht abzusprechen wagte. Plötzlich kam er in Uniform zu seinem Sohne und kündigte ihm an, daß er zu Felde gehen würde.

Ein schmerzliches Lächeln der Bewunderung war Ernstens erste Antwort. Er sah auf die grauen Haare seines Vaters und küßte die Locke, welche an der von hohem Gefühle geröteten Wange lag.

»Mein Vater, dies ist die Glut der Jugend.«

VATER: Und dies die Farbe des Alters, meinst du? Er strich die Locke zurück. Laß es nur so sein. Um so sichrer bin ich jetzt vor dem jugendlichen Ungestüm, dem ich meine Wunde verdanke.

ERNST: Und ihre Folgen, die Sie so oft schmerzlich fühlen?

VATER: Ich werde sie nicht fühlen, und mag noch eine kommen, [373] wenn es sein muß! Diese bekam ich, als ich für Sold, für Ehre diente; die für das Vaterland wird nicht so schmerzlich sein. Ich kann es nicht mehr ansehen, Ernst, und ich würde über das, was ich höre, vor Unmut sterben; in Tätigkeit werde ich neue Lebenskraft bekommen. Vielleicht wirkt auch mein Beispiel auf die Schreier, die alles getan zu haben glauben, wenn sie einen Feind lästern, den sie bekämpfen sollten. Ich sehe Verheerung, ich sehe Schimpf, Schmach, ich sehe Ketten für Teutschland in der Zukunft und kann die Vorstellung nicht ertragen, daß ich die Wirklichkeit davon erleben könnte.

ERNST: Und wenn ich Ihre Schuld an das Vaterland übernähme?

VATER: Es ist dein Gewerbe nicht, und ich verlasse dich hier in einem Kriege, wozu mehr Mut gehört als zu dem, zu welchem ich aufsitze. Streite du hier und laß mich dort kämpfen, wir streiten beide für eben dieselbe Sache. Seinem Feinde Stirn gegen Stirne in offnem Felde gegenüberzustehen und zuzuschlagen, das ist nichts; aber dem Feigen, dem Elenden, der im Winkel seine Pfeile zuspitzt und vergiftet, um sie in der Finsternis ohne Gefahr abzuschießen, dem zu widerstehen, dazu gehört mehr. Und doch hoffe ich auf dich; und darum schweige ich zu allem, und darum verlasse ich dich voll Mut und Vertrauen. Du mußt dem Fürsten bleiben. Hat er einen wahren Freund unter diesen wilden Schreiern? Verteidigt einer seine Sache außer nur um seines eignen Vorteils willen? Nur solange er ihnen diesen sichert, halten sie sich an ihn; kann er dies nicht mehr, so sind sie seine gefährlichsten Feinde.

ERNST: Oh, mein edler Vater, leider ist dieses der Fall nicht bei uns allein. Schon längst hätten diese Menschen gerne Teutschlands Fürsten zu unweisen und gewaltsamen Maßregeln gegen ihr treues Volk verleitet. Jedes Wort, jede Äußerung des Volkes machen sie ihnen verdächtig und glauben sie zu erhalten, wenn sie die schützenden Engel, das Vertrauen und die Liebe, von ihrer Seite entfernt haben. Hier ist bisher noch ihr ganzes Bemühen fruchtlos gewesen, aber mit jedem widrigen Gerüchte von empörenden Äußerungen, die nur Leute ihrer Art hervorbringen, [374] verdoppeln sie den Angriff. Und da der Fürst immer von ihnen fordert, durch Weisheit dem drohenden Übel zuvorzukommen, bevor die Notwendigkeit sie dazu zwingt und alles zweideutig macht, was sie alsdann tun mögen, so glauben sie in seinen väterlichen Gesinnungen, in seiner Sorge für sie nichts zu sehen als mein Bestreben, einen Plan durchzusetzen, der längst allen diesen Bedenklichkeiten ein Ende gemacht hätte.

VATER: Mit diesen Worten hast du deine Bestimmung entworfen. Folge ihr, ich folge der meinigen. Laß den edlen Mann einen Freund in dir finden; du weißt, wie er dich geworben hat. Ernst, nie hatten die teutschen Fürsten Freunde nötiger als in dieser bedenklichen Zeit. Furcht, Eigennutz und nahe Not zwingen viele, diese Maske vorzunehmen; aber eben darum sind ihre Eingebungen so gefährlich. Ein teutscher Fürst hat nichts zu fürchten, solange er sein Volk nicht verkennt, solange er selbst treu und ehrlich auf seines Volkes Treue rechnet.

ERNST: Ich will es noch einmal versuchen, mein Vater, und es ist schon eingeleitet. Ja, Sie haben recht. Der Krieg, den ich zu führen habe, ist gefährlicher als der Ihrige. Als Sieger Haß, als Überwundner Haß, dies ist mein Los; dies ist der Unterschied zwischen Ihrem und meinem Schlachtfelde. Auch Sie verlassen mich nun, und ich bleibe allein. Sie gehen in einem Alter, wo Sie der Ruhe bedürfen, dem Tode entgegen und ich in blühender Jugend vielleicht der Schmach; doch Ihr Entschluß, die Wärme, mit der Sie mir ihn angekündigt haben, erhebt mein Herz. Ich fühle vor Ihnen, daß ich ein Teutscher bin, daß ich ein Vaterland habe.

VATER: Oh, daß man diese Stimme, diesen Ruf durch ganz Teutschland hörte! daß er auf alle Herzen wirkte wie auf das meinige! so wäre das Vaterland gerettet. Ach, Ernst, freilich wir sind Teutsche, aber ich sehe keine Teutsche. Umso mehr tut es not, daß sich hier und da der einzelne zeigt. Blieb' ich auf dem Gute – ihre Lauheit, ihre Gleichgültigkeit und ihr Geschrei machten meinen alten Kopf noch wahnsinnig. Darum fort! Freilich wäre es besser gewesen, wenn man die Leute dort ihre Sachen, klug oder toll, hätte machen lassen; auch mögen die Absichten [375] der Mächtigen von unsrer Seite nicht so rein sein, als sie vorgeben. Aber, wie dem auch sei, der Feind steht auf dem teutschen Boden, nur dieses müssen wir jetzt denken und weiter nichts; denn nur dieses dachte und empfand der Franzose, als unsre Heere sein Vaterland betraten, wenn er auch gleich anderer Meinung war. Wache du, daß die Ruhestörer diesen Bezirk nicht anstecken, daß die noch gefährlicheren Eigennützigen, die bei jedem kleinen Vorteil jauchzen und drohend einhergehen, aber bei jeder Schreckenspost zusammenfahren, unsern Fürsten nicht betören. Ich will zu ihm gehen, will ihm sagen, was ich denke. Und dann zu deinem Oheim!Ihm muß ich durch den Sinn fahren, bevor ich reise. Er ist einer von denen, die gern einen Teil des Volkes erwürgten, um dadurch den andern durch Schrecken zu nötigen, auf ihren Zwangmühlen fortzumahlen, in ihren Zwangöfen fortzubacken. Ich muß ihm und den andern Laffen doch noch sagen, daß ein teutscher Edelmann jetzt mehr zu tun hat als auf die Franzosen zu schimpfen, die stillen Bürger zu verleumden und Männer deines Sinns verdächtig zu machen. Diesen Vorsatz erfüllte er auch redlich und auf eine Art, daß wenig zu antworten übrigblieb, besonders da er es durch seine Tat bewies. Man zuckte die Achseln, lächelte und wünschte ihm Glück. Diese Antwort hätte er in allen Kreisen Teutschlands erhalten, wenn er so darin aufgetreten wäre.

Einige, und nicht die Dümmsten, sagten:

»Wir verlieren immer, sind immer die Geschlagenen, die Fehde ende, wie sie wolle.«

Andere meinten, sein Eifer sei zu loben, indes geschehe ja alles, was die Reichsverfassung mit sich bringe. Und wenn jeder Reichsstand seine Pflicht erfülle, so tue er genug, besonders da die meisten Reichsfürsten kein Interesse bei der Sache hätten.

[376] 5.

Ernst hatte lange nichts von Ferdinand gehört. Alle seine Bemühungen um Nachricht von ihm waren fruchtlos, und schon fürchtete er, auch sein Freund sei ein Opfer seines aufrührerischen Regiments geworden, als dieser ihn eines Abends plötzlich überraschte. Alle Gefühle ihrer jugendlichen Verbindung erwachten in Ernstens Brust.

Als er sprechen konnte, sagte er zu Ferdinand:

»Du hast mir viele Sorgen gemacht; doch diese Sorgen machen nun deine Anwesenheit umso süßer. Wie dank ich dem Schicksal, daß es dich mir sendet, jetzt, da ich eines Freundes so sehr bedarf, da soeben mein Vater mich verlassen hat!« Ferdinand weinte an seinem Halse.

»Freund, ich habe alles verloren – alle Aussichten – alle Hoffnungen – alles Glück.«

ERNST: Du hast nichts Wesentliches verloren, das du hier nicht wiederfändest. Mich findest du, wie du mich gekannt hast, als wir noch als Knaben Hand in Hand gingen; und ich hoffe, auch dich werde ich wieder so finden. Sei gutes Muts! Ich errate dein Unglück, aber du bist gerettet, du stehst unter dem Dache deines Freundes, der gerne mit dir teilt. War dies nicht unser Bund? Nur dein Zutrauen, nur deine Freundschaft, derer ich so sehr bedarf.

FERDINAND: Könnt ich mein Unglück vergessen, es wäre geschehen, als ich dich erblickte. Mildern, besänftigen kannst du es; heilen nie. Du hast dich nicht verändert, aber ich habe mich verändert, in allem verändert, nur nicht in meiner Liebe zu dir. Du kennst mich, du weißt, wornach ich strebte; und nun ist alles um mich her zerfallen.

ERNST: Du wirst dich hier wiederfinden. Komm, ich muß meiner Amalie meinen Jugendfreund vorstellen. Er führte ihn in das Zimmer seiner Gemahlin und sagte: »Hier, Liebe, ist Ferdinand, um den Sie mich so bekümmert sahen. Er ist glücklich der Gefahr entgangen, und es muß nun unsre Sorge sein, ihn sein Unglück vergessen zu machen.«

[377] Ferdinands schwarze, feurige Augen waren voll Tränen, als er in das Zimmer trat. Sie erstarrten in seinen Augen, als er Amalien erblickte. Amalie erkannte ihn – ein leiser Schrei des Erstaunens entfuhr ihr – der feurige, kühne Blick, womit er nun auf sie sah, stellte plötzlich die lang vergangene Szene lebendig vor ihren Geist, sie schien aus einem Traume zu erwachen, sie hörte seine damaligen Worte, sah seinen kühnen Wink auf das Fenster hin, und alles wurde ihr gegenwärtig.

Ernst verließ beide mit den Worten: »Ich muß dir gleich meinen ganzen Reichtum zeigen.«

Kaum vermochte jetzt Amalie, einige Worte des Bewillkommens zu sagen. Ferdinand stand sprachlos vor ihr und hielt seine Augen immer auf sie geheftet. Sein Geist schien im Vergangenen zu forschen, um das Gegenwärtige begreifen zu können. Und als Amalie die Augen niedersenkte und Röte auf ihre Wangen schoß, erwachte auch in seinem Herzen jener Augenblick in seiner vollen Gewalt, und beider Seelen hatten nur einen Gedanken, beider Herzen trafen nur in einem Gefühle zusammen.

Ernst unterbrach die stumme Szene, als er den kleinen Franz hereinbrachte. Dieser war schon ausgekleidet; als aber sein Vater ihm sagte: »Der Offizier ist da, von dem ich dir so oft erzählt habe«, wollte er noch nicht zu Bette gehen.

Franz hängte sich an Ferdinand. Dieser küßte ihn und sagte zu Ernst: »Dein lebendes Bild! So warst du, als man mich zu deinem Vater brachte. Laß mich zu mir kommen. Ich fühle, daß mich in diesem Kreise das Gefühl meines Unglücks einen Augenblick verlassen kann.«

Als sie sich dann zu Tische setzten und Amalie ihm ein Glas Wein zum Willkommen einschenkte, erinnerte er sich an das kummerstillende Getränk, welches Helena im Homer ihren Gästen reicht.

Amalie lächelte, und Ernst sagte:

»So sei es dir dieser Trank! Und lerne du nur erst die Zauberkraft meiner Amalie recht kennen! Wer ihr widersteht, der ist unheilbar. Ferdinand, und widerstände auch dein Gram unserer zärtlichen Sorge der Freundschaft, so würde doch ihre Musik [378] ihn besiegen. Hier siehst du den Traum meiner Jugend, in allem Reiz der körperlichen Schönheit und des Geistes, in seiner ganzen Wirklichkeit erfüllt; sie ist die Göttin, die so früh mir vorschwebte.«

FERDINAND: Du hast erreicht, was du verdientest. Der Traum, dem ich nachlief, betrog mich; ich erwachte schrecklich, und umso schrecklicher, da ich dem Ziele nahe war, das ich nur in meinen kühnsten Augenblicken zu erreichen hoffte. Einmal muß ich es dir doch erzählen; so sei es jetzt. Und möcht ich dann die Erinnerung so tief in meinem Herzen vergraben können, als alle meine Hoffnung darin gesunken ist!

Er verfiel in Nachsinnen. »Nein, es ist unmöglich!« sagte er mit dem Ausdruck der innigsten Empörung. »Ich muß schweigen. Das Wagestück, welches ich unternahm, wäre nur dann des Erzählens wert, wenn ein besserer Erfolg es gekrönt hätte. Jetzt würdest du nur einen Verwegenen in mir sehen. Ich hatte alles getan, was menschliche Kraft und Kühnheit vermögen, und glaubte nun das Glück zu verdienen, das ich dem Schicksal mit so vieler Anstrengung abgezwungen hatte. Da fühlte ich, was die Helden empfanden, mit deren Denkmälern ich in unsrer Kindheit unsre Höhle ausschmückte. Aber die Menschen, die das blühendste Reich der Erde zerstörten, das geistreichste, beste Volk zu Ungeheuern machten und alles vernichteten, die vernichteten auch mein Glück. Mir bleibt nun nichts übrig als die qualvolle Erinnerung daran und der Wunsch, im Gefühle meiner Kraft in dem Ringen nah am Ziele gefallen zu sein. Wenn der Zauber deiner Gemahlin machen kann, daß ich dieses vergesse, so will ich es dir einst wie eine alte tragische Fabel erzählen. Der Held der Fabel bestieg, zum Unglück für sich, den Olymp in dem Augenblick, da ein neuer Glaube ihn und die auf ihm wohnenden Götter stürzte.«

Ernst schwieg; er erriet, da er Ferdinand kannte, den Inhalt seiner Geschichte. Amalie nahm das Gespräch wieder auf, lenkte es auf die Begebenheiten des Tages und fragte ihn, wie er sich gerettet hätte.

Ferdinands Stirne ward düster:

[379] »Soll ich Ihnen auf lange Ihren Schlaf rauben? und das die erste Nacht, die ich in Ihrem Hause zubringe?«

Ferdinand sagte alles mit einem so leidenschaftlichen Tone, einer so wilden Stimmung des Geistes und begleitete jedes Wort mit solchen düstern Blicken, daß Ernst Amalien winkte, sie nach ihrer Harfe leitete und sie bat, seinem Freunde etwas von ihrer kummerstillenden Arzenei zu geben.

Aber sie nahm die Laute. Ernst setzte sich mit Ferdinand auf den Sofa, und Amalie sang einige ihrer sanftesten italienischen Lieder. Ferdinands Hand zuckte in der Hand seines Freundes, und als Amalie endigte, stand er auf und sagte zu Ernsten: »Alles, alles hat dir das Schicksal gegeben; und alles, wie du es verdienst!«

ERNST: Du fehltest mir noch. Und wenn nun noch einer käme – ich hoffe, Ferdinand, du hast ihn nicht vergessen.

FERDINAND: Du meinst Hadem! So komme er, und wir Darbenden sitzen an der Tafel des Reichen, und wir Unglücklichen werden glücklich durch sein Glück. Laß mich nur erst fühlen, wo ich bin, laß mich nur erst inne werden, daß ich mich gewiß aus der Höhle des Mordes gerettet habe. Sie, die alles zerstören, mordeten auch meinen frohen, heitern Sinn, meine Munterkeit. Ich werde sie wiederfinden; denn sonst wäre ich ein lästiger Gast. Aber ich kenne deine Nachsicht und wage es, auf die Nachsicht deiner Gemahlin zu rechnen. Ich hoffe, das Vergangene zu vergessen und in diesem Elysium zu erwachen.

Ernst führte ihn nach dem für ihn bestimmten Zimmer.

Ferdinand war von dem Augenblick, da er Ernsten in seinem häuslichen Verhältnisse gesehen hatte, mehr mit seines Freundes Glück als mit ihm selbst beschäftiget. Diese Vorstellung überfiel ihn in der Einsamkeit umso stärker, da Amaliens Bild einen so blendenden Glanz auf dieses Glück warf. Sie hatte wie eine Erscheinung aus einer andern Welt auf ihn gewirkt, und er gestand sich laut, nie Schönheit mit diesem Ausdruck, mit dieser Würde, von dieser sanften, melancholischen Erhabenheit begleitet, gesehen zu haben. In dieses Beschauen ganz verloren, sah er weder die Seelenruhe, die reine Herzensgüte, die schöne Einfachheit [380] seines Freundes noch dessen Beharren in Grundsätzen und Gesinnungen, die schon seine Jugend geleitet hatten. Er sah in ihm nur den Glücklichen, den stillen Glücklichen, den reichen Mann, der außer allen Schätzen des Glücks noch den größten und seltensten besaß, der je einem Sterblichen zuteil ward: ein Weib ohnegleichen. Die Erinnerung jenes Augenblicks, der seine inneren, noch schweigenden Empfindungen zum erstenmale so mächtig belebte, drang sich ihm nun immer stärker auf. Er hörte jedes ihrer Worte, sah jeden ihrer Blicke, und sein ganzes damaliges Gefühl glühte in seinem Busen. Ihre plötzliche Verwirrung, ihr leiser Schrei deutete ihm nun an, auch sie habe sich jenes Augenblicks erinnert und ihn eben darum bei seinem Eintritt so schnell erkannt als er sie.

»Ihm ist alles gelungen«, seufzte er; »sogar der Traum seiner Kindheit. Phantastisch sah er an den fernen Wolken eine Gottheit schweben, die er Tugend nannte; sie stieg zu ihm herunter, und die geträumte Göttin, schöner als seine schwärmerische Einbildungskraft sie schaffen konnte, wird seine Gattin. Ich aber, der ich mit Gefahr des Lebens, mit der Gefahr, noch mehr als das Leben zu verlieren, einen Weg betrat, bei dessen bloßer Vorstellung mir nun schwindelt, ich werde in dem Augenblick, da ich das Ziel erstiegen hatte, wieder herabgeschleudert. Und nun sitze ich hier, ein Bettler an dieser Tafel der Götter! Sind sie das nicht beide, durch ihre ruhige, feierliche Erhabenheit? Nun sitze ich da, ein Zeuge seines Glücks, und kann weiter nichts dazu sagen als: er hat es verdient. Hätte mir die Natur den Sinn für Ruhe und Beschränktheit gegeben, ich würde jetzt nur dieses fühlen; aber ich habe den Zauberbecher der Welt gekostet, er ward mir von den Lippen gerissen, als ich den brennenden Durst ganz stillen konnte; und alles, was mir übrigblieb, ist das peinliche, endlose Verlangen.«

So brachte Ferdinand die erste Nacht unter dem Dache seines Freundes zu, der sich unterdessen glücklich pries, ihn gerettet zu sehen, der nur auf Mittel sann, ihm durch Gefälligkeit und Freundschaft und durch alles, was er vermochte, seinen Verlust aus den Gedanken zu bringen und zu ersetzen.

[381] Mit solchen Gesinnungen erwartete ihn Ernst beim Frühstück. Er empfing Ferdinanden mit einer Zärtlichkeit, daß dieser dem milden Blick nicht widerstehen konnte und ihm, in seine Arme sinkend, zurief:

»Hier finde ich Ruhe und Zufriedenheit oder nirgends mehr in dieser Welt. Laß mich von dir lernen, daß das Glück in dieser Geistesruhe besteht, und ich bin geheilt. Du kennst meinen Feind, hilf mir diesen bändigen – der ist es, welcher unsre düstre Höhle mit Helden bevölkerte und nun mit Hohnlachen hinter mich getreten ist. Und doch, Ernst, doch habe ich nicht geschwärmt – doch war es kein Traum!«

ERNST: So laß dir die erprobte Kraft zum Trost gereichen und genieße nun, was das Schicksal dir nicht nehmen kann. Und noch ist dir die Bahn des Ruhms nicht verschlossen. Der sprengt sie leicht wieder auf, der das von sich sagen kann, was du von dir sagst.

FERDINAND: In Teutschland gelten nur stille Tugenden –

ERNST: Und der Krieg?

FERDINAND: In diesem fecht ich nicht –

ERNST: Deine Feinde sind auch Teutschlands Feinde.

FERDINAND: Und doch fechte ich nicht gegen sie; ich hasse sie ...

In diesem Augenblicke trat Amalie mit Franz in das Zimmer. Da der leichte Morgenanzug mehr das reizende Weib als die feierliche erhabne Göttin sichtbar machte und diese vielmehr im nachlässigen Gewände nur zu verhüllen schien, so konnte Ferdinand sich ihr mit freiern Sinnen nahen. Sein Blick ward sanfter, sein Wesen ungezwungener, und der natürliche Zug seines Herzens, vor Weibern nur angenehm und liebenswürdig zu sein, wirkte ohne weiteres Bemühen. Amalien, die ihn den Abend vorher so düster und leidenschaftlich gesehen hatte, schien dieser Ton zu gefallen, und sie konnte jetzt den Freund ihres Mannes ruhiger betrachten. Nur wenn das kühne Feuer in seinen Augen plötzlich erglühte und er dann seinen Blick auf sie heftete, sank der ihrige; und schlug sie die Augen wieder auf, so fühlte Ferdinand, was er damals empfunden hatte.

[382]

6.

Ferdinand machte bald Besuche. Der Präsident nahm ihn gut auf, schimpfte wütend auf die Franzosen, spielte boshaft auf Ernsten an und fragte ihn, ob er Renot schon gesehen hätte. Als Ferdinand dieses mit Nein beantwortete, sagte er:

»Versäumen Sie ja nicht, ihn zu besuchen. Der Fürst, dem ich ihn gegeben habe, beehrt ihn mit seinem Zutrauen. Er kann, und noch mehr, er wird Ihnen gerne sehr nützlich sein, ja er war es Ihnen schon, und mein Narr von Neffe wäre gewiß besser gefahren, wenn er die Lehren des klugen Mannes besser befolgt hätte. Halten Sie sich an ihn. Wir müssen nun Ihren Verlust auf eine oder die andre Art zu ersetzen suchen. Denn ein Mann wie Sie muß nicht von der Gnade eines andern leben. Dieses kann man nur von Fürsten.«

Renot empfing Ferdinand mit Entzücken, mit Bedauern, mit einem Strome von Klagen über sein hartes, unverdientes Schicksal.

»Schade! Schade!« rief er einigemal aus, »ich weiß, wie Ihnen alles geglückt ist; und ohne diese Ungeheuer würden Sie gewissen Leuten gezeigt haben, was ein Mann von Ihrem Geiste, Ihrem Mute, durch mich gebildet, vermag. Ich bedaure Sie jetzt umso mehr, da Sie von den wütenden Demagogen das Schrecklichste erfahren haben und nun bei einem Demagogen Schutz gegen das Elend suchen und Ihre Gesinnungen, Ihr Leiden verbergen müssen.«

FERDINAND: Wie verstehen Sie das?

RENOT: Wie? Sie sind schon einige Tage in dem Hause eines Mannes, der in ganz Teutschland als ein Demagoge bekannt ist, und fragen mich?

FERDINAND: Ich habe noch kein Wort über diesen Gegenstand von ihm gehört.

RENOT: Er schweigt, weil er heimlich wirkt, er schweigt, weil er billigt, weil er fürchtet, weil er sein Spiel verbergen will. Dieses sind gerade die Gefährlichsten. Er hat uns Proben genug davon gegeben, der Adel und die Bürger werden Ihnen davon zu erzählen haben! Es tut mir leid, daß Sie bei ihm haben abtreten [383] müssen, daß Sie wegen Ihrer alten Verhältnisse mit ihm nicht anders konnten, denn seine Freunde finden hier keine Freunde; und Freunde brauchen Sie doch in Ihrer Lage. Sie erstaunen? Sie werden noch mehr erstaunen. Sehen Sie, so weit hat es der Mann gebracht, der seine Schimären der Klugheit vorzog, die ich ihn lehren wollte! Wie hat er Sie denn aufgenommen?

FERDINAND: Ich kann nicht ohne Rührung daran denken.

RENOT: Ich glaube es wohl. Der von allen Verlaßne, der allen Verhaßte nimmt den Unglücklichen freudig auf, das Schicksal des Unglücklichen sagt ihm ja: dieser bedarf meiner; er wird, er muß es mit mir halten.

FERDINAND: Sie haben Ernsten immer verkannt, und nie mehr als in diesem Augenblick. Wenn er hier gehaßt ist, so verdient er es gewiß ebenso wenig als er es zu fühlen scheint. Wenigstens stört es seine Ruhe nicht. Ich habe nie einen edlern, nie einen gutmütigern Menschen gesehen, und ist einer unter uns abhängig, so muß er es von mir sein, denn seit der Zeit, daß ich sein Haus betreten habe, ist er nur um mich besorgt und sein Bestreben geht nur dahin, mich ruhig und zufrieden zu machen und mir angenehme Aussichten zu eröffnen. Und seine Gemahlin –

RENOT: Der Stolze! – Freilich, er, der nur Schimären liebkoset, er ist glücklich, aber – sie ist es nicht.

FERDINAND: Was sagen Sie! Sie ist es nicht? Nun, so ist das Herz des Weibes das unerforschlichste Geheimnis, so genügt ihm nichts!

RENOT: Das weiß ich nicht, und es kann wohl so sein; aber dieses weiß ich, daß sie nicht glücklich ist. Wie? Sie sinnen nach? Und Sie sollten es nicht bemerkt haben, da wir es, ob wir sie gleich nur in Gesellschaften sehen, wo man sich doch zusammennimmt, schon so lange bemerken? – Ich sage Ihnen, es nagt Gram an ihrem Herzen, und aus diesem geheimen Gram entspringt das ernste, feierliche Wesen, wodurch sie jetzt einer tragischen Muse gleicht. Sinnen Sie nur nach, und dann will ich Ihnen ein Geheimnis sagen. – Sie liebt Ernsten nicht. – [384] Ferdinand sprang zurück:

»Renot, schweigen Sie! Sie empören mich.«

RENOT: Was ich noch keinem sagte, sage ich Ihnen: Sie liebt den ruhigen, erhabenen Mann nicht. Nur dieses weiß ich – warum, das weiß ich nicht, aber von der Zeit an, da sie mit ihm verbunden war, nahm sie dieses düstre, feierliche, unnatürliche Wesen an. Seit jener Zeit schweben ihre Blicke über dieser Erde weg, als suchten sie in der hohen Ferne einen ihrem Herzen verwandtern Gegenstand.

FERDINAND: Es ist nicht möglich! Wie könnte er sonst so glücklich sein?

RENOT: Kennen Sie denn den Träumer nicht? Ihn macht nicht sie, ihn macht nur das Ideal glücklich, das er in ihr träumt, das kalte Bild der Tugend, das er in ihr sieht; und nicht das schönste, reizendste Weib der Erde. Wie, wenn nun diesem Weibe ohnegleichen das Ideal der kalten Tugend in ihm nicht genügte? In dem hohen, verstiegenen Sinne, worin er schwärmt, vermißt er die weibliche, süße Zärtlichkeit nicht; wenn nun sie von ihrer Seite etwas an ihm vermißte? Wenn sie nun ein Ideal heißerer, glücklicherer Liebe träumte? Ich habe mir oft den Kopf über dieses sonderbare Verhältnis, über dieses sonderbare Weib zerbrochen und kann es nicht ergründen. Sie müssen mir dieses Rätsel lösen; denn Ihnen kann das Geheimnis nicht lange verborgen bleiben. Hier waltet etwas ob, das sich aufklären muß. Ich erinnere mich genau, wie diese Amalie, die damals die jüngste der Grazien zu sein schien, auf Ihre feurige Einbildungskraft gewirkt hat und was Sie mir von ihr erzählten. Wie fanden Sie nun die erhabene, ernste Göttin? Das hätte sie nicht werden müssen. Diese Erhabenheit zerstört das Weib – er zerstörte es in ihr, und was er darauf pflanzte, ist von zweideutigem Gehalte. Sie haben doch den Zug des stillen Kummers bemerkt?

FERDINAND: Ja, ich bemerkte ihn.

RENOT: Das glaube ich wohl. – Nun, suchen Sie nur, dem Demagogen nicht zu mißfallen. Freilich bei dem Fürsten vermag er viel, doch was vermag der Fürst gegen alle? Sie müssen nun einmal bei ihm bleiben, aber lassen Sie sich von der Klugheit [385] raten. Werfen Sie sich nicht zum Kämpfer für ihn auf; denn hier sieht jeder nur einen Feind in ihm, den Feind der alten Ordnung, und diese ist in dem gegenwärtigen bedenklichen Zeitpunkte natürlich die wichtigste Angelegenheit der Menschen. Ich bedaure Ihren Freund; doch so will er es, nur so gefällt es ihm.

Renot sprach nun von gleichgültigen Dingen und führte Ferdinand auf sein Leben in Frankreich zurück. Er reizte dadurch dessen Eitelkeit, und Ferdinand vertrauete ihm eine Geschichte, die er freilich Ernsten nicht so hätte mitteilen dürfen. Ferdinand war so nahe an den Grenzen des Verbrechens vorübergegangen, daß man Renots Grundsätze haben mußte, um nicht bei seinem Wagestücke zu schaudern.

Renot hörte ihm mit zunehmendem Erstaunen zu; und als Ferdinand geendigt hatte, rief er:

»Und dieser kühne Mann, den die Natur als einen Liebling, mit Gestalt, Geist und Mut ausgerüstet, dem Glücke übergab, als wollten sie beide einmal vereint arbeiten – der soll nun von der Gnade eines Mannes leben, welcher mit denen im Bunde steht, die sein Gebäude zusammenstürzten? Oh, daß es Ihnen nicht ganz gelang! daß der Schwärmer nicht erfahren konnte, was Renots Schüler vermag! – Haben Sie ihm Ihre Geschichte anvertrauet?«

FERDINAND: Nein.

RENOT: Tun Sie es ja nicht! Der Träumer ist nicht fähig, Männertat und -werk zu beurteilen. Sein Spiel ist das sogenannte Glück des Pöbels, der das Ihrige dort zerstörte. Nutzen Sie ihn; denn nur dazu sind solche Phantasten gut.

FERDINAND: Renot, so weit entfernt auch meine Denkungsart von der seinigen ist – bei Gott! wenn ich mich auf diesem elenden Gefühl ertappte, ich würde mein undankbares Herz mit grimmiger Faust zerdrücken. Alles, was Sie sagen, hat nur Sinn, wenn Sie von Menschen reden, wie ich sie habe kennenlernen; sprechen Sie so von ihm, so ist es Lästerung.

RENOT: Ich sehe, die teutsche Luft wirkt auf Sie, oder Sie fangen schon an, sich zu bequemen. Freilich, hier werden Sie [386] keine Rolle spielen, wie Sie dort auf dem Wege zu spielen waren, und darum ist es vielleicht gut, daß Sie es jetzt mit den Träumen Ihres Freundes halten. Ich wünsche Ihnen Glück dazu, doch lassen Sie sich ja nicht so weit von ihm anstecken, daß Sie die feierliche, erhabne Miene annähmen, die seine Gemahlin ihm verdankt; sie beweist die Täuschung. Und um so zufrieden mit diesem Spiel zu sein, muß man gleich ihm mehr Phantasie als Verstand besitzen.

Ferdinand fühlte jetzt Abscheu vor Renot. Er wollte gehen, blieb aber immer, hatte noch immer etwas zu fragen, schien immer noch auf etwas zu warten. In diesem Augenblicke glich er einem Manne, der einem Pestkranken ein Geheimnis abzufragen hat, das über sein Schicksal entscheiden soll: Furcht vor dem Tode hält seinen Fuß zurück, die Begierde, das wichtige Geheimnis zu wissen, spornt ihn vorwärts.

Renot sagte ihm endlich:

»Lassen Sie sich nur bald dem Fürsten vorstellen. Er liebt Leute von Mut und Geist, und ich will ihn schon vorbereiten. Ich freue mich, wenn ich Sie an sehe; ja, so gebauet, lohnt es der Mühe zu leben. Wie mag sich nun neben Ihnen Ernst ausnehmen, der das kalte Bild einer antiken Tugend ganz erträglich vorstellt! Sagen Sie, gleicht er nicht einer marmornen Säule, die der Kenner, weil an ihr die Regeln der Kunst genau beobachtet sind, bewundert, bei der aber das Herz eiskalt bleibt und die die Einbildungskraft eher tötet als belebt? Hier ist lebendige Kraft, hier ist Ausdruck der Leidenschaft, die mit Blitzen wie mit Wasserblasen spielt!«

Ferdinand ging betäubt. Zwei Empfindungen wühlten in seinem Busen. Ernst ein Demagoge! aber diese versank unter der andern: Sie liebt ihn nicht! Ein Schauder ergriff ihn bei dem Gedanken: Und wenn sie ihn nicht liebt, wen könnte sie lieben? Und aus dem Schauder entsprang ein so wildes, leidenschaftliches Gefühl, daß seine Seele erbebte. »Ich muß dieses Geheimnis erforschen«, rief er; »hier liegt etwas Unbegreifliches.«

Und mit dem tiefsten Schmerz muß ich es nun sagen: Renot hatte recht. In Amaliens Herzen lag ein Geheimnis vergraben, [387] ein Geheimnis, von dessen Entdeckung Ernstens und ihr Schicksal abhing. Ich muß es dem Leser mitteilen, ich muß es los werden; denn es drückt so schrecklich auf mich, daß es den Gang dieser Erzählung zu hindern droht. Hätt ich mit der Enthüllung nur alles abgetan, ich wollt es andeuten und dann schweigen. Aber die Pflicht fordert, daß ich das peinliche Unternehmen fortsetze.

Schon früh entdeckte Amaliens Vater die keimenden Talente, das Zarte, Weiche und harmonisch Gestimmte ihres Geistes. Als sie kaum zu blühen anfing, bemerkte er schon die starke Gewalt der Musik über sie. Er ließ sie anfangs von einem Frauenzimmer auf dem Klavier und der Harfe unterrichten; aber bald übertraf die Schülerin die Lehrerin darin. Ihr Vater sah sich nun nach einem vollendeten Musikus um, und diesen fand er in einem Italiener, welcher der Kapelle des Fürsten vorstand. Es war ein junger, gefälliger, schöner Mann, der für seine Kunst schwärmte, unbescholtne Sitten hatte und die zärtlichsten Ergießungen der italienischen Dichter, der Lieblinge zweier Musen, mit allem Zauber sang und vorlas. Alle menschliche Gefühle, alle Bilder der Natur löste seine Phantasie in Töne auf, und seine sanfte, begeisterte Gesichtsbildung findet man nur in Gemälden seines Landsmannes Guido. Dieser Musikus nun führte die junge Amalie in die Geheimnisse dieser bezaubernden Kunst ein und wußte ihr, da er ihr Herz und ihren Geist nur zu berühren brauchte, das Schwere so leicht und faßlich zu machen, daß er bald selbst über das, was er sah, erstaunte. Der Schwärmer ward nun von seinem eignen Werke bezaubert, und sein Entzücken war eine fortdauernde Begeisterung. Unter diesen Schwärmereien, dem Gefühle der Fortschritte, den Entzückungen des begeisterten Lehrers ward Amaliens ganzes Dasein Musik, und die Einbildungskraft, die feine Sinnlichkeit wurde durch die Musik in dem zarten Mädchen zu einem solchen Grade gespannt und entwickelt, daß ihr Geist und ihr Herz im beständigen Genusse unbeschreiblicher Wonne sich immer nach neuer, noch höherer sehnten. Ihr Lehrer setzte für sie die süßesten Laute, die feinsten Empfindungen, die zartesten Bilder seiner [388] Dichter in Noten, machte ihr die ganze Musik nur zu einer Empfindung, das schöne Glück, die süßen Schmerzen, die sanften Klagen und die hohe Begeisterung der Liebe auszudrücken. Zugleich unterrichtete er sie in der italienischen Sprache, und sie las bald sehr fertig die Lieblinge dieses gefährlichen Schwärmers. So erfüllte er Amaliens Phantasie und Seele mit Bildern, die nie erloschen, und reizte durch Musik ihre Sinnlichkeit und ihre Einbildungskraft, ehe noch ihr Geist sich entwickelt hatte.

Um diese Zeit hörte sie Ferdinands kühne Äußerung. Gleich einem Blitze zündeten seine Worte in ihrer Seele, und seine kühnen Blicke, seine schlanke, schöne und heroische Gestalt, sein mutiges, kraftvolles Wesen wirkten so auf sie, daß sie die Augen niederschlug. Es schien ihr, als stellte er plötzlich alle schwankenden Träume, alle zerstreuten Bilder lebendig, vereinigt ihrer Phantasie dar. Als Ernst sprach, konnte sie die Augen wieder aufheben, und ihn konnte sie anblicken. Was er sagte, gefiel ihr, aber das war auch alles. Doch was Ferdinand nach Hadems Rede zu ihr sagte, machte einen dauernden, unauslöschlichen Eindruck, und nie konnte sie sich in das Zaubergelispel ihrer Töne verlieren, in süßen Klagen der Liebe oder in feierlichen, erhabnen Gefühlen an ihrem Klavier, auf ihrer Laute ergießen, ohne daß Ferdinands Worte in ihrem Herzen ertönten, seine Blicke in ihren Geist drangen und das Geschehene mit den kleinsten Umständen in ihrer Seele lebendig machten. So schloß die Musik durch die zu frühe, zu gefährliche Aufregung der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft und durch die immer zurückkehrende Erinnerung eines unvergeßlichen Augenblicks sie in einen Zauberkreis, aus dem sie nie mehr treten konnte, den ihr Herz und ihre Phantasie, auch wider ihren Willen, erschufen.

Zu ihrem Glücke zwangen häusliche Umstände den Italiener zur Rückkehr in sein Vaterland. Der Vater selbst fühlte, sie sei für ihre Jahre in dieser Kunst zu weit gegangen, und dachte nun auf bestimmtere Ausbildung ihres Geistes. Ein vortrefflicher Mann ward ihr Lehrer. Ihr Herz, das durch die feinen Gefühle [389] der Musik vorbereitet war, nahm leicht die schöne und edle Stimmung an, die ihr Lehrer ihm zu geben suchte, und ihr Verstand bemeisterte sich der Phantasie, der allzu sehr gereizten Sinnlichkeit. Hohe Gesinnungen und eine besondre Kraft schienen sie nun vor jeder Gefahr zu sichern.

Als sie aber Ernsten zum erstenmal wieder erblickte, stand Ferdinand so vor ihr, als habe die Zeit bisher stille gestanden.

7.

Ferdinand strebte seit der Unterredung zwischen ihm und Renot nach Licht über die Zweifel, die sein Herz und seinen Geist so rastlos beschäftigten und quälten. Er benutzte das erste, ruhige Gespräch mit Ernsten über die Angelegenheiten des Tages, um dessen Gesinnungen über diesen ihm nun so wichtigen Punkt zu hören. Er wußte, daß Ernst ihm nichts verbergen konnte, daß er selbst aus Schonung für ihn keine Lüge sagen und höchstens seine Ausdrücke mäßigen würde. Da aber Ferdinand immer mit Wut von diesem Gegenstande sprach und alles, was geschah, nur in dem Lichte seiner Leidenschaft betrachtete, so schwieg Ernst gewöhnlich und suchte das Gespräch auf andere Gegenstände zu leiten. Jetzt bemerkte Ferdinand dieses mit verdrießlicher Laune, und Ernst erwiderte:

»Ich schweige, weil ich diese Begebenheiten, die uns in einem so kurzen Zeitraume alles vor die Augen stellen, was die Menschen, seitdem sie die Erde bewohnen und verwüsten, in diesem Sinne mögen unternommen haben, aus einem andern Gesichtspunkte ansehe als du. Da unser Herz bei diesen Erscheinungen ohne Unterlaß empört oder von Zweifeln geängstigt wird und da das Interesse, die Vorurteile der Menschen einander hierbei so sehr durchkreuzen, so wundert es mich nicht, daß man die Quellen dieser Erscheinungen übersieht und weder gerecht verfährt, noch verfahren kann. Dir vergebe ich es umso mehr; denn wer kann von dir fordern, daß du vergessen sollst, was du durch diese Begebenheiten erlitten und verloren hast! Es ist menschlich, daß du alles, was dort geschah und geschieht, als [390] Zerstörung deines Glückes, als Vernichtung deiner letzten Hoffnung ansiehst; aber eben darum ist dein Urteil auch so parteiisch, weil es aus Leidenschaften, aus Rücksichten auf dich selbst entspringt.

Du siehst mich unwillig an. – Ferdinand, ich bitte dich, vergiß dich einen Augenblick. Dir kann ich ja wohl sagen, was ich denke, du wirst meine Worte nicht mißdeuten und auch hier deinen Freund nicht verkennen, der sich dir jetzt anvertrauen muß. Längst merkte ich, daß du dies erwartetest; denn leider können in dieser unglücklichen Zeit weder Menschen noch Freunde zusammenleben, ohne sich über diesen Punkt zu verständigen, und dieses ist nicht die kleinste der bösen Folgen für uns und unser Vaterland.

Du hast lange in Frankreich gelebt. Sage mir aufrichtig, hast du etwas anderes von dem Augenblick erwartet, da dieses Volk das morsche, lockre Band zerriß, das es nur noch zusammenzuhalten schien? Hatten seine Vorsteher und Führer nicht schon längst durch ihren an ihm geheim und öffentlich ausgeübten Frevel allen Glauben an Tugend und moralischen Wert in dem Herzen dieses Volkes aufgelöst? es durch ihre Taten zu diesem Unglauben, dieser Verzweiflung an allem Guten gezwungen? Konnten da die Folgen anders sein? Kannten ihre Führer andre Götzen als das Interesse, die Befriedigung ihrer Torheit und ihrer unersättlichen Begierden, die sie öffentlich, ohne alle Scheu und Scham, und immer auf Kosten derer befriedigten, die sie unterdrückten? Ward die den Menschen erniedrigende Lehre der Sinnlichkeit, des Nutzens nicht öffentlich in Systemen aufgestellt? diesem zerdrückten Volke vorgelegt, damit es bei seinem physischen Elende auch die moralischen Quellen desselben kennenlernte und sich fest überzeugte, es sei nun keine Hoffnung der Rettung mehr? Übte man an diesem gutmütigen, seinem Könige so treu ergebenen Volke in dessen mächtigem Namen nicht alle Verbrechen solange aus, bis man das Vertrauen zu dem Könige und alle Keime des Guten in dem Volke erstickt, alles Gefühl der Gerechtigkeit vertilgt hatte? Kann der gerecht sein, gegen den man immer ungerecht war? Und warum schreibst [391] du nun alles das, was Böses geschehen ist, diesem Volke allein zu? Mußte es nicht endlich an seinem Lehrmeister, da dessen Macht und Ansehen verschwunden war, das ausüben, was es von ihm gelernt und erfahren hatte?«

FERDINAND: Mußte, Ernst! mußte!

ERNST: Halte dich nicht an ein Wort, dessen Sinn zum Zergliedern viel zu schrecklich ist. Mein Herz verwirft ihn; und glaubte ich, es hätte so verfahren müssen, ich würde mit dir nicht davon reden.

Alles, was bisher geschah, geschah von dem ersten Augenblick an so schnell, so unerwartet, so außer aller Regel der Erfahrung, war immer trotz dem glänzenden Schleier, in das die Redner es hüllten, mit solchen drohenden Umständen begleitet, schien immer so ganz das Werk der Partei und einer wilden Begeisterung, daß mir vom Anfange an für das Volk und das Gute, welches die Sache an sich hatte, bange ward. Es ist ein fürchterliches, erhaben ängstliches Schauspiel, wenn ein so zahlreiches Volk aufsteht und mit einem Schrei ein Wort ausspricht, dessen Sinn ihm noch dunkel ist, dessen Wert und Gefahren es nicht gekostet und worin es nur das Gegenteil von dem sieht, was es erlitten und erfahren hat. Mit Angst sah ich diesem Schauspiele zu, meine Angst vergrößerte sich, je mehr meine düstre Ahndung in Erfüllung ging. Oft glaubte ich die Erde um mich her mit ihren überreifen Bewohnern versinken zu sehen; meine Blicke hefteten sich auf die ganze Menschheit und erhoben sich von ihr gen Himmel. – Als nun bald unsern ganzen Weltteil grimmige Mordgeister erfüllten, als hier ein Menschenopfer dem andern auf dem Schlachtfelde folgte und immer eine schreckliche Nachricht von dort her durch eine noch schrecklichere verdrängt ward, daß das Herz und das Gedächtnis und das Besinnen erlagen und sich alles, was ich glaube und hoffe, aufzulösen drohte, da, Ferdinand, schwang ich mich neben Jupiter auf den Ida, vor dieses dem Mord und der Zerstörung geweihte Troja, und sah gleich ihm in die Waage des mächtigen Schicksals, ohne Parteilichkeit und ohne Vorliebe, um unter diesem Schauspiele das zu erretten, wodurch ich allein bestehe.

[392] Ferdinand schien einen Augenblick ergriffen von diesem ihn überraschenden Bekenntnisse. Dann sprang er auf und sagte mit Bitterkeit:

»Und dieses wäre alles, was deine kalte Tugend hierzu zu sagen hätte? Nun, so möchte ich diesen erhabenen, dem würgenden Schicksale ruhig zuschauenden Jupiter mitten in Paris sehen!«

ERNST: Ich würde auch da so denken, und aus eben diesem dir schon angedeuteten Sinne. Auch ist es alles, was ich zu sagen habe, wenn du mich verstanden hast. Könnt ich nur so auf Teutschland blicken! Hier blutet mein Herz. Was haben Teutschlands Söhne verbrochen? Warum sollen sie büßen für fremde Verbrechen, für Verbrechen, die sie nicht kannten, nicht ahndeten? Warum soll sich ein Teil von Teutschlands Söhnen für Meinungen eines andern Volks erschlagen lassen, während die Übriggebliebenen zu ihrer Gefahr davon unterrichtet werden? Warum soll die Sache eines Volkes die Sache der Menschheit werden? So ist es ein Kampf der Finsternis mit dem Lichte, der Furcht mit der Rache. Haben wir diese Rache verdient? Oder blutet unser Volk für Absichten, die ich nicht berühren mag, ob sie gleich sich täglich mehr entwickeln? Und was tun die Vorsteher dieses treuen, sich aufopfernden Volkes, um dem Geiste des Aufruhrs, der gleich einem drohenden Gespenste mit dem Feinde uns immer näher tritt, zuvorzukommen? Daß sie die Herzen der Fürsten gegen das beste und treuste Volk der Erde vergiften. So sollen also diese Schreckensszenen auch für uns ohne Nutzen und Lehren vorübergehn, und der Teutsche soll, von innen und außen mit Schmach bedeckt, besiegt dastehen? So soll alles zusammenstürzen? Für Stolz, Wahn oder Eigennutz, mißverstandne Macht wollen sie ihr Dasein und das Dasein derer wagen, durch die das ihrige besteht? Hier, Ferdinand, will ich es noch einmal versuchen, ob das Beispiel gewirkt oder ob uns alle Klugheit in dieser allgemeinen Bezauberung verlassen hat.

Und nun, wenn du meine Ruhe liebst, so ist dieses das erste und letztemal, daß wir von diesem Gegenstande sprechen. Keinem [393] als dir hätte ich geantwortet. Mir ist das elende Gerücht, welches giftige Zungen gegen mich verbreitet haben, nicht unbekannt, aber ich muß für etwas sorgen, das sie nicht kümmert, und mein Sinn würde ihnen nur Torheit scheinen.

FERDINAND: Ich begreife ihn, verzeih ihn dir, nur dir allein, und doch empört er mich.

ERNST: Ich bemerkte es; und um so nötiger ist es, daß wir von dieser Sache schweigen. Laß nicht zwischen uns dieses Elend eintreten, das alle Freude und alles Vertrauen unter den Menschen zu zerstören droht. Ich fordere nichts an dich, fordere nichts an mich.

FERDINAND: Und was willst du hier tun?

ERNST: Mit Genehmigung des Fürsten den von ihm versammelten Adel noch einmal auffordern, allem dem zu entsagen, was nur seinem Stolz und Wahne schmeichelt. Ich will ihn auffordern, sein Dasein durch die Herzen eben der Menschen zu sichern, in denen er jetzt nur seine Feinde sieht.

FERDINAND: Du wirst nicht durchdringen.

ERNST: So laß mich meine Pflicht tun. Mein alter Vater tut die seinige auf dem Schlachtfelde; ich tue die meinige hier, und er selbst sagte, mein Krieg sei gefährlicher als der seinige.

FERDINAND: Ernst, so sehr ich dich liebe und bewundere – ich stimmte doch mit dem Adel, ich stimmte gegen dich.

ERNST: Weil du dich nicht vergessen kannst! Und doch, Ferdinand, würde ich dich nicht weniger lieben.

8.

So rein, schön und menschlich auch Ernst seine Gesinnungen Ferdinanden enthüllt hatte, so fand dieser doch Zweideutigkeit darin. Der Haß, die Wut gegen eine Sache, die ihm so viel gekostet, seinen Stolz, seine Eigenliebe so schrecklich beleidigt und jede Hoffnung, sein Glück wiederherzustellen, zertrümmert hatte, waren stärker als die Freundschaft, die er jetzt noch für Ernsten – nicht fühlte, sondern nur zu fühlen glaubte. Die Verschiedenheit ihrer Gesinnungen war zu groß, als daß ein Mensch [394] von Ferdinands Denkungsart einen Mann, der ihm diese Verschiedenheit so merklich zu seinem Nachteile zeigte, herzlich lieben konnte. Denn so verderbt auch seine Einbildungskraft durch Renots Lehren, durch den fernern Umgang mit Menschen dieser Art und durch sein eignes bisheriges Leben war, so fühlte doch sein Herz, Ernst sei auf dem rechten Wege, nur er habe die wahre Würde des Menschen nicht allein errungen, sondern auch rein erhalten. Und wenn er sich dieses auch nicht laut gestand, so zeigte es doch sein Betragen gegen Ernst. Aber die Meinung, die er jetzt von ihm faßte, erregte seinen Unwillen. Sah er ihn vorher als einen edlen, gutmütigen Schwärmer an, so hielt er ihn jetzt für einen gefährlichen, und dieses rechtfertigte die Vorurteile seiner Feinde gegen ihn vor seinen verblendeten Augen.

Einige Tage nach dieser Unterredung gab er Ernsten an der Tafel des Fürsten einen Beweis von seiner jetzigen Stimmung gegen ihn, den Ernst von ihm am wenigsten erwartete. Es befanden sich einige neu angekommene Ausgewanderte an der Tafel, und bald drehete sich die ganze Unterhaltung um ihr Schicksal und die Begebenheiten, welche es veranlaßt hatten. Gegen das Ende der Tafel erzählte ein Greis sein und seiner Familie Unglück. Es war schrecklich, erschütternd, Ernst wurde bis in das Innerste seiner Seele bewegt, er sah auf die Silberlocken des Alten, der allein von einer zahlreichen blühenden Familie dem Tode, den alle andern gelitten, durch eine Art von Wunder entgangen war und nun in diesem Gefühl, unter diesem peinlichen Bewußtsein, mit diesem Erinnern die schwere Bürde des geretteten Lebens trug. Ernstens Augen waren feucht, er saß ganz in dieser Empfindung versunken, als plötzlich Ferdinand ihn anblickte und ihm französisch zurief:

»Und wie gefällt nun dieses dem Jupiter Olympius?«

Ernst schwieg und glaubte, Ferdinand würde durch sein Schweigen zu sich kommen, aber dieser forderte ihn noch stärker auf und erklärte sogar den Anwesenden den Sinn seiner Frage.

Ernst antwortete:

»Was soll ich sagen, da der über uns schweigt – er, der nach [395] eurem Glauben alles dieses vorhersah, der nach eurem Glauben das Menschengeschlecht leitet.

»Es herrschte jetzt eine große Stille an der Tafel, und Ernst nahm nochmals das Wort:

»Dächte ich nicht so, die Ereignisse unsrer Tage hätten mich längst um den Verstand – aber vorher um etwas noch Kostbareres gebracht.«

Keiner an der Tafel schien dieses zu verstehen, ausgenommen der Fürst und der Minister, deren Blicke zu gleicher Zeit den seinigen begegneten.

Ernst fuhr fort: »Ich habe über diesen Gegenstand eine Handschrift gelesen, eine Art von Gedicht, das vielleicht mit der Zeit erscheinen wird. Die Erde und die Hölle sind der Schauplatz. Alles ist in wildem, gärendem Aufruhr, nur der Himmel schweigt – nur zwischen ihm und dem klagenden, bebenden, blutenden Menschengeschlechte scheint ein undurchdringliches Gewölbe befestigt, durch welches das Winseln, das Jammern nicht dringen kann. Der schlafende Genius der Menschheit erwacht bei den ersten Erscheinungen. Es scheint ihm, als habe die Zeit ihm die von dem Wahne und der Torheit gefesselten Flügel leise aufgelöst, und freudig und kräftig dehnt er sie aus. Schon schwebt er empor, um Zeuge des schönen Schauspiels zu sein; als sich aber nun die Szene so fürchterlich ändert und er die ungeheuren Taten sieht und über das ganze Menschengeschlecht trauert, erhebt er sich himmelwärts, um vor den Thron des verhüllten Ewigen zu treten und ihn zu fragen, was der verborgene Zweck des Ewigen mit diesem Geschlechte sei, das auf diesem Wege, durch diese Mittel die höhere Entwickelung seiner Bestimmung suche.

Er sucht den Verhüllten, schwebt von Welten zu Welten, immer fragend: Wo ist er? Die großen, die ungeheuren, die schrecklichen Taten und Verbrechen dauern auf der Erde fort – Nun steht er, am Ende des Gedichts, an dem Ziele seiner Reise. Der Glanz, der von dem Throne des Ewigen ausgeht, leuchtet durch den Äther, verklärt das Angesicht des traurigen, bebenden Genius. Nun betritt er die goldnen Wolken vor dem Throne des [396] Verhüllten. Seine zitternden Lippen sprechen die Frage aus – anbetend harrt er auf die Antwort, und eine Stille, ein Schweigen herrscht durch die Himmel wie an dem ersten Schöpfungstage. Mit diesen Worten endet die Handschrift.«

DER FÜRST: Der Sinn dieses Schweigens ist fürchterlich.

ERNST: Mir ist er es nicht, mir scheint er erhaben zu sein und die Anerkennung der eignen Würde des Menschen zu enthalten. Der Ewige sollte durch laute Erklärung das Gefühl der Selbstständigkeit, auf welcher unser moralischer Wert beruhet, nicht erschüttern. Sein Schweigen rettet unser Verdienst, es deutet auf Licht jenseits des Grabes. Wir müssen an den hohen Zweck unsrer Bestimmung glauben, damit wir ihrer wert seien. Die ganze Wendung mißfiel Ferdinanden, und zwar umso mehr, da er in den Augen des Fürsten Beifall wahrnahm und der Minister ihn durch seine Blicke zu fragen schien, wie er, ein Freund Ernstens, an dieser Stelle zu dieser unerwarteten, so leidenschaftlich ausgesprochenen Frage gekommen sei?

Ernst sah ihn freundlich an und hoffte, das Gespräch über diesen Gegenstand würde nun zu Ende sein, als ein junger französischer Edelmann sagte:

»Die Erklärung wie die Dichtung scheint mir mystisch, und nur jene Königsmörder können mit ihr zufrieden sein, da sie alle ihre Greueltaten mit einem Schleier decket.«

Er legte hierauf Ernsten den Mord des Königs auf eine so hämische Art nahe, daß dieser, durch die Zudringlichkeit und nun wiederholte Achtlosigkeit gegen den Fürsten beleidigt, ihm antwortete:

»Ich erinnere mich in diesem Augenblick einer traurigen Geschichte, die sich zu meiner Zeit in Frankreich zugetragen hat. Ein reicher Edelmann, dessen Güter an der savoyischen Grenze lagen, wollte nach Paris reisen, um seine Tochter, die in einem Kloster daselbst erzogen ward, an einen jungen Mann von Geburt und großem Ansehen zu verheiraten. Seine Hausgenossen und Diener begleiteten ihn. Eine Bande Schleichhändler, die von dem Gesetze geächtet waren, hatten ausgekundschaftet, daß er einen großen Schatz von Edelsteinen und eine bedeutende [397] Summe Geldes zum Schmuck und zur Aussteuer seiner geliebten, einzigen Tochter mit sich führte. Sie überfielen ihn. Seine Hausgenossen und Diener, die er so lange wohlgehalten und die sich in seinem Dienste bereichert hatten, verließen ihn, um sich zu retten. Der Edelmann ward beraubt und dann ermordet. Wahr ist es, seine Getreuen eilten, was sie nur konnten, nach den nächsten Dörfern, um Hülfe aufzubieten.«

Jetzt herrschte ein tiefes Schweigen. Man sah einander einen Augenblick an, die Ausgewanderten blickten auf ihre Teller – Der Fürst hob die Tafel auf.

Ernst sagte Ferdinanden weiter kein Wort über das Geschehene, und Ferdinands Gemüt wurde dadurch nur noch mehr erbittert. Er hielt Ernsten nun für das, was Renot in seiner Schilderung aus ihm gemacht hatte, und dieser Gedanke ward durch ein Gefühl verstärkt, das er sich noch nicht zu gestehen wagte.

9.

In dieser Stimmung war Ferdinand, als sich eines Abends zwischen ihm und Ernsten das Gespräch auf die teutsche Literatur wendete. Amalie war gegenwärtig und die Unterredung hatte lange gedauert, bevor sie, dem Anscheine nach zufällig, Ferdinanden fragte:

»Sagen Sie mir doch, Herr von ***, hat der Roman, der einst einen so starken Eindruck auf Sie machte, auch in Frankreich einige Wirkung getan? So viel ich weiß, ward er übersetzt. Ich erinnere mich, daß Sie damals ganz bereit waren, für die erste beste Dame zu sterben. Doch Sie haben dieses wohl längst vergessen.«

Ferdinand fuhr bei dieser unerwarteten Frage so zusammen, als berührte eine Flamme sein Herz. Seine Wangen, seine Augen glühten, dann schoß Frost durch seine Glieder, und erst nach einigen Sekunden konnte er antworten:

»Ja, ich erinnere mich daran und werde es nie vergessen.«

Nun senkten sich Amaliens Augen, und erst jetzt fühlte sie, was sie getan hatte. Ernst, der mit Franzens blonden Locken spielte, sagte nun:

[398]

»In dem Lande, worin Ferdinand seitdem gelebt hat, schien eine solche Liebe Raserei, war längst aus der Mode, oder man stellte sie nur aus, um in dieser oder jener Absicht Aufsehen zu erregen.«

AMALIE: Das war ein Glück für Ihren Freund, sonst hätten wir ihn schwerlich wiedergesehen. Sie erinnern sich doch, mit welchem Feuer er sich dem schönen Tode vor unsern Augen weihte? Gut, daß nun die Gefahr vorüber ist!

FERDINAND: Vorüber? Vielleicht! Bisher fand ich indes nicht, daß die Empfindung, deren ich mich von meiner Jugend her bewußt bin und immer bewußt war, schwächer geworden sei; sie ist vielmehr zu einer Leidenschaft geworden, deren Bekämpfung alle meine Kraft erfordert. Freilich ist dieses nun eine der Leidenschaften, über welche wir wenig oder nichts vermögen, da sie schon lange unser Meister ist, wenn wir sie gewahr werden. Indes habe ich nichts mehr für mich zu fürchten – in meiner Lage gleich ich auch hierin einem schmutzigen Bettler, der sich an den Tisch der Erdengötter drängt.

ERNST: Welche sonderbare Wendung du nun wieder diesem Scherze gibst!

FERDINAND: Dieser Scherz macht, daß ich mein Nichts am empfindlichsten fühle, dies ist es alles. Und sage, würde dieses nun nicht trotz Hadems weisen Lehren ein süßer, wünschenswerter Tod für mich sein? Gibt es einen schönern für den Menschen als, von den Flammen seines eignen Herzens verzehrt, zu sterben? Ich rede dir Wahnsinn und werde mir selbst zum Gelächter. Das Opfer eines von dem Schicksal Zertretnen ist ja keiner Träne wert, und darauf rechnet man doch, wenn man es darbringt; wenigstens hofft man auf eine Träne aus den Augen derjenigen, für die man sich opfert. Aber wer forderte ein solches Opfer von einem Unglücklichen! Wer möchte es annehmen! Jetzt freilich, Amalie, wäre die Wiederholung jener Worte Torheit, die Tat selbst würde man nur belachen. Und doch, ist es nicht die Liebe allein, die dem Menschen ohne Maß und Grenze gegeben ward, da er hier nach der Kraft seines Herzens so ganz sein Herr ist, daß selbst das alles vermögende Schicksal in diesem [399] Zustande nichts über ihn vermag? Alle unsre andern Gefühle und Gedanken sind beschränkt, gemessen, auf unser eignes Selbst gekehrt, hier nur fühlen wir uns ganz in dem Dasein eines andern. Und drängt uns der Gegenstand unsrer Liebe endlich gewaltsam auf uns selbst zurück, so ist es natürlich, daß man ganz zerfällt, da einem zurückgegeben wird, was man nicht mehr brauchen, nicht mehr ertragen kann.

ERNST: Diese Empfindungen sind so wild als dunkel. Sonderbarer Mensch, du sagtest, du habest das Ziel des Ruhms erreicht, es schon festgehalten; und wie ich dich kenne, hattest du gewiß dein ganzes Dasein gegen die glänzende Täuschung hingegeben. Die Täuschung verschwand, deine Kraft kehrte zurück, du eiltest in meine Arme und fühltest, dein Leben habe noch Wert. Und kennt die Ehrbegierde Grenzen? Ist etwas, das ihren immer zunehmenden Durst stillt? Wächst sie nicht bei jeder Stufe, die du höher steigst? Ist nicht eben das, was du nicht erreichen kannst, das, wornach du dich am meisten sehnest?

FERDINAND: Ja, sie hat Grenzen in meinem Vermögen, meiner Lage, die Verhältnisse der Menschen gegen mich bestimmen sie nur allzu scharf, und keiner ist toll genug, das Unmögliche unternehmen zu wollen. Aber das Reich der Liebe ist grenzenlos, unermeßlich, da gibt es keine Unmöglichkeit, hier herrscht der Mensch aus eigner Kraft, als Gott und Schöpfer. Hier öffnet er selbst die nie versiegenden Quellen seines Genusses und seines Glücks, und seine Einbildungskraft macht sie zu immer wachsenden Strömen.

Während Ferdinand dieses mit Begeisterung sagte, spielte Amalie, unterbrochen, einige Passagen auf der Laute.

Ein Bedienter kam und meldete den Sekretär des Ministers.

ERNST: Ferdinand, hätte ich dich nicht in Frankreich gesehen, ich zweifelte jetzt, ob du dort gewesen wärest. Was du uns da sagtest, sind Gefühle des Einsamen in unserm Eichenwalde. Ich hoffe, auch die andern sind nicht ganz erloschen, da diese so kräftig in dir leben.

Ferdinand drückte ihm düster lächelnd die Hand. Als Ernst weggegangen war, wendete er sich zu Amalien, welche, in die [400] letzten Töne ihrer Laute verloren, dasaß, einem Träumenden gleich, der über einen entzückenden Gedanken eingeschlummert ist.

Sie schlug die Augen gegen ihn auf. (Die seinigen waren noch ganz von dem vorigen Gefühle begeistert.)

»Wie? und Sie hätten nie geliebt?«

FERDINAND: Einen Augenblick habe ich geliebt, und dieser einzige Augenblick lehrte mich alles, was ich jetzt gesagt habe.

AMALIE: Es ist ein Glück für Sie, daß es nur einen Augenblick gedauert hat.

FERDINAND: Es hätte zugleich mein letzter sein sollen, da es der größte, der glücklichste war, den ich gelebt habe.

Amalie ergriff ihre Laute wieder. »Wo ist mein Gemahl?«

FERDINAND: Man hat ihn abgerufen.

Amalie nahm ihren Sohn bei der Hand und entfernte sich. Ernst kehrte bald zurück:

»Du hast gewiß mit deinen leidenschaftlichen Äußerungen meine Amalie entfernt?«

FERDINAND: So scheint es.

ERNST: Ich glaube es wohl. Sie kennt dich noch nicht genug, sie weiß nicht, wie deine allzu lebhafte Einbildungskraft den Herrn über dich spielt und wie sehr sie sich in verwegenen, übertriebenen Vorstellungen gefällt. Solche Beweise innerer Kraft sind für uns Männer wohl zu vertragen, aber diese zarten Seelen werden dadurch erschreckt. Jetzt fehlt es dir an edlen Gegenständen, diese Kraft zu üben. Indes sei ruhig, diese edlen Gegenstände sollen dir nicht lange fehlen. Unser Vaterland braucht Männer.

FERDINAND: Unser Vaterland? Ernst, unser Vaterland?

ERNST: Ich hoffe, wir haben eins, und morgen hoffe ich, es zu sehen, oder besser, ich wäre in einer Wildnis geboren! Du weißt, der Adel versammelt sich morgen. –

FERDINAND: Ein verlorner Morgen mehr für dich.

ERNST: Für den, der seine Pflicht erfüllt, ist er es nicht, der Erfolg sei, wie er wolle. Es tut mir nur leid, daß der Minister noch vor Tage reisen muß. Er ließ es mir eben sagen, und ich eile [401] zu ihm. Er muß eilends nach ***. So geht es den kleinen Staaten, die nur in Ruhe glücklich sind, wenn die großen Unternehmungen wagen. Sie sollen und müssen, ob sie gleich des Schadens gewiß sind, das Spiel mitspielen und am Ende den Mächtigen zu dem auf ihre Kosten errungenen Vorteile Glück wünschen und sich höflich bedanken, daß man sie noch fortdauern läßt.

FERDINAND: Ich mag davon nichts hören. Es geschieht ihnen selten mehr als sie verdienen; und jetzt nun gar!

Mit diesen unfreundlichen Worten schied Ferdinand mürrisch von Ernsten. Das, was er von Amalien gehört und an ihr bemerkt hatte, durchglühte sein ganzes Wesen. Entzücken, Schauder, die höchste Wonne und die tiefste Erniedrigung wechselten in seinem Herzen. Noch wagte er es nicht, den Gedanken ganz auszudenken, die Möglichkeit desselben sich gegenwärtig vorzustellen. Er ging zu Renot und sagte diesem mehr, als er ihm sagen wollte, weil er kaum wußte, was er ihm sagte. Renot lächelte und stellte sich, als verstände er nicht, als sei ihm das nicht ganz klar, was Ferdinand aus seinen Bemerkungen folgerte. »Es freut mich«, sagte er, »daß das Geheimnis endlich seiner Enthüllung nahe ist, daß dieser hohe, auf Ida sitzende Jupiter der Prüfung so nahe steht; als ein Weiser bedarf er solcher Prüfungen und muß sie wünschen, um seine Tugend vor aller Augen zu bewähren. Ich sehe dieses als einen moralischen Versuch an, den ich nicht vergessen werde in mein Tagebuch aufzuzeichnen.«

Ferdinand horchte, ohne zu hören. Einmal über das andere rief er: »Renot, es ist unmöglich! eins so unmöglich wie das andere! eins so schrecklich für mich wie das andere!«

Renot ließ ihn träumen, aber seine kalten, giftigen Bemerkungen über Ernsten, sein Mitleiden mit Amalien nährten die wütenden Flammen in Ferdinands Herzen. Beim Weggehen schüttelte dieser Renots Hand und sagte:

»Verraten Sie mein Geheimnis, wenn Sie es entdeckt haben. Tun Sie es, ich bitte Sie; denn wahrlich, die Tugend ist keine Torheit, sie ist nur verraten unter Menschen, nirgends sicher, selbst bei dem Freunde nicht, selbst in dem Busen des Weibes nicht, und [402] gliche es einer Göttin an äußerer Reinheit und Erhabenheit. Das sag ich Ihnen, Renot. Aber sie ist, sie lebt in ihm, und in ihm müssen wir sie ermorden, um das ruhig sein zu können, was wir sind.«

RENOT lachend: Wie tragisch die Liebe macht! Das alles wird sich schon geben. Die Weiber verstehen das recht gut, ihnen muß man so etwas überlassen. Morgen wird man ja den Demagogen hören, morgen will er ja uns und den Staat ausgleichen.

FERDINAND knirschend: Warum tut er das? Und jetzt?

10.

Der größte Teil des Adels hatte sich in einem Saale versammelt, jeder wußte den Zweck der Versammlung, und aller Gemüter waren in dumpfer, stiller Gärung.

Einer der ältesten las die Aufforderung des Fürsten vor, worin es hieß: Man möchte in dieser bedenklichen Zeit beratschlagen, wie der Gefahr, die immer mehr nahe, zuvorzukommen sei. Jeder wisse, daß täglich neue, traurige Nachrichten von gesetzwidrigen Unternehmungen und aufrührerischen Äußerungen aus der Nachbarschaft einliefen. Der Fürst bäte sie demnach, sein bisher so treues und gutes Volk vor solchen gefährlichen Unternehmungen zu bewahren. Er für seine Person würde gern augenblickliche Vorteile und vorüberrauschende Ergötzungen, die oft so drückend wären, dem Glücke seines Volkes aufopfern, und er hoffe dieselbe Gesinnung auch von seinem Adel. Jedem von diesem würde bekannt sein, daß wirklich Bedrückungen obwalteten, die um so lästiger und schmählicher wären, da selbst diejenigen, welche sie ausübten, nichts dabei gewönnen, durch die Unterlassung aber wirklich gewinnen könnten. Diese Bedrückungen wären nun in dem gegenwärtigen höchst kritischen Zeitpunkte sehr bedenklich, weil sie die Gemüter durch das gegebene Beispiel so schrecklich erbitterten und selbst das wahre Gute und Nötige verhaßt und zweideutig machten. Er fordere darum gar nicht von dem Adel, daß er eins seiner wesentlichen Rechte aufgeben solle, die er selbst gegen jeden beschützen würde; er [403] wünsche nur, daß man das aufgeben möge, was sich für diese Zeit und die darin lebenden Menschen nicht mehr schicke.

Nach diesem Vortrage herrschte dumpfe Stille.

Nach einer langen Pause erhob Ernst seine Stimme:

»Ein edler, weiser teutscher Fürst, der Vater dieses Landes, der erste Edelmann dieses Landes, hat gesprochen, gesprochen wie es zu dieser Zeit noch keiner tat – Ist er keiner Antwort würdig?«

Noch tieferes Schweigen.

Ernst fuhr fort:

»Er hat für das treuste Volk gesprochen, für teutsche Männer zu teutschen Männern, für ein Volk, das es immer mit seinen Fürsten hielt, das selbst in dieser alles verkehrenden Zeit keine zweideutige Gesinnung geäußert hat, daß alle rechtliche Lasten, wie alle widerrechtliche, mit Geduld erträgt, das euch ernährt, von dem ein Teil jetzt für euch und eure Rechte blutet – ist dieses Volk eurer Aufmerksamkeit nicht würdig?«

Tiefes Schweigen.

»Bin ich noch ein Teutscher? Rede ich zu Teutschen? Ist der Boden, den ich betrete, wirklich mein Vaterland? Was sind wir hier zusammen? Bedenken Sie, meine Herren, daß nie ein Fürst eine menschlichere, eine wichtigere Aufforderung an seinen Adel hat ergehen lassen! Bedenken Sie, daß uns das Schicksal zu keiner Zeit bedeutendere Winke gegeben hat, daß wir jetzt die Stunden zählen müssen, die es uns noch verstattet! Wollen Sie mit Ihrem unbegreiflichen Schweigen die Aufforderung des Fürsten abweisen? Haben wir nicht schon in der Nähe und in der Ferne Beweise genug gegeben von dem Mangel des teutschen Gefühls, der teutschen Vereinigung? Wollen wir nun einen geben, wie zur Ehre unsrer Vorfahren die Geschichte keines Landes im teutschen Reiche einen aufgezeichnet hat? Noch einmal, dieses Landes Fürst fordert Sie auf! Er fordert Sie auf, um Ihres Heils, um Ihres eignen Daseins willen! Und schwiege auch die Menschheit ganz in Ihrem Busen, so ruft er Ihnen, um Ihrer Sicherheit, um Ihres Vorteils willen, zu: Gestatten Sie der Klugheit, was Ihnen spätere Notwendigkeit gewaltsam entreißen kann. –

Soll ich immer allein hier reden? Wohl! so sei es Wahrheit, die [404] Sie mir abzwingen. Und hören Sie auch diese schweigend an, so habe ich doch so viel gewonnen, daß ich allein sie laut gesagt habe.

Was haben Sie bisher getan, den immer mehr nahenden, fürchterlichen Stürmen auszuweichen? die Gefahr von sich, Ihren Kindern und Weibern abzuwenden? Sind Ihre Vorkehrungen, Ihre Hülfsmittel Ihres Ruhms, des Ruhms des teutschen Namens würdig? Soll ich sie Ihnen aufzählen? Von dem Augenblicke an, da jenes Volk das gefährliche Beispiel gab, vermehrten Sie die Last, die dieses treue Volk hier trug, und traten in Verschwörung gegen dasselbe zusammen. Von Ihrem eignen Gewissen gereizt, dungen Sie Ausspäher und Angeber, welche Ihnen die geheimen Gesinnungen und Gedanken dieses aufrichtigen Volkes zutragen mußten, ja die, um Ihr Gold zu verdienen und sich bei Ihnen wichtig zu machen, den treuen, unschuldigen Bürger durch Fragen und Vorspiegelungen zu Äußerungen reizen mußten, die man Ihnen als gefährlich vortragen konnte. Diese, mit allen denen, welche der Haß und der Eigennutz zum Opfer auswählten, wurden nun das Ziel Ihrer Verfolgung. So übergaben Sie den ruhigen Bürger der Gewalt dieser Elenden, so erzeugten Sie das Mißtrauen zwischen Bürger und Bürger, zwischen dem Fürsten und seinem Volke. Gelang es Ihnen bei ihm nicht, so gelang es Ihnen vielleicht von der andern Seite. Soll es dahin kommen, daß er in seinem Volke Verräter sehe, sein Volk in ihm, seinem Vater, einen feigen Tyrannen, der seinen fürstlichen Sitz schon unter sich beben fühlt? Wenn Sie dieses suchen, so haben Sie freilich die besten Mittel dazu erwählt, aber ich verweise Sie auf die Zukunft, wegen des Erfolgs für Sie.

Und wenn Ihre Blicke hier mich töten sollten – Sie schweigen ja, so lassen Sie mich reden! – Blicken Sie ergrimmt auf mich und schweigen Sie, bis Wort und Tat zu nichts mehr helfen.

Selbst die Prediger, die Lehrer der milden Menschlichkeit, der Güte und Sanftmut, haben Sie zu ihren Mitverschwornen gemacht. Sie, die das Volk in diesen traurigen Zeiten unterrichten und trösten sollten, mußten von den Pflichten der Untertanen reden, als sprächen sie zu Sklaven, die Englands Gold an der brennenden Küste von Afrika kauft, in Ketten schlägt und nach andern [405] Welten schickt, um dort unter dem Drucke des Elends, den qualvollen Strafen das Gold zu erwerben, wofür ihr Herr ihre zurückgelaßnen Brüder kaufen kann, wenn sie selbst entkräftet niedersinken. Soll Ihnen unser menschlicher Fürst dafür danken, wenn er seinem Volke unter diesem Bilde erscheint? Kann einer von Ihnen sagen, daß er ihm gleicht? Glauben Sie das Volk durch solche Vorspiegelungen in dem blinden, sklavischen Gehorsam zu erhalten, den Sie von ihm fordern? Glauben Sie, ihm dadurch Mut zu Ihrer Verteidigung einzuhauchen? Glauben Sie, das Volk sei so blödsinnig, Ihre Absichten nicht einzusehen? nicht einzusehen, woher Ihre plötzliche Furcht, Ihr Beben, Ihr Trotz, Ihre verlorne Hoffnung, es bei nahender Gefahr zusammenzuhalten, entspringen? Meinen Sie, es sähe nicht die Larve und den Grund der Heuchelei ein, wenn nun der längst verschriene Ungläubige am öftersten zur Kirche geht? wenn Leute laut beten, die schon lange Gott vergessen zu haben schienen? wenn die, welche einst über alles spotteten, sich laut zu Aufklärern des Haufens aufwarfen, nun den tollsten Wahnsinn, den verworfensten Aberglauben in Schutz nehmen und zu befördern suchen? wenn sie die Vernünftigen, welche dieser Unsinn empört, lästern und als Feinde der guten Sache und der Fürsten ausschreien? Nur die, welche dieses tun, machen die Sache der Fürsten verdächtig und untergraben ihre Throne; denn durch diese Mittel suchen sie Mißbräuche der Macht zu heiligen, um die ihrigen zu sichern. Nur durch diese Mittel enthüllen sie dem Auge, was sie fürchten.

So soll Heuchelei, Betrug, Gewalt, Ausspäherei, geheime Anklage zusammenhalten, was der Lauf der Zeit untergraben hat? Und was für ein Gemälde von dem gemeinen Wesen stellen Sie den Menschen auf, wenn es solcher Stützen bedarf!

Was fordert der Fürst jetzt von Ihnen? Mißbräuchen zu entsagen, die schon zu lange dauern, das Volk drücken und für Sie ganz unbedeutend sind, dem Volke zu zeigen, daß Sie seiner gedenken. Vor vielen Jahren, noch ehe ich geboren wurde, hob mein Vater diese Mißbräuche auf, und ich darf kühn sagen, kein Gut im ganzen Lande trägt im Verhältnis mehr und keines nährt glücklichere, zufriednere Arbeiter.

[406] Ich sehe es ja – Schweigen, Unwille, Haß, Grimm, starre und flammende Blicke sind Ihre Antwort. Mögen Sie mir drohen! ich fürchte keinen von Ihnen, ich fürchte Sie alle, verbunden gegen mich allein, nicht. Jetzt habe ich meine Pflicht getan, als teutscher Mann für meinen Fürsten, für das Vaterland gesprochen. Ich betrog mich nur darin, daß ich glaubte, ich spräche zu Teutschen. Fahren Sie nur so fort, nennen Sie die Patrioten Aufrührer, fachen Sie den Parteigeist an, beschützen Sie die geheimen Angeber, lösen Sie alle Bande der Gesellschaft auf, zerstören Sie alle moralische Bande, alle bürgerliche Tugend, malen Sie den Fürsten als einen Tyrannen, das Volk als Verräter, übertünchen Sie Ihren Stolz, Ihre Hab- und Herrschsucht, Ihre Mißbräuche, Ihre Gewalttätigkeiten mit den Sophismen, welche der Zeitlauf beschöniget, treiben Sie es auf dem ganzen teutschen Boden mit allen, die eines Geistes mit Ihnen sind, so weit, bis das Ungeheuer aus der Finsternis plötzlich hervorspringt, in die Sie alles einhüllen möchten! Dies Ungeheuer wird nur Ihr Werk sein. So laden Sie die rächende Nemesis, die nun dort ihre Strafe ausübt, auch auf den teutschen Boden ein – Ruft dann, wenn alles um euch her zerfällt: des Fürsten waren wir nicht wert!«

Kalt erhob der Präsident die Stimme:

»Wir achten den Fürsten, darum schweigen wir. Durch unsre Rechte wollen wir die seinigen erhalten, darum schweigen wir. Unsre Antwort für jeden andern liegt in den Ereignissen des Tages. Jeder von uns in dieser gefährlichen Zeit getane Schritt kann Verrat an unserm Fürsten, den Mitständen, dem erhabenen Oberhaupte des Reiches werden. Dieses ist des Adels Antwort. Laßt Ruhe und Frieden wiederkehren ... beraten wir, dann scheint das nicht erzwungen, was wir geben, dann wird man uns danken. Jetzt würde jede Wohltat ein Beweis des Zwanges, des Schreckens sein, und wohin dies führt, beweisen uns unsre Nachbarn. – Ihre Rede würde sich übrigens in einem gewissen Klub in Paris recht gut ausnehmen, und sie ist Ihres Lehrers des mehr berüchtigten als berühmten Rousseaus, wert. Doch was Frankreich ihm verdankt, wollen wir ihm nicht verdanken, und sollten wir auch das Unglück haben, seinem feurigsten Schüler zu mißfallen.«

[407] Diese Worte drangen mit allem ihrem Gifte in Ernstens Seele; doch faßte er sich:

»Und dies ist alles, was der Fürst zur Antwort erhält?«

PRÄSIDENT: Alles, was Sie zur Antwort erhalten. Wir sind nicht allein dieses Fürstentums Adel, wir sind auch des Reiches Adel, haben Pflichten gegen dessen erhabenes Oberhaupt. Und nun noch eine Frage von unsrer Seite an Sie: Sagten Sie alles, was Sie uns sagten, kraft der Vollmacht des Fürsten?

ERNST: Nein.

PRÄSIDENT: Wir dachten es wohl! Und es ist darum gut zu wissen, wenn diese Rede etwa bis zu höhern Orten gelangte. So liegt ja in Ihrer Antwort unsre Rechtfertigung, und hier sind der Zeugen genug.

ERNST: Nun erlauben auch Sie mir eine Frage: Wer ist der Aufrührer (denn dieses wollten Sie mir doch vorhin sagen), der, welcher seines Fürsten Antrag mit Schweigen beantwortet, oder der, welcher Sie zur Beherzigung desselben nach Pflicht und Gewissen auffordert?

PRÄSIDENT: Unser Schweigen ist weiser, ehrfurchtsvoller für den Fürsten als Ihr Reden.

Leise zu ihm: Sie werden nun erst die Kraft des Wortes System kennenlernen, das Ihnen in Ihrer Jugend so abscheulich vorkam.

ERNST ebenso leise: Eben weil ich es mir damals so dachte, kam es mir so vor, und Sie haben nie ermangelt, seine Bedeutung in diesem Sinne zu rechtfertigen.

11.

Ernst ging zu dem Fürsten und meldete ihm alles, was vorgefallen war. Der Fürst hörte ihn an und sagte endlich:

»Junger Mann, wir sind hier die einzigen Teutschen. – Die Herren wollen es so, und mir bleibt nichts übrig, als zu wünschen, daß sie den heutigen Tag nicht zu bereuen haben mögen. Ich fühle, was ihnen früh oder spät bevorsteht, und kann es nicht ändern. So handeln wir hier, während die wenigen Edlen und Tapfern für das Vaterland fruchtlos fallen.

[408] Fassen Sie Mut! Sie brauchen ihn jetzt; denn an diesem Tage muß ich Ihnen noch ein Trauerbote sein. In der letzten Schlacht, wo abermals das Blut der Teutschen floß –«

ERNST: Mein Vater –

FÜRST: Er ist schwer verwundet.

ERNST: Oh, er ist tot!

FÜRST: Den Nachrichten zufolge, die ich erhalten habe und die einander widersprechen, nicht. Reisen Sie und stärken Sie ihn durch Ihre Gegenwart. Sie werden ihn in *** finden. Kann es Sie trösten, so sage ich Ihnen von ganzem Herzen: Sie verlassen einen Freund in mir, der auf Sie zählt, auf den Sie zählen können. Und nun geschwind. – Sie müssen noch heute fort.

Er reichte Ernsten die Hand, zog ihn in seine Arme und drückte ihn an seine Brust, indem er sagte:

»Vergessen Sie nicht, daß ich auf Sie zähle, daß ich in diesen schweren Zeiten Ihrer bedarf, daß Ihr Vater Ihre Pflicht mit seinem Blute auf den teutschen Boden geschrieben hat!«

Als Ernst aus dem Zimmer des Fürsten trat, bemerkte man seine Blässe, seine Tränen, sein Schwanken, sein hastiges Eilen. Die Bosheit faßte es auf, deutete es nach ihrem Wunsche und frohlockte schon über seinen vermeinten Fall. Sowie Ernst nach Hause kam, befahl er, die Post zu bestellen und alles zur Abreise fertig zu machen. Er eilte zu Amalien, bei welcher er Ferdinanden fand. Die Worte des Fürsten hatten ihm sein Unglück nur allzu klar angedeutet, er sagte also, sein Vater sei wirklich tot oder habe nur kurze Zeit zu leben und er reise in dieser Stunde ab. Er fragte nach seinem Franz. Ferdinand lief, ihn zu holen. Tief gerührt nahte sich Ernst Amalien, sie ließ ihr Haupt sanft auf seine Schulter sinken, und Tränen füllten ihre Augen. Sie bat ihn, Ferdinand mitzunehmen, da er gewiß in dieser für ihn so traurigen Lage eines Freundes bedürfte.

Ernst antwortete, indem er sie zärtlich küßte: »Sein Sie nicht für mich besorgt, Ihr Geist, Ihre Wünsche werden mich dorthin begleiten. Ich weiß ja, daß ich hier die Quelle meines Trostes und Glückes zurücklasse und daß ich sie wiederfinde.«

[409] AMALIE: Ich bitte Sie, nehmen Sie Ihren Freund mit. Um der Gefahr willen –

ERNST: Wäre Gefahr für mich, so würde ich ihn umso weniger zum Begleiter wählen, und Sie wissen ja, er ist nicht in der Stimmung, die einem kummervollen Herzen wohltut. Wann ich ruhig bin, kann ich alles von ihm ertragen, da ich die Ursachen fasse. Vielleicht könnt ich dieses in meiner jetzigen Lage nicht, vielleicht könnte ich vergessen, daß er unglücklich ist. Liebe, die Menschen verlassen mich alle hier, ich will mir gerne den Freund meiner Jugend erhalten. Sagen Sie ihm darum ja nichts von meiner Äußerung über ihn, seine lebhafte Einbildungskraft könnte sie leicht in einem gehässigen Lichte ansehen.

AMALIE: So erlauben Sie, daß ich Sie begleite.

Ernst küßte sie heftig: »Oh, ich danke Ihnen für den Gedanken, für die Empfindung –«

Amalie sank auf den Sofa und drückte ihre Hände an ihre Brust. Ferdinand trat mit Franz herein, und Ernst fuhr fort:

»Dieser – unser Franz bedarf Ihres Schutzes, nur unter Ihrer Aufsicht kann ich ihn verlassen.«

Als Franz hörte, daß sein Vater ihn verlassen würde, rief er: »Nimm mich mit, Papa! Du weißt, der Großvater liebt mich, und wenn er krank ist, will ich bei ihm sitzen, wie ich bei der Mama sitze, wenn ihr nicht wohl ist.«

Ernst sagte ihm, das ginge nicht an, und führte ihn zu seiner Mutter. Dann wendete er sich zu Amalien:

»Alles das, was mein Glück auf Erden ausmacht, verlasse ich heute zum erstenmal.«

Der Knabe schrie nun heftiger: »Nimm mich mit, Papa!«

Der Abschied war von Amaliens Seite düster, traurig, von seiten Ferdinands leidenschaftlich, beklommen. Ernst riß sich ohne Worte aus Amaliens Armen – und als er Amalien mit der einen Hand und Ferdinand mit der andern umfaßte und in der Betäubung von dem freundschaftlichsten Gefühle beider Hände ineinander legte, stürzten seine zurückgehaltnen Tränen aus seinen Augen. Er drückte Franz an sein Herz und eilte schnell weg.

[410] 12.

Ernstens letzte Beurlaubung von dem Fürsten und seine plötzliche Abreise schienen nun seinen Feinden einen Triumph zu versprechen, aber der Fürst ließ sie nicht lange in diesem Wahne.

Als er den folgenden Tag in dem geheimen Rat sein Mißvergnügen und seinen Kummer über das Betragen des versammelten Adels zeigte, entschuldigte sich jeder der Gegenwärtigen mit dem Vorwande, Ernst habe durch seine Heftigkeit, durch seine Anmaßungen, seine beleidigenden Vorwürfe die Gemüter der meisten so erbittert, daß auch den Kältesten und Verständigsten nichts anderes übrig geblieben als für jetzt zu schweigen, um in einer so wichtigen Sache das Ansehen Sr. Durchlaucht nicht auszusetzen.

Der Fürst antwortete:

»So bin denn ich und mein Ansehen es abermals, die hier dem Guten im Wege stehen mußten! Doch, meine Herren, ich kenne die Ursache von dieser zarten Gewissenhaftigkeit meines Adels nur allzu genau und weiß, was Sie zu beschützen suchen, indem Sie meine Macht zu beschützen vorgeben; und darum kann ich Ihnen nicht dafür danken, wie Sie vielleicht wohl gar erwarteten. Auch weiß ich sehr wohl, wie sanft und gesetzt Herr von Falkenburg anfangs gesprochen hat. Aber er sprach zu Schweigenden – zu Schweigenden, von denen ich Antwort forderte – ich, Ihr Fürst, dieses Volkes Fürst und Vater! und zwar über einen so wichtigen Punkt, daß Ihr Schweigen auch den Weisesten hätte empören müssen. Dieses Schweigen bewies nun freilich dem edlen Manne, wie es auch mir beweist, daß man über meinen Antrag schon entschieden hatte, bevor man Ihnen denselben vorlas. Da sprach freilich der junge Mann ein Teutsch, das, mit vielem andern Schönen, unter uns veraltet zu sein scheint. Doch ist es gut, daß es zuzeiten noch erschallt, und diente es auch nur dazu, daß es uns den geraden, offnen, biedern Sinn unsrer Väter erklärt und zurückruft; wir würden sonst sogar die Erinnerung daran verlieren. Hätten auch sie geschwiegen, wie jetzt mein Adel schweigt, wie stände es nun mit uns!

[411] Noch ein Wort, und dann entlaß ich Sie für heute; denn ich bin wahrlich nicht gestimmt, über Kleinigkeiten nach der Form zu urteilen, da ich das Wahre, das Gute nicht erreichen kann.

Ich stelle das Schweigen meines Adels zwischen Gott, mein Volk und mich!«

13.

Als Ernst in *** ankam und sich bei dem kommandierenden General nach seinem Vater erkundigte, erfuhr er die Gewißheit seines Unglücks. Sein Vater war in der Schlacht geblieben; eine Kanonenkugel hatte ihn in dem Augenblick getötet, da er mit einem Bataillon eine feindliche Schanze ersteigen wollte, die schon einigemal vergebens und mit großem Verluste angegriffen worden war. Da der Feind das Schlachtfeld behauptet und die Sorge für die Toten übernommen hatte, so verlor Ernst auch den einzigen letzten Trost, bei dem Grabe seines Vaters zu weinen. Er verschwand ihm in die Geisterwelt, ohne für ihn eine Stätte der Vereinigung auf Erden zu hinterlassen. Der General, welcher den schrecklichen Eindruck dieser Nachricht auf ihn bemerkte, sagte:

»Ihr Verlust ist unersetzlich, und Worte können Sie jetzt nicht trösten, aber zum Nachruhm Ihres Vaters muß ich Ihnen sagen: wenn Teutschland viele Männer seinesgleichen hätte, so ständen wir nicht, wo wir stehen. Uns fehlt der Geist, der ihn beseelte; und nur durch diesen vermöchten wir jene Scharen zu besiegen.«

Aber in seinem Hause, da, wo er nach seinem Verluste, in der Lage, in welche seine edlen Gesinnungen für seinen Fürsten, seine aufrichtigen Bemühungen für sein Vaterland ihn nach und nach geführt hatten, Trost und Ersatz erwartete, da entschied sich, eben in diesem für ihn so schmerzvollen Augenblick, sein Schicksal auf das schrecklichste. Seine Ruhe war schon ermordet, alle Blüten seines jugendlichen Traumes, seines schönen Lebens verdorret und zertreten. Die Quelle seines Glücks, welche ihm die Reinheit seiner Tugend, die Erhabenheit seines Sinnes so zusicherte, daß er, stark in diesem Glauben, allen Schlägen des Schicksals, aller Bosheit der Menschen entgegenging, war versunken, so versunken, daß sein Auge die Spur davon nicht mehr [412] entdecken, sein durstendes Herz an dem Abgrund, in welchen sie sich verloren hatte, vertrocknen, erstarren sollte.

Die Verachtung, der Hohn, der Haß, womit Ernstens Feinde unermüdet von ihm sprachen, die Entwürfe, die sie in ihrer Wut gegen ihn schmiedeten, die Ursachen, womit sie alles rechtfertigten, was sie taten und sprachen, machten nach und nach auf Ferdinands Herz, das in eine sträfliche, vermessene, alle Sinne verschlingende Leidenschaft ganz versunken war, einen solchen Eindruck, daß sich in ihm das lockre, kaum noch fühlbare Band der Freundschaft, der Achtung und Pflicht völlig auflöste. Das wilde Geschrei dieses Hasses, dieser Wut und dieses Hohns ward dem Verblendeten was dem noch schwankenden Verbrecher die Sophismen einer durch die heftigen Begierden verdunkelten Vernunft sind. Er sah in seinem Freunde nur den Volksaufwiegler, den Mitgenossen der Zerstörung seines ehemaligen Glücks, den kalten Besitzer des schönsten Weibes auf Erden, das er selbst mit aller der Kraft und Heftigkeit liebte, deren sein durch Renot und die Welt verderbtes, unbändiges Herz, seine glühenden Sinne, die kein anderes Gesetz erkannten als den Genuß, und seine alle Schranken überspringende Einbildungskraft fähig waren. Sein Verlust, sein Neid, seine aus seinem vermeinten Unglück entspringende melancholische Stimmung reizten unaufhörlich seine Leidenschaft. Renot blies leise und um so gefährlicher in die Flammen, die sein Herz verzehrten. In dessen Gegenwart dachte Ferdinand nicht mit einem Gedanken an seinen Freund, nur wenn er Franzen, den sanften, lieblichen Abdruck seines Vaters, sah, lief kalter Schauder durch seinen Busen. Aber glühendes Feuer folgte auf die Erschütterung, wenn er in Amaliens düstre Augen blickte, wenn sie sprachlos vor ihm saß, wenn eben dieses feierliche Schweigen, ihre unwillkürlichen, hastigen Bewegungen, die wechselnde Röte und Blässe auf ihren Wangen, ihr plötzliches Entfernen und Wiederkehren bezeugten, was in ihrem Herzen vorging. In ihrem Zimmer herrschte jetzt die Stille, welche dem Verbrechen vorausgeht – düster, drohend, anlockend, anziehend und dahinreißend durch das schaudervolle, feierliche, das schmachtende Leiden, das [413] Kämpfen, die Blicke, die umso mächtiger reden, je mehr man sie zu bemeistern sucht, durch die bebende Furcht, das Heben des geängsteten Busens, die fliegende Röte, von dem Zurückdrängen der kühnen Wünsche erzeugt. Es erscholl kein Laut mehr. Selbst die Musik, der Gesang verstummte. Klavier, Harfe und Laute waren in das Nebenzimmer gebracht und fest verschlossen, Amaliens Geist schien zu ahnden, daß sie die Urheber der ihn so schrecklich drückenden Schuld wären.

So saßen die Unglücklichen ganze Stunden, Abende und Tage zusammen, wie von dem mächtigen Schicksal in den magischen Kreis gefesselt, den der gefährliche Zauber der Sinne um sie gezogen hatte. Sie saßen gegeneinander, als stände ein drohender Todesengel zwischen ihnen, als säßen sie vor einem Abgrunde, den die bezauberte Einbildungskraft mit einem glänzenden Nebel ausfüllt und aus dem Gespenster aufsteigen, wenn man ihm nahet. Doch über dem Abgrunde, dem Grabe der Tugend, der Pflicht, des Glückes, verdickte sich der Zauberdunst immer mehr, verhüllte immer mehr den Todesengel vor den entflammten Sinnen der Vermessenen, der Verblendeten. Der Anblick der immer Kämpfenden stellte Ferdinand zwischen Leben und Tod. In einer Sekunde, da ihre Blicke sich begegneten und ihre Herzen und Seelen sich in diesen Blicken gegeneinander öffneten und ihr ein Laut entfuhr, als löse sich ihr Leben auf, lag Ferdinand auf den Knien vor ihr und drängte gewaltsam sein Haupt an ihren Busen. Die Lippen des Unglücklichen berührten ihre Lippen und lösten das heilige Siegel der Pflicht.

In diesem Augenblick öffnete der kleine Franz hastig die Tür, streckte sein blondes, liebliches Köpfchen herein und rief freudig:

»Der Papa kommt!«

Das Mädchen hatte ihn mit diesem Zuruf von einem gefährlichen Spiel abhalten wollen, er glaubte es wirklich und lief, seiner Mutter die freudige Nachricht zu verkündigen.

Kaum vernahm Ferdinand seine Stimme, kaum erblickte er das unschuldige, heitere Bild seines Freundes, als er wütend auffuhr und hastig nach der Tür sprang. Der Knabe erschrak vor dem Blicke des Wütenden, er floh und fuhr in der Angst gewaltsam [414] mit der Brust gegen die scharfe Ecke des Klaviers. Er stürzte zu Boden. Ferdinand raffte ihn auf, Amalie eilte hinzu. Aus dem Munde des Knaben floß Blut.

Schmeichelnd sagte Franz: »Es ist nichts, Mama, erschrecken Sie nicht.«

Ferdinand zerschlug seine Stirne. Amalie sah starr vor sich hin. Ihre Augen begleiteten das Blut, das aus dem Munde des lieblichen Kindes floß.

Ferdinand rief um Hülfe. Man eilte hinzu – das Blut hörte auf zu fließen, und man trug den bleichen Knaben in ein Nebenzimmer auf den Sofa.

Amalie stand noch immer mit Ferdinand vor dem Blute. Plötzlich faßte sie seine Hand und sagte mit einem dumpfen, lispelnden Tone, indem sie mit ausgestrecktem Finger auf den Boden zeigte:

»Blicken Sie nur dahin auf dieses Blut! Sehen Sie diese Purpurtropfen nur an, die dem unschuldigsten Herzen entflossen, es sind die ersten Früchte des Verbrechens – sie reifen schnell!«

FERDINAND: Sie töten mich, da ich kaum noch lebe – Es war Zufall und wird nicht von Folgen sein.

AMALIE: Es wird von großen Folgen sein – Und Zufall? Zufall nennen Sie dieses? Wenn dieses Zufall ist – gen Himmel blickend – was bist dann du? Oh, so war es denn auch Zufall, daß ich einst einige Worte hören mußte, die an den Ohren aller andern Horchenden ohne Wirkung vorüberflogen und die nur hier so anschlugen, daß ihr Laut mir immer fortklang und der Blick, der sie begleitete, nie wieder aus meiner Seele verschwindet. Ich weiß nun nicht mehr, was ich bin, ich weiß nicht, was Zufall ist; denn ich fühle nur, daß Sie dieses da durch mich, und ich durch Sie, getan habe. Und Sie sagen noch, es werde nicht von Folgen sein? – Ferdinand, solcher Tropfen, wie diese da, werden mehrere fließen, sie werden langsam dem Herzen Ihres Freundes entquellen. Und ich – ich Unglückliche fühle schaudernd diesen Augenblick, daß dieses Verbrechen und seine Folgen mich noch mehr an seinen Urheber, den ich verabscheuen sollte, fesseln – ja mehr als das vorher Begangene, weil ich die Vorstellung dieses und alles dessen, was geschehen ist, geschehen [415] wird, nicht allein ertragen kann. Nun müssen Sie die Last mit mir tragen. Uns beide unterwirft dieses Verbrechen dem schrecklichsten Joche der Vereinigung.

Sie ging nach dem Nebenzimmer und kehrte nach einigen Minuten zurück.

Ferdinand wagte es nicht, sich nach Franzen zu erkundigen.

AMALIE: Die einzige Brust zerschlagen, an der er sicher ruhen konnte, das einzige Herz zerdrückt, das ihn treu liebte – oh, es ist schrecklich! Und er ist blaß, ruhig, entkräftet und küßt zärtlich besorgt die Hand seiner Mutter, die ihn tötete. Ja, Ferdinand, von allen unseligen Gaben, die dem Geiste des Menschen zu seinem Unglücke verliehen sind, ist die unseligste, sich Ideale zu bilden und zu schaffen. Dieses fühle ich, dieses ist mein Fall mit Ihnen.

FERDINAND: So sei es der unsrige! Ich habe in einem Augenblick alles Leben gelebt und kann nun sterben, kann sterben, ohne es zu bereuen. Sie können mir gebieten zu sterben, aber das, was geschehen, ist nun außer Ihrer, außer der Menschen Gewalt. Das Schicksal hat damals über uns gesprochen, als unsre Blicke einander begegneten, es hat uns hierher geführt. Ich bin zu allem bereit. –

AMALIE: Ja, uns verbindet ein unauflösbares Band, hier knüpfte es nun das Schicksal über das Grab hinaus – vor einigen Augenblicken konnte es wenigstens durch das Leben noch getrennt werden. Fassen Sie sich nur immer, bereiten Sie sich auf Qualen, die nun unser Werk sind. Es ist geschehen, es ist geschehen, wovor ich bebte, und es muß geschehen, was das Schicksal mit dem Blute des süßen Knaben, des Lieblings seines Vaters, hier aufgezeichnet hat. Auch ich bin nun bereitet, alles zu empfangen, was ich verdient habe. Ich konnte nie aufhören, Sie zu lieben, kann ich es jetzt? Und könnte ich es – würde ich nicht unglücklicher als ich bin? Jetzt teilen Sie mit mir, jetzt kann ich mein Verbrechen in das Herz des Mitverbrechers schleudern, jetzt müssen Sie mit mir leiden und mich vor Verzweiflung retten.

Sie drückte ihre Lippen auf die seinigen, und dieser Kuß verknüpfte die Unglücklichen, entfernte alle Rettung.

AMALIE: Ich fasse mich nicht – in diesem Augenblick steht er [416] hier vor mir – Erinnern Sie sich, als er hier, hier auf dieser Stelle, gerührt durch den ersten Abschied von seinem Weibe, unsre Hände faßte, ineinander legte und dann seine Tränen, Unglück weissagend, aus seinen Augen drangen?

FERDINAND: Ja, ich erinnere mich. – Oh, warum mußten Sie ihm Ihre Hand geben, ihm, den Sie nicht liebten!

AMALIE: Ich gab ihm meine Hand, weil ich sie keinem edlern, würdigern unter allen Männern geben konnte. Ich würde sie ihm gegeben haben, auch wenn Sie gegenwärtig gewesen wären. Die Verblendete traute sich, ihrem Geiste und glaubte, ihr Herz gliche diesem. In dieser Täuschung dachte ich nicht, daß, indem ich die Hand des edelsten Mannes berührte, ich ihm die Hand des seiner unwürdigsten Weibes darreichte. Jetzt begreife ich es, jetzt begreife ich, jetzt sehe ich, wie ich fallen, selbst an seiner Seite mich nach diesem Falle sehnen konnte. – Und nun gehen Sie. Jetzt erwarte ich den Arzt.

FERDINAND: Werden Sie ihm die Wahrheit sagen?

AMALIE: Die Wahrheit – ach ja, Sie erinnern mich an das, was ich nun bin, daß ich in meiner Lage keiner Tugend mehr mächtig bin. Darum sagt Ernst, es gibt nur eine Tugend für den Mann und das Weib, und sie muß fest beisammen gehalten werden, denn sie kann keinen Verlust ertragen, auch den kleinsten, unmerklichsten nicht. Schlafen Sie nun wohl. Sie haben Ihren Wunsch erreicht, ich den meinigen. Wir müssen nun tragen, was erfolgt; für mich ist nach jenem Augenblicke keine Rückkehr mehr! – Gehen Sie. Es ist schon spät, und wir müssen von nun an den Anstand beobachten; gestern brauchten wir das noch nicht.

14.

Amalie setzte sich bei Franz nieder, und der Knabe versicherte ihr, es sei ihm ganz wohl, ganz leicht. Er fürchte nur, Ferdinand mochte böse auf ihn sein, daß er ihn erschreckt hätte, er bat seine Mutter, sie möchte ihn wieder gut machen; nur sei es schade, daß das Mädchen eine Lüge gesagt. Dann fragte er, ob sein Vater bald kommen würde.

[417] Amalie antwortete: »Er wird bald kommen«; und ihre Tränen flossen.

FRANZ: Weinen Sie nicht, Mama; ich bin schon wieder gesund. Es ist recht gut, daß ich geblutet habe. Papa sagt mir immer, wenn ich aus der Nase blute, es erleichtert den Kopf. Nun, da ich aus der Brust geblutet habe, wird es wohl das Herz erleichtern. Das tat es gleich; denn als ich Ferdinand so böse sah, klopfte es mir so heftig.

Jedes Wort war ein Dolchstich in das Herz Amaliens, und nun sagte sie mit bebender Lippe:

»Franz, du mußt dem Arzte nicht sagen, daß du vor Ferdinand erschrocken bist, daß du dich darum gestoßen hast; auch dem Papa nicht, er möchte auf Ferdinanden zürnen.«

FRANZ: Gewiß nicht, Mama! Ich war ja an allem schuld. Warum kam ich auch, als wollt ich hören, was Ihnen Ferdinand Geheimes sagte! Hat Papa mich nicht immer gelehrt, ich müßte das nicht tun? Zwar wußte ich's nicht und war voller Freude und wollte Ihnen und ihm die frohe Nachricht zurufen. Ich werde es keinem Menschen sagen, daß der gute Ferdinand einmal auf mich böse war. Er liebt mich und sagt mir oft, ich gliche dem Papa und er glaubte immer, er sähe ihn in mir vor sich, wie er damals war, als sie noch als Kinder zusammenlebten.

Amalie hob ihre Augen gen Himmel und lispelte in ihrem Herzen: »Du rächest dich schrecklich! Des unschuldigen Kindes Worte sind Schwerter, welche die Seele durchdringen.« – Mater dolorosa! sang sie in zitterndem Tone und küßte den bleichen Knaben, legte ihn bequemer und berührte seinen zarten Leib mit einer Behutsamkeit, als fürchtete sie, die erschütterte Seele könnte ihm unter ihrer Berührung entfliehen.

Der Arzt kam. Amalie sagte ihm, das Kind habe sich aus Übereilung an die Brust gestoßen und stark aus dem Munde geblutet. Der Arzt fand den Umstand wegen des zarten Alters bedenklich und sagte leise zu ihr: »Wenn die Lunge nicht durch die Erschütterung gelitten hat, so hoffe ich, es soll vorübergehen. Ich bitte Sie, ihn ruhig zu halten.«

Amalie wachte lange bei dem Kinde. Es entschlief sanft, aber [418] seine Blässe war ihr ein Bild des Todes, sein leises Atemholen ein Zeichen nahender Auflösung. Ihre Nacht war schrecklich, nur am Morgen schien sie mehr gefaßt und entschlossen. Das Weiche, Zärtliche schien ganz verschwunden, aber dafür lag auf ihrer Stirne, in ihren Augen, ihrer Stimme der düstre Ausdruck der Entsagung. Jeder, der sie sah, mußte glauben, das ruhigste, erhabenste Gefühl habe nach einer gefährlichen Erschütterung ihre Seele so gestimmt. Als Ferdinand kam, lächelte sie ihm zu. Er ergriff ihre Hände, drückte sie an sein Herz und sagte:

»Soll ich heute noch leben?«

AMALIE: Sie sollen, Sie müssen es. Das, was uns erreichen soll, eilt mit schnellen Schritten auf uns zu, wir können ihm nicht mehr entgehen.

FERDINAND: Oh, so lassen Sie uns nur einen Augenblick in dem Gefühle leben, das mich gestern gewaltsam zu Ihren Füßen hinwarf. Lassen Sie uns träumen, es sei nichts vorgefallen seit jenem unbegreiflichen Augenblicke.

AMALIE: Dieser Augenblick hat gewirkt, er entfloh nun und kehret niemals wieder. Ich habe eine Nacht gelebt, wovon ich keine Ahndung hatte, und die Ihrige ist wohl nicht besser gewesen. Wenigstens sehen Sie darnach aus. Nun habe ich mich gefaßt, wie der zum Tode Verurteilte, der noch wenige Zeit zu leben hat. Der Unglückliche möchte so gerne genießen, was man ihm anbietet, so gerne nach einem andern Gegenstande hinblicken, umsonst! er sieht nur das nahe, schreckliche Ende, und auch die wenigen, noch übrigen Minuten entfliehen ihm ungenutzt.

FERDINAND: Amalie! und dies nennen Sie gefaßt sein? und Sie sagen, ich soll leben? In diesem Zustande kann ich Sie nicht lange sehen, ich kann selbst den meinigen mit aller meiner Kraft kaum ausdauern. Wohl! Von uns dreien muß eins das Opfer sein; so sei ich es! Ich verschwinde, Sie vergessen mich und sind so glücklich, als sei nichts geschehen.

AMALIE: Sie jetzt vergessen, da ich Sie vorher nicht vergessen konnte? Und ich sollte so glücklich sein, als sei nichts geschehen? Nichts geschehen! Und wenn jetzt auch geschähe, was vorher unmöglich war, wenn ich mich von dieser unbezwinglichen Leidenschaft [419] befreien könnte, die mich gewaltsam zu Ihnen hinzieht, bin ich noch das Weib, das ich gestern war? Zerbrach nicht mein Gelübde auf Ihren Lippen? Ist nicht alles in mir zerstört? Ist da nichts geschehen? kann, konnte noch mehr geschehen? Findet er mich, wie er mich verlassen hat? Ich bin so tief unter ihn gefallen, daß mein Geist die schreckenvolle Tiefe nicht anzublicken wagt; soll ich nun ebenso tief unter mich selbst sinken und ihn als Betriegerin aufnehmen? Das vermag ich nicht; denn so wenig ich dem hinwelkenden Knaben, seinem Lieblinge, die vorige Blüte wiedergeben kann, ebenso wenig kann ich mir meinen vorigen Sinn, meine vorige Reinheit wiedergeben. Und darum kann ich seine Gattin nicht mehr sein. Fliehen Sie nur! Er wird darum nicht glücklicher, ich werde nur unglücklicher; denn wenn ich Sie verliere, so wird mir das Verbrechen selbst unnütz. (Dieses sprach sie mit Spott aus.)

Ferdinand faßte diesen Gedanken mit der heftigsten Leidenschaft; er umschlang sie. Sie ertrug seine glühenden, wilden Küsse, aber als er sich zu vergessen schien, wand sie sich aus seinen Armen, hielt ihn zurück und rief:

»Dieses! dieses sind die Täuschungen, die meine Seele so lange bezauberten! diese Ergießung der Liebe war es, was meiner verblendeten Seele so lange vorschwebte – dieses allein. Kommen Sie! Sie haben dem Kranken noch keinen guten Morgen gesagt. Sie sollen selbst hören, wie er trauerte, sie erzürnt zu haben.«

15.

In dieser Stimmung verharrte Amalie, und Ferdinand fühlte bald, daß er nun alles Glück verloren hatte, das ihm noch auf Erden übriggeblieben war. Er sah ein, daß seine Vermessenheit um allen Preis, um sein Dasein selbst, das nicht erhalten würde, wofür er es geopfert hatte. Er fühlte sich von Amaliens Geiste unterjocht. Sie gestand ihm tausend-, tausendmal ihre sie verzehrende Leidenschaft, zog ihn immer mehr an, und die Früchte für ihn waren – erschütternde Szenen, ein wildes Gewühl von Empfindungen, die bald sein Herz zerrissen, seinen Geist folterten [420] und bald ihn mit einer Wonne erfüllten, zu seiner Erhabenheit emporhoben, für welche es der Sprache an Worten fehlt. Amalie hatte der Musik ganz entsagt, und sein Flehen, seine Tränen, selbst die Bitten des kranken Kindes vermochten hierin nichts über sie. Es schien, als flistere ihr Genius ihr zu: »So weit hat dich diese Zauberkunst gebracht, weiter soll sie dich nicht bringen!«

Renot lachte nur. Er fühlte seinen Triumph, er sah das Glück des Mannes zerstört, der ihn um einer luftigen Schimäre willen verachtet, beleidigt hatte. Er sah ihn in dem Mittelpunkte seines Daseins, in dem Glauben an seinen Traum, verwundet. Er spottete über das feierliche, tragische, düstere Wesen, das nun Ferdinand durch Amaliens Stimmung angenommen hatte, und bewies ihm, es gebe nur ein Mittel, dieses von Ernstens Schimäre angesteckte Weib zu heilen, welches trotz aller Schwärmerei doch so sehr zeige, daß es nur ein Weib sei; und diese Heilung würde allem Übel zuvorkommen, das er befürchte. Ernst würde es dann nicht gewahr werden. Nur halbe Sünder ertappe man, die Kühnen rette das Glück, und er sei seinem Freunde wenigstens die Schonung schuldig, ihm sein Unglück zu verbergen. Alles, was nun geschehen werde, sei ein unvermeidliches Schicksal, das alle Toren dieser Art treffe.

Er drang in Ferdinand, ihn bei Amalien einzuführen, und versprach, sie in kurzem aus diesem langweiligen, düstern Wesen herauszuspotten. Ferdinand tat es. Amalie sagte ihm, als sie jenen einigemal gesehen hatte:

»Bringen Sie mir diesen Menschen nicht wieder. Nur er, nur das, was er mit Zweck zu sagen scheint, könnte mich zur Verzweiflung treiben. Seine Worte erkälten mein Herz und töten meinen Geist. In seiner Gegenwart seh ich nur mein Verbrechen, und ich will es jetzt nicht sehen, ich will dem drohenden Schicksal die letzten Augenblicke rauben und dann vergehen, dann mich ihm hingeben. Die Liebe mit dem Verbrechen soll mich töten, nicht das Verbrechen allein.«

Als sie den folgenden Tag zusammensaßen, trat der Arzt herein:

[421] »Der Knabe hustet; es ist ein Fieber da.«

AMALIE: Und morgen, morgen kommt sein Vater.

Ferdinand bebte und wendete dem Arzt den Rücken. Amalie sagte leise zu Ferdinand: »Ich habe Briefe von ihm und wollte es Ihnen verbergen.«

16.

Voll Schmerz über seinen Verlust, erschüttert durch die Verwüstungen des Krieges und durch das Elend des Volkes, das er nun in seinem ganzen schrecklichen Umfange gesehen hatte, kehrte Ernst nach Hause zurück, wo er allein Trost, Linderung und Ruhe erwartete, wo aber schon alles für ihn verloren war. Der düstre, beklommne Empfang Amaliens und seines vermeinten Freundes fiel ihm jetzt nicht auf, er fand die Ursache in seinem erlittenen Unglück, in seiner eignen trüben Stimmung. Er fragte nach seinem Sohne. Amalie sagte ihm zitternd:

»Erschrecken Sie nicht allzu sehr. Franz ist seit einigen Tagen nicht wohl, wir halten ihn im Bette, damit er ruhiger sei.«

Ernst eilte zu ihm. Der Blitz der Freude traf aus den jetzt großen blauen Augen sein väterliches Herz, aber als er nun seine trocknen, bleichen Lippen, seine eingefallnen Wangen an seinen Wangen fühlte und den kranken Atem vernahm, die welken Hände ansah und ihn lange angestarrt hatte, sank er an Amaliens Busen, und sein Leben schien zu erlöschen. Der freundliche, kranke Zuruf des Knaben erweckte ihn aus dem Todesschlummer, und als ihm Franz versicherte, ihm sei recht wohl, er würde gleich aufstehen, wenn es die Mama erlaubte; und als er dann nach dem Großvater fragte, da zerschmolz Ernstens Herz, und nun erst konnten seine Tränen fließen. Er setzte sich bei dem bleichen Knaben nieder und sah in die verwelkten Blüten seiner Hoffnung. Von diesem Augenblicke an konnte er nichts anders mehr denken und fühlen, er sah nur ihn, lauschte nur auf ihn. Bei jedem leisen Husten, jeder schmachtenden Bewegung drückte er Amaliens Hand, als könnte er nur durch diesen Druck sein Herz in seinem Busen zusammenhalten. Aber Amaliens Hand lag so kalt in der seinigen, als hätte der Tod ihr Blut erstarrt.

[422]

Sie konnte ihm die Ursache der Krankheit nur stammeln.

Ernst brach auf und ging zu dem Arzte. Der Himmel und alle Gegenstände hingen schwarz über ihm und um ihn. Seine ganze Seele war in Trauerflor gehüllt, und die düstern Ahndungen schwebten in der Finsternis, ohne Namen, ohne Sinn.

Der Arzt kündigte ihm mit Schonung sein nahes Unglück an und sagte ihm, Franz habe nicht lange zu leben, da in diesem zarten Alter die Brust nicht lange widerstehe.

Ernst antwortete:

»Nun, so will ich alle meine Geschäfte schnell zu Ende bringen und seiner warten.«

Als er nach Hause kam, sagte er zu Ferdinand: »Um deinetwillen habe ich so lange gezögert, zurückzukehren, ich hoffe, dir in einigen Tagen gute Nachricht geben zu können. Halte dich fertig!«

Ferdinand konnte ihm kaum antworten: »Wie kann ich dich jetzt verlassen?«

Ernst erwiderte: »Du verlässest nur Unglückliche.«

Er ging in sein Kabinett und öffnete die Briefe, die in seiner Abwesenheit angekommen waren. Auf einem erkannte er Hadems Hand, er drückte ihn an seine Lippen und schlug ihn auf; denn hier schimmerte ihm Trost entgegen. Hadem schrieb, er habe alles zu Ende gebracht, werde zu der und der Zeit in Paris sein und dann zu seinem Schüler eilen, wo sein Paradies ihm blühe und wo er den Vorschmack des künftigen Lebens schon in dem Lande ihres Bundes zu genießen hoffe. Ernst seufzte: »Komm, Edler! Aber ehe du kommst, werden die schönsten Blüten dieses Paradieses schon verwelkt sein. Dein Schüler wird selbst in deinen Armen wie ein Verlaßner weinen! In ihm solltest du ihn wiederfinden und einen neuen, sichrern Traum beginnen!«

Nun öffnete er einen Brief des Ministers, seines Schwiegervaters. Dieser schrieb, er melde ihm mit dem größten Kummer, daß die niederträchtige Bosheit seiner Feinde ihn an dem großen Hofe, wo er sich wegen wichtiger Geschäfte für den Fürsten aufhalte, als einen wilden Demagogen und Aufrührer bezeichnet und diese Angabe durch seine letzte Rede in der Versammlung des [423] Adels bekräftigt habe. Man beweise es ferner durch einen langen, zwar offnen Briefwechsel, den er mit Parisern unterhalte, und führe sogar seine Reden an der fürstlichen Tafel an, denen man den giftigsten Sinn unterlege. Er würde ihm diesen Unsinn nicht geschrieben haben, wenn der Minister im Namen seines Hofes ihm nicht ausdrücklich aufgetragen hätte, dem Fürsten dieses alles zu schreiben und ihn zu warnen, weil Beispiele dieser Art, von Leuten seiner Bedeutung gegeben, in der jetzigen Zeit allzu gefährlich und an andern Höfen nachteilig für den Fürsten wären. Er habe darauf geantwortet, was Gewissen, was Pflicht erforderten und was sein edler Sohn verdiene. Gleichwohl sei man bei dem Verlangen geblieben, und er habe also diesen für ihn so schmerzlichen Auftrag dem Fürsten schreiben müssen. Er vermute, woher das alles komme; indes sei für jetzt nichts anders zu tun, und man müsse des Fürsten Verhältnis, das in diesem Augenblicke wie die Lage jedes kleineren Fürsten höchst bedenklich sei, zu schonen suchen. Wie dieses aber einzuleiten sei, überlasse er dem Herzen und dem Verstande seines Sohnes, usw.

Ernst hatte schon so viele Ungerechtigkeit von den Menschen erfahren, daß dieser Brief beinahe gar keine Wirkung auf ihn tat. Er lächelte wehmütig und schlug den Brief zusammen. Das einzige, was er dachte, war, den Wink des Ministers zu befolgen und sich eine Zeitlang von dem Fürsten zurückzuziehen. Er sah selbst in dem Vorfalle nur Gewinn für sich, da er sich jetzt seinem Schmerze ohne allen äußern Zwang überlassen konnte. Er ging zum Fürsten. Dieser nahm ihn mit eben der Wärme und eben dem Zutrauen auf, mit welchem er ihn entlassen hatte, und beklagte gerührt seinen erlittnen Verlust.

Ernst antwortete mit nassen Augen:

»Noch drohet mir der zweite, und ich weiß nicht, wie ich ihn ertragen werde.«

Der Fürst glaubte, er deute auf des Ministers Bericht (dieser hatte ihm nämlich gemeldet, er habe an Ernst darüber geschrieben). Er antwortete in diesem Sinne:

»Sein Sie ohne alle Sorge. Ich fürchte weder für mich noch für [424] Sie, ich achte solche Dinge nicht, die, wie es scheint, die einzigen Waffen unsrer Verteidigung sind. Ich werde nie vergessen, daß ich ein Fürst, ein teutscher Fürst bin. Ich werde mir nie, weil mein Fürstentum klein und darum glücklicher ist, Gesinnungen und Handlungen aufdringen lassen, die mein Herz und mein Verstand verwerfen. Der Minister schrieb mir, er habe Ihnen die Bosheit dieser Elenden gemeldet. Ich wünschte, er hätte geschwiegen, aber wir wollen sie entlarven.«

Ernst dankte ihm und versicherte, das, was er höre, gereiche ihm in seiner Lage zu großem Trost. Er setzte hinzu:

»Aber doch nötigen mich die Gesinnungen, die Ew. Durchlaucht mir Ihnen laut zu bekennen erlauben, daß ich mich entfernt halte. Das Gelübde, gnädiger Herr, das Sie mir einst abnahmen, kann nur mit der Tugend in meinem Herzen aussterben; und darum hoffe ich, es soll ewig dauern. Der Haß, die Wildheit, der Eigennutz und der Stolz der Menschen können seine Wirkung auf Augenblicke hemmen, ganz auflösen nie. Meine Pflicht, die Umstände, Ihre eigenen Verhältnis se erfordern, daß ich mich auf einige Zeit zurückziehe – und, gnädiger Herr, das, was ich in meinem Hause fand, macht mich zu allem unfähig. Verzeihen Sie. Sie sind Vater – Ich habe nur einen Sohn. Schön, lieblich, geistreich, hoffnungsvoll, in blühender Gesundheit verließ ich ihn – der nahe Tod lächelte mich zum Willkommen aus seinen Augen an.«

Der Fürst ergriff seine Hand:

»Es bleibt unter uns fest und ewig! Vergessen Sie nie, daß Sie einen Freund in mir haben.«

In dem Vorzimmer fand Ernst seinen Oheim, der auf ihn zutrat und ihm kalt sagte:

»Wie befindet sich Ihr Sohn?«

Ernst antwortete nur mit einem schmerzvollen Blick, und der Präsident sagte noch kälter:

»Bald werden Sie meiner Weissagung glauben. Sie verachteten sie einst, nun ist sie der Erfüllung nahe.«

Ernst begriff ihn nicht, aber es dünkte ihn, eine glühende eherne Faust umfasse sein Herz.

[425]

17.

Ernst fand bei dem Bette seines Sohnes schon den Kammerrat Kalkheim. Dieser konnte kaum seinen Gruß beantworten, er saß da, wie Ernst ihn einst an dem Bette des kranken Knaben in des Schulzen Hause gefunden hatte, aber jetzt niedergeschlagen, hoffnungslos, auf keine Heilungsmittel sinnend; denn auch ihm hatte der Tod aus der hinwelkenden Blume entgegengelächelt. Die Blicke beider begegneten einander – sie schwiegen, sie verließen den Kranken nicht mehr. So verflossen einige Tage. Der Knabe lag ermattet, aber nun erwachten seine letzten Kräfte, und die beiden Freunde standen vor dem begeisterten Redner – Schöne, unzusammenhangende, hüpfende Gedanken und Empfindungen dachte und fühlte die begeisterte Seele des Knaben, die in dem verwelkten, engen Körperchen keinen Raum mehr hatte und sich sehnte, das Bild des Todes in ihm zurückzulassen, um nur das Freie, Fessellose zu denken – Diese Gedanken und Empfindungen drangen von seinen jetzt geröteten Lippen wie der lyrische Gesang des von der Morgenröte begeisterten Dichters, dem in ihr das Bild des künftigen Lebens aus dem Dunkel der Nacht emporsteigt – er lispelt seine Gefühle nur, er deutet sie nur an, er eilt, daß ihm kein irdischer Schatten, kein fremder Gedanke das entzückende Gefühl schwäche – ihm stehen die Pforten der künftigen Welt offen – der Unsterbliche singt dem Unsterblichen, und nur dieser vernimmt und versteht ihn.

In Ernstens Hause herrschte nun die Stille des Todes. Da hörte er keinen Laut, da sah er nur Verzweiflung, Blicke der Angst, bleiche Wangen. Das ihm unbekannte Verbrechen schlich noch leise um ihn – es trat auf wie der Mörder, der den süß schlafenden, bei dem letzten Strahl der Hoffnung eingeschlummerten Unglücklichen ermorden will.

Und in dem einsamen Zimmer saßen Amalie und Ferdinand, sie drängten sich aneinander wie zwei von den stechenden Gewissensbissen Verfolgte, die sich heimliche, unauslöschbare, unversöhnbare begangene Verbrechen entdeckten, getäuscht von dem Wahne, durch die Mitteilung das zerdrückte Herz zu erleichtern, [426] die Folter des Geistes zu besänftigen. Sehnend suchen sie einander, und wenn sie sich finden, so verschwindet die Täuschung. Jeder sieht sein schreckliches Verbrechen in den Zügen, den Augen des andern – sie fliehen sich, eilen wieder zusammen; denn jeden ergreift der Geist der Rache in der Einsamkeit allein – vereinigt umschlingt er sie beide, und ihr Seufzen, ihr Ächzen, ihre Gewissensbisse vermischen sich.

Ferdinands Herz zernagte ein zwiefaches Verbrechen: Schuld an dem nahen Tode des von seinem Vater so geliebten Kleinen, Bruch der Freundschaft und des Gastrechtes, Beraubung alles Trostes, aller Hoffnung und Linderung in der Gattin, auf die der unglückliche Dulder noch jetzt, an dem Bette des sterbenden Knaben, zählte.

Amalie sprach nun nicht mehr, sie schien den Schlag des Todes bei der Auflösung des Knaben zu erwarten.

Und noch betäubte die Flamme der Leidenschaft auf Augenblicke die Schläge des Gewissens, aber diese Flamme brannte, wütete, zehrte, sie konnte nicht beseligen; denn die Liebe hatte sich nun im Gewande des Schreckens, des Mordes zwischen die Unglücklichen gestellt, und sie fuhr mit ihrer kalten, tötenden Hand zwischen die brennenden Küsse, wenn die Strafbaren in Umarmungen ihre von der Verzweiflung umhergetriebenen Seelen suchten.

Die Nacht war tief heruntergesunken, und dunkel brannten die Kerzen in dem stillen Zimmer. Die Unglücklichen lagen Wange an Wange, Arm in Arm verschlungen, wie Bilder des Todes am Grabe; und sie saßen an dem Grabe ihrer Tugend, ihres Glückes.

Ernst trat herein, und mit einem Tone, wie nie sich einer dem Herzen eines Menschen entriß, rief er:

»Mein Franz ist verschieden! wohl ihm! weh mir!«

Als er näher trat und die Unglücklichen Wange an Wange, Arm in Arm starr vor ihm saßen – Todesangst sie ganz ineinander geschlungen hatte – und als er in ihren auf ihn gerichteten Blicken etwas über allen Ausdruck Schreckliches und Bedeutungsvolles erblickte, da stand er vor ihnen, wie das geängstete Gewissen [427] den Richter der Welt vor sich stehen sieht, und rief mit einem feierlichen Tone:

»Über wen soll ich noch Weh ausrufen?«

Jetzt sprang Amalie auf und riß sich aus den Armen des Bebenden, Hinsinkenden:

»Über mich! über diesen hier! über die Verbrecher, die deinen Liebling ermordet haben – Treue, Freundschaft brachen und ihn in dem Augenblick ermordeten, da sie die Treue brachen. Vor dem Zorne dieses fliehend, als er die Treulosen überraschte, stieß sich der Zarte an dem Klavier; das Blut strömte und mit dem Blute die Quelle seines Lebens. Diesen Unglücklichen hier liebte ich mit der Flamme der Leidenschaft, sie schlief in meinem Busen und erwachte, als ich ihn wiedersah. Und noch lieb ich ihn! – Ja, schaudere, bebe und wende dein Angesicht von mir! Von dem Augenblicke an, da das erste und das darauf folgende Verbrechen begangen war, blieb keine Rettung mehr für mich. Der Tod des Unschuldigen, den du mir jetzt ankündigest, macht mich so unglücklich als ich es werden kann; aber durch ihn wird das Band, das die Verbrecher zusammenkettet, unauflöslich. Seine Reize sind jetzt seine und meine Gewissensbisse, seine Lockungen die Qual, daß keiner ohne den andern leben kann, daß jeder in dem Elende des andern leben muß – dies ist es, was uns auf ewig vereinigt!«

Ernst antwortete mit bebender Stimme:

»Oh, es ist genug!«

18.

Als Ernst wieder in das Zimmer zurückkam, trat er neben die Leiche seines Sohnes. Der Kammerrat blickte ihn an und bemerkte an ihm eine Veränderung, die ihn so entsetzte, daß das Schlagen seines Herzens stille stand. Nachdem Ernst den letzten Atemzug von den Lippen des Knaben geküßt, ihn gesegnet und seinem scheidenden Geiste nachgesehen hatte, sagte er zu dem Kammerrat: »Ich kann hier gar nicht weinen! Bei Amalien werde ich es können.« Jetzt, nach seiner Rückkehr, stand er da, ganz mit der grauen Aschfarbe des Todes bedeckt, und [428] heftete seine gebrochenen Augen gleich einem Toten licht- und strahlenlos auf die Leiche seines Sohnes.

Der Kammerrat näherte sich ihm, ergriff seine Hand, drückte sie an seine Lippen, an sein Herz und sagte schluchzend:

»Können Sie noch nicht weinen?«

Ernst schwieg wie in Todesschlummer.

Und abermals schrie der Kammerrat heftig:

»Können Sie noch nicht weinen?« – Er warf sich zwischen ihm und der Leiche auf die Knie nieder und betete:

»Gott, der du mit deinem Regen die Erde und den Durstigen tränkest, gib diesem Menschen Tränen! Er ist eins deiner besten Geschöpfe! Gib ihm Tränen aus der Quelle des bittersten Schmerzes!«

Er erhob sich und umfaßte ihn – seine Tränen netzten die Wangen des Starren –

»Hat Gott mein Gebet erhört? Können Sie weinen?«

Ernst sagte wie träumend:

»Weinen? Nein, noch nicht! Hören Sie doch! Glauben Sie nicht, daß dieser ermordete Jüngling wieder aufwachen wird? Ist gar keine Hoffnung da?«

KAMMERRAT: Er lebt! dort lebt er! Hier erwacht er nie.

Ernst stürzte an dem Bette nieder, ergriff die Hand des Toten, bewegte die Leiche sanft und sagte:

»Er soll, er muß erwachen! Franz, mein Sohn, erwache! Errette deinen Vater! – errette seine Seele, seine Tugend! Lebe, daß er nicht verzweifle, daß er sich an ein treues Herz drücke!«

KAMMERRAT: Ich erkenne Sie nicht mehr – und Sie verwerfen mich. Sie hören nicht auf mich – Und warum rufen sie dem lieben Toten diese schrecklichen Worte nach?

ERNST: Oh, ich habe Dinge vernommen – Er legte die Hand des Toten auf seinen Mund. Ich will es verschweigen – und ich versiegle deinen Mund –indem er ihn küßte – Klage nicht an! schweige dort, wie du hier geschwiegen hast! – Auch ich klage nicht an. – Legen Sie Ihre Hand in die Hand des Toten und verschweigen auch Sie, was Sie gehört haben. – – Wir müssen noch diese Stunde dies Haus verlassen.

[429] KAMMERRAT: Ihr Haus? Jetzt?

ERNST: Es ist nicht mehr mein Haus. Wir müssen es verlassen und den Toten auf mein Gut führen. Lassen Sie schnell den großen Wagen anspannen – indessen will ich ihn in ein Leichentuch einhüllen. Geschwind, geschwind! ehe der Wahnsinn mich dahin bringt, daß ich ihm den letzten Dienst nicht leisten kann. Niemand soll ihn berühren als ich und Sie, niemand in diesem Hause soll ihn sehen – Und bestellen Sie, daß mir nur die alten Diener meines Vaters folgen.

Der Kammerrat ging. Als er zurückkam, fand er Ernsten noch beschäftigt, den Knaben in Leichentücher einzuhüllen. Nun trugen sie den Toten leise und sanft die Treppe hinunter. Als sie an dem Zimmer der unglücklichen Mutter vorübergingen, fühlte der Kammerrat den Körper des Entseelten durch das heftige Zittern des Vaters in seinen Händen beben. Ernst lispelte ihm über die Leiche zu: »Leise! leise! daß man uns nicht höre!«

Ernst setzte den toten Knaben neben sich, dem Kammerrat gegenüber, und hielt ihn fest umschlungen. Als sie aus der Stadt waren, ließ er die Wagenfenster nieder. Sie fuhren langsam und immer schweigend. Der Kammerrat fühlte noch oft nach Ernstens Hand, aber dieser hielt den Toten fest umschlossen und bewegte sich nicht. Der Kammerrat lauschte auf seinen Atem, er hörte ihn nicht und wurde von einer schrecklichen Angst überfallen. Aber als sie um den Forst bogen, als der Mond jetzt heraufgestiegen war und sein Schimmer in den Wagen fiel, als Ernst in diesem Augenblick das Gesicht seines hingeschiednen Lieblings von dem sanften Glanze verklärt sah und sich nun erst seine Tränen ergossen, da fiel der Kammerrat auf seine Knie, drängte sich an ihn und hielt ihn und den Toten fest umschlungen.

Ernst sagte sanft:

»Dort strahlt dein Geist im Lichte lieblicher! Und hier glänzt die zarte Hülle, in welcher er so schön aufblühte, in dem reinsten irdischen Lichte!

Er muß reisen, mein Geliebter, das väterliche Haus verlassen, um ein Grab zu suchen – Glücklicher, du wirst es finden in dem [430] Paradiese deines Vaters, an dem Orte, den er nie hätte verlassen sollen, den er nun mit der Klage betritt, daß ihm seine dort blühende Wiege nicht so früh zum Grabe geworden ist wie dir!«

19.

Der Totenruf der Glocke von dem Hügel herab, auf dem die Kirche einsam stand, versammelte die Gemeinde. Der mit Blumen geschmückte Sarg des lieblichen Knaben war vor den Altar gesetzt, und die Gemeinde vergoß stille Tränen. Der Vater stand neben dem Sarge und weinte nicht mehr, aber sein Anblick erschütterte die Anwesenden, und Weinen und Schluchzen unterbrachen den frommen Redner, der Bilder der Unsterblichkeit sammelte und sie an dem Sarge des Lieblichen zu einem schönen Kranze für jenes Leben flochte. Als man den Sarg in die Gruft senkte und der Geistliche den Segen sprach – sprach der Kammerrat ihn laut nach und aller Stimmen mit ihm. Die Mädchen und Knaben überschütteten Sarg und Grab mit Blumen. Nachdem alle die Kirche verlassen hatten, folgte Ernst, und als die Türen auf ihren Angeln dröhnten und dumpfschallend zufuhren, wendete er sich um und sagte zu dem Kammerrat:

»Der Schall tönt wie aus der Ewigkeit her, die Pforten des Glücks auf Erden schlossen sich mir!«

Nichts, was ihn umgab, schien ihn jetzt zu rühren. Achtlos ging er in dem Garten seiner Jugend umher, ihre goldnen Träume lagen verdunkelt in seinem Geiste, die Tore jenes erhabenen Landes waren mit Finsternis bedeckt, und die Göttin, die ihn geleitet hatte, die ihm einst in Amalien so sichtbar erschien, daß er sie in ihr erkannte, war verschwunden. Wenn ihn das zermalmte Herz an ihr Dasein erinnerte, so sah er in ihr das erhabene Bild erniedrigt und mit Schmach bedeckt – auf ihrem Angesicht erblickte er eine gräßliche Larve, die seinen Glauben verhöhnte. Jetzt lag sein Geist nur an der Erde, er konnte seine gesenkten Schwingen nicht erheben, ihre Flugkraft war zerschnitten, und er saß in seinem blühenden Paradiese wie der düstre Genius des Todes am Grabe. Aber bald entsprangen [431] giftige Zweifel aus den schaudervollen Betrachtungen über sich selbst, die Menschen und das, was sie, was die Geliebtesten unter ihnen ihm getan hatten. Sie drangen in sein Herz und aus diesem zu seinem verfinsterten Geiste. Aber noch trieb er ihren Stachel zurück. Auf einmal stand er plötzlich vor der Höhle, die sein bedeutendes Kleinod in sich verbarg, und es erschien ihm nun wie eine Sage der Fabelzeit – von einer andern Welt erzählt – Er wollte hineindringen und fühlte sich gewaltsam zurückgehalten. Ihn dünkte, als vernehme er Hadems Stimme, ihn dünkte, dessen Geist lispele ihm zu und rufe ihn zurück. Er entfloh, und als er den Kammerrat in dem Garten des Schlosses fand, rief er: »Zu ihm! zu ihm! Nur Hadem kann mich von dem bösen Dämon erretten, den jene mir nachgesandt haben.«

Der Kammerrat bestärkte ihn in seinem Entschlusse und freuete sich, daß ihn ein anderer Gedanke beschäftigte. Nur erschrak er, als er vernahm, daß Ernst seinen Hadem in Frankreich aufsuchen wollte.

»Ja, in Frankreich!« rief Ernst; »dort will ich ihn suchen und erwarten, wenn er nicht angekommen ist.«

Er beschäftigte sich die ganze Nacht, schrieb an den Fürsten, meldete ihm seinen Entschluß und sagte ihm, daß er sich nur so retten könne.

An Amalien schrieb er folgende Zeilen:

»Ich fliehe nach Frankreich – Die Entweichung, das Verlassen berechtigen zu der Scheidung. Der Kammerrat Kalkheim wird, bevor Sie dieses erhalten, dem Notarius die Bekräftigung von meiner Seite überliefert haben. Zugleich werden Sie von ihm Wechsel auf eine Summe und die rechtliche Abtretung des Hauses, worin Sie wohnen, bekommen.«

Dem Kammerrat übergab er die Wirtschaft und verließ denselben Tag den vaterländischen Boden.

[432]

Fünftes Buch
1.

Das Gerücht von Ernstens Abreise nach Frankreich erscholl und wurde mit aller Bosheit ausgebreitet. Man wußte die wahre Veranlassung, aber jeder schwieg davon; die, welche es redlich mit ihm meinten, aus Schonung, seine Feinde, um diesen Beweis seiner wirklichen Verbindung mit den Feinden des Vaterlandes und aller bürgerlichen Ordnung nicht zu schwächen. Der Fürst allein verteidigte ihn laut, und wenn er die Ursache von Ernstens Flucht nicht öffentlich sagte, so unterließ er es nur aus Achtung und Schonung für den abwesenden Minister, Amaliens Vater.

Amalie lebte eingeschlossen. Sie sah niemanden als den Unglücklichen; sie sah ihn zu ihrer Qual und mußte ihn sehen.

Der Kammerrat stellte ihr das Schreiben zu. Sie wagte es nicht, nach Ernsten zu fragen, auch nicht in des Kammerrats Gegenwart das Siegel zu erbrechen.

Der Kammerrat ging. Ferdinand erbrach den Brief und las.

Amalie rief: »So rächt sich der Edle! Und er weiß, er dachte es nicht, daß dieses die grausamste Rache ist, die er ersinnen konnte. So lassen Sie uns denn so unglücklich werden, als wir es zu sein verdienen, und das von ihm gegebene Brot unter dem nie vergänglichen Gefühle essen, daß es uns täglich ein Mann darreicht, den wir verraten haben, wie nie ein Mensch verraten ward!

Oh, lassen Sie mich niederknien und zu ihm, wie zu einem Heiligen, um Erbarmung, um einen einzigen milden Blick beten! Dieses soll er mir von nun an sein. An seinen reinen Geist will ich mein Gebet wenden, ihn anflehen, es dem Ewigen, an den ich mich nicht zu wenden wage, vorzutragen.«

FERDINAND: Amalie! – Amalie!

AMALIE: Warum reden Sie jetzt in diesem wilden Tone zu mir? Was soll Ihr drohender Zuruf in mir erwecken? Ich verstehe Sie! Ja, wir wollen unsre Hände zusammenschlagen – die [433] Furien grinsen dazu – und wahrlich! wahrlich! sie sind keine fabelhafte Wesen.

Sie riß zum erstenmal wieder hastig das Klavier auf und sang in wilder, kühner, erhabener Begeisterung die Raserei des von den Furien geplagten Orestes nach Gluck. Dann schlug sie es zu und rief:

»Das ist unser hochzeitlicher Gesang. Ich habe ihn gesungen, und die Eumeniden heulten dazu. Nun laßt die Saiten auf ewig verstummen!«

»Wir haben ja alles erhalten, wir leben ja noch!«

Ferdinand schrie ergrimmt: »Ja, wir leben und wollen leben und müssen leben!«

Und er schlug mit geballter Faust auf das Klavier, daß es in Stücken zersprang – seine Hand ward von dem Schlage verwundet, und das Blut rieselte herab.

Amalie riß Ferdinand weg.

»Nicht auf diese heilige Stelle, auf welcher das Leben seines Lieblings entquoll! hier brennt sein reines Blut unter meiner Sohle – und sein Geruch steigt zu meinem Geiste empor. – Hierher! hierher! Sie riß ihr Tuch von dem Busen. Hier laß diese Tropfen jene versühnen, bis mehr Blut fließen wird. Laß es hier kühlen oder in Feuer herunterregnen – Auch dieses ahndete ich in meinem Wahnsinn, der mir wie süße Begeisterung vorschwebte.«

Und als sein Blut ihren vollen, weißen Busen befleckte, zog Todeskälte bei dem Anblick durch Ferdinands Gehirn und Herz. Seine Zähne schlugen vor Frost zusammen – er griff mit der blutigen Faust in seine Brust, riß an seinem Herzen, als wollte er die Wurzel des Lebens ausgraben, und schrie knirschend:

»Dies ist ein Gaukelspiel der Hölle, nicht der Liebe.«

Amalie bedeckte ihren Busen und sagte:

»Da haben Sie recht! das ist unsre Liebe! das mußte sie werden!«

[434]

2.

Ernst erkannte Paris nicht mehr. Die gänzliche Veränderung alles Alten, der herrschende, wilde, leidenschaftliche Ton, die Szenen des Mordens, das Geräusch der Waffen und des Aufstandes, das Siegesgeschrei über errungene Vorteile, die Ermordung oder die Flucht aller seiner Bekannten, nach denen er fragte – vermehrten die Dunkelheit seines Geistes, die Angst seines Herzens. Nur ein Gedanke, nur eine Hoffnung erhielten ihn in dem schrecklichsten Gebrause, das je die Kräfte und Leidenschaften der Menschen erregt hat – Hadem und das Licht, das er durch diesen erwartete. Wie der vor Durst verschmachtende Wanderer eine erquickende Quelle sucht, so suchte er Hadem. In allen Wirtshäusern, an allen öffentlichen Orten, bei allen Bankiers, bei jedem, der jemals in Amerika gewesen war oder dort die entfernteste Verbindung hatte, erkundigte er sich nach ihm. Sein rastloses Bemühen blieb fruchtlos; Hadem war noch nicht angekommen. Vergebens einsam herumirrend, kämpfte er nun in dieser ihn umbrausenden, allem Auflösung drohenden Anarchie, seiner verhüllten moralischen Kraft ihren vorigen Schimmer und ihre vorige Klarheit wiederzugeben.

Es war jetzt der Zeitpunkt, wo ein Mann herrschte, dessen Name dieses Buch nicht beflecken soll.

Renots Briefe an einen berüchtigten Genfer kamen zu gleicher Zeit mit Ernsten in Paris an. Er schilderte ihn als einen Royalisten, der mit den französischen Prinzen in Verbindung stände und von einem großen Hofe mit geheimen Aufträgen nach Paris geschickt wäre. Man beobachtete ihn von dem ersten Augenblick an, belauschte seine stillen Seufzer, seine oft laut ausgesprochnen Worte über sein eignes Schicksal, das immer drückender wurde. Sein rastloses Herumirren, Nachfragen und Suchen bestärkten den Verdacht. Eines Abends, als er nach seiner Wohnung ging, ward er an der Tür ergriffen und nach dem Schreckenshause gebracht, wo man die Schlachtopfer aufbewahrte, um sie truppweise nach dem Blutgerüste zu führen, damit das blutige Schauspiel unterhalten würde.

[435] Er erschien vor dem Ausschusse, den der Mordgeist zusammengesetzt hatte und dessen Mitglieder sich Richter nannten, um der Menschheit Hohn zu sprechen.

Er antwortete kalt und gefaßt auf die ihm vorgelegten Fragen, lächelte über die Verbrechen, die er gegen Frankreich begangen haben sollte, und sagte, ermüdet von ihrem Wahnsinn und seiner Bürde: »Wie, meine Herren? Wenn ich nun, gedrückt von der Last des Lebens, verfolgt von einem schrecklichen, unverdienten Schicksal, in dem Zutrauen nach Frankreich geflohen wäre, daß ihr, die ihr so viele Unschuldige ermordet habt, nun auch in mir einen Unglücklichen töten würdet, der euch für den Dienst, den ihr ihm erweiset, noch dankt?«

»So bereitet Euch auf diesen Dank, Ihr sollt Euch in Eurer Erwartung nicht betrogen haben!« antwortete der Vorsitzer.

Mit diesem Ausspruch ward er zurückgeführt und auf die Liste derer gesetzt, die am folgenden Tage bluten sollten.

3.

Renot hatte diese Nachricht aus Paris bekommen, und er hielt Ernstens Schicksal für entschieden, wie man es ihm auch meldete. Er verbreitete das Gerücht in der Stadt, und die ersten Pariser Zeitungen bestätigten es. Wenige beklagten den Edlen, seine Feinde fanden die Strafe gerecht, welcher ihn, nach ihrer Meinung, das rächende Schicksal entgegengeführt hätte.

Renot konnte Ferdinand zu der Witwe Glück wünschen. Dieser antwortete ihm mit einem gotteslästerlichen Fluche. Er eilte zu Amalien, sie ließ ihn nicht vor sich, und ihre Kammerfrau gab ihm im Namen ihrer Gebieterin einen Brief.

Amalie hatte die Todespost durch einen Brief ihres Vaters erfahren. Sie schrieb an Ferdinand:

Amalie an Ferdinand

Ich weiß, was ich von Ihnen hören soll! – Diese Nachricht aus Ihrem Munde würde ich nicht überleben. Wagen Sie es [436] jetzt nicht, vor mir zu erscheinen. Alles ist für uns zu Ende; nur die Qualen, die wir uns bereitet haben, dauern fort. Auch ich habe die schreckliche Nachricht vernommen, und ich sehe nun nichts als den Edlen, den sein Weib und sein Freund so schrecklich betrogen und dann dem Blutgerüst entgegengetrieben haben. Ich seh ihn in seinem Blute, ich seh ihn in seiner Verklärung, und es ergreifen mich alle Schauder des Todes, den ein Verbrecher leidet. Unter diesem Beben richtet mich eine so ängstlich erhabne Bewunderung des Verratnen auf, daß sich ein Verlangen nach ihm, welches an Wahnsinn grenzt, in meine Seele ergießt. Ich fühle ein Entzücken in meiner Verzweiflung – ich fühle, warum ich ihn nicht lieben konnte. Er war zu hoch, zu erhaben für mich – mein Herz empfand seine eigne Unwürdigkeit, sein Unvermögen, ihn zu erreichen. Ich liebte ihn nicht – nur zu feierlicher, stiller Verehrung zwang er mich – Den Unwürdigern liebt ich, den, der mir mehr glich, und ich liebe ihn noch – und die Glut der Liebe durchdringt mein Herz, da ich dieses auf dem Sarge des Edlen schreibe. O der unbegreiflichen Verirrung! – Sie sind mir ein Gegenstand des Abscheus und der unüberwindlichsten Liebe – Mich verlangt nach Ihrem Anblick, und wenn Sie jetzt vor mir erschienen, so würde der Wahnsinn meine Hände gegen Sie bewaffnen. Fliehen Sie mich – ich will nicht den schnellen Tod der Verzweiflung sterben – ich will langsam vergehen, langsam die Qualen empfinden. Nichts habe ich gerettet, was mich trösten könnte; denn daß ich unterließ, wornach ich mich sehnte, auch das verdanke ich nur ihm. Gleich einem wachenden, drohenden Engel stand er zwischen uns, als er lebte, und das Beben vor dem furchtbaren Reinen erhielt den Schatten dieser einzigen unverdienten Tugend, die ich mir oft in meiner Vermessenheit zuzurechnen wagte. Fliehen Sie! Sollen wir, gleich jenem zum ewigen Durst Verdammten der Fabel, an der Quelle des Verlangens sitzen, ohne es je stillen zu können? – Soll er, wenn wir uns einander nahen – und unser Atem sich berührt – und unsre Seelen sich umfassen möchten, das blutige Totengewand zwischen uns werfen? Sollen unsre Seelen bei seiner kalten Berührung erstarren?

[437] Ich tat mehr als die Verworfenste; denn ich war das Weib des edelsten Mannes. – Dies! dies erwägen Sie, wenn Sie mir mein Urteil nach Verdienst sprechen wollen! Und ich ermordete seinen Liebling, vertrieb ihn vom vaterländischen Boden – jagte ihn dem Blutgerüst entgegen als ein Opfer unsrer Lust! Bewirkte nicht dieses allein seine Flucht? Hätte es die Bosheit der Elenden vermocht? Würde er nicht vor ihnen wandeln, so stark und mutig wie sonst? Also, was fehlt an meinen Verbrechen? Daß ich nun ruhig die Früchte derselben genösse – in Ihren Armen seiner höhnte? Wenn ich nicht zu seiner Tugend hinaufreichen konnte, so ging doch durch den Umgang mit ihm von seinem Geiste so viel zu mir über, daß ich meinen Verbrechen ein Ziel setzen kann. Er ist gerächt an mir, er ist gerächt an Ihnen. Und wenn diese wahnsinnige Leidenschaft Ihr Herz erfüllt wie das meinige und immer dauert, wenn Sie empfinden wie ich, wenn Sie auf sich selbst mit Abscheu blicken wie ich, wenn Sie nach mir verlangen wie ich nach Ihnen und dabei wie ich die Unmöglichkeit fühlen, dieses Verlangen je stillen zu können; und wenn alle gräßliche Erinnerungen mit allen Vorspieglungen einer zerrütteten, entflammten Phantasie Sie unaufhörlich verfolgen – ist er da nicht gerächt? Und wenn Sie nach ihm seufzten, sich nach ihm sehnten, zu ihm flehten wie ich, ihn zwischen sich und den Richter der Welt stellen möchten, um einen seiner hohen Blicke und eins seiner schönen, lieblichen Worte gerne noch mehr Qual erlitten, wenn es noch größre gibt – ist er nicht gerächt genug?

Hier lege ich Ihnen den Brief meines Vaters bei. Er scheint viel zu wissen – genug, um seine Tochter zu verwerfen, aber noch nicht genug, um den Fluch über sie auszusprechen – er wird nicht fehlen. Ein glückliches Los stellte mich zwischen zwei edle, seltne Männer, ein unbegreifliches Verhängnis zog mich zu einem – oh, ich kann es nicht aussprechen – Und kennen Sie sich nicht?

Fliehen Sie! – Während wir ihn verrieten, hat er für Ihr Glück gesorgt – Sie sagten mir ja, daß man Sie auf den Weg des Glücks und der Ehre zurück beriefe – es ist des Edlen [438] Werk – sein letztes Werk. – Vielleicht dürfen Sie sich ihm dort noch nahen, wenn Sie hier Ihre Pflicht erfüllen. Für uns Weiber bleibt nichts übrig, als in der Schande, der Schmach zu sterben, wenn wir einmal gesunken sind.

Ferdinand schrieb zurück:

Ihr Brief hat mich empört – aber mein Kopf blieb kalt, und mein Herz schlug nicht stärker; denn mein Entschluß ist gefaßt. Ich fliehe nicht, ich verlasse Sie nicht, ich will nichts mehr in der Welt als Sie! Da das Schicksal dessen, dem unser Verbrechen, wie Sie es nennen, das Leben kostete, sich so entschieden hat, so sehe ich nicht ein, welches ich nicht noch begehen könnte, um mich Ihres Besitzes zu versichern. Durch jedes neue wird die Glut, die mich verzehrt, nur um so heftiger werden. Ich fühle nur, daß unser Dasein in jenem unbegreiflichen Augenblick auf das Leben entschieden ward; warum drang er sich da auf, wo das Schicksal so stark vorgezeichnet hatte? Amalie, ich habe Sie zu teuer erkauft, um Sie fliehen zu können. Ich werde so wenig von Ihnen lassen wie Ihre Gewissensbisse, ich werde Ihnen noch näher sein – Fliehen Sie, ich folge Ihnen – ich bewache Ihre Schritte von nun an – Besser ist es, Sie bleiben – die Elenden hier werden uns nicht tadeln – Amalie, das Geschick hat in uns beiden seine Sklaven an eine Kette gebunden; Sie lösen sich nicht mehr davon, dies bedenken Sie! Und bedenken Sie auch, daß ich nur um Ihrentwillen noch einigen Wert in mein Leben setze, daß kein Verbrechen zu nennen ist, welches ich nun nicht um Ihrentwillen begehen könnte!


– Weg mit diesen Unglücklichen! Mein Blick ruht auf dem Edlen, zu ihm zieht mich mein Herz.

4.

Als man dem berüchtigten Ungeheuer die Aussagen der am Morgen zum Tode Verurteilten vorlas und er Ernstens Antwort vernahm, sagte er lachend:

»Man hält mich für einen Tyrannen, so will ich es denn einmal [439] beweisen. Der teutsche Edelmann soll leben, weil er sterben will. Man führe ihn über die Grenze.«

Er strich Ernstens Namen durch.

Auch diese unerwartete Rettung ward in dessen Vaterlande als ein neuer Beweis seiner Verbindung mit jenen abscheulichen Menschen angesehen und durch das ganze Land verbreitet. Verfolgt von seinem schrecklichen Schicksal, von der Erinnerung der gräßlichen Begebenheiten, deren Zeuge er gewesen war, und von dem Gedanken an das traurige Schicksal Teutschlands, dessen Verwüstung er zum zweitenmale sah, kehrte Ernst in das Vaterland zurück. Hier fühlte er die Wirkung von der Bosheit seiner Feinde. Gehaßt, verspottet, beschimpft floh er schnell auf sein Gut, aber auch hier fand er das Herz seiner Landleute, deren Wohltäter er immer gewesen war, die einst das größte Zutrauen zu ihm hatten, die ihn als ihren Freund und Vater ansahen, gegen sich vergiftet. Auch sie sahen in ihm einen Freund und Mitgenossen derer, die schon viele ihrer Söhne und Verwandten erschlagen hatten und die ihnen, wie den andern Unglücklichen, mit Verwüstung, mit Erpressung drohten; denn um diese Zeit hatten die Gewalttätigkeit und Zügellosigkeit der französischen Heere längst alle sonstige Gefahr von dem teutschen Boden entfernt.

Ernst stand allein; und jetzt, da sein hoher Sinn unter seinem Schicksal hingesunken war, erreichten und trafen der tolle Wahnsinn und die giftige Bosheit sein Herz. Ferne stand der Geist, der ihn geleitet hatte, die schönen Träume seiner Jugend waren entflohen, seine Grundsätze, auf denen er wie auf Felsen geruhet hatte, zusammengestürzt, sein Glaube erloschen; und die Tugend schwebte nur noch zerstückelt vor seinem düstern Sinne. Seine moralische Kraft war ganz verhüllt, er konnte das große, erhabene Ganze, in welchem die Tugend besteht und sich darstellt, nicht mehr umfassen und übersehen. So zerstückelt sich vor unsern Augen bald die Wolke in Osten, welche die Sonne bei ihrem Aufgang erleuchtet und vergoldet, an einem stürmischen Tage, sie zerfällt in graue, gestaltlose Fetzen und verschwindet in Dunst am Horizont. Hadems letzte Worte erhielten nun den[440] schrecklichen Sinn wieder, den Ernst einst bekämpft hatte, seine Erfahrung an den Menschen, die Begebenheiten in Paris wurden ihm durch Renots Lehren erklärt. Diese stellten ihm nun die Tugend als eine Gaukelei vor, welche die erhitzte Einbildungskraft erschafft und ausschmückt, um Toren zu verblenden. Er kämpfte gegen diese schrecklichen Gedanken und Empfindungen mit aller ihm noch übrigen Kraft, er kämpfte vergebens; denn die Menschenscheu, die Verachtung, die Bosheit, womit man ihn behandelte, hatten Menschenhaß in ihm erzeugt, aber sein Menschenhaß war eigner Art; es lag auch noch da ein erhabnes Gefühl zum Grunde, das in dieser Zerrüttung den vorigen Adel seines Geistes bezeugte. Er haßte nicht den Menschen in andern, er haßte ihn in sich – wegen der Erniedrigung, in welche ihn die nagenden Zweifel und die aus ihnen entspringende Denkart gestürzt hatten. Er haßte den Menschen in sich, weil der hohe Glaube, der ihn einst beseligte, in ihm gesunken war, er haßte ihn in sich, weil er vergebens um das Licht kämpfte, in welchem er einst wandelte. Kalt und gleichgültig gegen sich und alles ging er nun in dem Paradiese seiner Jugend umher. Kein Gegenstand erinnerte ihn an das Vergangene, er lebte nur in dem Gegenwärtigen, mit der quälenden Auflösung des Rätsels beschäftigt, ob er einst nur geträumt habe, ob das Land über den Wolken, von dem er sich entsprossen glaubte und wohin er zurückzukehren hoffte, bloße Täuschung sei. Und wenn ihn diese schrecklichen Gedanken überfielen, rief er klagend: »Ich werde meinen Franz nicht wiedersehen – auch sein Dasein war nur ein Traum – der mir bloß zu augenblicklicher Beschauung vorschwebte – seine Blüte ist zerfallen – er modert – ich finde ihn nirgends als aufgelöst in seinem Grabe! Die Erde hat auch mich gefesselt wie ihn, ihre Bewohner haben meinen Geist gebunden – sie schlugen nun die Pforten am Tempel der Natur, der Wahrheit, der Tugend und jener Welt zu, und ich habe den Sinn verloren, der sie mir einst öffnete!«

Der Kammerrat versuchte seine Aufmerksamkeit zu fesseln, aber es war vergebens. Ernst wich seinen Gesprächen, selbst seinen treuherzigsten, gefühlvollsten Ergießungen aus. Nur wenn [441] jener von Franzen redete, lächelte Ernst zuzeiten schmerzlich; aber oft blickte er finster auf ihn und wiederholte die schrecklichen Worte: »Ich werde ihn nicht mehr sehen!«

Der Kammerrat stand den Geschäften mit der ihm gewöhnlichen Treue, dem ihm eignen Eifer vor, freuete sich über den Fortgang der Wirtschaft und hoffte noch immer, Ernst würde endlich aus seinem Kummer erwachen und sich an sich selbst, an seinem Werke ergötzen. So oft er mit Ernsten ging, deutete er da und dort hin, auf diese und jene Verschönerung oder Verbesserung, auf diese und jene neu keimende Hoffnung.

Ernst antwortete ihm: »Es ist Erde, von oben muß das Licht zu ihrer Verklärung kommen.«

Der Kammerrat antwortete:

»An Licht hat es uns nicht gefehlt. Die Sonne scheint wie sonst, wir mögen ihr nun dafür danken oder nicht, und das ist es eben, was mich so sehr erfreut und so glücklich macht. Sehen Sie nur, wie alles gedeihet! wie alles um Sie her blüht und Ihnen zulächelt und Ihnen vorwirft, daß Sie es nicht sehen.«

Ernst schwieg –

Seine Landleute, deren Herz man vergiftet, denen man ihren Herrn als einen mit den Verwüstern Teutschlands Verbündeten gemalt und denen man gesagt hatte, er sei nach Paris gereist, um sein Vaterland aus Rache zu verraten, haßten und fürchteten ihn nun. Da er dieses nicht zu achten schien und kalt, traurig an ihnen vorüberging, weil er sich aus Menschenscheu nicht getrauete, sie anzureden, so glaubten sie diesem Gerüchte der Bosheit umso mehr und sagten untereinander: »Er hat gewiß ein schreckliches Verbrechen begangen, sein Gewissen foltert ihn nun; er ist wahnsinnig, man muß sich vor ihm hüten.« Diese Meinung bestärkten unter dem gemeinen Volke seine stillen Reden mit sich selbst, seine heimlichen Tränen, seine einsamen Wanderungen in dem dunkelsten Teile des Waldes, sein öfteres Sitzen vor den Pforten der Kirche auf dem Hügel, wo er sich so in Nachsinnen verlor, daß er die Beobachtenden nicht bemerkte und bei ihrem lauten Reden oder bei Geräusche entfloh, als habe man ihn über einem Verbrechen ertappt. Hier überdachte er [442] Teutschlands trauriges Schicksal, hier kämpfte er um den verlornen Glauben, um den vorigen hohen Sinn, hier gelang es ihm oft, durch einen leisen Seufzer, durch wehmütige, zärtliche Erinnerungen die verlornen Gefühle seiner glücklichen Jugend wieder hervorzurufen, sich durch seinen ihm so nahen Liebling, durch den heißen Wunsch, ihn wiederzusehen, an das Land anzuknüpfen, dessen Spur er für verloren hielt. Und es wäre ihm gelungen ohne den ihn ganz betäubenden Schlag, der ihn eines Abends so schrecklich in seinen traurigen und süßen Träumen erschütterte.

Er saß eines Abends bei dem Untergang der Sonne vor den Pforten dieser Kirche und sah starr in ein an dem Horizont dunkel und düster aufsteigendes Gewitter. Schon donnerte es in der Ferne. Die Landleute eilten von den Feldern nach dem Dorfe. Ein roher Bursche bemerkte ihn und rief ihm zu:

»Geht doch von der Kirche weg, gnädiger Herr! Ihr seht ja, daß ein Gewitter aufsteigt; leicht könntet Ihr die Kirche zu Schaden bringen.«

Ernst antwortete verzagt und sanft:

»Warum, mein Freund, sollte denn ich die Kirche zu Schaden bringen?«

»Wer weiß, wem das Gewitter gilt! Uns gewiß nicht«, erwiderte der Bursche.

»Und wie mir? Warum mir, mein Lieber?« fragte Ernst noch sanfter.

»Daß Ihr nur fragt!« antwortete der Bauer rauh. »Wem zürnt anders der Herr als dem Verbrecher, dem sein Gewissen keine Ruhe läßt, weil er das Vaterland verraten hat, mit den Feinden im Bunde steht und kaum erwarten kann, bis sie da sind? Aber laßt sie nur kommen! Ihr sollt wahrlich die Freude nicht lange genießen, und es soll Euch zu nichts helfen, daß die, die alle umbringen, Euch allein nicht umgebracht haben.«

Ernst bebte und zitterte wie ein Verbrecher. Seine plötzlich blitzenden Augen schossen gegen den Himmel, und ihre feurigen Strahlen schienen sich mit den Blitzen, die jetzt die Wolken zerteilten, zu vermischen. Der Donner ertönte – die Erde bewegte [443] sich – die Wipfel der Bäume sausten – er stand da und breitete die Arme gegen den Himmel aus, als forderte er Rettung, Vernichtung von dem Sturme, der an dessen Gewölbe wütete. Sein Herz klopfte, seine Lippen, seine Wangen waren totenbleich – Und als nun die Stille erfolgte und das finstre Dunkel des Ungewitters sich mit dem Dunkel der Nacht vermischte, floh er nach dem Eichenwalde. Bald goß es von dem Himmel – er rettete sich nach der Höhle – Schauder des Todes hatten ihn ergriffen – die Worte des Rohen erschallten fürchterlicher in seinen Ohren als das dumpfe Gebrüll des Donners in dem Widerhall der Höhle – das schnelle Licht eines Blitzes fuhr durch die Spalten der Felsen und erleuchtete ihr schwarzes Dunkel. – Er erblickte den Kranz in der Blende – riß ihn herunter – und schleuderte ihn in den nahen Abgrund. Dann sank er bei dem Abgrund ermattet nieder, und der Geist des Jünglings schwebte düster trauernd über dem Abgrunde, der das Zeichen des Glaubens verschlungen hatte.

5.

Morgens kam Ernst nach Hause. Der Kammerrat, welcher ihn die ganze Nacht unter Todesangst gesucht hatte, vergaß seine Freude, ihn wiederzusehen, als er ihn erblickte. Er sah jetzt aus wie damals, als er aus Amaliens Zimmer zu der Leiche seines Sohnes zurückkehrte.

Von diesem Augenblick an schien er nicht mehr zu leben; denn alles, was ihm einst Leben gab, war durch seine letzte Tat, selbst mit der Hoffnung, verschwunden, er sah nichts mehr, woran sein Geist sich hielt – das Zeichen seines Glaubens mit aller seiner hohen Bedeutung war nicht mehr.

So träumte er düster fort an seinem Grabe und vermied alle Menschen. Hörte er eine Stimme oder das Gehen eines Menschen, so floh er in das dicke Gebüsch, und da umsausten ihn immer die schrecklichen Worte des Unglücklichen.

In diesem dunkeln Gebüsch vernahm er auf einmal die Stimme eines Menschen, deren Laut durch sein Herz drang. Es war [444] Hadem, von dem Kammerrat geführt. Ernst sprang aus dem Gebüsche und eilte dieser Stimme entgegen. Er sah Hadem die Wiese heraufwandeln wie den Priester des erhabenen Tempels, den die Natur um ihn her aufgebauet hatte.

Ernst eilte ihm entgegen, und als er ihm nun nahte und der durch das Alter jetzt noch ehrwürdigere Edle vor ihm stand und ihn an sein Herz zu rufen schien – blieb er stehen und sah ihn mit solcher Verehrung an, als wagte er es nicht, ihn zu berühren, als fühlte er sich nicht mehr würdig, in seine Arme zu sinken. Aber Hadem fiel ihm um den Hals und weinte. Die Freude zuckte einen Augenblick durch Ernstens Adern und Herz, sie verschwand, und er glich einem Menschen, der in düstern Träumen schwebt.

Hadem sagte traurig: »Ich sehe das Land meiner Hoffnung, es ist, wie es ehedem war – alles blühend, es verspricht den Vorschmack jenes Lebens, den ich hier zu genießen hoffte. Aber der Geist, der es einst belebte, der es zum Paradiese machen sollte, wohnet nicht mehr hier. Ich suche meinen Schüler – Er wendete sich zu dem Kammerrat. – O sagen Sie mir, wo soll ich ihn finden?«

Der Kammerrat deutete in rührender Unschuld auf Ernsten.

Ernst sprach: »Sie kamen zu spät, Hadem. Der Traum ist ausgeträumt. Wenn Sie Ihren Schüler hier suchen, so ist Ihre Mühe verloren – der ist lange tot – ist lange verweset! – Übrigens sein Sie willkommen, wenn Sie sich mit seinem hier noch wandelnden Schatten begnügen wollen. – Kommen Sie nur, Sie werden Ihr Zimmer finden, wie Sie es vor Jahren verlassen haben, mit allen Gerätschaften – alles gerade so – dem Äußern nach.«

Hadem hatte tief in seine Seele geblickt, er schwieg, ging mit ihm nach dem Schlosse, bezog sein Zimmer, dankte ihm für das zärtliche Andenken, alles so schön und freundschaftlich erhalten zu haben, und versicherte ihm mit Wärme, dieses tue einem alten Manne, wie er nun sei, dessen Herz noch immer so jung fühle, außerordentlich wohl, und er wenigstens werde für sich schon alles dieses finden, was er gesucht, was er so lange habe entbehren müssen.

[445] Ernst hörte ihn ruhig an. Die Tage vergingen, und er blieb in seiner Stimmung. Hadem erzählte, warum er so lange verweilt, daß ein Kaper den Amerikaner, der ihn nach London geführt, aufgebracht hätte. Ernst hörte ohne Äußerung zu. Selbst Hadems rührende Geschichte in Amerika, seine Beschreibungen des Landes, der neuen Völker, die er gesehen – nichts schien Ernstens Aufmerksamkeit zu fesseln, nichts seine Neugierde zu reizen. Zu seinem größten Schmerz sah Hadem, daß er selbst von den ersten glücklichen Zeiten vergebens redete. Und dieses war die schrecklichste Entdeckung für ihn; denn sie drohte allen seinen Hoffnungen.

Von dem Kammerrate konnte er wenig erfahren. Er wußte, daß sein Schüler keiner Tat von solchen Folgen fähig war, und umso empörender dachte er sich ihre Ursachen von der andern Seite. Woher diese Gleichgültigkeit, die oft an Fühllosigkeit grenzte? dieser in bitterm Lächeln sich ausdrückende Unglaube? dieser entschiedne Haß gegen sich selbst, den er bei jeder Gelegenheit verriet? diese Kälte gegen ihn selbst, seinen Lehrer, seinen Freund? Er sah dieses Herz, welches einst die reinste Tugend erwärmte und belebte, jetzt erstarrt, selbst gegen seine Stimme, gegen seinen Zuruf, gegen seinen Blick fühllos. Er sah diesen Geist, der einst auf ätherischen Schwingen schwebte und nur hohe Gedanken dachte, zur Erde gedrückt, diese Lippen, welche einst die erhabensten Gesinnungen ausgesprochen hatten, verschlossen – alle moralische Kraft in ihm erdrückt – und die Tugend selbst als einen sinnlosen Schall nun an seinen Ohren vorübergehen. Und dieser einst schöne, blühende, junge Mann glich im Äußern einer Leiche – sein Haupt gesenkt, seine begeisterten Augen erloschen, seine Wangen bleich, sein ganzer Körper nahe Auflösung drohend. Und er mußte schweigen, durfte ihn nicht um die Ursache fragen, weil er jedesmal, wenn er nur entfernt darauf hindeutete, eine Erschütterung in ihm bemerkte, die seine schnelle Vernichtung fürchten ließ. Und doch mußte dieser Augenblick herbeigeführt werden; denn nur in der Mitteilung von ihm selbst, in der ganzen Kenntnis seines erlittenen Unglücks konnte er die Mittel zur Heilung erblicken.

[446]

Davon überzeugt fing er an, Ernsten kälter zu behandeln. Er sprach oft in seiner Gegenwart mit dem Kammerrat von seiner nahen Abreise, sagte dann, er habe sich betrogen, in aller seiner Hoffnung ganz geirrt, er verdiene es, er habe auf Menschen zu viel gebauet. Das verheißene Paradies hier habe wirklich abgeblüht, er wolle es nun am Ohiostrom, in den Wildnissen Amerikas wieder suchen, so alt er auch sei, so sehr er auch der Ruhe bedürfe. Auch habe er mehr Zutrauen, mehr Liebe, Sicherheit und Tugend unter den dortigen Wilden gefunden als in dem aufgeklärten Europa. Hier spreche man von der Tugend wie von einem Thema der Redekunst, und wenn es zur Probe komme, zeige es sich, daß der Europäer nur schön davon zu reden verstehe. Die Wilden täten, wovon man hier spräche, und dieses ergötze sein altes Herz und mache es wieder jung; er sei nun aller europäischen Schwäche, Gleisnerei und Plage herzlich satt.

Ernst senkte das Haupt, und Tränen träufelten aus seinen Augen. Er suchte sie zu verbergen und schwieg noch.

6.

Einige Tage hierauf sagte der Kammerrat zu Ernsten:

»Herr Hadem macht wirklich Anstalten zur Reise und, wie es scheint, noch auf heute!«

Ernst eilte zu ihm und umfaßte seine Knie:

»O mein Vater! mein Lehrer! nehmen Sie mich mit an den Ohiofluß zu Ihren Wilden!«

Hadem antwortete mit strengem Ernste:

»Was fordern Sie von mir? Ich eile zu den Wilden, um Sie, in welchem ich mich betrogen habe, zu fliehen, um Sie nicht mehr zu sehen, um die wenigen noch übrigen Tage meines Lebens nicht zu hassen. Ich bin müde, um einen Schatten herzuwandeln, der mich bei jedem Blick an den edelsten, den hoffnungsvollsten Menschen erinnert, den meine Augen gesehen haben, in welchem ich den Lohn meines kummervollen Lebens aufblühen sah, der aber keiner meiner Hoffnungen entsprach, der meinen Geist tötet, mein Herz zerreißt, der in seinem Unglück auch das verloren hat, [447] was der Trost des Unglücklichsten ist: das Vertrauen, sein Unglück in den Busen seines Freundes zu gießen. Doch der moralisch Tote glaubt auch nicht an Freundschaft, und damit ich das nicht in Ihrer Gesellschaft werde, so gehe ich, so fliehe ich zu den Wilden, um mir dort noch einen Freund zu suchen, der meine Augen schließe und meinen Leib in die Erde senke.«

Er hob seine Hände zum Himmel empor und rief mit lauter Stimme:

»Geist des Edeln, dem ich diesen Menschen einst anvertrauet habe! kennst du ihn noch? Wirst du ihn erkennen, wenn er einst zu dir tritt? Darf er dir sagen: Ich habe deine Stimme vernommen, ich habe dich verstanden!«

Jetzt stürzten Tränen aus Ernstens Augen. Er warf sich in Hadems Arme:

»O mein Freund! mein Lehrer! erretten Sie mich vor mir selbst! – Wenn Sie alles wüßten, Sie würden mich bei jenem nicht anklagen – Wenn Sie es wüßten, Ihr gutes Herz würde bei meiner Geschichte brechen! O wie ist die Welt mit Ihrem Schüler umgegangen! Wie haben die Menschen ihn gemißhandelt! – Was haben ihm die getan, deren Busen er sein ganzes Glück anvertrauete! Und war jener, den Sie zum Zeugen gegen mich anriefen, nicht unglücklich, nicht verfolgt wie ich?«

HADEM: Nur dann würde er es ganz gewesen sein, wenn er an dem gezweifelt hätte, was er Sie und die Menschen lehrte – Tat er dies? fiel er je so tief? Und mag mein Herz bei der Erzählung Ihrer Geschichte brechen – kann mir mehr geschehen als mir täglich geschieht? Und kann, muß ich nicht Rechenschaft von den Früchten der Lehren fordern, die ich Ihnen gegeben habe? Sind Sie mir ihre Anwendung nicht schuldig? Verdammt, oder rechtfertigt mich nicht die Art, wie Sie das ertragen haben, was Ihnen die Menschen Böses zufügten? Muß ich nicht wissen, was Sie dabei taten? Soll ich Sie mit dem schrecklichen Gedanken verlassen, ich habe Sie irregeführt? Ihre Zweifel, Ihre jetzige Denkungsart klagen mich, Ihren Lehrer, als einen Betrieger an; soll ich mit diesem Gefühl, an dieser Vorstellung sterben?

ERNST: Hadem! keine solche Vorwürfe! – Oh, wohl! es sei so!

[448] Zu meiner Verurteilung will ich Ihnen die Geschichten erzählen, die mich hierher gebracht haben.

Sitzen Sie hier, mein strenger, unbestechlicher Richter! sein Sie fühllos gegen mein Unglück! Ihr Verstand allein höre mich!

Ich weiß nicht, wer schuldig ist. Vielleicht können Sie es mir am Ende meiner Erzählung sagen. Aber bevor ich dahin komme, will ich Ihnen erst einen schönen Jugendtraum erzählen, will von mir wie von einem andern reden – wie von einem, der hier zwischen uns im Grabe verscharrt liegt, dessen Leichenrede ich zu halten bestellt bin. Ach, Sie wissen, wie dem bestellten Leichenredner zumute ist, wie viel Anteil er gewöhnlich an dem Verstorbenen nimmt, wie sehr er eilt, des lästigen Geschäfts bald los zu werden. Hier gleich ich ihm nun nicht, ich möchte bis zu meiner Auflösung von dem Toten reden. Und wenn ich dahin komme, wo dieser Jugendtraum verschwunden ist – glauben Sie, ich würde erzählen können, wie er verschwand? Und ich soll es jetzt erzählen – jetzt, da mein Herz ganz zerrissen ist – so wund, so zerrissen, daß alle meine Empfindungen hindurchsinken – jetzt, da keine Fiber mehr zittert, kein Nerve mehr antwortet, da meine Seele so verfinstert und gedankenlos ist, als sei ich in dem dunkeln Schoße der Erde geboren und ihr nie entstiegen, als sei nie ein Lichtstrahl aus jener Welt in mein Gehirn gefallen! Freilich habe ich nun eine Art von Wohlsein errungen, wobei ich schaudere; und, Hadem, mein Lehrer, mein Freund, dieser Schauder ist die einzige Empfindung, die der, den Sie moralisch tot nennen, noch hat, die ihm zeigt, daß er lebt. – Und dann lispelt mir zuzeiten ein Geist aus weiter Ferne: »Du lebtest! du träumtest einst!«

Reden Sie nur jetzt nicht, Hadem! Aus jedem Ihrer Worte würden nur neue Zweifel gleich giftigen Schlangen an meine Brust springen – Jetzt trotz ich der Verzweiflung, was ich sonst nicht konnte; denn es war eine Zeit, wo ich mit geballter Faust das Herz zurückdrückte, wenn es wieder dem Leben entgegenschlagen wollte.

So wie es jetzt ist, ist es recht gut, es könnte ja noch viel schlimmer werden. Und wenn ich Ihnen einst laut zurufen sollte, in [449] dem Tone, der so oft in meine Ohren gellt: »Jüngling mit den grauen Haaren, der ernsten Stirne! auch du träumest!« dann fliehen Sie schnell, dann möchten Lästerungen aus dem Munde stürzen, der zum Segnen, zum Ausdruck der Verehrung gebildet ward. Dann wird der Tempel ganz in Staub zerfallen sein, auf dessen Trümmern ich jetzt sitze wie ein klagender Geist der Vorzeit. – Ich kann ihn nicht mehr aufbauen, es geht über meine Kraft.

HADEM: Den Jugendtraum! Ich bitte, erzählen Sie mir Ihren Jugendtraum.

ERNST: Ah, seine Farbe ist verblüht, in dem Winde zerstreut – ich kann sie nirgends mehr finden. Das Schicksal hat meine Flügel zerschnitten – und der Geist, der sie erschwärmte, wo ist er? Erschuf er sie? Wahrlich, ich vermag es nicht mehr, aber das, was darauf erfolgte, das schreckliche Erwachen, das! das! werde ich Ihnen andeuten können, dazu liegen die schwarzen Farben in meinem Herzen.

Und langsam, unter dem peinlichsten Kampfe, bald stockend, bald in wilder Ergießung, bald mit Tränen, bald mit Heftigkeit erzählte er das Geschehene von Renots Eintritt an bis auf den Augenblick, in welchem er den Kranz aus der Blende riß und in den Abgrund warf.

Und er endigte: »Mein Geist, mein Glaube an die Tugend stürzten ihm nach, und nun hasse ich das Menschengeschlecht, hasse es in mir, hasse es darum in mir, weil ich aufhören konnte, der zu sein, der ich war! Um den Verlust dieses Glückes, dieses Sinnes, um den Verlust der Hoffnung, meinen geliebten Knaben dort wiederzusehen, hasse ich mich! Und dieser wilde Haß wird täglich bitterer, empörender – er, er allein, hält schon lange die Tränen in meinen Augen zurück, die ich über mein Schicksal weinen könnte. Reisen Sie nun ohne mich, wenn Sie es können.« Er floh aus dem Zimmer. Hadem hatte alle Qualen, die er bei der Erzählung empfand, schweigend ertragen – sie trieb ihn an die Pforten des Todes, und oft sank sein Bewußtsein; aber als Ernst die letzte rauhe Behandlung berührte und dann mit dem schrecklichsten Blick, den Hadem je in eines Menschen Auge gesehen, [450] sagte, wie er den Kranz in den Abgrund geschleudert hätte, und dann rief: »Mein Geist, mein Glaube an die Tugend stürzten ihm nach«, da stockte sein Leben einen Augenblick, und als er wieder zu sich kam, sah er angstvoll nach Ernsten, als wollte er sich von dem Dasein desselben überzeugen, als zweifelte er, ob er es wirklich sei, der diesen Augenblick überlebt hätte.

Und nun kannte er die schrecklichen Ursachen von der Verhüllung des Geistes, der moralischen Kraft seines Schülers. Er dankte dem Ewigen für sein Dasein; denn bei jedem neuen Schlage glaubte er, es zerfiele nun und das ihm bekannte edle Herz, der milde Geist seines Schülers könne diesen nicht ertragen. Sein Geist verwirrte sich auf Augenblicke, so daß er glaubte, der zu ihm Redende sei eine täuschende Erscheinung aus der andern Welt. Aber jetzt fand er bei mehrerem Nachdenken eben in den letzten Worten, wodurch sich Ernst alle Hülfe, alle Genesung abzusprechen schien, einen Strahl der Hoffnung. Er bauete diese auf eben das Gefühl, wodurch Ernst seine Verzweiflung an sich selbst andeutete.

Und jetzt fühlte er das Erhabene in dem Bewegungsgrunde zu Ernstens gegen sich selbst gekehrtem Hasse, der diesem verborgen war und verborgen bleiben mußte. »Er haßt nicht die Menschen, die ihm dieses getan, ihn dahin gebracht haben, er haßt sich, weil er nicht mehr ist, was er war; und darum ist er noch in seinem tiefen Innern, was er war!« So lispelte Hadems Geist seinem bekümmerten Herzen zu, aber wie konnte er wieder einen Lichtstrahl aus jener Welt durch die dicke Finsternis, die seinen Geist verhüllte, zu ihm leiten? wie das von diesem Geiste ganz getrennte Herz wieder mit ihm vereinigen?

So saß er lange sinnend. Er empfand, daß alle trockne Worte, alle Gründe der Vernunft hier fruchtlos sein würden. Vielmehr fürchtete er, durch Gründe und Vorstellungen den zu Zweifeln geneigten Geist seines Schülers noch mehr zu reizen. Er überzeugte sich, daß er alles entfernen müßte, was weiteres Nachsinnen über diesen Gegenstand erwecken könnte. Er sah ein, daß ein durch solche Ereignisse hervorgebrachtes düstres Gefühl [451] jedem Gedanken seine Farbe mitteilen müßte, daß er durch Zergliederungen des Geschehenen Gefahr liefe, Ernstens Selbsthaß gegen die Menschen zu kehren oder ihn auf die Klippe des Unglaubens an alle Tugenden zu treiben, vor welchem ihn bisher sein Selbsthaß, ihm unbewußt, noch gerettet hatte. Sein Geist ahndete Rettung, aber noch begriff er nicht, woher sie kommen sollte.

Ernst fragte ihn abends noch einmal:

»Werden Sie reisen? Und wenn Sie zu Ihren Wilden reisen, werden Sie Ihren Schüler nicht mitnehmen?«

HADEM: Edler, der du größer im Unglück bist, als du glaubst, ich verlasse dich nicht. Und wenn du stirbst, so sterbe ich mit dir, denn stürbest du in dieser Dunkelheit – müßte nicht ich dir den Weg zu unserm Vaterlande zeigen, dessen Spur du verloren hast? Du bist seiner noch wert.

Ernst wendete sein Angesicht weg.

Hadem ergriff seine Hand: »Ich, der dir nie eine Unwahrheit gesagt, ich, der mit dir sterbe, ich sage, du bist dieses Landes nie werter gewesen.«

7.

So lebten sie noch einige Zeit fort. Ernst ward sanfter, milder, aber er sprach wenig. Nur nahm die Sorge für seinen Freund täglich zu.

Eines Abends ward Hadem sehr schwach und entkräftet, an Kopf und Hüfte verwundet, von den Bedienten nach Hause gebracht. Ernst sah ihn in seiner Entkräftung, in seinem Blute und konnte nur aufschreien: »Auch dich, mein Vater!«

Der Kammerrat sprang herbei. Hadem winkte auf Ernsten und tat sich Gewalt an, frei auf seinen Füßen zu stehen. Er lächelte Ernsten an und sagte: »Sie glauben mich krank und vergessen, daß ich es durch Ihr Benehmen erst recht werden müßte. Jetzt brauche ich Ihre Hülfe, und die kleine Quetschung, die ich bei einem Falle von den Klippen des östlichen Hügels bekommen habe, wird unser Freund hier bald heilen. Sie wissen ja, wie gut er das versteht.«

[452] Hadems Zureden und sein erzwungenes Herumgehen beruhigten Ernsten. Der Kammerrat untersuchte die beschädigten Teile, machte Bähungen zurecht und setzte Ernsten als Krankenwärter an das Bett. Die Sorge für Hadem nahm seiner Stimmung, seinem Tone das Bittere und Grelle ganz, und darum forderte Hadem sie noch mehr auf und sagte ihm oft: »Nun sehe ich doch, daß Ihnen an meinem Dasein gelegen ist, daß Sie mich lieben.«

ERNST: Und zweifelten Sie daran?

HADEM: Nun nicht mehr. Tragen Sie ja Sorge für mich, daß ich bald ausgehen kann, und versprechen Sie mir, daß Sie mich bei meinem ersten Ausgange begleiten wollen, wohin ich Sie auch führe.

ERNST: Ich verspreche es.

HADEM: Unbedingt?

ERNST: Unbedingt.

HADEM: So sei es morgen früh. Wir gehen in den Eichenwald, und Sie vergessen Ihr Versprechen nicht.

8.

Morgens führte Hadem Ernsten in den Eichenwald. Sie setzten sich auf den Hügel unfern des Stroms. Hadem sprach nicht, er schien in seinem Innern sehr beschäftigt. Bald lächelte süße Hoffnung um seinen Mund, er stand auf und leitete Ernsten an der Hand nach der Höhle. Jetzt fühlte er seines Schülers Hand in der seinigen beben – er sah sich nicht um. Ernst folgte ihm, und er leitete ihn gerade nach dem Abgrunde; dann wendete er sich zu Ernsten und sagte:

»Erinnerst du dich jenes Augenblicks, mein Sohn, da du in diesen grundlosen Abgrund springen wolltest?«

Ernst bebte. – Hadem fühlte den kalten Schweiß auf seiner Hand, die er jetzt wieder hielt.

»Ich frage dich noch einmal, ob du dich dessen erinnerst.«

ERNST: Ja, ich erinnere mich. Oh, hätte ich es damals getan, ich wäre nicht in einen schrecklichern Abgrund gesunken!

HADEM: Doch ist dieser schrecklich, schaudernd, gefahrvoll [453] genug, dieses habe ich erfahren. Es scheint beinahe unmöglich, diesem Schlunde wieder zu entsteigen, und doch konnte ich es, selbst nach ausgestandner Todesangst; denn mich leiteten Glaube, Liebe und Hoffnung.

ERNST: Wie? bist du in diesem Abgrund gewesen, mein Vater?

HADEM: Ja, ich stieg hinunter, ohne mein Leben zu achten. Ich stieg hinunter, um ein kostbares, ganz verlornes Kleinod zu suchen. Den Tod fürchtete ich nicht, ich fürchtete nur, es möchte mir nicht gelingen, dieses Kleinod zu erobern. Lange lag ich leb- und sinnlos auf einem Felsenstück in dieser Höhle, und als ich wieder das Leben fühlte, verlor sich mein Stöhnen und Seufzen in der Tiefe. Aber als meine Kraft wiederkehrte und ich meinen Arm um Rettung ausstreckte, fühlte ich das mühsam gesuchte Kleinod über meinem Haupte, es hing an einer hervorragenden Spitze des Felsens. So brachte ich es an das Licht und sage, mein Leben ist durch diese Tat etwas wert geworden.

Er stellte nun Ernsten gegen die Blende. Sein Kranz, sein Zeichen des Bundes, hing darin; es war die Stunde, zu welcher ein Lichtstrahl durch die Spalte des Felsen dringt und die Blende an der Stelle erleuchtet, wo der Kranz hing.

HADEM: Ernst, du wirst einige Blutstropfen daran finden, ich hoffe, das Zeichen deines Glaubens hat dadurch an Reinheit nicht gelitten. Um es sicherer zu retten, umwand ich meine Schläfe damit; ich wußte damals noch nicht, daß mein Haupt verwundet war. Doch ein solcher Kranz von solcher Bedeutung erwirbt sich nicht anders – Ernst, in jenem Lande werden diese Flecken abgewaschen sein, dort wird er dir glänzen!

Ernst sank in seine Arme – und der Geist aus jenem Lande goß sich in sein Herz. Er rief:

»O mein Vater, an deiner Seite konnte ich an der Tugend zweifeln!«

HADEM: Und Rousseau!

»Rousseau!« antwortete Ernst – und aus den labyrinthischen Felsengängen der Höhle hallte es zurück, als antwortete die Ewigkeit.

Fußnoten

1 Die obigen Briefe in dem zweiten Buche.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Klinger, Friedrich Maximilian. Romane. Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit. Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-B2A3-E