28. Hundposttag
Osterfest
Einen Hundtag, der so lang und wichtig ist wie der 28ste, darf man schon in drei Feiertage zerfällen.
Erster Osterfeiertag
Ankunft im Pfarrhause – Klub der Drillinge – Karpfe
Am ersten Ostertage schlich Sebastian, voll Schneewolken wie der Himmel über ihm, aus dem Totenhaus der Tugend, aus den Wirtschaftsgebäuden der Leidenschaften, ich meine aus der Residenzstadt-aber erst gegen Abend, um heute mit seinem von einem halbjährigen Gewitterregen bodenlos gewordnen Herzen keinem Freunde lange zur Last zu sein. Auf dem Berge, hinter welchem Flachsenfingen wie durch einen Erdfall einsinkt, kehrt' er sich um gegen die dunkle Stadt und ließ vor seiner Seele wie einen Abendnebel die Erinnerung vorüberziehen, wie er vor drei Vierteljahren im Abendglanze des Sommers und der Hoffnung so fröhlich über diese Häuser geblickt habe – ich beschrieb es längst –, und er verglich seine damaligen Aussichten mit seiner heutigen Wüste; er sagte endlich: »Sage dirs nur geradezu, was du hast und willst du hast nämlich nichts mehr, kein geliebtes und liebendes Herz in der ganzen Stadt – aber duwillst noch einmal nach St. Lüne marschieren und ganz verarmt vom blassen Engel, den dein ausgestohlnes Herz nicht vergessen kann, den zweiten Abschied nehmen, wie du der Sonne nachsteigst und sie, wenn du ihren Untergang aus einem Tale gesehen, noch einmal auf einem Berge sinken siehest.«...
[924] Fünf halbe Sabbaterwege vom Dorfe erblickte er den Hofkaplan, von einem Katechumenen (sowohl des Schneiderhandwerks als des Christentums) gejagt. Vergeblich suchte er und der junge Schneider den vorausgehetzten Seelenhirten zu erlaufen. Der Hirt stand nicht eher fest, als bis der Junge in sein Haus hinein war. Ein Hundertundzwanzigpfünder (das ist mein physisches Gewicht) bekömmt nicht mehr ästhetisches, wenn er die unbedeutende Ursache des unbedeutenden Rennens so lange bei sich behält und es nicht eher sagt als jetzo, daß der Kaplan durchaus niemand hinter sich gehen hören konnte, weil er besorgte, der Mensch erschmeiß' ihn von hinten. Nun wollte der Lehrbursche in die Fußstapfen seines geistlichen Meisters treten und ihm nachkommen – je ärger der Meister ins Freie setzte, um jenen zurückzulassen, desto weiter sprang der Schüler vor, ihn zu ertappen – das war der ganze Bettel; aber so jagen Menschen Menschen.
Viktor lief mit aufgeflognen Armen an hangende, die der Eigner in der Angst nicht erheben konnte. Aber im Pfarrhause legten sich zwei wärmere um seinen ausgefrornen Busen, die seiner Landsmännin; und die Pfarrerin trübte seine und ihre Aufersteh-Freude nicht mit einer einzigen Klage über seine bisherige Entfernung – er erwiderte diese freundschaftliche Feinheit, die dem andern unnütze Entschuldigungen erließ, mit doppelter Wärme und mit einem dich bändigen Klaglibell gegen seine eigne Narrheiten. Sie führte ihn eine Treppe im freudigen, heute mit lauter erleuchteten Stockwerken durchbrochnen Pfarrhause hinauf an ihres lieben Sohnes Brust und vor die Augen der drei verwandten Söhne aus einem Vaterland, vor die Drillinge....
O ihr vier Menschen eines Herzens, drückt meines verlassenen Viktors seines an eurem warm und macht den Guten froh, nur auf einen Abend.... Ich bins wahrlich selber, seit dem Pascha-Ausgange aus dem flachsenfingischen Ägypten. Ich will daher das 28ste Kapitel so lang machen, wie das Baddorf selber ist. Meinem Werke wird dadurch Gewicht erteilt bei wahren Kunstrichtern – aber auch bei Postmeistern, die von mir, wenn ichs in die Verlagshandlung absende, fürs Wägen etwas Erhebliches ziehen... Soll aber ein Autor so schäbicht sein und seine Empfindungen, bloß [925] weil sie ein Postsekretär mehr nach seiner eignen abwiegt als nach der Posttaxe, des Portos wegen abkürzen? Und muntert mich nicht die Kur-, die Fürsten- und die Städte-Bank in Regensburg zum Gegenteil auf, zu verlängerten Empfindungen, indem besagte Bänke mir durch einen Reichsabschied zwei Drittel Postgeld für Drucksachen erlassen, um die Gelehrsamkeit, hoffen sie, in Gang zu bringen und die Empfindsamkeit?
Der edle Evangelist war zwar auch mit droben – er und Joachime hatten die Hofdame höflich zu den Eltern begleitet –, aber hier auf dem Lande, wo weniger moralisches Unkraut steht als in Städten (so wie weniger botanisches in Feldern als in Gärten) und wo man Freuden ohne maitres de déplaisirs genießet, hier, wo in Viktor die Liebe des Vaterlandes die Sehnsucht nach jeder andern stillte, konnte niemand unglücklich sein als der, ders verdiente. Matz verschwand da wie eine Kröte unter Tulpen. Viktor hätte die Briten geliebt, auch ohne die vaterländische Blutverwandtschaft – und hätte die Holländer gelästert, auch mit derselben; daher schreibt sich seine unbesonnene Rede, diese Völker malten sich in ihren Tabakpfeifen, indem die englischen aufgerichtete Köpfe hätten und die belgischen hangende.
Alle drei waren von der Oppositionpartei und verloren ihr kaltes Blut über das eiskalte von Pitt. Der Korrespondent der Hundtage schreibt mir nicht, warum – obs war, weil sie vom Minister beleidigt wurden – oder ob sie am fürchterlichen Weltgerichte und der Totenauferstehung in Frankreich, wo die Sonne über Phönix-Asche und Krokodileneier zugleich brütet, nähern Anteil nahmen – oder weswegen sonst. Er berichtet mir überhaupt nichts weiter von ihnen als ihre Namen, nämlich Kaspar, Melchior und Balthasar, welches die Namen der heiligen drei Könige aus Morgenland waren 80.
[926] Der, der sich aus Laune Melchior nannte, verbarg unter einer phlegmatischen Eiskruste eine Gleicherglut und war ein Hekla, der erst seine Eisberge spellt, eh' er Flammen ausschüttet; mit kaltem Auge und schlaffer Stimme und welker Stirne sprach er, einsilbig, vielsinnig, gepreßt – er sah die Wahrheit nur in einem Brennspiegel, und seine Dinte war eine wegreißende Wasserhose. – Der zweite Engländer war ein Philosoph und Deutscher auf einmal. Den ältern Kato, der zugleich den Mohrenkönig vorstellte, kennt jeder. Es ist mir so lieb, als wenn ichs selber wäre, daß gerade mein Held durch eine größere heitere Besonnenheit der Denkfreiheit von ihnen allen unterschieden war – ich meine jenes sokratische helle Auge, das frei über und durch den Garten der Bäume des Erkenntnisses umherblickt und das wählet wie ein Mensch, anstatt daß andre vom Instinkt irgendeinem Satze, irgendeinem Apfel dieser Bäume ausschließend zugetrieben werden, wie jedes Insekt seiner Frucht. Die moralische Freiheit wirkt so gut auf unsre Meinungen als auf unsre Taten; und trotz der Entscheidgründe beim Verstande und trotz der Beweggründe beim Willen wählt doch der Mensch sowohl sein System als sein Tun.
Daher wären die Drillinge beinahe noch vor dem Abendessen kalt gegen Sebastian geworden im Lieben, bloß weil ers war im Urteilen. Er war heute mit ihnen zum ersten Male in einem Falle, worein er mit Flamin jeden Tag dreimal geriet: gewisse Menschen verschmerzen lieber uneingeschränkten Widerspruch als eingeschränkten Beifall. Die Sache war die:
Matthieu gab durch seine satirischen Übertreibungen der kleinen Unähnlichkeit zwischen Viktor und ihnen ein immer größeres Hervortreten. Er sagte (nicht um anzuspielen, sondern um es zu scheinen), die Fürsten, von denen die Untertanen wie vom sinesischen König die Witterung des Staats erbäten, hälfen sich wie jener Rektor, der den Kalender selber verfaßte und seinen Schülern (hier den Günstlingen der Fürsten) zuließ, das Wetter dazu zu machen. Auch sagt' er, die Dichter könnten wohl für die Freiheit singen, aber nicht sprechen, sondern sie machten in furchtsamer Verfassung unter der Larve der Tragödienhelden die Stimme [927] der Helden nach, so wie er einen ähnlichen Spaß oft an einem gebratnen Kalbskopfe gesehen, der der ganzen table zu brüllen geschienen wie ein lebendes Kalb, indes nichts als ein lebender Laubfrosch darin gesteckt wäre, der sich bloß mit seinem Quaken daraus hören lassen. »Aber eine noch größere Feigheit wär's,« sagte Viktor, »nicht einmal zu singen; allein ich weiß, die Menschen sind jetzo weder barbarisch noch gebildet genug, um die Dichter zu genießen und zu befolgen; die Dichter, die Religion, die Leidenschaften und dieWeiber sind vier Dinge, die drei Zeiten erleben, wovon wir erst in der mittlern sind, sie zu verachten; die vergangne war, sie zu vergöttern, die künftige ist, sie zu verehren.« Die erzürnten Drillinge glaubten besonders, die Religion und die Weiber wären bloß für den Staat. Viktors republikanische Gesinnungen waren ihnen ohnehin schon wegen seiner aristokratischen Verhältnisse zweideutig. Da er nun gar dazusetzte: die Staatenfreiheit habe mit den kleinern Abgaben, mit größerer Sicherheit des Eigentums, mit besserem Wohlleben, kurz mit der Steigerung des sinnlichen Glücks gar nichts zu schaffen, alles dies wohne oft noch reichlicher in Monarchien, und das, wofür man Eigentum und Leben opfere, müsse doch etwas Höheres sein als Eigentum und Leben – da er ferner sagte: ein jeder Mensch von Bildung und Tugend lebe in einer republikanischen Regierform trotz den Verhältnissen seines Leibes, so wie ja Gefangne in Demokratien doch die Rechte der Freiheit genießen – und da er gar nicht sowohl für den Minister und das Oberhaus als für das englische Volk der Waffenträger und Kontradiktor wurde, weil die Grundsätze von den ersten beiden von jeher des letzten seine bekriegt und doch nicht bestimmt hätten; weil die jetzige Klage so alt wäre wie die (englische) Revolution; weil der Grundriß der letzten nur in einer förmlichen Gegenrevolution zerschlitzet werden könnte; weil alle Ungerechtigkeiten nach dem Schein der Gesetze begangen würden, welches besser wäre als eine Gerechtigkeit wider den Schein der Gesetze; und weil dasSprachgitter, das man jetzt um die englische Preßfreiheit 81 gemacht, nicht schlimmer sei als die athenischen Verbote, zu philosophieren, sondern besser [928] als die Erlaubnisse der römischen Kaiser, auf sie zu pasquillieren – –
... Die Engländer lieben lange Röcke und Reden. Da er mit »da« anfing: so muß in seinem wie in meinem Perioden »so« darauf kommen....
So wars keinem Teufel recht, und Kato der Ältere sagte: »wenn er diese Prinzipien im Oberhause vortrüge, so entstünde der größte Lärm darüber, aber aus Beifall, und jeder Hörer schriee noch: hear him!« Viktor sagte mit der Bescheidenheit eines Weltmanns: »er sei ein so warmer Republikaner und Altbrite wie sie alle, nur heute sei er zu unfähig, um aus diesen Grundsätzen zu erweisen, daß er ihnen gleiche; – vielleicht im nächsten Klub!« – »Und der kann« (sagte der Hofkaplan) »an meinem Geburttage gehalten werden, in wenig Wochen.« – Wenn wirs erleben, ich und die Leser, so wird man uns hoffentlich als Altgevattern mit dazu einladen; wir waren das erstemal (am 6ten Hundposttage) bekanntlich auch dabei.
Mein Held foderte den Menschen (zumal da er sich nicht Mühe gab) zu wenig Achtung ab. Er arbeitete zwar um diesen Arbeitlohn; wenn sie ihm aber nichts gaben: so wußt' er tausend Entschuldigungen für die Menschen und zog seinen Münzstempel heraus und schlug sich selber eine Ehrenmedaille, indem er dabei schwur: »Ich will verdammt sein, wenn ich mich nicht das nächstemal stolzer aufführe und minder nachsichtig und überhaupt ernsthafter, um eine gewisse Ehrfurcht zu erregen.« Das nächstemal soll noch kommen. Er vergab daher den Drillingen so schön, daß sie endlich den Menschenfreund mit leidenschaftlichen Armen auf immer an ihre Seele schlossen.
Nach einer solchen Gradualdisputation machte er nichts lieber als etwas recht Tolles, Galantes, Kindisches – damals wars ein Weg in die Küche. Catinat sagte: der nur sei ein Held, qui jouerait une partie de quilles au sortie d'une bataille gagnée ou perdue – oder der nach einer gewonnenen Disputation in die Küche gehen kann. Entweder nichts oder alles ist in diesem Täusch-Leben wichtig, sagt' er. In die Küche, die nicht so schmutzig war wie ein französisches Schlafzimmer, sondern so rein wie ein belgischer[929] Viehstall, war schon ein anderer Festhase und außerordentlicher Gesandter eingelaufen, der Hofkaplan, der da seinem Berufe oblag. Er mußte zusehen, ob sein Karpfen-Vierpfünder – aus dem Pastoralteich gebürtig und für den Adoptivsohn Bastian ausdrücklich ausgewintert – nicht sowohl recht abgeschuppet (darüber setzt' er mit wenig Philosophie sich hinweg) als recht geschwänzet wurde. Es konnt' ihm doch wahrhaftig nicht gleichgültig sein, sondern als Mensch mußt' er den Schmerz zugleich empfinden und bekämpfen, wenn ein Karpfe von soviel Pfunden, als ein Sterblicher Gehirn hat, so jämmerlich hinausgeschlitzet wird, daß das eine Schwanzquotum nicht kleiner ist wie ein Haarbeutel, und das andre nicht größer als eine Floßfeder. – Und doch ist diese ganze Nominalterrition von geringem Belang gegen eine ganz andere Realterrition (so sehr verschwindet erheblicher Kummer vor größerem), die den Pfarrer mit der Drohung ängstigte, daß man die Gallenblase des Vierpfünders zerdrücke – – Seine hätte sich der andern sofort nachergossen –: »Um Gottes Willen bedächtiger, Appel! vertrbitter' mir den ersten Ostertag nicht«, sagt' er. Galle ist nach Boerhaave wahre Seife; daher wäschet die satirische die halbe Lesewelt gleißend und rein, und die Leber eines solchen Menschen ist die Seifenkugel eines Weltteils und seiner Kolonien.
Es lief indes herrlich ab. – Aber beim Himmel! die Welt sollte nach dem Abdruck dieses Buchs einmal einsehen, daß ein Karpfen von vier Pfund – so lange gefüttert im Fischkasten, so geschickt ausgeweidet – mehr wiege auf der Fischwaage der Zufriedenheit als die goldnen Fischgräten in rotem Felde des Wappens der Grafen von Windischgrätz! –
Konnt' er denn lange in der Küche – diesem Witwensitz seiner alten geschiednen Jugend – unter so vielen Freundinnen Klotildens, die ihm alle das Niedersinken und Weggehen derselben (im doppelten Sinne) vorklagten, stehen, ohne daß der Honigessig zurückgewünschter Freuden über seinen Gaumen lief und die Zuckung des Mitleidens durch sein Herz; ob er heute gleich im zweiten Stockwerk die Disputation über die Freiheit als ein wahres zerteilendes Mittel, als ein Schußwasser, wenigstens als eine Aderlaßbinde [930] über seine offne Adern übergeschlagen hatte? Ich fragte, ob er an die Gute lange nicht denken konnte. – Aber ich würde die Antwort gar nicht geben und aus Mitleiden mit dem unschuldigen Viktor es vor soviel überrindeten Seelen – die in ihrer leeren Brusthöhle die poetischen Freuden der Liebe gutheißen und doch die poetischen Leiden derselben nicht – gar nicht offenbaren, wie oft er jeden Milchzucker des Schicksals mit dem giftigen Bleizucker der Erinnerung versetzte, wenn ich nicht deswegen müßte: ...
– weil die kleine Julia wiederkam aus dem Schlosse und das Versprechen mitbrachte, morgen komme Tante schon (Klotilde). Dieses versprach also, daß die Ministers-Tochter morgen abfahre. – Man verarge den Pfarrleuten die Zudringlichkeit um Klotilden nicht: denn am dritten Feiertag geht sie zum Balle, am Tage darauf nach Maienthal – sie hatten ja nur noch morgen und heute....
Die kleine Julia hatte unser Flamin, dem ihr Penny-Postamt wohlgefiel, mitgebracht. – Ich bin moralisch gewiß, die Kaplänin sah meinem Helden soviel an, als ich von ihm schreibe, und sie liebte ihn so sehr, daß, wenn sie statt des Schicksals hätte dekretieren müssen, sie vor Kummer gestorben wäre, eh' sie es über sich gewonnen hätte, den Sohn auf Kosten des Freundes zu beglücken. – So sehr gewann er durch eine schöne Vereinigung von Feinheit, Empfindung und Phantasie die schönsten und weichsten Herzen, ich meine die weiblichen.
Diese winzige Julia, der Nachflor der untergegangenen Giulia, band in Viktors Seele Rosen mit Nesseln zusammen; und alle seine heutigen Blumen der Freude hatten ihre Wurzeln in tiefen Tränen, die seine Brust verdeckte. Ihn rührte sogar der Kuß von Klotildens Freundin, von Agathen. Er dachte an das Stamitzische Konzert und an ihr Nebeneinandersein und an den Florhut, der den Schmerz von zwei geliebten Augen verhing. Er bat Agathen, sie sollte von Klotilden diesen Hut entlehnen und ihm ein genaues Ebenbild darnach machen, weil ers verschenken wolle. – »Wenn sie fort ist« (sagte er zu sich) – – »nein, aber wenn sie tot ist: dann wein' ich unverhüllt und sage allen Menschen frei heraus, daß ich sie geliebet habe.« – Du Lieber, über dem Souper – ein Pfarrer[931] kann eines geben – wird man den Glanz deiner Augen mehr dem sich selber entladenden Witze zuschreiben als dem zurückgepreßten Tränenwasser, und ich könnte dich, wenn ich mitäße, vor Rührung nicht ansehen, wenn du unter dem Aufhammern und »Härten« der roten Eier dein überquellendes Auge starr und halbzugedeckt auf einen roten Eierpol niederzuheften suchtest und schweigend deinen Eier-Giebel dem Fallbocke des Eymannschen Eies unterstelltest, um Zeit zum Siege über die Stimme und Augenhöhle zu gewinnen! – Und doch kann ich nicht sehen, was du aus dieser Maske für einen erheblichen Vorteil dann zu ziehen gedenkst, wenn dir die alte Appel durch die kleine Iris und Expressin Julia – sie selber kann sichs nie unterfangen – ein geflecktes tätowiertes Ei, ein wahres gekochtes allegorisches Gemälde, zuschickt, und wenn du die mit Scheidewasser darauf eingebeizten Blumenstücke und deinen Namen, mit Vergißmeinnicht umgraset, auf der zerbrechlichen Schale überliesest; ich sagte, was konnte dir deine vorige Verstellung helfen, wenn du jetzt, um den Gedanken »Vergißmeinnicht« nicht hinauszudenken, eilig hinausgehest und den doppelten Vorwand nimmst, du müssest Apollonien danken und wegen der Ermüdung schon zur Ruhe gehen? – O danken wirst du wohl, aber ruhen nicht! ...
Zweiter Osterfeiertag
Leichenrede auf sich selber – zweierlei entgegengesetzte Schicksale der Wachsstatue
Der niedergefallene Schneehimmel lag auf der Gegend. Der Schnee machte traurig und erinnerte an das winterliche Nestelknüpfen der Natur. Es war der erste April, wo die Natur sozusagen die Jahrzeit selber in den April schickte. – Viktor hatte so viel mores längst gelernt, daß man, wenn man bei einem Hofkaplan im Hause ist, auch mit ihm in seine Predigt gehen müsse. Auch schritt er in Sakristeien aus demselben Grunde, warum er gern in Schäfer-, Jagd- und Vogelhütten kroch. Er fand es nicht übertrieben, [932] daß der Kaplan (wie er zuletzt selber) sein Ersteigen der Kanzel – bloß weil er eine Menge Zurüstungen dazu machte – dem Ersteigen eines Walles in Hinsicht der Wichtigkeit an die Seite setzte. Ja er disputierte unter dem Hauptliede mit ihm über die Stolgebühren eines totgebornen Fötus und tat mit wenigem dar, daß ein Pfarrer von jedem Fötus – und wär' er fünf Nächte alt – die gehörigen Begräbnisgebühren, die filzigen Eltern möchten immerhin für das Ding keinen Leichensermon bestellen, fodern könnte. Der Kaplan machte einen wichtigen Einwurf; aber Viktor hob ihn durch den wichtigen Vorschlag, daß ein Geistlichesich (weil sonst die besten Fötus unterschlagen würden) so oft Leichengebühren von jedem Paare zahlen ließe, als es Taufgelder entrichten könnte. Der Kaplan versetzte: »Es ist dumm, daß die besten Pastoraltheologien über diesen Punkt so hurtig weg sind wie Schnupftabak.«
Bei soviel Laune meines Helden und bei soviel Lustigkeit meines Pfarrers – der an jedem heiligen Abend keifte und urteilte wie ein Revolutionstribunal, und der sich an jedem ersten Feiertag milderte, bis er am dritten gar ein Engel wurde – sollte sich die Welt etwas anders versprechen, als was doch kömmt: daß nämlich Viktor aus jeder Stunde des kommenden Abends, welcher Klotilden zum vorletzten Male in seine Gesellschaft brachte, ein vorragendes Opfermesser blinken sah, in das er seinen wunden Busen drücken muß. Sie war auf heute gleichsam zu einem Valet- Abendmahl geladen – die Drillinge ohnehin.
Endlich kam sie abends am Arme des verkannten Matthieu. – Wenn Ruska behauptet, daß die Zahl von 44435556 Teufeln, die nach der Behauptung des Guliermus Parisiensis um eine sterbende Äbtissin flankieren, viel zu schwach angegeben sei 82: so kann man leicht denken, wieviel Teufel um eine lebende, um eine blühende schwadronieren mögen; ich meines Ortes nehme um eine Schöne so viele Teufel an, als es Mannspersonen gibt.
Als Klotilde erschien mit dem ins Abblühen hineinlächelnden Angesicht, mit der erschöpften Lautenstimme, die der Schmerz als eine eigne Fortepianos-Veränderung durch den Drücker aus [933] uns bringt – aber ists nicht mit den Menschen wie mit den Orgeln, deren Menschenstimme am schönsten mit dem Tremulanten geht? – als sie so erschien: so hatte ihr schönster Freund die Wahl, entweder vor ihr niederzusinken mit den Worten: »Laß mich früher sterben«, oder recht scherzhaft heute zu sein.
Das letzte wählt' er (ausgenommen gegen sie), um seine Träume zu übertäuben. Daher warf er mit Historien und gesunden Anmerkungen um sich – Daher schenkte er in die Reichsoperationskasse gegen die Empfindsamkeit auch diese Satire mit, daß sie die März- oder Naßgalle am menschlichen Acker sei, d.h. eine immer naßbleibende Stelle, auf der alles verfault. – Als das nichts verfing: trat er mit ganzen Staaten in Allianz und versprach sich, es würde helfen, wenn er von ihnen anmerkte, daß die Gipfel derselben wie Waldbäume ineinander verwachsen wären, und daß es nichts wirkte, unten einen durchzusägen – daß die Gleichheit der Reiche die Gleichheit der Stände ersetzte oder vorbereitete – und daß das Schießpulver, das bisher Heftpulver der Mächte war, die wasserscheuen Wunden des Menschengeschlechts endlich ausbrennen und heilen werde. – Endlich als er offenbar merkte, daß es ihm geringen Vorschub tat, da er vermutete, Europa werde einmal zum Nordindien werden und derselbe Norden, der einmal das Brech- und Bauzeug der Erde war, werd' es noch einmal sein, aber der Norden auf der andern Halbkugel: so schlug er bei seinem chymischen Prozesse den nassen Weg ein und nahm (wie ein Gesandschaftsekretär) statt der Politik – Punsch vor.
Aber nur Sorgen, nicht Wehmut oder Liebe lassen sich vertrinken. Die in Nervengeist aufgelösten andern Geister ziehen sich mit einem magisch-schimmernden Zirkel um jede Idee, um jede Empfindung, die du darin hast, wie in Brauhäusern die Lichter wegen des Dunstes in einem farbigen Kreise brennen. Das Glas mit seinem heißen Nebel ist ein papinischer Topf sogar des dichtesten Herzens und zersetzt die ganze Seele; der Trunk macht jeden zugleich weicher und kühner. Ein weiches Herz war von jeher neben einer tapfern gehärteten Faust. Da es noch fortschneiete: so bot er Klotilden auf morgen seinen Muschel-Schlitten und sich (da er ohnehin zum Balle geladen war) zum fahrenden [934] Ritter an – wodurch er den Evangelisten nötigte, sich als Schlitten-Gondelierer der Stiefmutter anzutragen.
Klotilde entfernte sich jetzt von der männlichen lustigen Gesellschaft ins Nebenzimmer, wo ihre Agathe und alles war – es geschah nicht aus Mißbilligung der anständigen männlichen Fröhlichkeit – noch weniger aus Verlegenheit, da es überhaupt ihrem Geschlechte leichter ist und leichter gemacht wird, sich unter vierzig Augen unbefangen zu benehmen als unter vier – noch weniger aus Unvermögen der Verstellung ihrer Schwesterliebe gegen Flamin; denn ihre fliegende Seele hatte längst die Flügel zusammenzulegen, die Tränen und Wünsche zu verhüllen gelernt, unterFremden erwachsen, in schwierigen Verhältnissen und unter uneinigen Eltern erzogen – sie tat es bloß, wie die Pfarrerin, weil es britische Sitte ist, daß sich die Damen von Männern und ihrem Punsch-Weihkessel wegbegeben.
Da sie aus Viktors Augen war – und da er aus ihrem jetzigen noch bleichern Aussehen den Schluß zog, daß ihr das Tal Emanuels schwerlich die Lenzfarben wiedergeben werde, weil die Aussicht der Abreise nichts geheilet habe; und da ihm diese kleine Abwesenheit gleichsam in einem Taschenspiegel die Totenerscheinung einer ewigen vorhielt – und da das schwellende Herz doch endlich den Damm der Verstellung überwältigt –: so eilte er in den Winter hinaus – deckte die entzündete Brust den kühlenden Flocken auf – und riß den Spalt weiter, in den das Schicksal seine Schmerzen impfte – und lief durch die weiße Nacht auf den Wartturm hinauf; – und hier, übergossen von der still aus dem Himmel steigenden Schneelawine, sah er in die graue, wühlende, zitternde, flackernde Landschaft hinaus und in die weite, von Schnee durchbrochne Nacht – und alle Tränen seines Herzens fielen, und alle Gedanken seiner Seele riefen: »So sieht die Zukunft aus! So schimmernd sinken die Freuden des Menschen vom Himmel und zerfließen schon unter dem Sinken! So rinnt alles dahin! Ach welche Luftschlösser sah ich von dieser Höhe um mich glänzen, und Abendrot glimmte an ihnen! Ach alle sind unter Schnee verschüttet und unter Nacht!« Er sah in den Garten Klotildens hinab, in dessen finstern, vom Schnee überflatterten [935] Lauben er das Eden seines Herzens gefunden und wieder verloren hatte. »Die Töne, die über diesen Garten flossen, sind versiegt, aber nicht die Tränen, die ihnen nachrinnen«, dacht' er. Er sah in den Garten ihres Bruders hinab, wo das Tulpen-K zerblättert und die grünenden Namen vergangen und verhüllet waren.
Mit dieser Seele, die in diese Gegend wie in das Gebeinhaus verweseter Tage hineingeschauet hatte, kehrte er zum freudigen Klube zurück. Der Wechsel mit Kälte und Wärme hatte seine Ähnlichkeit mit dem Punschverein fortgesetzt, der unterdessen fortgetrunken. Alle und er betraten die Grenze des Trunkes, wo man in einem Atem lacht und weint; aber es freuet mich, daß der Mensch doch wahre Nahrung des Geistes und Herzens (wenngleich aus keiner Klosterküche oder Klosterbibliothek, doch) aus einem – Klosterkeller ziehen kann; – daß er die Gesundheit seines – Witzes trinkt; – daß ihn ein jeder Kelch (nicht bloß auf dem Altar) geistlich stärkt, und daß er, wenn die Schlangen ihre Kronen beim Trinken abnehmen, seine darunter aufsetzt – und daß die Weinrebe Tränen nicht bloß selber oder aus den Augen eines katholischen Marienbildes vergießet, sondern auch aus denen eines Mannes, der von ihr getrunken. Der Klub fiel darauf, Parlamentreden zu halten. – Der Kaplan schlug Kasualreden vor. – Viktor sprang auf einen Stuhl und sagte: »Ich halte den Leichensermon auf mich selber – ich habe hier schon in meiner Kindheit gepredigt.«
Alle tranken noch einmal, selber die Leiche, und diese perorierte dann so:
»Geliebteste und traurigste Zuhörer und Mitbrüder!
Ein Mensch, tiefgebeugte Zuhörer, kann in die zweite Welt hinabsinken, ohne daß ein Trauerpferd nachspringt, so wie er in diese einläuft, ohne daß ein Paradegaul vorantrabt. – Wir unsers Orts haben sämtlich den Leichentrunk voraus eingenommen, um alles auszuhalten; denn im Nassen dehnt sich der Mensch aus, und im Trocknen dorret er ein, ich meine durch feste Speisen, gleich dem Blutigel, der außer dem Wasser vier Zoll kürzer ausfällt. Und [936] ich hoffe, ich und das tiefgebeugte Trauergefolge haben dem Hochseligen zu Ehren getoastet genug.
Und so seh' ich ihn denn vor mir«...
– Hier winkte er dem Pfarrer, seine Schlafmütze hinzuwerfen, damit etwas Totes daläge, an das sich sein Affekt wenden könnte –
»... vor mir da liegen den unvergeßlichen Herrn Hofmedikus Sebastian Viktor von Horion, und gestorben ist er und will hinab unter das Erde-Zudeck, in die Stätte voll langer Ruhe. Was sehen wir noch vor uns ruhen als die Täucherglocke, worin die bedeckte Seele in dieses Dunstleben hereinsank – als die trockne Schale eines Kerns, der erst in einem zweiten Planeten gesäte wird – als seine Hülle, als, sozusagen, die weggeworfne Schlafmütze seines erwachten Geistes?
Besehet, weinende Zuhörer, diese figürliche blasse Mütze! Hier liegt sie, der Kopf ist heraus, der darin sann – unser Viktor ist dahin und schweigt, der so oft sprach von Mathematik, Klinik, Heraldik, Kautelarjurisprudenz, medicina forensis, Sphragistik und ihren Hülfwissenschaften. – Wir haben viel an ihm verloren wer tröstet Sie, vortrefflicher Herr v. Schleunes, über diese Einbuße, und so die andern Herren auch? – Man hat aber in diesem närrischen Leben, das wohl eine Art von Vor-Tod sein mag, gar nicht so viel Zeit, um ordentlich zu trösten. Nicht bloß Kirchenstühle sind oft auf Leichensteine gebauet, sondern auch Fürstenstühle – die vollends – und selber Kanzeln.
Sollte wohl deine Seele, hochseliger Sebastian, in ihrem mittlern Zustande nach dem Tode etwas von ihrem Körper wissen, aus dem sie wie aus ihrem Hut-Futteral ausgepackt ist, und von der letzten Ehre, die wir hier ihrer Kapsel antun? Falls sie noch Bewußtsein hat und noch ein Auge für diese Stube, worin sie so oft war: so wird es sie freuen, daß die heiligen drei Könige, wovon der Mohr der Kato der Ältere ist, um ihren abgezognen Madensack herumstehen und den Sack kaum fahren lassen wollen; es muß ihr gefallen, daß wir sämtlich klagen: wo ist seinesgleichen in der gemeinen Chemie – in der Physiognomik und Physiognomie – in den neuern Sprachen – in der Bänderlehre, aus der er eine Liebe für alle Arten von Bändern schöpfte? – Wer [937] suchte weniger als er strengen Zusammenhang der Gedanken, der den Deutschen verleitet, gute durch schlechte zu verkitten und mehr Mörtel als Quader zu brauchen? – Nicht einmal der Hof – daher er nicht gern hinging, wenn dort Spaß vorfiel – brachte ihn von einem gewissen ernsthaften gesetzten Wesen ab, das er bis zu einem lächerlichen trieb, auf welches letzte er allezeit aus war. – – Beim Himmel! durch das Stundenglas des Todes, durch das er wie durch ein Taschenperspektiv guckte, brach ihm alles so klein hervor, daß er nicht wußte, weswegen er ernsthaft sein sollte – ich will nicht gesund dastehen, wenn ihm nicht im besagten Glase alle Stufen zum Throne so winzig vorkamen wie die daumenlangeHolztreppe des Laubfrosches in seinem Einmachglase.
Er war ein recht guter Prediger, besonders ein Leichenredner, daher ihn auch ein recht guter Prediger zu Gevatter bat, und das Patchen steht mit da und weint seines Orts über Leibschmerzen.... Nur große Hofprediger, die in der Hauptkirche die fürstliche Leichenpredigt halten, können sich dessen rühmen, was ich zu meinem größten Vergnügen jetzo höre, daß das Leichengefolge lacht, und das ist mir ein Pfand, daß ich tröste....
Und doch hat einer, der auf dem Totenbette liegt, mehr Trost als einer, der nur neben dem Bettfuß steht. Das Souterrain der Erdrinde bewohnen lauter stille ruhende Menschen, die voreinander zusammenrücken; aber auf dem Souterrain stehen ihre unruhigen Freunde und wollen hinunter in die geliebten Arme aus Staub; denn die Leinwand auf dem Toten-Auge ist ja ein Fallhut der erkalteten Stirn, der Sarg ist der Fallschirm des Unglücklichen, und das Leichentuch der letzte Verband der weitesten Wunden – ach warum fällt der müde Mensch lieber in den kurzen als in den langen ungestörten sichern Schlaf? – So nimm denn, guter Sebastian, den Totenschein als ein ewiges Friedensinstrument aus der Hand der sanften Natur...
Aber beim Henker! wo haben wir denn den Toten? was soll die weiße Mütze da unten? – Ich sehe die Leiche im Spiegel gegenüber – sie muß wo stehen – ich muß sie holen.« – –
– Mit einem Schauer seines Ich sprang er herab – ein erhabner [938] Wahnsinn ging in den Stufen der Wehrnut, des Lächelns, des Erstarrens sein Angesicht auf und ab. Er lief hinter eine spanische Wand, die vor seine Statue aus Wachs gestellet war – und trug den wächsernen Menschen heraus – und warf ihn hin wie einen Leichnam – und ein Schleier war über den Leichnam gewickelt – und er stieg verzerret auf den Stuhl, um fortzufahren:
»Das ist die Nachtleiche – der verschlackte, der verkohlte Mensch – in solche starre Klumpen sind die Ich geklebt und müssen sie wälzen – Warum bebet ihr über mich, Zuhörer, weil ich bebe, daß ich dieses umgeworfene Menschenbild so starr anblicke? – Ich seh' ein Gespenst um diesen Leichnam schweben, das ein Ich ist.... Ich! Ich! du Abgrund, der im Spiegel des Gedankens tief ins Dunkle zurückläuft – Ich! du Spiegel im Spiegel – du Schauder im Schauder! – Ziehet den Schleier vom Leichnam weg! Ich will den Toten keck anschauen, bis es mich zerstört.«. . .
– Jeder schauderte nach; aber ein Engländer zog den Totenschleier weg Starr, sprachlos, ergriffen, erbebend sah Viktor auf das enthüllte Gesicht, das auch lebendig um seine Seele hing; aber endlich ergossen sich Tränen über seine kalten Wangen, und er sprach leiser, wie wenn sich sein Herz auflöste:
»Seht, wie der Leichnam lächelt! Warum lächelst du denn so, Sebastian? Warst du etwan so glücklich auf der Erde, daß dein Mund in einer Entzückung erkaltete? ... Nein, glücklich warst du wohl nicht – die Freude selber war oft für dich ein Samengehäuse des Schmerzes – Und du sagtest selber recht oft: ich bin schon zufrieden, und ich verdiene kaum meine Hoffnungen und Wünsche, geschweige ihre Erfüllung. –
Flamin! schaue dieses umgelegte Gesicht hier an – es lächelt aus Freundschaft, nicht aus Freude – Flamin, diese erloschene Brust war über ein Herz gewölbt, das dich ohne Grenzen liebte und bis in den Tod.
Und das ist im ganzen das einzige Unglück des armen Seligen. An und für sich und seiner originellen Lage und Laune wegen hätte der gute Bastian schon gut genug fahren können; aber er war zu weich zur Freude – zu unbesonnen – zu heiß – fast zu phantastisch. Er wollte gar lieben (bei seinen Lebzeiten), und es [939] war nicht zu tun. Die Blumengöttin der Liebe ging vor ihm vorbei, sie versagte ihm die Verklärung des Menschen, das Melodrama des Herzens, das goldne Zeitalter des Lebens.... Kalte Gestalt, richte dich auf und zeige den Menschen die Tränen, die aus einem weichen Herzen fließen, das vor Liebe bricht und keine findet! ...
Wenn unser Horion nicht glücklich war: so mag es ihm freilich gar wohl tun, wenn er schon am Mittage des Lebens seine Mittagruhe halten darf, wenn er sterben und, losgemacht vom heißpochenden Herzen, gestillt vom Todesengel, sich so frühe legen darf unter das lange Leichentuch, das der Menschen-Genius über ganze Völker, wie der Gärtner das Verdeck über den Blumenflor, gegen Regen und Sonne zieht – gegen die Glut unsrer Freuden, gegen den Guß unsers Wehs.... Ruhe du auch, Horion!«...
– Seine Wehmut bei diesen Worten aus dem alten Traume war so übermannend, daß er aus ihr – zur Entschuldigung oder zur Erholung – in eine fast wahnsinnige Laune übertrat.
»Inzwischen ist der sämtliche Spaß halb gegen meinen Geschmack, den ich am Hofe ausbilden wollte. Das Leben verlohnets gar nicht, daß man seinetwegen den guten Tod auszankt oder beräuchert und erhebt. Die Furcht zu sterben ausgenommen, gibts nichts Jämmerlicheres als die Furcht zu leben. Leute von wahren Talenten sollten sich betrinken, um das Leben aus dem rechten Licht zu sehen und es uns nachher zu melden. – Am allerelendesten aber (so daß das menschliche Leben dagegen noch passabel ausfällt) ist das bürgerliche, auf das ich jahrelang losziehen könnte, bloß weil es nichts hat als lange Tröge für den Magen, aus denen die Ketten für die Phantasie herabhängen – weils den Menschen um Kleinstädter umsetzt – weils unser fliehendes Dasein aus einem Fruchtacker zur Säemaschine macht – weils einen fatalen Dunst ausdampft, der sich dick vor das Grab und über den Himmel ansetzt, und in dem sich der arme Expeditionrat von Mensch schwitzend, käuend, feist, beschmieret, ohne einen warmen Sonnenstrahl für sein Herz, ohne ein Streiflicht für sein Auge herumtreibt, bis ihn der Fall-Bock des Pflastererst 83 auf den [940] morastigen Drehplatz einrammt. – Den einzigen Nutzen hat so ein armer Marmorstein, aus dem einPflaster statt einer Statue gemacht wird, daß er das ganze Menschenleben für etwas recht Erhebliches an sieht, das er nicht genug preisen könne. – Inzwischen könnte doch auch uns guten Narren das Äußere nicht so klein vorkommen, wenn nicht etwas ewiges Großes in uns wäre, womit wirs zusammenhalten – wenn nicht ein Sonnenlicht in uns wäre, das in dieses Opertheater so hineinfällt, wie das Taglicht zuweilen, wenn eine Türe aufgeht, in die nachtlichte Schaubühne – wenn wir nicht, wie Menschen in alten Auferstehgemälden, halb in der Erde steckten, halb aber außer ihr – und wenn dieses Eisleben keine Aiguille percée 84 wäre und keine Öffnung in ein ewiges Blau hinaus hätte .... Amen!
Ich hab' aber der leidtragenden Versammlung noch zu melden, daß ich sie – in den ersten April geschickt; denn der Tote, dessen Leichenrede ich halte, bin ich wirklich selber.«...
Aber hier umarmten ihn alle seine Freunde, um seinem geistvollen Wahnsinne Schranken zu setzen – und um ein so heftiges echt-britisches Herz an ihres zu drücken. Die Umarmung erwärmte alle seine kalten Wunden sanft, und er war geheilt, obwohl erschöpft; das fremde Leben wuchs in seines hinein, und die Liebe überwand den Tod. Die Engländer, in deren Augen die Tränen einer doppelten Trunkenheit waren, konnten sich kaum abreißen vom humoristischen Liebling. –
Klotilde, die mit ihren Freundinnen der Leichenrede im Nebenzimmer zuhörte, hielt sie anfangs bittend ab, dieses aufzumachen. Aber als Viktor sagte: »Kalte Gestalt, richte dich auf und zeige den Menschen die Tränen, die aus einem weichen Herzen fließen, das vor Liebe bricht« – so nahm sie eilend von ihnen gute Nacht, weil sie über eine ihr ganzes Wesen hebende Rührung nicht Meister werden konnte. Da man ihm die Zeit ihrer Entfernung berichtet [941] hatte: so wurde er, der jetzo schon so müde, weich und zärtlich war, es in einem unaussprechlichen Grade – alle durch die Anstrengung erhöhten Lichter auf seinem Angesicht schienen in Liebe wie Mondschimmer in Tautropfen zu zerfließen – er wartete nicht, bis sein Zimmer leer wurde, sondern zeigte das, was Klotilde in dem ihrigen verbergen wollte – er konnte sogar die unverschleierte Wachsstatue mit sanftem Geiste anschauen und sagte lächelnd: »Ich glaube, ich habe mich darum ganz in Wachs wiederholen lassen, warum es der Katholik mit einzelnen Gliedern tut, um sie an eine Heilige zu hängen und dadurch um Genesung zu danken oder zu bitten; oder wie die römischen Kaiser, deren Wachsstatue die Ärzte nach dem Tode des Originals besuchten.«
Die Gesellschaft ging ab, und er war endlich allein. Der Mond, der um 11 Uhr 57 Minuten aufgegangen war, warf sein noch vertieftes abnehmendes Licht erst oben an die Fenster von Klotildens Wohnzimmer. Viktor löschte das Nachtlicht aus und setzte sich, um mit seinem noch wogenden träumenden Herzen nicht in die Träume des Schlafes zu treten, ans Fenster, beinahe an den gewöhnlichen Standort seiner Wachskopie und in ähnlicher Stellung – – als das Schicksal es fügte, daß er, der heute die Wachsmumie für seine Person ausgegeben hatte, jetzt umgekehrt für das Bild angesehen werden sollte – –
– von Klotilden! Sie stand in einiger Entfernung von ihrem Fenster, an welches kein Licht als das vom Himmel fiel; Viktor war, da das letzte noch nicht zu ihm hineinkonnte, ganz im Schatten und ihr mit Vierfünftel seines Profils zugekehrt. Kaum sah' er, daß sie einen unverwandten fassenden, gleichsam einschlagenden Blick auf ihn hefte: so erriet er, daß sie ihn mit dem wächsernen Menschen vermenge; auch bemerkte er aus dem Augenwinkel, daß etwas Weißes um sie flattere, d.h. daß sie sich die Augen oft trockne. Aber wie wär' es seinem feinen Gefühle möglich gewesen, ihr durch die geringste Bewegung ihren Irrtum zu nehmen und sie für ihr unschuldiges Anblicken verlegen und rot zu machen! – Ein anderer, z.B. der verkannte Matz, hätte sich in einem solchen Vorfalle gelassen in die Höhe gerichtet und gleichgültig[942] zum Fenster hinausgesehen; aber er verknöcherte sich gleichsam in seiner Stellung der Leblosigkeit. Allein nur die Nacht und Entfernung konnten ihr sein Zittern zudecken, da ihre für seine Leiche fallenden Tränen wie ein heißer Strom sein zerstörtes Herz ergriffen und das wenige, was der heutige Abend daran noch fest gelassen, erweichten und auflösten in eine brennende Welle der Liebe. Den Kindern fließen die Tränen stärker, wenn man ihnen Mitleid bezeigt; und in dieser Stunde der Erschöpfung wurde Viktor weicher, der sonst durch fremdes Mitleid mit ihm härter wurde, und als Klotilde sich ans Fenster setzte, um das müde Haupt aufzulehnen: so war ihm, als ermahne ihn etwas, das jetzo wahr zu machen, was er heute zu der Statue gesagt: »Kalte Gestalt, richte dich auf und zeige den Menschen die Tränen, die aus einem weichen Herzen etc.«
Klotilde zog endlich die Vorhänge zu und verschwand. Aber er setzte behutsam noch lange die Rolle seines Bildes fort, und eben, da er sich weniger anstrengte, um eine Statue zu spielen, gelang es ihm besser. Alle seine Gedanken flossen nun wie Balsam über die Narben und aufgerissenen Stellen seines Innern, und er sagte: »Wenn du auch nur meine Freundin bist, so genüget es mir, und du kannst diesen von Sehnsucht empörten Busen stillen.
O dieses volle Herz würde ohnehin auseinandergetrieben, wenn es den Gedanken fassen sollte, daß du mich liebtest!« – Übrigens fiel ihm heute zum erstenmal die Unwahrscheinlichkeit seiner neulichen Vermutung ein, daß eine so zurückhaltende Person wie sie sich auf eine so wenig zurückhaltende Art gegen den blinden Julius sollte benommen haben, und er fragte sich: »Ists denn zur Erklärung ihrer Abreise vom Hof nicht genug an Jenners und Matthieus unheiliger Liebe und an Emanuels heiliger?« – Damit sie aber am Morgen nicht ihre irrige Verwechslung entdeckte, so gab er seinem wächsernen Figuranten genau die Stelle, die er selber am Fenster eingenommen.
[943] Dritter Osterfeiertag
F. Kochs doppelte Mundharmonika – die Schlittenfahrt – der Ball – und ...
Der Leser wird mit mir wünschen, daß der dritte Ostertag etwas Schlimmers endige als den langen 28sten Hundposttag.
Der Schlitten ging leidlich, soviel vorauszusehen war. – – Ich seh' aber noch etwas anders voraus: daß sich eine halbe Million meiner Lesekunden (für die andre halbe steh' ich) nicht aus meinem Helden finden kann. Es ist daher mein Amt, nur soviel ihnen vorzusagen: Viktor war nie kleinmütig, ihn ekelte die menschliche Unterjochung unter das Glück; der Tod nahm ihn jeden Tag einmal auf den erhabenen Arm und ließ ihn von da herunter bemerken, wie winzig alle Berge und Hügel sind, auch Gräber. Jedes Unglück machte ihn stählern, der Medusenkopf des Totenkopfs machte ihn steinern, und er ärgerte sich nachher über den schmelzenden Sonnenblick der freudigen Rührung. Seine lustige Laune, sein Ideal weiblicher Vollkommenheit, der Mangel an Gelegenheit und das Schild Minervens hatten ihm über die Windmonate des Gefühls hinübergeholfen, und er hatte bisher keine andre Sonne angebetet als die um 21 Millionen Meilen entlegne – bis der Himmel oder der Henker die nähere herführte, gerade im Jahr 1792. – Noch wär' es ganz leidlich gegangen und das Unglück schon auszuhalten gewesen, wenn er gescheut oder kalt gewesen wäre; ich will sagen, wenn er nicht zu sich gesagt hätte: »Es ist schön, nie über sich zu weinen, aber doch über den andern; es ist schön, jeden Verlust zu verbeißen, aber nicht den eines Herzens, und was wird ein geschiedner Freund aus seiner Höhe größer finden, entweder wenn ich mir Trostpredigten über sein Ableben mit wahrer Fassung halte, oder wenn ich dem Geliebten im freiwilligen übermannenden Kummer nachsinke?« – Dadurch – und aus Unbekanntschaft mit der Übermacht edler, aber unbezähmter Gefühle – und weil er seine bisherige zufällige Herzstille mit einer freiwilligen verwechselte – und aus einer überschwenglichen Menschenliebe hatte er absichtlich seinem innern Menschen bis jetzt die Fühlhörner zu groß wachsen lassen – und so war er durch [944] die Wirbel aller bisherigen Einflüsse, der bisherigen Beraubungen, der bisherigen Rührungen, dieser Ostertage, dieses schönen Jugenddorfes so weit verschlagen, daß er ungeachtet seiner Besonnenheit, seines Hoflebens, seiner Laune einiges von seiner alten Unähnlichkeit mit jenen Genies (wenigstens für Ostern) einbüßete, die gleich dem Seekrabben Fühlfäden aufrichten, die kaum ein Mann umklaftert....
Jenes teilnehmende Anblicken Klotildens, das ihm gestern nach der vorigen Hitze kühlender Balsam gewesen, wurd' ihm heute ein sehr heißer; ihr Auge voll Tränen seinetwegen richtete alle Tage seiner Liebe für sie und ihr ganzes Bild in seinem Herzen auf. Ich bin überzeugt, sogar dem Regierrat, der übrigens durch den gestrigen Leichensermon von seinem Argwohn, so wie durch die republikanische Zerstreuung einiges von seiner Liebe gegen Klotilden, hätte verlieren können, entwischte das Trunkne und Träumerische seiner Augen nicht. Das Pfarrhaus selber war heute zum Glück eine Börse oder ein geistliches Intelligenzkomtoir und Werbhaus: der Kaplan registrierte – nicht etwan französische car tel est notre plaisir, sondern – die Katechumenen ein, die auf Pfingsten beichten wollten.
Er wollte nicht eher ins Schloß hinübergehen – sein verkannter Freund Matz hatt' ihm schon um 10 Uhr aus dem Fenster Morgengruß und Glückwunsch zum Schneewetter zugerufen –, als bis sein Schlitten aus der Stadt da war, damit er sogleich abführe, weil er drüben keine lächerliche Rührung zeigen wollte. Seitdem ihm die große Welt zur Werkeltagwelt geworden war, fiel ihm Verstellung vor ihr schwerer; man verbirgt sich vor denen am leichtesten, die man achtet.
Aber die Drillinge und Franz Koch trieben ihn früher hinüber, schon abends um 5 1/2 Uhr. –
Ich fuhr in die Höhe beim Namen Franz Koch in des Hunds Papieren. Wenn einer von meinen Lesern ein Karlsbader Brunnengast ist oder Se. Majestät der König von Preußen Wilhelm II. oder von dessen Hof oder der Kurfürst von Sachsen oder der Herzog von Braunschweig oder eine andre fürstliche Person: so hat er den guten Koch gehört, der ein bescheidner abgedankter [945] Soldat ist und der überall mit seinem Instrument herumreiset und spielet. Das letzte, das er doppelte Mundharmonika nennt, besteht aus einem verbesserten Paar zugleich gespielter – Maultrommeln oder Brummeisen, die er immer nach den Spiel-Stücken umwechselt. Seine Brummeisen-Handhabung verhält sich zur alten wie Harmonikaglocken zu Bedientenglocken. Es ist meine Schuldigkeit, solche von meinen Lesern, deren Phantasie Zaunkönigs-Schwingen hat, oder die wenigstens vom Herzen an Lithopädia (Stein-Fötus) sind, oder die das Ohrentrommelfell zu nichts haben als zum Trommeln darauf, solche Leser mit der wenigen Oratorie, die ich habe, dahin zu bringen, daß sie den besagten Franz aus dem Hause werfen, wenn er kommen und vor ihnen summen will. Denn es ist nichts daran, und die elendste Bratsche und Strohfiedel schreiet meines Bedünkens lauter; ja sein Getöne ist so leise, daß er im Karlsbade vor nicht mehr als Kunden auf einmal aufspielte, weil man nicht nahe genug an ihm sitzen kann, wie er denn sogar bei seinen Hauptliedern das Licht wegtragen lässet, damit weder Aug' noch Ohr die Phantasien störe. – Ist aber freilich ein Leser anders – etwan ein Dichter – oder ein Verliebter – oder sehr zart – oder wie Viktor – oder wie ich: so horch' er ohne Bedenken mit stiller zerfließender Seele dem Franz Koch – oder – denn heute wird er nicht gerade zu haben sein – mir zu.
Der lustige Engländer hatte Viktor diesen Harmonisten mit der Karte geschickt: »Überbringer dieses ist der Überbringer eines Echo, das er in der Tasche führt.« – Viktor nahm ihn daher lieber zur Freundin aller schönen Töne hinüber, damit ihre Abreise sie nicht um diese melodische Stunde bringe. Es war ihm, wie wenn er durch eine lange Kirche ginge, da er in Klotildens Lorettohaus eintrat; ihr einfaches Zimmer war, wie Marias Wohnzimmer, von einem Tempel eingefasset. Sie hatte schon ihre schwarze Putzkleidung vollendet. Die schwarze Tracht ist eine schöne Verfinsterung der Sonne, worin man das Auge von ihr gar nicht wegzubringen vermag. Viktor, der bei seiner sinesischen Achtung für diese Farbe heute dieser schwarzen Magie eine wehrlose Seele, ein entzündetes Auge mitbrachte, wurde blaß und verwirrt über das aufgehellte Angesicht Klotildens, über welches der Zug eines herabgeregneten [946] Kummers so wie ein Regenbogen über den hellen blauen Himmel schwebte. Es war nicht die Heiterkeit der Zerstreuung – die jedes Mädchen durch das Ankleiden bekömmt –, sondern die Heiterkeit der frommen Seele voll Geduld und Liebe. Er besorgte, in zweierlei Disteln zu treten, in die gemalten des Fußbodens, über die er immer wegschritt, und in die satirischen der feinen Beobachter um ihn, an die er sich immer stieß. Ihre Stiefmutter war noch über der Stukkatur und Appretur ihres Madensacks, und der Evangelist war in ihrem Ankleide-Zimmer als Putz-Meßhelfer und Mitarbeiter. Daher hatte Klotilde noch Zeit, den Mundharmonisten zu hören; und der Kammerherr bot sich der Tochter und meinem Helden – denn er war ein Vater von Lebensart gegen seine Tochter – zu einem Teil der Zuhörerschaft an, ob er gleich aus der Musik sich wenig machte, Tafel- und Ball-Musik ausgenommen.
Viktor sah jetzt erst aus Klotildens Freude über den mitgebrachten Musiker, daß ihr harmonisches Herz gern mit den Saiten zittere; überhaupt wurd' er oft über sie irre, weil sie – wie du, teuerster ** – sowohl ihr höchstes Lob durch Schweigen sagte als ihren höchsten Tadel. Sie bat ihren Vater, der die Mundharmonika schon im Karlsbad gehöret hatte, ihr und Viktor eine Idee davon zu geben – er gab sie: »sie drücke nicht sowohl das fortissimo als das piano-dolce meisterhaft aus und sei wie die einfache Harmonika dem Adagio am angemessensten.« Sie antwortete darauf – an Viktors Arm, der sie in ein dazu verfinstertes stilles Zimmer führte –: »die Musik sei vielleicht zu gut für Trinklieder und für lustige Empfindungen. Da der Schmerz den Menschen veredle und ihn durch die kleinen Schnitte, die er ihm gebe, so regelmäßig entfalte, wie man die Knospen der Nelke mit einem Messer aufritze, damit sie ohne Bersten aufblühen: so ersetze die Musik als künstlicher Schmerz den wahren.« – »Ist der wahre so selten?« sagte Viktor in dem dunkeln, von einem Wachslicht beschienenen Zimmer. – Er kam neben Klotilde, und ihr Vater saß ihm gegenüber. –
Selige Stunde! die du einmal mit den Echolauten dieser Harmonika durch meine Seele zogest – fliehe noch einmal vorüber, und der Nachklang jenes Echos klinge wieder um dich! –
[947] Aber als der bescheidne stille Virtuos das Geräte der Entzückung kaum in die Lippen geleget hatte: so fühlte Viktor, daß er es jetzo (bevor das Licht hinauskäme) nicht so machen dürfe wie sonst, wo er sich zu jedem Adagio eigne Szenen vormalte und jedem Stücke besondere Schwärmereien seiner Texte unterlegte. Denn es ist ein unfehlbares Mittel, den Tönen ihre Allmacht zu geben, wenn man sie zu Ripienstimmen unserer Stimmung und so aus Instrumental-Musik gleichsam Vokal-Musik, aus unartikulierten Tönen artikulierte macht, anstatt daß die schönste Reihe Töne, die kein bestimmter Gegenstand zu Alphabet und Sprache ordnet, abgleitet vom bespülten, aber nicht erweichten Herzen. – Als daher die holdesten Laute, die je über Menschenlippen als Mitlauter der Seele flossen, von der bebenden Mundharmonika zu wehen anfingen; als er fühlte, daß diese kleinen Stahlringe gleichsam als Fassung und Griffbrett seines Herzens ihre Erschütterungen zu seinen machen würden: so zwang er sein fieberhaftes Herz, an dem ohnehin heute alle Wunden aufgingen, sich gegen die Töne zusammenzuziehen und sich keine Szenen vorzuzeichnen, bloß damit er – – nicht in Tränen ausbräche, bevor das Licht weg wäre.
Immer höher stieg das Zuggarn hebender Töne mit seinem ergriffenen Herzen empor. – Eine wehmütige Erinnerung um die andere sagte in dieser Geisterstunde der Vergangenheit zu ihm: »Erdrücke mich nicht, sondern gib mir meine Träne« – Alle seine gefangnen Tränen wurden um sein Herz versammelt, und sein ganzes Innere schwamm, aus dem Boden gehoben, sanft in ihnen – Aber er faßte sich: »Kannst du noch nicht entbehren,« (sagt' er zu sich) »nicht einmal ein nasses Auge? Nein, mit einem trocknen nimm dieses beklommene Echo deiner ganzen Brust, nimm diesen Nachhall aus Arkadien und alle diese weinenden Laute in eine zerstörte Seele auf« – Unter einer solchen überhüllten Zerfließung, die er oft für Fassung nahm, wars allemal in ihm, als wenn ihn aus einer fernen Gegend eine brechende Stimme anredete, deren Worte den Silbenfall von Versen hatten; die brechende Stimme redete ihn wieder an: »Sind nicht diese Töne aus verklungenen Hoffnungen gemacht? Rinnen nicht diese Laute, Horion, wie Menschentage ineinander? O blicke nicht auf dein Herz! in das [948] stäubende Herz malen sich wie in einen Nebel die vorigen schimmernden Zeiten hinein« – Gleichwohl antwortete er noch ruhig: »Das Leben ist ja zu kurz für zwei Tränen, für die des Kummers und für die andre« .... Aber als jetzt die weiße Taube, die Emanuel im Gottesacker niederfallen sah, durch seine Bilder flog – als er dachte: »Diese Taube hat ja schon in meinem Traum von Klotilden geflattert und sich an die Eisberge geklammert: ach sie ist das Bild des verwelkenden Engels neben mir« – und als die Töne immer leiser flatterten und endlich in dem flüsternden Laube eines Totenkranzes umherliefen – und als die brechende Stimme wiederkam und sagte: »Kennst du die alten Töne nicht? – Siehe, sie gingen schon in deinem Traum vor ihrem Wiegenfeste und senkten dort bis ans Herz die kranke Seele neben dir ins Grab, und sie ließ dir nichts zurück als ein Auge voll Tränen und eine Seele voll Schmerz« – – – »Nein, mehr ließ sie mir nicht«, sagte gebrochen sein müdes Herz, und alle seine bekämpften Tränen drangen in Strömen aus den Augen....
Aber das Licht ward eben aus dem Zimmer getragen, und der erste Strom fiel ungesehen in den Schoß der Nacht.
Die Harmonika fing die Melodie der Toten an: »Wie sie so sanft ruhn! etc.« – Ach in solchen Tönen schlagen die zerlaufenden Wellen des Meeres der Ewigkeit an das Herz der dunklen Menschen, die am Ufer stehen und sich hinübersehnen! – Jetzo wirst du, Horion, von einem tönenden Wehen aus dem Regendunst des Lebens hinübergehoben in die lichte Ewigkeit! – Höre, welche Töne umlaufen die weiten Gefilde von Eden! Schlagen nicht die Laute, in Hauche verflogen, an fernen Blumen zurück und umfließen, vom Echo geschwollen, den Schwanen-Busen, der selig-zergehend auf Flügeln schwimmt, und ziehen ihn von o melodischen Fluten in Fluten und sinken mit ihm in die fernen Blumen ein, die ein Nebel aus Düften füllt, und im dunkeln Dufte glimmt die Seele wieder an wie Abendrot, eh' sie selig untergeht? – – –
Ach Horion, ruht die Erde noch unter uns, die ihre Todeshügel um das weite Leben trägt? Zittern diese Töne in einer irdischen Luft? O! Tonkunst, die du die Vergangenheit und die Zukunft [949] mit ihren fliegenden Flammen so nahe an unsre Wunden bringst, bist du das Abendwehen aus diesem Leben oder die Morgenluft aus jenem? – Ja, deine Laute sind Echo, welche Engel den Freudentönen der zweiten Welt abnehmen, um in unser stummes Herz, um in unsre öde Nacht das verwehte Lenzgetön fern von uns fliegender Himmel zu senken! Und du, verklingender Harmonikaton! du kömmst ja aus einem Jauchzen zu uns, das, von Himmel in Himmel verschlagen, endlich in dem fernsten stummen Himmel stirbt, der aus nichts besteht als aus einer tiefen, weiten, ewig stillen Wonne....
»Ewig stille Wonne,« (wiederholet Horions aufgelöste Seele, deren Entzücken ich bisher zu meinem machte) »ja, dort wird die Gegend liegen, wo ich meine Augen aufhebe gegen den Allgütigen, und meine Arme ausbreite gegen sie, gegen diese müde Seele, gegen dieses große Herz – Dann fall' ich an dein Herz, Klotilde, dann umschling' ich dich auf ewig, und die Flut der ewig stillen Wonne hüllt uns ein – Wehet wieder nach dem Leben, Erdentöne, zwischen meiner und ihrer Brust, und dann schwimme eine kleine Nacht, ein wallender Schattenumriß auf euren lichten Wogen daher, und ich werde hinsehen und sagen: das war mein Leben – dann sag' ich sanfter und weine stärker: ja der Mensch ist unglücklich, aber auf der Erde nur.«
O gibts einen Menschen, über welchen bei diesen letzten Worten die Erinnerung große Regenwolken zieht, so sag' ich zu ihm: Geliebter Bruder, geliebte Schwester, ich bin heute so gerührt wie du, ich achte den Schmerz, den du verbirgst – ach du entschuldigst mich und ich dich....
Das Lied stand still und tönte aus. – Welche Stille jetzt im Dunkel! Alles Seufzen war in ein zögerndes Atmen eingekleidet. Nur die Nebelsterne der Empfindung funkelten hell in der Finsternis. Keiner sah, wessen Auge naß geworden war. Viktor blickte in die stille schwarze Luft vor ihm, die vor wenig Minuten mit hängenden Gärten von Tönen, mit zerfließenden Luftschlössern des menschlichen Ohrs, mit verkleinerten Himmeln erfüllt gewesen und die nun dablieb als nacktes schwarzes Feuerwerks-Gerüst.
[950] Aber die Harmonika füllte dieses Dunkel bald wieder mit Lufterscheinungen von Welten an. Ach warum mußt' es denn gerade die meinen Viktor nagende Melodie des »Vergißmeinnicht« treffen, die ihm die Verse vortönte, als wenn er sie Klotilden vorsagte: »Vergiß mein nicht, da jetzt des Schicksals Strenge dich von mir ruft – Vergiß mein nicht, wenn lockre kühle Erde dies Herz einst deckt, das zärtlich für dich schlug – Denk, daß ichs sei, wenns sanft in deiner Seele spricht: vergiß mein nicht«... O wenn noch dazu diese Töne sich in wogende Blumen verschlingen, aus einer Vergangenheit in die andre zurückfließen, immer leiser rinnen durch die vergangnen, hinter dem Menschen ruhenden Jahre – endlich nur murmeln unter dem Lebensmorgenrot – nur ungehört aufwallen unter der Wiege des Menschen – und erstarren in unsrer kalten Dämmerung und versiegen in der Mitternacht, wo jeder von uns nicht war: dann hört der gerührte Mensch auf, seine Seufzer zu verbergen und seine unendlichen Schmerzen.
Der stille Engel neben Viktor konnte sie nicht mehr verhüllen, und Viktor hörte Klotildens ersten Seufzer. –
Ja, dann nahm er ihre Hand, als wenn er sie schwebend erhalten wollte über einem offnen Grabe.
Sie ließ ihm ihre Hand, und ihre Pulse schlugen bebend mit seinen zusammen. –
Endlich warf nur noch der letzte Ton des Liedes seine melodischen Kreise im Äther und floß auseinander über eine ganze Vergangenheit – dann hüllte ihn ein fernes Echo in ein flatterndes Lüftchen und wehte ihn durch tiefere Echo hindurch und endlich an das letzte hinüber, das rings um den Himmel liegt – dann verschied der Ton und flog als eine Seele in einen Seufzer Klotildens. –
Da entfiel ihr die erste Träne, wie ein heißes Herz, auf Viktors Hand.
Ihr Freund war überwältigt – sie war dahingerissen – er preßte die sanfte Hand – sie zog sie aus seiner – und ging langsam aus dem Zimmer, um dem zu weichen Herzen, über dessen holde Zeichen die Nacht ihren Schleier hing, wieder zu Hülfe zu kommen....
[951] Das kommende Licht nahm diese Traumwelten hinweg. – Matthieu und die Kammerherrin erschienen auch. Wir wollen aber in dieser weichen Stimmung, wo man gerade gegen Schlimme in der härtesten ist, nichts sagen und nichts denken über das neue Paar, das für den Abstich gegen unsere Erweichung nichts kann. Viktor sagte sich dies auch, aber mehr als einmal; weil sich die vom Apotheker erlogne Vermählung Klotildens mit Matthieu ihm mit den grellsten Farben aufdrang, ähnlich jener platonischen Verbindung, wo der reine Geist aus seinem Äther getrieben und mit zusammengekrümmten Flügeln in einen befleckten Leib gemauert wird. Klotilde kam zurück. Sie war in Verlegenheit gegen Viktor, bloß weil er darin war oder neben ihr auf dem Schlitten noch mehr darin sein mußte – ihren geschwollenen Augapfel entfernte sie vom Licht. – Da Tränen-Versetzungen wie Milchversetzungen drücken und zerstören: so suchte die in sein Inneres zurückgedrückte Wehmut einen Ausgang durch die Stimme, die heftig und abgebrochen war, durch die Bewegungen, welche schnell waren, sogar durch die Lebhaftigkeit des Ausdrucks – kurz es war gut, daß sie fuhren.
Er dachte wieder das Gegenteil, als er auf dem Schlitten hinter ihr stand. Die Nacht schien sich hinter die Wolken gezogen zu haben, deren weites Gewölbe den Himmel einnahm. Er konnte keine Materie zum Gespräch auftreiben, er mochte sinnen, wie er wollte – er lief Klotildens, Viktors, aller Bekannten Leben durch – es stieß ihm nichts auf. Der Grund war, seine Gedanken, die er darauf ausschickte, kehrten ohne sein Wissen in jeder Minute um und hingen sich wie Bienen an Klotildens edles Profil, oder an ihr weiches Auge, oder sanken in ihre auf seine Hand gefallne Träne ein und in das ganze Äther-Meer der heutigen Töne. Der dunkle Himmel über ihm gab ihm endlich Emanuels letztes Schreiben in den Sinn, und er konnte ihr daraus des Blinden Einweihung in den höchsten Gedanken des Menschen erzählen. Klotilde hörte ihm freudig zu und sagte endlich: »Niemand ist glücklicher als ein Schüler eines solchen Lehrers; aber er muß nie in die Welt treten – da wird er es nicht sein. Sein Lehrer hat ihm ein zu weiches Herz gegeben, und ein weiches hängt, wie Sie ja selber sagen, wie das [952] weiche Obst so tief herab, daß es jeder erreichen und verwunden kann; die harten Früchte hängen höher.«
Sie kamen jetzt bei den harten Residenzfrüchten an, und ihre Bemerkung war ihre eigne Geschichte. Aber die neuen Auftritte – die rauschenden Wagen und Kleider – der Lärm um nichts und um wenig – die Saalleuchter wie Fixsternsysteme – die doppelten Mund-Disharmonikas – die männliche Hof-Fauna – die weibliche Hof-Flora – das ganze mobil gemachte Lustlager, dieses Meß-Getümmel überschmetterte das gedämpfte Echo, das zwischen zwei harmonischen Seelen hinüber und herüber ging.
Unser Held wurde von der Fürstin noch freundlicher angelassen als vom Fürsten. Joachime, die Amtverweserin Klotildens, hatte noch außer der kalten zürnenden Freundlichkeit eine juwelenreiche montre à regulateur. An einem öffentlichen Orte kostet es weniger als in einem Kabinett, den äußern Menschen wie eine Charaktermaske über den innern zu decken. Viktor, auf welchen ohnehin jeder Schmerz die witzige Wirkung des Trunkes machte, verriet den ersten höchstens durch das Übermaß seiner Lebhaftigkeit.
Eine Frau verrät sich durch das Gegenteil – Klotilde durch nichts. Er sagte ihr in der sonderbaren Übertäubung, in welche äußere Freudentöne und innere Phantasien setzen, wenn sie wie zwei Ströme mit einander zusammenkommen, folgende Ideen: »Wär' ich die Göttin der Wonne (wenns eine gibt), so ließ' ich drei Uhr schlagen – um die Wandleuchter machte ich Farbenprismen oder hinge sie gar in die Kabinette und zöge über den Tanzsaal durch Weihrauch eine Zauberdämmerung – dann müßt' ich die Töne des Orchesters in so viele Zimmer zurückstellen, daß davon nichts hereinkäme als ein weiches Echo – und wenn dann in dem dämmernden, von Melodien durchwehten Wirrwarr nicht die Leute nach einigen stillen Bewegungen vor Entzücken vergehen wollten: so wüßt' ich nicht«.... »Setzen Sie noch dazu,« (sagte sie) »damit wir auch eines haben, daß wir hier bleiben und die Auflösung beobachten.« –
Aber seine Fassung überlebte in jedem Balle kaum die Menuett. Nach dem ersten Geräusch, wenigstens um die Geisterstunde, [953] war allemal seine ganze Seele in eine eigne poetische, der Augen kaum mächtige Schwermut zersetzt. Außer den Tönen kann ich noch die Bewegung zum Erläutern dieser Erscheinung brauchen: alle Bewegung ist erstlich erhaben – nämlich die von großen Massen, oder vielmehr jede schnelle Bewegung gibt dem Gegenstand die Größe des durcheilten Raums, daher bei Abstich mit dem Zwecke bewegte Gegenstände komischer sind als ruhige – zweitens das Bewegen der Menschen stellte ihm ihr Vorüberflattern, ihr Fliehen in die Gräber dar. Er blieb oft in der Nacht trübe unten an Häusern stehen, in deren zweitem Stockwerke man tanzte, und sah hinauf, und das Vorüberschweben freudiger Köpfe war ihm der Gaukelsprung der Irrlichter auf dem Kirchhofe.
Heute fühlte er dies bei einer zerschmolzenen überlaufenden Seele noch eher als sonst. Die Anglaise, worin aus der Kolonne ein Paar nach dem andern verschwindet, war ja das Bild unsers schattigen Lebens, in das wir alle ausziehen mit Trommeln, und von tausend Spielkameraden eingefaßt, und in dem wir fortrücken, jedes Jahr verarmend, jede Stunde einsamer, und worin wir zu Ende laufen, von allen verlassen, außer einem gemieteten Mann, der uns eingräbt hinter das Ziel. – Aber der Tod breitet gleichsam unsere Arme aus und drückt sie um unsere geliebten Geschwister; ein Mensch fühlt erst am Rande der Gruft, wo er ans Reich unbekannter Wesen stößet, wie sehr er die bekannten liebt, die ihn lieben, die leiden wie er, die sterben wie er.
Da ein Weib uns mit nichts die ganze selige Vergangenheit rührender aufdeckt, als wenn sie ihr Augenlid aufhebt und uns ihr schimmerndes Auge zeigt: so mußte er ja wohl wenigstens unter dem Tanze in ein Auge blicken, das ihm lauter Himmel zeichnete, die versunken waren – und heute sollte ihm alles versinken, das Auge sogar. Und da Klotilde durch das Tanzen gewöhnlich erblaßte: so zog er durch ihre Augen in ihr Inneres und zählte darin an der stillen Seele die Tränentropfen, die unerschüttert an ihr hingen – die vielen Impf-Einschnitte des Schicksals für neue Tugenden – die beschnittenen Wurzeln, die das Schicksal an dieser Blume, wie wir an niedern Gewächsen, vor der Verpflanzung in eine andre Erde verkürzt – und die tausend Honiggefäße [954] schöner Gedanken. Und da er an alle ihre bedeckten Tugenden auf einmal dachte, an die Herrschaft ihrer weiblichen Vernunft über ihre Empfindsamkeit, an ihr leichtes Einwilligen in den Ball, den ihr jetzo der Fürst, so wie das in die Schminke, die ihr sonst die Fürstin aufgedrungen, und an ihre Gefälligkeit, sobald sie nichts aufzuopfern brauchte wie sich; und da er sich vorhielt, daß sie, nicht ähnlich den Hof- und Stadtweibern, die wie Gewächse sich ans Fenster des Gewächshauses nach dem Lichte ausspreizen, sondern ähnlich den Frühlingblumen gern im Schatten blühe, und doch die Liebe zum Landleben so wenig wie ihre Bescheidenheit zur Schau auslege: so mußt' er das Auge abwenden von der zarten aufgerichteten Blume, auf die der Tod den Leichenstein niederwarf, von der schönsten Seele, die ihren Wert noch nicht im Spiegel einer gleichen sah, vom sterbenden Herzen, das doch nicht glücklich war.
Alsdann stieg freilich der Gedanke, vor dem er zusammenfuhr, wie ein Sturm empor: »Ich will ihrs heute sagen, wie gut sie ist – o ich seh' sie doch nicht wieder, und sie stirbt sonst von sich ungekannt! – Ich will ihr zu Füßen sinken und meine unaussprechliche Liebe bekennen. – Sie kann nicht zürnen; ich begehre ja nicht ihr heiliges Herz, das keiner verdient, ich will ja nur sagen: meines vergisset dich nie, aber es verlanget deines nicht, es will nur sanfter brechen, wenn es vor dir gezittert und geblutet und geweinet und gesprochen hat«...
Nahe hinter diesem Gedanken kam Klotilde selber zu ihm an der Hand ihrer Stiefmutter, und das von der Wärme wie Rosen von der Sonne entfärbte Angesicht, die kränkern müden Züge taten die stille Bitte, in die frische Luft und nach Haus zu kommen.
Sie fuhr; die Stiefmutter entfernt hinter ihr. – Welcher Tausch der Bühnen! – Unter dem Morgentor des Himmels stand der Mond, der den Leichenschleier aus Gewölk abgehoben hatte von der Milchstraße und von dem ganzen blauen Abgrund. Er trug allmählich einen Grund von Silber auf und zeichnete mit Schatten und Blitzen ein rückendes Nachtstück hinein. Sein Licht schien der Frost in Körper zu verdichten, in weiße Auen, in taumelnde Ströme, in schwebende Flocken, es hing blitzend als weißes Blütenlaub [955] an den Gebüschen, es glimmte die östlichen Berge hinauf, die die Sonne in Eisspiegel gegossen hatte. – Und alles über dem Menschen und um den Menschen war erhaben-still – der Schlaf spielte mit dem Tod – jedes Herz ruhte in seiner eignen Nacht. –
Und hier bei diesem Eintritt gleichsam aus dem Getümmel der Erde in die stille überdämmerte Unterwelt flossen kalte Schauer und nach ihnen glühende Schauer über Viktors Nerven. – Dies geschieht, wenn die Seele des Menschen zu voll ist und zu sehr erschüttert wird, und alle Fäden ihres zitternden Körpergewebes schwanken dann mit ihr. – Sein Schlitten wurde jetzt eine fliegende Gondel. Die entgegenschlagende Nachtluft wehte alle seine Flammen an. O! der Strom voll Eisspitzen, wenn er über ihn gezogen, die kühle Decke von Schnee, wenn sie auf ihm gelegen wäre! – Immerfort rief es in ihm: »Du fährst die Stille, die Geduldige mit ihrem schwarzen Schleier dem Tode zu – es ist ihr Leichenwagen – die edle Perlenfischerin hat dem Himmel ihr Zeichen gegeben, daß sie hier unten Schmerzen und Tugenden genug gesammelt habe, damit er sie wieder hinaufziehe zu sich.« – Die vorüberrückenden Berge, die vorbeistürzenden Bäume, die wegrinnenden Felder, diese Flucht der Natur schien in einen großen Wasserfall zusammenzufließen, der alles mittrieb und den Menschen zuerst, und nichts stehen ließ als die Zeit. – Und als er in das Tal, wo die Stadt verschwindet, wie vor einem Jahre seine begleitenden Freundinnen, hinunterrollte und als der Mond scheinbar hinter den Bäumen durch den Himmel zu fliegen anfing: so richtete er seine Augen gegen die Sterne auf und redete zurückgebogen, hinaufstarrend, zertrümmert den Himmel laut an: »Tiefes blaues Grab über den Menschen, du versteckst deine weiten Nächte hinter zusammengerückten Sonnen! Du ziehest uns und unsre Tränen hinauf wie Dünste. – Ach wirf nicht die armen, sich so kurz sehenden Menschen so weit auseinander, nicht so unendlich weit! – Und warum kann der Mensch nicht hinaufblicken zu dir, ohne zu denken: wer weiß, welches geliebte Herz ich droben nach einem Jahre suchen muß!« –
Seine verdunkelten Augen fielen schmerzhaft vom Himmel herab – auf Klotildens ihre, die aufgehoben seinen gegenüberstanden. [956] Sie konnte die Träne, die vom Auge erst bis zur Wange gefallen war, weder durch den Schleier entziehen, noch für eine auf dem Angesicht zergangene Schneeflocke ausgeben, da der Schleier die Flocken abstieß; aber eine solche Träne hatte keinen Schleier nötig. Klotilde hatte gedacht, er meine bloß Emanuel, und darum wurde sie weich.... Wie zwei scheidende Engel schauten beide sich mit weinenden Augen an. Aber Klotilde zog die ihrigen ab, und ihr Haupt bückte erliegend sich vorwärts. Gleichwohl wandte sie sich wieder um und tat mit dem Himmels-Angesicht und mit der Himmels-Stimme die schöne Bitte an ihn: »Würdigen Sie dieser warmen Freundschaft auch meinen Bruder; und vergeben Sie der Schwester heute diese Bitte, da ich sie vielleicht lange nicht erneuern kann.« – Er bückte sich tief und konnte nicht antworten. –
Aber da ihr Wohnort ihnen jetzt entgegenschimmerte und ihr Schloß, von dem der Silberregen des Mondes niederrann – da die Minute immer größer und dunkler herankam, worin ihm der Abschied (vielleicht die Maske des Todes) diesen stillen Engel von der Seite nahm – da ihm jede gleichgültige Abschiedformel, die er sich aussinnen wollte, sein krankes Herz zerschnitt – da er sah, wie sie ihr Haupt auf die Hand und auf den Schleier lehnte, um unbemerkt die ersten Zeichen ihres Abschiedes wegzunehmen oder aufzuhalten: so stürzte die ganze Wolke, die so lange einzelne Tropfen in seine Augen fallen lassen, zerrissen auf ihn nieder und überflutete sein Herz.... Er hielt plötzlich still.... Er sah mit unversiegenden Augen gegen St. Lüne.... Klotilde kehrte sich um und erblickte ein entfärbtes Angesicht, eine Stirn voll Schmerzen und einen zitternden Mund und sagte blöde: »Ihre Seele ist zu gut und zu weich.« – Ja, dann brach sein überfülltes Herz entzwei. – Dann quollen alle mit alten Tränen vollgegossenen Tiefen seiner Seele auf und hoben aus den Wurzeln sein schwimmendes Herz, und er sank vor Klotilden nieder, glänzend in himmlischer Liebe und rinnendem Schmerz – von der Tugend überflammt – vom Mondenlicht verklärt – mit der treuen erliegenden Brust, mit den überhüllten Augen, und die zerrinnende Stimme konnte nur die Worte sagen: »Engel des Himmels! endlich bricht vor dir das [957] Herz, das dich unaussprechlich liebt – o ich habe ja lange geschwiegen. – Nein, du edle Gestalt weichest nie aus meiner Seele. – O Seele vom Himmel, warum haben deine Leiden und deine Güte und alles, was du bist, mir eine ewige Liebe gegeben, und keine Hoffnung und einen ewigen Schmerz?« – Von ihm weggebogen lag ihr erschrocknes Angesicht in ihrer rechten Hand, und die linke deckte nur die Augen, aber nicht die Tränen zu. Ein sterbender Laut flehete ihn an, aufzustehen. Man hörte den zweiten Schlitten von ferne. – »Unvergeßliche! ich martere Sie, aber ich bleibe, bis Sie mir ein Zeichen der Vergebung geben.« – Sie reichte ihm die linke Hand hinaus, und ein heiliges Angesicht voll Rührung wurde aufgedeckt. Er preßte die warme Hand an sein flammendes Angesicht, in seine heißen Tränengüsse. Er fragte zitternd wieder: »O mein Fehler wird immer größer, werden Sie ihn denn ganz verzeihen?«...
Da verhüllte sie das errötende Angesicht in den verdoppelten Schleier und stammelte abgewandt: »Ach dann muß ich ihn teilen, edler Freund meines Lehrers.« – –
Seliger, seliger Mensch! nach diesem Wort bietet dir das ganze Erdenleben keinen größern Himmel an! Ruhe nun in stillem Entzücken mit dem überwältigten Angesicht auf der Engelhand, in die das edelste Herz das für die Tugend wallende Blut ausgießet! Weine alle deine Freudentränen auf die gute Hand, die dir sie gegeben hat! Und dann: wenn du es vermagst vor Entzücken oder vor Ehrfurcht, denn hebe dein reines glänzendes Auge auf und zeig ihr darin den Blick der erhabnen Liebe, den Blick der ewigen Liebe und der stummen und der seligen und der unaussprechlichen! –
Ach der, den einmal eine Klotilde geliebt hätte, der könnte jetzo vor Entzücken nicht weiterlesen – nicht weiterschreiben...... oder auch vor Schmerz! –
Jetzt legte er den schönern Weg schweigend und geheiligt zurück – der Mond hing wie ein betauter, mit weißen Blüten überlegter Morgen vom Himmel herab – der Frühling bewegte seine Auen und seine Blumen unter dem Schleier von Schnee – das Entzücken schlug in Viktors Herzen, schwoll in seiner Brust, [958] glänzt' in seinem Auge – aber die Sprachlosigkeit der Ehrfurcht herrschte über das Entzücken.... Sie kamen an. Und als beide im Zimmer der Harmonika, wo er abends vor Schmerzen ihre Hand ergriffen hatte, einander einsam gegenüberstanden, so verändert, so selig zum ersten Male, zwei solche Herzen, sie wie ein Engel, der vom Himmel niedersank, er wie ein Seliger, der aus der Erde auferstand, um dem blöden Engel an das Herz zu fallen und mit ihm sprachlos in den Himmel zurückzugehen... welche Stunde! – O nur für euch, ihr schönen Seelen, die ihr solche Stunde nie erlebt und doch verdient, mal' ich diese fort! .... Wie zwei Selige vor Gott schauen sie einander in die Augen und in die Seelen wie ein Zephyr, den zwei schwankende Rosen fortsetzen, wehet zwischen den zitternden Lippen der sprachlose Wonneseufzer, von der Brust in schnellen Zügen eingetrunken und freudig schauernd in langen ausgezittert – sie schweigen, um sich anzublicken, sie heben die Augen auf, um durch den Freudentropfen durchzusehen, und senken sie nieder, um ihn mit dem Augenlide abzutrocknen.... Nein, es ist genug – o es ist eine andre Träne, die jetzo drückend in dem schönen Herzen liegt, das schweigt und sagen will: ich war niemals glücklich, und ich werd' es auch nie!
Viktor hatte ihr so viel zu sagen und hatte so wenige Minuten mehr dazu: gleichwohl machte ihn nicht sowohl die Freude als die Ehrfurcht stumm – denn heilig ist dem liebenden Herzen die Gestalt, die zu ihm gesagt: ich bin dein. – Denket aber nicht, er wollte etwan die rohe Bitte tun, seinetwegen dazubleiben; nur die Frage, ob er sie in Maienthal besuchen dürfe, nur die Bitte, daß sie für ihr Genesen sorge, kann er wagen. Klotilde hatte nur eine an ihn zu tun, die sie nicht genug überhüllen konnte; die nämlich, ihres eifersüchtigen Bruders wegen sie nicht in Maienthal zu sehen.
Unter dem Zögern der Entzückung schellet der zweite Schlitten. Die Eile nötigte sie zum Mut – – Viktor verwandelte die Bitte in den Wunsch, daß derFrühling die Absicht ihrer Reise (die Genesung) begünstigen möge, und die Frage in die Freude, wie glücklich sie in Maienthal neben Dahore sein werde, wie selig er sonst dort gewesen und wie wenig er sonst geglaubt, daß man es [959] da noch mehr werden könne. Klotilde antwortete (wahrscheinlich auf seinen Wunsch nachzureisen): »Ich hinterlasse Ihnen ebensoviel, meinen Bruder und Ihren Freund; vergessen Sie meine vorige Bitte nicht!«
Erst da die annähernden Eltern Klotilden erinnerten, den Schleier zurückzuschlagen, und ihren Geliebten anmahnten, den ersten Abschied von dem errungenen Herzen zu nehmen: da blickten beide weit in das große Eden hinein, das sich um ihr Leben aufgetan – und die helle Minute, die jetzt im Strom der Zeit vorüberfloß, spiegelte in die Ewigkeit zwei himmlische Gestalten hinauf, eine entschleierte, blaßrote, von Tränen verklärte, und eine von Liebe verherrlichte, von Hoffnung widerscheinende – und nun lasset nicht länger die Hand Seelen zeichnen, die nicht einmal das glänzende große Auge der Liebe abmalet...
Als die Eltern kamen: fühlt' er alle mögliche Kontraste, aber er vergab alle mögliche. Er nahm bald Abschied, um zu Hause in der Stille der Nacht den ersten betenden Blick über seinen künftigen Lebensstrom zu werfen, der sich jetzt zum Grab hinzog in Schönheitlinien, und in welchem bunte Minuten spielten wie Goldfische.
In der Nachtstille, nicht weit von seiner Wachsmumie, wollte der Glückliche niederfallen vor dem unendlichen Genius und ihm mit neuen Tränen danken für diese Nacht, für diese Freundin, deren erste Liebe er ist. Aber der Gedanke, es zu tun, ist die Tat, und o wie könnte unser gerührtes Herz, das schon vor Menschen verstummt, noch andere Worte vor dem Unendlichen finden als Tränen und Gedanken? –
– Und in dieser ergebnen Stimmung voll tiefer Ruhe, worin ich die Feder weglege, mögest du, lieber Leser, dieses Buch weglegen und auch sagen wie ich: es werden sich wohl mehr trübe Tage so beschließen wie der achtundzwanzigste Hundposttag.
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