[1] Erster Theil
Im Frühling des Jahres 1784. kam zu Saumür in der ehemaligen Provinz Poitou, ein ältlicher Mann an, der, nach seiner Kleidung zu urtheilen, ein Seeoffizier von ansehnlichem Rang seyn mußte. Er war von seinen Kindern begleitet: einem Sohn und einer Tochter von neun bis dreyzehn Jahren, und einer zweiten Tochter, die noch in der frühesten Kindheit war. Die Kinder trugen tiefe Trauer um ihre vor kurzem verstorbene Mutter, aber weiter konnte die Neugier der Wirthsleute in dem wenig besuchten Gasthofe anfangs nichts erfahren; denn die beiden Bedienten des Fremden, ein junger Bursche aus der Gegend von Saumür selbst, der zufällig ganz kurze Zeit vorher nach Paris gewandert war, um dort Dienste zu suchen, und eine Kinderwärterin, waren nur gerade vor der[1] Abreise des Fremden aus der Hauptstadt von ihm angenommen worden, und wußten wenig mehr von ihrem neuen Herrn, als daß er seinem Namen nach zu urtheilen – er hieß Seldorf – kein geborner Franzos seyn müßte, im amerikanischen Kriege gedient hätte, und mit einem zerschmetterten Arm zurükgekommen wäre. Er äusserte indessen bald, daß er sich einige Zeit in der Stadt aufzuhalten gedächte; und sobald er seinen Kindern, für welche er die gröste Sorgsamkeit zu haben schien, alle Bequemlichkeiten verschafft hatte, die bei der Beschaffenheit des Hauses zu erlangen waren, erkundigte er sich bei dem Wirth, ob in diesem Strich nicht irgend ein gut gelegenes Landgut, von mässigem Umfang, zu kaufen seyn sollte. Es fand sich, daß dieser durch einen kleinen Weinhandel mit mehrern Herrschaften in Verbindung stand, und Leute in der Stadt kannte, die mit Aufträgen zu dergleichen Geschäften [2] versehen waren. Seldorf nahm auf den folgenden Tag Abrede mit ihm, einige Gänge zu diesen Leuten zu thun, und kehrte hierauf zu seinen Kindern zurük.
Er fand Sara, seine Aelteste, ein sanftes Geschöpf von neun Jahren, neben der Kinderwärterin knieen, und ihr Schwesterchen, das ein heftiges Fieber zu haben schien, liebkosend trösten, indeß der Knabe an einem Fenster stand, und mit grossen ernsten Augen auf die Gruppe blikte. Seldorf näherte sich der Kleinen, legte seine Hand an ihre glühenden Wangen, sah in ihre trüben Augen, und sagte zu Sara: Gutes Kind, deine Schwester wird nun gesund werden, diese Luft ist heilsam – Sara sah freundlich zum Vater auf, der mit Bestürzung wahrnahm, daß ihr Gesicht von Thränen benezt war. Was hast du? rief er, und zog sie zu sich. Antoinette ist ja nicht so krank, sie soll [3] leben, und wir wollen sie pflegen, und für sie sorgen – O Vater, das ist's nicht! wenn sie auch stürbe – ich denke wohl, Vater, der Tod ist nicht das Betrübteste; aber so lange sie lebt, müssen wir ihr wohlthun, und sie lieb haben – und Theodor – – Ungedultig hatte dieser der Schwester zugehört, er eilte nun zu ihr –Sara, rief er dringend, du hast Unrecht, ich will Antoinetten wohlthun, ich möchte jeden Schmerz für sie leiden; du weißt ob es wahr ist, was du mir vorwarfst, was du nun dem Vater sagen willst – Seldorf unterbrach den stürmischen Knaben, drükte beide Kinder an seine Brust, und wollte sich eben nach der Entstehung ihres Zwistes erkundigen, als die kleine Kranke von dem Schooß ihrer Wärterin herabglitschte, und mit zitternden Schritten zu ihm schlich, seine Kniee mit beiden Armen umfaßte, und indem sie bittend zu ihm hinaufsah, einige süsse Worte lispelte. Seldorfs [4] Gesicht überflog eine glühende Röthe, sein Blik wurde finstrer, er bükte sich aber nach dem Kinde, dessen Kopf matt auf seine Kniee gesunken war.Theodor nahm es auf seine Arme, sah auf den Vater, sah auf die lächelnde Kleine, und wollte sie lebhaft an sich drükken, als sie schmerzhaft ausschrie: Ach mein Hals! und nach einer breiten Binde grif, die sie bis an das Kinn verhüllte. Des Knaben Thränen stokten, er gab das Kind eiligst der Wärterin, und ohne den mindesten Ausdruk von Theilnahme gegen das wimmernde Geschöpf, warf er sich seinem Vater um den Hals. Vater, rief er, Sara findet mich hart gegen Antoinette, weil ich nicht – weil mein Herz mir es unmöglich macht – weil wir Knaben wohl helfen mögen, aber nicht klagen und trösten können. – AchTheodor, unterbrach ihn Sara, wie ich die Blattern hatte, konntest du da nicht klagen und trösten? Habe ich [5] da nicht oft gebeten: Bruder, weine nicht! wie ich blind war, und deine Thränen so kühl auf meine brennenden Hände fielen? – Sara, quäle mich nicht, denn ich habe recht. Du bist älter, du bist meine liebe Herzensschwester gewesen, lange eh der Vater uns allein ließ, dich liebte ich ja, eh du nur mit mir sprechen konntest – Seldorf wollte nun den zärtlichen Streit, dem er gerührt und nachdenkend zugehört hatte, endigen. Liebreich stellte er Theodor'n vor, wie selten es in der Macht des guten Mannes stände, den Leiden seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen, und wie lindernd für den Leidenden Theilnahme und sanfte Tröstungen wären. Während daß Beschämung und Hartnäkkigkeit in des Knaben Seele noch kämpften, wendete sich der Vater zu Sara, und sagte: Mein Kind, Theodor will nicht hart seyn gegen das arme Geschöpf, das weißt du; von der Art, wie er euch beide liebt, kannst du[6] nicht urtheilen, meine Sara. Wenn du einst älter bist, wirst du lernen, daß es weibisch wäre, wenn Knaben und Männer liebten und trösteten, wie es deinem Geschlecht wohl ansteht, es zu thun.
Sara verstand ihres Vaters Worte kaum zur Hälfte, denn sie war sehr jung und einfach; aber eben dieser Einfalt prägte sich der Sinn dieser Worte, für welchen die Natur das weibliche Herz so empfänglich gemacht hat, tief ein, und mit demselben Achtung für den Unterschied zwischen ihrem Gefühl und dem, was ihr Vater als Eigenschaft des Mannes zu bestimmen schien, liebende Behutsamkeit, in den beiden Geschöpfen, die sie so innig ehrte, diesen Unterschied nicht zu beleidigen.
Es kam Seldorf darauf an, unverzüglich einen ländlichen Aufenthalt zu finden, und er hatte hiezu blos die Mühe der Wahl, denn in der Hauptstadt waren eine Menge [7] Gutbesitzer ungedultig, einen Theil ihres väterlichen Erbes in fremde Hände zu bringen, um in dem glänzenden Wirbel, wo sie sich wie Strohhalme im Weltmeer umtrieben, sich einen Augenblik länger eine lügenhafte Wichtigkeit zu geben. Er entschied sich für ein artiges Landhaus, von welchem ein kleines Dorf und ziemlich ansehnliche Ländereien abhiengen, das die reizendste Lage hatte, und von allem Geräusch und Ueberfall von Müssiggang so entfernt war, wie es in einer Provinz seyn konnte, wo es Rittergüter, alte Schlösser mit Thürmen und Gräben und allen feudalischen Ehrenzeichen in zahlloser Menge gab. Das Haus war zulezt von der verwitweten Gräfin ** bewohnt gewesen, die es als Witwensiz besessen hatte, und nach deren Tode es ihres Mannes ältestem Sohne aus seiner ersten Ehe zugefallen war. Diese arme Dame, welche durch verschiedne Umstände sehr wider ihren Willen vom Hof entfernt gehalten [8] wurde, hatte alle Laster, aus welchen die Bewohner jener erhabenen Sphäre die Fesseln schmieden, mit denen sie lächelnd sich selbst geisseln, unter die Einwohner dieser Gegend gebracht. Zu alt, zu beschränkt in ihren Glüksumständen, und zu verlebt, um einen Zirkel von Menschen ihres Standes um sich zu versammeln, hatte sie Neid, Intrigue, Raubsucht, Haß, und alle Würkungen, die es in dem Menschen hat, wenn er nicht allen Menschen anzugehören glaubt, in die täglich würksamen Verhältnisse des häuslichen und ländlichen Lebens übergetragen, ihre Unterthanen gedrükt, ihre Nachbarn verscheucht, ihr Gesinde verschlechtert. Nach ihrem Tode sahen sich die Unterthanen mit dumpfer Gleichgültigkeit in eines neuen Herrn Gewalt kommen, indeß mancher unter ihnen weinen mochte, wenn er aus Noth gezwungen war, sein leztes Pferd einem andern Eigenthümer zu überlassen. Daß sein Pferd es [9] besser oder schlimmer haben konnte, wußte er, da er selbst viele Jahre lang sein schwarzes Brod zwischen diesem Thiere und seinen nakten Kindern getheilt hatte; aber daß die Bauern jemals von einem Herrn besser als von dem andern wären behandelt worden, hatte ihm sein alter Vater nie erzählt. Seit vielen Menschenaltern ohne Genuß von sicherm Eigenthum, von Liebe oder Dank, sahen sie fühllos die lächelnde Sonne ihre Fluren bescheinen; die Trauben die sie röthete, die Saaten die sie reifte, gehörten nicht ihnen; sie kannten ihre Würkung nur von dem Schweiß der bittern Mühe her, der ihre erniedrigte Stirne benezte. Nie hörte man sie von dem Segen ihrer Arbeit sprechen; wenn sie nach einem schwülen Tag finster vor ihren Hütten saßen, erzählten sie sich höchstens von dem Hagelwetter, dessen Verwüstungen ihnen Brod und Obdach nahmen. Unglüklich fühlten sie sich nicht, denn es fiel ihnen [10] nicht ein, sich mit Glüklicheren zu vergleichen; hätten sie das gekonnt, hätten sie gar sich mit ihren prassenden Herren zu vergleichen gewagt, es wäre schon der erste, gefährliche Schritt zum Erwachen aus ihrer Dumpfheit gewesen. Die seelentödtende Erniedrigung dieser armen Menschen bestand gerade darinn, jenes Geschlecht, das sie von allen Ansprüchen der Menschheit ausschloß, für erhabener als sich selbst zu halten; und erwachte je ein Funken von Ehrgeiz in ihnen, so befriedigten ihn glänzendere Zeichen ihrer Dienstbarkeit.
So waren die Einwohner dieser Gegend, und die paar hundert Menschen beschaffen, über welche Seldorf nun zu gebieten hatte. Dieser Mann hatte früh denken gelernt, er hatte früh seinen Geist bereichert; aber in der Einsamkeit erzogen, hatte er den Menschen nur in seinem eigenen Herzen studiert, und das Ideal, was er hier fand, leitete ihn auf einen Pfad, wo er ohne Gefährten blieb. [11] Nirgends begegnete ihm in der Würklichkeit die hohe Tugend, nach welcher er strebte, die er allein seiner würdig hielt. Oft glaubte sein warmes Herz ihre Spur gefunden zu haben, er verfolgte sie eifrig, und immer sah er sein schönes Bild in Luft zerfliessen. Doch riß ihn keine Erfahrung von seinen Schwärmereien los, bei jeder ward ihm vielmehr sein Ideal theurer, bei jeder strahlte dessen Glorie heller, und bedekte neues Dunkel den Pfad seines Lebens. Er sehnte sich nach Mitgefühl, und wachte zu streng über sich selbst, um die Einsamkeit seines Herzens seiner Vortreflichkeit zuzuschreiben. Indessen sah er sich oft mit Beifall umringt, wenn er sich kleiner Antriebe bewußt war, und oft ergieng über ihn das strengste Gericht, wenn seine schöne Seele im Gefühl ihres Adels glühte. Mistrauen gegen den Schein der Tugend mußte also mit Geringschäzung fremden Urtheils in ihm entstehen. Bey einem[12] kältern Herzen wäre er ein Menschenverächter geworden. Aber Seldorf konnte sich nur von den Einzelnen losreissen, unter denen ihn so viele betrogen und verkannten, um das ganze Geschlecht mit desto innigerem Wohlwollen zu umfassen.
Verschiedne Umstände verschafften ihm schon in früher Jugend, ob er gleich in Deutschland geboren, und seine Eltern von der nämlichen Nation waren, eine Stelle im Dienst des königlichen Seewesens in Frankreich. Dies war keine Gelegenheit für ihn, Menschen nach seinem Bild zu finden; was ihn umgab, war vielmehr Unrecht, Druk, und Vergessenheit aller Pflichten. Sein Herz litt unendlich dabei, und da er sich eben so fruchtlos nach Glük als nach Tugend umsah, fieng er an, beide weniger für den Lohn, als für den Leitstern des menschlichen Geschlechts zu halten. Seine schönsten Jahre waren in überspanntem Streben und trüber Ergebung verflossen, [13] als der siebenjährige Krieg ausbrach, der für Frankreichs Ehre und Wohlstand so verderblich war, in welchem schamlose Intrigue, Privatinteresse und Weiberlaune Leben und Gut der Nation in die Hände spottender Feinde lieferten. Seldorf fühlte alle diese Abscheulichkeiten bei seinem Dienst zehnfach bitter; die wenigen redlichen Seeoffiziere sahen mit Zähneknirschen, wie sie und ihre brave Mannschaft durch die Pflichtlosigkeit der Obern dem Hohngelächter der Fremden preisgegeben waren. Wo indessen der Muth der Seeleute nicht durch die Ungeschiklichkeit oder Verrätherei ihrer Anführer fruchtlos gemacht wurde, behaupteten sie ihre Ehre; und einige durch Tapferkeit und Klugheit geglükte Unternehmungen brachten Seldorf früher in seinem Dienst empor, wie er als Ausländer und Bürgerlicher unter andern Umständen je hätte erwarten können. Die Thätigkeit, zu welcher er dadurch immer mehr Anlaß [14] bekam, hatte den wohlthätigsten Einfluß auf seinen Geist; statt müssiger Spekulation, sah er nun Würklichkeit um sich her, und wenn er auch dabei auf Gestalten stieß, die gegen die Bilder seiner ehemaligen Betrachtungen ihm sehr verzerrt vorkamen, so traf er auch freundliche, anziehende Gruppen, die durch ihre menschlichen Unvollkommenheiten Zutrauen, und durch manche einzelne Züge Ahnungen hoher Tugend erwekten. In der erzwungnen Achtung seiner unwürdigen Obern schien ihm die zertretene Menschheit einigermassen gerächt, und ihr richtiges Verhältniß schien ihm in der zutraulichen Liebe seiner muthigen, sorglosen Untergebenen zum Theil wieder hergestellt. Sein Herz erweiterte sich, denn er fühlte die mangelhafte Würklichkeit beglükkender als seine vollkommnen Ideale.
Der Zustand, in welchen das arme Frankreich immer tiefer versank, sezte den guten Seldorf, als er nach beendigtem Kriege in [15] das bürgerliche Leben zurükkehrte, zwar in Gefahr, den kleinen Vorrath von Lebenslust, den er aufgesammelt hatte, wieder einzubüssen. Allein jene unbestimmten Triebe seiner Jugend waren nun verraucht, des Mannes ruhiger Sinn begnügte sich mit den gewöhnlichen Hülfsquellen des gesellschaftlichen Lebens; er wollte sich nun auf immer vor Schwärmerei schüzzen, und beschloß, so nah er auch seinem Herbst war, mit noch ganz neuem Herzen eine Gattin zu suchen.
Das weibliche Geschlecht war ihm bisher unbekannt geblieben. Der Begrif von weiblicher Tugend und weiblichem Adel war seinem Ideengang überhaupt angemessen. Das einzige Weib, das er je kannte, seine Mutter rechtfertigte diesen Begrif; ihr Andenken heiligte bei ihm ihr ganzes Geschlecht, und machte es ihm so ehrwürdig, daß er die einzigen weiblichen Geschöpfe, die er in seinem Dienst und durch den Umgang mit seinen Kameraden [16] zu sehen Gelegenheit gehabt, nie mit diesem Geschlecht in die mindeste Verbindung gebracht hatte.
Der Zufall führte ihm ein Mädchen zu, die er zu seinem Weibe machte, nachdem er sie schon durch alle Bande der Dankbarkeit an sich gefesselt hatte. Leidenschaftlich lieben konnte der vierzigjährige Mann wohl nicht mehr, aber mit dem vollsten Zutrauen sein ganzes Glük aus den Händen eines reizenden Weibes erwarten, die ihm mehr wie das Leben zu verdanken hatte, das konnte er mit mehr Einmischung seiner ganzen Seele als manche heftige Leidenschaft erfordert. Er ward auch glüklich, und zwei Kinder,Theodor und Sara, schienen ihn auf immer an die Fehler, Leiden und Genüsse der gebrechlichen Menschheit zu knüpfen, als die unergründliche Staatskunst des französischen Hofs seine Unterthanen nach Amerika schikte, um dem kühnen Volke eines andern Welttheils [17] ein Gut erkämpfen zu helfen, das bei ihnen Majestätsverbrechen geheissen hätte. Seldorf konnte bei seinem Gefühl und seiner Denkungsart dem Ruf seines Monarchen für Freiheit und Volksglük zu streiten, nicht als blosser Miethling folgen. Erstaunt durch einen Dienst, wie der seinige, aufgefordert zu seyn, für die Sache der Menschheit zu fechten, flog er auf seinen Posten, und die Freude seiner Seeleute jauchzte ihm entgegen. Das wohlgemute Volk hatte unter Seldorf gesiegt, und sein Blut vergossen aus gewohntem Gehorsam, die wenigsten darunter bekümmerten sich ernsthaft um das Wesen und den Grund des Kampfes; indessen trieben sich manche unbestimmte Begriffe und Sagen von den Thaten und dem Vorhaben der neuen Bundsgenossen jenseit des Oceans in den leichtfassenden Köpfen dieser Nation umher, und ob es schon verworren genug darum aussah, so gibt es doch einen Ton, der rein [18] angeschlagen in jedem denkenden Wesen wiedertönt – Freiheit heißt er, und der Lerche kühner Flug im Duft der Morgenröthe verkündet ihn der ganzen Schöpfung wie das geopferte Leben von Tausenden ihn in das Ohr der Tirannei ruft.
Für Seldorf war dieser Krieg ein wichtiges, ernstes Schauspiel. Er hielt sich lange in den amerikanischen Häfen auf, und folgte mit spähendem Blik der Schöpfung der Freiheit um ihn her. Jezt sah er die Menschheit in einem neuen und wohlthätigen Lichte, er verglich die Bewohner jenes Landes mit dem braven, empfänglichen Volke, unter welchem er seit seiner Kindheit lebte, dachte den Abgrund von Elend, worinn es verschmachtete, und wenn mancher schwarzlokkiger Knabe mit kindischem Muth den oft gehörten Ruf von Freiheit und Eigenthum nachrief, sah er seines Theodors unterdrüktes Verdienst an den Stufen des Throns zertreten. [19] Er selbst war mit seinem kleinen Haufen fast immer des Sieges gewiß gewesen, aber was vermochte die edelmüthige Tapferkeit eines Seldorfs gegen die Machinationen des Eigennuzzes und der treulosen Selbstsucht? Im lezten Jahre des Kriegs zerschmetterte ihm eine Kugel die rechte Schulter, lange verzweifelte man an seinem Leben, und unter den unsäglichen Schmerzen seiner Krankheit mußte er über sich selbst lächeln, wenn in den Händen des Wundarztes ihn der Gedanke stärkte, für die Sache der Freiheit zum Krüppel zu werden, er, der als Söldling eines Königs in einer fremden Sache sein Blut vergoß!
Seldorf war nun zu ferneren Kriegsdiensten unfähig, und eilte nach Frankreich zurük, versöhnter mit dem Schiksal der Menschen, denn er hatte in jenem Lande den Keim ihrer Veredlung und ihres Glüks gesehen, und alle Freuden des Gatten und Vaters [20] in seiner Heimath erwartend. Wie viel glüklicher wäre der Arme gewesen, wenn die Kugel, die seine Schulter zerschmetterte, sein gutes Herz mit allen seinen Hoffnungen und Aussichten getroffen hätte! Er kam zurük, und Zerrüttung seines häuslichen Friedens und Schande war der Lohn seines Vertrauens und seiner Wunden. Seine Gattin machte ihn zum drittenmale zum Vater, und brach in schuldvolle Thränen aus, als er das Kind mit bitterm Zähneknirschen aus den Händen der Wehmutter empfieng. Nach kurzer Zeit trennte sie der Tod, und in dem finstern, thränenlosen Blik, den er ihrem Sarg nachschikte, las man die ewige Scheidung zwischen ihm und den Freuden des Lebens. Sogleich nach diesem Vorfall schafte er alle seine Bedienten ab, brach mit seinen wenigen Bekannten und verließ die Hauptstadt, welche der Schauplaz dieser Begebenheiten gewesen war.
[21] Seldorf erschien seinen neuen Nachbarn und seinen Unterthanen bald als ein Wesen ganz andrer Art, wie die leztverstorbene Gutsbesizzerin. Jede seiner Einrichtungen, jedes Tagewerk bewies, daß er um so eifriger darauf bedacht war, alles um sich her zu beglüken, je ferner jedes frohe Gefühl von seinem eignen Herzen war. Keiner, der ihm nahte, konnte seinen Willen verkennen, aber aller Dank, der ihm wurde, konnte ihm nicht den schönsten Lohn seiner Tugend geben; er konnte Wohlthaten austheilen, aber Freude geben konnte der freudenlose Mann nie. Mit treuer Sorgsamkeit wachte er für seine Kinder, und pflanzte den reinsten Enthusiasmus für alles Edle und Gute in ihren Herzen, innig verehrten sie in ihm das Vorbild seiner Lehren; aber das theilnehmende Lächeln seines gramvollen Gesichts verscheuchte ihre jugendliche Fröhlichkeit. Mit [22] weiser Menschlichkeit zog er seine Unterthanen aus Armuth und Elend, lehrte sie zuerst nach den Annehmlichkeiten des Lebens trachten, indem er es ihnen möglich machte, sie zu erlangen. Wenn aber ein schöner Sommerabend das Landvolk zu lustigen Spielen versammelt hatte, und er unerwartet erschien, verstummte die Freude vor dem trüben Blik ihres Schöpfers.
Sara und Theodor lebten von dem ersten Augenblik ihres ländlichen Aufenthalts ein neues Leben. Die ersten ohne deutliches Bewußtseyn verfloßenen Jahre ihrer Kindheit hatten eben keinen Eindruk weiter in ihrem Gedächtniß zurükgelassen, als daß sie die lange Abwesenheit ihres Vaters mit einem dunkeln Gefühl von ehemaligem Glük verglichen. Theodor, vier Jahre älter wie seine Schwester, hatte sich glühende Bilder von den Gefahren und Thaten des geliebten Vaters gemahlt, und von dem Entzüken des [23] Wiedersehens. Unabläßig hatte er in seine Mutter gedrungen, daß sie ihm von Amerika erzählte, und das Wort Freistaat durchdrang ihn mit Ehrfurcht, seitdem er wußte, daß dafür seines Vaters Blut geflossen war. Nach des Vaters lang ersehnter Rükkehr lag ein schweres Schiksal auf der ganzen Familie, der Kinder unschuldiger Sinn entzifferte es nicht, aber jungen Vögeln gleich, die unter einer finstern drükenden Gewitterwolke leise mit gebükten Köpfchen an der Erde wegfliegen, war, ihnen selbst unbewußt, alle Freude gelähmt, und ihr heiterstes Geschwäz lispelte kaum hörbar dahin wie Gespenstermährchen. In Theodors lebhaftem Geist schienen manchmal wohl befremdliche Gedanken zu dämmern, aber kindlich begnügte er sich, seines Vaters Gram zu theilen, ohne tiefer in dessen Ursachen einzudringen. Seit sie indessen das Land bewohnten, war dieser Zauber gehoben; des Vaters Gesicht blieb[24] zwar von Kummer umwölkt, aber die neue Lebensweise, Seldorfs unabläßiges Bemühen, ihnen jeden Genuß zu verschaffen, alles gab ihnen das Glük der Jugend zurük. Sein liebstes Geschäft war, die Kinder eines durch das andre zu bilden; Lage und Karakter hatten sie einander so genähert, daß der Unterschied ihrer Jahre verschwunden war. Theodor gewöhnte sich, Sara gleichsam als die Stellvertreterin ihres ganzen Geschlechts anzusehen, und achtungswürdiger konnte es ihm nie erscheinen als in ihr. Sara glaubte in ihrem Bruder das Urbild alles Schönen, das der theure Vater als Ziel der Vervollkommnung schilderte, zu erkennen. Bei so empfänglichen Herzen, und der Abgeschiedenheit, worinn sie lebten, mußte sich bald Enthusiasmus in diese Gefühle mischen. Oft sagte Seldorf zu seinem Sohn: Willst du ein Mann werden, so lerne die Weiber ehren. Nur wenn sie uns beglüken, sind sie liebenswürdig; [25] nur wenn wir sie ehren, können sie uns beglüken. Die Natur sezte die Vollkommenheit beider Geschlechter in der größten gegenseitigen Abhängigkeit, indem sie ihr die größte Verschiedenheit gab. Der feste, treue, eiserne Mann kann nur der sanftesten Weiblichkeit huldigen; Schwächlinge lieben Amazonen. Damit aber das Weib diesen Zauber ihres Geschlechtes besize, muß ihr Herz kindlich bleiben, wie gebildet auch ihr Verstand sey; und unsre Achtung allein kann das Zutrauen hervorbringen, welches diese Kindlichkeit erhält. Fühlt das Weib nicht diesen Lohn seiner Liebenswürdigkeit, so sucht es sich von uns unabhängig zu machen, und dann wird es verächtlich. Die Natur, die uns stärker machte als sie, verträgt diese Unabhängigkeit nicht; alsdann erniedrigen wir sie dafür, gewaltsam oder listig, zu unsern Sklavinnen, und pflanzen auch alle Laster des Sklavensinnes in ihre entartete Brust. Aus Händen, [26] die wir nicht achten, können wir den Lohn nicht mehr empfangen, der nächst unserm Selbstgefühl der reinste Antrieb zur Tugend ist, und alle einfachen Bande des geselligen Lebens lösen sich auf.
Alle Lehren, die Seldorf seinen Kindern gab, athmeten diese Grundsäze. Nach ihrem mehr oder weniger gebildeten Alter veränderte sich zwar die Einkleidung, aber der Sinn blieb derselbe. Er bedachte nicht, wie viel bittere Erfahrungen er einst in der würklichen Welt zwei einsamen, liebevollen Geschöpfen zubereitete, die er mit abgezognen Begriffen über Wesen ausrüstete, welche alle in tausend und aber tausend Abänderungen irgend einen Zug dieses Bildes darstellen, aber demselben nie gleichen würden. Seine Absicht war indessen berechnet und schön. Er selbst war auf seiner Laufbahn an einen Abgrund von Unglük gerathen, er hatte sich für Menschen geopfert, die sein Herz zerrissen hatten, und sein [27] hoher Begriff von der Menschheit hatte sein eignes Selbst vom Untergang errettet, hatte ihm Muth gegeben, bei einer völlig zerstörten Existenz Schöpfer fremder Glükseligkeit zu werden. Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Verhältnisse waren ihm verhaßt, er dachte mit Schaudern daran, seine Kinder in diesem schaalen Chaos kaltherziger Leidenschaft und geistloser Vernunftanstrengung zurükzulassen; da er aber keine Einsiedler aus ihnen machen wollte, so sollten sie in den Stand gesezt werden, sich einst ihren Weg selbst zu bahnen. Die einzige Sicherheit, die er ihnen gegen alle Gefahren geben zu können glaubte, war der höchste Begriff von ihrer moralischen Bestimmung; hatten sie den, so konnten sie unter so vielen entarteten Mitgeschöpfen wohl unglüklich, aber nie ihnen gleich werden.
Das Landleben und die sanfte Luft schienen anfangsSara's Wünsche für Antoinetten, [28] die leztgeborne Tochter von Seldorfs Weib, zu begünstigen, sie bekam Kräfte, und erwiederte die Liebe ihrer ältern Schwester mit der rührendsten Zärtlichkeit. IndeßTheodor bei dem Vater lernte, oder ihn in seinen landwirthschaftlichen Geschäften begleitete, war Antoinette beständig um Sara, ließ sich allerley kleine Spiele und Arbeiten von ihr weisen, oder ward von ihr, mit süsser Sorgfalt für ihre Gesundheit, im Garten und auf den Wiesen umher geleitet. Kamen der Vater und der Bruder zurük, so brachte die gute Sara ihren Pflegling der Wärterin wieder, denn es that ihrem weichen Herzen zu weh, ihren Vater bei dem Anblik und den Liebkosungen des kleinen Geschöpfes finster werden zu sehen. Anfangs, und so lange Antoinette krank war, hielt sie das für Schmerz über ihr vieles Leiden; nun war sie aber gesund, und wenn Sara ihrem Vater erzählte, daß ihr Schwesterchen [29] hübsch laufen, und schwazen, und sonst allerlei niedliche Dinge könnte, und er sie dann mit erzwungner Freundlichkeit anhörte, oder mit trüben Augen umarmte, und finster abbrach, strengte sie ihren liebenden Sinn an, um die Ursache dieses Unwillens zu ergründen. Natürlich erwachte dann in ihr das Andenken der Mutter, um derentwillen sie ihren Vater oft betrübt sah. So geschah es einmal, da er ihre kindische Freude über ihr Schwesterchen kalt zurükzustossen schien, daß sie furchtsam fragte: Vater ist es dennAntoinettens Schuld, daß die Mutter starb? Seldorf trat heftig zurük, und gieng mit sich selbst kämpfend im Zimmer umher. Das gute Mädchen glaubte es nun errathen zu haben, und ergrif weinend des Vaters Hand: Zürne nicht, verzeih ihr! Sie ist so allein, weil du sie nicht magst – bringe sie dann her, gute Sara, ich will sie mögen, ich will ihr verzeihen – – weiter ließ ihn seine [30] Bewegung nicht sprechen, und weiter hätte auch Sara nichts gehört, denn sie war schon hinaus geeilt, um ihrer Schwester ein Glük zu verschaffen, das sie für das schönste, wünschenswertheste hielt. Die Kleine spielte im Garten unter den Blumen, und folgte Sara's freudigem Ruf, zum Vater zu kommen, mit furchtsamen Schritten; denn sie war seiner Gegenwart fast entwöhnt, und liebte ihn nur ausSara's Lehren, wie die unbekannte Gottheit ihres kleinen Herzens. Seldorf empfieng sie tief gerührt, mit offnen Armen, und Antoinette blikte scheu bei den Thränen und Liebkosungen des Vaters. Ihre schönen, wenn gleich matten Augen, suchten kindisch staunend auf Sara's Gesicht eine Erklärung dieses Auftritts; indeß, wie sie ihre kleine Mama so fröhlich sah, ward sie auch munter und wakker, suchte die schönsten Blumen aus ihrem Körbchen, und stekte sie dem Vater erst in die Hand, dann gar an die Brust, eilte [31] geschäftig hin und her, und holte alle ihre kleinen Arbeiten, und zeigte sie ihm mit einem sanften, um Beifall bittenden Blik; und wenn ihr Wunsch gewährt wurde, rief sie: das hat mich alles Sara gelehrt, das hat mir meine Sara geschenkt; Sara erzählt mir auch viel schöne Geschichten, soll ich dir eine erzählen, lieber Vater? – Es war deutlich, daß Seldorfs Herz bei diesem ganzen Auftritt von tausend Empfindungen zerrissen wurde; aber je länger er Saras inniger Theilnahme an der liebenden Geschäftigkeit dieses Kindes zusah, und je vertraulicher die arme Kleine, in der Bemühung ihm zu gefallen, wurde: je sanfter schien sein Schmerz zu werden. – Ja, erzähle mir deine schönste Geschichte, die dich Sara zulezt lehrte, die erzähle mir. – Nun Vater, da war einmal ein Mann, der war sehr gut, so gut wie du, und hatte auch ein hübsches Haus, und Garten, und allerlei Schönes; und da kam[32] einmal eine arme Frau zu ihm mit einem kleinen Kinde; das war ein Mädchen, und Sara sagt, es wäre ganz klein gewesen, und hätte noch nicht gekonnt allein gehen, und essen, und um nichts bitten. Die Frau bat den guten Mann, daß er ihr doch ein Stübchen gäbe, und ihrem Nettchen eine Suppe, die bösen Menschen hätten ihr alles genommen. Und das that auch der gute Mann, und die Frau bekam auch ein Stübchen, und durfte in dem schönen Hause wohnen. Einmal, da mußte der gute Mann ausgehen, weit weg, daß er erst spät am Abend wieder kommen konnte, und da gab er der armen Frau alle Schlüssel, und sagte: sieh hübsch auf das Haus, daß die Diebe nicht hineinkommen, und – Vater, das habe ich vergessen: der Mann hatte zwei Kinder, daß es war, wie bei uns, eine grosse Schwester, und einen Bruder wie Theodor – Liebe Sara, nicht wahr, der Bruder in der Geschichte, der war wie unser Bruder, [33] aber – aber er hatte das arme kleine Mädchen lieb, ob sie gleich nur von einer armen Frau war – – der kleinen Erzählerin standen die Augen voll Thränen. Seldorf sagte: liebe Kleine, Theodor liebt dich auch, erzähle du nur! nun, der Mann gieng fort? – Ja, sagte Antoinette, und blikte auf Theodorn, dessen flammendes Gesicht schon längst abwechselnd Strenge und Rührung ausgedrükt hatte – ja, er gieng fort, und die Frau legte sich zu Bett, und ließ das Licht brennen, und auf einmal da war grosses Feuer in der Stube, und das ganze Haus brannte, und wie der gute Mann wiederkam, da sah er sein Haus brennen, und da rief er: ach meine Kinder! da kamen ihm die Kinder halb nakkend entgegen, aber die arme Frau war todt vom Rauche, und die Kleine hatte überall Weh vom Feuer, und des guten Mannes Gesicht war auch verbrannt, daß seine Augen finster wurden, und er nie mehr die Sonne sah, und[34] die Blumen, und seine Kinder nicht mehr sah; er nahm aber doch das gute kleine Mädchen auf seine Arme, und sagte: du armes Mädchen, deine Mutter hat mich zum Bettler gemacht, und es wird nicht mehr hell um mich seyn, denn meine Augen sind finster; aber ich will dich lieb haben, und dich nicht verlassen – – die Kleine erzählte schon lange mit stokkender Stimme, die lezten Worte lispelte sie an Seldorfs Brust gelehnt, die sich gewaltsam hob bei dem kindischen Geschwäz. Theodor war still zum Vater getreten; wie aber die Kleine verstummte, und der Vater mit inniger Rührung ihre Stirn küßte, schlug er seine Arme um sie, und drükte sie schweigend an sein Herz; dann sprang er zu Sara, die stumm auf ihre Arbeit niedersah, indeß grosse Tropfen über ihre glühenden Wangen rollten, und umarmte sie stürmisch.
Ob das Geschichtchen weiter gieng, das [35] kindische Nachplauderei, und eben so kindische Divinationsgabe in den Köpfchen der Erfinderin und der Erzählerin zusammengesezt hatten, wissen wir nicht; aber das Bündniß schien von nun an besiegelt, und Seldorfs Schwermuth hatte eine weit sanftere Schattirung erhalten. Mit wehmüthiger Sorgfalt beschäftigte er sich mit dem Kinde, dessen unendlich empfängliches Gefühl und vorzeitig reifer Geist ihn oft überraschten, wenn er gleich wußte, daß diese Erscheinung bei Kindern, die von ihrer Geburt an ein kränkliches Daseyn fortschleppen, als eine traurige Art von Ersaz für ihr verkümmertes Leben, nichts seltnes ist. Antoinette genoß die kaum erwachte Liebe ihres Vaters nur kurze Zeit, plözlich stand sie in der Zunahme ihrer Kräfte still, und eine schnelle Auszehrung führte sie in ihr frühes Grab. Das verlöschende Leben des zarten Geschöpfes schien von leisen Ahnungen jener Welt umgeben; fast schon entkörpert, schien ihr Geist [36] hinter den dichten Schleier zu blikken, und oft war in den kindischen Bildern, die sie ihren neuen Gefühlen anpaßte, ein Sinn, der Seldorfs ganze Seele traf. Eines Abends hielt er sie auf seinen Knieen, und das Kind schwazte in matten Träumen von den Freuden, die es sich in jener Welt verspräche. Der Vater suchte sie von dem Begriff vom Tod abzulenken – Nein, nein, Vater! Ich will gern sterben, im Himmel ist es schön, noch schöner als im Garten, wenn es Frühling ist, und die Bäume blühen, und die Vögel singen – im Himmel ist immer Frühling, Vater! Sie schwieg erschöpft, aber plözlich fuhr sie auf: Vater, ist die Mutter nicht im Himmel? – Ja, Antoinette. – Nun Vater, so gieb mir einen Kuß für die Mutter, den will ich ihr bringen bis du kömmst. – Sie legte ihre Arme um seinen Hals, drükte krampfhaft ihr Gesicht an seinen Mund, und ihr Kopf fiel leblos auf seine Brust herab. – O bringe[37] ihr ihn, bringe ihr ihn, und meine Verzeihung für mein vergiftetes Leben! rief Seldorf, wie er den Tod auf ihrem starren Gesicht las. Sanft küßte er noch einmal die Lippen, die ihr leztes Leben in Liebe ausgehaucht hatten, und übergab sie dem Grabe.
Dicht an Seldorfs Ländereien gränzte ein schönes Freigut, dessen Eigenthümer, ein Anwald aus Saumür, es bisher nur sehr selten auf einige Tage besucht hatte, um Pachtgeschäfte zu berichtigen. Berthier – dies war sein Name – hatte von Jugend auf die Rechte erlernt. Seinem geraden Verstand, seinem wohlwollenden Herzen war das Labirinth alter Irrthümer, verjährter Misbräuche, willkührlicher Deutungen, niederträchtiger Bemäntelungen, eigenmächtigen Zwanges, das sein Gewerb ihn täglich durchzuwandern zwang, schon früh ein Gräuel; er hatte sich versucht gefunden, die ganze Rechtswissenschaft aufzugeben, [38] und in dem kleinen Erbtheil seiner Väter das Feld zu bauen, als ihm, ziemlich in den ersten Zeiten seiner Amtsführung, das Glük wiederfuhr, einzig durch gewissenhafte Aufmerksamkeit in seinen Geschäften einen abscheulichen Betrug zu entdeken, der eine ganze Familie durch einen Rechtshandel in's Elend gestürzt haben würde. Er nahm alle seine Kräfte zusammen, um den unterdrükten Theil zu vertheidigen; der mächtige Gegner sah daß er mit einem gefährlichen Mann zu thun hatte, und versuchte Bestechung. Berthier wies ihn ohne Prunk von sich, verfolgte seinen Weg mit unerschroknem Eifer, und verschafte der gerechten Sache den Sieg.
Der ganze Handel hatte nichts ausserordentliches; selbst der verlierende Theil war durch andere Geschäfte seiner glorreichen Laufbahn zu zerstreut, um sich lange dabei aufzuhalten, daß ihm eine kluge Maasregel, seine Einkünfte zu vermehren, unter so vielen [39] mislungen war, und daß sein gelindes Mittel, dem natürlichen Gang der Gerechtigkeit etwas nachzuhelfen, diesmal bei Herrn Berthier nicht besser angeschlagen hatte. Auf Berthier war aber die Würkung dieses Vorfalls daurender; er hatte bis jezt nur das Widersinnige, das Empörende der gerichtlichen Formen und der sogenannten Geseze empfunden, jezt erkannte er, wie wohlthätig, gerade im Verhältniß mit der Mangelhaftigkeit dieser Einrichtungen, ein redlicher Mann in seinen Geschäften seyn konnte. Je mehr er fürchten konnte, daß seine Kollegen manche Gelegenheit, Vertheidiger des Rechts zu seyn, entschlüpfen liessen, desto tiefer fühlte er den Beruf, selbst jede zu ergreifen. Der Dank der geretteten Familie, das Gefühl, durch einfache Redlichkeit dem Einfluß des gefürchteten Grafen von ** die Wage gehalten zu haben, entschied seine Bestimmung; er blieb auf der angefangnen Laufbahn, [40] und hatte in der Zeit, von welcher hier die Rede ist, seinem Amte nah an sechzig Jahre vorgestanden. Nie hatte ihn sein Entschluß gereut; Gelegenheiten, die Unschuld zu beschüzen, boten sich oft dar, und er ließ sie nie unbenuzt. Stand es auch nicht immer in seiner Macht, Ungerechtigkeit zu verhindern, so blieb er sich doch bewußt, nie ein Werkzeug der Unterdrükung gewesen zu seyn.
Von Jahr zu Jahr sah er indessen die Misbräuche zunehmen; in späterem Alter ward es dem braven Mann oft schwerer, den Zwang seines Amtes mit seinem Gewissen zu vereinigen; aber der Gedanke, wie viel schädlicher als sein gezwungnes Erdulden der böse Wille manches andern seyn möchte, hielt ihn noch aufrecht. Endlich ereignete sich bei einem Rechtshandel, in welchen eines von den ersten Häuptern im Königreich verwikelt war, der Fall, daß ein höherer Befehl dem Gerichtshof [41] von Saumür andeutete, gegen den Vater einer zahlreichen Familie, dessen Unschuld sonnenklar war, die Galeerenstrafe zu erkennen; zwei seiner hofnungsvollen Söhne wurden zugleich mit Schimpf von ihren Regimentern hinweggejagt. Berthier bot seinen Collegen an, sich aufzuopfern und den Widerspruch allein über sich zu nehmen; die paßivste Rolle von ihrer Seite hätte alsdann hingereicht einen Frevel zu verhüten, der so ungereimt als abscheulich war; allein er fand nichts als bestochene Gewissen und verhärtete Herzen, man verwies ihn zur Ruhe, und drohte mit ernster Ahndung seiner Kühnheit. Nein, sagte der acht und siebenzigjährige Greis,meine Verdammniß soll wenigstens an jenem Tag meinen armen König nicht belasten; thut was Ihr nicht lassen könnt, ich will ruhig sterben! Er legte sein Amt nieder, und bezog mit seinem Enkel, dem lezten Zweig einer zahlreichen Familie, die ihm der Tod nach und [42] nach geraubt hatte, sein väterliches Erbtheil in Seldorfs Nachbarschaft. Roger war der Trost und der Liebling des alten Mannes, der ihn erzogen, und seine unerschütterliche Redlichkeit, seine stille Würksamkeit, seine heitre Fähigkeit zu geniessen auf den Jüngling übergetragen hatte. Sein Unterricht bestand in Beispiel, in beständigem Hinweisen auf die Würklichkeit, und der Lohn, den er dem wilden Knaben und nachher dem feurigen Jüngling anbot, in dem Bewußtseyn erfüllter Pflicht. Bei seiner natürlichen Anlage zum Guten, war Rogers ganze Jugend eine Reihe praktischer Tugenden, die er in der Einfalt seines Herzens für eben so wenig ausserordentlich hielt als Essen und Trinken, und die ihm auch eben so unentbehrlich waren. Seine Leidenschaften, seine Thorheiten, die Wallungen seines heissen Bluts waren, bei seinem frohen Streben nach dem Besten, nur ein herzliches Band, [43] das ihn mit Nachsicht gegen andrer Schwächen und dem Bewußtseyn, selbst Duldung zu bedürfen, an alle Menschen knüpfte. Ward die Welt um ihn her der ungebändigten Kraft des jungen Mannes zu schaal, stemmte er sich gegen einen Zwang, welcher der Tugend selbst so oft eine Hülle aufdringt, gegen Vorurtheile, die noch öfter dem Laster Weihrauch streuen, so sagte ihm der freundliche Großvater in der wortreichen Sprache seines Alters: »Lieber Sohn, ein Mensch allein baut kein Haus, es müssen viele daran arbeiten, und der Bursche der die Steine im Schurz herbeischleppt, hat auch ein Verdienst dabei, so gut wie der Baumeister, welcher den sinnreichen Riß angab. Wollte jeder Arbeiter nur das Ganze ausführen, und an die einzelne Theile keine Mühe wenden, wollte er das schöne Gebäude errichtet sehen, und doch von Schutt und Leim, von mismuthigen Aufsehern und groben oder ungeschikten Mitgesellen nichts wissen, so käme nie ein[44] Haus zu Stande. So ist's mit dem Guten das wir thun, es geht dessen kein Stäubchen verloren, jeder schöne Gedanke deines edeln Geistes gehört mit zur Schönheit der ganzen Schöpfung. Alles schön und am besten machen kann das Menschengeschlecht nie, noch weniger ein einzelner Mensch; und in dieser Zeit, in diesem Lande, wo die lezten Bande der Gesellschaft vom Laster gelöst werden« – Schnell verlosch hier der glänzende Blik des alten Mannes; er kehrte von dem schaudernden Bild des Jahrhunderts wieder zu der Lehre zurük, die er dem aufblühenden Enkel gab. – »Aber glaube mir, Sohn, jede Bemühung etwas Gutes zu thun pflanzt dir dein verheissenes Paradies, sie ist ein Stein zum Gebäude; und siehst du es auch nie fertig, so kannst du doch einst zu deinem Enkel sagen, wie ich zu dir: ich hinderte den Bau niemals!« Dieses menschlich weise Geschwäz war für Rogers gutes Herz mehr gemacht, als für [45] seinen gewaltigen Sinn. Wenn er – um in der Allegorie seines Großvaters zu bleiben – so manchen tauglichen Stein herbeischleppen sah, den der Baumeister verwarf, oder ein schlechter Arbeiter verkleisterte, ja wenn er alle Augenblike wahrnahm, das Gebäude könnte nach der Anlage unmöglich bestehen, sondern müßte krumm und schief und der Welt zum Spott ausfallen, bis es endlich gar über die saubern Künstler zusammenstürzte; so ward es ihm heiß vor der Stirne, er sann und maß seine Kräfte, und fragte furchtsam den freundlichen Ahnherrn: ob es nicht besser seyn möchte, die ganze Gaukelbude umzureissen? Lächelnd über den Feuereifer des Jünglings sagte dieser: Und wenn der Schutt nun da läge, wo wohnte man dann, und wer hälfe dir wiederbauen? – Vater, die Natur gab jedem Geschöpf die Freiheit sich seine Wohnung zu wählen, und sendet nur Sonne, Thau und Regen, damit es [46] habe was es zu seinem Gedeihen braucht; warum sollte der Mensch nicht frei leben, wie sein Sinn ihn leitet? Und was braucht er andre Geseze, als die ihn sein bestes Gedeihen lehren? – Roger, mein Sohn! antwortete Berthier mit Ernst, fehlte dir je die Freiheit rechtschaffen zu seyn? Von der Tugend führt nur Ein Scheideweg – in's Grab; und kein Mißbrauch der Menschen versagte jemals der Seele die Wahl zwischen Rechtthun oder Sterben, und ich – hier nahm er seine Müze zwischen seine gefalteten Hände, und beugte sein weisses Haupt – Dank sei es meinem gnädigen Gott, ich entgieng acht und siebenzig Jahre der furchtbaren Wahl. – Tief gerührt drükte der wakere Jüngling des ehrwürdigen Greises Hände an seinen Mund, und lenkte heiter in seinen stillen Lebensgang wieder ein.
So lohnend das Gefühl erfüllter Pflichten für den alten Berthier war, so mochte [47] er Rogern doch nicht zu eben der dornenvollen Bahn anführen, die er durchwandert hatte; er hatte ihm vielmehr immer das Landleben als die einzige noch übrige Freistätte eines unabhängigen Gemüths; und den Akerbau als diejenige Beschäftigung, die den Menschen zum nüzlichsten Bürger macht, geschildert. Er hatte ihn einige Reisen machen lassen, um an Ort und Stelle praktische Kenntnisse zu erwerben, und als ihn der oben erwähnte Vorfall in seinem Amte von Saumür vertrieb, freute er sich, seinen Liebling in den Würkungskreis, den er für so wohlthätig hielt, selbst einzuführen.
Es waren nun seit Antoinettens Tod einige Jahre verflossen, und hatten das Band zwischen Sara undTheodor immer fester geknüpft. Der Bruder glaubte die kleine Abgeschiedne zu versühnen, indem er seiner übrig gebliebnen Schwester alle Liebe widmete, die [48] er Antoinettens Liebe bedürfendem Herzen versagt hatte; und Sara vereinigte den ganzen Schaz ihres innigen Zutrauens, ihrer sorgenden schwärmerischen Herzlichkeit, den ihr armes Pflegkind sonst getheilt hatte, auf ihren theuern Theodor. Einsam und friedlich floß ihnen die Zeit dahin, und ihr thätiger Geist, ihre empfängliche Fantasie füllte den Mangel an Begebenheiten, bei welchem sie ihre erste Jugend verlebten, überflüssig aus. Mit wehmüthiger Freude sah Seldorf diese beiden Geschöpfe, in denen alle seine Pflichten, alle seine Bande an das Leben vereinigt waren, wachsen und sich vervollkommnen. Sonst war der Schimmer von Heiterkeit, der sich in der lezten Zeit vor Antoinettens Tod über ihn verbreitet hatte, mit ihr wieder verschwunden; ihr Grab verschloß zwar den lezten, erbitternden Zeugen seines Unglüks, aber die stumme Todte konnte nicht wie die lächelnde Leidende sein vergiftetes Herz mit der Vergangenheit aussöhnen.
[49] In dieser Stimmung fand der Besuch des neuen Nachbars die Seldorfsche Familie. Das Gerücht, das in der ziemlich menschenleeren Gegend von ihr verbreitet war, konnte Berthier keinen Aufschluß weiter geben, und ließ ihn höchstens etwa auf einen in Ungnade gefallenen oder verarmten Grossen rathen. Zu bekannt mit dieser Art Menschen, um etwas vortrefliches zu erwarten, und viel zu brav, um unberechtigt das Böse vorauszusezen, gieng er, in Begleitung seines Enkels, aus blosser althergebrachter Höflichkeit zu Seldorfs. Solche Menschen waren aber früh genug über einander verständigt. Der Anblik von Seldorfs Kindern, die einfache und stille Güte in dem Betragen des Vaters gegen sie, Theodors lebhafte Bereitwilligkeit den Eindruk zu empfangen, den Rogers Bekanntschaft auf ihn machte, Sara's schüchterne Höflichkeit gegen den Jüngling, ihre kindlich-ehrerbietige Freundlichkeit gegen den [50] braven Alten – alles flößte diesem gar bald Achtung und Zutrauen ein. Freimüthig empfahl er seinen Roger Seldorfs Güte, und forderte die beiden jungen Männer auf, nähere Bekanntschaft mit einander zu machen, um wo möglich Freunde und Gespielen zu werden. Sara erröthete in diesem Augenblik, und mit einem dunkeln Gefühl von Eifersucht trat sie näher zu Theodor, welcher, Rogers Hand drükend, ihn voll Eifer bat, den Gedanken, den sein Großvater angab, nicht fahren zu lassen.
Berthiers Gespräch, in welchem Wohlwollen, gesunder Verstand, tiefe Empfindung und Erfahrung die Stelle des Welttons so reichlich ersezten, hatten aufSeldorf, der seit Jahren schon den Umgang der Menschen floh, einen ausserordentlichen Eindruk gemacht. Es war ihm bei den Menschen, mit welchen er bis dahin von Zeit zu Zeit gezwungner Weise zu thun gehabt hatte, sehr leicht geworden, seiner [51] Abgeschiedenheit getreu zu bleiben: aber dieses graue Haupt, dieser heitre Blik der so theilnehmend auf ihm ruhte, die Herzlichkeit mit welcher der Alte ein Band zwischen ihren Kindern zu knüpfen bemüht war, erwekten das lang unterdrükte Bedürfniß der Mittheilung wieder in seinem Herzen, und verleiteten ihn, aus seinem einsamen Lebensgang herauszugehen. Wie der arme Verödete zum erstenmal seinen alten Nachbar aufsuchte, sträubte sich seine angewöhnte Schwermuth dagegen, und er suchte sich selbst zu überreden, als ob er blos vermeiden wollte, dem Greis durch Vernachlässigung wehzuthun. Einige Tage darauf dachte er mit Rührung an seinen freien und lebhaften Geist bei seinem hohen Alter – wer weiß, wie lange dieses reine Flämmchen noch lodert? so fragte er sich selbst, und betrat unwillkührlich den Weg nach seines Nachbars Haus. Endlich suchte er ihn willig auf, und überließ sich dem Gefühl, [52] in Gegenwart eines Weisen, der am Scheideweg des Lebens stand, seine trostlose Fassung auf Augenblike zur ruhigen Ergebung werden zu sehen.
Oft fand er den Greis, mit einem alten Schriftsteller in der Hand, in der Abendsonne sizend; vor ihnen liefen dann die jungen Leute auf einem Wiesenplan umher, und kämpften und rangen zusammen; Sara saß mit ihrer Arbeit, und sah den Spielen zu, oder war geschäftig um den Grosvater, (denn bald gaben sie und ihr Bruder dem alten Berthier diesen Namen,) und verband bei den kleinen Diensten, die sie ihm zu leisten beflissen war, alle mädchenhafte Liebenswürdigkeit mit der rührenden Ehrerbietung, welche das hohe Alter jungen unverdorbnen Herzen unfehlbar einflößt. Manchmal hörten auch die Jünglinge zu, wenn der Alte mit Entzüken von der Vorwelt sprach, die er in seinen Griechen und Römern studierte. Sein Auge [53] blizte dann unter den weissen Wimpern hervor, und troz des bleichenden Alters färbten sich seine Wangen. Das ist, sagte er, die einzige Abschweifung von der Würklichkeit, die ich mir je erlaubt habe. Manchmal sah ich es in der Welt so bunt hergehen, daß ich mich selbst kaum mehr von den Menschen um mich her zu unterscheiden vermochte; wenn es aber nach einem Jahre von Arbeit einmal eine Feierzeit gab, und ich mich mit meinem Plutarch in meinem Kämmerchen einschloß, da gewann ich mich wieder lieb, und dachte zu meinem Trost: deine Schuld ist's ja nicht, wenn du kein Brutus, kein Cato, kein Mark Aurel geworden bist; vom Weibe geboren wie jene Helden, strebe ihnen nach, so weit deine Kräfte dich führen! Freilich ist sie vorbei, die Zeit wo es solche Menschen gab – Nach alter Sitte wagte es Roger selten, sich in die Gespräche seines Grosvaters zu mischen, wenn dieser seine Worte nicht gerade an ihn richtete; [54] indessen riß ihn hier seine Theilnahme hin, er unterbrach lebhaft: Warum sollte es aber keine solchen Männer mehr geben, da sie noch vom Weibe geboren werden wie damals? Warum lehren wir unsre Jugend durch Beispiele, die wir nicht nachahmen können? Warum nähren wir unsre Seele mit Idealen, die unser Zeitalter zu Undingen macht, die uns selbst zu verächtlichen Misgeburten herabwürdigen? – Warum, mein Sohn? warum wächst dieser Baum – er wies hier auf einen gezognen Pfirsichbaum – nicht so mächtig und stark wie die Eiche, unter welcher du mir eine Bank bauen willst? – Weil er verkünstelt ist, Vater, weil er nicht in seinem angebohrnen Erdreich steht, weil seine Zweige gefesselt und gezwungen sind, Früchte zu tragen, die unsre Gierde erzwingt, der einfachen Ordnung der Natur zum Troz. Der Baum muß sich biegen und schneiden, und aus seiner Muttererde reissen lassen, weil er [55] sich nur leidend verhalten kann; allein der Mensch .... siehst du, Vater! das Bild paßt nicht; denn der Mensch kann wollen – wohl, sagte der Alte ernst und bedeutend; so sorge daß nie ein Baum verstümmelt werde um deinen Uebermuth zu befriedigen, wache über dich, daß du nie durch Wort und Beispiel einen Menschen verhinderst, jenen grossen Mustern zu folgen; aber vergiß nie, daß du allein nicht allen verstümmelten Stämmen ihren natürlichen Wuchs zurükgeben kannst; vergiß nicht, daß Brutus in sein Schwert fiel, weil er allein wollte wozu die Welt verdorben war. – Roger schwieg erschüttert, da neben einem Namen, vor welchem der alte Berthier sein Haupt ehrerbietig zu neigen pflegte, der seinige erwähnt wurde, er fühlte es, als hätte er einen Frevel begangen, und unterbrach mit keinem Laut die Stille, während deren alle Augen auf dem begeisterten Greis ruhten: Sara war die erste, die mit schmeichelnder Stimme das Gespräch wieder belebte.
[56] Der Geist dieses alten Mannes, der bis zur äussersten Spannung aller Kräfte ausdauerte, und so wie der Widerstand noch mächtiger wurde als diese Kräfte, in die heiterste Ergebung übergieng, war, obschon das Widerspiel von Seldorfs Geist, doch das Vorbild der höchsten menschlichen Weisheit für Seldorfs unbefangne Vernunft. Oft verglich er die wehmüthige Stille, mit welcher er auf sein vorfrühes Grab zuschlich, und den Siegerschritt, mit welchem Berthier dem Lohne jenseits entgegeneilte. Auch dieser hatte Betrug statt Wahrheit gefunden, hatte der Bosheit weichen müssen, und stand nun verkannt am Rande des Grabes; aber ihm war nicht Undank geworden für Liebe – Hier tönte laut die Stimme des alten Grams aus seinem armen Herzen, er wandte seinen Blik von Berthiers grauem Scheitel, und rief seiner Kinder Bild hervor, um damit seine Sehnsucht nach dem Tod zu bekämpfen.
[57] Theodors Lebensweise hatte sich durch diese neue Nachbarschaft sehr verändert. So entfernt auch jede Spur von Menschenverachtung von seinem Gemüth und seines Vaters Grundsäzen war, so hielten ihn doch seine Sitten, sein früh verfeinertes Gefühl von den Kindern der rohen dürftigen Landleute, und das Lokale seiner Lage von jedem andern vertraulichen Umgang zurük. Seine Knabenjahre waren ohne Gefährten verflossen, und als Jüngling vermißte er oft einen Theilnehmer an seinen Zeitvertreiben; denn einen Freund hatte ihm seine lebhafte Zärtlichkeit fürSara bis jezt ganz entbehrlich gemacht. Roger war zwar einige Jahre älter wie er; aber die Einfachheit seines ganzen Wesens, seine ungleich weniger wissenschaftliche Erziehung, seine offene Art machten diesen Unterschied unmerklich. Seldorf fühlte den Vortheil, welchen sein Sohn für seine Bildung von der Gesellschaft [58] dieses wakern Jünglings ziehen konnte; er suchte sie durch Beschäftigung und Zeitvertreib an einander zu knüpfen. Konnte Theodor bei den Haushaltsarbeiten seines Freundes auch seinen Eifer für Feld und Wiese und Weinberge nicht theilen, so horchte er ihm doch aufmerksam zu, und half ihm mit lustigem Fleiß. Roger nahm dagegen an manchem Unterricht Theil, den Theodor von seinem Vater empfieng. Er lernte zeichnen und fechten mit ihm, ob er sich gleich anfangs gegen das lezte geweigert hatte. In meinem Stande brauche ich es nicht, sagte er mit einem trozigen Wesen, indem er, gewiß unwillkührlich, auf Seldorfs Ludwigskreuz blikte.Seldorf, der ihn errieth, fragte lächelnd: nun, warum denn nicht so gut wie Steine schleudern, und Armbrustschiessen? Es soll Ihren Arm stark machen, und mit keiner dieser Künste werden weder Sie nochTheodor je in Friedenszeit irgend [59] wen aus der Welt befördern. – Roger lernte mit treuem Fleiß, hielt fest was er einmal gefaßt hatte, blieb aber unaufhörlich hinter Theodors Schnelligkeit zurük, ohne darum jedoch sich irre machen zu lassen. Theodor machte hingegen, ohne die mindeste Anstrengung, die schnellsten Vorschritte, und benuzte alle Vortheile seines gewandten Körpers mit der zierlichsten Leichtigkeit; galt es aber einen starren Widerstand, so machte ihn seine unmäßige Lebhaftigkeit aller kaltblütigen Gegenwehr unfähig. In andern Uebungen, beim Kämpfen, Ringen, und in allen Spielen, die Kräfte und Festigkeit erfordern, war Roger immer Sieger, wenn er nicht absichtlich Blössen gab. Ward Seldorf dies gewahr, so rief er ihm wohl zu, und ermahnte ihn, redlich mit seinem Gegner zu verfahren, und dann fehlte es selten, daß Theodor nicht bald am Boden gelegen hätte; wenn er sich aber wieder aufgerafft [60] hatte, schüttelte er freundlich seines biedern Ueberwinders Hand.
So verlebten sie ungetrübt heitre Tage; Sara theilte jede Freude ihres Bruders, wohnte seinen Lehrstunden bei, und ermunterte ihn durch ihren eifersüchtigen Beifall. Roger diente ihr bei diesem zarten, zu lauter überspannten Empfindungen, zum Umgang mit lauter Idealen erzognen Geschöpfe nur zur Folie; sie ließ zwar seinem treuen Sinn, seinem kühnen Muth, seinem kindlichen Herzen volle Gerechtigkeit wiederfahren; aber gegen Theodors in glühende Leidenschaft übergehende Gefühle schien ihr das arme Naturkind nichts als ein froher, auf gut Glük loslebender Junge. Wurde sie von den beiden Jünglingen aufgerufen, bei ihren Spielen zu entscheiden, und Billigkeit nöthigte sie, für Rogern den Ausspruch zu thun, so sah sie deutlich, daß seine Geschiklichkeit ihn freute und nicht ihr Ausspruch; hatte hingegen [61] Theodor den Sieg behalten, so war sein Gefühl nur Dank gegen sie, daß sie ihm den Preis zuerkannt hatte, und schmeichelnde Liebe, als sei er ihn ihrem Herzen, und nicht seinem Verdienst schuldig. Waren die beiden jungen Leute durch Feld und Wald gestreift, so brachte ihr Roger einen ungeheuern Strauß von allen möglichen Feldblumen, und legte ihr, treuherzig überzeugt, seinem guten Wort könnte die gute Stätte nicht fehlen, den ganzen Plunder auf den Nähtisch, so daß er von allen Seiten auf den Boden fiel. Aber Theodor zog eine einzelne Waldrose aus dem Busen, und stekte sie in ihr braunes Haar, und sie hatte kaum Zeit, dem armenRoger zu danken, der indessen seinen Kräuterkram geduldig auflas, und ihr anbot, ihn in's Wasser zu stellen. Erhöhte aber auch jeder Tag der Schwärmerin schwesterliche Liebe, so nahm sie doch mit der ihr eignen Innigkeit den Eindruk von Rogers unverkennbaren [62] Tugenden auf. Theodor hatte zu viel Edelmuth, um ihn nicht nach seinem vollen Werthe zu schäzen; stolz auf seinen Freund erzählte er der Schwester jede seiner im Stillen, und doch so offen, ohne prunkvolle Verhehlung gethanen schönen Thaten. Einmal hatten die drei jungen Leute einen etwas weiten Spaziergang gemacht. Bei ihrer Rükkehr kamen sie an einer einzelnen ärmlichen Hütte vorüber, wo sie klagende Stimmen mitten unter einem heftigen Zank tönen hörten. Die beiden Jünglinge traten mit dem Gedanken, vielleicht helfen oder schüzen zu können, hinein, und fanden in einer fast ganz ledigen Stube ein Weib, dem Anschein nach schon in der Unempfindlichkeit, die dem Tod oft vorhergeht, auf dem Stroh liegend; ihr Mann hielt ein neugebohrnes, aus Hunger schreiendes Kind auf seinem Arm, und suchte mit geschwächter, klagender Stimme einen Frohnvogt zu erweichen, der eben gekommen [63] war, um zur Tilgung des rükständigen Zehnten seine Kuh in's Amt abführen zu lassen.Theodor fuhr über die barbarische Härte auf, und kam mit dem Gerichtsdiener in einen heftigen Wortwechsel über die Strafbarkeit des Schuldners, von welcher dieser, wie natürlich, überzeugt war; Roger ließ sich von dem Manne seine Lage erklären: er war durch Miswachs in Schulden gerathen; voriges Vierteljahr hatte man ihm seinen Pflug und sein Rind genommen; mit der Kuh allein konnte er nichts anfangen, da lag nun das Feld brach, und er hatte die nächste Ernte eingebüßt; seine Frau war in's Kindbett gekommen, und lag jezt den siebzehnten Tag im hizigen Fieber; da konnte er nicht einmal wilde Kräuter zum Gemüs sammeln; diese einzige Kuh mußte ihn, und das unglükliche Weib, und das umsonst nach der Mutterbrust schreiende Kind nähren; endlich konnte er sein Weib auch nicht mehr verlassen, um die Kuh[64] auf die Weide zu führen, denn eines Tages da er abwesend gewesen war, hatte die Arme in ihrer Raserei das Kind gegen die Mauer geschleudert; nun nahm man ihm auch diese Kuh, um das ablaufende Vierteljahr zu bezahlen – Ein neues Wimmern des elenden Kindes unterbrach den verzweifelnden Vater. Ach, rief er, und schwang das kleine Geschöpf gegen die Mauer, hätte dich die arme Mutter nur hingerichtet! Gott hätte ihr verziehen, und ich brauchte dich doch nicht verschmachten zu sehen – Nein, es soll nicht verschmachten! rief Roger voll Eifer, und hielt unwillkührlich das Kind mit beiden Händen auf; Ihm soll geholfen werden! – Jezt hatte Theodor den Gerichtsfrohn befriedigt, und die Kuh wurde dem Bauern gelassen. Theodor zitterte bei der wiederholten Erzählung seines Elends, und schüttete alles Geld, das er bei sich hatte, in seine Hände aus; der Mann war betäubt über diesen [65] schnellen Glükswechsel, sein armer Verstand hatte keinen Dank für so ausserordentliche Wohlthaten: in trauriger Einfalt betete er lateinische Segenssprüche gegen seine Erretter her.
Sara, welche über die lange Abwesenheit ihrer Gefährten besorgt zu werden anfieng, und jezt die tiefste Stille in der Hütte zu hören glaubte, wagte sich endlich bis an die Stubenthüre. Roger erblikte sie, legte schnell das Kind, das er noch hielt, auf das Strohlager, und vertrat ihr, eh sie hereinkommen konnte den Weg; rasch rief er: nein Fräulein, hier haben Sie nichts zu thun; das wird mir schon schwer mit anzusehen, Sie sollen deswegen doch helfen. – Warum soll sie nicht sehen? rief Theodor, dessen Einbildungskraft mit jedem Augenblik lichter in Flammen stand, warum nicht sehen, Berthier? Halten Sie Sara für zu empfindsam, um menschlich zu seyn? Hier sieh [66] den Raub des grausamsten Eigennuzes, des tiefsten Elends – Zugleich riß er Sara an das Bett der Wöchnerin, die todtenbleich, mit starren, weit offenen Augen und zukendem Mund dalag; das Kind strekte winselnd gelbbraune Hände, an denen eine zusammengeschrumpfte Haut klebte, aus etlichen zerrissenen Lumpen; der Vater stand, durch Theodors für ihn ganz unverständliche Heftigkeit scheu geworden, in einem Winkel, das Bild des Elends, mit langem Bart und struppigen Haaren, die um ein hagres, fast blödsinniges Gesicht hiengen. Sara hatte das menschliche Unglük nie in dieser scheußlichen Gestalt erblikt, sie wankte und ward bleich; Theodors Feuereifer bemerkte es nicht, sondern erzählte ihr stürmend den eben vorgefallnen Auftritt. Roger faßte das zitternde Mädchen am Arm, machte ihre Hand von ihrem Bruder los, und führte sie hinaus. Diese Kaltblütigkeit stach zu sehr gegen Theodors [67] Heftigkeit ab; bald hätte dieser Abend den schönen Bund der Jugend und Herzensgüte zerrissen. Theodor gieng in seinem Ungestüm so weit, seinen Freund der Unempfindlichkeit und der Läßigkeit im Helfen, bei dem ganzen Vorgang zu beschuldigen. Roger schien tief gekränkt; aber um Sara's willen, die sichtbarlich litt, vermied er jede Erklärung bis zu ihrer Rükkehr. In diesem Streit, sagte er schonend, kann das Fräulein nicht entscheiden; und wenn ihr Wohlbefinden mich überweist, daß ich zu weichlich gegen sie verfuhr, so will ich gern von ihr verurtheilt werden. Sara fühlte seine Güte, und eben so lebhaft, aber mit bitterm Kummer, Theodors beleidigendes Unrecht. So bald sie zu Haus ankamen, trennte sich Roger von ihnen; und so früh es noch am Tag war, so bedurfte es doch des ganzen Abends, damit Theodors wallendes Blut, und noch mehr seine falsche Scham sich legte. [68] Endlich erkannte er mit Reue, wie irrig er Leidenschaft mit Gefühl verwechselt, wie knabenmäßig er neben seinem biedern, langmüthigen Freund gestanden hatte. Er eilte am andern Tag nach Rogers Wohnung, wo er aber den Alten allein bei seinem Frühstük fand; von Rogern wußte dieser nichts: er müßte wohl irgend etwas vorhaben, denn er wäre gestern erhizt und tiefsinnig gewesen, hätte bis tief in die Nacht geschrieben, um einen von ihm erhaltenen Auftrag zu besorgen, und wäre nun seit Tages Anbruch aus dem Haus. Unbefriedigt kehrte Theodor zurük, und brachte, unfähig zu jedem Geschäft, einen trüben Tag zu, bis ihm gegen Abend seine Schwester anlag, sie wieder nach der Hütte zu begleiten, wohin sie Wäsche für Mutter und Kind, und Speise für das ganze Haus mitnehmen ließ. Auch diese liebe Mildthätigkeit erschien ihm wie ein Vorwurf; er hatte aus Leidenschaft das Verdienstloseste gethan, [69] er hatte Geld gegeben, und sich seitdem nur mit seinem bösen Bewußtseyn geschleppt. Stillschweigend langten die beiden Geschwister bei der Hütte an. Sie fanden die Kranke zwar matt, aber wieder völlig bei sich selbst, auf einem neuen reinlichen Strohsak, in eine warme wollene Deke gehüllt; das Kind war in grobe, aber saubere Windeln gewikelt, und am Feuerheerd stand ein ältliches Bauerweib von Seldorfs Gut, das der Familie ein Abendbrod bereitete. Erstaunt über diese wohlthätige Veränderung, fragte Sara ahndend, wo sie herrührte? Mit einer ehrerbietigen Verbeugung erzählte die Wärterin, daß ihr Herr Roger Berthier gestern am frühen Abend Geld gegeben hätte, um sogleich alles Nöthige im nächsten Städtchen zu kaufen, und heute mit Tages Anbruch das Eingekaufte, und einen Korb voll Eßwaaren zu diesen Leuten zu bringen; er hätte sie gemiethet, da zu bleiben, bis die Kranke selbst wieder ihrer Arbeit [70] vorstehen könnte. Theodor schlug bei dieser Erzählung erröthend die Augen nieder; Sara vergaß auf einen Augenblik ihres armen Bruders Beschämung, um ihr warmes Herz ganz der Freude über Rogers stille thätige Menschenliebe zu überlassen. War er schon selbst hier? fragte sie gerührt. – Ei ja wohl, antwortete die Bäuerin mit einer neuen Verbeugung; wohl ist er hier, seit Tages Anbruch; er kam mit einem Gespann Ochsen und dem Knecht, und er bereitet und pflügt die Brachfelder des armen Nikolas zur Nachernte. – Sie sezte schwazhaft eine Menge Umstände hinzu, die Rogers Weisheit, in der Art wie er den Bedürfnissen des armen Nikolas aushalf, noch mehr in's Licht stellten. Geld hatte er ihm noch nicht gegeben, er hatte ihn um nichts aus seinem Kreis genommen, sondern mit praktischer Kenntniß dessen was ihm in seinem Stand am meisten noththun mochte, ihm die Mittel verschaft, [71] durch Fleiß und Thätigkeit sich wieder aufzuhelfen. Herr Roger, schloß sie, ist noch im Felde, und führt die Ochsen – Theodor kämpfte mit Scham und Liebe für den einfachen stolzen Berthier, der mit dem Bewußtseyn seines Willens und seiner Fähigkeit zu helfen, gestern so still bei seiner Heftigkeit geblieben war, und sich heute so empfindlich an ihm rächte. Seine Schwester sah Thränen in seinen schönen Augen, sie zog ihn gegen die Thüre, schlang den Arm um seinen Hals, und sagte bittend und leise: Komm zu ihm, wir können ihm gewiß noch etwas helfen. Fort eilten sie, dem Felde zu, das ihnen die Bäuerin angedeutet hatte, und fanden dort Roger, der mit glühendem Angesicht und schweisbedekter Stirn, in blossen Hemdermeln, seine Thiere führte. Der Knecht breitete Dünger aus, und seitwärts unter einem grossen Kastanienbaum stand ein Topf mit Milch und schwarzes Brod zur Labung für [72] beide. Wie Roger die beiden erblikte, ließ er sein Gespann stehen, lief froh auf sie zu, und fragte nach Saras Gesundheit, nach dem Grosvater, dem er heute auf den ganzen Tag davongelaufen war – aber ich habe auch recht geschaft, der Grosvater wird sich selbst freuen und uns helfen, denn es ist noch längst nicht alles in Stand; Abends wollte ich zu Ihnen kommen, Fräulein, und Sie und Herrn Seldorf um Rath und Hülfe bitten. – Mit seinem sorglos heitern Gesicht, und seinen feurigen Augen, die bald auf Sara, bald auf die Furchen, bald auf die unsaubre Beschäftigung des Knechts umherblikten, hätte er noch eine Weile fortgeschwäzt; allein Theodor fiel ihm um den Hals, und sein Stillschweigen, sein redendes Gesicht legten jezt das Geständniß ab, das Roger gestern so schmerzlich entbehrt hatte, ob ihm gleich nur eben in diesem Augenblik von gutherzigem Leichtsinn das alles wieder entfallen war.Theodors Beschämung [73] ergrif ihn sehr lebhaft, Thränen standen in den spiegelreinen Augen, die er jezt gerührt auf seinen Freund heftete. Guter Theodor, sagte er, es ist mir lieb daß Sie mich nun verstehen; würklich, würklich ich wollte das schon gestern was ich heute that, vom ersten Augenblik wollte ich; aber ich dachte nur wie ich's einrichten sollte, und wenn ich denke, wissen Sie ja daß ich oft herzlich stumm bin. Dagegen – fuhr er wieder voll Lustigkeit fort – dagegen schwaze ich wieder tausendmal ohne zu denken. Aber daß Sie so gut sind – wahrlich der Tag war mir recht trüb, aber wie ich das Fräulein sah, hatte ich alles vergessen; ich hätte vielleicht nie wieder daran gedacht. – Theodor war über Rogers kindlichen Sinn entzükt; zum erstenmal hörte er ihn mit dieser vertraulichen Herzlichkeit sprechen. Schon oft hatte ihm der Eigensinn im Weg gestanden, mit welchem der störrische Bursche nach Jahrelanger Freundschaft[74] noch auf einem gewissen Ceremoniel in Ton und Betragen beharrte; jezt nannte ihn Roger zum erstenmal seinen Theodor, nannte ihn so, mit einer Innigkeit als hätte es ihm lange gefehlt; Theodors verfeinertes Gefühl faßte in idealischen Zügen auf, was Roger aus blossem gutmüthigen Instinkt that, und sich selbst des Kampfes bewußt, den seine gestrige Heftigkeit ihn gekostet hatte, bewunderte er Rogern, weil er in seiner freudigen Versöhnung einen noch höheren Grad von Selbstbesiegung zu finden glaubte, als er über sich gewonnen hatte. Aber würklich that er dem wakern Jüngling zu viel und zu wenig Ehre. Gestern hatte Roger Theodors Unart ertragen, weil ihn sein Sinnen auf das heutige Unternehmen zerstreute, undSaras bleiches Gesicht ihn entwafnete. Wie er heim gekommen war, hatte ihm alles leid gethan was vorgefallen war; und am meisten sezte es ihn in Verlegenheit, gegen Theodorn [75] so höhnend vernünftig abgestochen zu haben. Bei seiner heutigen Arbeit hatte er sich in manchem Augenblik vor der ersten Zusammenkunft mit seinem Freund gefürchtet; was er ohne seine Theilnahme gethan, schien ihm heimlich gethan zu seyn. Wie er aber Theodorn und Sara auf sich zukommen sah, behielt die Freude über alles was ihm geglükt war, und der Wunsch, durch ihre Hülfe noch mehr auszuführen, in diesem Gemisch von Empfindungen die Oberhand; er dachte an keinen Groll mehr, wo er Liebe und Freude fühlte.
Sara hatte dieser Scene stillschweigend, aber mit inniger Theilnahme zugesehen. Sie war nun gegen fünfzehn Jahr alt, aber ihre gänzliche Abgeschiedenheit von der Welt, ihr in lauter Fantasien schwebender Geist hatte sie, wie gebildet sie auch in mancher Rüksicht durch Erziehung und natürliche Anlage war, sehr kindlich erhalten. Sie war sich ihres Herzens nur in ihrer Liebe für Theodorn bewußt; [76] und daß sie ein Weib, und daß er ein Mann war, wußte sie nur weil sie seine Schwester hieß. Alles was ihr der Vater sonst über diesen Gegenstand gesagt haben mochte, hatte sich auf eine abentheuerliche Weise an die übrigen Träume ihrer reichen Einbildungskraft gereiht, ohne mit ihren Sinnen je in Verbindung zu kommen. Indessen hatte Rogers gestriges Betragen einen Eindruk auf sie gemacht, den seine heutige Versöhnung mit ihrem Bruder noch verstärkte; neue Ideen entwikelten sich in ihrem Kopf, die sie von ihm entfernten und zu ihm anzogen, die ihr Herz erwärmten und es scheu machten. Ihr Gefühl verstand zum erstenmal des Vaters oft wiederholte Lehren von der Hülfsbedürftigkeit des Weibes, und der Pflicht des Mannes, sie zu schüzen, und wie nahe die Natur sie durch ihre ganz verschiedne Bestimmung mit einander verbunden hätte. Sie war noch mit ihren schwärmischen Ahnungen beschäftigt, als [77] Rogers einfacher Sinn das Empfindsame dieses Auftritts beendigte. Er führte die jungen Leute unter den Kastanienbaum, rief dem Knecht zu, Feierabend zu machen, weil das Vieh müde wäre, theilte das schwarze Brod und die Milch brüderlich mit ihm, und erschöpft von der Arbeit speißte er, zu Saras Füßen hingestrekt, seine Portion, als wäre er zu nichts anderm in der Welt. Es war vielleicht ein Glük, daß diese würklich patriarchalische Einfalt Saras neue Gefühle wieder mit der Würklichkeit verband; aber leider schlug es diesmal zu Rogers Nachtheil aus. Sein Betragen gegen den armen Nikolas war so schön wie vorher, seine Großmuth gegenTheodor wurde um nichts vermindert; aber mitten durch alle die hohen zarten Gefühle, die ihr liebes Herz durchwandert war, und die sie nun auch eben so glühend in unserm ächten Naturkind vorausgesezt hatte, einen Napf Milch und ein derbes Stük Brod aufessen, [78] und gar kein Hehl haben, daß es aus Hunger geschähe – es schadete dem braven Roger nun just nicht bei ihr, aber es trug dazu bei, der neuen Schöpfung in ihrem Herzen Theodorn zum Abgott unterzuschieben. Wie reizend lag dieser neben seinem Freund, sein schönes Gesicht auf einen Arm gestüzt, seine redenden Augen auf ihn gerichtet, seine ganze Gestalt durch die spielenden Schatten der breiten Kastanienblätter in den Strahlen der röthlichen Abendsonne, mit zauberischem Lichte umgossen! – Rogers unseliger Milchnapf entschied vielleicht das Schiksal ihres Herzens!
Es erschien nun ein Zeitpunkt, in welchem vieles zusammentraf, um Seldorf in der einfachen Stille, mit der er die Zeit hatte fortschreiten sehen, aufzustören. Die Welt war ihm seit langer Zeit so verhaßt, gegen alles was ausser dem kleinen Zirkel vorgieng, [79] in welchen sich sein Herz gebannt hatte, war er mit so viel Härte bepanzert, daß er die grossen Bewegungen, welche die französische Nation damals zu erschüttern anfiengen, mit erzwungner Verachtung für lauter Komödie und Kinderspiel erklärte. Am allgemeinen Glük wie an dem seinigen verzweifelnd, erbitterte ihn jeder Versuch, der dahin abzuzweken schien, weil er eine neue Fehlschlagung für sein Herz dahinter fürchtete – für ein Herz, das freilich immer nur zu bereit war, diesen schönsten Traum wieder von vorn zu träumen. Der alte Berthier sah diese Zeiten aus einem sehr verschiednen Gesichtspunkt; seine lange Erfahrung hatte manchen Gedanken in ihm entwikelt, der seit dem Anfang des Jahres 1789 zur Ahnung wurde. Je länger, je mehr schien neue Jugend seinen Geist zu beleben. Manche Stunde, die er sonst bei seinen unsterblichen Helden der Vorzeit verträumt hatte, widmete er jezt den [80] ernstesten Gesprächen mit seinem Enkel, bildete seinen Geist, und erweiterte seine Begriffe von den Rechten und Ansprüchen der Menschen um ihn her. Jezt gestand er die Nothwendigkeit einer Verbesserung, und suchte ihm den einzigen Leitfaden in einer Zukunft, die er hell vor sich sah, wenn gleich ihre mannigfaltigen Abscheulichkeiten vor seinem Sinn vorübergiengen, in die Hand zu geben. Sammle früh, sagte er, einen Reichthum an gutem Gewissen; denn es wird eine Zeit kommen, wo es dem, der das einzige Nothwendige will, schwer werden muß, seinen Handlungen vor sich selbst das Zeugniß der Gerechtigkeit zu erhalten, und unmöglich vor den Menschen. Wehe dir, wenn dein Sinn dann nicht mehr rein und fest ist, um dich der Wahrheit zu opfern!
Aber Seldorfs trübes Auge war nicht fähig, mit diesem freien Blik benuzter Erfahrung in die Zukunft zu dringen. Anfangs [81] wies er jedes Gespräch über diesen Gegenstand mit einer Abneigung von sich, wie sie ein matter Kranker in der Zwischenzeit der Leiden gegen jede äussere Anregung empfindet. Als die Umstände ernster, und die Deutungen auf die Zukunft heller wurden, mischte sich eine Art von bitterm Spott hinein; denn Berthiers warme Freude, über ein Volk dessen Verderbniß er so lange studirt hatte, den Augenblik der Wiedergeburt aufgehen zu sehen, und sein muthiger Entschluß, um dieser Wiedergeburt willen auch das Fürchterlichste nicht zu scheuen, mahnten den Unglüklichen blos, daß sein Feuer erloschen, seine Kraft gelähmt war. Manchmal ergriff es wohl sein angebohren Gefühl für Wahrheit und Recht; er gedachte des amerikanischen Kriegs, wie er damals für fremdes Glük willig geblutet, und unter der zur Freiheit heranwachsenden Jugend disseits des Meeres sich wehmüthig seines zur Dienstbarkeit gebornen[82] Lieblings erinnert hätte. Die ernsten Worte: Vaterland und Mitbürger, die für den, welcher sie gebrauchen darf, alle Pflichten des Mannes und allen Lohn der Tugend enthalten, drangen auf Augenblike in Seldorfs zerschlagnes Herz, wie eine geistige Arznei in die Adern des unvermeidlich Sterbenden: noch einmal klopfen die Pulse, noch einmal strahlt Leben im gebrochnen Auge, noch einmal ergreift er die Hand der weinenden Gattin, aber die künstliche Wärme durchdringt das schon erstarrte Blut nicht mehr, die Kälte des Todes kehrt zurük, und die Hand des getäuschten Weibes, welche den Druk der Zärtlichkeit erwartete, entwindet sich schmerzlich und schaudernd dem Todeskrampf. Seldorf mußte von der Summe von Glük, die er zu ahnen verführt ward, zu den einzelnen Quellen sich wenden, aus welchen es fliessen sollte; und da scheiterten seine Hofnungen. Unter den Menschen, die sich jezt [83] zu den Rettern der Nation aufwarfen, waren auch die Namen derer, die sein Leben vergiftet, und seine Wohlfahrt zerstört hatten. Bitter lachend sagte er zu seinem glaubensvollen Freunde: also im Grossen sollen diese Menschen das Gute wollen, das sie einzeln auf tausend Wegen verhinderten? Also dieser ***, welcher Menschenglük vor sich niedertrat, wie das ungezähmte Roß die Halmen des Feldes wo es einbricht, dieser soll nun nach dem Wohl des Volkes streben? – Umsonst ermahnte ihn Berthier, die Werkzeuge vom Endzwek der Arbeit, und den Plan der Schöpfung von der Entwiklung des Chaos zu unterscheiden. – Nein, nicht Chaos, menschenliebender Schwärmer! rief Seldorf; mit dem Chaos ist schaffende Kraft und Keim verbunden, und davon ruht nichts im Schoosse des Tods. Kein Chaos kann sich hier entwikeln, es ist das Reich der Verwesung, das in ekelhafte Gährung geräth. Die scheußliche [84] Masse wälzt sich, schäumt und wogt eine Weile, und sinkt dann in sich zusammen, ein todtes Meer, dessen Dünste jedes lebendige Geschöpf vergiften, hinabziehen was an seine Ufer nur streift. Armer Greis, hinunter in dein Grab eh das Gift dich ergreift! Erwache dort von deinen gutgemeinten Träumen; das Erwachen diesseits würde zu schreklich seyn.
Thau und Frühlingssonne können neues Leben in den vom Bliz zerschmetterten Eichbaum rufen; auf dem eingestürzten Felsen keimen nach Jahren Moose, und endlich grünende Kräuter – Oede ohne Hofnung neuer Jugend ist nur im Herzen des Armen, der einmal den Glauben an Glük und Menschen verlor. Das Auge seines Geistes ist erloschen, er blikt nur um sich, um Finsterniß zu entdeken, und kennt selbst die Tugend nur um über sie zu weinen. O wäre Seldorf damals gestorben! dort wäre er erwacht, um dankbar über seinen Irrthum zu lächeln; hier sank er, ihn fruchtlos erkennend in's Grab.
[85] Am meisten litten Theodor und Sara bei Seldorfs zunehmender Vereinzelung. Ihr junges Gemüth konnte seinen traurigen Bildern nicht folgen; und Rogers Denkart, die ihrem Alter weit angemeßner war, und die sie zu ehren gewohnt waren, weil sie zum Theil immer ein Ausfluß von dem Geist seines Grosvaters schien, leitete besonders Theodorn auf einen Weg, den er nicht lange mit dem Beifall seines Vaters wandeln konnte. Von jeher hatte Seldorfs trüber Sinn ihn zum Freund und Vertrauten seiner Kinder unfähig gemacht; er war ihre Gottheit, sie riefen ihn an, sie brachten ihm Opfer und Dank; aber mit seinem innern Selbst nie vertraut, suchten sie ausser ihm, wenn sie des Tausches von Gedanken und Empfindungen bedurften. Ihre Zärtlichkeit selbst hatte sie zurükgehalten, vor seinen Augen jemals mehr als die mattesten Strahlen ihres feurigen Geistes [86] schiessen zu lassen, weil sie seine Rührung, und die finstere, ihnen unbekannten Erinnerungen, die so oft in seiner Seele angeregt werden konnten; weil sie sogar den Enthusiasmus seiner Tugend scheuten, die in einem einfacheren kindlicheren Gewand ihre jungen Seelen gewonnen haben würde. Und wenn es ja Augenblike gab, wo sie diese Schüchternheit vergassen, wenn Theodor, von irgend einer Leidenschaft überrascht, seinen ganzen Ungestüm, oder Sara ihre gränzenlos schwärmende Herzlichkeit verrieth, dann war der Vater betroffen über den Ausbruch von Gefühlen, die er nicht kannte ob sie sich gleich nie verläugneten; und der irrende, und doch so wohlmeinende Mann behandelte als Fehltritt, was er als entstehendes Vertrauen mit Sorgfalt hätte pflegen sollen. So ward er seinen Kindern immer fremder; er fühlte es bitter, aber zu unglüklich um die rechte Hülfe zu schaffen, legte er sein gekränktes Vaterherz mit zu dem Gewicht seines Grams.
[87] Dieses Verhältniß begann nun, das Leben seiner Lieblinge mit eisernen Banden an das Unglük zu schmieden. In Theodors feuriger Seele mahlte sich die Zukunft, welche aus dem damaligen Zeitpunkt entstehen sollte, mit aller der Vollkommenheit, die reiner Wille zum Guten und ungeprüfte Erfahrung jedem Gegenstand, nach welchem die Hofnung eines Jünglings strebt, so leicht zuschreiben. Unbekannt mit den geheimen Fäden, woran das Thun seiner Zeitgenossen hieng, sah er in allen Menschen, die jezt öffentlich glänzten, nur die Züge, die sie durch Wort und Rede in's Licht stellten, und hielt sie treuherzig für Erlöser der Nation. Seinem hochfahrenden Geist, seinem unruhigen Gemüth war es angemeßner, der Menge das Glük mit überlegner Weisheit auszutheilen, als die Menge so zu stellen, daß jeder mit einfacher Kenntniß sein Glük selbst erlangen könnte. Seine Lage, die ihn bisher zum Freund weniger Auserlesenen, und zum Wohlthäter [88] aller andern Geschöpfe um sich her gemacht hatte, bereitete ihn dazu ein Anhänger jenes Systems zu werden, nach welchem Freiheit und Aufklärung ein Gut ist, woran zwar die ganze Nation theilnehmen soll, dessen inneres Heiligthum aber im Busen einer Anzahl von Erwählten niedergelegt, das Vorrecht gewisser erhabner Tugenden bleiben muß. Die Geschichtsbücher aller Nationen schienen ihm diese Meinung zu bestätigen. Glühend im übermüthigen Gefühle, einer der Erwählten zu werden, sah er nicht daß die treueste Darstellung des Geschichtsschreibers nur das Gemälde von Würkungen tausend und aber tausend vorhergegangner Ursachen seyn kann. Man mag die Quelle, die man verfolgt, noch so sehr von Sand und Strauchwerk säubern, ihre erste Entstehung findet man doch nicht, und umsonst forscht man nach dem Ursprung der Thautropfen welche den Boden befeuchteten, umsonst nach den inneren Schichten [89] des Hügels den sie durchdrangen, um hier als Quelle zu rieseln: eben so unbefriedigend ist die Arbeit des Geschichtsschreibers, und nie kann er uns die Vergleichung mit dem gegenwärtigen Augenblik gewähren. In Theodors Kopf, der voll kühner Resultate der Vergangenheit war, fand sich wenig Plaz für die anscheinend geringfügigen und oft widrigen Züge der Würklichkeit. Er äusserte zuweilen seine Ideen gegen seinen Vater, aber die kalte Verachtung, mit welcher dieser seine glänzenden Luftschlösser zerstörte, stieß ihn zurük ohne ihn zu belehren, und seine innere Heftigkeit wurde durch das Gefühl von Unterdrükung vermehrt. Weiblich und schüchtern, entgieng Sara durch ihr Stillschweigen dem Unwillen des Vaters; aber desto inniger theilte sie des Bruders Träume und seinen Kummer, zwischen seines Vaters Liebe und seiner Meinung, die ihm schon anfieng eine Religion zu werden, wählen zu müssen. Natürlich führte [90] dies alles die jungen Leute näher zusammen. Wenn die arme Sara einen peinlichen Tag lang ihres Bruders Unruhe und ihres Vaters niederschlagenden Trübsinn ertragen hatte, hörte sie gern zu, wenn sich die beiden Jünglinge stritten, und da ihr Zwek der nämliche war, einander voll Herzlichkeit ihre Begriffe aufklärten. Streit war denn freilich auch zwischen ihnen: Roger hatte nie einem Gözen geopfert, als der Tugend; er hatte nie einen Sterblichen vergöttert, denn den heiligsten, den er kannte, seinen Grosvater, kannte er für einen Menschen. Früh hatte er mit andern gelebt, genossen, gearbeitet, und alle seine Ansprüche unterstüzten nicht Vorzüge, sondern Billigkeit und Kraft, die seinem Wunsch und Willen nach, allen Menschen gemein seyn sollten. Zum Ausspenden des Heils fühlte er in sich keinen Beruf, und er empörte Theodorn, indem er sein Heiligthum der Freiheit ein neugestaltes Gerüst der Selbstsucht nannte. [91] Freiheit erkämpfen und Freiheit bewahren, war sein einfacher Begrif; und es war sein einziger Glaube, daß diese Freiheit allen gleich seyn müßte, wie die Luft die uns umgiebt, wovon jeder so viel einathmet als seine Lungen bedürfen. Wurden die Thoren hizig, und es fehlte dem Sohn der Natur an Waffen gegen die stürmische Beredsamkeit und den Ideenreichthum seines Freundes, so legte Sara sanft ihre Hand auf seinen Mund, und sagte: aber, lieber Wilder, Theodors Auserwählte wollen ja nur eben das, jeder soll haben was ihm dient – Rogers Stimme konnte ihre donnernden Töne nicht mehr finden; ohne die Hand zu küssen, die ihm so unbefangen schmeichelte, nahm er sie von seinem Mund, und sagte in einem Ton der mehr wie Handkuß war: Aber so wollen sie Götter seyn, mein Fräulein, und solche Götter waren es ja, die uns die Fesseln schmieden wollten, die zu lösen noch Ströme von Blut fliessen werden. Umsonst [92] war dieser Saz ein neuer Gegenstand des Streits für Theodor. Die Stimme, welche ihn aussprach, konnte nicht mehr streiten; Roger sezte sich neben Sara, sah in ihr liebes Gesicht, und ließ Theodors Eifer allein austoben. Der Zwang den Seldorfs Mißbilligung seinem Sohn auflegte, die Ungewißheit die durch Rogers Widerspruch und des alten Berthiers Meinung in ihm entstand, noch mehr aber sein unruhiger Geist, dem nur ein Schauplaz fehlte, um den Ehrgeiz zu seiner Leidenschaft zu machen, alle diese Umstände erwekten nach und nach den Wunsch in ihm, sich dem Mittelpunkt aller Begebenheiten zu nähern. Voll Selbstvertrauen, hofte er daß ein kurzer Aufenthalt in Paris alle seine Begriffe berichtigen würde; denn sein Wille war lauter, er wollte Wahrheit, wenn er gleich nicht fühlte daß er nur das von der Wahrheit auffaßte, was seine Meinung bestätigte. Er entdekte diesen Wunsch seiner Schwester und [93] seinem Freunde, indem er diesem zugleich anlag ihn zu begleiten. Sara schauderte vor dem Gedanken ihren Bruder zu verlieren; sie hatte nie in die Zukunft geblikt, ihrem Herzen hatten bis jezt die Gegenstände genügt, denen ihre Sorgfalt gewidmet war; allvertrauend auf die Liebe derer, die sie umgaben, hatte sie nie an eine Aenderung in ihrer Lage gedacht, und nur instinktmäsig regten fremde oder neue Gegenstände sie an, als sollten sie ihr das Glük schmälern, in dessen Besiz sie war. So war ihrRogers Dazwischenkunft erst lange lästig gewesen, sie ehrte zwar gleich seine unverkennbar treue Seele, aber er störte den stillen Gang ihres Wesens; und wenn er Theodorn von ihr abzog, mit ihm etwas trieb, woran sie keinen Theil nehmen konnte, oder lustig mit ihm war wenn sie es eben gern anders gehabt hätte, so dachte sie wohl an ihre arme Antoinette, und meinte in ihrem Herzen, so möchte es wohl Theodorn mit [94] seinem Schwesterchen gegangen seyn wie ihr mitRogern. Die kindliche Verwechselung kam dem braven Roger zu gute, denn unwillkührlich gönnte sie ihm Theodors Liebe und Aufmerksamkeit um desto williger, als sie sich dunkel bewußt war, eben so würde sie es damals an ihres Bruders Stelle gegen Antoinetten gemacht haben. Nach und nach verwischte sich dieses kleine Mißverhältniß, und wer jezt die jungen Leute zusammen gesehen hätte, wäre in Versuchung gewesen, Theodorn und Sara für ein Paar Liebende, und Rogern für Sara's älteren Bruder zuhalten, so liebte und ehrte sie ihn, so zutrauensvoll wünschte sie ihren Theodor immer unter seinem Schuz. Wie dieser nunmehr den Wunsch, ja fast den Entschluß äusserte, die Hauptstadt zu besuchen, war seine Bitte, daß Roger ihn begleiten möchte, ihr einziger Trost. Roger hörte alle seine Gründe, alle seine Plane ernsthaft und aufmerksam an; [95] aber er stellte ihm dringend vor, daß Pflicht und Grundsäze ihm verböten, von dem alten Berthier zu gehen. Hier, sagte er, können wir durch Beispiel und Ermahnung viel nuzen, bis unsre Mitbürger uns Gelegenheit geben, noch thätiger für sie zu würken. Dort würden wir uns in dem Wirbel verlieren, ohne zu wissen wohin er uns führte. Hier ist es mir leicht, die Wahrheit zu unterscheiden, und treu alle meine Gedanken auf sie zu richten; dort aber ist sie jezt mit so glänzenden und vielfarbigen Wolken umgeben, daß ich – jung und unerfahren wie ich bin – irre an ihr werden und gegen mein eignes Gewissen handeln könnte. Lassen Sie uns hier bleiben, mein Freund; glauben Sie mir, wir brauchen den Begebenheiten nicht entgegen zu gehen, sie werden uns schon ereilen – und wie schön, wenn wir sie dann zusammen bestehen, wenn wir für ein Gut kämpfen, nach welchem wir beide mit innigem Eifer trachten, [96] wenn wir es auch zuweilen aus einem verschiednen Gesichtspunkt beurtheilen! Bis unsre Mitbürger uns rufen, ist dieses Haus Ihr Posten; Ihr Vater, Ihre Schwester sind Ihr anvertrautes Gut; und ich wenigstens – ich gehe nicht von meinem alten Vater, bis die einzige Macht, der ich gehorche, es gebietet. – Rogers Zureden war vergeblich, vergeblich der Ernst mit welchem der alte Berthier dem Jüngling manche Wahrheit zeigte, manche Aussicht eröfnete; Theodor hatte diesen Weg einmal erwählt, den jeder Widerspruch ihm nur glänzender mahlte. Alles wasSara noch über ihn vermochte, war daß er die Einwilligung des Vaters suchen würde. Aber wie bitter mußte sie diesen Sieg ihres kindlichen Gehorsams bereuen! Seit geraumer Zeit wurden durch einen stillschweigenden Vertrag zwischen Seldorf und seinen Kindern alle Gespräche über die Meinung, worinn sie von einander abwichen, vermieden. Die [97] arme Sara suchte ängstlich andre Gegenstände zur gemeinschaftlichen Unterredung; und nach ihrem heitern Geschwäz, nach der geistreichen Leichtigkeit, mit welcher sie von allem ablenkte, was Theodor aus Unbiegsamkeit oder Unbesonnenheit vorbringen mochte, hätte ein Fremder das gute weiche Geschöpf für sorglos und ruhig gehalten. Seldorf täuschte sich darüber nicht, er liebte sie um so zärtlicher, ließ sich aber leicht verleiten, der Würkung, die diese betrügerische Stille auf seinen Sohn haben konnte, nicht weiter nachzudenken. Wie ihm jezt Theodor sein Anliegen nach der Hauptstadt zu reisen vortrug, traf es ihn daher viel unvorbereiteter als es billig gesollt hätte, seine ganze Bitterkeit erwachte, und sein krankes Gemüth schilderte ihm die nachgebende Behutsamkeit, mit welcher der Jüngling bis jezt geschwiegen hatte, als tükischen Betrug. Diese Ungerechtigkeit führteTheodorn viel weiter als er je hatte gehen [98] wollen. Er hatte kindlich gebeten, sich belehren zu dürfen durch diese Reise; hingerissen von seinem gekränkten Gefühl, forderte er nun vom Gängelband losgelassen zu werden. Kaum waren ihm die Worte entfahren, so erblaßte der unglükliche Vater; eine Weile blikte er ihm starr in's Gesicht, und sagte dann langsam: Ha, deiner Mutter Geist ist mächtig in dir! – Weiter ließ ihnSara nicht sprechen, sie lag zu seinen Füssen, und rief: Vater, Vater! Antoinettens lezter Kuß versöhnte ja der Mutter Geist – Theodor kniete still und erschüttert neben der Schwester, und hielt die Hände seines Vaters, der sich gewaltsam von ihm wandte. Lange konnte indessen Seldorf den Thränen seiner Kinder, und dem Gefühl seines Unrechts nicht widerstehen, er verzieh Theodorn, aber unter der Bedingung daß er nie wieder an die Reise denken dürfte.
Theodors schlecht unterdrükte Sehnsucht [99] nach einem grösseren Würkungskreis, und Sara's immer mehr sich entwikelndes Gefühl, daß ihre Liebe und ihre Innigkeit nicht genügten um den Bruder zu fesseln, verbannten indessen die vorige unbefangne Fröhlichkeit aus diesem kleinen Zirkel. Sara fühlte sich zwar durch Rogers Gleichmuth, durch seine nie sich verläugnende Freundschaft beruhigter über den Einfluß, den Theodors Sinnesart auf seine zukünftige Ruhe haben könnte; aber ihr selbst fehlte eine Stüze, die ihr die Heiterkeit gegeben hätte, welche sie täglich für andre aufwandte; und dabei war in ihrem Innern etwas, das sie, ihr selbst unbewußt, immer mehr vonRoger entfernte, je herzlicher der brave Jüngling für ihre Ruhe und ihre Wünsche sorgte. In diesem Zustand von unsicherer Schwermuth kam sie eines Tages von einem einsamen Spaziergang zurük, und wollte von einem kleinen Gehölze durch Berthiers Weinberge nach ihrem Landhaus gehen. [100] Von dem Gehölze bis zu dem engen Wege zwischen den Weinbergen lag eine Trift, wo die Heerde eben weidete. Der Hirt hatte sich entfernt, und der Stier war, von einigen muthwilligen Knaben gehezt, durch das Gehege auf den Weg gerathen, über welchen Sara jezt kam. Das Thier erblikte sie, hielt sie für den ihn angreifenden Feind, und verfolgte sie mit wütendem Ungestüm. Umsonst schrie Sara um Hülfe, niemand war in der Nähe; sie flog mehr als sie lief, und von der Angst verblendet eilte sie in den engen Fußpfad, wo von jeder Seite mannshohe Mauern die Weinberge stüzten. Der Stier folgte ihr auf dem Fuß; ihre erschöpfte Brust, der steinige Boden, das Schnaufen des wütenden Stieres, alles machte ihr jeden Schritt, den sie that, als den lezten fühlen dessen sie fähig wäre. Jezt strauchelt sie würklich, und stürzt mit einem lezten schwachen Schrei zu Boden; Sara war verloren –[101] Doch im nämlichen Augenblik sprang Roger etwas höher am Weg die Mauer herab, flog neben Sara vor über auf den Stier zu, der mit gesenkten Hörnern und gesträubtem Haar nur noch einige Schritte von dem Mädchen entfernt war, faßte ihn an beiden Hörnern, und indem er seine ganze Stärke auf einen Arm legte, stürzte er ihn damit seitwärts auf den Rüken. 1
Schnell eilt er zu Sara zurük, die noch am Boden liegt, faßt sie in seine Arme, und geht einige dreißig Schritte bis an eine niedrige [102] Stelle der Mauer, über welche er in seines Grosvaters Baumgarten springt, eh das um sich schlagende Thier wieder aufrecht steht. Er hatte im Weinberg gearbeitet, als ihn Sara's Geschrei aufmerksam machte, er begriff nicht sogleich von welcher Seite es käme, aber der Trieb zu helfen hatte ihn den einzigen Weg zu ihrer Rettung geführt. Jezt hielt er sie noch in seinen Armen, und rief einige Leute, die sich ihm näherten, um Hülfe für sie. Sie war nicht ohnmächtig, aber ein konvulsivisches Zittern und Schluchzen schien sie gegen alles, was um sie her vorgieng, fühllos zu machen. Bang und erwartend redete ihr der Jüngling, sich seiner eignen Worte unbewußt, mit den zärtlichsten Ausdrüken zu, als sie endlich in Thränen ausbrach, und ihr Gesicht an seine Schulter verbarg. Sara, liebste Sara, hier sind Sie ja sicher! rief er mit dem innigsten Ton, und drükte sie mit beiden Armen an sich. Waren [103] es diese Worte, oder die erleichternden Thränen, die jezt ihr Bewußtseyn zurükriefen, Sara wand sich schnell aus seinen Armen, warf einen scheuen Blik auf ihn, und stürzte auf ihren Bruder zu, der sich eben mit raschen Schritten, voll Schreken über die Gefahr seiner Schwester, ihnen näherte.
Der tiefgerührte Dank des Vaters, Theodors feurige Anerkennung, daß sein Freund ihm sein liebstes gerettet hatte, Sara's sanfte Thränen, selbst des ehrwürdigen Greises einfaches: Gott segne meinen wakern Jungen! – nichts konnte Rogern von nun an befriedigen. Ein Schleier war von seinen Augen gefallen, er hatte mit den Worten: Sara, hier sind Sie ja sicher! eine Empfindung in seine Seele gerufen, der seit Jahren schon ihre Stätte bereitet war. Er liebte, und war sich es nun bewußt. Zum erstenmal irrte er in wachen Träumen auf einsamen Wegen, und nie war ihm die Schöpfung [104] so lebendig, nie lachte ihm so die ganze Natur. Ihm tönte aus jedem Lüftchen seine Stimme: liebe Sara! in's Ohr, und das Gekrächz jedes Raben schien ihm Harmonie; mußte er den Forst umgehen und die Bäume messen, so drükte er einen Baum in die Arme, und hörte: liebe Sara, hier sind Sie ja sicher! Glüklicher hatte nie die Liebe einen Menschen gemacht, und nie verkehrter. Statt Sara aufzusuchen, war ihm der erste Eindruk genug; um mit diesem allein zu seyn, gieng er allen Menschen aus dem Weg, und es brauchte einige Tage, eh seine reifere Vernunft sein Kinderherz lehrte, mehr zu wünschen. Hätte sie doch diesmal sich ihrer Rechte entäussert! Sobald sie ihre Stimme hatte vernehmen lassen, verschwandenRogers Träume und sein Glük. Er wünschte, und mußte seine Wünsche berechnen, und die Folge war Mistrauen und Furcht. Er gieng nun die ganze Vergangenheit durch, ob sie [105] seine Zukunft zu begünstigen schiene; aber leider sah er überall nur Gleichgültigkeit in Sara's Betragen. Ihm schien es, als hätte er sie immer geliebt; Eindrüke, die er längst verwischt glaubte, standen wieder hell vor seiner Seele; er dachte an Seldorfs geheimnißvolles Schiksal, an seine ununterbrochne Zurükhaltung, und auch von dieser Seite fühlte er wenig Hofnung. Endlich gelangte er doch zu dem Entschluß, den er ohne die zauberische Würkung eines so neuen Gefühls auf sein kindliches Herz, viel früher hätte fassen können: er beschloß, um Gegenliebe zu werben. Ob sie ihm versagt werden könnte? Wie an einem scheußlichen Gespenst, floh er an diesem Gedanken vorbei, und eilte nach Seldorfs Wohnung, die er nun nach zwei Tagen zum erstenmal betrat.
Der Augenblik, welcher Rogern einen so hellen Aufschluß über sein Herz gegeben hatte, war auch für Sara nicht unbeobachtet [106] vorübergegangen, und er hatte Begriffe bei ihr entwikelt, deren Dunkelheit bisher so wohlthätig für sie gewesen war. Ein Mädchen, das mehr mit der Welt bekannt gewesen wäre, hätte Rogers Betragen, ihren Einfluß auf seine frohe Stimmung, ihre Gewalt über seine lebhafte Aufwallungen früher verstanden. Aber der guten Sara fehlte sogar jeder Vergleichungspunkt zum Urtheilen, sie sah ihn nur in ihrer und ihres Bruders Gesellschaft; und fanden sie sich ja einmal mit andern Menschen, so maß sie den Antheil, den sie an seiner Aufmerksamkeit hatte, nach ihrer Achtung für ihn, und fühlte keinen Vorzug darinn. Seitdem ihres Vaters traurige Strenge gegen Theodors Denkungsart die Kinder unvermerkt zu einem heimlichen Bund gegen ihn verleitet hatte, war eine Vertraulichkeit in ihr Verhältniß gekommen, durch welche Rogers brüderliche Herzlichkeit sich allmählig in Liebe verwandelt [107] hatte, während daßSara in dem nämlichen Verhältniß ihre Unbefangenheit gegen ihn verlor. Es bedurfte eines Zufalls wie jenen, wo Rogers warmes Blut seinem Herzen das Räthsel löste, um Sara den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe zu erklären. Die Stunde war nun gekommen, und sie entriß ihr ihren treuesten Freund, ihren Jugendgefährten, den Schuzgeist ihresTheodors. Sie fieng an, den Mann zu verabscheuen, der sie zuerst die Liebe kennen lehrte, ohne ihr Liebe einzuflössen; ihre Sinne empörten sich gegen den Mann, der sie belebt hatte, ohne ihnen zu gefallen. Das reine unschuldige Geschöpf litt unter allen diesen neuen Empfindungen. Tausendmal dachte sie ihre Gefahr, und ihre Rettung, und ihren Dank; wenn sie aber Rogers liebeglühenden Blik, und die Heftigkeit zurükrief, mit welcher er sie an seine Brust drükte, so hätte sie sein Bild aus ihrem Gedächtniß vertilgen, und nur ihre Dankbarkeit [108] behalten mögen. Sie fürchtete seinen nächsten Anblik, und warf sich vor, ihm nicht freudig entgegenzusehen, da er so edel, und selbst um seiner Liebe willen so edel war; denn wußte sie nicht jezt, wie lange schon seine Freundschaft Liebe war? und mußte sie nicht erkennen, wie ehrend der Ausbruch seiner Leidenschaft für sie war? Sie war einfach genug, um ohne Selbstbetrug die mögliche Zukunft, die seine Liebe ihr bereiten könnte, zu berechnen; aber sie blieb erstaunt stehen bei dem Widerwillen, mit welchem ihr Herz das Bild des häuslichen Glüks von sich stieß, wo Roger die Hauptrolle an ihrer Seite spielte. Bei diesen widersprechenden Empfindungen mußten ihre Aeusserungen eben so ungleich seyn. So oft von ihrer Gefahr Erwähnung geschah, gab sie ihre Dankbarkeit für ihren Retter mit desto mehr Eifer zu erkennen, als es ihr dünkte, ein jeder, der davon spräche, blikte in ihr Herz, und sähe ihren Undank gegen seine Liebe. Saß [109] sie still in ihr Sinnen vertieft, und man nannte seinen Namen, so erröthete sie, und fuhr auf, als wäre davon die Rede wie er sie in seine Arme gedrükt. Man war so wenig gewohnt, Rogern so lange abwesend zu sehen, daß ihn Theodor zweimal aufsuchte; da er ihn aber immer in der heitersten Laune von der Welt, aus allen Kräften arbeitend fand, und vom alten Berthier hörte, daß er seit zwei Tagen es so triebe, als wollte er die Arbeit aller vier Jahrszeiten in acht Tagen vollenden: so nannte er ihn einen närrischen Menschen, gerade jezt so viel zu schaffen, da Sara wegen der Folgen ihres Schrekens das Zimmer hüte, und er ihr wohl Gesellschaft leisten könnte.
Als Roger endlich wieder bei seinen jungen Freunden erschien, empfieng ihn Sara mit dem festen Vorsaz, durch ihr Betragen ihre Entdekung und ihr widerspenstiges Herz zu verbergen. Doch dieses Herz war so weich, [110] so innig in allen seinen Gefühlen, daß sie bei Rogers erstem Anblik mehr wie das that; sie vergaß alles, und eilte ihrem Retter mit glänzendem Auge entgegen, und mit einer Stimme, in welcher ein Reichthum von Liebe war, der den gleichgültigsten erwärmt hätte, die aber der junge Mann sich kaum enthalten konnte, kniend zu vernehmen, dankte sie ihm, und warf ihm vor daß er so spät käme seine Errettete zu sehen. Armer, armer Roger, um die Ahnung des höchsten Glüks zu behalten, hättest du dieses Glük nicht sollen zu achten scheinen! Hingerissen von ihrer Güte, überließ sich nun sein einfaches Herz seinem Gefühl, seinem Genuß der Liebe; so wie es aber mit Zutrauen sich ihrem Herzen nahte, stieg ihr Widerwillen wieder auf, und ward mit jedem Augenblik, wo sie den Freund so sorglos geehrt hätte, heftiger gegen den Liebhaber. Von nun an war der Friede ihrer Seele geflohen; denn sie, die nur in Andrer[111] Glükseligkeit lebte, sie sah wie sie das Wohl des Mannes zerstörte, der in der kleinen Welt ihres Herzens eine so wichtige Stelle einnahm; sie sah immer mehr, wie Theodor durch die Gewalt, welche die grossen Angelegenheiten der Zeit über ihn gewannen, von ihr abgezogen wurde; und ihr Vater, der ungeachtet ihrer Bemühungen Frieden zu erhalten, seinen mit jedem Tag zunehmenden Enthusiasmus bemerkte, sezte ihm allenthalben despotische Unterdrükung oder bittre Kälte entgegen. Wie oft, wenn sie sich nicht hatte erwehren können, Rogers herzliches Bemühen ihr zu gefallen, blos mit entfremdender Freundlichkeit zu beantworten, beweinte sie die Zeit, wo sie mit offnem Blik ihm entgegen gieng, und ihm ihre Unruhe und Sorgen klagte, ihn bat ihres Theodors Eifer zu mildern, und endlich, durch seine herzliche Munterkeit erwekt, ihre Sorgen vergaß!
Bei Rogers völliger Unbekanntschaft mit [112] dem weiblichen Herzen, und einem Karakter, der keiner traurigen Voraussezungen fähig war, brauchte es einige Zeit, eh er aus seinem frohen Traum erwachte. Geliebt glaubte er sich zwar nie, aber um den Lohn seiner Liebe zu ringen hatte er lange Muth und Beharrlichkeit. Ein gerechtes Selbstgefühl und die Erfahrung einer Reihe von Jahren überzeugten ihn von Sara's Achtung; ob aber jezt ihre zunehmende Zurükhaltung, ihre ungleiche Stimmung, die von wehmütiger Güte zu zurükstossender Lustigkeit wechselnd übergieng, mädchenhafte Laune oder Abneigung sei, darüber lag seine Liebe mit seiner Vernunft noch im Streit. Endlich mußte er doch wahrnehmen, daß Sara ihren Kummer vor ihm verbarg, seinen Trost als einen Anspruch auf ihre Liebe von sich stieß, und ihn in den Fällen, wo sie ihn sonst als ihre Stüze aufgesucht hatte, gerade am sorgfältigsten zu meiden schien. Dieser bittern Prüfung unterlag seine Hofnung. [113] Er hatte so innig, er hatte nur einmal geliebt; denn was er in unversehrter Jugendkraft je bei andern Mädchen empfunden hatte, war durch Sara's Bild längst verwischt, oder bis zur Unkenntlichkeit geheiligt. Wie in den Frühlingstagen ein lauer Regen aus allen Keimen blühendes Leben hervorruft, so hatte diese Liebe die lezte Hand an die Schöpfung seiner Jugend gelegt, und eine Welt von Seligkeit in ihm entwikelt. Das alles war nun zerstört, er sah sein Herz verschmäht, und hatte mit Sara's Vertrauen und Freundschaft alles verloren, was ihm so lange die Liebe ersezte, und was ihn jezt allein – doch wie ärmlich für sein verlangendes Herz! – für Liebe entschädigen konnte. Innig trauernd, aber voll weiser Güte beobachtete der alte Berthier seinen zerstörten Lebensgang; wenn er mit immer neuer Fehlschlagung von Seldorf zurükkam, fragte ihn der Greis wohl mit stiller Besorgniß:Roger, warum glüht dein [114] Gesicht? wie kannst du so finster und stumm seyn? – Hatte er den ganzen Tag eifrig gearbeitet, und alle seine Geschäfte mit angestrengtem Muth vollendet, und saß dann tiefsinnig neben dem Vater, so strich ihm dieser sanft mit der Hand über die Stirn, und sagte mit einem Ton, der, aus Besorgnis wie Vorwurf zu klingen, zitterte: sonst warst du heiter nach erfüllter Pflicht! – Oft war der junge Mann im Begrif, seine graue Erfahrung um Waffen gegen eine Leidenschaft zu bitten, die seinen männlichen Stolz zu stürzen drohte; aber er schämte sich, einem Mann, der stets nur für andre gelebt hatte, eine Empfindung zu gestehen, die ihn von allem ausser sich selbst abzog. Oft wollte er Theodorn zu seinem Vertrauten machen, und in seiner Brust das Gelübde, mit seiner Leidenschaft zu kämpfen, niederlegen; aber sein Stolz fürchtete in ihm einen Fürsprecher bei Sara, und in einem geheimeren Winkel [115] seines Herzens lauerte noch eine andre Furcht: an einem Bruder, der stets die Wünsche seiner Schwester getheilt hatte, einen Verbündeten ihrer Abneigung zu finden.
In diesem Zeitpunkt, der so leicht den braven jungen Mann zu einem verfehlten Daseyn hingerissen hätte, wurden die Wolken sichtbarer, welche sich über die Angelegenheiten des Staates thürmten. Aus dem scheinbaren Frieden zwischen unverträglichen Parteien drohten schon ziemlich sichre Anzeichen der künftigen Verwirrung, und in allem was gethan wurde, um ihren Ausbruch zu verschieben, lag blos die Vorbedeutung, wie viel fürchterlicher er darum seyn würde. Hauptsächlich über die vorgehabte Reise des Königs nach Saint-Cloud, und über die Bewegungen durch welche sie verhindert ward, begannen in der damaligen Zeit auch in den Provinzen die Meinungen, die Vorurtheile, die Leidenschaften, die kühnen Vorgriffe, für welche [116] so viel Bluts fliessen sollte, schon gegen einander zu gähren. Aber mit bitterm Schmerz sahBerthier, wie tief Rogers Herz verwundet seyn mußte; denn still und kaum gerührt empfieng der Jüngling die wichtigsten Nachrichten, und kalt hörte er den ernsten Weissagungen des Grosvaters zu. Jezt blikte der ehrwürdige Greis in des Jünglings verfinstertes Gesicht:Roger, es kömmt die Zeit, wo du deinem Vaterland deine Kräfte, deine Tugenden als ein Kapital vorschiessest, für welches dich vielleicht das Glük deiner Kinder erst lohnt – das Glük meiner Kinder! wiederholte Roger halb vernehmlich; für mein Glük wäre die Rechnung also doch geschlossen – Berthiers erste Bewegung war ein Blik, in welchem Zorn und Unwille blizten; er schlug ihn bald nieder, und sagte nach einer Stille, in welcher Rogers Seele mit Schaam und Kummer kämpfte, mit einer Stimme, die in jeder andern Brust zum [117] Schrei des Schmerzens geworden wäre: wohl mir, daß ich dem Grabe so nah bin, denn ich werde nicht sehen wie meine Enkel vor ihrem Vater erröthen! – Zitternd sezte er nach einem kurzen Schweigen hinzu: Solltest du denn würklich verloren seyn, für Tugend und Vaterland verloren? Länger hielt es Roger nicht aus, er stürzte zu Berthiers Füssen, und rief ausser Athem von dem Streit in seinem Innern: Nein Vater, ich bin nicht verloren, dein Sohn gehört dem Vaterland; dem soll er allein angehören, höre meinen Schwur, und verzeih meinen Irrthum; ich opfre dem Vaterland Kraft und Tugend bis in den Tod, wenn gleich nie das Glük meiner Kinder mich belohnen wird! – Schwörst du, Roger? schwörst du das? Ist dein Schwur dir heilig, so scheide ich muthig von hinnen, denn du sezest mein Leben fort, und nahe an ein Jahrhundert fortdauerndes Dulden von Unterdrükung wird durch deinen [118] Kampf um Freiheit gelohnt. Wären die Wünsche deiner Liebe dir wichtiger als die Forderungen deiner Nation, so hätte ich umsonst gelebt. – Berthiers lezte Worte hatten Rogers Stolz aufgerufen; er sammelte genug Unbefangenheit, um seinem alten Vater die Lage seines Herzens und die Fehlschlagung seiner Hofnungen zu gestehen. Voll Güte sagte ihm der würdige Greis, daß nicht seine Wünsche allein betrogen wären, daß auch er durch Sara's Abneigung eine Tochter verlöre, die er sich lange ausersehen, auf welche sein Blik schon gefallen wäre, noch ehe die Umstände seine Plane begünstigt hätten: ein braver Bürger soll Gatte und Vater seyn, und gegen dieses reizende Mädchen wären diese Pflichten doppelt süß gewesen! Gieb sie auf; sie ist zu jung, oder sie misversteht die Stimme der Natur, indem sie dich flieht, seit du mit allen Ansprüchen deines Geschlechts dich ihr nahest. Gieb sie auf; du bist jung [119] und unverdorben, du kannst in späteren Jahren noch lieben. Roger, wie deine Grosmutter mir ihre Hand gab, war ich zwölf Jahre älter als du; und hätte ich nicht damals geliebt, so würde ich jezt dich nicht verstanden, und dir nicht verziehen haben. Und ich, im Druk des Unrechts aufgewachsen, liebte doch noch so spät; wie viel länger muß nicht eines freien Mannes Herz jung bleiben! Sind mir doch unsre Jünglinge immer verhaßt gewesen, mit ihren früh weisen oder verbrauchten Herzen – Rogern war bei diesem freundlichen Geschwäz seines Grosvaters nicht anders zu Muthe, wie einem, der sich in der dringenden Gefahr sähe blind zu werden, und dem man zur Aufheiterung von der Pracht des künftigen Frühlings vorspräche. In der nächsten einsamen Stunde suchte er einen Entschluß festzuhalten, und gieng nach Seldorfs Haus.
Er fand die beiden Geschwister in einem [120] eifrigen Gespräch, dessen Inhalt, nach Sara's verweinten Augen zu urtheilen, sehr angreifend für sie gewesen seyn mußte: aber bei Rogers Eintritt suchte sie ihren Kummer zu verbergen, und verließ nach wenigen Augenbliken das Zimmer. Rogern gab der Zwang, den er ihr auflegte, einen Stich in's Herz; indessen zog sein Freund jezt seine ganze Aufmerksamkeit auf sich, indem er ihm mit der größten Entschlossenheit verkündigte, er wolle das väterliche Haus verlassen. Ich muß, sagte er, vor jedem Burschen im Dorfe erröthen, der frei mit seinen Kameraden sprechen darf; und mancher Jüngling in meinem Alter wurde schon mit dem Vertrauen seiner Mitbürger beehrt. Ich muß es von mir scheuchen, weil mein Vater mich in Fesseln hält. Glaubst du, ich hätte die unsichern, zurükhaltenden Blike nicht bemerkt, mit welchen deine Freunde und Brüder, die neulich von Saumür kamen, mich ansahen? [121] Bedurfte es nicht der wiederholten Erklärungen deines Vaters, um einige Offenheit in ihr Betragen zu bringen? – Roger wußte seiner Heftigkeit keine Gründe entgegen zu sezen, und fühlte das Peinliche von Theodors Lage zu lebhaft, um ihm in diesem Stük zu widersprechen; er suchte ihn nur an den ungewissen Erfolg einer Flucht, und an den allzusichern Kummer seines Vaters zu mahnen. Ueber Theodors Gesicht ergoß sich bei dieser Vorstellung eine höhere Röthe, er gieng unruhig im Zimmer umher; und indem er Sara, die eben wieder hereintrat, bei der Hand ergriff, und sie zu Roger führte: Ihr sollt ihn trösten, rief er, Ihr sollt ihn fühlen machen, daß ich hier unnüz verglühe, und ehrlos veralte. Sara verstand den Sinn dieser Worte nur halb; als aber Theodor fast gewaltsam Rogers Hand und die ihrige zusammendrükte, erwachte ihre gewöhnliche Zurükhaltung, und sie sagte mit [122] matter Stimme: O Bruder, folge dem Rath deines Freundes; der Trost den du deinem Vater zugedacht hast, möchte ihm nachher gebrechen. Zugleich zog sie ihre Hand weg, und sezte sich an ihren Arbeitstisch. Vielleicht hatte ihr das Zweideutige in der lebhaften Aeusserung ihres Bruders diese Antwort eingegeben, die einen sehr bittern Sinn für Roger enthalten konnte. Im ersten Augenblik fühlte er seinen Stolz so heftig beleidigt, daß er sich abwandte, um seine Bewegung zu verbergen; als er aber wieder auf Sara blikte, und ihrem reuigen thränenvollen Auge begegnete, stand die Nothwendigkeit, seinen Entschluß auszuführen, wieder lebhaft vor ihm, er machte sich von Theodorn, der ihn noch immer hielt, los, und gieng mit einer gewaltsamen Aeusserung seines Muths auf Sara zu. Sein hochklopfendes Herz versagte ihm anfangs die Stimme, und erst wie er einige Augenblike gesprochen hatte, ward seine Brust[123] freier. Sara, sagte er, und ergrif eine ihrer Hände, lassen Sie uns unsern ehemaligen Frieden wieder finden; geben Sie mir für das unaussprechliche Glük, dem ich von heute an entsage, das Vertrauen zurük, das ich noch heute verdiene. Ich will wieder Ihr Freund, Ihr Rathgeber seyn, und kann es besser wie sonst; denn wahrlich, wahrlich, das Gelübde, das ich hier ablege, muß mich weiser machen, oder es würde mir den Verstand kosten. Sie können mich nicht lieben, Sie können es so wenig, daß Sie – Sie Engel an Güte! hart und ungerecht darüber wurden, daß Sie ein reines treues Herz, ein Herz das noch jezt, da es alles verloren hat, Ihnen seine schönsten Freuden verdankt, grausam zerrissen haben. – Sara hatte bei Rogers ersten Worten erschroken aufgeblikt, und ihm nachher ängstlich zugehört, bis sie jezt mit einem Strom von Thränen ihn unterbrach: Nein, mein armer theurer Freund, ich war nicht [124] grausam, ich war bang und gequält! Nie sah ich Ihr Auge trüb, ohne daß mein Herz die bittersten Qualen litt; ich litt mehr als Sie, denn ich that Unrecht, wider Willen Unrecht – Ja wider Willen, unterbrach sie Roger, das weiß ich, das fühlte ich, und sonst wäre meine Liebe erloschen. Nun aber,Sara, lassen Sie uns Schwur gegen Schwur tauschen. Um mich zu retten, um Ihr weiches Herz vor Reue zu schüzen, lassen Sie nun diesen fürchterlichen Zeitpunkt vergessen seyn, lassen Sie mich wieder in die Rechte eintreten, die ich an jenem Abend verlor – Sara verstand ihn wohl, und schlug erröthend die Augen nieder. Roger sah sie ernst und gerührt an, und fuhr fort: Meine Wünsche werden ersterben, da ich von heute an meine Vernunft überzeugt habe, daß Sie ihnen niemals Nahrung gewähren können. Aber dieses Herz, das Sie zu verwerfen genöthigt sind, wird nie für eine andre glühen, nie – denn [125] wenn ich auch jezt geheilt bin, so werde ich nicht mehr so jung, nicht mehr des Unglüks so ungewohnt seyn; ich werde nie mehr so kindlich hoffen, wie ich that, eh Sie mich hofnungslos machten. Wenn Sie einst für einen andern fühlen werden – Seine Stimme stokte, er suchte sich zu fassen, und Theodor, der erstaunt und theilnehmend zugehört hatte, trat jezt zu seinem Freund, und schloß ihn schweigend in die Arme. Sara's Thränen versiegten; zu wahr und zu weich um jezt sprechen zu können, entzog sie Rogern ihre Hand, und verbarg damit ihr Gesicht. Roger machte sich sanft von seinem Freunde los, kniete vor ihr nieder, und sprach gesammelt weiter: Wenn Sie einst für einen andern fühlen werden, was Sie mir versagen müssen, wenn die treueste, anmassungsloseste Freundschaft Sie versöhnt hat, so lassen Sie mich, der ich für Ihr Wohl zittre, Ihren Vertrauten, Ihren Beschüzer seyn. – Hier[126] siegte endlich der Schmerz, er verbarg seine Thränen an Sara's Schooß. Die tiefe Stille, die jezt auf einige Augenblike erfolgte, und während deren Rogers redliches Herz eifrig bemüht war, sich mit der Heiligkeit seines Entsagens zu durchdringen, ward von der guten Schwärmerin Sara unterbrochen. Sie hatte endlich Worte für ihr überströmendes Gefühl gefunden; begeistert von der Hofnung, den alten Frieden wiederkehren zu sehen, begeistert von Bewunderung überRogers edle männliche Einfalt, schloß sie ihre Arme um den Hals des Jünglings, der noch immer an ihrer Seite kniete, küßte mit Engelsreinheit seine offene Stirn, und rief: Ich schwöre alles, alles! Sie sollen mein Freund und mein Führer seyn, danke ihm, Theodor, danke ihm; er hat mir sehr wohl gethan – Sie bemühte sich umsonst, mehr zu sagen; sie faltete nun ihre Hände, und hob ihre schönen Augen zum Himmel auf: der Sinn ihres [127] Gebets war Dank gegen Gott, daß er die bittre Qual, Unrecht zu thun, von ihrem Herzen genommen hatte. Roger stand betäubt auf, und lehnte sich an seinen jungen Freund; Sara wußte nicht daß ihr unschuldiger Kuß dem armen Scheidenden das Eden, dem er entsagen mußte, noch einmal in seinem ganzen Glanz gezeigt hatte. Theodor sagte halb laut zu ihm: verzeih mir! Ich hätte dir und dem guten Mädchen manche peinliche Stunde ersparen können, wenn mich mein unruhiger Kopf nicht blind und taub gegen alles um mich her gemacht hätte. Jezt ist mir alles klar: halte dein Versprechen, sei ihr Beschüzer, ihr Freund. – Er hielt seine Hand, auf seinem Gesicht kämpften Wehmuth und Zärtlichkeit und Härte, er umarmte Rogern, drükte Sara an sein Herz, und eilte aus dem Zimmer.
Man muß das Gemisch von Kraft und [128] von Unverdorbenheit bedenken, die in Roger vereinigt war, um zu begreifen, wie er in dem einsamen Gespräch, welches jezt erfolgte, seinem Entschluß selbst in seinem Innern getreu blieb. Sara war in einer Spannung, deren nur ihre Unschuld ihr Kinderherz fähig machte. Dies bewürkte einen Ausbruch von Vertrauen, in welchem sie Rogern alles mittheilte, was sie seit Monaten ihm entzogen; die feierlichsten Gefühle neben dem liebenswürdigsten Geschwäz; Thränen im schwärmerischen Auge bei der Erwähnung irgend eines bittern Abends, den sie durch ihres armen Vaters mißverstehende Härte gehabt hatte, und muthwilliges Lächeln auf den noch benezten Wangen, indem sie von ihrer lezten Expedition mit einer Brut junger Hüner erzählte. So verflossen ein Paar Stunden, als Seldorf dem in seiner Art einzigen Tete-a-tete ein Ende machte; er trat herein, heitrer als er seit langer Zeit geschienen hatte, und schlug Rogern [129] vor, den Abend bei seinem Grosvater zuzubringen. Sara hüpfte froh auf, eilte ihre Hausgeschäfte abzuthun, kam zurük mit einem Körbchen voll von einer Art Gebaknes, das, wie sie wußte, der alte Berthier sehr gern zum Weine aß – das ist für unsern guten alten Vater, sagte sie leise, indem sie es Rogern zeigte, und zugleich seinen Arm ergrif. Seldorf fragte beim Fortgehen nach seinem Sohn, es hieß daß er vor einer Stunde ausgeritten wäre. Berthier empfieng seine Nachbarn mit der treuherzigsten Freude, sah aber Rogern mit einem fragenden, besorgten Blike an, als ihm Sara mit einer Unbefangenheit, die er lange bei ihr vermißt hatte, die Hand küßte. Sie fieng indessen mit der nämlichen Heiterkeit bald an, die beiden Alten in ein Gespräch über ihre Landwirthschaft hineinzuschwazen, und trieb dann häuslich wie ehemals ihr Wesen mit Anordnung des Vesperbrods, wobei Roger ihr helfen mußte. Ihr [130] ganzes Thun hatte einen wunderbaren Ausdruk von begeisterter Güte und Innigkeit, es war die zarteste Weiblichkeit mit der Sorglosigkeit eines Kindes verbunden. Roger, hingerissen von ihrem Zauber, stimmte in ihr Wesen, und die schwermüthige Wolke auf dem frohesten Gesicht, das die Natur je bildete, gab ihm neben Sara den Ausdruk der Sehnsucht.Berthier wurde irre an den beiden jungen Leuten;Sara, der seine beobachtenden Blike nicht entgiengen, benuzte einen Augenblik da ihr Vater entfernt war, und indem sie Rogern bat, ihr eine Flasche aufpropfen zu helfen, warf sie mit einer reizenden Hast dem alten Mann die Worte hin: er ist mein Bruder geworden, wir waren alle im Irrthum. Aber so ungestraft lief die kleine Kekheit nicht ab, denn Sara mußte sich nun über Berthiers Hand beugen, um ihre Röthe zu verbergen; und zu furchtsam ihre Augen zu troknen, fielen ein Paar Thränen auf die [131] Hand des alten Mannes, der gerührt und betroffen das Geheimniß der jungen Leute jezt ahnete.
Bei einbrechendem Abend fieng man an, nachTheodor zu fragen; da man aber sein weites Umherschweifen gewohnt war, so beunruhigte sich weiter niemand. Nur Roger ward nachdenkend, und gieng gegen das Ende der Abendmahlzeit aus dem Zimmer. Nach einer kleinen Stunde kam er zurük, mit einem Gesicht in welchem sich Wehmuth und Sorge mahlten; er überreichte Seldorf einen Zettel, indem er mit zitternder Stimme sagte: ich würde Sie durch Schonung und Umschweife zu beleidigen glauben. – Was ist es? rief Sara, und sprang erblassend von ihrem Stuhle auf. – Theodor ist auf dem Weg nach Paris, antwortete Roger. Sara warf beide Arme um ihres Vaters Hals, und verbarg mit dem bittenden Ausruf: Verzeihung, mein Vater, Verzeihung! [132] ihr Gesicht an seiner Brust. Seldorf hatte das Papier gelesen, legte es vor sich hin, und machte sich unfreundlich aus den Armen der weinenden Sara los, so daß sie an seiner Seite auf die Knie sank, und ihren Kopf auf seinen Schoos legte, und das fürchterliche Schweigen ihres Vaters nur durch ihr Schluchzen unterbrach. Anfangs arbeiteten auf Seldorfs Gesicht die heftigsten Leidenschaften; Zorn, Schmerz, Bitterkeit wechselten darinn ab; nach und nach schien tiefer Gram seine Züge zu versteinern; und wie selbst der alte Berthier eine Thräne abwischte, welche das Leiden des unglüklichen Vaters ihm entriß, fragte Seldorf mit eiskaltem Ton: Herr Roger, als Mann von Ehre sagen Sie mir, wußten Sie von Theodors Verrätherei? Die Hand auf das Herz, und mit einem Blik, dessen Himmelsklarheit den Unglaubigsten überzeugt hätte, antworteteRoger: bei meines Vaters grauem Haar, bei meinem Vaterland [133] schwöre ich, ich habe ihn sechs Monate von diesem Schritt abgehalten, und wußte von dessen Ausführung nichts. – Gut, fuhr Seldorf fort, ich hätte mich auch nicht gern von allen betrogen gesehen.Sara, dich weiß ich unschuldig, der Unglükliche schreibt es, und du könntest mich nicht betrügen – hier wollte sein Auge naß werden, er drängte die Thräne zurük. – Er richtete Sara's Kopf empor, und sprach weiter: ich will Theodorn nicht verstossen, den unseligen jungen Menschen wird die Strafe des Undanks mehr drüken, wie mich mein Kummer. Mein würdiger junger Freund, schreiben Sie ihm – nein, weiter nichts als er sollte Wort halten, und uns alles berichten was er thäte. Schreiben Sie ihm, da er vor dem Anblik meines Grams geborgen wäre, sollte er wenigstens, was er auch thun möchte, aufrichtig gegen mich seyn. – Er stand nun auf, nahm ruhig vonBerthier Abschied, und sagte ihm mit einem [134] matten Händedruck; ich hatte einen heitern Abend; es thut mir leid daß den guten Kindern hier – indem er aufSara und Roger zeigte – ihr froher Muth so gestört wurde. – Berthier, welcher zu weise war, um jezt trösten zu wollen, ließ ihn fortgehen: sein ehrwürdiges Gesicht bezeugte ohnehin seine Theilnahme. Roger begleitete sie, und erzählte unterwegs, auf Seldorfs Frage, wie er zu dem Billet gekommen? daß ihn einige Worte, welche Theodorn diesen Nachmittag bei einem Streit über sein Vorhaben, nach Paris zu gehen, entfahren wären, wegen seines langen Aussenbleibens beunruhigt hätten, daß er im Dorfe nach ihm gefragt hätte, und dem Boten begegnet wäre, welcher Theodors Brief aus Saumür gebracht hätte. Vor Seldorfs Haus bat er Sara heimlich, einige an ihn gerichtete Worte ihres Bruders ohne Vorwissen des Vaters zu lesen. Sara fand folgendes:
[135] »Die Höhe der Empfindung, auf welche Ihr männlicher Edelmuth und Sara's wiederkehrendes Glük mich gespannt haben, geben mir die nöthige Stimmung um einen Schritt zu thun, vor welchem ich um meines Vaters willen zitterte. Ich verlasse euch; ersezt ihm seinen Sohn, bis er – gewiß seiner würdig – wiederkehrt.«
Mit fürchterlichem Zwange hatte Seldorf sein Herz gehalten, er eilte jezt wankend auf sein Zimmer, wo selbst Sara's bange Thränen um ihres Bruders Schiksal ihn nicht aus seiner Dumpfheit rissen. Der einzige Gedanke, durch welchen Sara, wenn sie ihn in seinem Herzen hätte lesen können, sich überzeugt haben würde, daß ihr Vater nicht gegen alles Gefühl erstorben wäre, überraschte ihn durch eine sinnliche Täuschung, wie er thränenlos den Kopf auf sein Küssen legte. Es schmiegte sich so kühl an sein brennendes[136] Gesicht; indem er sich dichter hineindrükte, dachte er mit ruhiger Sehnsucht: wäre es doch das kühle Grab! und schlief ermattet ein. Der folgende Tag und viele andere kamen und verflossen, und Seldorfs Stille blieb sich gleich; er sprach von Theodor, öfters und ruhig, mit der Absicht seine Tochter zu überzeugen, daß kein Groll und keine Bitterkeit in seinem Herzen verborgen wären. Wenn aber ein Fremder in das Zimmer trat, oder der Anblik irgend eines neuen Gegenstandes ihn überraschte, fuhr er zusammen, und gerieth über die gleichgültigsten Dinge in eine kranke Heftigkeit. In dieser Zeit schien Antoinettens Andenken sich lebhaft in ihm zu erneuern; er erinnerte Sara an manchen kleinen Umstand ihres Lebens, und eines Abends, da er mit einer Handvoll Blumen nach Hause kam, die er tiefsinnig auf seinen Tisch legte, und ihnSara fragte, woher die Blumen wären? antwortete [137] er: vom Grabe des einzigen Wesens, das mir Liebe um Liebe gegeben hat. – Sara war bei diesen Worten von Wehmut durchdrungen, und schwur weinend, ihm ewig Liebe um Liebe zu geben. Mit einem matten Lächeln fuhr er sanft über ihre nassen Wangen, und sagte: um dessen sicher zu seyn, müßte ich ja auch von deinem Grabe Blumen pflüken; so theuer soll ich doch meine Ueberzeugung nicht kaufen?
Theodors Briefe enthielten anfangs nichts, wie schwärmerische Beschreibungen von allen den zeitlichen Helden der ersten Konstitution; bald aber begann er, über die wichtigen Verbindungen, in welche er sich einliesse, geheimnißvolle Winke zu geben. Mit zitternder Hand empfieng nun Seldorf jeden Brief, der von seinem Sohne kam, und legte ihn, nachdem er ihn gelesen hatte, still vor seine Tochter hin; aber zu dem alten Berthier, der ihn dringend bat, seinen [138] Sohn wenigstens vor den Fallstriken des Hofs zu warnen, sagte er kalt: da wo er wandelt, dringt meine Stimme nicht mehr hin; diese Blätter – hier legte er seine kalte abgezehrte Hand auf Theodors Briefe – sollen mir nur den Augenblik andeuten, wo jede Hofnung zur Rükkehr verschwunden seyn wird. – Das Gift des unheilbaren Grams nagte an seinem Innern; immer nach Täuschung ringend und immer getäuscht, hatte es seinem reizbaren Gehirn an einem Faden gefehlt, um von seinem lezten Unglük zu einer neuen Hofnung überzugehen; ohne Muth, diesen Faden zu suchen, machte er seinen Kummer zu seinem erkohrnen Liebling, und es bedurfte nur eines heftigen Sturms, um die wankende Hülle zu zerstieben.
Sara's Versöhnung mit Rogern war ihre einzige Stüze in dem traurigen Zeitpunkt, der auf ihres Bruders Entweichung folgte. Heiliger wie dieser edle junge Mann [139] seine Versprechungen hielt, beobachtete nie ein Gottgeweihter seine Gelübde, die doch kaum der Natur mehr widersprechen können, wie Rogers neue Verbindlichkeiten seinem Herzen. Sein Geist war durch das Unglük seiner Liebe um viele Jahre gereift, er hatte ernste Pflichten und harte Entsagungen vor sich, und dieser Wechsel seines Schiksals gab ihm eine Liebenswürdigkeit, die ihm würklich ehemals gefehlt hatte. Seine fast rohe Lustigkeit milderte sich zur wohlwollenden Heiterkeit, und seine Gradheit, die in den feinen Zirkeln den Namen Zudringlichkeit erhalten hätte, bildete sich in eine edle Freimüthigkeit um. Sara zog ihn bei allen ihren Sorgen zu Rathe; er half ihr in ihren Geschäften, die durchSeldorfs zunehmende Schwermuth und Theodors Abwesenheit, da diese beide sonst der Landwirthschaft vorgestanden hatten, sich sehr häufen mußten, und dieses ganze Verhältniß befestigte natürlicher [140] WeiseRogers Fesseln. Sara empfand den Werth seines Opfers, ihr Dank war nicht Liebe, und konnte nun nimmermehr Liebe werden; aber es war ein seelenvolles Gefühl, und um so spannender, als es sich auf einen Betrug der Fantasie gründete. Kummer um ihren Vater, Furcht bei Theodors unsicherm Schiksal, bange Erwartung bei der Entscheidung, welche nun über das Vaterland schwebte – alles in ihr und um sie riß sie über die gewöhnliche Höhe weiblicher Empfindungen empor; in dieser Lage lohnte sie Rogern mit unbedingtem Vertrauen und der kindlichsten Herzlichkeit, aber ihm standen noch härtere Prüfungen bevor, die zwar nie seine Treue, wohl aber seine Kräfte besiegten.
Der ganze Landstrich von la Rochelle bis zur Loire, alles was zu den ehemaligen Provinzen Bretagne, Poitou, Anjou und Touraine [141] gehörte, war schon in verschiednen Zeitpunkten der französischen Geschichte ein Schauplaz bürgerlicher Unruhen, blinden Eifers, und derjenigen hartnäkigen Anhänglichkeit für Meinungen gewesen, die gewöhnlicher Weise aus dem Zusammentreffen von Kraft, Rohheit und Unwissenheit entsteht. Die nämlichen Ursachen, welche zur Zeit der Religionskriege diese Stimmung der Gemüther in dieser Gegend hervorbrachten, fanden auch jezt statt. Mit körperlicher Kraft ausgerüstet, unter einem Himmelsstrich, wo die Natur es freundlich zum Lebensgenuß einlud, war dieses Volk durch die Verfassung weniger gequält als beschränkt; alle Fesseln des Geistes und der bürgerlichen Existenz erbten von Vater auf Kinder fort; heute wie vor hundert Jahren baute der Landmann, in ärmliche Lumpen gehüllt, an seiner leimernen Hütte den kleinen Flek, dessen Ertrag ihm keine Freude machte, weil ihm das Gefühl des sichern Besizes fehlte, das allein [142] in dem Menschen schaffende Kräfte erwekt. Gleichgültig sah er viele Meilen weite Streken des schönsten Landes unbearbeitet liegen, indem sein Aker nicht hinreichte, seine Kinder mit schwarzem Brod zu sättigen; jedes Wechsels zum Besseren ungewohnt, kam auch kein Plan von Verbesserung in sein dumpfes Gehirn. Die einzige Leidenschaft dieser Menschen war ihre Religion, denn die Drohung mit der Hölle, und das freche Versprechen ihrer Priester, sie mit dem Gott zu versöhnen, aus dessen Barmherzigkeit die Sünder ihren ausschliessenden Handel machten, trieben sie in einem ihnen angemessenen, engen Krais von Furcht und sinnlosem Hinbrüten bei ihren ärmlichen Genüssen umher. Ihre lebendige Gottheit auf Erden mußten ihre Gutsherren seyn, denn ob sie gleich ihre Spur öfter durch Druk und Elend als durch Wohlthat erkannten, so mußten diese blinden Geschöpfe dennoch durch die Würkung ihrer Allgewalt [143] an sie gefesselt werden. Diesen Druk und diese Gewalt stellte das ganze Land gleichsam sinnbildlich dar: zahllose Schlösser und Rittersize, die von ihren Höhen herab die finstern Hütten der Armuth beherrschten; grosse Forsten in welche der halbnakte Bauer das übermüthige Wild zurüktrieb, das ihm, troz seiner Wachen in den kalten Frühlingsnächten, die junge Saat verwüstete; unabsehliche Heiden, deren todte Stille die Herrschaft ihres mächtigen Besizers würdig ehrte. Der Hauch der Tirannei verzehrte den Geist des Fleisses in dem Landmann, wie der Südwind den befruchtenden Thau auf dem ewig todten Sand im heissen Afrika. Doch klage man den Genius der Menschheit, der über jene jezt mit Blut gedüngten Streken weint, nicht an, daß er etwa keinem der vorgezognen Sterblichen, unter welche sie getheilt waren, den Wunsch zu beglüken eingegeben hätte. Nicht alle waren Tirannen, aber alle konnten die Mittel, [144] selbst zum Beglüken, nur despotisch gebrauchen; sie mußten ihren Unterthanen befehlen, weniger arm, weniger dumm, weniger gedrükt zu seyn, und der wohlthätige Strahl, den sie ausgehen ließen, diente weit mehr dazu, sie im Gefühl ihrer Gewalt zu bestätigen, als den Unterthanen eine Ahnung ihrer Rechte zu geben.
Diesem Volk stand ein fürchterlicher Uebergang bevor, um zur Freiheit zu gelangen. Der Altar dieser Gottheit ließ sich nicht unter den Mauern zakiger Ritterthürme erbauen; er sollte auf dem Schutte der ländlichen Hütten errichtet werden, von den blutigen Schatten der ehemaligen Bewohner umschwebt, von Wittwen und Waisen bedient seyn, und in einen Trauerschleier gehüllt, sollte die erhabne Göttin den dargebrachten Weihrauch empfangen.
Die ersten Jahre der Revolution hatten hier weniger Einfluß, als in den meisten andern Gegenden von Frankreich. Das Volk [145] gebrauchte seine Rechte höchstens wie Vergünstigungen, und empfieng nicht Licht genug, um die neuen Vortheile als sein unbestreitbares Eigenthum anzusehen. Der Widersezungsgeist der adlichen Herrschaften, welcher mit jeder Faser ihres Daseyns verbunden, auch nur mit ihrem Daseyn aufhören konnte, vermehrte in dem Fortgang der Zeit die Verwirrung in den Begriffen und den Erwartungen des Volks. Die alte Zuchtruthe war zerbrochen, aber die neue Ordnung wurde nicht gelehrt; die alten Gözen waren dem Volke genommen, aber die neue Gottheit wurde ihm nicht gepredigt: der Adel schmeichelte ihm, die Priester goßen das Gift ihres Hasses in seine Seele – so war der verklommene Sinn dieser verscheuchten Menschen bald zu einer fanatischen Heftigkeit gereizt, und das duldende Hausthier zum Tiger umgebildet.
Der Augenblik, in welchem Adel und Geistlichkeit die Geburt ihrer Herrschsucht und ihrer [146] Rachbegierde an das Licht bringen wollten, nahte heran; mancher Edelmann, der seit der Revolution in beständigem Umherschweifen das Feuer der Zwietracht überall angefacht hatte, zog sich jezt auf seinen Landsiz zurük, und erwartete in geschikt benuzter Ruhe das Zeichen zum Handeln. Während daß diese Menschen pralerisch und listig Volksliebe und Menschlichkeit zur Schau trugen, und auf diese Weise das unwissende Volk verleiteten, die Wohlthaten der Freiheit mit ihrer eignen väterlichen Denkart zu verwechseln, und für jene demnach unverbesserlich blind zu bleiben, deuteten die Priester auf eine unglükschwangere Zukunft, umlagerten das Bett der Sterbenden mit Besorgnissen über das Schiksal der Zurükbleibenden, verlasen in den Lehrstunden der Katechumenen die Geschichten der Märtirer und der Gefahren, welche die streitende Kirche bestanden hätte, und forderten am Altar die schaudernden Kommunikanten [147] auf, ihr Leben für ihren Glauben zu opfern, und wie der Heiland, den ihre sündenbeflekte Hand austheilte, sich selbst zur Besiegelung der Wahrheit hinzugeben.
Unter den Adlichen, die um diese Zeit in ihre Stammgüter zurükkehrten, war L***, der Sohn eines alten Hauses, dessen Ahnen seit Jahrhunderten in C** bei Mortagne ihren Siz hatten. Ob die Natur in diesem jungen Mann einen Satan unter der Form eines Helden verbarg, oder ob in ihm das Schiksal eine Engelsseele zwang sich mit Werken der Finsterniß zu belasten, oder ob er einer von den Menschen war, die in einem gewöhnlichen Gang der Dinge übersehen und unbemerkt, von ausserordentlichen Umständen fortgetrieben bald kühn, bald schwach, bald frevelnd erscheinen – das wird vielleicht in einem Zeitpunkt, wo so mancher Göze in Staub zerfällt, und der Nachruhm selbst von dem Machtspruch der Leidenschaft abzuhängen scheint, [148] nie entschieden werden. Während der kurzen Zeit da sein Name genannt ward, war L*** in den Augen von mehreren Tausenden Feldherr, Heiliger, Wunderthäter selbst nach seinem Tode; aber weder seine Apotheose, noch die Flüche, die von einer andern Seite seinen Schatten verfolgen, deken die geheimen Triebfedern seiner Thaten auf.
***, Seldorfs Landgut lag auf dem halben Weg von Saumür nach Mortagne, in einer Gegend, wo sehr häufige Zusammenkünfte des Adels gehalten wurden. Die nächsten Schlösser um *** gehörten Verwandten und Freunden von L***, und überdem hatte L*** ein besonders Interesse diesen Flek scharf zu beobachten, weil Seldorfs Unentschiedenheit in Rüksicht auf die eingeführten Neuerungen, und Berthiers bekannter kühner Eifer für die Sache des Volks ihm bei seinen politischen Planen nicht gleichgültig seyn konnten. Den ersten, welcher ehemals Herr [149] über einige hundert streitbare Männer gewesen war, bei denen es ihm auch jezt nicht an Einfluß fehlte, in seinen Bund zu ziehen, über den andern, der ein Menschenalter lang der Vertheidiger der Unterdrükten gewesen war, ein wachsames Auge zu behalten, gehörte allerdings mit zu den tief angelegten Vorbereitungen, von denen seine nachmalige Würksamkeit gezeugt hat.
Seine ersten Bemühungen, Seldorfs Bekanntschaft zu erlangen, waren in die Zeit von Theodors Entweichung gefallen; er hatte sich daher leicht beschieden, daß er in diesem traurigen Augenblik, als ein Fremder, nicht den vertrauten Zutritt finden würde, den er suchte, und er versparte seinen Besuch auf eine gelegnere Zeit. Er hatte sich schon mehrere Wochen in C** und der umliegenden Gegend aufgehalten, als er an einem schönen Frühlingsmorgen, auf einem einsamen Spazierritt von einem Schlosse jenseits [150] des Flüßchens Layon nach Chollet, einen angenehmen Seitenweg einschlug, den er, da ihm mehr daran lag, jeden Winkel des Landes kennen zu lernen, als schnell an den Ort seiner Bestimmung zu gelangen, gern verfolgte. Dieser Weg führte ihn durch ein enges Thal in eine kleine Ebene, wo er durch eine Pflanzung blühender Obstbäume auf dem schönsten Wiesenplan bis an eine kleine Gartenpforte kam, die ihm die Aussicht in eine reizende ländliche Anlage nicht benahm, hinter welcher in einiger Entfernung unter hohen Nußbäumen ein Kirchthurm hervorragte. Die unendliche Schönheit des Morgens, der Gedeihen und Leben in die ganze Schöpfung hauchte, die strahlende Sonne, welche schmeichelnd mit dem West eiferte, die Thautropfen von den jungen Blüten zu küssen, das Rieseln einer nahen Quelle, alles lud L*** ein, sein Pferd an den nächsten Baum zu binden, und die angelehnte Pforte zu öfnen. Er wendete sich nach der [151] Seite, wo er das Wasser gehört hatte, und gelangte bald an einen hohen dunkeln Bogengang von Geisblatt, bei dessen Ausgang eine Reihe Wasserrohre im Schatten von alten Akazia's sich in ein steinernes Beken ergoß. Sein eilfertiger Gang ward aber hier durch den Anblik eines jungen Mädchens gehemmt, die neben dem Wasser stand, und eine Menge Kräuter und Blumen auf dem Rand des Bekens ausbreitete. War es der Zauber des Morgens, der Sara's Liebenswürdigkeit erhöhte – denn L*** war in Seldorfs Garten gerathen, und sie war es, die frische Blumen zum Aufpuz für ihres Vaters Zimmer sammelte – oder machte das Romantische des Orts, des Augenbliks L***s Seele für jeden Eindruk von Schönheit empfänglicher, oder scheint ein reizendes Weib immer das Meisterstük der Schöpfung: genug L*** vergaß jezt seine Neugier und seine Nebenabsicht, in der Gegend zu spähen, und war [152] blos in Anschauen verloren. Die Blüte der reinsten Gesundheit, welche bei ihrer schlanken Gestalt nur den Ausdruk der Jugend und Unschuld hatte, ein seelenvolles Gesicht, in welchem ein lächelnder Mund mit dem schwermüthigen Blik des grossen schwarzen Auges so anziehend-seltsam abstach, der ernste Eifer, mit welchem sie ihre kindliche Beschäftigung trieb, und die Blumen so denkend und theilnehmend ansah, als verstünden sie ihre Meinung – das ganze reizende Schauspiel fesselte L*** an seinen Plaz, bis Sara nach beendigter Arbeit das Körbchen, in welchem sie ihre Blumen geordnet hatte, aufnahm, noch einen lächelnden vergnügten Blik darauf warf, und ihren Arm hoch aufstreifte, um sie mit frischem Wasser zu besprengen. Jezt trat L*** näher hinzu, und mit einer Entschuldigung wegen des ungewöhnlichen Wegs, auf welchem er sich verirrt hätte, erzählte er mit ungezwungner Höflichkeit, durch welches [153] Ohngefähr er hieher gerathen wäre. So unbefangen und verbindlich die Art war, mit welcher Sara seine Anrede erwiederte, so sah er doch jezt den Augenblik kommen, wo er wieder nach der kleinen Pforte zurükgemußt hätte, als Roger sich näherte, und noch hinter dem Gebüsch rief: Sind Sie fertig, Fräulein? Ihr Vater fragt nach Ihnen. – Sara sezte lebhaft einen grossen Strohhut auf, ergrif ihr Blumenkörbchen, und sagte: das ist gut, lieber Roger, daß Sie kommen; hier ist ein Herr, den ich nicht zum Frühstük einladen konnte, jezt thun Sie es – Roger trat näher, und die beiden Männer, welche sich schon öfters bei öffentlichen Versammlungen gesehen hatten, erkannten sich sogleich; der Anblik würkte aber verschieden auf beide. Bei Roger war es das sonderbare schnelle Gefühl, hier wie in den Volksversammlungen und allenthalben in einem Menschen wie L*** einem Gegner zu begegnen, [154] der zwar gefährlich war, den er aber den unerschütterlichen Willen hatte, endlich zu besiegen: dieses Gefühl giebt allen wahren Republikanern, wenn sie friedlich mit Anhängern der Gegenpartei zusammentreffen, die nämliche Fassung, die brave Offiziere von zwei feindlichen Armeen haben, wenn sie durch ein Ohngefähr ausser dem Schlachtfeld auf einander stossen. Hier kam noch die jedem unverdorbnen Herzen heilige Ehrfurcht für die Geseze der Gastfreiheit hinzu; Roger wiederholte also dem FremdenSara's Anerbietung, zwar mit einer ernsten und eher trozigen Art, zugleich aber mit der anständigsten Höflichkeit. In L***s Herzen zu lesen würde schwerer gewesen seyn, doch schien es von Sara's Bild zu eingenommen, um in diesem Augenblik so sehr auf seiner Hut zu seyn, als es dem Karakter dieses Mannes angemessen war. Er sagte, nachdem Sara mit einer leichten Verbeugung davon gegangen war, [155] mehr spöttisch wie gefaßt: Sie haben eine liebenswürdige Schwester, Herr Berthier? – Roger berichtigte seinen Irrthum, und forderte ihn auf, Sara's Einladung zu folgen. Die Entdekung war L*** doppelt erfreulich, da ihm nun ein Ohngefähr dasselbe Haus eröfnete, in welches er so lange vergeblich einen Zugang gesucht hatte. Roger kehrte mit ihm an die Pforte zurük, um das Pferd in den Hof zu führen, und begleitete ihn sodann nach dem Haus, indem er ihm unterwegs vonSeldorfs schwacher Gesundheit erzählte, die ihn seit einiger Zeit genöthigt hätte, allen Umgang ausser dem Hause aufzugeben. L*** hatte sich jezt völlig gesammelt, und ob ihm schon, nachdem er Sara erblikt, die Vertraulichkeit in welcher er den jungen Berthier hier festgesezt sah, nicht sonderlich gefiel, so herrschte doch in seinem Kopf eher die Neugierde, das eigentliche Verhältniß zwischen Leuten zu erforschen, [156] die nach allem was er von Seldorf wußte, durch etwas anders als ihre politischen Meinungen verbunden seyn mußten. Je länger er Rogern, dessen öffentlichen Karakter er schon ehrte, so häuslich und doch anmassungslos von der Familie sprechen hörte, zu welcher sie giengen, desto ungeduldiger ward er, ihn noch einmal mit Sara beisammen zu sehen, und desto unwillkührlicher schmiegte er sich wieder in alles Gefällige hinein, was Natur, Erziehung, Bildung ihm in so reichem Maaße verliehen hatten, und womit er jezt, von seinem guten Geist oder einem blutdürstigen Dämon geleitet, aller Herzen anzog. Bald darauf, nachdem ein Frühstük aufgetragen worden war, kam Sara zu ihnen; sie dankte Rogern vertraulich, daß er so gut für ihren Gast gesorgt hätte, und versicherte L*** mit einer schmeichelhaften Wendung, sein Besuch sei doppelt angenehm, weil er ihren Vater gerade heute muntrer und gesünder [157] finde, als er seit langer Zeit gewesen – würklich, denken Sie! sagte sie zu Roger, er will herunterkommen, und diesen Herrn selbst begrüssen.
Dieses zuvorkommende Betragen stimmte freilich mit seinem gewöhnlichen Gange nicht überein. War es aber die Lebhaftigkeit, mit welcher seine unerfahrne Sara von dem unvermutheten Besuch sprach; oder war es die Erinnerung daß Roger entschieden gegen L***'s Familie gesprochen hatte, und bei einigen Veranlassungen schon öffentlich gegen sie aufgetreten war, und überraschte ihn sein zartes Gefühl, ohngeachtet seiner angewöhnten Apathie, mit der Furcht daß die beiden Männer allein zusammen nicht taugen möchten; oder war es ein dunkler Gedanke an seinen Sohn, der in jedem seiner Briefe genauer mit Menschen von der Art dieses L*** verwikelt schien: genug, Seldorf verfügte sich zu dem Fremden, dessen Besuch sich bis gegen [158] die Mittagszeit verlängerte. Dieser Proteus umstrikte Seldorf mit aller Liebenswürdigkeit des geschmeidigsten Geists; fein genug, um da, wo er von andern abgieng blos originell zu scheinen, wurde er anziehender indem er andrer Meinungen widersprach, und wenn sein Gesicht auch nicht der Spiegel seiner Seele war, so war es doch die vollkommenste Pantomime eines Geistes, der sich in alles, was zur Empfindung gehörte, hineinstudiert hatte. Sara's Unerfahrenheit war ihm sehr behülflich, sich von einer interessanten Seite zu zeigen; indem sie bei Erwähnung ihres Bruders sich ganz ihrem Gefühl, ganz dem Ausdruk der Besorgnisse ihres liebenden Herzens überließ, erfuhr er so viel er zu wissen brauchte, von Theodors anfänglicher Vereinzelung in Paris, und von einem anscheinend unbedeutenden Zufall, der ihn seitdem mit verschiednen Menschen von seiner Partei in Verbindung gebracht hatte. L*** war mit [159] dem Geist des Zeitpunkts zu vertraut, um hier etwa den Beschüzer spielen zu wollen; er wünschte vielmehr der guten Sache, die er aber nicht näher bestimmte, Glük, wenn Jünglinge wie Theodor so lebhaft dafür fühlten; er sprach mit einem idealisirenden Enthusiasmus von der Vereinigung aller Patrioten, die sich um ihren guten König drängen müßten, um eigennüzigen Feinden des Volks den Zugang zu seinem edeln Herzen unmöglich zu machen – dieser Ton fand in Sara's schwärmerischer Seele einen harmonischen Wiederhall; das Bild von patriarchalischem Glük, das L*** aufstellte, paßte besser zu der kindlichen Stimmung ihres noch nie betrognen Gemüths, als das dunkle Gewirr von Aufopferung, Streit und Tod, welches in Berthiers Gesprächen mit Theodor immer am meisten hervorgestochen hatte. Seldorfs Denkungsart, sein Widerwille, Gutes zu erwarten, blieb sich gleich; die Weichheit [160] seines Karakters widerstand indessen der Versuchung nicht, an L*** eine Ausnahme unter seiner Klasse zu machen, und sich für sein Gespräch um so lebhafter zu interessiren, als er die Namen mehrerer von den Menschen, in deren Arme sich Theodor jezt geworfen hatte, mit eifrigem Lob nannte, das er mit Anführung mancher schönen That, mancher Aufopferung von ihrer Seite bewährte.Roger hatte sich bald nach Seldorfs Ankunft entfernt, und der kleine Zirkel hätte die anrükende Mittagstunde vielleicht nicht bemerkt, wenn man Sara nicht herausgerufen hätte. Sie fand Rogern reisefertig; ich muß fort, sagte er innig und gerührt, äussern Sie davon nichts gegen Ihren Gast – Sara, fuhr er erröthend fort, und ergrif ihre Hand, ich muß Sie bitten, so ungeziemend es scheinen mag: verhindern Sie Ihren Vater, diesen Mann in sein Haus zu ziehen –Sara stuzte – Nein, nein, bei meinem Schwur, [161] nichtdeswegen! – er drükte ihre Hand an sein Herz: Um Ihres Hauses, um Ihrer Sicherheit willen – Sara erschrak, und hielt seine Hand fester; er sprach weiter: Es ist jezt Bewegung im Lande; ich muß es meines Schwester anvertrauen, damit sie mich nicht misverstehe. Adieu Sara! – Fort eilte er, und Sara gieng tiefsinnig in das Zimmer zurük. Ihre Unbefangenheit war durch die mögliche Auslegung von Rogers ersten Worten gestört, L*** war nun kein gleichgültiger Fremder mehr, sondern ein Mann, der sie verleitet haben konnte, ihren braven Freund miszuverstehen. Die dunkle Nachricht, die ihr Roger gegeben hatte, trug noch mehr dazu bei, ihre Empfindung zu reizen, und wie sie in das Gesellschaftszimmer zurükkam, blieb der Ausdruk von Zweifel und Rührung in ihrem Wesen L***'s scharfem Blik nicht verborgen. Er wollte jezt Abschied nehmen, die Sonne prallte um diese Zeit brennend von [162] dem Hofpflaster zurük, Seldorf konnte ihn unmöglich jezt gehen lassen, er nöthigte ihn zum Mittagsessen zu bleiben, und führte ihn in seine Bibliothek, während daß Sara froh war, sich bei ihren Hausgeschäften wieder sammeln zu können – vielleicht auch schon froh, sie für L*** vermehrt zu sehen.
Nachmittags kamen verschiedne Bauern in den Hof, welche mit widersprechenden, abentheuerlichen Umständen erzählten, daß in **, einer benachbarten Commüne vom Distrikt Mauleon, Unruhen ausgebrochen wären, und ein Theil des Volks zu den Waffen gegriffen hätte. Sara erblaßte bei dieser Nachricht, und stand in Begrif, Rogers Ermahnung zur Diskretion zu vergessen; aber L*** zerstreute den widrigen Eindruk dieser Störung, die ihn selbst anfangs nicht ganz vorbereitet getroffen hatte, mit der meisterhaftesten Gegenwart des Geistes. Auf einem Spaziergang im Dorfe bestätigte sich ein Theil jener Nachrichten,[163] und die Gesellschaft vernahm jezt sogar ziemlich deutlich den Schall der Sturmgloke gegen Mauleon hin. L*** nahm davon Gelegenheit, schneller wegzugehen, indem seine Pflicht ihn aufforderte, die Sache selbst näher zu besichtigen. Er sprach dabei mit der männlichsten Ruhe von der möglichen Gefahr, wünschte Seldorf Glük, von anerkannt guten Patrioten umgeben zu seyn, und bestieg unter den schmeichelhaftesten Dankesbezeugungen sein Pferd, nachdem er Seldorf um Erlaubniß gebeten hatte, ihm in den nächsten Tagen von der wahren Beschaffenheit jener kleinen Gährungen Nachricht zu bringen.
Seldorf war von einem so ungewohnten Tag ermattet, seine traurige Stimmung kehrte mit der Stille zurük, und er eilte in sein einsames Zimmer. Sara war von mehr wie einer Empfindung angegriffen, aber unbekannt mit sich selbst, suchte sie den Grund ihrer Unruhe ausser ihrem Herzen, und gieng [164] zu dem altenBerthier, um ihn wegen seines Sohnes Reise zu befragen. Doch es sollte heute keine freundliche Hand der armen Sara aus dem Labirinth zurükwinken, in welchem sie sich zu verstriken anfieng. Berthiers Haus war voll Männer aus der umliegenden Gegend, welche von dem Lärmgeschrei herbeigeführt zusammen berathschlagten. Auf Sara's wiederholte Bitte verließ der alte Berthier einen Augenblik die Versammlung, um sie zu sprechen; aber die Gegenstände der Berathschlagung, sie mochten nun der Wahrheit getreu oder vergrössert seyn, hatten diesmal die Sanftmuth des braven Greises gestört. Er entwarf einige so empörende Züge von den Verräthereien, mit welchen man das Volk umspinne, von der höllischen Falschheit, die man anwende es zu verführen, daß Sara zitternd rief: wo ist Roger? – Gegen C** wo der Siz des Verraths ist – Nein, nein! L*** war den ganzen Tag hier; er liebt das [165] Volk, er liebt das Vaterland – Urtheilen Sie von den Gesinnungen eines Menschen, der im Schoos der Gastfreiheit seine Ränke schmiedet! Ich weiß daß er bei Ihrem Vater war, dort – indem er auf das Zimmer zeigte, wo die Männer versammelt waren, bürgte ich eben mit meinem Leben für die Treue Ihres Vaters, die jedem redlichen Bürger verdächtig wird, weil er, der jedem aus unserer Mitte den Zutritt versagt, einem L*** seinen Schmerz über Theodors glänzende Laufbahn anvertraut – – Sara verstummte; sie stand erst im Begrif, L*** statt ihres Vaters zu vertheidigen; beschämt über ihre Verwirrung, erschroken über die Gefahr, welche drohend herannahte, hüllte sie sich in ihren Stolz, und antwortete mit so vieler Kälte, daß der Greis im Unwillen von ihr gieng. Sie kehrte nun schwermüthiger, als sie gekommen war, nach ihrem Haus zurük. Noch niemals hatte sie sich so einsam und trostlos gefühlt, noch niemals hatte die [166] Arme eines freundlichen Herzens, um Hofnung und Ruhe darinn zu schöpfen, so schmerzlich bedurft. AberTheodor war fern, und von ihm erhielt sie seit langer zeit nichts mehr, als ehrsüchtig schwärmerische Deklamationen; Roger hatte diesen Morgen ihr Vertrauen zurükgeschrekt, der wehmüthigernste Blik, mit welchem er ihre Hand an sein Herz drükte, hatte die Furcht ihn zu betrüben erwekt; und diese Furcht, und des alten Berthiers unvorsichtiger Eifer warfen ein Interesse auf L***, als die erste Ursache ihres Kummers, das er vielleicht ohnedem nicht gehabt haben würde. L*** schien so edel, er hatte so männlich gefaßt von der Gefahr, so menschlich und schonend von dem verführten Volke gesprochen: er konnte nicht falsch seyn, er war das Opfer der Vorurtheile, der argwöhnischen Stimmung von Menschen, die sie lange geliebt und geehrt hatte, die aber jezt hart, ungestüm, ja anmassend gegen sie verfuhren. [167] So brachte sie einen Theil der Nacht schlaflos zu; noch war es dunkel, als sie im Grunde des Thals den Himmel mit einer Flammenröthe überzogen sah, und ihr Ohr den Ton einer fernen Sturmgloke vernahm, der vom Morgenwind herbeigeführt wurde. Zum erstenmal dachte sie das Bild der Verwüstung, der Gefahr in einer so fürchterlichen Nähe, sie dachte verwirrt an Roger, an L***, sie bildete sich ein, sie gegen einander fechten zu sehen. Ihr Schreken nahm zu, als sie unter ihrem Fenster von einzelnen Männern, die über den Weg eilten, und leise und ängstlich mit einander sprachen, die Worte zu hören glaubte: man mordet das Volk – Ein Fieberfrost ergrif das einsame Mädchen, sie sah nichts als Zerstörung und Tod vor ihren Augen, indeß doch die Natur um sie her Frieden und Ruhe athmete. Endlich erloschen die Flammenstreifen im Morgenroth, und der schaudervolle Glokenton ward von dem tausendstimmigen [168] Gesang der Vögel, die den anbrechenden Tag begrüßten, in der Luft verdrängt. Jezt legte sie sich erschöpft nieder; aber der leichte Schlummer, der ihre Augen dekte, verschwand bald bei dem Geheul einiger Bauerweiber, deren Männer entweder zufällig oder durch Anstiftung in dem Distrikt von Mauleon gewesen waren, an dem Zusammenlauf des gestrigen Tages Theil genommen hatten, und nun gar übel zugerichtet nach Hause gebracht wurden. Seldorfs Wohlthätigkeit war so bekannt, daß ihm der traurige Parteigeist das Recht, die Zuflucht der Bedrängten zu seyn, noch nicht genommen hatte.Sara fand ihn schon mitten unter einem Trupp von Landleuten, die ihm eine schaudervolle Beschreibung von den Begebenheiten des vorigen Tages machten. Sie waren, sagten sie, auf einem Viehmarkt in ** gewesen, und hatten sich durch Trinken und Neugierde aufhalten lassen, bis der Lärm [169] ausgebrochen war. Wo er entstanden, woher die Bewafneten gekommen, wer sie angeführt, wußte niemand zu sagen; aber nach den Uebertreibungen dieser armen verstörten Leute, welche Räuberei, Verwüstung, Mordbrennerei als die Früchte der neuen Ordnung der Dinge anzusehen begannen, war gestern eine grosse Anzahl von Dörfern verheert, und viel Blut vergossen worden. Seldorf hörte mit Abscheu zu, und sagte in einem vorwurfsvollen Ton zu Sara: Bürgerkrieg ist also die Folge aller dieser Glükseeligkeitsplane! Wäre doch L*** hier, und hörte wie sein Patriotenbund sich realisirt –Sara schlug ihre thränenschweren Augen bei diesem Namen nieder; die Bauern fiengen ihn auf, und riefen einstimmig: Er hat das Land gerettet; er und HerrRoger Berthier flogen von Haufen zu Haufen, sie drangen bis zu den Aufrührern, und sprachen von Gesez und Treue; sie stellten sich als Brustwehr vor die erschroknen [170] Weiber und Greise, sie sammelten die Nationalgarden, die nicht wußten wohin die Sturmgloke sie rief; in dem Augenblik da wir aus dem Getümmel entkamen, verfolgten sie den Feind – diese Worte hatten eine Wunderkraft für Sara's zerschlagnes Herz; sie durfte nun bei L***'s Namen aufbliken, er wurde mit Rogern zugleich als Vertheidiger der guten Sache genannt; sie dachte mit Entzüken, wie gern sie dem alten Berthier verzeihen wollte, nun sie so gewiß wußte daß er Unrecht hatte, und die Verwüstung verlor einen grossen Theil ihres Schreklichen, da Roger und – der Mann, dessen Unschuld ihr so theuer zu werden anfieng, dagegen kämpften. In der Folge des Tages liefen beruhigendere Nachrichten ein; die Aufrührer waren in die Wälder geflüchtet, die Nationalgarden standen allenthalben unter den Waffen, und im ganzen Distrikt herrschte die gröste Ruhe. Gegen Abend sprengte ein Reuter in [171] den Hof; es war L***, der sogleich in das Zimmer trat, und sich mit der einfachsten Freimüthigkeit gegen Seldorf entschuldigte, daß er sich schon die Rechte eines alten Bekannten anmaaßte. Er sprach von dem gestrigen Vorfall, verringerte das Unglük und die Gefahr, versicherte daß es weit mehr eine zufällige Zwistigkeit unter den Bauern als eine Parteisache gewesen wäre, daß nur der wohlmeinende Eifer einiger Patrioten es für ernsthafter angesehen, und durch übereilte Anstalten zum Widerstand die Erbitterung vermehrt hätte. Er erwähnte Rogers mit vieler Achtung, und lobte seine Wachsamkeit, die ihn so früh zur Hülfe, selbst eines fremden Departements angetrieben hätte. Sara fühlte sich seit L***'s Eintritt von einem gewissen stillen Frieden umgeben, durch welchen ihr Herz nur wohlthätigen Empfindungen offen war; sie überließ sich dieser, und genoß nach dem gestrigen bangen Abend und der traurig [172] durchwachten Nacht, desto inniger ein Paar heitre Stunden in der Gesellschaft dieses Mannes, dessen Liebenswürdigkeit und geschikte Wendungen selbst ihren Vater von seinen traurigen Gedanken über die Lage des Landes zu zerstreuen schienen.
Seitdem schlich der Geist der Zwietracht eine Zeitlang nur still und dumpf in der Gegend umher, und zeigte sich blos hie und da in stillschweigenden Verhöhnungen des Gesezes, in Nekereien gegen die Obrigkeiten, in ungeziemenden Festen auf den Schlössern und Rittersizen. Roger blieb abwesend; der Auftrag einer Gesellschaft von Volksfreunden entfernte ihn lange von seiner Heimath, und die Vereinzelung, worinn sich die gute Sara befand, machte ihr L***'s Besuche, die er alle Wochen einigemal wiederholte, um so werther. Sie hatte dabei den Kummer, den alten Berthier von seinem ungerechten Vorurtheil [173] gegen den neuen Freund ihres Vaters nicht zurükbringen zu können, und Seldorf selbst entfernte sich mehr von jenem, weil ihm die Erinnerungen an politische Gegenstände leicht verhaßt wurden, und L***'s gefällige, biegsame, unerschöpfliche Unterhaltung ihm wohlthätiger war als Berthiers zunehmender Eifer. L*** war zu fein, um nicht alle Vortheile dieser Umstände beiSara zu benuzen. Ueber den Plaz, welchen Roger in ihrem Herzen einnahm, hatte er sich bald beruhigende Aufklärung verschaft; ihre unbefangne Herzlichkeit, und das ehrerbietige, anspruchlose Betragen, mit welchem Roger diese erwiederte, überzeugten L*** daß von ihrer Seite wenigstens, vielleicht Enthusiasmus, aber nicht Liebe im Spiel wäre. Ihm kam wenig darauf an, Rogern zu verstehen; denn sobald er ihn nicht als Nebenbuhler fürchtete, warf er ihn unter die grosse Anzahl derer, die er zu Werkzeugen oder Opfern ausersehen [174] hatte. Ob das was ihm Sara vom ersten Augenblik einflößte; ob überhaupt was er für sie empfand, Liebe war, läßt sich nicht so genau bestimmen. Vielleicht liebte ein L*** ein Mädchen wieSara, ohngefähr wie ein Nero den größten Enthusiasmus, den reinsten Geschmak für Musik haben konnte. Vielleicht auch daß es Menschen giebt, die zu allem Edeln geschaffen, und durch gewaltsame Umstände von ihrer Bestimmung abgeleitet, in Einem Gefühl ihres Herzens, das mit keiner von den verstimmten Saiten desselben in Zusammenhang ist, die Urschönheit ihrer Natur wiederfinden, und dieses Gefühl mit desto glühenderem Eifer pflegen, weil es das einzige ist, das ihnen die Ahnung des verloschnen Götterfunkens zurük giebt. Eine solche Liebe muß um so heftiger und kühner seyn, als sie gegen alles Böse in dem Gemüth, dessen sie sich bemeistert, unaufhörlich ankämpft. Im Ganzen aber war es L***'s Schiksal, allenthalben [175] von Trug umhüllt vor der Nachwelt zu stehen, und auch seine Liebe für Sara, mit seinen politischen Verhältnissen verbunden, trägt noch mehr dazu bei, ihn unverständlich zu machen. In der Legende wenigstens, die unter seinen fanatischen Mitstreitern ihn überlebt haben mag, wird das betrogne Mädchen nicht mit unter den Wundern gezählt seyn, die er verrichtet hat.
Sara mußte für jedes des Schönen empfängliche Herz ein Studium des Schönen seyn. L*** sah sie ihrem Haushalt mit einer Thätigkeit, mit einer Einsicht vorstehen, als beschränke sich darauf der ganze Kreis ihrer Bestimmung; er sah sie ihren Vater verpflegen, zerstreuen, aufheitern, mit ihm weinen, und alles was sie umgab, alles, selbst ihre Liebe, so wie sie entstand und zunahm, zu seinem Wohl anwenden; er sah sie unter den Landleuten, ihr wohlthätiges Herz oder der Zufall mochte sie zusammenbringen, mit einer [176] Güte die zu holdselig war um blos Liebe zur Gleichheit auszudrüken, in alle ihre Sorgen und Freuden eingehen. Der Genuß eines schönen Abends, der Anblik einer lachenden Gegend öfnete zuweilen ihr Herz einer kindlichen Heiterkeit, in welcher jede Blume, jeder grünende Baum, jeder zwitschernde Vogel der Gespiele ihrer Freude wurde; hüpfend eilte sie dann an L***'s Arm durch die Wiese, pflükte übermüthig die schönsten Blumen, um den Weisdorn am Saum des Gehölzes mit Kränzen zu behängen, und jauchzte vor Fröhlichkeit, wenn die lüsternen Ziegen sie abweideten. Dann gieng sie wieder ernst und in sich gekehrt, und sah den aufsteigenden Mond; der Duft der Blumen, der Gesang der Vögel, das ferne Leuchten der Wetterstrahlen schien ihr eine Feier der Natur, und sie stand einfach, rein und innig wie ihre erste Priesterin in der jungen Schöpfung. Entzükte sie L*** durch die holde Vertraulichkeit, mit welcher [177] sie in ihrer fröhlichen Stimmung ihn zum Werkzeug des unschuldigsten Scherzes gebrauchte, so durchdrang ihn der Blik voll Hoheit, und die Ahnung von inniger Liebe, womit sie ihm ihren Arm entzog, um einsam vorauszugehen in den Augenbliken ihrer feierlichen Schwärmerei. Sein überlegner Geist wurde unwillkührlich angezogen, in Gesprächen und gesellschaftlicher Unterhaltung, der Lehrer, der Bildner dieser unerfahrnen schönen Seele zu seyn; sein männliches Wesen, sein kaltes Blut mußten ihm tausendfache Gelegenheiten geben, sie bei ihrer übereilten Kühnheit, bei ihrer oft alles Aeussere vergessenden Empfindung, so verschmolzen wie dies alles in ihr mit weiblicher Schüchternheit war, im Zaum zu halten. Die Lage der Sachen, die Gährung unter dem Volt, die Zudringlichkeit der Priester, deren sich Seldorf nicht ganz erwehren konnte, der Kummer über ihren geliebten Bruder, dessen Briefe immer unverständlicher [178] und seltner wurden: alles führte sie auf einen Weg, der mit jedem Tag enger und abschüssiger wurde, und sie mit jedem Tag unbedingter in L***'s Gewalt lieferte. Sie sah nie eine Ursache, auf ihrer Hut zu seyn, denn nie brachte dieser Mann ihr Herz mit ihrem Verstand in Widerspruch; sie sah in allem seinem Reden und Thun nichts als Muth, Offenheit, Patriotismus, Wunsch alles Gute, und alle guten Bürger zu Einem Endzwek zu vereinigen und zu benuzen. Sie war blos Mädchen, blos fühlendes Geschöpf, und die Zeiten hatten damals ihre schrekliche Reife noch nicht erlangt, da es bei weitem noch nicht hinreichen sollte, ein menschlicher wohlmeinender Mann zu seyn, um kein Verräther zu scheinen. Verschiedenheit in Meinungen war damals noch kein Hochverrath, und führte noch nicht zum Verbrechen. Bei den schwachen Ausbrüchen zwischen den Parteien, die hie und da, vielleicht auf Anstiften der Royalisten, [179] vielleicht wider ihre Absicht, aber doch gewiß unter ihrem Schuz vorfielen, war L*** bald muthiger Vertheidiger seines Systems, bald Friedensstifter, immer aber ein Muster von Billigkeit. Alle Unzufriednen versammelten sich um ihn, aber er schien sie immer zur Ruhe, zum Guten zu lenken, und sein Wort bändigte ihre feindselige Wuth. Einfach bis zur Beschränktheit in seinem Schloß, glich es eher einem Hospiz, wo jeder Dürftige Pflege und Azung, jeder verirrte Wanderer Obdach und Schirm fand; und sezte er gestärkt seinen Weg fort, so dachte er sich fortan C** als den Ort, wo im Drang der Noth eine Zuflucht vor Hülflosigkeit ihm offen stehen würde.
Bei einem seiner Besuche ward Sara eine Unruhe an ihm gewahr, die ihr Herz, das schon so innig an ihm hieng, mit Besorgniß erfüllte; umsonst aber forschte sie mit [180] schüchterner Freundlichkeit, woher seine Laune entstünde: ohne sie zu befriedigen, fesselte sein Stillschweigen das weiche Mädchen durch die süsse Abhängigkeit der Liebe. Bald nachher gelangte die Nachricht von der Flucht des unglüklichen Ludwigs in die entferntesten Gegenden, und erfüllte alle Gemüther mit Schreken, Haß, oder übermüthiger Freude. Jede Schenke war jezt eine Schule des Aufruhrs, wo bald ein feiger, herrschsüchtiger Priester die getreuen Diener des königlichen Hauses aufbot, bald ein kühner Patriot oder ein feiler Emissar Königshaß, Freiheit und Rache predigte. Es blieb nicht bei müßigem Geschwäz; die Nachricht von der glüklich gelungenen Flucht ward zwar widerrufen, aber die losgelassenen wilden Leidenschaften liessen sich nicht so leicht an die Kette des Gehorsams zurükführen. Zahlreiche Haufen von Menschen, welche durch die neuen Einrichtungen ihres ehrlichen oder unehrlichen Broderwerbs beraubt waren, [181] rotteten sich zusammen, überfielen die als patriotisch bekannten Communen, und plünderten oder mishandelten die Einwohner, wo keine zeitigen Widerstandsanstalten sie abschrekten. Die ganze benachbarte Gegend stand unter Waffen, die Nachrichten aus der Hauptstadt lauteten verworren und drohend; alle Sicherheitsmaßregeln die von dem Siz der Herrschaft aus verordnet wurden, verloren ihre Kraft, indem sie hier mit niederträchtiger Kriecherei gegen die Vornehmen, und despotischer Härte gegen das Volk, dort mit unvorsichtiger Vergünstigung gegen das lezte, und leidenschaftlichem Uebermuth gegen die Gutsbesizer vollstrekt wurden. Oft begaben sich die Municipalitätsbeamten mit ängstlicher Demuth auf die Schlösser, um die von der Nationalversammlung anbefohlne Auslieferung aller Waffen zu betreiben. Man empfieng sie mit einem Schmaus, wo die herablassende Güte der Herrschaft ihre ehrwürdige Sendung [182] erniedrigte, und sie kehrten, unter tiefen Verbeugungen, mit etlichen Jagdflinten zurük, die ihnen ein Lakai nicht ohne einige Persiflagen auslieferte, indeß in den unterirdischen Gewölben des Schlosses Tausende von Patronen verfertigt wurden, und die Gewehre angehäuft lagen. Im Distrikt von Saumür hingegen war ein Freund des alten Berthier an der Spize der Municipalitätsbeamten, welche die Auslieferung der Waffen besorgten; und dieser sezte seinen Auftrag mit der Unerschrokenheit, welche das Bewußtseyn der Gesezmäßigkeit immer geben sollte, aber auch mit der Härte lang erwarteter Rache durch. Der Mann hatte nichts von Berthiers menschlichweiser Güte, er hatte nur seinen kühnen Geist; alles was ihm sein Freund von Seldorfs Unglük, von seiner unschädlichen Einsamkeit gesagt hatte, verlöschte den Eindruk nicht von dem Kaltsinn, mit welchem Seldorf jeden stürmischen Patrioten aufnahm;[183] und der Nahme seines Sohnes, der jezt unter den Anhängern des Hofs genannt wurde, und dem man in dem kleinen Zirkel seiner Bekannten mehr Antheil an der Entweichung des Königs zuschrieb, als er je gehabt hatte, führte den Mann, der zum kalten und paßiven Handhaber des Gesezes bestellt war, mit dem einseitigen beleidigenden Vorurtheil des Argwohns inSeldorfs Haus, als auf seiner Runde dieses die Reihe traf.
Seit jenem Abend, an welchem Sara über L***'s Betragen unruhig gewesen war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Alle fürchterlichen, abentheuerlichen Nachrichten, die sie seitdem vernommen hatte, alle Besorgnisse wegen der Zukunft hatte sie allein ertragen und bekämpft; die Sehnsucht nach dem Gegenstand ihrer Zärtlichkeit, und die Bangigkeit über sein Schiksal zerrissen zugleich ihr Herz, und erschwerten mehr wie jemals ihre Bemühungen, die Bitterkeit ihres Vaters zu [184] besänftigen. Sie sann umsonst, was in einem Augenblik wo Gefahr von allen Seiten her drohte, ihren Freund entfernt halten konnte, unter dessen Augen sie sich geborgen dünkte, wie das Kind in der Mutter Armen. Die schrekliche Erzählung, die sich von dem Tag des Marsfeldes verbreitete, sezte ihrer Einbildungskraft von neuem zu; jede laute Stimme unten im Dorf, jedes ferne Getös schien ihr Tumult und Mord zu verkünden. Ruhig wie ein abgeschiedner Geist von dem Leben im Staube spricht, wenn er in einer stürmischen Mitternachtsstunde seinen zurükgelaßnen Freunden erscheint, hatte sich indessen Seldorf mit Sara in ein Gespräch über ihre Kinderjahre, und über das Glük, das sein Vaterherz sich von ihrer Jugend versprochen hatte, vertieft. Mit grausamer Kälte zerrieß er sein eignes Gefühl, und erzählte wie er gehoft hätte, diesen Theil des Hauses sollte Theodor einst mit seinem Weibe bewohnen,[185] dort würde Sara sein Alter pflegen; er sprach weiter, wie er manchen Baum gepflanzt hätte, um mit seinen Enkeln unter dessen Schatten zu spielen, und wie dort jenes Feld nur mit einer leichten Heke umzäunt wäre, weil er, wenn die Wirthschaft grösser geworden wäre, des Nachbars Grundstüke dazu gekauft haben würde.Sara hörte bang diesem hofnungslosen Herzählen nie genossenen Glükes zu, und suchte, mit einem Herzen das fast von Wehmuth brach, seine Träume an die Zukunft zu knüpfen. Seldorf hielt inne, und ließ sie allein sprechen; ermuntert durch sein Stillschweigen, glaubte das gute Mädchen, über des Vaters finstern Dämon zu siegen, als Seldorf langsam den Kopf schüttelte, und mit seinem matten erstorbnen Tone sagte: Du wirst bald vergebens meine Spur und meiner Träume Denkmäler hier suchen – Diese Worte durchfuhren Sara mit einem Schauder, und unvermögend [186] zu sprechen, verfolgte sie mit thränenschwerem Blik seinen wankenden Schritt, mit welchem er unter den Bäumen verschwand. Sie saß lange in tiefem Gram versunken, als sie plözlich von einem Wortwechsel, und von der Stimme ihres Vaters erwekt wurde, welcher mit einer Heftigkeit und Stärke, die ihr ganz unbegreiflich waren, sich zu verantworten schien. Sie eilte auf das Haus zu, und fand die Municipalitätskommission, deren Anführer mit Seldorf im Streit begriffen war. Unglüklicher Weise fiel die Scene auf einem mit Bäumen bepflanzten Plaze vor dem Hause vor, und hatte einen Haufen von Menschen zu Zeugen, die zum Theil nicht aus den besten Absichten den Kommissarien auf allen Tritten folgten. Seldorf hatte die ganze Zumuthung als einen Eingrif in das Eigenthumsrecht jedes Hausherrn angesehen, und die erste Anrede mit mehr Stolz als Gleichgültigkeit beantwortet. Uebrigens weit entfernt [187] sich zu widersezen, befahl er alles Gewehr herbeizubringen; und ohne den unzeitigen Eifer von Berthiers Freund hätte die Sache hier endigen können; dieser konnte sich aber nicht enthalten, einige sehr beissende Anmerkungen über die Zierlichkeit der wenigen Jagdflinten, die man ihm vorlegte, zu machen; mühsam an sich haltend, sagte Seldorf: um einem jungen Menschen auf der Jagd zu dienen, nähme man keine Musketen, und einen andern Gebrauch hätten diese Gewehre nie gehabt, denn sie gehörten seinem Sohn. Der unglükliche Name, und der Zusammenhang in welchem er hier vorkam, vermehrten die Bitterkeit des Kommissairs; bald erfolgte die Beschuldigung, es müßte anders Gewehr im Haus verborgen seyn, und wie Sara herbei eilte, drang die Kommission in das Haus um es zu durchsuchen. Von Schreken ausser sich rief Sara um Hülfe, und hielt ihren Vater, der vor Wuth mit [188] den Zähnen knirschend eines der vor ihm liegenden Jagdmesser mit seiner linken Hand aufnehmen wollte. Das umstehende Volk ward unruhig, ein Theil aus Schreken über den Auftritt, ein Theil aus boshafter Freude am Unfug; hie und da wollte ein bestochner Taugenichts es aufhezen, die Abgeordneten der Nation zu vertheidigen, und war so frech zu versichern, daß eine aufgehäufte Rüstkammer im Schloß verborgen sei. Um das Unglük zu vollenden, eilten einige Bedienten des Hauses, die im Feld gearbeitet hatten, mit den ersten besten Waffen herbei, und stellten sich neben ihren Herrn; der Auftritt hätte nun wahrscheinlich eine blutige Wendung genommen, wenn nicht der alte Berthier auf den ersten Lärm, der zu ihm gelangte, herzugeeilt wäre, und mit der ihm eignen Geradheit die Hize der Kommissairs gemildert hätte. Er ließ sie ihre Nachsuchungen fortsezen, führte sie sogar in alle ihm bekannte Winkel des [189] Hauses, und forderte sie endlich ernsthaft auf, vor dem nämlichen Haufen, der die Beschuldigung angehört, Seldorf auch Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Zu einem solchen Schritt hatte aber Berthiers Freund nicht Biegsamkeit genug. Seldorfs heftige Aeusserungen schienen ihm so gefährlich wie verborgne Waffen, und er kehrte mit einer sehr unüberlegten Ermahnung zu Seldorf zurük. Dieser hatte in seiner kranken HizeBerthiers Dazwischenkunft, und sein Betragen gegen die Kommissarien, wovon die erschroknen Hausbedienten, welche Zeugen dabei waren, ihm einseitige und falsche Berichte hinterbrachten, ganz misverstanden; zu stolz um gegen den andern noch ein Wort zu verlieren, warf er mit ausbrechender Bitterkeit dem wohlmeinenden Alten sein treuloses Betragen vor, und nannte mit einer höhnenden Anwendung diese Misbräuche eine Geburt der neuen Freiheit. Der patriotische Kommissair [190] schäumte; der alte Mann war über Seldorfs Unvorsichtigkeit und Gefahr zu betroffen, um sich bei der persönlichen Beleidigung aufzuhalten – er wandte sich zu den Kommissairs, und sagte fast ruhig: der Mann ist krank; laßt ihn, ich bürge für ihn. Hierauf legte er seine Hand auf Sara's Schulter. Ich habe Rogers Stelle vertreten wollen, sagte er, suchen Sie mich wenn Sie mich brauchen. – Er zog die Kommissairs mit sich fort; und jezt gelang es endlich dem armen geängsteten Mädchen, ihren Vater zu bereden, daß er auf sein Zimmer gieng.
Der heftigen Aufwallung folgte eine so grimmige Bitterkeit, daß Sara es nicht wagen durfte, ihn allein zu lassen. Mit bangem Herzen duldete sie sein Schelten, seine Ungerechtigkeit, seinen Groll, und nahm zugleich mit unbeschreiblicher Angst wahr, daß bei einbrechender Dunkelheit Haufen von Männern um das Haus schlichen, und von [191] der Dorfschenke lautes Geschrei herschallte. Der Vater, welcher in seinem Unmuth ihren innern Kampf nicht bemerkte, und ihr sogar über ihre Ruhe Vorwürfe machte, nahm ihr endlich zornig ein Buch aus der Hand, in welchem sie, um Fassung zu finden, einige Minuten gelesen hatte: Du bist glüklich, sagte er; die erdichteten Leiden deiner Bücherhelden trösten dich über die Schmach deines Vaters – aber schnell legte er das offne Buch, das er von Sara's Thränen überflossen fand, vor sich hin, und blikte erschroken auf seine Tochter, die von Weinen erstikt und sprachlos vor ihm stand. Einige Augenblike stüzte er den Kopf auf beide Arme, dann stand er auf, faßte die Hände seiner Tochter, drükte sie an seine Lippen, und rief: verzeih, Sara! verzeih meinem wachsenden Elend! – welches fühlende Herz denkt sich nicht das Ende dieses Auftritts? Fast glüklich durch das Uebermaas seines Unglüks, weil er ein lebhaftes Gefühl [192] für die Würklichkeit darinn wiedergefunden hatte, schikte Seldorf sein geliebtes Kind früh auf ihr Zimmer; und sie war so müde von Schmerz, daß sie die Nachricht einer Magd, das Dorf sei voll von fremden Männern, die auf der Strasse herumschwärmten, kaum hörte. Eh sie sich zur Ruhe legte, dachte sie noch einmal an Berthiers Worte: er hätte Rogers Stelle vertreten wollen. Wäre er hier! seufzte sie leise – und mit noch sehnlicherem, aber furchtsamerem Wunsche seufzte sie noch einmal: wäre er hier! und hatte L***'s Bild vor der Seele.
Kaum hatte der erste Schlaf sich ihrer bemächtigt, als sie durch ein dumpfes Getöse erwekt aufsprang. Plözlich wurde ihre Thüre aufgerissen, und ihr Vater trat mit L*** herein: eile, rief er; wir müssen uns retten, die Ungeheuer sind schon nahe. – Sara erblaßte, fragte, warf ihren Mantel um, und fast getragen von L*** verließ sie das Haus. Gleich [193] darauf schien ein tobender Lärm anzugehen, sie sah Fakeln, hörte Schüsse fallen, und kam halb entseelt bei einer Chaise an, welche von einem Haufen von Bewafneten bewacht wurde, denen L*** sie und ihren Vater übergab, sich sodann auf ein Pferd schwang, und in der dunkeln Nacht verschwand.
Sie fuhren einige Meilen, und hielten endlich bei einem abgelegenen zierlichen Hause still, wo jedoch keine Anstalt zu ihrem Empfang gemacht war; ihre Begleiter selbst schienen hier eben so fremd und verwundert als sie, und verlohren sich bald nach ihrer Ankunft. Sara's Empfindungen waren zu widersprechend, als daß ihre Fassung so bald hätte zurükkehren können. Der fürchterlichste Augenblik ihres Lebens, das sicherste Unglük hatte etwas süsses für sie, weil sie sich wieder unter L***'s Schuz gefühlt hatte. Indessen war das Herz, das so innig liebte, nicht abgestumpft für das Gefühl dieses Unglüks; ihr erstes deutliches [194] Bewußtseyn war der Anblik ihres Vaters, der mit finstrer Stirn und glühenden Wangen heftig auf und nieder gieng; sie ergrif seine Hand: Vater, rief sie, ich bin nicht muthlos; verzeih diesen unwillkührlichen Schreken, der mich betäubte. Sage, wo sind wir? was drohte, was rettete uns? – Drohen? antwortete Seldorf, und hielt in seinem raschen Schritt einen Augenblik inne, um seine von unnatürlichem Feuer blizenden Augen auf sie zu heften; die Menschen, die mich seit sieben Jahren Vater nannten, wollten den Vater im Schlaf ermorden – Und L***? rief Sara zitternd. – Ist ihr Helfershelfer oder mein Schuzgeist, murmelte er, und riß sich los, um seinen Gang fortzusezen.
Ihr Herz stand still, sie sezte sich an ein Fenster – durch die Luft rauschte ein heftiger Gewittersturm, einzelne Blize erleuchteten eine ihr ganz fremde Gegend, und zeigten ihr Reiter und Männer, die an den Mauern der Hofgebäude [195] hielten. Endlich hörte sie, nachdem das Wetter einen Augenblik nachgelassen, eine grosse Pforte öfnen, es entstand ein verwirrtes Getümmel von Menschen und Rossen, aber ein Bliz, der bald darauf folgte, ließ sie nichts wahrnehmen als eine todte Leere über dem ganzen Hof. Seldorf hatte sich auf einen Lehnsessel gestrekt, und war endlich nach unnatürlicher Spannung seiner Nerven in einen betäubten Schlummer gefallen. Rund umher ward es immer stiller, der Morgen brach an, Sara hörte in der Ferne das Gebell der Dorfhunde, das Geklirr vorbeifahrender Akersleute. Sie konnte nun die Lage des Hauses unterscheiden, es war am Eingang eines Waldes, und nur mit Ställen umgeben; nach und nach vernahm sie daß man darinn munter wurde, sie hörte einige Thüren auf und zuschlagen, sah Vieh aus den Ställen treiben – endlich erschienen einige Reiter mit Jagdflinten bewaffnet, L*** war [196] an ihrer Spize, sie sprengten in den Hof, bald eilten sie die Treppe herauf. Sara's Herz schlug ungestüm. Mitschuldiger oder Schuzengel – o ihr Herz hatte längst gewählt, aber die Ungewißheit ihres Vaters scheuchte die reine Aeusserung ihres Kindersinnes grausam zurük. Seldorf blieb in seinem matten Schlummer versunken; aber bei L***'s Eintritt war aus Sara's Herzen alles andre verschwunden, unwillkührlich blos von der Nähe ihres Schuzgeistes ergriffen, lief sie, so unbefangen als träte ihr Bruder herein, auf ihn zu – ihre Hand lag in der seinigen, und wie er reden wollte, deutete sie mit der Heiterkeit eines Engels auf ihren schlafenden Vater. L*** verstand sie, führte sie in das Vorzimmer, wo seine Begleiter im Hintergrund um einen Tisch mit Trinkgeräth und Speisen sassen, und sezte sich neben ihr nieder.
Deutlich genug ist der Gang, den Sara's Herz genommen hatte, und die Stimmung [197] in welcher sie sich jezt befand. Aber konnte es einen Bösewicht geben, der nicht wider Willen alle Seligkeit der Tugend geahnet hätte, indem das unschuldigste, reinste Geschöpf das Bild der höchsten Tugend in ihm verehrte? Und würklich war es nicht die Seele eines Bösewichts, die sich auf L***'s schönem Gesicht mahlte, wie er des entzükten Mädchens Dankesthränen fliessen sah, wie er ihre Fragen beantwortete, wie er die schuldlose Unbefangenheit, mit welcher sie seine Hand an ihre Lippen drükte, so ehrfurchtsvoll und gerührt zu empfinden schien. Sara erhielt nun die Auflösung des Räthsels, die ihr zerstörter Kopf so lange umsonst gesucht hatte. Der gestrige unglükliche Auftritt hatte bestochenen Aufruhrstiftern den abscheulichen Gedanken eingegeben, das gegen Seldorf entstandene Mistrauen zu reizen, und unter dem heiligen Vorwand des Patriotismus, sein Betragen als eine offenbare Auflehnung gegen die constituirten [198] Autoritäten vorzustellen. Wie es schien, waren andre Bösewichter von demselben Schlag aus einem benachbarten Departement herübergekommen, und hatten eine Handvoll rüstiger unzufriedner Burschen mit in das Komplott gezogen, indem sie ihnen vorgespiegelt hatten, es sei Pflicht gegen das Vaterland, einem so gefährlichen Mann seine Mittel zur Contrerevolution zu nehmen, und man wolle das Haus blos von den darinn verstekten Waffen reinigen, damit der Befehl der Gesezgeber doch vollstrekt würde, indem die dazu bestellte Kommission durch Gewalt zum Abzug genöthigt worden wäre. Einige von L***'s Jägern waren noch spät im Wirthshaus bei Seldorfs Gut gewesen, hatten etwas von jenem Vorhaben abnehmen können, und waren geeilt, es ihrem Herrn zu hinterbringen, der erst gestern von einer Geschäftsreise in dem Schloß eines benachbarten Freundes angelangt war. L*** erkannte die Gefahr des Augenbliks, [199] Anstalten zur Gegenwehr waren nicht mehr zu treffen, und diese lagen ohnehin der Obrigkeit des Orts ob; er konnte also blos für Seldorfs persönliche Rettung sorgen. Er bat den Freund, bei welchem er war, um eine Kalesche und um Begleiter, und eilte nach Seldorfs Schloß, dessen Vorderseite schon von den Bösewichtern umzingelt war. Er erinnerte sich der Gartenpforte, durch welche er zuerst eingetreten war, brach hier durch, wekte Seldorf, der, von seinen Leuten verrathen oder verlassen, unbesorgt schlief, und überzeugte den unglüklichen Mann bald von der Nichtigkeit eines Versuchs, den Rasenden ihr Unrecht vorzustellen. Das Haus, in welches er sie bringen lassen, war ein Jagdhaus, das einem seiner Freunde zugehörte, und zu keinem andern Gebrauch, als einzelnen Landfesten, oder höchstens einem Nachtlager bei Jagdpartien bestimmt war. Er versicherte Sara, das Ganze sähe noch viel zufälliger aus [200] als es würklich wäre, weil die Leute im Haus nicht einmal etwas von ihrer nächtlichen Ankunft erfahren hätten, sondern sie erst jezt in seiner Gesellschaft angelangt glaubten; seine Freunde hätten alles allein besorgt, daher rührte auch der Mangel an allen Bequemlichkeiten die Nacht über – Wie? unterbrach ihn Sara, die Menge von Reitern, die diese Nacht den Hof anfüllten, die Zeichen, die ich durch den Gewittersturm vernahm, konnten den Hausleuten unbekannt bleiben? – Eine unmerkliche Veränderung gieng hier in L***'s Gesicht vor, er sah fest in Sara's Auge: was Reiter, liebes Fräulein? Meine Freunde blieben doch nicht so lange hier – Nein, Ihre Freunde liessen uns ja allein, sie verloren sich in dem Augenblik da wir ankamen; wir blieben ja unbegreiflich einsam in diesem Hause; aber der ganze Hof war voll von Menschen, die scheu und heimlich ihren Pferden schmeichelten, daß sie still blieben, und ihre Waffen[201] fest zusammen faßten damit sie nicht klirrten. Ach L***! diese Nacht, diese Reiter! Sie müssen mir verzeihen, wenn ich Verrath fürchte sobald mein Schuzgeist fern ist – Sie blikte ihn so bittend mit gefaltenen Händen an, als fürchtete sie, sein Ohr möchte es hören, wie laut in diesem Augenblik die Worte ihres Vaters in ihrem Herzen wiederhallten. Gute Sara! sagte L*** voll Güte und Ruhe; armes banges Mädchen, werfen Sie die Schreken Ihrer Einbildungskraft von sich, fühlen Sie wie gefährlich diese Furcht vor Verrath selbst in Ihrem schönen Herzen ist! Meine Freunde können sich des Gewitters wegen verweilt haben; ich hatte sie so ernstlich gebeten, Ihnen Ihren Vater allein zu überlassen, daß sie alles gethan haben werden, damit das Haus nicht wach würde. Sie wissen, wie wenig eine Zuflucht bei dem Vicomte *** dazu gemacht war, die Rasenden, die Ihnen drohten, zu besänftigen – O so lassen Sie uns dies [202] Haus verlassen! rief Sara erschroken; guter L***, unser Schuzengel, unser Retter! lassen Sie meinen Vater in sein Haus zurükkehren; die Menschen werden ihn ja nun in Ruhe lassen, sie haben sich ja nun überzeugt, wie grausam falsch ihr Verdacht war. – Sie weinte über die neue Gefahr ihres Vaters, L*** faßte ihre beiden Hände, die sie gegen ihn aufhob: Meine Freundin, meine theure würdige Freundin, ich will, ich kann Sie trösten und schüzen, aber ich fordere auch Muth.... ich habe noch nicht auserzählt. Sie müssen Ihren Vater, mit der Ihnen eignen, liebenswürdigen Schonung vorbereiten .... zu einem längeren Aufenthalt hier oder an einem andern Ort, über welchen wir einig werden müssen, überreden .... sanftes, gutes Kind, Sie müssen es über sich nehmen, ihm die Trennung von seiner ehemaligen Wohnung vorzuschlagen. – Nie, niemals! das kann ich nicht, rief Sara; dort, sagte er noch gestern, wollte er [203] leben und sterben; es wird bei seinem Erwachen sein erster Gedanke seyn, dahin zurükzugehen – Er kann nicht, Sara! Seine Wohnung liegt in Asche, die Verwüstung hat alles ergriffen: soll der alte Mann die rauchenden Trümmer erblicken? – Das unglükliche Mädchen blieb versteinert, ihre aufgehobnen Hände sanken langsam auf ihren Schoos herab, auf ihrem bleichen Gesicht kämpften Ergebung und Schreken; mit einem Strom von Thränen rief sie endlich leise aus: rauchende Trümmer! Armer alter Mann, du selbst solltest noch vergebens die Spur deines Daseyns suchen? – L*** verstand die Veranlassung dieser Worte nicht; aber dieses Gesicht, von welchem der Kummer so plozlich die Farbe der Jugend verwischt hatte, und das in seinem unaussprechlichen Schmerz doch so nahe an kindlichste Ergebung gränzte, benahm ihm auf einen Augenblik die Fähigkeit, sie zu trösten. Seine Augen ruhten auf ihr, bis sie von Thränen verfinstert [204] sich abwandten, er stand von seinem Siz auf, und gieng mit langsamen leisen Schritten vor Sara's Stuhle auf und ab. Sie weinte einige Augenblike sanft und still, horchte dann auf, und winkte L*** zu sich; sie stand auf, und indem sie auf das innere Zimmer zugieng, sagte sie mit rührender Fassung zu ihm: Jezt habe ich Muth! Mein Vater ist, glaube ich, aufgewacht, stehen Sie uns mit Ihrem Rathe bei. – Sie fanden den armen Seldorf würklich von seinem tiefen Schlaf erwacht, aber in einer Mattigkeit, welche die Erinnerung des vorhergehenden Abends sehr geschwächt zu haben schien; sein Wesen drükte mehr Verwunderung über die Neuheit der Scene aus, und ein schwaches Lächeln von Freude, wie Sara vor ihm hinkniete, und seine Hände an ihre Brust drükend, nach seinem Befinden frug. Er erblikte jezt auch L***, und schien in dem Augenblik von einem unwillkührlichen Schauder überfahren; die vergangne[205] Nacht trat aus ihrer Finsterniß hervor, er fragte nach der Zeit, nach der Lage der Sachen; und Sara nahm mit einer Fassung, mit einer Leichtigkeit, durch welche sie sich aufzusparen schien, um nur in den Ausdruk ihrer Liebe ihre ganze Seele zu legen, das Wort, ließ sich für's erste in eine Erzählung von der Entstehung des Aufruhrs ein, zog ihren Freund, der ihre Absicht schnell begrif und ihr beistand, mit in's Gespräch, und war geflissentlich so weitläuftig, daß sie Zeit gewann ihren Vater ein Frühstük einnehmen zu lassen, für welches L*** gesorgt hatte. Ihre unglaubliche Empfänglichkeit machte daß sie den gewaltsamen Kampf, wo ihr Muth eben gesiegt hatte, in der Ruhe des Augenbliks vergaß. Die heiterste Luft fächelte durch die offenen Fenster ihr heisses Gesicht, das Geräusch einer ländlichen Wirthschaft zauberte ein seltsames Gefühl von häuslichen Freuden in ihr hervor, die Gegenwart ihres Geliebten, der mit zärtlicher Bangigkeit [206] vor dem Ausgang seine Blike kaum von ihr verwandte, und ihr in dem fremden Aufenthalt hundert kleine Dienste leistete, wiegte sie täuschend in die anfangs erzwungne Stimmung ein; kurz alles riß das überspannte Geschöpf zu einer Heiterkeit hin, die unter diesen Umständen zu sonderbar war, um von Seldorf ganz unbemerkt zu bleiben. Er blikte sie ein Paarmal halb fragend an; diese Blike und L***'s zärtliche Geschäftigkeit riefen durch eine ganz entgegengesezte Ideenverbindung jenen Abend in ihr zurük, wo der alte Berthier ihr und Rogern so ungewiß zusah, wo Theodor aus dem väterlichen Hause entwich, und wo der erste Pfeil ihres armen Vaters nun fast verblutetes Herz traf. An jenem Abend, so quälend er war, ahnete sie noch keine so finstre Zukunft! Und alles, alles, was sie damals liebend quälte, war nun dahin – Theodor, Roger! beide fern und entfremdet! Und jenes Haus, jene Gärten![207] – L***, der allen Bewegungen ihrer Seele folgte, und diese Wolke vor ihren Geist treten sah, wekte sie aus dem Trübsinn, in welchen sie verfiel, durch eine zufällige Frage, die zwar ziemlich gleichgültig war, aber der Wohllaut der Liebe in seinem Ton erinnerte sie daß sie jezt ein Gefühl gewonnen, das sie an jenem Abend, welchen sie im Begrif stand für den lezten ihres Glüks zu halten, noch nicht gehabt hätte – sie dachte nicht weiter, sonst hätte sie sich über diesen Leichtsinn Vorwürfe gemacht; aber sie fühlte sich gestärkt, und glaubte sich eine Heldin, da sie doch nur liebte.
Bei dem Fortgang des Gesprächs zeigte es sich, daß die fürchterliche Nachricht, welche Seldorf von der Verwüstung seines Schlosses erhielt, ihn nichts weniger, als unerwartet traf. Seine Bitterkeit hatte das Schreklichste schon vorausgesezt, und er bat mit einer Ruhe, die Sara's Herz durchbohrte, man möchte [208] nur Erkundigungen einziehen, ob gar nichts gerettet wäre, nicht etwa soviel, daß er mit seinem Kinde irgendwo auf dem Lande unterkommen könnte, bis er Mittel gefunden hätte, einen Theil des kleinen Kapitals, das er in Paris stehen hätte, einzunehmen. Es war dein Erbtheil, mein Kind, sagte er, indem er sich gegen Sara wandte; du wirst es als eine Erleichterung in deinem Unglük fühlen, deinen Vater mit deinem Vermögen zu ernähren. – Sie dankte ihm voll Wehmuth, und beschäftigte sich nun ernsthaft mit L***, einen Aufenthalt für die Zukunft ausfindig zu machen. Er erbot sich sogleich, nach seines Freundes Schloß zurükzukehren, um von da aus die etwa geretteten Trümmer von Seldorfs Habseligkeiten an sich zu ziehen, undBerthiers Rath über die Vergütung des Schadens einzuholen. Der an Leib und Seele kranke Mann ließ beiBerthiers Namen die erste Spur von Leidenschaft wieder bliken, nachdem [209] er den Brand seiner Wohnung, die Verwüstung seines Jahre lang gepflegten Gartens mit todter Resignation erfahren hatte, entzündete Bitterkeit wieder das erste Fünkchen Feuer in diesem Herzen, das sonst nur der Liebe offen war. Er verbat sich heftig jede Gemeinschaft mit Berthier, und erzählte L*** mit leidenschaftlicher Verblendung den traurigen Auftritt, in welchem er den redlichen Greis so unbillig verkannt hatte. L*** las in Sara's Blik, wie unendlich sie litt, und wie herzlich sie aufBerthiers Hülfe traute, aber Seldorfs unglüklicher Zustand vertrug keinen Widerspruch.
Noch am Abend desselben Tags eilte L*** nach der Brandstätte, und fand würklich alles verwüstet. Die Rasenden hatten den Wink heuchlerischer Anstifter nur zu gut befolgt. Wehe dem Menschen, der diese Werkzeuge der Hölle zur Vollstrekung seiner Plane braucht! Er giebt die Fakel der Rache in die Hand des [210] Unverstandes, und jedes Unheil, das daraus entsteht, lastet auf der Seele des Frechen, der bei menschlichem Beginnen Gottes Allmacht nachäffen, und die Leidenschaften der Menschen gebrauchen wollte, wie Thau, Gewittersturm und Sonnenschein, um das Saatkorn zu pflegen, das er ausersah. Wehe ihm, wenn es ihm gelang die Menschheit abzulegen, und fühllos über dem Schauplaz seines Handelns zu schweben; aber zehnfach Wehe, wenn der Anblik ihm noch Thränen entlokt, denn von dem ausgedorrten Boden, worauf sie fallen, können sie nimmer die Vergangenheit abwaschen! – Das freundliche Haus, wo man ihn sonst so gastfrei aufnahm, die blühende Natur umher, alles war eine gestaltlose, grause Masse von Schutt und Verwüstung. Die Mauern, die gestern noch mit schüzendem Epheu umwunden unter den hohen Linden hervorblikten, standen jezt schwarz und halb eingestürzt neben den abgebrannten Stämmen. Der schattige [211] Gang nach dem Garten war vom niedergerissenen Gesträuch versperrt; den Bogengang, durch welchen er zuerst hier eingetreten war, fand er von Zweigen entblößt, und an der niedergestürzten Brunnensäule sammelte sich das Wasser in einen schmuzigen Pfuhl. L*** wandelte schaudernd unter den Ruinen umher; aus seinem Gesicht leuchtete nicht die Seele, welche in Sara's Herzen Ruhe, Vertrauen und Hofnung gezaubert hatte. Er sah düster und scheu, wie ein Mörder, der noch einmal an den Leichnamen seiner Erschlagnen vorbei muß: ein Lüftchen, dessen Wehen ihr blutiges Haar bewegt, erstarrt sein Herz – und ein Schauder, daß ihm die Stimme versagte, ergrif L***, da Sara's Hündchen winselnd aus einer verfallenen Thüre kroch, und den alten Hausfreund erkennend, mit einer zerbrochnen Pfote zu ihm hinkte, und seine Füsse lekte. Er nahm das arme Thier schnell auf den Arm, und eilte nach Berthiers [212] Wohnung. Der Alte empfieng ihn weniger unbefangen als mit Fassung und Würde. Er wußte zu L***'s Erstaunen die Art von Seldorfs Rettung und seinen Aufenthalt; er gieng sogleich mit ihm in die näheren Umstände seines Verlustes, und in die Möglichkeiten ein, seine Ländereien zu retten. L*** vermochte nicht den tiefen Eindruk zu verbergen, welchen die Brandstätte in ihm hervorgebracht hatte; da ließ der Greis seinen himmelklaren Blik auf ihm ruhen, als hätte er den Faden zu seinen innersten Gedanken, und mehr ernst wie bedeutend sagte er: Auf dem Wege wo wir wandeln, werden wir noch manche Brandstätte vorbeigehen, und manche Verwüstung lenken. – Flammend sah ihm L*** in's Auge, und sprach: Alter Mann, geh neben mir, der Brandstätten werden weniger seyn – Berthier nahm seine Müze ab, und legte seine Hand auf sein schneeweisses Haupt: Junger Mann, dieser Kopf wußte [213] fast neunzig Jahre allein frei zu seyn. Geh deinen Weg; wir kennen uns nun. – Nach einer tiefen Stille von einigen Sekunden nahmen beide das Gespräch über Seldorfs Angelegenheiten wieder auf, und Berthier erbot sich unter einem angenommenen Namen Seldorfs Güter zu verwalten. Die Sache wurde bei der Commune abgethan, deren Mitglieder allen Verdacht auf ihren unglüklichen Mitbürger von sich ablehnten; und L*** hatte die Freude seiner Sara – denn daß sie sein Eigenthum war und seyn mußte, das sagte ihm jeder Augenblik, den er mit ihr gelebt hatte – seiner Sara Zukunft vor Mangel zu schüzen. Er kam auch wegen eines Aufenthalts überein, den man Seldorf in demselben Distrikt, wo er immer gelebt hatte, verschaffen sollte, und aus welchem er, sobald es seine Gesundheit erlaubte, sein Gut wieder besorgen, und dem Aufbau eines neuen Wohnhauses vorstehen könnte.
[214] Den armen wiedergefundenen Hund gab L*** seiner Pflegerin zurük, er war ein Geschenk von Roger, er entkam aus der Verwüstung ihres Hauses, er war von der geliebtesten Hand gerettet worden – welche Ansprüche an ihr fantastisches Gefühl! Die kleine Familie wurde nach wenigen Tagen bei Varnier, dem ehemaligen Pachter eines adlichen Hauses, welcher durch den Lauf der Revolution und durch ansehnliche Schuldforderungen an seine Herrschaft ein unabhängiger Eigenthümer geworden war, auf eine bequeme Weise untergebracht. Seldorf bestand auf eine strenge Einschränkung, ohne welche er sich bei seiner mistrauischen, einsamen Laune nie ohne Zwang und Verbindlichkeiten gefühlt hätte. Sara sah sich in ein kleines Häuschen verbannt; aber sie ersezte ihrem Vater alles, was ihm an Bequemlichkeit abgieng, und ihr – ersezte die Liebe alle Freuden der Vergangenheit, wie[215] sie das Andenken aller Schreken derselben versüßte.
Seldorfs Gesundheit war so zerrüttet, daß sich kurz nach seinem Einzug in die neue Wohnung ein zehrendes Fieber bei ihm einstellte, welches seine Leidenschaften, aber freilich auch alle Kraft seiner Seele ausser Thätigkeit sezte. Jede äussere Berührung war ihm schmerzhaft, und die abgestorbne Mattigkeit seiner Tage wechselte nur mit der kranken Lebhaftigkeit einiger Abendstunden ab, wo die Fieberhize alle Bilder seines Gehirns aufregte, ohne daß sie bei seinem erschöpften Körper zu etwas mehrerem als Fantasien wurden. Sara pflegte ihn bei seiner Schwäche, und in den Zwischenräumen ihrer Thätigkeit suchte sie seine Einbildungskraft auf beruhigende Gegenstände zu lenken. Wie ein guter Engel wachte sie an seinem Lager über seine Träume; L***'s Beifall und seine kurzen Besuche waren ihr [216] Lohn, ihre Erholung. Ihr Verhältniß, der Zwang, den ihr ihres Vaters Krankheit auflegte, selbst der Reiz des Geheimnisses, wozu sie aus Schonung bei vielen ihrer Handlungen genöthigt war, stifteten den innigsten Bund zwischen dem Geliebten und ihr. Es war nie ein Geständniß vorgefallen, man hatte sich nie erklärt, man hatte sich nie etwas versprochen; aber im reinsten Einverständniß, das Geist und Herz zwischen einem Weib und Mann hervorbringen können, nannte sie ihn Freund, und verbarg sich nicht aus falscher Scham, daß er mehr wie das, daß er Herr ihrer Liebe und ihrer Sinne war. Ihr reines Herz erschrak nicht davor, sich nach dem Mann zu sehnen, den sie zuerst, einzig, und auf ewig liebte. Daß er sie zu seinem Weib machen wollte, hatte er ihr nie gesagt; daß er sie aber wie seine Gattin ehrte, nahm ihr Verstand wahr, und daß sie nur die Seine und nie eines Andern seyn konnte, wußte ihr Gewissen. Von aller [217] Gemeinschaft mit dem Wohnplaz ihrer Jugendjahre getrennt, eingeschränkt und einsam, duldete sie in stillem sanftem Frieden manches Leiden, und vergaß die finstre Zukunft über dem Trost, den die Gegenwart ihr darbot.
Seit der unglüklichen Begebenheit, welche Seldorf aus seiner Heimath vertrieben hatte, waren mehrere Wochen verflossen, und er hatte immer vergeblich auf Antwort von seinem Wechsler in Paris, bei welchem die für Sara's Erbtheil bestimmte Summe niedergelegt war, gewartet. Etwas Papiergeld, das er auf L***'s Erinnerung bei seiner Flucht gerettet, und einige Juwelen hatten ihm bis jezt die Mittel zu seiner Einrichtung und seinem Unterhalt verschaft; endlich fieng er aber an unruhig zu werden, und wendete sich an einen alten Bekannten in der Hauptstadt, um einen Aufschluß über das Stillschweigen zu erhalten. Sara bemerkte, daß ihr Vater nach bald einlaufender Antwort sichtbar finsterer [218] wurde, und sie theilte ihrem Freund ihre schweren Ahnungen über den Gegenstand von ihres Vaters Sorgen mit. Sich vor Mangel zu fürchten, kam der einfachen Seele nie ein; sie erbat und empfieng mit kindlicher Bescheidenheit L***'s Unterstüzung, und glaubte, ihre Pflicht geböte ihr den kleinen Betrug, durch welchen sie ohne sein Vorwissen ihres Vaters Kasse schonte. Aber immer dichter wurde die Wolke, die seine Mattigkeit in Unruhe, seine kranke Heiterkeit in heftige Fieberträume verwandelt hatte; nachdem wieder einige Wochen so vorübergegangen waren, brachte ihm Sara einst, mit bangem Zittern vor dessen Inhalt, ein Paket das mit der Pariser Post einlief. Seldorf hielt es lange in der Hand, besah das Siegel und die Aufschrift, und legte es endlich auf den Tisch vor sich hin. Mit unruhiger Erwartung machte sich Sara einige Geschäfte im Zimmer, und fragte endlich furchtsam: willst du nicht lesen, [219] ehe ich dir dein Abendbrod bringe? – Nein, meine Liebe! antwortete Seldorf; es kann viele Briefe enthalten, es kann mich stören, und ich habe Lust heiter zu seyn. Komm, seze dich zu mir; wir wollen nach dem Abendessen die Briefe ansehen. – Sara wußte nicht, ob sie sich über diese Fassung freuen, oder darum noch banger seyn sollte; sie faßte aber mit herzlicher Theilnahme seine Absicht auf, und suchte ihm den Abend durch ihre Heiterkeit angenehm zu machen, so deutlich sie auch wahrnahm, daß er, so oft sein Auge auf die Briefe fiel, gegen eine unwillkührliche Furcht arbeitete.
Er betrog sich selbst durch eine lange und mühsam fortgesezte Unterredung, und erbrach endlich mit einer geflissentlichen Zerstreuung die Briefe, die er im Gespräch mit den Augen durchzulaufen anfieng.Sara's Herz klopfte, da sie seine Stimme immer ungleicher, seine Reden immer unzusammenhängender werden [220] hörte; endlich dekte Todtenblässe sein Gesicht, er las schweigend fort, athmete tief, schlug sich mit dem zusammengelegten Papier vor die Stirn, und stieß einige unverständliche, abgebrochne Reden aus, worunter Sara nur die Worte unterschied: Weib, Weib! Geht die Rache aus deinem Grab hervor? –Sara bat umsonst, bedekte umsonst seine Hände mit ihren Küssen, suchte umsonst die unseligen Papiere vor ihm zu verbergen; er stieß sie matt zurük, und rief endlich mit erzwungner Festigkeit: ich will lesen! – Er las, dachte nach, rief: Nie! nie! .... dieses verhaßte Geschlecht! – Das Blatt fiel ihm aus den Händen: Unglüklicher! .... Sara du bist eine Bettlerin. Dein Bruder hat dir dein Eigenthum gestohlen – Ich verzeihe ihm, mein Vater! Ich will arbeiten; es soll mir nie fehlen, es soll dich nie schmerzen, und ihn nicht reuen. Höre nur dein Kind, und verschliesse mir dein Herz nicht – Es war unmöglich, [221] dem dringenden sanften Flehen zu widerstehen; es war dem gebrochnen Herzen des armen Seldorf unmöglich, den Trost ganz von sich zu stossen, den ihm sein weinendes Kind in der Fülle ihrer Liebe bot. – Sara, sagte er nach langem Kampfe mit sich selbst, dein Bruder zwingt mich, den Schleier zu zerreissen, mit dem ich von jeher meine Vergangenheit umhüllte, und sie nach meinem Tod auf ewig zu vertilgen hofte. Nicht meine Schande habe ich vor euch geheim gehalten, sonst hätte jedes Zeichen eurer kindlichen Ehrfurcht mein Gewissen empört; aber mein Unglük sollte euch unbekannt bleiben, die Welt sollte euern jungen Herzen nicht als das Grab meiner Seligkeit, die Menschen nicht als die Mörder meiner Ruhe erscheinen. Von Täuschung zu Täuschung verführt, fühle ich schon lange daß die lezte nur im Grabe verschwinden wird. Mag es dann aber noch einmal Täuschung seyn! Mit Schande sollst du mein Elend nicht [222] krönen, thöriger Bube! Du sollst deinem Vater, du sollst der Natur, oder deinen unsinnigen Entwürfen entsagen – Seine trüben Augen glühten, indem er dies sprach, und er hob drohend seinen zitternden Arm auf, als stünde Theodor vor ihm. Er reichte nun seiner Tochter einen langen Brief ihres Bruders hin, und befahl ihr, ohne eine einzige Frage an ihn zu thun, denselben zu lesen; er würde ihr nach her durch die Erzählung seiner früheren Geschichte die Ursache seiner Bewegung erklären. – Opfre mir diese Nacht deinen Schlaf, sagte er, und zeigte auf seine Uhr, nach welcher es fast Mitternacht war; ich muß eilen ihn zu retten, wenn er noch zu retten ist; ich muß eilen, eh diese lezte gespannte Kraft niedersinkt – Er drükte Sara's Hand an seine brennende Stirn; sie las.
Dieser Brief, der im Original, ausser einer Menge überflüssiger Details, viel politisches Raisonnement, und dunkle Hindeutungen auf [223] die verworrnen Plane enthielt, zu denen Theodors fantastische Grundsäze und hochfliegende Erwartungen sich so leicht misbrauchen liessen, kann hier nur theilweise geliefert werden. Die hauptsächlichen Plane aller Parteien in der grosen, noch unentschiednen Sache des Menschengeschlechts sind bekannt genug; und um die Verirrungen und das Elend einiger unbekannten Unglüklichen aus der zahllosen Menge derer, die in den lezten fünf Jahren litten, zu bemitleiden, braucht man die verworrnen Fäden der Ehrsucht und der Falschheit nicht zu verfolgen. Theodors Unglük und Fehltritte entstanden nicht aus seiner Lage in der Hauptstadt, er brachte den Keim dazu in seinem Herzen mit; und er hätte des Grafen von Vieilleroche Schwiegersohn oder Chabots Schwager seyn mögen, er wäre doch nie in der Einfalt des Geistes gewandelt.
[224] Theodor an seinen Vater.
»Ihr lezter Brief, mein geliebter Vater, und noch mehr die Erkundigung, die Sie durch Herrn von Montgrand meinetwegen haben einziehen lassen, überzeugen mich von meiner Pflicht, Ihnen so weit es heiligere Pflichten zulassen, das Geheimniß meiner Lage zu entdeken. Da Sie mich zur Wahrheit und Offenheit aufzogen, so müssen Sie fühlen wie schwer die Nothwendigkeit, bis jezt zu schweigen, mich drükte, und wie wichtig meine Gründe dazu seyn mußten. Sollte ich mich Ihnen nicht ganz verständlich machen, sollte mir Ihr Beifall fehlen, so beschwöre ich Sie, theilen Sie wenigstens die hohe Ruhe meines Bewußtseyns, meiner Ueberzeugung und meinem König mein Leben geweiht, und vielleicht sogar meine Pflichten zum Opfer gebracht zu haben. Lesen Sie die folgenden Blätter, und urtheilen Sie selbst.
Ich verließ meine Heimath mit dem unbestimmten Verlangen, eine Richtschnur meiner [225] Handlungen, einen festen Punkt für meine Grundsäze, einen Würkungskreis für meine Kräfte zu finden. Ihr ewig verehrter Wille war es nicht, mir durch Ihre Erfahrungen fortzuhelfen; aber Sie hatten mir den Gehorsam zu werth gemacht, als daß ich mich einer Herrschaft, deren Weisheit ich anerkannte, hätte entziehen mögen; und meiner Jugendfreunde unbegränzte Vor liebe für Freiheit und Gleichheit verlezte zu oft mein verfeinertes Gefühl für das Schöne und Erhabne, als daß nicht immer gewisse Ahnungen in mir gelegen hätten, die nur einer glüklichen Entwikelung durch den Zufall bedurften, um mich meinen ganzen Beruf als Vertheidiger eines beleidigten, edeln Königs fühlen zu lassen.
Von diesem unerwarteten Zufall, der mir eine würdige Laufbahn öfnete, bin ich Ihnen, mein theuerster Vater, Rechenschaft schuldig. Ich langte in Paris an, ohne alle Bekanntschaft, ohne alle Lokalkenntniß; ich folgte dem [226] Strom des grossen Haufens, der bald hier bald dort hintrieb, besuchte öffentliche Oerter, beobachtete die Vorübergehenden, und fieng schon an, mich in diesem Gewühl einsamer als in einer Wüste zu fühlen. Die verschiednen Meinungen, die ich um mich her äussern hörte, waren wie Irrlichter, welche den Wandrer verwirren, indem sie ihm mehrere Ziele auf einmal zeigen. Eines Abends stieß ich in den Elisäischen Feldern auf eine Gruppe von Leuten, die, um einen Mann versammelt, heftig gegen ihn stritten, und ihn mit den leidenschaftlichen Ausdrüken belegte, welche die getreuen Anhänger unsers guten Königs seit einiger Zeit von der Wuth des Pöbels leiden müssen. Er ward beschuldigt, Botschafter der Emigrirten zu seyn, verfängliche Briefe zu bestellen, und dergleichen mehr; im Vorbeigehen sah ich ihn seine Roktaschen umkehren, wahrscheinlich zum Beweis daß er keine Papiere bei sich trüge; der Mann ward alsdann von [227] dem Haufen fortgeführt, und ich verfolgte meinen Weg. Kurz darauf da ich fünfzehn bis zwanzig Schritte weiter durch das Gras gegangen war, sah ich etwas farbiges zu meinen Füssen liegen: es war ein kleines buntes Säkchen, worinn ich etwas rundes, wie eine Geldmünze, fühlte. Neben mir war eine Allee von hohen Bäumen, in welcher nur wenige Fusgänger wandelten; ich sezte mich hier auf eine Bank, um die verschlungene Schnur des Säkchens aufzulösen, weil ich es für erlaubt hielt, den Sparpfenning eines Schulknaben, wofür ich es hielt, in näheren Augenschein zu nehmen. Ich zog eine Münze von der Grösse eines drei Livresstüks, mit dem Bildniß der heiligen Jungfrau heraus, und ein kleines Blatt Pergament, worauf ein mit einem Pfeil durchbohrtes Herz gemahlt war. Der abentheuerliche Fund beschäftigte mich noch, als ein Mann, den ich schon ein Paarmal hatte vorbeigehen sehen, sich neben mich sezte; ich [228] schob meinen Hut auf die Seite, um ihm Plaz zu machen; indem er aber blos seine Knieschleife band, sagte er mir in's Ohr: »um Gottes willen, es geht auf Leben und Tod!« stand auf, und gieng mit einer leichten Verbeugung hinweg. Anfangs ergrif mich der leise Zuruf; als ich aber den Mann so sorglos seinen Gang fortsezen sah, hielt ich ihn für verwirrt, und suchte mein Beutelchen, um den symbolischen Schaz, aus welchem ich nicht klug werden konnte, wieder hineinzusteken. Da ich es nicht gleich wieder fand, grif ich mit der Hand zwischen der Bank und dem daranstossenden Baumstamm, weil ich es mit meinem Hut heruntergefallen glaubte; ich zog es würklich da hervor, und fand zugleich einen Brief, der, obschon zugesiegelt, ohne Adresse war. Jezt klopfte mein Herz, denn ich konnte mich nicht enthalten, den Inhalt des Beutels, den Ausruf des Unbekannten, und diesen Brief in Verbindung zu bringen. Ich stekte meinen [229] doppelten Fund schnell ein, und eilte nach Haus, um mit mir selbst zu berathschlagen, was Klugheit und Ehre mir unter diesen Umständen gebieten möchten. Bald ward es mir klar, daß ich den Brief öfnen dürfte und müßte. Ich that es, und fand ein Blatt, das wie der Inhalt zeigte an denjenigen gerichtet war, welcher die Münze und die kleine Miniatur besässe; und aus einigen Umständen mußte ich vermuthen, daß der Mann, den ich einige Minuten vorher vom Volk hatte mishandeln sehen, der Besizer dieser Erkennungszeichen war, und vermuthlich Geschiklichkeit genug gehabt hatte, sie beizeiten von sich in das hohe Gras zu werfen; der Unbekannte aber mochte mich, weil der Zufall sie mir in die Hände gespielt hatte, und er bei jenem Auftritt nicht gegenwärtig gewesen war, für den nämlichen gehalten haben, dem er den Auftrag hatte, den Brief zuzusteken, und der besser darauf vorbereitet seyn mußte, als er mich, nach meiner [230] unvorsichtigen Art mit dem gefährlichen Geheimniß umzugehen, würklich fand. Den übrigen Inhalt des Blattes muß ich verschweigen; durch den Zufall, der dasselbe und ein Paar andre dabei gelegne Schriften in meine Gewalt brachte, fand ich mich so glüklich, Personen zu retten, denen ich meine jezige Würksamkeit zu verdanken habe.« – – –
Hier folgte eine weitläuftige Zergliederung des royalistischen Systems, dem Theodor mit der treuen Ergebung eines Sülly, und der Blindheit eines jungen Ehrgeizigen anhieng. Seine ganze Erzählung, sein ganzes Raisonnement bewies deutlich daß bei manchen von den wichtigsten Anhängern dieser Partei selbst eben so viel Schwärmerei als Ehrgeiz im Spiele war; sonst hätten sie nicht so ungeprüft den Talenten eines Jünglings vertraut, der ohne Erfahrung und Menschenkenntniß leicht jedem geschikteren Menschenangler in die Hände fallen konnte. Mit Theodor gelang es [231] ihnen indessen völlig, er ergab sich ihnen mit Ehre und Gewissen; und die heilige Genovefa glaubte kein gottgefälligeres Werk zu thun, indem sie ihre Schiffer so theuer bezahlte, als der verblendete Jüngling, indem er, bald Spion bald Verräther über die Gränzen reiste, in den Provinzen umherstrich, und das Feuer verbreiten half, das zu löschen nun schon Ströme von Blut nicht hingereicht haben. Ein Wort des kunstreichsten aller Weiber, ein Blik von ihr, in welchem wo es nöthig war eine Thräne des Dankes glänzte, ihre rührenden Aufforderungen im Namen ihrer reizenden Kinder, entzündeten in diesem, wie in manchem stärkeren und reiferen Kopf eine Begeisterung, die glühender war, als die himmlischen Visionen um derentwillen mancher Märtirer sich in den Scheiterhaufen stürzte. Nachdem die Flucht des Königs mislungen war, arbeitete man unermüdlich an andern Entwürfen. Theodor erhielt Aufträge nach **, und dort hätte [232] die unverbesserliche Thorheit der ** ihm bald die Augen geöfnet, indem sie seinen, nun fast zur Höhe der Sphäre, in welche er sich verloren hatte, emporgewachsenen Stolz beleidigte. Die ** achteten eines Abgeordneten wenig, der ohne glänzende Titel mit aller Wärme eines redlichen Dieners die Vortheile seines Herrn sich angelegen seyn ließ; und er hatte auf dem Schauplaz des Gräuels einer gewissen Anstekung nicht entgehen können, die gegen die bei Zeiten gerettete Glaubensreinheit der ** und ihres Gefolges genug anstieß, um ihn in ** bei einem Haare in den Ruf eines **** zu bringen. Die Nebenabsichten mancher seiner Helden erschienen ihm bei der höhnischen Behandlung, die er erfuhr, in einem weniger trügenden Lichte, und er stuzte vor der Aussicht, die vor ihm zu dämmern anfieng. Unglüklicher Weise äusserte er die Betrachtungen, die in ihm aufstiegen, ohne alles Hehl gegen seine Obern, [233] und sie erschraken, einen Menschen, dem so wichtige Geheimnisse anvertraut waren, am Rand eines Abwegs zu sehen. Er ward sogleich zurükgerufen, und durch einen neuen Zauber gefesselt. Sein ganzes Wesen und seine Kenntniß der deutschen Sprache, die er seinem Vater zu verdanken hatte, machten ihn für Geschäfte an deutschen Höfen vorzüglich geschikt: es sollte ihm jezt ein solches aufgetragen werden, dessen Wichtigkeit einen Vertrauten zu fordern schien, der mit den unauflöslichsten Banden an den Hof gefesselt wäre. In dieser Rüksicht verstand sich der Graf Vieilleroche zu dem Opfer, Theodorn als seinen Schwiegersohn anzunehmen.
So verlieren diese Menschen den einfachen Faden der Glükseligkeit immer unwiederbringlicher im Labirinth des Lebens! Wie hatte jene Zeit sich verändert, da Seldorfs Familie ihre Freuden und ihre Pflichten noch in dem kleinen Kreis ihrer ländlichen Heimath[234] beschränkte; da sie das Bewußtseyn hatte, durch Liebe und Güte mit der Menschheit abgerechnet zu haben; da Theodor an Rogers Arm zur heitern Sara eilte, und Seldorfs still leidendes Gesicht von dem Lächeln der Hofnung erhellt wurde! Jezt keimte über dem Schutt von Seldorfs Haus das Gras langsam empor, weil Hofnungslosigkeit die Hand des Eigners gelähmt hielt; Sara weinte am Krankenlager des vom Kummer entstellten Vaters, und hinter ihrem schönsten, tröstendsten Gefühl lauerte ihre künftige Hölle;Roger lenkte mit wundem Herzen alles Feuer seines Willens und die feste Redlichkeit seiner Grundsäze auf ein blutiges – unsichres Ziel; und Theodor wurde das blinde Werkzeug des selbstsüchtigen Stolzes und der Unterdrükung, er dünkte sich über die Schwächen der Menschheit erhaben, indem er aus kaltherzigem Ehrgeiz der hirnlosen Erbin eines grossen Namens[235] seine Hand gab, indem er einem Geschöpf ohne Tugend und Weiblichkeit zuschwor, nie einer andern zu gehören. Wir wollen ihn selbst hören die Täuschungen auseinander sezen, in welche er sich wiegte.
»Der erste Vorschlag dieser Heirath überraschte mein eigennüziges Herz. Ich hatte das Fräulein Vieilleroche bei einigen Gelegenheiten gesehen; und von dem Augenblik, da ich sie mir als meine Gattin dachte, drängte sich Sara's Bild neben sie, und mit allen Reizen der weiblichen Tugend umstrahlt, schien ihr Vestalinnenblik mich zu fragen: ist dieses das Ideal, das deine Sara verdrängen darf? Mit Schauder sah ich die mir bestimmte Braut neben diesem heiligen Bilde; wenn es meinem Auge gelungen war, durch die Verstellung der Kunst bis zu ihrem wahren Gesicht zu dringen, so scheuchte mich ihr kalter, unstäter, Lebhaftigkeit nachäffender Blik, und die blasse Wange, und der erschlafte, [236] nichts sagende Mund, auf welchem leeres Lächeln und die Härte des Stolzes abwechseln – O mein Vater, hatte ich für dieses Weib mein Herz neu und meine Sinne rein erhalten in meiner glühenden Jugend? Ich zerfleische wieder mein innerstes Gefühl, indem ich Ihnen die Grösse meines Opfers schildre. Um mir aber einen Schwiegervater, eine ganze Familie zu verbinden, deren Ehre und Sicherheit es ihr nun zur Pflicht auflegen, mir in meinen Unternehmungen beizustehen, um die Stüzen des besten Königs, der erhabensten Frau fester zu gründen, siegte ich über mein widerspenstiges Herz. Ich schied auf ewig von allen Ansprüchen auf häusliches Glük – Vater! möge Sara Ihnen bald mit einem würdigen Gatten die Schwiegertochter ersezen, die Ihrem Herzen ewig fremd seyn wird! Es war eine Zeit, wo ich ihn zu wissen glaubte, den Mann, mit welchem ich den Namen Ihres Sohnes [237] zu theilen gewünscht hätte; jezt müßte ich zittern, wenn mich meine angebetete Schwester zwänge, in meinem Bruder einen Rebellen zu erkennen. – –
Ich kann mich über so manche, zum Theil äusserst peinliche Schritte, zu denen mich meine Lage und meine Ueberzeugung zwingt, nicht deutlicher erklären. Verzeihen Sie Ihrem Sohn die lezte Schwäche, die er sich erlaubt: Ihnen zu sagen, daß es schwere Pflichten sind, die mir geboten, so manche Neigung zu erstiken, so manches schöne Gefühl meines Herzens zu ewigem Schweigen zu verdammen, so manchen lange geehrten Grundsaz beyseite zu stellen, und mir für diese eiserne Zeit so zu sagen ein neues Gewissen zu machen Die Weichheit, welche diese Klagen verräth, ist nicht in meinen Handlungen; ich gehe muthig auf meiner Bahn fort. – Stürzen wir die Rotte von Elenden und Schwärmern, die sich zwischen [238] das betrogne Volk und dessen gütigen Vater gelagert hat, so ist mein Loos das schönste, höchste! Und sinke ich früher an den Stufen des erschütterten Throns, so entschädigt mich ein Blik des vortreflichsten Königs, den er meiner Treue nicht versagen wird.
Ihr Wechsler wird Ihnen berichten, daß er das Kapital, welches er von Ihnen in Händen hatte, auf meine Veranstaltung als Darlehn ausgeliefert hat, wo es für das Herz eines treuen Bürgers die reichsten Zinsen trägt. Ich weiß, daß mein Vater diesen Lohn seiner geleisteten Dienste willig dem Wohl des Vaterlandes aufopfern wird. Durch eine glükliche Wendung der Dinge werden Sie mehr wie entschädigt, und meine edle Schwester beklagt es sicher nicht, daß sie ihrem Bruder dazu verhalf seinem Herrn zu dienen. Ihr Wechsler, welcher der guten Sache ganz ergeben ist, hat keine Schwierigkeit gemacht, meine Ordre als gültig anzuerkennen. [239] Die Sicherheiten für die Wiedererstattung sind zu heilig, um mich länger darüber auszubreiten.« – – –
Wie dunkel, unverständlich und schmerzlich der Inhalt dieses Briefes für Sara seyn mußte, wird man leicht begreifen, wenn man die reine Einfalt ihres Herzens, die grosmüthige, sich selbst immer vergessende Schwärmerei ihres Geistes, und jenes noch nie erschütterte Vertrauen auf die Gegenstände ihrer Liebe in Erwägung zieht. Das Raisonnement ihres Bruders schien ihr matt und schief, seine Handlungsweise falsch und knechtisch, und doch traf sie allenthalben Spuren seines Herzens; sie sann lange nach, und je mehr sie sann, desto mehr verwirrten sich ihre Gedanken, bis sie sich endlich in dem ängstigenden Bilde verloren, als sähe sie ihren Bruder von fremden, widrigen Gestalten [240] fortgezogen, neben einem grausenvollen Abgrund hinstürmen. Vater, er hätte nie aus unsern Armen gesollt, rief sie endlich mit hochathmender Brust, und einer Bangigkeit als sähe sie ihn stürzen; Roger sagte es wohl, und ich weinte umsonst! OTheodor, wenn ich dein Unglük doch wenigstens verstünde, wenn ich nicht scheu davor erschräke wie vor einer bösen That! Sage mir, Vater, thut er recht? Kann er sich ein neues Gewissen haben machen müssen? Ein neues Herz, Theodor, kannst du dir nicht machen; und dein neues Gewissen wird dein treues schönes Herz zermalmen. – So weinte und klagte sie neben ihrem Vater, der mit festem gesammeltem Ernst ihren weiblichen, jugendlichen Schmerz austoben ließ. Wie sie stiller ihr Haupt auf seinen Schoos lehnte, redete er sie mit einer Stimme an, die seine gewaltsame Bemühung, ohne Leidenschaft, ja wenn er es vermöchte, ohne Empfindung zu sprechen, [241] ausdrükte; es war der entkräftete Nachhall des Schmerzens in der Ruhe dieser Stimme, und wo sein Gefühl ihn zu überwältigen drohte, ein allmähliges Verstummen, worauf sein Ton kalt und hohl, wie die eherne Stimme des Todes wieder anhob.
Er erzählte ihr seine Jugendgeschichte, bis zu dem erst spät bei ihm entstandenen Wunsch, in die Verhältnisse des ehelichen Lebens zu treten. Um aus Liebe zu wählen, war seine Vernunft zu lange an die Oberherrschaft gewöhnt; um ohne alle Leidenschaft, blos aus kalter Achtung sich zu entschliessen, war sein Herz zu gefühlvoll. Die Ungewißheit, welche die Folge einer solchen Stimmung war, dauerte eine Weile fort; denn die meisten Mädchen, unter denen er sich umsah, fand er ohne allen Karakter, so lange keine Leidenschaft sie anregte, und selbstsüchtig, falsch gegen sich selbst, sobald ein unmittelbares Interesse auf dem Spiel war. Der Gegenstand seiner zärtlichsten [242] Freundschaft war unterdessen ein junger armer Edelmann aus der Provinz, der mit Muth, Einsicht und Menschlichkeit unter ihm gedient, und zu dessen Bildung er jede Gelegenheit benuzt hatte. Einst kam Seldorf nach einer ziemlich langen Abwesenheit nach Brest zurük, wo sich sein junger Freund unterdessen aufgehalten hatte, und er bemerkte bald eine Veränderung in seinem Betragen, die ihn anfangs für seine Sitten, bald aber für seinen innern Frieden besorgt machten. Zutraulich und Zutrauen erwartend sprach er ihm zu, und bat ihn um die Entdekung der Ursache seiner ungewöhnlichen Stimmung. Der junge Mann schien heftig gerührt, blieb lange unentschlossen, und sagte ihm endlich, daß sein Geheimniß nicht sein ausschließliches Eigenthum wäre, und daß es jezt sein schwerster Kummer sei, sich ihm nicht offenbaren zu dürfen. Seldorf kannte seinen offenen und einfachen Karakter, er drang also nicht weiter [243] in ihn, sondern beschwor ihn blos, sich die Gewalt über sein Geheimniß zu verschaffen. Die zwei folgenden Tage besuchte er einige Bekannte auf dem Land; am dritten erfuhr er auf dem Heimweg daß ihn sein Freund an mehreren Orten, wo er ihn vermuthet, ängstlich gesucht hätte; und wie er des Abends in sein Haus trat, fand er die officielle Meldung, daß der Lieutenant ** sich heute geschlagen hätte, und im Zweikampf tödtlich verwundet worden wäre. Seldorf forschte nach seinem Aufenthalt, man hatte ihn in ein abgelegnes Haus geschaft; es war schon Nacht da Seldorf in sein Zimmer trat, der Verwundete lag in tödtlicher Mattigkeit auf einem Bett; seine Rettung war unmöglich, und bei der ersten Wallung mußte sein Leben entfliehen. Ein Schimmer von Freude glänzte auf dem Gesicht des Sterbenden, er winkte den Anwesenden, um mit Seldorf allein zu seyn, und sagte eilig, als wollte er dem [244] Tod zuvorkommen: Mein Vertrauter können Sie nicht mehr seyn, wohl aber mein Retter vor Verzweiflung im Tode. Die Tochter des *** hat mir ihre Liebe geschenkt, ich betete sie an, ich vergaß meine Lage .... sie mußte mein Weib werden, damit ihre Ehre gesichert – Hier hörte ich, sagte Seldorf, einen leisen schnellen Schritt sich der Thüre nähern, ich legte mechanisch den Finger auf den Mund meines unglüklichen Freundes, die Leute im Vorzimmer schienen sich zu bewegen, die Thüre öfnete sich, und ein verschleiertes Weib flog auf das Bette zu: Neben deiner Leiche soll meine Schande kund werden, rief sie wild – ** hatte meine Hand mit einer von den seinigen gefaßt, er nahm jezt mit der andern die rechte der Verschleierten, die sie gegen ihn ausstrekte, richtete sich auf, und sagte mit festerer Stimme: Sie ist rein wie Schnee, sie ist meine Wittwe; Seldorf, um die Unschuld zu erhalten, seyn Sie so ihr Retter – [245] Er legte ihre Rechte in die meine, drükte sie fest zusammen, beugte sich über beide ..... ein Strom von Blut quoll aus seiner Wunde; er war todt! – Nach einer Weile fieng Seldorf leise und ausdrukslos wieder an: das Mädchen war schwanger, und der Vater gab sie mir, weil er nicht hart genug war sie in's Kloster zu steken, und ich sie ohne Aussteuer nahm; denn der Mann hatte drei Söhne, und war so arm wie adlich. Eure Mutter empfieng meine Hand, als das heilige Vermächtniß ihres ersten Gemahls, mit dem Schmerz und dem Dank der ihr zukam. Ich war sehr glüklich; ein Gefühl lebhaft wie die Liebe, und nicht trügend wie sie, verband mich mit einem jungen, reizenden, für jedes Schöne empfänglichen Weibe, deren moralisches und bürgerliches Daseyn mein Werk war. Wir verreißten nach unsrer Hochzeit; ein unglüklicher Zufall machte mich an dem Krankenbett eurer Mutter es beweinen, nicht der Vater [246] von meines edeln ** Waise geworden zu seyn. Theodors und deine Geburt erhöhten nach und nach das Glük meiner Ehe. Einsam auf einem kleinen Landgut, das ich an den Bretagner Küsten gekauft hatte, verlebte ich die Zeit, die mein Dienst mir übrig ließ, in dem süssesten Frieden. Deine Mutter war jünger noch wie ihr Alter, sie schien durch den schreklichen Tod ihres ersten Gemahls von jeder heftigen Leidenschaft geheilt, und sie behielt bei der abgesonderten Lebensart, die wir führten, ein Gepräg von kindlicher Einfalt, das mein weiches Herz entzükte. Ich hätte ihrem Glük mehr wie mein Leben geopfert; es gab Stunden wo ich in ihren innersten Gefühlen zu lesen glaubte, und ich sagte zu ihr: du bist jung wie ein Kind; wenn dein Herz, das gewiß mehr erstarrt als kalt ist, sich einst erwärmen sollte, laß mich dieses liebe Herz dann lenken – – Der amerikanische Krieg brach aus, ich gieng an meinen Posten, und stand treulich einem [247] Volke bei, das nicht wie deine Landsleute durch Verbrechen sich zur Tugend und zum Glük aufschwingen wollte. Zwei Brüder deiner Mutter fielen bei Gibraltar; ihr Vater hatte troz seines Standes noch so viel menschliches Gefühl, seinen Schwiegersohn zu schäzen, und ihm das Glük seiner Tochter anzurechnen. Er rief sie jezt zu sich nach Paris, um ihn zu trösten, sie mußte aber bald ihm die Augen zudrüken, und sie blieb in der Hauptstadt, in den Händen ihrer Schwägerin und einiger andrer Weiber dieses Standes. Nach fünf Jahren kam ich zurük, mit festerem Glauben an Menschenwerth und Menschenglük als ich je gehabt hatte, stolz, meinem sanften Weibe diesen gelähmten Arm zu zeigen – ich sehnte mich, meinem Theodor zu sagen: Dieses Blut floß der Freiheit. Ich kam zu meiner Gattin, und fand Kälte, Verlegenheit, künstliche Liebkosungen, ich fand sie für mich verloren – ich bat sie innig, väterlich – ja [248] väterlich! Ich sagte: du bist schön, jung, du bliebst allein – kannst du in dem veralteten, verstümmelten Freund den Gatten nicht mehr lieben, so sprich – Erinnere dich, daß ich um deines Glükes willen deine Hand erbat, und dir nun Jahrelang das meinige danke. – Es gelang mir nicht, ihr Herz zurükzuführen; sie betheuerte, daß ich sie misverstünde. Ein streitiges Dienstgeschäft, das mir der unsinnige Hochmuth meines Gegners, eines der schamlosesten Weichlinge im Seedienst, zur Ehrensache machte, indem er alle müssigen Höflinge aus seiner Familie gegen mich aufhezte, gab mir so viel ausser dem Haus zu thun, daß ich deine Mutter wenig sah, und noch nicht Zeit gehabt hatte, in ihre Vergnügungen und Bekanntschaften, die mir sehr zahlreich schienen, näher einzugehen – Seldorf wurde hier unruhig, er suchte sich zu fassen, fieng ein Paarmal wieder an, und fuhr endlich fort, als eilte er bei einem gräßlichen Gegenstand [249] vorüber: Einen Abend schien sie mir befangner als jemals; ich wiederholte meine herzlichen Bitten um Vertrauen, meine Betheurungen daß ich sie als völlig frei ansähe. Sie nahm eine hinreissend liebenswürdige Wehmut in ihren Antworten an, wiegte mich in Zärtlichkeit und Hofnung ein; und ich überredete mich, seit meiner Rükkehr zum erstenmal in ihren Armen, nicht sie, sondern die Gegenstände um sie her hätten sich verändert. Mit der frohen Erwartung, bald in unsre Einsamkeit zurükzukehren, trennte ich mich von ihr, um nach Mitternacht auf mein Zimmer zu gehen, das ich am folgenden Morgen sehr früh wieder verließ, weil mich Geschäfte aus dem Haus riefen. Ich war sonst nie so zeitig zu ihr gegangen, weil wir, da wir noch bei ihrer Schwägerin wohnten, von der Lebensart dieser Frau abhiengen; diesen Morgen ..... Er athmete tief, seine Lippen zitterten, er blikte endlich streng auf Sara's bang horchendes Gesicht: [250] Ehre deines Vaters Schwäche, sie war auch der Keim seiner Tugend. Ich gieng durch den Garten, von welchem eine kleine Treppe in ihr Zimmer führte .... ich trat ein, sie rief erschroken ..... der Elende, der ihr Bett theilte, war der Graf Vieilleroche, meines Feindes älterer Bruder, der Vater von Theodors Braut! – –
Sara that einen lauten ächzenden Schrei, und bedekte ihr Gesicht mit beiden Händen. Seldorf fuhr fort:
Ich mußte vor der Welt meine Schande entdeken, oder sie ewig auf meinem Herzen tragen. Die Unglükliche gab mir ihr Schiksal in die Hände, und ich legte die Last dieses Bewußtseyns auf mein Herz. Nach wenigen Tagen ward ich krank, die Unglükliche umschlang meine Knie – sie war es! – sie war schwanger – Antoinette – –
Seine Zähne schlugen wie im Fieberfrost zusammen, Sara lag mit ihrem Kopf auf [251] seinen Knien, und schluchzte: Genug, genug! Laß dich versöhnen, sie ruhen im Grabe – Eine lange todte Stille folgte jezt, während deren Seldorfs Schmerz in kalte Erstarrung übergieng: sein Gedächtniß erleuchtete die Vergangenheit, wie der Mond ein Schlachtfeld erhellt, unempfindlich gegen die Schreken die aus der Finsterniß hervorgehen. Mit unverrüktem Blik sah er vor sich hin, und sprach mit eintöniger Kälte weiter:
Ich traf sogleich alle Anstalten, um das Haus meiner Schwägerin zu verlassen, ich untersagte meinem unglüklichen Weib allen Umgang mit den Menschen, die sie bisher gesehen hatte; Fremde hielten mich für einen Sonderling, die Familie meines Gegners sah es als Haß an, der Elende, der sein Leben von mir erbettelt hatte, ward troziger. Er hatte die Frechheit, in der Sache seines Bruders mit mir zu sprechen, er unterließ indessen die Vorsicht nicht, es vor Zeugen zu thun. Die Verachtung [252] die ich ihm bewies, und für welche er mir innerlich Rache schwor, ohne den Muth zu haben seine Empfindlichkeit zu äussern, brachte alle meine Gegner noch mehr auf; man erregte eine schändliche Kabale gegen mich, und ich sah mich auf dem Punkt, schimpflich meines Dienstes entsezt zu werden. Seit dem lezten Geständniß meiner Frau hatte ich sie nicht wieder allein gesprochen; mein verirrtes zerstörtes Gefühl weidete sich an dem bittern Possenspiel von ehelichem Frieden, das ich vor den Hausbedienten und den wenigen Fremden, die wir sehen mußten, spielte; in der Stunde, wo ich die Nachricht meiner unvermeidlichen öffentlichen Entehrung erhielt, drang ich in ihre Einsamkeit, um sie mit dem Fortgang ihres Verbrechens bekannt zu machen. Ihr verschloßnes Gesicht ward bei meinen Worten noch finstrer, sie zeigte mir einen Dolch, den sie gegen ihre Brust hielt: Du kannst mir das Leben nur bis zu einem gewissen Punkt aufzwingen, [253] über den hinaus bist du mein Mörder! – Erniedrigt und beschämt verließ ich sie. Den Tag wo meine Sache entschieden werden sollte, langte eine Gesandschaft von allen Subalternen der Flotte an; meine braven Kameraden drohten mit unwiderlegbaren Anklagen gegen alle Oberen, man zitterte vor den Folgen; die redlichen Seemänner führten mich in den Gerichtssaal, und empfiengen die abgedrungne Gerechtigkeit, die ich erhielt, mit einem Freudengeschrei, das in meinem verwüsteten Herzen öde verhallte. Sie begleiteten mich bis in mein Haus, verlangten mein Weib zu sehen, und ein grauer Seeoffizier küßte ihr im Namen aller meiner Kameraden die Hand, weil sie durch einen heimlich von ihr nach Brest abgesandten Expressen erfahren hatten, in welcher Gefahr sich ihr Waffenbruder befand. Wie sie mit sanfter Würde ihnen dankte, meiner mit einer ehrerbietigen, feierlichen Bewunderung gedachte, und dann in ihr Zimmer zurükgieng,[254] fühlte ich mich nahe daran, durch den Zwang, den ich mir anthat, den Verstand zu verlieren. Ich nahm nun meinen Abschied, den die Vorstellungen, welche der König dagegen machte, und der laut ausgedrükte Schmerz aller meiner Kameraden ehrenvoll machten. Von dem Zeitpunkt bis zu ihrem Tod lebten wir wie zwei verdammte Geister, die um dasselbe Grab zu wandeln verurtheilt wären. Unauflöslich zusammen an die Vorstellung der Vergangenheit geschmiedet, schauderten wir auseinander, so oft eure kindische Unbefangenheit oder irgend ein Zufall uns erinnerte daß es eine Gegenwart gab. Ich haßte sie nicht, wahrlich nicht! – aber ihr fürchterliches Verstummen ließ mich nie über den Abgrund, der uns trennte, einen Weg entdeken. Antoinette ward geboren. Der Keim des Todes, den sie bei ihrer Geburt mitbrachte, von dem schwärzesten Gram genährt, endigte eurer Mutter Leben. Ihr schimpfliches Leiden, das sie [255] mit unveränderter Fassung ertrug, beugte mich endlich bis zum wehmüthigsten Schmerz. Vierzehn Tage pflegte ich sie mit schonender Sorgfalt, ich wachte und weinte an ihrem Lager – wie der herannahende Tod ihr Auge schon verdunkelte, und keine Bitte etwas über ihr entsezliches Stillschweigen vermochte, drükte ich ihr Kind an meine Brust, und sagte: Du verkennst mich bis in's Grab, aber diese Verlassene soll mir deine Grausamkeit mit Liebe ersezen! – Sie richtete sich in die Höhe, ihr brechendes Auge sah mich mit wilder Starrheit an, und sie sprach: Eigennuz und Herrschsucht waren die Quelle deiner Wohlthaten: ich sollte dein Geschöpf seyn, und das Glük, das ich nicht aus deinen Händen nahm, wurde mir zum Verbrechen; deine Sklavin hat dich betrogen, und ihre unendliche Verdammniß bewies dir, daß sie den Werth ihres Herrn kannte .... ich verzeihe dir mein Elend, diese hier folgt mir nach – – sie ergrif das Kind, zog es [256] auf ihren Schoos, und hielt es fest, bis der Tod nach wenigen Minuten ihre Hand erschlafte. – – Ich habe sie nie verstanden; ein undurchdringliches Dunkel verhüllt den Weg, auf welchem sie in's Verderben wandelte. Zwölf Jahre lebte ich nur um ihres Glükes willen, und ihr sterbender Mund beschuldigte mich, ihr Despot gewesen zu seyn. Ihr seid Zeugen meines übrigen Lebens gewesen; Antoinette hat ihr nun gesagt, ob ich Wort hielt. – – Schreib deinem Bruder, Sara, ich beföhle ihm sogleich zu uns zu eilen; die Verbindung mit der Tochter jenes Verworfenen wäre unnatürlich und schändlich, aber sage ihm auch noch, daß keine Verbindung, von welcher Art sie seyn mag, mit irgend einem aus dem verhaßten Stande, um dessen Gunst er so schimpflich buhlt, je meinen Segen haben wird; sage ihm, daß er dem Namen meines Sohnes, oder dem Bündniß mit diesen Menschen entsagen [257] soll. Höre, Sara, höre diese Worte, und mache, daß dein Bruder sie fühle. Meine lezte Kraft ist mit dieser Nacht von mir gewichen, rede mir nie von dem, was sie dir entdekte, nuze es für deine Zukunft, und ehre mein künftiges Stillschweigen.
Seldorf zeigte nun auf die anbrechende Morgendämmerung, und hieß ihr, sich zur Ruhe begeben. Sie verließ ihn gern, denn ihr Geist erlag beinahe unter der Menge von Eindrüken, die er heute empfangen hatte. Wie sie aber ihr Zimmer verschlossen hatte, und sich allein sah, und die Entdekungen dieser Nacht einzeln vor ihrer Fantasie vorübergiengen, da erschien ihr die Welt in einem neuen feindseligen Lichte, und es fieng ihr an vor der Stille um sie her zu schaudern. Daß es Bosheit unter den Menschen gäbe, war bisher fast nur durch Tradition auf sie gekommen; denn das Schreklichste, was sie von ihnen erlitten hatte, die Verwüstung der [258] väterlichen Wohnung, hatte kaum einen andern Eindruk bei ihr zurükgelassen, als wenn das Feuer des Himmels ihre Heimath vertilgt hätte: die Menge der Frevelnden, und die Vielseitigkeit der Veranlassung verwischten die Bitterkeit gegen jeden unbekannten Einzelnen aus ihrem Herzen. Sie hatte Zeitlebens nur geliebt, nur vertraut; und alle Verhältnisse, die äusserlich den ihrigen glichen, hielt sie für innig und beglükend wie die ihren, so lange sie das Gegentheil nicht wußte: alsdann aber schienen ihr die tadelhaftesten Menschen nur unglüklich, und Unglükliche konnte sie nur beweinen, und zu trösten wünschen. Jezt zum erstenmal trat die Larve des Betrugs, der Sünde, der Leidenschaft vor ihr jungfräuliches Auge, das noch keine Lüge erkannt hatte; und ihr war zu Muthe, wie einem Kind, das in den Armen der Mutter eingeschlafen, unter fremden Menschen er wachte. Das Zutrauen der Unschuld war [259] dahin, in ihrem noch durch keinen Argwohn entheiligten Herzen war ein Schauder vor der Menschheit aufgeregt – denn die Menschen hatten ihre Mutter vernichtet, hatten ihren Vater betrogen, sie wollten ihr jezt ihrenTheodor entreissen. Aber ihr Vater blieb ihr, und L***, und Roger – und auch Berthiers graues Haupt war von keinem Betrug belastet – Sie fühlte ihr Herz glühen in Liebe, sie hätte diese alle um sich versammeln, sie ewig um sich bannen mögen, wie auf einem Schiff, das der Sturm umherschleudert und die Wellen peitschen, die Menschen die sich lieben, sich näher zusammendrängen, und das Geheul der Winde sie weniger schrekt, wenn sie mit den Augen den kleinen Haufen überzählen, und keiner fehlt. Sara hätte gern die ganze Welt vergessen, wenn nicht Theodor ihr noch angehangen hätte. Sie gieng eifrig daran, ihm den Befehl ihres Vaters so unausweichlich als möglich [260] zu verkündigen; und wenn er dann zurükkehrte – dann schwärmte das holde Geschöpf sich eine rükkehrende Jugendzeit vor; das Schloß ward aufgebaut, der Garten blühte wieder; mit den beiden Freunden ihrer Kindheit verbunden wandelte L*** – aber auf einmal vor Schreken erstarrt ließ ihre Hand die Feder fallen, wie sie des Vaters Schwur niederschrieb, nie einer Verbindung mit jenem Stande seinen Segen zu geben. Er hatte zweimal mit so furchtbarem Nachdruk gerufen: höre es, Sara, höre es, und mache, daß dein Bruder es fühle – Wollte er auch sie treffen, da erTheodors Urtheil sprach? Von allen Seiten geängstet, mit erschöpfter Kraft und verweintem Auge gieng sie an ihre Hausgeschäfte, und sehnte sich, des Denkens müde, nach der Stunde, wo der Anblik ihres Freundes allen Kummer hinwegzaubern würde. Arme Sara, du ahnetest nicht, welch ein giftiger Thau nun schon auf die Blüthe deiner Liebe gefallen war!
[261] Der Augenblik erschien, und sie eilte L*** entgegen, wie am stillen Gestade jenseits die müden Sterblichen auf den Quell der Vergessenheit zuwandeln. Aber zwischen sie und den Geliebten hatte sich des Vaters Geheimniß und des Vaters Schwur gestellt, und verstimmte den reinen Ton der Liebe, eh er von Herz zu Herz gelangte. Bei jeder Thräne, die ihr Auge füllte, bei jeder trüben Ansicht der Dinge, auf welcher ihre glühende Fantasie ruhte, bei der bangen Traurigkeit selbst, mit welcher sie die süssen Bande zwischen ihr und ihrem Freunde fester anzog, fühlte L***, daß in ihrem Geist etwas vorgegangen war, was ihm unbekannt blieb. So oft Sara mit gewohntem zärtlichem Hingeben sich an ihn zu lehnen im Begrif stand, so oft er mit Wort und Blik die Geliebte ansprach, schallten Seldorfs Worte in ihr armes Herz, und schrekten Trost und Zärtlichkeit zurük. Der Ausdruk von Fehlschlagung oder Unruhe in L***'s reden dem [262] Gesicht überwältigte wohl jene Phantome, und ihre Zärtlichkeit ward durch wehmüthige Reue erhöht, bis eine neue Frage, eine neue Anregung die traurigen Bilder wieder hervorrief. Manche Zusammenkunft verstrich in dieser gefährlichen Stimmung, wo Furchtsamkeit, und Schmerz den Geliebten zu stören, Neugierde, Unruhe, und endlich Eifersucht in der Seele des Mannes die Harmonie des Gefühls in Ungleichheit wandelt, und die Leidenschaft bis zur verderblichsten Spannung reizt. Diesen Zeitpunkt in Sara's Schiksal mag jedes Weib, welche diese Blätter liest, mit der Kenntniß, die sie von ihrem eignen Herzen und ihrem Geschlechte hat, ergänzen; die Erzählung muß hier mangelhaft bleiben. – – Weib oder Mädchen, die du deine Würde anders als im Zulächeln der bunten Menge erkennen lerntest, fühle die bittre Angst der reinen schuldlosen Sara, als sie in einem Augenblik ungerechten Vorwurfs [263] und Zornes in L***'s Arme gesunken war, und der Unsinnige – das kostbarste Pfand ihrer Reue raubte! Nein, ihr guter Engel weinte nicht in dieser unglüksschwangern Stunde, er weinte nicht – aber er blikte ernst und wehmütig auf den schweren Pfad, den nun seine Schwesterseele zu dem Ziel der Verschönerung zu wandeln hatte. Auch Sara weinte nicht, wie L*** zu ihren Füssen lag, wollusttrunken ihre Knie umfaßte, und er rief: du bist mein, du bist mein! – Sie weinte nicht, aber erschüttert von dem Taumel der eben verflossenen Stunde, die zwischen der Vergangenheit und allen Bildern der Zukunft eine ewige Scheidewand niedersenkte, mit dem Blik des Schrekens, als wollte sie in mitternächtlicher Dunkelheit eine Erscheinung festhalten, taub gegen seine freudejauchzende Stimme, fühllos gegen die feurigen Küsse, mit denen er ihre Hände bedekte, riß sie sich von dem Rasen auf, gieng langsam [264] und staunend unter dem abgefallnen Laube der hohen Ulme umher, die sie verhüllt und verrathen hatte, und blieb endlich vor L*** stehen, der auf den Boden hingelehnt ihr mit lächelndem Siegerblik zusah. Ist es möglich? rief die Unglükliche mit hohler Stimme und fest verschlungnen Armen – Ist es möglich? wiederholte sie, und verhüllte ihr Gesicht, indem sie von neuem auf und niedergieng. L*** erhaschte einen Zipfel ihrer Kleidung, den er lebhaft küßte, eh ihr rascher Schritt sie dahin riß. Sie gieng, und kehrte zurük, faltete die Hände, kniete einen Augenblik, stand auf, und trat noch einmal zu L***, der bei dem Anblik ihrer zunehmenden Heftigkeit ihr entgegengegangen war. Sie legte ihre kalte zitternde Hand auf seine Schulter, und sagte mit dem Ton der kältesten Verzweiflung: wußtest du, was du übernahmst, wie du der Gottheit die Zügel meines Schiksals entrissest? Weißt du, daß jede Folge dieser Stunde auf deiner[265] Seele lastet? – Sara! rief er sanft und drükte ihre Hand an seine Lippen – Sara, mein süsses Weib, rief er und drükte sie fest an mein Herz; was du sagst ist wahr, und erfüllt mich mit einer Freude, die unaussprechlich ist – Bei dem Worte Weib war die Arme zusammengefahren: Nein, nicht Weib! Nie, nie! – Er sah sie forschend und streng an: Warum nicht mein Weib? Frage die Natur um uns her, die Zeugin unsrer Seligkeit war, frage dein Gewissen und die Rechte der Menschheit, ob du nicht mein Weib bist? – Die wilde Verzweiflung, welche jedes andre Gefühl in ihrem Herzen erstikt hatte, konnte diesen Waffen nicht widerstehen; ihr Haupt sank auf L***'s Schulter, und unter den stillen Thränen, die sie weinte, kehrte die Wärme des Lebens wieder in ihre erstarrten Hände, in ihr erblaßtes Gesicht zurük. In Sara's Lage, deren völlige Hülflosigkeit sie entweder vernichten oder zum Kinderglauben zurükführen [266] mußte, konnte diese Spannung nicht dauern; L*** kannte das Herz, das sich ihm so unbedingt ergeben hatte, zu gut, um nicht zu wissen, wohin er ihren dumpfen Schmerz zu leiten hatte. Eine Viertelstunde reichte nun hin, um ihn hinter Seldorfs Geheimniß, und seinen Schwur, der Veranlassung zu Sara's Schwäche und ewig verschloßner Rükkehr, kommen zu lassen. Er schwazte mit der süssesten Beredsamkeit ihre Zweifel und Sorgen hinweg. Bald als Gatte mit sanften Befehlen, bald bittend und eindringend wie ein weiserer Freund, bald dankend und eine Zukunft voll Glük in rosenfarbner Ferne hinmahlend, wie ein siegender Liebhaber: so führte er das schöne reine Herz durch jedes Gefühl weiblicher Zärtlichkeit zu einer Stimmung ruhiger Ergebung, die bald in lächelnden Frieden übergieng. Das Geschehene war unwiderruflich, die Zukunft bis zu Seldorfs Tod unabänderlich; aber ihr Fall hatte ihr [267] weder Tugend noch Selbstachtung gekostet, er hatte sie unauflöslich mit L*** verbunden, und schien ihn unaussprechlich beglükt zu haben. Durch Unerfahrenheit und Unschuld in Irrthum gewiegt, und von L*** sorgsam darinn erhalten, begann nun eine Existenz für dieses liebende Geschöpf, die sich mit jedem Tag mehr von der gewöhnlichen Würklichkeit entfernte. Geheimniß und Betrug mußten sie von jezt an umgeben, aber rein und unerniedrigt wie sie war, mischte dieser bittre Druk in ihre sonst heitre Stimmung eine Art von Wehmuth, die jeder ihrer Handlungen den Ausdruk der innigsten Zärtlichkeit gab. Der Gedanke, daß ihr diese Last erst mit ihres Vaters Tod genommen werden könnte, machte ihr sein übriges Leben unendlich theuer; denn ihr grosmüthiges Herz litt dabei, auf den Namen von L***'s Gattin erst dann Anspruch machen zu dürfen, wenn Seldorfs theurer Mund sie nicht mehr Tochter nennen würde. Ihre[268] ganze Welt war nun auf ihn und L*** beschränkt,Theodor schien verloren; bei Rogers Andenken klopfte ein banges Gefühl in ihrer Brust, das vielleicht eine Mahnung an ihre Vernunft hätte hervorrufen können, und diese hatte sie jezt unter die Gewalt der Liebe gefangen genommen. Sie hielt sein Bild von sich entfernt, bewahrte aber ihre Zärtlichkeit für ihn wie ein heilig vertrautes Gut, das selbst L*** nicht angreifen durfte. Durch L***'s Liebe beglükt, mit tausend kleinen Diensten für ihn beschäftigt – denn sein Einfluß auf den Mann, der die kleine Familie aufgenommen hatte, und ihres Vaters Krankheit gaben ihr ausser seinem Zimmer die vollkommenste Freiheit – schien es als versühnte sie durch die Thätigkeit in ihren häuslichen Pflichten, durch die Engelsgüte, mit welcher sie den Vater pflegte, das durch kein Gesez geheiligte Glük ihrer Liebe. Und hätte man sie mit L*** gesehen, geehrt von [269] ihm als hätte der laute Ruf des Stolzes sie ihm zur Gattin gegeben, mit dem Ausdruk der reinsten Unschuld jede stille Freude, jedes keiner Beschreibung fähige Glük gegenseitiger Achtung und Liebe geniessend; man hätte in jedem sanften Lächeln ihres Gesichts den Lohn der Tugend zu lesen geglaubt.
Nach einigen Wochen fühlte sich Sara kränkeln; L*** beobachtete sie mit halb muthwilliger halb entzükter Sorgfalt, und wie er bangen Zweifel auf ihrem blassen Gesichte las, schmeichelte er ihre Furcht in frohe Gewißheit. – Sara, willst du nicht für deines Geliebten Kind, für deines Geliebten höchste Seligkeit leiden? Bei diesem Zuruf kämpfte ein holdes Lächeln mit den Thränen der erröthenden Sara. Keine Angst ihrer ängstlichen Besorgnisse konnte der Vaterfreude des unbegreiflichen Mannes widerstehen. Klagst du, so sagte er, noch mehr mein zu seyn, als du schon warest? Fürchtest du dich davor, mit der Mutterwürde [270] mehr Ansprüche auf Achtung wieder zu gewinnen, als du in deiner Mädchenehre verlorst? O meine Sara, o meine reizende Mutter, deines müden Vaters Geist wird heiter und vom Irrthum entfesselt auf seinen blühenden Enkel herablächeln! Laß ihn auskämpfen und dann ruhen, versüsse seine lezten Tage, und zieh durch keinen Unglauben, durch keine kurzsichtige Reue mir und dir Kummer zu.
Sie litt und lächelte in ihre Leiden, sie sorgte und richtete ihr Auge gen Himmel, wo L***'s allgegenwärtiges Bild ihr neue Täuschung herabwinkte. Dieser wunderbare beseligende Traum hatte nun vom October bis zu Anfang des neuen Jahrs (1792.) gedauert, als L*** ihr mit männlicher Fassung verkündigte, daß ihnen eine Trennung auf eine unbestimmte Zeit bevorstünde. Er hatte ihr zwar nie mit ungetrübtem Glük geschmeichelt, er hatte sie vielmehr oft mit liebendem Ernst auf unerwartete Wendungen [271] ihres Schiksals vorbereitet, welche die gespannte Lage der öffentlichen Angelegenheiten nach sich ziehen könnte; aber doch empfieng sie diese Nachricht mit einer so heftigen Bestürzung daß L*** erschrak; er faßte die Arme, die vor Zittern fast niedersank, in seinen Armen auf, sezte sie auf einen Sessel nieder, stand einige Augenblike mit einer gewissen Wildheit im Blik vor ihr – dann wandte er sich ab, schlug sich vor die verfinsterte Stirn, und stürzte zu ihren Füssen: Weib! Weib! wenn es wahr ist, daß dein Elend mich einst verdammen müßte, so erwarte mit Zuversicht, daß ich dich beglüke – Sie zwang sich zu einer Fassung, die sie behielt, bis sie seine angebetete Gestalt aus den Augen verlor. Daß er bald wiederkehren oder ihr zur rechten Zeit seinen Aufenthalt melden würde, war alles was sie von ihm erfuhr; durch die Liebe zur Sklavin von L***'s Willen gemacht, hörte sie mit einem stillen Seufzer, daß er aus Ursachen, die mit seiner ihr [272] nie von ihm offenbarten politischen Lage zusammenhiengen, ihr nur selten schreiben würde, und tröstete sich mit seiner dringenden Bitte, ihm alles was in ihrem Herzen vorgienge zu melden. Die Aerzte gaben übrigens ihrem Vater keine Hofnung, daß er den nächsten Frühling überleben könnte, und ohne daß sie sich es selbst deutlich erklärte, sah sie in diesem Zeitpunkt der Auflösung ihres Schiksals entgegen. Aber mit jeder Stunde, die nach L***'s Abreise verfloß, erlosch allmählig der Zauber, der ein trügerisches Licht auf ihren dunkeln Pfad geworfen hatte. Wie Rezia nach des Einsiedlers Tod ihr Paradies in eine Wüste umgewandelt fand, weil die schaffende Kraft der Natur mit seinem lezten Hauch entflohen war, so war jeder Gegenstand, der sonst der guten Sara Trost und Freude darbot, in eine Quelle von Schmerz und Kummer umgeschaffen. Gegen ihres Vaters langsame Leiden hatte sie keine Aufheiterung mehr in L***'s freundlichem [273] Beifall für ihre Pflege; jeder seiner erstorbnen Blike, die sich oft fragend auf ihr blasses verweintes Gesicht hefteten, flößte ihr Entsezen ein, und die ganze Natur um sie her, in das unfreundliche Gewand des Winters gehüllt, dünkte ihr der verwüstete Schauplaz ihrer entflohenen Freuden. So von den Folgen ihrer Irrthümer getroffen, ohne daß ihre reine Unschuld sie als Strafe ansehen konnte, gewöhnte sich diese unerfahrne glühende Seele bald, sie als Märtirerthum der Liebe hinzunehmen, und glaubend und lächelnd im Schmerz zu dem Preis ihrer Leiden aufzubliken. Freuden der Gegenwart konnte sie nicht mehr träumen, aber bei jeder neuen Wunde ihres Herzens erhöhte ihre Fantasie den Lohn ihres Duldens.
Ein Brief von Theodor, der um diese Zeit anlangte, befestigte L***'s Allmacht über seine Geliebte, indem er ihren Kummer vermehrte. Der verblendete Jüngling hatte gewählt [274] zwischen Vaterland und König, zwischen seines Vaters Segen und dem Phantom des Ehrgeizes; und er rühmte sich das Opfer seiner Pflicht zu seyn, indem er seinem Vater verkündigte, er habe keinen Sohn mehr. Wir können seinen verschlungnen Pfaden nun nicht weiter folgen; wo wir ihm aber fortan auch wieder begegnen, wird es in Falschheit und Unheil seyn. Seldorf las den Brief, faltete seine Hände, schien einen Augenblik zu beten, und ließ sich dann alle Briefe seines Sohnes geben, aus denen er ein Paket machte, es mit einem schwarzen Siegel verschloß, und neben Antoinettens Todtenschein legte. Sara, welche die traurige Entwikelung von ihres Bruders Schiksal errieth, warf ihre Arme schweigend um des Vaters Hals; ihre Thränen benezten ihre Augen, die sie flehend gen Himmel hob – auch Seldorfs Blike waren naß, als er sie nach einigen Augenbliken auf seine Tochter richtete; aber er sagte ruhig, indem [275] er ihre Hände zwischen die seinigen drükte: wir finden ihn einst wieder! du warst bestimmt, mir alles zu ersezen – Er umarmte sie zärtlich, und sezte nach einer Weile hinzu: dein Loos mag schwer seyn, aber es ist schön! Sein Geist hatte lange schon das Bild des nie wiedergebenden Todes mitTheodors Ungehorsam verwechselt; und er schien jezt seine Entweichung und seine Fortschritte in der Thorheit so zu fühlen, wie ein zärtlicher Vater die unheilbare Krankheit eines geliebten Kindes betrachtet: der Tod endet sie, und Hofnung und Schmerz verlieren sich in genügsame Ergebung. Opferte der langsam Hinscheidende sein zerrissenes Vaterherz der eisernen Nothwendigkeit, so legte Sara den bittern Gram über ihres Bruders Schiksal am Altar der Liebe nieder; Seldorf fühlte sich zu nah am Grabe, um sich noch der Verzweiflung zu überlassen, Sara vertraute der ihr so sicher dünkenden Zukunft zu heilig, um sie nicht auch mit diesem Schmerz erkaufen zu wollen.
[276] An einem trüben Wintertage harrte einst Sara sehnsuchtsvoll der Stunde, wo sie in ihrem einsamen Zimmer ihr Herz in Glauben und Hofnung würde stärken können. Seldorf war kränker wie gewöhnlich, und seine matten Augen, die auf Sara ruhten, füllten sich unwillkührlich mit Thränen. Er hatte sich über ihre Lage, wie über sein ganzes Schiksal, eine Art von Philosophie gemacht, mit welcher er in gesunden Tagen freilich nicht ausgekommen wäre; er glaubte sie keines Fehltritts fähig, und wußte daß sie ihr Brod gewinnen könnte, selbst wenn die Einkünfte seiner Ländereien, die er, nachdem er seinen Sohn verloren, ihr zugesichert hatte, ihr entrissen würden. Fest überzeugt, daß Unglük das allgemeine Loos besserer Menschen wäre, hatte er übrigens andern Hofnungen für sie entsagt. Wie er sie aber jezt vor sich sah, das Bild der thätigen Güte und des heitern Ertragens, reizend in dem Ausdruk von Ermattung auf ihrem [277] Gesicht und in ihrer ganzen Gestalt, wie ihn die einsame Stille, von welcher er sich umgeben sah, an die noch grössere Einsamkeit mahnte, in welcher sie nach seinem Tod seyn würde, fühlte er seine Brust beklemmt, und er hätte in diesem Augenblik von Rükkehr zu den Sorgen des Erdenlebens, einen gleichgültigen Fremden anrufen können: schüze mein verlaßnes Kind! – In dieser wehmüthigen Stimmung hatten Vater und Tochter einen grossen Theil des Abends zugebracht, als sie plözlich einen Reiter in den Hof sprengen hörten, der lebhaft nach Seldorf fragte; und noch hatteSara nicht Zeit gehabt an das Fenster zu gehen, als die Thüre aufflog, und Roger zu ihren Füssen stürzte. Meine Schwester, meine geliebte langentbehrte Schwester! rief er entzükt und umarmte ihre Knie, blikte dann zu ihr hinauf, und that einen neuen freudigen Ausruf. Sara's erste Bewegung war eher Schreken; sie saß athemlos auf ihrem [278] Stuhl, bis endlich Thränen aus ihren Augen quollen, und sie ihre Hand auf seine Schulter legte – Guter Roger! seufzte sie, aber Weinen erstikte ihre Stimme, und des jungen Mannes ungestümme Freude schwieg nun um ihre Wehmuth zu schonen. In diesem Augenblik nahm erSeldorfs Gegenwart erst wahr, der erstaunt und betroffen dem Auftritt zusah. Die edle Freimüthigkeit, die Rogern eigen war, verwischte bald den Ausdruk von Verwirrung, der sich bei dem Anblik des Vaters über sein Gesicht verbreitet hatte; er eilte zu ihm, drükte ehrerbietig seine Hand, und sagte, indem er sie fort hielt und näher zu ihm trat, mit halb leiser Stimme: Ich glaubte Ihre Tochter allein, aber seyn Sie versichert daß ich mit dem Bewußtseyn Ihrer Gegenwart eben so wenig Herr meiner ersten Freude gewesen wäre. Vielleicht hatte Roger immer in Seldorfs Herz einen Plaz besessen, dem er seine jezige Aufnahme zu danken hatte, [279] vielleicht waren es auch die trüben Betrachtungen des heutigen Tages, die, dem alten Mann selbst unbewußt dazu beitrugen, ihm Rogers Rükkehr erfreulich zu machen; gewiß war die matte Freude des Unglüklichen, und seine stillen Thränen, indem er den edeln guten Roger den übrigen Abend sprechen hörte, der unbefangnen Dienstfertigkeit mit welcher er ihn behandelte, und seiner innigen Zärtlichkeit gegenSara zusah, gewiß waren sie das rührendste Zeugniß seines Wohlgefallens an der Zurükkunft des jungen Freundes. Roger erwähnte bald seines Grosvaters, von dem er, sagte er, einen Auftrag hätte; Sara wollte das Gespräch ängstlich ablenken – Nein, sagte Roger mit bittendem Ernst, diese Schonung ist falsch; Ihr guter Vater muß die Beruhigung haben, seinen alten Freund zu lieben. Er gieng nun, troz Sara's banger Mine und Seldorfs finsterm Gesicht, mit so viel Klarheit und [280] Delikatesse an die Erörterung dieses Misverständnisses, daß die Falten von Seldorfs Stirne wichen, und er, Rogers Hand fassend, zu ihm sagte: Ich hatte keinen Haß, aber da wohin ich wandle ist es besser zu lieben; sagen Sie ihm das, sagen Sie ihm aber daß ich zu müde bin, daß ich schon zu sehr von allen diesen Dingen getrennt bin um ihn wieder zu sehen – Nein, Herr von Seldorf, nahm Roger das Wort; dann hätte ich meinen Auftrag übel ausgerichtet. So weit zwang mich schon Gerechtigkeit allein zu sprechen, jezt hören Sie auch meine Bitte. Die ganze Gemeinde von ** – (dem Ort wo Seldorfs Schloß gelegen hatte) – ist von Ihrem Unglük, zu welchem vielleicht einige aus ihrer Mitte mit beitrugen, aufrichtig und innig gerührt; sie bittet Sie, morgen nach dem Gottesdienst eine Gesandtschaft anzunehmen, durch welche Sie eingeladen werden sollen, zu Ihren Mitbürgern zurükzukehren. [281] Die Jahrszeit verbietet, die Arbeit an Ihrem Wohnhaus vorzunehmen; aber die Gemeinde hat einen Vertrag mit meinem Grosvater gemacht, dem zufolge er Ihnen und Ihrer Tochter einen Theil seines Wohnhauses, mit allen Bedürfnissen versehen, einsweilen abtritt – O Roger, rief Sara, dieser Trost, diese Gerechtigkeit ist Ihr Werk; Sie lenkten diese wilden blinden Menschen – Nein Liebe, sie brauchten das nicht, sie brauchten nur den Ausdruk für das was sie dachten, sie brauchten nur jemanden der ihre Art zu fühlen genug kannte, um ihnen ihre eignen Begriffe zu entwikeln – Der edle junge Mann glaubte das vielleicht selbst was er da sagte, indessen war er es doch gewesen, der, vor wenig Tagen erst bei seinem Grosvater angekommen, nachdem er alle Erkundigungen wegen jenes ihm schon längst im Allgemeinen bekannten Unglüks seines alten Freundes eingezogen, der versammelten Gemeinde mit eindringender [282] Freimüthigkeit die Abscheulichkeit dieses Frevels und das Unrecht, das sie hätten, es nicht wieder gut zu machen, vorgestellt hatte. Er gab ihnen die handgreiflichsten Beweise von Seldorfs Unschuld, und benachrichtigte sie sogar, daß er bei seiner neulichen Anwesenheit in Paris auf das Zuverlässigste in Erfahrung gebracht, Seldorf habe seinen Sohn wegen der von ihm ergriffenen Partei verstossen und enterbt. Sein kühner Eifer und der anerkannte Ruf seiner Denkart verschaften ihm den Sieg sowohl über den Eigensinn der meisten und ihren Widerwillen Unrecht zu vergüten, als über die schleichende Bosheit in dem eigentlich thätigen Theil der Commune. So war die Entschliessung, Seldorf zurükzurufen und zu entschädigen, bewürkt werden; allein der Zustand des armen Kranken ließ jezt in der Mitte des Winters keine Veränderung seines Aufenthalts zu, und die Abgeordneten der Gemeinde, arme starre[283] Kerls, in welchen selbst diese schöne Handlung von Billigkeit keinen Funken eigentlicher Begeisterung entzündete, wurden betroffen wie sie ihren ehemaligen Herrn in einem ausgeweißten, mit schlechtem Geräth versehenen Stübchen, abgezehrt und mit erloschnem Blik in seinem Sessel zurükgelegt erblikten. Der Aelteste hatte sich vielleicht auf eine ordentliche Anrede eingerichtet, aber das Gefühl, das ihn überraschte, that ihm bessere Dienste als es sein Gedächtniß je gekonnt hätte; er trat zu Seldorf, ergrif seine dürre matte Hand, und rief in seiner rauhen Mundart: Verzeiht uns um der heiligen Jungfrau willen! Dies war das Signal für die beiden andern, welche, die Hände über den abgezognen Hut gefaltet eben den Ausruf thaten. Seldorfs Herz verlor die Fähigkeit zu hassen täglich mehr mit der Kraft des Lebens; er hatte sich indessen, eh die Männer hereintraten, mit einigen Entwürfen, ihnen Strenge, Würde wenigstens [284] zu zeigen, beschäftigt; so wie aber die Bauern in diesem Augenblik nur ihren unglüklichen Herrn in ihm sahen, so erblikte er auch in ihnen nur den Ausdruk des Mitleidens und der Reue; er antwortete mit gerührter gebrochner Stimme: Ich verzeihe euch, haltet mein Andenken in Ehren, und schüzt diese hier – indem er aufSara zeigte, die an seiner Seite stand. Der Auftritt griff ihn so an, daß man aus Schonung für ihn bald ein Ende machen mußte.
Es währte einige Tage nach Rogers Ankunft, eh er eine Gelegenheit fand oder suchte, allein mit Sara zu seyn. Sie vermied es und sehnte sich darnach, und in dieser widersprechenden Empfindung litt ihr Herz weit mehr bei seiner Abwesenheit, als wenn seine unbefangne Innigkeit bei seinen Besuchen ihr den Trost seiner Theilnehmung verschafte, und sie zugleich von dem schmerzlichen Geheimniß zerstreute. Schon lange eh er zurükkehrte, war [285] sie gesonnen gewesen ihm alles zu offenbaren; und es gehört zu dem Unbegreiflichen in L***'s Karakter, daß er ihr die Erlaubniß gegeben hatte, ihn zum Vertrauten zu machen. Der Ausgang hat unentschieden gelassen, ob er in seiner Liebe von allen Grundsäzen seines übrigen Lebens abgieng, und hier sich blos nach der Anerkennung von Rogers und seiner Geliebten Edelmuth bestimmte, oder ob es eine Komplikation von Unredlichkeit war, zu welcher diese Vertraulichkeit ihm einen Faden an die Hand geben sollte. Roger beobachtete indessen Sara mit ununterbrochner Aufmerksamkeit, und ihr Herz schlug ängstlich, wenn seine Blike immer trüber und nachdenkender auf ihr ruhten. So oft er bis jezt da gewesen war, hatten Seldorfs Angelegenheiten, die der arme Mann bei seiner zunehmenden Schwäche und seinem wachsenden Vertrauen ihm ganz übertrug, die meiste Zeit hingenommen. Einst fand sich indessen Seldorf [286] so matt, daß er allein zu seyn verlangte, und seinen jungen Geschäftsführer bat, nach einer Stunde wieder heimzukommen. Roger warf einen lebhaften Blik auf Sara, ließ ihn aber schnell wieder sinken, da er sie erröthen sah, und sie verlegen anfieng einen Vorwand zu suchen, um unterdessen bei ihrem Vater zu bleiben. Seldorf verhinderte es, und Roger zitterte, wie er mit ihr in ihr kleines Zimmer trat. Sein erster scheuer Blik fiel auf L***'s Bild, das unter dem Spiegel hieng – er fühlte seine Brust beengt, und wandte sein Auge schweifend auf andre Gegenstände. Noch dauerte dieser für Sara unendlich qualvolle Augenblik, als ihr Hund an der Kammerthüre lärmte, und wie sie ihm geöfnet wurde, ungeachtet seines Pfötchens, das nicht recht hatte geheilt werden können, vor Freuden bellend auf Rogern zustürzte, an ihn hinansprang, ihm die Hände lekte, und ihn so, wie er ehemals zu thun gewohnt [287] war, an dem Rokzipfel zu Sara hinzog, die tief erschüttert sich niedergesezt hatte. Anfangs streichelte Roger den Hund, indem über sein verbranntes Gesicht eine Thräne floß; als aber das arme Thier, dessen glüklich eingeschränktes Gedächtniß die längst verflossene Zeit freudig an die gegenwärtige knüpfte, ihn zu Sara hinzog, und das geliebte Mädchen den Hund aufhob und mit einer vielsagenden Heftigkeit an ihre Brust drükte, da sank er ihr zu Füssen, und rief: Sara, ich weiß alles – alles! Ich bin der Alte, und will nur Ihr Glük. Früher konnte, durfte ich ja nicht wissen, aber ich hätte ja nie geliebt, meine Schwester, wenn ich nicht errathen hätte – Er stokte, und verbarg sein Gesicht, auf welchem Anstrengung und männlicher Schmerz abwechselten. Scham, Dankbarkeit, und vielleicht Reue, die sich aber gewiß nur als Sorge für die Zukunft zeigte, kämpften in Sara's Seele. Sie hatte sich nach dem Augenblik [288] der Mittheilung gesehnt, sie hatte vor dem der Entdekung geschaudert – und doch hatte sie diese nie so schreklich gedacht, wie sie jezt in Rogers Mund klang, aus welchem doch Liebe und Schonung sprachen. Ihre Thränen hörten auf zu fliessen: alles wissen Sie? Alles, Roger? frug sie wild und athemlos. – Alles, antwortete er, indem er aufstand, und sich mit edler Festigkeit gegen L***'s Bild wandte; meine Schwester wird dieses Mannes Weib – Roger, ich bin es; heiliger Gott, ich bin es! Sagen Sie so – Roger schauderte zusammen, er legte beide Hände vor seine Augen als blendete ihn ein plözliches Licht; aber bald wieder seiner mächtig, ergrif er ihre Hand und sprach: Sie sind sein Weib – und die Mutter seines Kindes! vertraut mir, und lohnt mir so diese fürchterliche Stunde. Sara hatte sich mit einem Schrei in seine Arme geworfen, sie weinte sanft; er hielt sie mit abwärts gekehrtem Gesicht, [289] er hielt sie, als hätte er gefürchtet, zwei Herzen neben einander klopfen zu fühlen, zwischen welche Tugend und Sittlichkeit sich nun auf ewig gelagert hatten. Wie sie sich beide einigermassen gefaßt hatten, gestand er ihr, daß er genug geahnet hätte, daß seine sorgende Freundschaft deutlich genug auf ihrem Gesicht gelesen hätte, um auf alles vorbereitet zu seyn, daß ihm aber ihr Geständniß demohngeachtet schreklicher als sein erster Gedanke gewesen wäre, nicht aus Rüksicht auf ihn, nicht als sei ihm irgend eine Hofnung zerstört; er habe keine, als sie auf einem Wege, dessen Dunkelheit ihm noch unerleuchtbar schiene, zu führen und zu leiten. Hier wachte Sara's Vertrauen auf ihr Schiksal wieder auf, alle Bilder der Vergangenheit glänzten ihr wieder im hellsten Schimmer, und der Schluß dieser Stunde und viele, die darauf folgten, weihten den treuen Freund in dem Heiligthum ihrer Liebe und ihrer Sorgen ein. Der einfache [290] Roger konnte der Schwärmerin nicht folgen in allen Schattierungen ihres Gefühls; die Strahlen ihrer glühenden Phantasie erleuchteten zwar auch seine Seele, doch nur mit stiller Klarheit, wie die Sonne auf einem spiegelhellen Wasserbeken von den ebenen Wellen wiederglänzt, indeß sie auf dem in Schaum zerstiebenden Staubbach alle Farben des Regenbogens mahlt. Oft zerriß es sein Innerstes, selbst ewig verstossen, so lieben zu sehen; aber er hatte seine Pflicht als Mann und Freund fest ergriffen, und widerstand jeder Versuchung, treulos gegen diese Pflicht und das geliebte, verlassne Geschöpf zu seyn.Verlassen! – denn je länger er ihr zuhörte, je mehr er die Würklichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit mit L***'s Thun, mit seinen seltenen, dunkeln, despotischen Briefen verglich, desto banger ward es ihm für Sara's Schiksal. Sie verschloß ihre Augen vor jedem aufsteigenden Zweifel, und sog aus der [291] Ruhe, die Rogers Nähe und die Gewißheit seines Schuzes ihr gaben, neuen Glauben an den Mann, den sie allein liebte, dem sie allein anzugehören sich so heilig bewußt war.
Seldorf gewöhnte sich schnell, den Jugendfreund seiner Kinder um sich zu sehen; er schien unmuthig an den Tagen, wo Roger nicht da gewesen war, und wußte er ihn neben sich, wenn er in dem leichten Schlummer lag, in welchen jeder Versuch zu denken ihn einwiegte, so schien er ruhiger zu athmen, und erwachte oft mit einem wehmüthig freundlichen Blik auf den jungen Mann. So nah am Grabe mit Entschlüssen und Thaten unvermischt, verloren seine Urtheile und Meinungen viel von ihrer Bitterkeit; und mit väterlichem Wohlgefallen ruhte oft sein Auge aufRogers blizendem Blik, wenn dieser von dem grösten Schwur durchdrungen, so entfernt er auch von der leichten Pralerei [292] war, ihn bis zum Verbrechen erfüllen zu wollen, doch mit unerschütterlicher einfacher Treue kein grösseres Verbrechen zu begreifen schien, als ihn nicht zu erfüllen. Seldorf erkannte, daß sein ehemaliger Ekel an der Menschheit und ihrem verworrnen Treiben in denen, die ihn überlebten, schimpflicher Verrath an ihren Zeitgenossen seyn würde; und so matt er nur Rogers: bis in den Tod! segnen konnte, so war es klar, daß er noch Leben zu fühlen gewünscht hätte, um mit einzustimmen: bis in den Tod! – Der Winter verstrich unter dieser Lebensweise, und Seldorf nahm wohl wahr, daß die nahe Frühlingssonne, die in der ganzen Schöpfung das Lebendige vom Erstorbenen scheidet, auch ihm seinen Plaz im Grabe anweisen würde. Wenn er seinen Stuhl an das Fenster schieben ließ, und im Obstgarten neben den todten Blättern einzelne grüne Halme hervorkeimen sah, dachte er bang, sehnend, kummervoll[293] an das Grab. Nachdem er gegen das Ende vom Februar einige Tage sehr schlecht zugebracht hatte, bemerkten einst beide junge Leute, daß er sich in seinem Geist sehr lebhaft beschäftigte, und bald seine Tochter unruhig ansah, bald finster nachzudenken schien; er sprach weniger abgespannt, aber unzusammenhängend, wie jezt alle seine Ideen waren, von der Bekanntschaft mit L***, und sezte seine Tochter dadurch einer grausamen Folter aus; dann frug er nach dem alten Berthier, und wünschte, die Jahrszeit möchte es ihm möglich machen, noch einmal zu ihm zu kommen. Roger, welcher für Sara litt, ergrif eifrig diesen Gegenstand, um das Gespräch zu verändern, und versicherte die Luft heute so sanft gefunden zu haben, daß sein Grosvater gewiß diese kleine Reise nächstens würde unternehmen dürfen. Seldorf schien über diese Aussicht sehr erfreut, als ein neuer Anfall von Gichtschmerzen seine [294] Gedanken wieder von allem Aeusseren abzog. Es war Vormittags; Roger hatte im Begrif gestanden, nach Haus zurükzureiten; er blieb aber bis zum Abend, um Sara bei ihrem Vater hülfreiche Hand zu leisten. Seldorf empfieng seine Dienste mit Dank, und drukte einmal in der Todesangst des Schmerzens die Hände der beiden jungen Leute zusammen an seine Brust. Endlich legte sich der Anfall, und Roger wollte nach der ersten ruhigen halben Stunde fortgehen, als Seldorf seine Hand faßte, um ihn zurükzuhalten. Er ergrif auchSara's Hand, und, einige Minuten ausser Stand zu sprechen, drükte er sie bald an seine Lippen, bald sah er, mit einem bittenden Lächeln auf seinem von Schmerz erschlaften Gesicht, zu ihr hinauf. In Sara's Seele dämmerte eine schrekliche Ahnung, die anstatt sie zur Fassung vorzubereiten, ihre Phantasie erhizte, bis ihre Gefühle in einer unnatürlichen Spannung[295] unter einander anstiessen. Roger stand unbefangen, und mit der Aufmerksamkeit eines Sohnes, der jedem Wort des kranken Vaters entgegen horcht, in gebükter Stellung beim Lager seines alten Freundes, als Seldorf endlich, obschon sehr matt, doch gesammelt anhob: Sara, dich allein hat mir das Schiksal nicht geraubt, du allein beweisest mir, daß mein langes mühseliges Leben nicht ein blosses Spiel wechselnder Truggestalten war, Sara, du kannst mir ein Pfand geben, daß die Gottheit mich nicht dem Elend ausschliessend weihte ... meine Sara, du kannst das lezte schwindende Bild des Lebens mir wohlthätig erleuchten – er hielt mit seinem Gefühl kämpfend inne, und näherte die Hände der beiden jungen Leute – Dieser junge Mann wäre mir mehr als Sohn geworden ...mehr! denn der Unglükliche, den ich Sohn nannte, wenn dieser ihm einst auf dem Schlachtfeld begegnen sollte, so darf sein Arm nicht [296] zaudern, und er sage ihm noch: diesen Streich führe ich für deines Vaters Nachkommenschaft! .... Ob du ihn liebst, weiß ich nicht; er liebt dich! .... du wirst dann nicht verlassen seyn, und ich werde heiter sterben – Er legte ihre Hände zusammen, und blikte wieder fast flehend aufSara. Diese hatte erstarrt auf des Vaters Worte gehört, wie aber Rogers Hand die ihrige berührte, riß sie sich los, bedekte mit beiden Händen ihr Gesicht, und rief durchdringend: Nie! nie! – Roger stand wie von einem Wetterstral getroffen; erst durch Sara's Heftigkeit ward er zu sich selbst gebracht, küßte fast weinend die Hände des Kranken, der bestürzt seine Tochter ansah, und wie von einem plözlichen Lichte erhellt, wandte er sich gegen Sara: Meine geliebte Schwester, geben Sie ihm diese Beruhigung, geben Sie mir dieses Recht, Sie zu schüzen – Des unglüklichen Mädchens Begriffe verwirrten sich; der Anblik des sterbenden Vaters, [297] Rogers dringende Bitte brachten die Empfindung von Zwang, ja von Betrug hervor; sie riß sich von neuem von Roger los, und rief schaudernd: du! auch du! L***'s Weib .... bald Mutter –Sara, unterbrach sie Roger ängstlich, fassen Sie Muth; Sie müssen einen Beschüzer, Ihr theures Kind muß einen Vater haben, und L*** wird mir diese Würde gönnen – Sara, die mit Todesangst ihre Hände rang, warf jezt einen Blik auf ihren Vater – er lag in Zukungen. Das schrekliche unvorbereitete Geständniß seiner Tochter hatte seine gebrechliche Maschine zerstört, ein Schlagfluß riß an dem lezten zähen Faden des Lebens – man eilte herbei, schafte Hülfe – Sara stand sinnlos neben seinem Bette, und folgte mit stierem Blik dem Wechsel von Erstarrung und Leben auf ihres Vaters Gesicht. Einen Augenblik schien sein Bewußtseyn zurükzukehren, er richtete seinen Blik auf Roger, dann auf Sara, und ein Paar grosse [298] schwere Tropfen rannen aus seinen gebrochenen Augen, die er sogleich wieder schloß. Dieser Anblik überwältigte das unglükliche Mädchen, sie sank ohnmächtig in Rogers Arme; bei dem Geräusch, welches dadurch unter den Anwesenden entstand, schlug Seldorf die Augen noch einmal auf, und sie fielen auf die Gruppe, wieRoger, beide Arme um Sara geschlungen, sie fest an sein Herz drükte – ein mattes Feuer schien noch in seinem Blik zu flimmern, ein schwaches Lächeln spielte um seine Wangen; er legte sein Haupt seit wärts, und entschlief.
Fußnoten
1 Dieses Kunststük sieht riesenmäßiger aus, als es würklich ist. In den Gebürgen des Jura, und an vielen Orten, wo die Heerden in der guten Jahrszeit von den Dörfern entfernt sind, ist es bekannt genug. Da der Stier sehr ungelenk, und in einem solchen Augenblik von Wuth betäubt ist, so kömmt es darauf an, alle Kraft in den ersten Anlauf zu sezen, und dem Thier das Gleichgewicht zu nehmen, ehe es auf seinen vier Füssen den Angrif gemacht hat.