Arno Holz
Die Kunst – ihr Wesen und ihre Gesetze

[Widmung]

[1] Par cela même qu'un homme est né pour les lettres et qu'il en a l'amour, il s'attache aux doctrines regnantes à l'aurore de sa jeunesse; les premiers chefs d'oeuvre qu'il a admirés lui sont sacrés. Aux jours de la maturité, quand il voit les générations nouvelles inquiètes d'autres dieux, c'est déjà beaucoup s'il peut les suivre: comment de lui demander de les devancer? Telle est pourtant la condition de sa gloire, oublier et détruire ce qu'il a aimé: partir pour 1'inconnu en tête de l'esprit de son temps!

De Vogüé.


Seinem lieben Freunde

JOHANNES SCHLAF

Der Verfasser

[Die Kunst - Ihr Wesen und ihre Gesetze]

Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze.

Eine Schrift, der ein derartiger Titel vorgedruckt ist, setzt damit ihren Inhalt sofort zwei Deutungen aus.

Entweder, sagt man sich, sieht der Verfasser das Problem, das seiner Arbeit als Object dient, bereits für gelöst an und beschränkt sich nun darauf, diese bereits vorhandene und ihm von Andern überlieferte Lösung zu einem vorderhand noch nicht ersichtlichen Zweck, und zwar wahrscheinlich möglichst anschaulich, zu reproduciren, oder aber er leugnet den Erfolg aller bisher unternommenen einschlägigen Versuche und bemüht sich nun, die betreffende Frage von Neuem [1] zu beantworten und zwar selbstständig, aus eigener Kraft, und im Widerspruch mit all seinen Vorgängern.

Im ersten Falle darf man darauf gefasst sein, einer wenn auch selten überflüssigen, so doch niemals bedeutenden, weil den vorhandenen Erkenntnissschatz nicht bereichernden Arbeit zu begegnen, im zweiten einer doch jedenfalls, zum Mindesten, nicht grade uninteressanten.

Dass diese zweite Arbeit, falls sie die Aufgabe, die sie sich gestellt hat, wirklich löst, d.h. falls sie auf die Frage, die ihrer Existenz zu Grunde liegt, eine in der That befriedigendere Antwort zu geben vermag, als die bisherigen, oder um mich vielleicht noch deutlicher auszudrücken, endlich die Antwort zu geben vermag, die herauswächst mit elementarer Folgerichtigkeit aus den Wurzeln der gerade zeitweilig triumphirenden Weltanschauung, mit der jene früheren Lösungsversuche sich nun einmal nicht mehr decken wollen, dass dann diese zweite Arbeit nicht etwa blos die unverhältnissmässig gewichtigere sein würde, sondern geradezu dazu berufen, [2] eine Wohlthat für die gesammte Entwicklung zu werden, eine Brückenbauerin und Wegweiserin, ohne die es sonst »langsamer« gehn würde, braucht dem Einsichtigen, als selbstverständlich, wohl nicht erst bewiesen zu werden?

Um nun niemand, der diese Schrift etwa einer Lectüre unterziehen möchte, in Zweifel zu lassen, bemerke ich, dass auf die vorliegende Arbeit die zweite Deutung zutrifft: ihr Verfasser leugnet, dass das ihr als Object dienende Problem bereits gelöst ist.

Ob seine eigne Lösung die endgültige ist, »endgültig« selbstverständlich nur innerhalb der enggesteckten vier Grenzpfähle unserer heutigen Weltauffassung, ob sie die Brücken bauen und die Wege weisen wird, auf dass es »schneller« gehe, wird die Zukunft zeigen.

Jedenfalls ist sie so auffallend wenig complicirt, so rührend einfach, so ohne allen »Brimborium«, und überdies allem Bisherigen auf diesem Gebiete so lehrreich diametral entgegengesetzt, dass ich es durchaus nur für selbstverständlich halten werde, wenn unsre[3] ernsthaften Leute, die ja ihr Brod und ihre Bildung einstweilen noch von der alten her beziehen, sie die erste Zeit für einen Aprilscherz ausschreien.

Es existirt niemand, der ihnen dieses kindliche Vergnügen wird verwehren können.


[4] »Eine neue Auffassung kann nur verstanden werden durch ihre geschichtliche Entstehung.«

Das ist ein alter Satz, und ich glaube, ich thue gut daran, ihn zu beherzigen. Ich werde also meine neue »Theorie« mit Verlaub zu sagen, – man verzeihe mir dieses harte Wort, ich weiss, es ist für gewisse Menschen heute, »freie Geister« nennen sie sich in ihren Büchern, was ein rother Lappen für gewisse Thiere ist, nämlich ein Ding, gegen das man unter allen Umständen mit seinen Hörnern rennt – ich werde also meine neue Theorie, meine ich, den Lesern dieser Blätter am besten dadurch näher zu bringen versuchen, indem ich ihnen einfach erzähle, wie sie nach und [5] nach in mir geworden. Sie jetzt hier plötzlich unvermittelt und nur so aus dem Aermel geschüttelt, gewissermassen als eine Art Dictat aus dem Jenseits hinzuspielen, das mir, dem Begnadeten, zu Theil geworden, wäre allerdings vielleicht etwas bequemer und wohl auch für viele, wie ich die Leute kenne, sozusagen etwas angenehm verblüffender, aber ich bin nun einmal ein ehrlicher Mann und kann mir nicht anders helfen: von aller Art Mystik ist mir grade die jedweilig modernste immer die widerwärtigste gewesen.

Lassen wir also alle sogenannte »Intuition« und »Inspiration« und wie dergleichen grossbrockiges Zeug sich sonst noch betiteln mag – natürlich immer dem lieben pp. Spiegel vis-à-vis notabene – bei Seite und den Poseuren und Zirkusreitern und halten wir uns lieber »hausbacken« an die Thatsachen; dieselben, die verrathen, wie viel Schweisstropfen täglich vergossen werden, ehe auch nur das kleinste Wahrheitchen gefunden wird. Kein Steinchen wird deswegen aus unsrer etwaigen Krone fallen, kein Stäubchen von unserm eventuellen Werth abfliegen.

[6] Freilich wird dabei nicht zu vermeiden sein, dass ich dem Leser ab und zu auch mit allerhand Intimitäten aufwarte; dass ich ihn öfter und tiefer in meine Werkstatt sehn lasse, als dies sonst bei uns Schriftstellern wohl üblich ist.

Wir sind eben der Mehrzahl nach leider eine ziemlich kleinkrämrige Gesellschaft, sehr besorgt für uns und heillos eitel, und lieben es nicht, wenn man uns im Negligee ertappt. Alles, nur sich nicht hinter die Coulissen kucken lassen! Das ist so recht das A und O unsrer Weisheit. Und ich glaube, ich fürchte, ich argwöhne, die Schuld daran trägt jener Esel, der zum ersten Mal auf den Einfall kam, sich das Wörtchen »Genie« zu construiren!

Man kennt ja die Geschichte: Wo das Genie auftritt, hat das Naturgesetz plötzlich ein Loch – bumm! »Das Genie«, orakelt schon der alte Carlyle, »ist ein Bote aus der Welt des Uebersinnlichen.« Des Uebersinnlichen! Wie das reizt, wie das schmeichelt! Was also natürlicher, als dass man als Interessent, als Künstler, einen möglichst grossen Nebel um sich zu breiten versucht, der alle [7] handfesteren Beziehungen zwischen uns und der trivialen Aussenwelt discret umschleiert, der uns losgelöst erscheinen lässt von dem Boden, aus welchem wir gewachsen, ein unverständliches Ding, nicht mehr erklärbar aus seinem Milieu heraus und nur ein Beweihräucherungsobject für die anbetungsbedürftige Menge?

Nun, ich für meinen Theil finde eine derartige Art und Weise, sich heute, im Zeitalter des Eiffelthurms und vielleicht noch verschiedener andrer schöner Dinge, am Ende gar selber etwas vormachen zu wollen, wie gesagt, herzlich abgeschmackt. Ich glaube an »Genies« – d.h. wohl verstanden an die Carlyle'schen! – ebenso wenig, wie an Krokodile, die tanzen können, oder Pyramiden, die Kopf stehn. Und da ich also schon aus diesem Grunde wirklich nicht wüsste, was mir leichter fallen könnte, als auf den Traum, oder wenn man lieber will, auf den Wunsch, von gefälligen Händen gelegentlich auch einmal in ihre imaginäre Kategorie gestopft zu werden, schon jetzt und für immer lächelnd zu verzichten, so habe ich, wie man sieht, [8] also wirklich auch nicht das geringste Interesse daran, mich hier zu »drapiren« und brauche mir sogar kein Gewissen daraus zu machen, mich meinen Lesern, wenn's noth thut, in Schlafrock und mit langer Pfeife zu präsentiren.

Wenn sie das nicht genirt, mich genirt das nicht.

Ich will es zufrieden sein, und wenn ich damit viel leicht auch nur Eins erreiche. Nämlich, dass man dieses Buch, trotzdem doch sein Thema an Abstractheit gewiss nichts zu wünschen übrig lässt, lesen kann mit der Cigarre auf dem Sopha, meinetwegen auch mit einer Tasse Kaffee daneben, ohne danach »Kopfschmerzen« zu bekommen. Denn ich bin nun einmal der Ansicht, dass der Werth auch eines wissenschaftlichen Werkes nicht darin besteht, dass es in einem möglichst schwerfälligen Kauderwelsch geschrieben ist. Im Gegentheil! Ich glaube, auch in diesem Pünktchen hätten grade wir Deutschen, wir Nur-Gott-Fürchter-und-sonst-niemand-in-der-Welt, wieder einmal allen Grund, von den ja mit Recht so verachteten[9] Ausländern zu lernen. Und, natürlich, in erster Linie, wieder von den verfluchten Franzosen!

Ich habe mir alle Mühe gegeben, es zu thun.

1

I.

Mit achtzehn Jahren macht jeder anständige Mensch, wie bekannt, Verse. Ich rechnete mich auch zu ihnen und machte also auch welche. Nur dass diese »Krankheit des Jünglings«, die bei den meisten Andern wohl nur akut aufzutreten pflegt, bei mir bald bedenklich chronisch wurde. Ich litt an ihr Jahre. Und Alles in mir während dieser Zeit drehte sich nur um das Eine, von dem ich besessen war, wie nur je ein mittelalterlicher Flagellant von seiner Büsseridee. Verse, Verse, Verse! Ich sah, hörte, fühlte und roch nur Verse. Und, was vielleicht das allerschlimmste war, ich schmeckte auch nur welche! Was in Prosa geschrieben war, existirte für mich gar nicht; um mein Interesse zu erregen, musste etwas schon in Rhythmen gefügt sein, und vollends hingerissen, gepackt, mitgewirbelt wurde ich [10] erst, wenn es ausserdem auch noch gereimt war. Das Höchste, das Entzückendste, das es für mich gab, war damals eine Zeile, die wie eine Kuhglocke läutete, oder, wem das zu tempelschänderisch klingt, wer mehr das Chicösere liebt, die wie ein venetianisches Kelchglas schimmerte. Vor solch einem Wunderwerk versank Alles. Vor solch einem Wunderwerk war die ganze übrige Welt nur noch ein Sandkorn, das man zertreten hatte, eine Null, die man ausgewischt. Und wenn ich mich zurückdenke in jene Zeit, wenn sie mir nicht schon zu fern liegt, zu märchenblau, zu umwoben von allerhand Schleiern, ich glaube, ich hätte mir damals um ein halbes Dutzend von solchen Dingern mit Vergnügen den Schädel eintrümmern lassen. Wenn sie dann eben nur dagewesen wären und geklungen hätten, wie vordem noch nie etwas geklungen, und geglitzert!

In späteren Aufzeichnungen – Notizen, Fetzen, Brocken, wie sie mir grade der Zufall gegeben, aufs Papier geschleudert – stiess ich neulich auf folgenden Satz: »Die Sonne schien ihm Lieder ins Herz und der[11] Regen tropfte ihm Melodieen ins Ohr.« Ich entsinne mich nicht mehr recht, auf wen ich ihn damals gemünzt hatte. Wahrscheinlich auf irgend so einen Constructionshelden irgend so eines Constructionsromans, wie man ja deren zu gewissen Lebzeiten oft an die Dutzende mit sich herumträgt. Leider! Aber ich hätte ihn eben so gut auch von mir selbst sagen können. Ich war zwanzig Jahre alt, auch mir ging es so: die Sonne schien mir Lieder ins Herz und der Regen tropfte mir Melodieen ins Ohr.

Ich zitire:


»Ihr Dach stiess fast bis an die Sterne,
Vom Hof her stampfte die Fabrik,
Es war die richtge Miethskaserne
Mit Flur- und Leiermannsmusik.
Im Keller nistete die Ratte,
Parterre gab's Branntwein, Grogk und Bier,
Und bis ins fünfte Stockwerk hatte
Das Vorstadtelend sein Quartier.
Dort sass er nachts vor seinem Lichte,
– Duck nieder, nieder, wilder Hohn! –
Und fieberte und schrieb Gedichte,
Ein Träumer, ein verlorner Sohn.
[12]
Sein Stübchen konnte grade fassen
Ein Tischchen und ein schmales Bett;
Er war so arm und so verlassen
Wie jener Gott aus Nazareth!
Doch pfiff auch dreist die feile Dirne,
Die Welt, ihn aus: »Er ist verrückt!«:
Ihm hatte leuchtend auf die Stirne
Der Genius seinen Kuss gedrückt.
Und wenn, vom holden Wahnsinn trunken,
Er zitternd Vers an Vers gereiht,
Dann schien auf ewig ihm versunken
Die Welt und ihre Nüchternheit.
In Fetzen hing ihm seine Bluse,
Sein Nachbar lieh ihm trocknes Brod,
Er aber stammelte: »O Muse!«
Und wusste nichts von seiner Noth.
Er sass nur still vor seinem Lichte
Allnächtlich, wenn der Tag entflohn,
Und fieberte und schrieb Gedichte,
Ein Träumer, ein verlorner Sohn!«

Das war das Einleitungsgedicht zu einem Cyclus, in dem meine Stimmung damals gipfelte, betitelt »Phantasus«: die états d'âme eines jungen Poeten in Liedern, der an der Trivialität seines Milieus zu Grunde geht hoch oben in Berlin N. in irgend einer Dachstube.

[13] War es nur Zufall gewesen, oder mehr als das? Aber mit diesem »Phantasus« hatte ich mir mein eignes Epitaph gesetzt!

Als das Buch, in dem er, für etwaige Sammler von solchen Kuriositäten, nebst mehreren hundert anderen Gedichten von mir noch heute zu finden ist, erschienen war (Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich 1885), rieth mir der Berliner Kladderadatsch, der sich daraufhin meiner sehr annahm: Essigfabrikant zu werden.

Dieses wurde ich nun zwar nicht, aber die erste Bresche in meine Naivität war doch damit geschossen. Ich erwachte! Das heisst, noch nicht gleich und ganz. Aber doch allmählig.

Ich erinnere mich noch an alles ganz genau. Es war auf einer Reise in den Hundstagen gewesen nach meiner Heimath, die ich schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehn hatte. Die letzte Poststation war erreicht, von da holte mich ein kleines Wägelchen ab, das sehr schön nach Theer und Leder roch und mir noch sehr gut bekannt war. Es hatte uns Jungens früher [14] immer zu den Ferien abgeholt. Und während es sich nun von dem Kruge aus, wo es gehalten hatte, schon in Bewegung setzen wollte und die beiden Braunen davor grade anzogen, reichte mir der Wirth, der zugleich der Postmeister des Dörfchens war, noch schnell ein Päckchen nach, das schon mehrere Tage lang hier in aller Stille auf mich gewartet hatte und nun doch in einem Haar fast vergessen worden wäre. Mein Herz schlug, als ich es zwischen den Fingern fühlte. Ich wusste genau, was in ihm drin war. Die Schweizer Marken, mit denen es beklebt war, hatten mir bereits alles verrathen. Und während es nun stuckernd die Dorfstrasse hinunterging und die Hunde aus den Höfen her bellten und die Kinder auf Spitzzehen hinter den Zäunen standen, verbrannt und flachshaarig und die Finger in den schmutzigen Mäulern und die meisten nur im Hemde und baarfuss, und über Allem die Sonne schien: sass ich da, das kleine zierliche Rechteckchen vor mir auf den Knieen, kreuzvergnügt und dabei doch vor Ungeduld fast vergehend, dass die letzten Strohdächer hinter uns verschwänden [15] und wir erst wieder zwischen den gelben Kornfeldern wären. Denn ich hätte meinen Kopf drauf gelassen: hinter diesem kleinen grauen Pappumschlag verbarg sich absolut nichts anders als das erste Exemplar meines ersten »Werkes«! Was ich früher bereits geschrieben hatte, »rechnete« ich nicht. Und es wäre mir gradezu wie eine Art »Entweihung« vorgekommen, wenn ich es nun hier, mitten zwischen den kakelnden Hühnern, enthüllt hätte und nicht draussen, wo der Himmel hoch oben voller Lerchen hing und von den Wegrändern her die rothen Klatschrosen grüssten und aus der Ferne die Wälder. Ich war eben damals noch sehr, sehr jung .... Endlich! die Bindfäden waren zu fest verknotet, ich zerschnitt sie. Hurrah, da lag es! »Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich.« Sauber gedruckt, mit rothem Titel und auf schönem, wunderschönem, gelbweissem Papier!

Und wie ein katholischer Christ, der sich vor seiner Hostie neigt, sog ich es ein, gläubig, gierig, was ich drübergesetzt hatte als Motto:


[16]
»Fürwahr sie irrten, die gesagt,
Die deutsche Poesie sei todt;
Nein, wenn ein Abend wirklich naht,
So dämmert bald das Morgenroth.
Schon sah ich fern am Horizont
Des neuen Tages neuen Schein,
O lasst in seiner Frühe mich
Der ersten Lerchen eine sein!«

Die Luft über mir war Musik und meine Backen brannten ...

Und dann weiter, immer weiter, während es näher ging und immer näher, unter nickenden Blumen und wehenden Weggräsern den alten Stätten zu, was ich niedergeschrieben hatte in langen Winternächten und in der Ferne:


»–Ich aber mag nicht, lass wie ihr,
Das Pfund, das Gott mir gab, verwalten,
Ich will hoch über mir entfalten
Der Neuzeit junges Lenzpanier.
Ich lache, wollt ihr blöden Blicks
Verjährten Tand modern staffiren
Und himmelbläulich phantasiren
Vom Waldgnom und vom Wassernix.
[17]
Ich lache, zählt ihr eins, zwei, drei
Die Kugeln, die ihr nie verschossen,
Die Thränen, die ihr nie vergossen,
Ein jeder Zoll ein Papagei.
Ich lache, doch mein Zorn hält Wacht,
Denn der St. Veitstanz wird zur Mode;
Ich weiss, ihr tanzt nur aus Methode,
Weil ein Narr viele Narren macht.
Doch tollt nur euern tollen Schwank,
Nur zu, je toller, desto besser:
Ich biet euch Kampf, Kampf bis aufs Messer,
Und gehe meinen eignen Gang!
Den Gang, den lichtumstrahlt die Kunst
Sieghaft zu wandeln mir geboten;
Und Herz an Herz mit ihren Todten,
Veracht ich euch und eure Gunst!
Denn mir schlägt nicht das Wort den Takt
Zum Reigen selbstischer Gedanken,
Ein Löwe, hat es seine Pranken
Tief in mein Herzfleisch eingehackt.
Nur, dass es mich nicht jäh zerfleischt,
Such ich's mit Liedern zu beschwören,
Doch nicht beim Rauschen alter Föhren,
Die Nachts ein schwarzer Aar umkreischt.
[18]
Auch nicht ins Grab der Lorelei
Verirrt sich mehr mein schwankes Steuer,
Die Zeit verliebter Abenteuer,
Für mich ist sie schon längst vorbei.
Nein, mitten nur im Volksgewühl,
Beim Ausblick auf die grossen Städte,
Beim Klang der Telegraphendrähte
Ergiesst ins Wort sich mein Gefühl.
Dann glaubt mein Ohr, es hört den Tritt
Von vorwärts rückenden Kolonnen,
Und eine Schlacht seh ich gewonnen,
Wie sie kein Feldherr noch erstritt.
Doch gilt sie keiner Dynastie.
Auch kämpft sie nicht mit Schwert und Keule
Galvanis Draht und Voltas Säule
Lenkt funkensprühend das Genie.
Und um sich sammelt es ein Heer
Von himmelsturmenden Ideen,
Gedanken blitzen und verwehen
Unzählig, wie der Sand am Meer.
Doch mehr als einer wird zur That
Und lenkt das Schicksal der Geschlechter,
Und als des Ideals Verfechter
Streut er der Zukunft goldne Saat.
[19]
Und auf flammt dann ein neues Licht,
Ein neuer Welttag für die Erde,
Denn auch die Menschheit hat ihr »Werde!«
Und sinnlos ist kein Traumgesicht.
Der ewge Friede baut sein Zelt
Und ob die Zeit sie auch verdamme,
Der Freiheit goldne Oriflamme
Weht leuchtend über alle Welt.
Und wenn dann Lied auf Lied sich ringt
In immer höhre Regionen
Und alle Völker, alle Zonen
Ein einzig grosser Bund umschlingt:
Dann ist's mir oft, als ob die Zeit,
Verlästert viel und viel bewundert,
Als ob das kommende Jahrhundert
Zu seinem Täufer mich geweiht.
Als müsst ich stossen in die Brust,
Ein Winkelried, mir eure Speere:
Hie Wahrheit, Freiheit und hie Ehre!
O Kampf der Liebe, Kampf der Lust!!
Drum dir, die schmerzvoll mich gebar,
Dir, junge Zeit aus Blut und Eisen,
Leg ich mein Herz und seine Weisen
Nun stumm auf deinen Hochaltar!
[20]
Schaust du doch auch ins Morgenroth
Und träumst von unentdeckten Welten;
Wirst du die Liebe mir vergelten,
Die tief für dich mein Herz durchloht?
Doch ob auch Dampf und Kohlendunst
Die Züge dieser Schrift verwaschen;
Kein flüchtig Glück will ich erhaschen,
Ich liebe dich, nicht deine Gunst!
Mir schwillt die Brust, mir schlägt das Herz
Und mir ins Auge schiesst der Tropfen,
Hör ich dein Hämmern und dein Klopfen
Auf Stahl und Eisen, Stein und Erz.
Denn süss klingt mir die Melodie
Aus diesen zukunftsschwangern Tönen;
Die Hämmer senken sich und dröhnen
»Schau her, auch dies ist Poesie!
Sie kehrt nicht nur auf ihrem Gang
In Wälder ein und Wirthshausstuben,
Sie steigt auch in die Kohlengruben
Und setzt sich auf die Hobelbank.
Auch harft sie nicht als Abendwind
Nur in zerbröckelnden Ruinen,
Sie treibt auch singend die Maschinen
Und pocht und hämmert, näht und spinnt.
[21]
Sie schaukelt sich als schwanker Kahn
Im blauen schilfumkränzten Weiher,
Sie schlingt den Dampf ums Haupt als Schleier
Und saust dahin als Eisenbahn.
Von nie geahnter Kraft geschwellt,
Verwarf sie ihre alten Krücken,
Sie mauert Tunnel, zimmert Brücken
Und pfeift als Dampfschiff um die Welt.
Ja, Wunder thut sie sonder Zahl,
Sie lindert jegliches Verhängniss,
Sie setzt den Fuss selbst ins Gefängniss
Und speist die Armuth im Spital.
Wohl war's der Himmel, der sie schuf,
Doch heimisch ward sie längst auf Erden;
Drauf immer heimischer zu werden,
Ist ihr ureigenster Beruf!«
So klingt das Lied, das hohe Lied,
Das dumpfauf mir die Hämmer dröhnen;
Euch aber, euch, die es verhöhnen,
Euch fordr' ich kühn in Reih und Glied!
Rückt an; mit offenem Visir
Und harter Faust will ich euch weisen:
Ich und mein Lied, wir sind von Eisen –
Ihr oder ich, ich oder ihr!
[22]
Denn nicht soll einst in später Zeit
Mit selbstgefälligem Behagen
Ein später Enkel von uns sagen,
Was roth wie Blut zum Himmel schreit.
»Poeten ohne Poesie,
Und keiner rief das Wörtchen: Rette!
Sie blökten allsammt um die Wette,
Wie eine Heerde Hammelvieh!«
Nein, nein und nein und aber nein!
Ein Schuft sein will ich, wenn's so endet!
Das Blatt hat endlich sich gewendet!
Dies Buch soll dess ein Zeichen sein!
Soll sagen, was ihr nie gewollt:
Der Singsang hat sich ausgetutet –
Auch durch das junge Lied noch fluthet
Das alte Nibelungengold!
Drum ihr, ihr Männer, die ihr's seid,
Zertrümmert euere Trugidole
Und gebt sie weiter, die Parole:
»Glückauf, glückauf, du junge Zeit!«

Und alles blieb still, nichts regte sich! Kaum, dass es einige wohlwollende Kritiken tröpfelte. Die junge Bewegung, die heute [23] bereits unsre ganze deutsche Litteratur erfasst hat, lag eben damals kaum noch in den Windeln, und um so seltsamer, ja gradezu um so »rührender« musste ein Buch wirken, dessen Autor gleich in der ersten Zeile, die es überhaupt enthielt, naiv genug war, zu gestehn, dass der »Bart ums Kinn« ihm noch nicht ins »Sprossen« gerathen war, und der, wie es schien, grade hieraus einen Hauptanlass nahm, die Hühneraugen seiner etwas completter bebarteten Herren Collegen für durchaus geeignet zu einem Schuhplattler zu halten:


»Der Tonfall meiner lyrischen Collegen
Ist mir ein unverstandner Dialect,
Denn meinen Reim hat die Kultur beleckt
Und meine Muse wallt auf andern Wegen!
Ins Waldversteck verirrt sie sich nur selten,
Die blaue Blume ist ihr längst verblüht,
Doch zieht die Ahnung neugeborner Welten
Ihr süsser als ein Märchen durchs Gemüth.
Zur Armuth tritt sie hin und zählt die Groschen,
Ihr rothes Banner pflanzt sie in den Streit;
An ihr Herz schlägt das grosse Herz der Zeit
Und aller Weltschmerz scheint ihr abgedroschen.«
[24] Oder:
»Eins ist noth, ach Herr, dies Eine
Lehre mich vollbringen hier,
Und mein Schutzpatron, der Heine,
Schärfe meine Klingen mir;
Gürt mein Herz mit Siegfriedsleder,
Giess ins Hirn mir tausend Lichter
Und befiel in meine Feder
Unsre sogenannten Dichter;
Dichter, deren ganzer Codex
Essen Trinken, Trinken Essen,
Dichter die sich in den Podex
Hämorrhoiden eingesessen!
Grüss Gott, ihr Folianten,
Hurrah, in den Tod!
Spielt auf, Musikanten,
Dies Eine thut noth!«
Oder gar:
»Tagtäglich wispert die Kritik:
O wirf ihn fort den Hungerknochen,
Es hat die leidge Politik
Schon Manchem hier den Hals gebrochen.
Such lieber hohe Protegees,
Dein Socialismus ist uns schnuppe,
Denn schliesslich wärmst Du nur, gesteh's,
Die Achtundvierzger Bettelsuppe.
[25]
Ich hör's und fluche: Sapperment!
Zwar lieblich locken die Moneten,
Doch fehlt mir leider das Talent
Zum schwarzweissrothen Hofpoeten.
Drum bitte, mir drei Schritt vom Leib
Mit euern Tombackpoesien
Und zischt nicht wie ein feiles Weib:
Tritt ein in unsre Koterien!
Thät ich's, ich wär ein Halb-Poet,
So aber ruf ich durch die Gassen:
Die Welt, die sich um Liebe dreht,
Weiss auch das Hungertuch zu hassen!«

Wie er freilich daraufhin, und wohl auch noch auf manches andre in seinem Büchlein, hatte erwarten können, dass man ihn zum Dank dafür »mit Prallinees beschmeissen« würde, begreife ich allerdings heute noch nicht. Aber so gênant mir das natürlich nachträglich auch ist, ich muss leider constatiren, er war so ein Peter. Und als man ihn nun gar statt dessen vollends mit »Lehm« beschmiss, und zwar, wie das köstliche Dictum so wunderbar nüancirt, noch mit »nassem«, [26] da, versichre ich, war der arme Junge ganz perplex und begriff das einfach gar nicht.

Was hatte er denn eigentlich verbrochen? Warum hatte das Buch nicht, wie man es nennt, eingeschlagen? Warum hatte es nicht sofort mehrere Auflagen erlebt? Etwa, weil es schlechter als Albert Träger war, oder Julius Wolff, seine Concurrenten? So dumm fragte ich damals noch!

Und dann weiter, als ich mir sagte, dass es denn doch »daran« unmöglich liegen konnte: Hatten meine Freunde, die den Vers für die überwundene Form einer überwundenen Epoche erklärten, recht? War ich ins Verkehrte getappt? Hatte ich einehandvoll Glühwürmer fälschlich für einen Himmel von Sternen angesehn? Hatte ich die Posaunen von Jericho gehört, wo nur ein Grassmückenconcert war? Und musste ich nun, um meiner Zeit, die ich liebte und der mein ganzes Herz gehörte, gerecht zu werden, um ihr nicht gar zu sehr hinterdrein zu tappen, von Neuem anfangen? Von der Pike wieder auf?

Das waren Fragen die mich folterten.

[27] Um ihnen zu entgehn, um sie zum Schweigen zu bringen, stürzte ich mich in eine neue Arbeit, und während die Druckerschwärze auf dem Titel des ersten Buches noch kaum recht getrocknet war, hatte ich auch schon ein zweites niedergeschrieben, in vier Wochen, vierundzwanzig Kapitel, 200 Seiten lang und natürlich wieder Verse!


»Unterm Heiligenschein.

Ein Erbauungsbuch für meine Freunde.«


In ihm spiegelte sich meine ganze Zerrissenheit. Nachdem, die kleine dürre Fabel einer alten Legende nur so als Vorwand, im tollsten Zickzack, über Alles und Nichts hinwegkutschirt war, dass die Steine nur so flogen und es aus den Pfützen spritzte, schloss es mit dem letzten Kapitel. Ich gebe es hier wieder als »document«:


»Katzenjammer! Ach, schon einmal
Griff der Dichter, den dein Genius
Bleiern überwältigt hatte,
In die Saiten seiner Leier,
Respective seine Feder
Stippte dreimal sich ins Tintfass
Und bekratzte dies Papier!
[28]
Katzenjammer! Wieder drohst du
Ihm moquant mit deiner Ruthe,
Und trivial durch seinen Schädel
Poltert dein besoffnes Elend!
Gähnend mit sich selbst zerfallen,
Wie ein alternder Roué,
Starrt er trüb auf sein Geschreibsel
Und spedierte es am liebsten
In den ersten, besten Ofen.
Denn der Wein, den seine Muse,
Unter falschem Etiquett,
Ihm verführerisch kredenzt,
War ein ganz gemeiner Krätzer! –
Ach, wann endlich wird die Sonne,
Die nach Schiller dem Homer schien,
Auch in seine Seele leuchten?
Als ein Kindlein seiner Zeit
Spellt er noch wie seine Mutter
Sich in hunderttausend Splitter,
Und vergeblich sucht sein Geist sich
Blitzend wie ein Bergkrystall,
In ein Ganzes zu verschmelzen.
Jene nächtigen Probleme,
Die jetzt lauernd durch die Welt
Wie die Tigerkatzen schleichen,
[29]
Pfauchen auch in seine Träume,
Und wenn morgens dann sein Stift
Hastig über das Papier flirrt,
Scheint ihm seine Skribelei oft
Unerträglich und banal.
Liebeslieder zu scandieren
Wäre freilich profitabler.
Doch die Lügen, die das Mondlicht
Ihm romantisch ins Gehirn scheint,
Sind dem Zeitgenossen Zolas
Kakerlakenideale.
Soll sein Lied, das er so keck
»Seit der alte Papa Wieland«
U.s.w. angefangen,
Jetzt wie ein begossner Pudel
Kläglich sich vor euch verstecken?
Hat er nicht wie jener »Junker«,
Dessen Grab in Syrakus liegt,
Noch diverse Odysseen,
Wenn auch grade nicht auf Lager,
So doch mindestens in petto?
Zwar auf »Vorschuss-Lorbeerkronen«
Ist er weiter nicht erpicht.
[30]
Doch ihn drängt's, an dieser Stelle
Seine Zukunftswelt in spe
Präludierend zu begrüssen.
Möglich, dass sein Katzenjammer
Sich dann menschlich rühren lässt!«

Und nun, mit Pauken und Trompeten, um auch ja nur zu übertäuben, was sich aber nicht übertäuben liess, folgte als Ende des Ganzen ein Anfang.

»Präludium!«

Auch dieses betreffende Stück gebe ich hier wieder, obgleich es sehr lang ist, weil es aber meine Stimmung damals besser reproducirt, exacter, als ich dies heute vermöchte, aus der blassen Erinnerung, und weil ich es für nothwendig erachte, dass ich sie hier nicht übergehe.

»Präludium

Dieses lachende Präludium,
Lachend sei es dedicirt
Euch, ihr wohlverbohrten Ritter
Vom romantisch blauen Strumpfband
Und vom klassischen Kothurn.
[31]
Euch und allen andern windgen.
Hyperschlauen Kritifatzkis,
Die, zum Zeichen, dass sie's lasen,
In dies saubre Exemplar
Eselsohren falzen werden.
Bitte sich nicht zu genieren,
Dass ich dies mein kleines Epos
Nicht gleich, zunft- und zopfgerecht,
Philologisch präludirte:
»Nenne mir den Mann, o Muse!«
Armer klassischer College!
Streu, wie unser Grossohm Hiob
Asche Dir auf deine Platte,
Denn die Welt hat sich gedreht
Und mit Wolfgang Goethe starb
Längst der Letzte der Olympier.
Andre Zeiten, andre Lieder,
Andre Lieder, andre Menschen,
Und von Wien bis nach Paris
Fährt man heutzutag per Blitzzug
Noch nicht lumpge dreizehn Stunden.
[32]
Zwar ein Dichter, der wie ich
Schon von jeher kein Talent,
Und, getreu der goldnen Fahne,
Die mir roth zu Häupten flattert,
Zukunftsroth und gleichheitspredgend,
Warn ich meine Concurrenten
Vor der unsoliden Firma
Der Homers und Compagnie.
Ja, mein Herz, ich muss Dich seufzend,
Seufzend, wenn ich daran denke,
Dass auch ich ein Versfaiseur nur,
Oeffentlich hier denunciren:
Dein Credit beginnt zu wanken,
Deine Curse stehen schlecht,
Und dein Renommee ward schartig
Wie ein schäbiger Cylinder
Ach, es ist nur gar zu wahr,
Dein ambrosisch grüner Lorbeer
Fing mit Harold – Byron schon
Ganz bedenklich an zu welken,
Und in meinen Augen bist Du
Nur ein ganz profaner Mensch
Und als solcher wiederum
Nur der erste aller blinden
Bänkelsänger Griechenlands.
[33]
Ja, mein Hirn ist ein Rebell,
Und wie alle diese Leute,
Die auf Alles kreuzweis pfeifen,
Bläht es frech sich auf und pfeift auch
Auf das schulstaubtrockne Dogma
Klassischer Autorität
Immer noch durch unsre Köpfe
Taumeln schwarz bechapeauclacquet
Sich die Götter des Olymp,
Und wenn Rothschild mein Cousin wär,
Liesse heute noch die »Times«
Einen Aufruf los zur Gründung
Eines internationalen Antimuseistenclubs.
Hätte ein gewisser Herwegh,
Der ein grosser Demokrat
Und ein grössrer Dichter war,
Ihn nicht meuchlings schon verausgabt,
Hier an dieser schönen Stelle
Bräch ich aus in den Naturlaut:
»Raum, ihr Herrn, dem Flügelschlag
Einer freien Seele!«
Poesien für Pennäler
Sind bereits genug gedrechselt;
Siehe hier das Gros der Werke
Unsrer deutschen Dioskuren –
Nomina odiosa sunt!
[34]
Aber vollends lasst mich schweigen
Von den lächerlichen Grössen
Ihres lächerlichen Nachtrabs!
Graf von Platen war ihr Mogul,
Und die griechische Schablone
Rüpelte jahrzehntelang
Ihre längstversteinten Formen
Ueber jeden deutschen Quark.
O, ich hasse dies Gezücht
Phrasenschwammiger Banausen,
Das nach jedem Wort sich einen
Idealen Kloss ins Maul pfropft!
Aber ach, mein braves Deutschland
War ja leider das beliebte
Eldorado der Philister
Schon seit anno Tacitus!
Seit der alte Herr von Hutten
Von der Meute seiner braven
Zeitgenössischen Philister
Wie ein Hirsch ins Holz gehetzt,
Auf der Ufenau verreckt ist,
[35]
Hat nur ein Mensch hier in Deutschland
Tabak, Bier und Kohl verdaut,
Der, bis in den Tod sich selbst treu,
Ein lebendiger Protest war
Gegen jedes lächerliche,
Knöcherne Schablonenthum.
Fern vom Rhein, wo er sein erstes
Kinderhöschenpaar zerrissen,
Fern in Frankreich liegt sein Grab,
Und von Immergrün umwoben
Schaut es hoch her vom Montmartre
Auf die Weltstadt an der Seine.
O, ich weiss, wie einst die Mitwelt
Vipernzüngig ihn begeifert;
Kann doch selber heutzutag noch
Ihm kein Dunkelmann vergessen,
Dass sein rothes Dichterherz nicht
Pauvre wie ein pauvres Talglicht,
Sondern gross und welterleuchtend
Golden wie die Sonne brannte.
Ach, die Lösung dieses Räthsels,
Das durchaus kein Phänomen,
Lässt sich leicht in Worte fassen:
Heinrich Heine war kein Stockfisch,
Heinrich Heine war ein Mensch!
[36]
Schellenfroh aus seinen Nestern,
Drin es lichtscheu sich verkrochen,
Schreckte er das nachtverliebte
Fledermausgezücht der Vorzeit,
Und sein blutender Messias
War das dreimal heilge Recht!
Ja, »Hosianna!« rief er jubelnd,
Seine Hymnen präludirten
Den »Befreiungskrieg der Menschheit«,
Und in seinem Herzen schliefen
Schon des neuen Weltprogramms
Goldne Zukunftsparagraphen.
Zwar sein armer Körper war
Abgemergelt wie ein Schatten,
Aber seine goldne Seele
Strotzte nur so von Gesundheit.
Fern im lachenden Paris,
Eingepfercht in ihre graue,
Muffige Matratzengruft,
Rang sie singend wie ein Schwan
Jahrelang mit ihrem Tode,
Denn die Weltlust war ihr Spielzeug
Und ihr Liebling war das Meer.
Doch das Schwimmbassin des Nereus
War von jeher schon ein äusserst
Komplizirter Mechanismus.
[37]
Neben Perlen züchtet es
Auch noch ganz gemeine Schlangen.
Längst versoffne Seemannsprime
Wälzt es gleichfalls tief im Bauch rum,
Und die Traumwelt der Atlantis
Harrt, bedeckt von Gold und Seetang,
Ihrer künftgen Auferstehung.
Um den Wendekreis des Krebses
Wälzt der Teifun vor sich her
Chinas räuberische Dschunken,
Und am Strand von Norderney
Baden Deutschlands Aphroditen
Ihre semmelblonden Glieder.
Ja, ein Künstler ist der Weltgeist
Und das Meer sein Meisterwerk!
Silbergrau durch seine rothen,
Brennenden Corallenwälder
Tummelt sich der flinke Stör,
Und versunkne Städte läuten
Oft aus seinen blauen Fluthen
Ihre träumerischen Glocken
Märchenhaft ins Abendroth.
Doch zur Zeit der Aequinoctien
Wird es hungrig, wie ein Wärwolf,
Und die jungen Fischerfrauen
Schrein dann nächtlich oft im Traum auf.
[38]
Mit dem Herzen eines Dichters,
Der sein Lebtag nicht nur Thee soff,
Sondern manchmal auch frivol
Veritablen Rum hineingoss,
Ist es ähnlich meist bestellt.
Heine war ein solcher Dichter;
Und wenn dann und wann sein Magen,
Statt des oben schon erwähnten
Obligaten »Thees mit Rum«,
»Rum mit Thee« verconsumirte:
Nun, wer will ihm das verdenken?
Spucken mögen auf sein Grab
Dreimal alle alten Jungfern:
Heilig war ihm seine Liebe
Heilig war ihm auch sein Hass!
Sein Geschlecht war ein erlauchtes,
Und die Blüthen seines Stammbaums
Sind die Sterne ihrer Völker.
Aristophanes, der Grieche,
War sein vielgeliebter Ahnherr,
Miguel de Saavedra
Und der Doctor Rabelais
Waren gleichfalls seine Ahnen.
[39]
Doch wozu, o Publikum,
Geb ich heut, wo Dahn und Ebers
Siegreich mit mir concurriren,
Dir ein Privatissimum
In der Kunst der Langenweile?
Ach, die Werke jener Männer
Kennst Du kaum dem Namen nach,
Denn ein einzger Pattitriller
Gilt Dir mehr als tausend Mozarts.
Strickstrumpfflüchtig rettete
Vor dem Schreckregime der Trikots
Die Vernunft aus dem Theater
Sich ins Land der Botokuden,
Denn das neunzehnte Jahrhundert
Applaudirt wie ein Cretin
Nur Ballets und Operetten.
Wer wird heut auch, wo der Golddurst
Wie ein Moloch sich gerirt,
Hamlet oder Faust studiren?
Lieber schluckt man Casanovas
Elegante Sauerein!
Ja, ein Lüstling ist der Zeitgeist,
Ein gealterter Roué,
Und in jedem neuen Buch,
Das ihm eine Kernnatur
Zornig lachend an den Kopf wirft,
Wittert er versteckte Zoten.
[40]
Seine alternde Maitresse,
Die Geborene von Welt,
Thut es selbstverständlich dito.
Jeden kantigen Charakter,
Der es lästerlich verschmäht
Honig ihr ums Maul zu schmieren,
Wühlt sie skeptisch um und um,
Wie's mit einem Stückchen Erde
Wohl nach Würmern thut ein Maulwurf.
Grosser Zeitgenosse Emile,
Dich auch, Dich hat sie verlästert,
Und der Shakespeare des Romans
Ward zum Dichter der Kloake.
Doch was thuts? Wenn auch die alten
Weiber beiderlei Geschlechts
Prüde sich vor Dir bekreuzgen,
Dein Genie reckt seine Glieder,
Seine giftgeschwollnen Stichler
Fallen von ihm wie die Fliegen
Und sein Haupt ragt in die Wolken!
Zola, Jbsen, Leo Tolstoi,
Eine Welt liegt in den Worten,
Eine, die noch nicht verfault,
Eine, die noch kerngesund ist!
Klammert euch, ihr lieben Leutchen,
Klammert euch nur an die Schürze
[41]
Einer längst verlotterten,
Abgetakelten Aesthetik:
Unsre Welt ist nicht mehr klassisch,
Unsre Welt ist nicht romantisch,
Unsre Welt ist nur modern!
Und der Mensch, der sie mit tausend,
Abertausend Eisenarmen
Erdverlangend wild umschnürt hält,
Ist er gleichfalls nicht modern?
Glaubt er wirklich noch an eure
Abgedroschnen Ammenmärchen
Und dass schwarz soviel wie weiss
Und dass zwei mal zwei gleich fünf ist?
Macht euch auf, ihr Neunmalweisen,
Schleicht euch nächtlich durch die Gassen,
Pilgert tags durch die Fabriken
Und den Denkern schaut ins Hirn!
Thut's und wagt es dann zu läugnen,
Dass der Mensch sich, den die Vorzeit
Wie ein Thier ins Joch geknutet,
Endlich sehnt, ein Mensch zu werden!
[42]
Ausgetreten hat der Träumer
Endlich seine Kinderschuhe,
Und vor seinen trunknen Blicken
Wiegt sich lachend, wie ein Eiland,
Das das Weltmeer grün umschaukelt,
Seine märchenhafte Zukunft.
Durch die Wälder Kaliforniens
Schnüffelt wie ein Riesenwurm
Feuerschnaubend sich sein Dampfthier,
Und ums Cap der guten Hoffnung
Segeln seine Panzerschiffe.
Seine Telegraphendrähte
Ueberbrücken wie ein Wasser
Delhi's grüne Palmenwipfel,
Und durchs ewige Eis des Nordpols
Blitzen weisslich die Gebeine
Seiner neusten Märtyrer.
Tausend goldne Sacramente,
Die Kleinodien seiner Kindheit,
Sind zersprungen wie ein Glas,
Und die alte, taube Nusswand
Einer abgelebten Kunstform
Sollte frech sie überdauern?
Deklamirt nur, ihr Poeten,
Eure lyrischen Tiraden,
Eure wortverbohrte Nichtswelt,
Mit euch selber geht sie unter!
[43]
Doch das thut nichts. Eine neue
Taucht schon lächelnd aus den Wassern,
Und die Wasser gehen schwanger
Noch mit hunderttausend andern.
Hätte dies, mein kleines Carmen
Nicht so wohlgeschliffne Krallen,
Die so unbarmherzig spitz sind,
Ich verbräche sans façon
Folgende Apostrophe:
»Du, mein Lied, um das mein Herz
Lieblich klang wie eine Glocke,
Schwing Dich auf, mein goldner Liebling,
Schwing Dich auf wie eine Taube,
Bis die Wasser sich verlaufen!
Melancholisch um mein Haupt
Schwingt die urweltschwangre Sintflut
Ihre dunklen Rabenflügel,
Und durchs Schleusenmeer des Himmels
Brüllt noch immer das alte Chaos!
Ach, und doch! Durch mein Gehirn
Huscht es wie von goldnen Lichtern,
Und die eingelullte Sehnsucht
Nach den hängenden Gärten der Sonne
Wachte weinend wieder auf!
Hat mein Herzschlag mich betrogen?
Tauchen die ersten grünen Zacken
[44]
Jener heissersehnten Neuwelt,
Tauchen sie lächelnd endlich auf?
Eine Welt für einen Ölzweig!
Drum, mein Lied, um das mein Herz
Lieblich klang wie eine Glocke,
Schwing Dich auf, mein goldner Liebling,
Schwing Dich auf, wie eine Taube,
Bis die Wasser sich verlaufen!«
Doch dergleichen wohfrisirte
Taschenspielerstückchen sind mir
Gott sei Dank zu abgedroschen,
Und mein urwaldstruppig Lied
Ist nichts wenger als ein Täubchen!
Nein! Die föhnumbrüllten Trümmer
Eurer längst verkrachten Welt
Liess es sonnenfeuertrunken
Meertief unter sich versinken
Und verlor sich in den Himmel.
Flügelstolz, ein kleiner Kondor,
Schwebt's nun über seiner lieben,
Jungen Sonnenaufgangswelt,
Und zum Ärger aller griechisch
Radebrechenden Philister
Schmetert's dort wie eine Lerche
Uebermütig seinen Triller:
[45]
»Zola, Jbsen, Leo Tolstoi,
Eine Welt liegt in den Worten,
Eine, die noch nicht verfault,
Eine, die noch kerngesund ist!«
So! Bis hierher und nicht weiter!
Lachend rief ich's, und die Feder
Stiess ich tief ins Tintenfass.
Fern am Biertisch harrte schon
Das Trifolium meiner Freunde,
Und im Duftkreis einer braunen
Sobetitelten Havannah
Lässt sich's ja, wie jeder selbst weiss,
Ganz vortrefflich Hütten baun!
Selbstverständlich gab mein Opus,
Das ich lachend ihnen vortrug,
Stoff zu einer Diskussion.
Längst verrostete Gewaffen
Aus dem Rüstzeug der Aesthetik
Wurden wieder blank geputzt,
Und die köstlichsten Sophismen
Bissen wie die jungen Hechte
Sich vergnügt in ihren Schwanz.
Doch was half's? Am Ende gaben
Sie sich kleinlaut mir gefangen,
[46]
Und die schnurgerade Klassik
Fiel nicht minder glänzend durch
Als die winklige Romantik.
Nur zu meiner neuen Welt,
Zu dem neuen Evangelium,
Das aus Frankreich her und Russland
Unsrer Kunst gepredigt wird,
Konnten sie sich nicht bekehren,
Und das Kleeblatt opponirte
Gegen die Verherrlichung
Zola's, Jbsen's, Leo Tolstoi's.
»Wenn Du ihre Welt so lieb hast,«
Replicirten die drei Käuze,
»Nun, so tritt sie doch mit Füssen!
Aus der Vogelperspektive
Sieht ein Düngerhaufen schliesslich
Aehnlich wie ein Weizenfeld aus.
Willst Du ihre goldnen Früchte,
Die wie Pomeranzen lachen,
Dir nicht einmal näher ansehn?
Ach, am Ende sind sie giftig,
Giftig wie die ganze Welt,
Die sie farbig überschaukeln?
Geh, Du bist ein Jünger Plato's,
So ein Wolkenkukuksheimer,
[47]
Und scharwenzelst um sie her,
Wie ein blöder Schmetterling,
Der um eine Rose tändelt!
Ergel, wenn Du wirklich auf Dein
›Neues Evangelium‹ schwörst,
Nun dann brocke Deine Verse
Nicht in seine Prosasuppe.
Schlängle klug mit dem Notizbuch.
Wie ein jüdischer Reporter,
Dich durch's Gassenmeer der Grossstadt,
Und edire Jahr für Jahr,
Ein gedruckter Photograph,
Realistische Romane.
Reime, Rhythmen und was sonst noch
Dich an Versen so entzückt,
Jene knappe Condensiertheit,
Die in Einem goldnen Lichtblitz
Tausend bunte Farben aufsaugt,
Musst Du dann als neuer Heiland
Selbstverständlich brüsk verläugnen.
Englands Hamlet, Deutschlands Faust
Und Altgriechenlands Prometheus –
Lächerlich, dass diese Leute
Verse, nichts als Verse schwabbeln!
Destillire Dir doch einmal
Die famose Quintessenz
[48]
Henrik Ibsenscher Kritik,
Der im Namen Deiner Gottheit,
Als ihr wohlbestallter Priester,
Schillers Jambendramen köpfte:
Blödsinn, nichts als höhrer Blödsinn!
Deine formverliebte Seele
Hat sich eben schon aus tausend
Goldgeformten Henkelkrügen
Gar zu heidnisch schön besoffen!
Hungre sie asketisch aus!
Verse thun's heut freilich nicht:
Prosa, Freundchen, platte Prosa!«
Ach, wie wohlfeil war euch Braven
Dieser gutgemeinte Spott!
Harmlos wie die jungen Bären
Lebt ihr euer Leben hin;
Auf die Quadratur des Cirkels
Habt ihr als verständge Leute
Philosophisch schon verzichtet,
Und ein schief getretner Stiefel
Bringt euch eher aus dem Häuschen,
Als das närrische Problem:
Dreht die Achse dieser Welt
Sich nach rechtshin oder linkshin?
Anders, wenn ein Homo sapiens
Nicht, wie ihr, nur Steuern zahlt,
Sondern, wie z.B. ich,
Nebenbei auch noch Poet ist.
[49]
Werden doch in seiner Brust
Feindlich stets zwei Seelen wohnen,
Und vielleicht just, wenn die eine
Strümpfe stopft und Hosen flickt,
Reimt die andere ihr erstes
Tiefgefühltes Liebeslied. –
Zwar mein Kopf hat sich schon längst
Radikal emanzipirt;
Doch in meinem Herzen blühn noch
Alle Blumen der Romantik!
Kriechen soll ich, Freunde, kriechen?
Kriechen wie ein fader Wurm?
Schaut nur, wie die alten Wälder
Ihre grünen Häupter schütteln,
Und wie über sie die Sterne
Kreuzweis ihre Lichter werfen:
Ach, sie intoniren alle
Ein homerisches Gelächter!
Wem die Sonne dieser Gottwelt
Niemals bis ins Herz geschienen,
Mag sich in den Staub verlieben,
Doch wer Flügel hat, der fliege!
Weiss nicht, ob ich nicht noch einmal,
Später, wenn ich alt und grau bin,
Mich ins Prosajoch bequeme.
[50]
Ach, die Zeit ist gar zu flüchtig,
Und wenn erst das Podagra
Uns moquant an Arm und Bein zwickt,
Macht die Jugend schmählich Pleite,
Und die goldnen Ideale
Drehen schnippisch uns den Rücken.
Doch einstweilen dedicir ich
Dieses lachende Präludium
Euch, ihr wohlverbohrten Ritter
Vom romantisch blauen Strumpfband
Und vom klassischen Kothurn!

Selbstverständlich war der neue Kater, der auf diesen neuen Rausch folgte, nur ein um so grimmigerer. Ja, er war sogar so ehrlich und anhaltend, dass ich eines schönen Tages das ganze dicke Manuscript nahm und es in meinen Schreibtisch verschloss, wo es noch heute liegt. Die Erfahrungen, die ich mit meinen ersten Versen gemacht hatte, genügten mir, ich wollte sie nicht noch ein zweites Mal machen ...

Und nun war eine Zeit für mich angebrochen, die nur der zu schätzen wissen wird, der sie, in ähnlicher Form wenigstens, bereits selbst erlebt hat.

Man hat mir seitdem versichert, dass derartige[51] »Krisen« heute das Leben jedes Civilisationsmenschen zieren. Möglich. Es würde mir erklären, warum ich so viele Krüppel um mich sehe.

Alles in mir war in Trümmer gegangen, und doch verrann kaum eine Woche, in der nicht noch irgend etwas nachstürzte. Und was das Sonderbarste dabei war, das Tollste, ich empfand darüber jedes Mal noch so eine Art zorniger Freude, etwas wie eine Genugthuung. Etwa jener ähnlich, die, wie ich mir denke, ein Mensch empfinden muss, der eben eine Million verloren und nun die letzten paar Pfennige, die ihm noch übrig geblieben, dem ersten besten Bettler zuwirft. Das Einzige, was mir noch übrig zu bleiben drohte, war eine einzige ungeheure Skepsis. Gegen Alles und in erster Linie, namentlich, gegen mich selbst! Doch ich will mich in keine Details verlieren. Ich fand mich wieder, nach einem Jahr, mitten im Winter, in einem kleinen, verschneiten Häuschen, das dicht an der Haide lag, abseits, ganz einsam und ich der einzige Mensch in ihm, Berlin eine gute Meile weit hinten im Rücken.

[52] Ich lebe den Abend noch immer! Den Tisch, auf dem die kleine, grüne Lampe brannte, an den Ofen gerückt, denn es war bitter kalt draussen, sass ich und schrieb. Auf einem grossen, blendendschönen Papier, mit neuer, spitzer Perryfeder und chinesischer Tusche. Denn es machte mir eine unbändige Freude: »Goldene Zeiten, erstes Kapitel!« Auf weissem Grunde, kohlschwarz und in sauber abgezirkelten Buchstaben. Draussen, krächzend, die Krähen; drinnen, summend, der Theekessel. Dazwischen, ab und zu blaffend, die Lampe.

»Seine Kindheit!

Immer, wenn er sich in sie zurückdachte, tauchte, schimmernd wie ein Perlmutterstückchen, das Miniaturbild einer alten, kleinen Stadt vor ihm auf: hochrothe Dächer über mattgelben Giebeln, stille, lange Strassen, in denen das Gras wuchs, Hähne, die verschlafen in den schwülen Nachmittag krähten, Rosenstöcke, die über grüngestrichne Blumenbretter weg blutroth durch den stillen Sommer funkelten, Wetterfahnen, die sich kohlschwarz in den blauen Himmel drehten, und vor allen Dingen Sonne, viel, viel Sonne!

[53] Am liebsten aber hatte er doch das Haus seines Vaters. Es war das stattlichste aus der ganzen Stadt, warf nachts, wenn der Vollmond in seine Schornsteine schien, seinen dunkelblauen, scharfgezackten Schlagschatten unten mitten auf den stillen Markt und hatte überdies zwei grüne, ganz mit Moos bewachsene Dächer.

Er entsann sich, als kleiner Junge irgendeinmal gehört zu haben, dass dies eigentlich nur in Holland so Mode sei. In Holland! Was das für ein wunderbares Land sein musste! Sein kleiner Krauskopf schwelgte sich in die abenteuerlichsten Vorstellungen hinein. Nur schwer konnte er später, als er die Bänke der Sexta blank scheuern half, begreifen, wie ein Mann vom Schlage Alexanders des Grossen, der sich von Apelles malen und von Lysippus in Stein aushauen liess, sich für ein Land wie dieses Indien begeistern konnte. In Holland mussten die Paradiesvögel entschieden schöner pfeifen und die Johannisbrodbäume noch viel, viel wilder wachsen!«

Das sollte mein erster »Roman« werden. [54] Mein erstes Prosabuch. Die einfache, thatsachenschlichte »Geschichte eines Kindes«. Denn ich hatte mich in die Vergangenheit geflüchtet, die Gegenwart entglitt mir, und leibhafter, greifbarer denn je, ja leibhafter und greifbarer als damals, wo ich sie selbst durchlebte, standen vor mir die Tage, die ich längst schon vergessen geglaubt.

»... und die Johannisbrodbäume noch viel, viel wilder wachsen!«

Ich legte die Feder bei Seite. Das gefiel mir. Meine kleine, kurze »Maurer«-Pfeife, ohne die es überhaupt nicht mehr recht »gehn« wollte, war mir ausgegangen, ich zündete sie mir von Neuem an.

»... und die Johannisbrodbäume noch viel, viel wilder wachsen!«

Und ich wiederholte die Worte und ich wiegte mich in ihnen und es klang wie Musik.

Und plötzlich, mir selbst zur Ueberraschung, weil ich mich sonst, in ähnlichen Fällen, noch nie danach gefragt hatte, stutzte ich und fragte ich mich: Warum?

Das vorher gefiel mir zwar auch und ich war durchaus damit einverstanden, aber dieses [55] Letzte, dies mit dem merkwürdigen Holland, in dem Paradiesvögel pfeifen sollten und Johannisbrodbäume wachsen, es war gar kein Zweifel, packte mich ganz besonders, ganz eigenthümlich. Oder – war es vielleicht gar nicht so?

Und ich las mir die ganze, schöngeschriebne Seite noch ein Mal durch, laut und jede Impression, die ich verspürte, sorgfältig registrirend, und sah, dass ich mich in der That nicht geirrt hatte. Aus all den Sätzen hob sich mir deutlich, scharf unterscheidbar von dem Uebrigen – eine Gebirgskette mitten aus einer Flachlandschaft – eine Wortfolge ab, die einen unendlich stärkeren Eindruck auf mich machte, als ihre etwas blässlichere Nachbarschaft: »In Holland! Was das für ein wunderbares Land sein musste! .... Dort mussten die Paradiesvögel entschieden schöner pfeifen und die Johannisbrodbäume noch viel, viel wilder wachsen!« Es war gar nicht zu drehen dran, gar nicht zu deuteln, ich empfand es zu lebhaft: das davor und dazwischen imponirte mir nicht halb so!

Und ich sagte mir, und das liess mich auf [56] einen Augenblick meinen ganzen Roman vergessen und meine Pfeife abermals ausgehn, wenn ich dahinter käme, befände ich mich überhaupt erst im vollen Besitze meines Handwerkszeuges. So arbeitete ich zwar bereits auch mit ihm und es schien oft wundervoll glatt zu gehn, aber es musste mir doch jetzt, eben, vor wenigen Augenblicken erst, offenbar geworden sein und war es mir ja auch, dass es Eigenschaften besass, die ich noch nicht kannte, und ich mich mithin unmöglich der Einsicht verschliessen durfte, so sehr sich auch Alles in mir dagegen sträubte, dass ich, weit davon entfernt, als Künstler meine Mittel zu beherrschen, vielmehr – bis zu einem gewissen Grade allerdings nur, aber bis zu diesem dafür auch durchaus und gründlich – von ihnen beherrscht wurde! Und die ganze Wichtigkeit lag offen vor mir, der ganze ungeheure Werth, hinter dieses, scheinbar so kleine, Geheimniss zu kommen, dessen Schlüssel, es liess sich gar nicht anders denken, es war gar nicht anders möglich, auch zugleich der aller übrigen sein musste. Und, ohne dass ich es wusste oder mich auch nur darum [57] gekümmert hätte, wie und woher es kam, summte es mir durch den Schädel: »Une oeuvre d'art est un coin de la nature vu à travers un tempérament«.

Ich hatte mich bis dahin um »Theorien und sowas« nie weiter gekümmert. Ich hielt das für »Krempel«. Aber Einiges, aus Lectüre und Gesprächen, musste doch, ohne dass ich darauf Acht gegeben hatte, in meinem Gedächtniss haften geblieben sein, so auch dieser Satz Zola's.

Und während ich, seine Worte noch im Kopf, meinen Kapitelanfang abermals durchging, tastend, suchend und alles abwägend in seinen Wirkungen, verspürte ich, wie mir mit ihrer ganzen Wahrheit auf ein Mal auch ihre ganze Nüchternheit aufging, ihre ganze triviale Gemeinplätzlichkeit. »Wenn's regnet, ist's nass«, und: »Von Weitem sieht etwas entfernt aus«. Das war genau so wahr und sagte mir – genau so viel! Nur war es leider noch nicht einmal die Zeit werth, die man brauchte, um es überhaupt auch nur niederzuschreiben. Und ich fühlte, wie sich etwas in mir formte, das mir mehr sagte als dieses, [58] das Licht ausstrahlte, wo jenes Dunkel liess, und das, erst einmal gefunden, nie mehr verloren gehn konnte ...

Die nackten Ahornäste draussen vor meinem Fenster, in der Dunkelheit, klapperten, den süssen Stummel, den ich mir unterdessen wieder angebrannt hatte, zwischen den Zähnen, sass ich und »simmilirte«.

»Une oeuvre d'art est un coin de la nature vu à travers un tempérament«. Ganz recht: alle Ratten haben Schwänze. Das war eine Weisheit, die wahrscheinlich schon in den alten Veden gestanden! Sie roch ganz so. Nur – wie erklärte mir dies meine merkwürdige Impression von vorhin?

Waren nicht grade jene von meinen Sätzen, die mir so ausserordentlich gefallen hatten, am allerwenigsten aus meinem momentanen »Temperament« heraus geschrieben? Entfernten sie sich nicht vielmehr so vollkommen von ihm, dass mich aus ihnen ordentlich die Luft von vor fünfzehn Jahren anwehte? Und liessen mich nicht jetzt, wo ich mir daraufhin meine Seite noch einmal durchlas, grade diejenigen Sätze, respective Satztheile, die in [59] jene Stimmung ganz ungenirt mit meinen allergegenwärtigsten, kritischen Ich hineinplatzten, wie z..B.: »Sein kleiner Krauskopf schwelgte sich in die abenteuerlichsten Vorstellungen hinein«, oder: »Nur schwer konnte er später, als er die Bänke der Sexta blank scheuern half«, kalt, wie eine Hundenase? Und hätte also so nicht die ganze Seite noch unendlich unmittelbarer auf mich wirken müssen, wenn es mir vorhin, als ich sie niederschrieb – freilich, ohne dass ich es besonders beabsichtigt hätte – gelungen wäre, mein arrangirendes und Alles umkrempelndes und zurechtbastelndes Ich auch in diesen Sätzen, respective Satztheilen auf das möglichste Minimum zu beschränken? Und es war mir auf einmal klar wie die Sonne: Der Satz Zola's sagte eine Wahrheit aus über die Kunst, aber nur eine Theilwahrheit! Welches war die ganze?

Und vor mir baute es sich auf aus funkelnden Brücken und wehenden Warten, aber noch fern und verschwimmend, eine ganze Fata Morgana!

Und ich ging an jenem Abend sehr, sehr spät schlafen.

[60]

2

II.

Meine armen »Goldenen Zeiten!« Natürlich wurde nun aus ihnen nichts. Mein Feuer für sie war verraucht, noch ehe es überhaupt recht ins Flackern gerathen war. Ich schichtete noch hundert Seiten auf und dann liess ich sie liegen.

Ich konnte nichts halb sein. Hatte mich vordem nur die Praxis gekümmert und war ich infolgedessen nur Praktiker gewesen, so interessirte mich jetzt nur noch ihre Theorie und ich wollte nur noch Theoretiker sein. Und die alten Schweinslederscharteken auf meinem Tisch häuften sich und ich wurde Stammgast in der Königlichen Bibliothek.

Die Gelehrsamkeit, sagte ich mir, ist der Grützberg, und durch den musst du dich nun durchfressen. Dann kommst du in das gelobte Schlaraffenland, wo die Knödelbeete und die Leberwurstbäume auch für die Proleten wachsen, und die Weisheiten werden dir immer nur so gebraten in den Mund fliegen.

»Ja woll doch!« Ich »frass« und »frass«, und der Grützberg wurde nicht alle. Und [61] ich hatte schon nicht übel Lust, mich mit Wippchen zu beschweren: Pfui Teufel, dieser Grützberg ist ja ein Augiasstall!

»Qu' est-ce que cet Art, que tous cultivent avec plus ou moins d'éclat? quel en est le principe, quelle en est la fin, quelles en sont les régles? Chose étrange, il n' y a personne, ni à l'Académie ni ailleurs, qui soit peut-être en état de le dire. L'art est un indéfinissable, quelque chose de mystique, la poésie, la fantaisie, tout ce que vous voudrez, qui échappe à l'analyse, n' existe que pour lui-même, et ne connaît pas de règles. Recueiliez les discours, rassemblez les écrits, faites le dépouillement des critiques: je suis fort trompé si vous obtenez rien de plus. Ce qui n'empêche pas les artistes de se disputer ni plus ni moins que des théologiens et des advocats, qui, eux du moins, reconnaissent des principes et des règles, et de se condamner les uns les autres, comme si ce n'était pas chose convenue qu'ils ne se peuvent entendre!«

Dieses Excerpt aus Proudhon war schliesslich das Einzige, worauf ich noch »schwur«. Alles Uebrige schien mir keinen Pfifferling werth.

[62] Und drum, als endlich der Frühling kam und draussen vor meinem offenen Fenster wieder die ersten Staare pfiffen, stäubte ich mir meine ganze sogenannte »Wissenschaft vom Schönen« aus dem Schädel und unterstrich in meinen alten Manuscripten dick mit Rothstift zwei kleine Opuscula, die mir jetzt so recht aus der Seele geschrieben schienen:


»Nun muss sich wieder Alles wenden,
Ich fühl's an meines Herzens Schlag,
Und schöner wird's an allen Enden
Und lieblicher mit jedem Tag.
Die Liebe schnürt ihr rothes Mieder,
Der Armuth schmeckt ihr trocknes Brod,
Und süss klingt's nächtlich aus dem Flieder:
Im Frühling lächelt selbst der Tod!«

* *

*


»Und wieder stimmt sie mir den Psalter,
Die liedervolle Maienzeit,
Und gaukelnd schwebt um mich der Falter,
Das Sinnbild der Unsterblichkeit.
So lebt denn wohl, ihr Pergamente,
Der winterlichen Hirntortur,
Mich lockt ins Reich der Elemente
Die neuerstandne Lenznatur.
[63]
Umspielt von silberbleichem Lichte,
Ein Grabfeld nach verlorner Schlacht,
Ein Todtentanz ist die Geschichte,
Ein Todtentanz um Mitternacht.
Es bleibt der Ruhm, wie er auch glänze,
Ein Blendwerk nur, ein eitler Schein;
Mehr gilt als tausend welke Kränze
Mir dieses Lebens goldnes Sein!«

Ich fühlte, mein altes Vagabundenblut war wieder einmal ins Rollen gerathen, und so schnürte ich denn eines schönen Tages mein Bündel und – fuhr in die Welt.

Und, siehe da, zugleich mit dem alten Zigeuner in mir war auch der alte Lyricus erwacht!

Zwischen Hamburg und Rotterdam, mitten auf der Nordsee war's, wo es mich nach langer Zeit wieder einmal »packte«. Und ich war doch schon so köstlich naiv gewesen, mir einzubilden, ich hätte es mir nachgerade »abgewöhnt«!

Es war ein wunderbarer Tag, die See sah wie aus zerflossenen Juwelen aus, ich lag über Bord gebückt und unter mir in die glitzernde Tiefe starrend, und die Luft roch nach Wasser:


[64]
»Still still, Kind, still, es war ein Traum.
Die Wellen grün und weiss der Schaum.
Er rollt durch den Sonnenschein, blitzt und zerstiebt.
Es war ein Traum, dass es Rosen giebt!
Es war ein Traum, dass ein deutscher Wald
Hoch über dir grün seine Wipfel geballt,
Und dass dort, von Menschen wie du gesehn,
Berge, Thäler und Städte stehn!
Schon seit Tagen sahst du kein Streifchen Land,
Hinter dir liegt, was du Welt genannt.
Nun giebt's kein Leid mehr und keine Lust,
Nun schlägt kein Herz mehr in deiner Brust!
Das Segel blitzt, die Welle schäumt,
Es war ein Traum, wie ein Kind ihn träumt,
Der Schornstein raucht, die Möve flieht,
Nichts, nichts, so weit dein Auge sieht, –
Nur:
Himmel und Wasser!«

Doch, wie eben Scheffel schon sagte: »Alles nimmt ein End'hienieden. Auch das Reiten durch die Wälder«. In Rotterdam sprang ich wieder ans Land. Und zwar über ein Butterfass weg, das die Aufschrift trug: Nach Brüssel.

»In Holland! Was das für ein wunderbares Land sein musste! .... Dort mussten die Paradiesvögel entschieden schöner pfeifen und die Johannisbrodbäume noch viel, viel wilder wachsen!«

[65] Aber ich hatte es leider schlecht getroffen. Es war grade am Ostersonnabend und so die ganze Stadt eine einzge grosse Aufwaschwanne. Die Paradiesvögel und die Johannisbrodbäume wurden grade mal wieder abgeseift. Brrr!

Also auf nach Valencia! dem Butterfass nach! Und dort war die Sache dann natürlich noch weit einfacher. Sitzst du nun schon hier in Brüssel, sagte ich mir, dann rutschst du auch gleich nach Paris rüber. Und richtig! Aber es rächte sich bitter. Denn das Erste, das mir auf dem ersten grossen Boulevard gleich zwischen die Beine wuselte, war eine Buchhandlung und in ihr – alle sieben, mit dicken Leibern in den bekannten schönen strohgelben Fräcken und in einer Reihe – die »Oeuvres critiques par Émile Zola«: »Mes haines«, »Le roman expérimental«, »Nos romaniers naturalistes«, »Le naturalisme au théâtre«, »Nos auteurs dramatiques«, »Documents littéraires« und »Une campagne«. Und ich Jammermensch kannte noch keinen einzigen von ihnen! Unglaublich! Und alle meine Wunden, die unterdessen schon fast vernarbt gewesen, waren wieder aufgebrochen und bluteten wieder ...

[66] Noch am selben Abend, fünf Treppen hoch in der rue de Miromènil, sass ich, die sieben Weisen um mich, und – fühlte mich um so ernüchterter, je tiefer ich mich in sie hineinbohrte.

Also das war die sogenannte Theorie des sogenannten Naturalismus? Mehr steckte nicht dahinter? Du lieber Gott, das war ja genau dasselbe alte, leere metaphysische Stroh, das ich nun schon den ganzen Winter über gedroschen hatte! Nur höchstens, hie und da, mit etwas neumodischem Salat vermengt!

Und um diese Omelette hatte man so viel Skandal gemacht? Und um dies bischen »Salat« hatte man in dem guten »dicken Emil«, dem »bourguemestre de Médan«, wie ihn seine Intimen titulirten, schon den leibhaften Antichrist zu erblicken geglaubt? Träumte ich?

Und noch in derselben Nacht concipirte ich einen kleinen Essay: »Zola als Theoretiker«, dessen definitive Fassung freilich erst drei volle Jahre später erschien, Februar 1890, in der »Freien Bühne«, den ich aber doch schon hier wiedergeben will, weil er bereits meinen ganzen damaligen »Seelenstand« resümirt:

[67] Zola als Theoretiker

Als Praktiker geht Zola von Balzac aus, als Theoretiker von Taine. Seine »Oeuvres critiques« stehen genau in demselben Abhängigkeitsverhältnisse zur »Philosophie de l'art« des Einen, wie sein Rougon-Macquart-Cyclus zur »Menschlichen Komödie« des Andern. Beide Werke wären ohne diese Vorgänger nicht geschrieben worden. Den Beweis für diese Behauptung, wenigstens insofern sie den Praktiker Zola berührt, erlassen wir uns hier, wir halten uns nur an den Theoretiker.

1.

Mit Taine hob in der Kunstwissenschaft eine neue Aera an. Er war der Erste, der die naturwissenschaftliche Methode in sie einführte; der sie nicht mehr auf Dogmen gegründet wissen wollte, sondern auf Gesetzen. Hat er dieses sein Ideal verwirklicht? Ist es ihm thatsächlich gelungen – wie er es beabsichtigte – aus der Kunstwissenschaft eine [68] Naturwissenschaft zu machen, »une sorte de botanique appliquée, non aux plantes, mais aux oeuvres humaines«? Nein! Seine »Philosophie de l'art« ist ein Gemisch aus Gesetzenund Dogmen!

Welches nun sind diese Gesetze, und welches sind diese Dogmen?

Beide von diesen Gruppen lassen sich mühelos auf je einen Kerngrundsatz zurückleiten, und es leuchtet also wohl ein, dass man nur diese beiden wiederzugeben braucht, um auch zugleich jene beiden damit anzudeuten. Das Gesetz, aus dem sich dann alle übrigen von Taine gefundenen entwickelt haben, lautet: »Jedes Kunstwerk resultirt aus seinem Milieu«, das Dogma: »In der exacten Reproduction der Natur besteht das Wesen der Kunst nicht

Das Gesetz war urneu, das Dogma uralt.

Noch nie und nirgends hat es eine Aesthetik gegeben, deren tiefunterstes Fundament dieses Dogmanicht gewesen wäre. In ihm wurzelte und wurzelt auch heute noch Alles, was je über Kunst gedacht und geschrieben worden ist; und so erbittert allenthalben auch sonst der Kampf tobte und tobt, über ihm reichte [69] und reicht man sich auch heute noch versöhnt die Hände; in ihm begegnen sich ganz ernsthaft Sophokles und Schmidt-Cabanis.

Doch ist es vielleicht darum, fragen wir, auch nur um ein Haar breit weniger ein Dogma?

Falls man unter einem »Dogma« nichts Anderes versteht, als was wir darunter verstehen, nämlich eine unbewiesene Behauptung, dann sicher nicht! Oder – irren wir uns? Hat sie schon Jemand bewiesen? Dann tausend Verzeihung! Die Beweise, die Taine anführt, und die, soweit wenigstens unsere Kenntniss davon reicht, die üblichen zu sein scheinen, leiden leider an einer derartigen Fadenscheinigkeit, dass es vollkommen unverständlich wäre, wie ein so kluger und scharfsinniger Kopf wie Taine sich überhaupt ihrer hatte bedienen können, wenn man sich nicht eben sagte, dass er sie offenbar nur so pro forma angeführt hatte. Wozu etwas vertheidigen, was noch Niemand angegriffen? Er hatte sich in diesem Pünktchen offenbar so total eins mit aller Vergangenheit gefühlt, so durchaus congruent mit allem bis dahin Gewesenen,[70] dass ihm das Problematische darin offenbar gar nicht zum Bewusstsein gekommen war. Er war darüber hinweggeglitten, wie man über ein Axiom hinweggleitet. »Wenn zwei Grössen einer dritten gleich sind, so sind sie unter einander gleich.« »In der exacten Reproduction der Natur besteht das Wesen der Kunst nicht.« Der eine von diesen beiden Sätzen ist aus Granit gehauen, der andere aus Wachs geformt; und es wäre nur die herrliche Krönung seiner eigenen Methode gewesen, die er ja selber die nicht dogmatische genannt hat, wenn Taine eben dieses Wachs zum Schmelzen gebracht hätte! Aber seine Energie war nicht gross genug, grade im entscheidendsten Momente verliess ihn sein Positivismus, und so kam es denn, dass die Welt auch heute noch jenes Wachsklümpchen für einen Granitblock hält.

2.

Und Zola? Wie verhält sich nun Zola zu Taine? Ist er über ihn als Praktiker ähnlich hinausgegangen, wie über Balzac als Theoretiker? Lassen seine »Oeuvres critiques« [71] die »Philosophie de l'art« gleich weit hinter sich zurück oder auch nur annähernd so weit, wie sein Rougon-Macquart-Cyclus die »Menschliche Komödie«?

Wollte man so liebenswürdig sein und gewisse Rhetorica von ihm für baare Münze hinnehmen, so müsste mindestens das Letzte der Fall sein. Mit zwanzig Jahren war ihm Taine seinem eigenen Geständnisse nach »die höchste Offenbarung unseres Erkenntnissdranges« gewesen, »unseres modernen Bedürfnisses, Alles einer Analyse zu unterwerfen, unseres unwiderstehlichen Hanges, Alles zu dem einfachen Mechanismus der mathematischen Wissenschaften zurückzuführen;« mit vierzig Jahren nannte er ihn einen »zimperlichen Akademicus«, einen »Trembleur« der Philosophie, einen »Equilibristen« der Kritik.

Nun, er hätte sich diese Titulaturen sparen sollen. Er besass kein Recht auf sie. Der »Equilibrist« hielt die Intelligenz des Vierzigjährigen noch mit genau denselben Brettern umnagelt, die die »höchste Offenbarung« bereits um die Intelligenz des Zwanzigjährigen [72] gehämmert hatte. Irgend ein Sonnenstrahl von Aussen her war unterdessen auf sie auch nicht durch ein einziges Ritzchen geschimmert! Alle die hundert und aber hundert Kritiken, die uns Zola heute in sieben dickleibigen Bänden gesammelt vorgelegt hat, sind nichts weiter als immer nur wieder und wieder machtvoll wiederholte Variationen über ein und dasselbe Doppelthema: »Jedes Kunstwerk resultirt aus seinem Milieu« und: »In der exacten Reproduction der Natur besteht das Wesen der Kunst nicht«. Irgend ein Zweifel, ob diese beiden, ihrem innersten Bau nach so grundverschiedenen Melodien nicht am Ende doch in eine unauflösliche Dissonanz ausklingen möchten, ist ihm, dem Schüler, ebenso wenig aufgestiegen, wie vordem seinem Meister. Er hat nur einfach weitergegeben, was ihm von diesem überliefert worden war. Nichts weiter. Mit einem Wort: der Praktiker Zola bedeutete einen Fortschritt, der Theoretiker Zola einen Stillstand.

3.

Aber, wendet man uns hier vielleicht ein, stammen denn nicht wenigstens gewisse [73] Schlagworte von Zola? Schlagworte, ohne die wir in unserer modernen litterarischen Discussion einfach gar nicht mehr auskommen können? Und widerlegt nicht schon diese eine Thatsache allein unsere Behauptung? Unsere Behauptung nämlich, dass die »Oeuvres critiques« dem durch die »Philosophie de l'art« so erheblich emporgeschraubten Niveau unserer Kunstwissenschaft auch nicht die Höhe eines Sandkörnchens hinzugefügt hätten?

Nein! Denn diese berühmten Schlagworte gliedern sich, wie alle derartigen Zeitproducte naturgemäss in zwei scharf von einander abgesonderte Rubriken: die eine enthält alle diejenigen, denen eine Wahrheit zu Grunde liegt; die andere alle diejenigen, die ihr – wahrscheinlich nur sehr kurz bemessenes – Dasein einem Irrthum verdanken. Und es ist das eigenthümliche Missgeschick Zola's, dass immer nur die Nummern der zweiten Rubrik sein geistiges Eigenthum sind. Die recherche de la paternité, die in der Wissenschaft ja Gottseidank noch nicht untersagt werden kann, führt uns darauf, dass die Nummern der ersten durchweg »anderweitigen Ursprungs« sind.

[74] Wir wählen zwei Beispiele: »documents humains« und »roman expérimental«; also vielleicht grade diejenigen beiden Wortverbindungen, die heute im Anschluss an Zola am häufigsten gebraucht werden. Von diesen sind uns die »documents humains« ebenso characteristisch für die erste Rubrik, wie der »roman experimental« uns characteristisch für die zweite zu sein scheint.

Die documents humains würden in der That heute in unsere Discussion geplatzt sein, auch wenn Zola sie nie zu Papier gebracht hätte. Man gestatte uns hier die folgende kleine Stelle von Georg Brandes zu citiren, aus seinem bekannten, prächtigen Essay über den Dichter:

»Nichts von dem, was Taine geschrieben, hatte solchen Eindruck auf ihn gemacht, wie der Aufsatz über Balzac, in dem er seinen zweiten grossen Führer fand. Dieser Aufsatz, der damals für eine der verwegensten litterarischen Handlungen galt, stellte mit einem herausfordernden und übertreibenden Vergleich einen noch umstrittenen Romanverfasser an die Seite Shakespeare's; aber er machte Epoche [75] und führte in die Litteratur einen neuen Ausdruck und einen neuen Maassstab für den Werth dichterischer und historischer Werke eine: Zeugnisse darüber, wie der Mensch ist.

Taine schloss nämlich folgendermassen: »Mit Shakespeare und Saint-Simon ist Balzac das grösste Magazin von Zeugnissen, das wir über die Beschaffenheit der menschlichen Natur besitzen« (documents sur la nature humaine).

Zola machte hieraus sein ungenaues Stichwort: »documents humains«.

Dieser letzte Passus beruht auf einem kleinen Versehen von Brandes. Nicht Zola war es, der aus der Taine'schen Phrase das »ungenaue Stichwort« machte, sondern das Brüderpaar der Goncourts. In ihren gesammelten »Préfaces et manifestes littéraires« (Paris 1888, pag. 60) heisst es in einer Fussnote zu dieser Wendung ausdrücklich: »Cette expression, très blaguée dans le moment, j'en réclame la paternité, la regardant, cette expression, comme la formule définissant le mieux et le plus signifcativement le mode nouveau de travail [76] de l'école qui a succédé au romantisme: l'école du document humain

Mithin liegen die Thatsachen so, dass Taine die Idee dieses Schlagwortes gehört, den Goncourts seine Form und Zola nur seine Verbreitung. Man versuche einmal eine ähnliche Probe mit den übrigen Formeln dieser Rubrik, und die Resultate werden sicher keine allzu auseinandergehenden sein!

Bleibt uns also nur noch die zweite übrig, deren Urheberschaft wir Zola allerdings nicht bestreiten können, von der wir aber behauptet haben, dass sie, weit entfernt die Discussion zu fördern, diese vielmehr nur wieder mit neuen Irrthümern und neuen Missverständnissen belastet hätte. Als das typische Beispiel dieser Rubrik war uns das Schlagwort roman expérimental erschienen. Dass es schon vor Zola in Gebrauch gewesen, wird wohl schwerlich von Jemand nachweisbar sein. Es scheint ihm in der That zuzugehören, als das natürliche Produkt seiner Individualität, wie sein »L'Assommoir« oder wie sein »Germinal«. Enthielte es also eine Mehrheit, d.h. wäre es wirklich der adäquate Ausdruck eines bis [77] dahin völlig übersehn gebliebenen Thatsachenbestandes, so würde unsere Behauptung damit freilich eine irrige gewesen sein und Zola hätte unsere Wissenschaft allerdings um jenes Sandkörnchen bereichert.

Sehn wir zu! Zunächst: was ist ein Experiment?

Ein Chemiker hält in seiner Hand zwei Stoffe; den Stoff x und den Stoff y. Er kennt ihre beiderseitigen Eigenschaften, weiss aber noch nicht, welches Resultat ihre Vereinigung ergeben würde. Seiner Berechnung nach freilich x plus y, vielleicht aber auch u, vielleicht sogar z. Selbst weitere Möglichkeiten sind keineswegs ausgeschlossen. Um sich also zu überführen, wird ihm nichts Anderes übrig bleiben, als jene Vereinigung eben vor sich gehn zu lassen, d.h. ein Experiment zu machen – »une observation provoquée dans un but quelconque«, eine Definition, die uns Zola in Anlehnung an Claude Bernhard, seinen dritten grossen Meister, selbst gegeben hat und gegen die wir durchaus nichts einzuwenden haben. Sie genügt vollkommen.

[78] Inwiefern identificirt sich nun mit diesem Chemiker der Romanschriftsteller? Auch er hält, wie wir annehmen wollen, zwei Stoffe in seiner Hand, auch er kennt, wie wir annehmen wollen, ihre beiderseitigen Eigenschaften, aber auch er weiss, wie wir annehmen wollen, noch nicht genau, welches Resultat ihre Vereinigung ergeben würde. Wie nun zu diesem gelangen? Nichts einfacher als das, erwiedert darauf Zola, der Theoretiker: er lässt eben genau wie sein gelehrter Muster-College jene Vereinigung vor sich gehn, und die Beobachtung derselben giebt ihm dann das gewünschte Resultat ganz von selbst! »Ce n'est là qu'une question de degrés dans la même voie, de la chimie à la physiologie, puis de la physiologie à l'anthropologie et à sociologie. Le roman expérimental est au bout«. Freilich, freilich! Aber vielleicht ist es gestattet, vorher noch eine kleine Einwendung zu machen?

Jene Vereinigung der beiden Stoffe des Chemikers, wo geht sie vor sich? In seiner Handfläche, in seinem Porzellannäpfchen, in seiner Retorte. Also jedenfalls in der [79] Realität. Und die Vereinigung der beiden Stoffe des Dichters? Doch wohl nur in seinem Hirn, in seiner Phantasie, also jedenfalls nicht in der Realität. Und ist es nicht grade das Wesen des Experiments, dass es nur in dieser und ausschliesslich in dieser vor sich geht? Ein Experiment, das sich blos im Hirne des Experimentators abspielt, ist eben einfach gar kein Experiment, und wenn es auch zehn Mal fixirt wird! Es kann im günstigsten Falle das Rückerinnerungsbild eines in der Realität bereits gemachten sein, nichts weiter. »Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment«, wie man ja allerdings den Rougon-Macquart-Cyclus bereits »geistvoll« betauft hat, ist ein einfaches Unding; ein Kaninchen, das zugleich ein Meerschweinchen ist, und ein Meerschweinchen, das zugleich ein Kaninchen ist. Ein solches Kaninchen und ein solches Meerschweinchen hat es nie gegeben und wird es nie geben, Gottseidank! Abgesehen natürlich in den Vorstellungen der Theoretiker. Bei denen ist eben Alles möglich, auch Mondkälber und Experimentalromane ...

[80] 4.

Nein, nicht die Funkelnagelneuheit seiner »Ideen« war es, nicht die mehr als zweifelhafte Tiefe seiner »Wahrheiten«, die Zola auch als Theoretiker so hoch über den trivialen Haufen emporragen liess, sondern die wunderbare Wärme seiner Ueberzeugung, das Pathetische seiner Perioden, das ganze unnachahmlich Machtvolle seiner Persönlichkeit, das, wie seinen übrigen Werken, so auch seinen kritischen Schriften zur Folie dient.

Man höre hier nur ihr Präludium, ihr fanatisch schönes:

»Der Hass ist heilig! Er ist die gerechte Entrüstung der grossen und starken Herzen, die kampffrohe Verachtung derjenigen, die da ausser sich gerathen über die Mittelmässigkeit und die Dummheit! Hassen heisst lieben, heisst sich feurig, sich hochherzig fühlen, heisst aufgehn, aufathmen in dem einen grossen und schönen Abscheu vor allem Niedrigen und Erbärmlichen!

Der Hass kühlt und erquickt, der Hass spricht gerecht, der Hass macht gross!

[81] Nach jeder meiner Revolten gegen die Seichtheiten meines Zeitalters fühlte ich mich jugendfreudiger und muthiger. Ich lud mir den Hass und den Stolz als meine beiden Lieblingsgenossen; es gefiel mir, mich zu vereinsamen und in meiner Vereinsamung zu hassen, was die Billigkeit verletzte und die Wahrheit. Und wenn ich wirklich heut etwas gelte, so gelte ich es, weil ich für mich allein dastehe und weil ich hasse!«

Das sind grosse Worte und das sind herrliche Worte und Ehre, ja mehr als das: Achtung, unsere volle und ganze Achtung. unser Herz, dem, der sie niedergeschrieben!

Buckle, der Unvergessene, hat in seiner grossen Einleitung zur »Geschichte der englischen Civilisation«, wie bekannt, folgenden Satz aufgestellt: »Der Fortschritt der Menschen hängt ab von dem Erfolge, mit welchem die Gesetze der Erscheinung erforscht werden, und von der Ausdehnung, in welcher eine Kenntniss dieser Gesetze verbreitet ist.« Dann fährt er fort: »Bevor eine solche Erforschung beginnen kann, muss ein Geist des Zweifels erwachen, welcher zuerst die Forschung unterstützt, [82] um nachher von ihr unterstützt zu werden.«

Uns scheint, dieser Geist des Zweifels ist heute in Deutschland bei uns erwacht. Wir erinnern hier nur an Einen, dessen Intellect ganz von ihm erfüllt war: an Friedrich Nietzsche. Zwar sein »Hammer« ist seinen müden Händen bereits entsunken, aber seine ganze Arbeit hat er darum noch nicht gethan. Es wäre hohe Zeit, mit ihm endlich auch an das alte Götzenmysterium zu klopfen, das sich »Kunstphilosophie« nennt. Vielleicht, dass man dann die Entdeckung macht: es giebt keins, das hohler klingt ...


Mit meiner schönen Wanderlust ins Blaue war es nun natürlich ex. Das Problem, dem nachklettern zu wollen ich nun einmal leichtsinnig genug gewesen, zwang mich unerbittlich wieder in meinen Käfig zurück. Zwar versuchte ich noch einige flatternde Fluchtversuche, von denen einer mich bis oben nach Heringsdorf und ein andrer sogar bis unten nach [83] Tegernsee verschlug, aber am Ende, im Sommer, fand ich mich doch in meiner alten Einsamkeit wieder, in Nieder-Schönhausen, von der ich ausgezogen war, um wie ein neuer Märchendummerjan »das Grübeln zu verlernen«, und hatte hier nun das Vergnügen, constatiren zu können, dass ich unterdessen nur noch erklecklich dazugelernt hatte.

Und das war mir sehr fatal; denn ich hatte alle Taschen mit Plänen voll zu productiven Arbeiten, und so oft ich mich nun an eine solche heranmachte, und ich machte mich an eine ganze Reihe, warfen sich mir meine theoretischen Bedenken regelmässig wie Knüppel zwischen die Beine. Und so sehr ich mich auch drüber abrackerte, über die ersten Seiten wollte es nie mehr recht flecken.

Da bekam ich es denn abermals satt und sagte meinen Manuscripten abermals Valet und vergrub mich abermals in meine Bücher. Und zwar fest entschlossen, mich dieses Mal von ihrem Staube nicht eher wieder zu säubern, als bis es mir gelungen wäre, sie endlich auf meine Fragen zu Antworten zu zwingen.

Nur war ich jetzt klüger geworden und ging [84] etwas systematischer zu Werke. Ich lud mir nicht mehr, wie im Winter, alte Herren wie Aristoteles, Winkelmann und Lessing auf den Schreibtisch, sondern Leute wie Mill, Comte, Spencer und die modernen Naturwissenschaftler.

Und in der That: je tiefer ich mich in sie hineinhieb, wie in Wälder mit Aexten, denn es fiel mir oft sauer genug, um so deutlicher auch hörte ich es rieseln wie von fernen Quellen, und um so lebhafter auch fühlte ich, wie der Pfad, den ich eingeschlagen, schon von Anfang an der rechte gewesen!

Ich suchte eigentlich gar nicht mehr. Ich hatte schon längst gefunden. Es war für mich auch nicht der leiseste Zweifel mehr: im Princip war ich mir schon damals an jenem Winterabend klar gewesen!

Nur: wie es mir jetzt beweisen? Und.zwar mit den üblichen, überlieferten Methoden, Schritt für Schritt, wie auf einer alten Schindmähre, und aus dem Uraltabgeleierten heraus?

Denn was für einen Werth, sagte ich mir, hatte schliesslich eine Erkenntniss, die nur ich, ein Einzelner, für sich selber gewonnen, die aber der Allgemeinheit zugänglich zu machen, [85] mir ein Ding der pursten Unmöglichkeit war? Nein, auch Hinz und Kunz mussten sie begreifen!

Und so setzte ich mich denn hin und schrieb, als erstes vorläufiges Fundament zu meinem Beweise, einen kleinen Aufsatz nieder, den ich hier, im Folgenden, wiedergeben will, der aber damals so rein zur Orientirung für mich selbst bestimmt war, dass ich ihn nicht einmal übertitelte.

1.

Unter all jenen Errungenschaften, deren wohlthätige Wirkungen die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung bereits zu verzeichnen gehabt hat, giebt es Eine, deren Tragweite so ungeheuer ist, dass man heute, wo man jene Entwicklung zu begreifen besser in den Stand gesetzt ist, als je zuvor, wohl kaum noch einen irgendwie fortgeschrittenen Denker finden wird, der auch nur einen einzigen Augenblick zögern würde, sie nicht etwa blos für die unverhältnissmässig grösste unserer Zeit, sondern gradezu für die weitaus wichtigste der Zeiten [86] überhaupt anzuerkennen. Ja, es darf selbst bezweifelt werden, ob auch in Zukunft eine der nach dieser noch möglichen gewaltig genug sein wird, um überhaupt auch nur an sie heranzureichen. Es ist dies die endliche, grosse Erkenntniss von der durchgängigen Gesetzmässigkeit alles Geschehens.

Mit ihr ist der Menschheit ein neues Zeitalter aufgedämmert! Seine Sonne wird aufgegangen sein, wenn jene Wahrheit, die ihr Keim ist, und deren überwältigende Grösse erst noch von verhältnissmässig wenigen, hervorragenderen Geistern voll erfasst wird, aus den Schädeln dieser Vereinzelten restlos in das Bewusstsein der Menge übergegangen sein wird.

Erst durch sie ist uns die Welt aus einem blinden, vernunftlosen Durcheinanderwüthen blinder, vernunftloser Einzeldinge, dessen Widersinnigkeit unserer wachsenden Erkenntniss um so empörender dünken musste, je ernsthafter wir in ihm das Walten eines uns gütigen Wesens verehren sollten, das uns Hunger und Pest, Tod und Krankheit erleiden liess, um uns seiner Liebe zu vergewissern, [87] zu einem einzigen, riesenhaften Organismus geworden, dessen kolossale Glieder logisch ineinandergreifen, in dem jedes Blutskügelchen seinen Sinn und jeder Schweisstropfen seinen Verstand hat. Erst durch sie haben wir jetzt endlich gegründete Hoffnung, durch Arbeit und Selbstzucht, vertrauend auf nichts anderes mehr, als nur noch auf die eigene Kraft, die es immer wieder und wieder zu stählen gilt, dermaleinst das zu werden, was zu sein wir uns vorderhand wohl noch nicht recht einreden dürfen, nämlich: »Menschen!«

2.

Es ist ein Gesetz, dass jedes Ding ein Gesetz hat.

Die frühsten Vorahnungen dieser Erkenntniss sind nachweisbar fast so alt wie die Menschheit selbst. Ihr erstes Werden und dann, im Anschlusse daran, ihr allmähliches Wachsen durch die Zeiten hindurch darstellen wollen, hiesse die Geschichte der Entwicklung unseres Menschheitsthums selbst darstellen wollen. Natürlich kann dies hier unmöglich meine Aufgabe sein. Es genügt die einfache Erwähnung der Thatsache, [88] die als solche wohl kaum mehr zu leugnen ist, dass, obgleich jene Erkenntniss bereits von den bedeutendsten Geistern fast aller voraufgegangenen Epochen mehr oder minder deutlich vorgefühlt worden ist, es dennoch erst unserer Zeit vorbehalten war, ihr, allen lichtscheueren Elementen zum Trotz, die mit Recht von jeher ihre Todfeindin in ihr witterten, zum Durchbruch zu verhelfen.

Es ist freilich wahr, der Bauer hinter seinem Pfluge, der Pfarrer auf seiner Kanzel und noch hunderttausend Andre wissen von ihr entweder noch nichts, oder wollen von ihr noch nichts wissen; aber nichtsdestoweniger ist es ebenso wahr, dass, so verhältnissmässig gering zur Zeit auch noch die Zahl derjenigen Männer sein mag, in denen ihre Wahrheit bereits lebendig geworden ist, es doch gerade diese und nicht jene sind, in denen wir die wahren Repräsentanten unserer Zeit zu erblicken gewohnt sind. In den Comtes, den Mills, den Taines, den Buckles, den Spencers, mit einem Wort, in den Männern der Wissenschaft! Ihr verdanken wir, was wir sind. Und sie wäre gar nicht denkbar, wenigstens in ihrer heutigen [89] Gestalt nicht, ohne jene grundlegende Erkenntniss.

Auf ihr als Fundament basirt die ganze, grosse, geistige Bewegung unserer Tage. Abstrahirt von ihr, und die Luft, die ihr athmet, die Erde, die euer Fuss tritt, sind euch unverständlich geworden.

3.

Es ist ein Gesetz, dass jedes Ding ein Gesetz hat! Erst dadurch, dass man diese Erkenntniss endlich in ihrer Ganzheit auf sich wirken liess, erst dadurch, dass man endlich aufhörte, an ihr zu drehen und zu deuteln, erst dadurch, dass man endlich rund annahm, was sie rund aussagte, und nicht etwas andres, was sie nicht aussagte, erst dadurch ist es möglich geworden, thatkräftig an die Verwirklichung jener grossen Idee von einer einzigen, einheitlichen Wissenschaft zu schreiten, deren natürlichen Abschluss die Wissenschaft von der Menschheit als Menschheit bildet, die Sociologie.

Ihr Wollen ist das Wollen unserer Zeit!

Welches ist dieses Wollen?

[90] Es ist das Wollen, durch die Erforschung derjenigen Gesetze, die die Zustände der menschlichen Gesellschaft regeln, nicht allein vollständig zu begreifen, durch welche Ursachen dieselben jedes Mal in allen ihren Einzelheiten zu denen wurden, zu denen sie jedes Mal thatsächlich geworden sind, sondern auch, und das ist das weitaus wichtigste, zu erkennen, zu welchen Veränderungen dieselben wieder hinstreben, welche Wirkungen jeder ihrer einzelnen Bestandtheile voraussichtlich wieder hervorbringen wird, und durch welche Mittel etwa eine oder mehrere dieser Wirkungen, uns zur Wohlfahrt, verhindert, verändert, beschleunigt oder andre Wirkungen an deren Stelle gesetzt werden können. Mit andren Worten, es ist ihr Wollen, die Menschheit, durch die Erforschung der Gesetzmässigkeit der sie bildenden Elemente genau in demselben Masse, in dem diese ihr gelingt, aus einer Sclavin ihrer selbst, zu einer Herrscherin ihrer selbst zu machen.

Noch nie hat es in der Welt eine Aufgabe gegeben, die dieser gleichkam. Jener Erkenntniss haben wir sie zu verdanken und jener [91] Erkenntniss auch zugleich die Gewissheit, dass wir auch befähigt sind, sie zu lösen. Dass wir sie noch nicht gelöst haben, thut ihrer Wahrheit keinen Abbruch. Jeder Tag, der sich neigt, jede Minute, die verrinnt, bringt uns unserm Ziele näher.

4.

Wie unser Körper, trotzdem er ein Ganzes bildet, dieses Ganze doch erst durch die vereinigte Thätigkeit der verschiedenen Organe ist, die ihn zusammensetzen, und wie es nicht denkbar ist, dass irgend eins dieser Organe functioniren kann, ohne durch die Functionen aller übrigen fortwährend beeinflusst zu werden, so auch jener grosse, noch bei Weitem complicirtere Körper, der die Gesellschaft ausmacht. Auch aus ihr lässt sich kein einziges Phänomen herausschälen, das unabhängig von allen übrigen eine eigene Existenz besässe, das nur seinem eigenen Gesetz gehorchte und nicht fortwährend durch die aller übrigen in der Offenbarung desselben beeinträchtigt wäre.

Allein genau so, wie sich in unserm Körper wieder Organe vorfinden, deren Constitution [92] eine so kräftige ist, dass sie durch die Functionen der übrigen in einem nur sehr geringen Grade beeinflusst werden, und wie es sich trifft, dass grade diese seine Haupt-Organe sind, genau so giebt es auch eine Classe von gesellschaftlichen Erscheinungen, die, trotzdem ihre augenfällige Abhängigkeit von den jedesmaligen Gesammtzuständen der Gesellschaft gar nicht geleugnet werden kann, doch derart beschaffen ist, dass sie der Hauptsache nach weniger von ihnen, als vielmehr von gewissen gegebenen Ursachen unmittelbar und in erster Reihe abhängig ist. Und es kann wohl keinen Augenblick zweifelhaft sein, dass grade sie es ist, die die wichtigsten von allen umfasst.

Auf diese Thatsache gründet sich das Bestehen von Spezialwissenschaften der Sociologie, wie sich auf ihr das Bestehen von Spezialwissenschaften der Physiologie gründet. Und es ist wohl einleuchtend, dass die Zahl derselben nicht nur vermehrt werden kann, sondern in unserm eigensten Interesse auch vermehrt werden muss, genau in demselben Masse, als es sich erweist, dass sociale Phänomene vorhanden sind, die jene Eigenschaft, [93] nämlich eigenen Gesetzen stärker unterworfen zu sein, als fremden, besitzen.

5.

Bei dem noch so jugendlichen Alter unserer Wissenschaft ist es wohl ziemlich selbstverständlich, dass der Kreis dieser so gearteten gesellschaftlichen Erscheinungen noch lange nicht als geschlossen angesehn werden darf. Es ist der Zukunft sicher vorbehalten, noch eine ganze Reihe von ihnen zu ermitteln. Zu denjenigen aber, die wir mit den uns zu Gebote stehenden Hülfsmitteln bereits heute als solche hinstellen dürfen, scheint mir nun namentlich auch diejenige zu gehören, deren Thatsachen wir in den Sculpturen eines Michel Angelo ebenso zu erblicken gewohnt sind, wie in den Tragödien eines Shakespeare, in den Fresken eines Raphael ebenso wie in den Symphonieen eines Beethoven. Thatsachen, deren Aufzählung ich hier nicht unnütz anschwellen lassen will, da sie jedermann bekannt und jedermann zugänglich sind, und deren Gesammtheit wir unter der Bezeichnung Kunst begreifen.

[94] Dass diese Kunst von der allgemeinen Regel eine Ausnahme bildet, dass sie ihre Werke keinen Gesetzen unterworfen sieht, behauptet heute freilich kein auch nur einigermassen gebildeter Mensch mehr. Auch hat man die speziellen Nachweise für das Gegentheil längst gebracht. Ich erinnere nur an die grossen Leistungen Taines und Spencers. Allein so verdienstvoll, ja so nothwendig diese Arbeiten auch gewesen sind: niemand, der bereits fest auf dem Boden jener Erkenntniss, in dem der Gedanke an eine Wissenschaft von der Gesellschaft überhaupt erst Wurzeln zu schlagen vermochte, stand, wird sich verhehlen, dass sie ihm eigentlich nur nachträglich das bewahrheitet haben, was zu bezweifeln ihm bereits von vornherein auch nicht einen Augenblick lang hätte einfallen können. Nämlich, dass die Kunst als ein jedesmaliger Theilzustand des jedesmaligen Gesammtzustandes des Gesellschaft zu diesem in einem Abhängigkeitsverhältniss steht, dass sie sich ändert, wenn dieser sich ändert, und dass das grosse Gesetz der Entwicklung, dem Alles unterthan ist, auch von ihr nicht verletzt wird.

[95] Dass alle diese Nachweise, und zwar in der ganz speziellen Form, in der sie uns heute vorliegen, nothwendig gewesen sind, ich betone es nochmals, verkenne ich nicht; aber ich verkenne auch zugleich nicht, dass sie leider noch lange nicht genügen, um für die künstlerische Thätigkeit der Menschheit bereits eine ähnliche Wissenschaft zu ermöglichen, wie sie uns etwa seit Marx für die wirthschaftliche Thätigkeit derselben in der Nationalökonomie vorliegt. Dass aber der Aufbau einer derartigen Wissenschaft nichtsdestoweniger äusserst wünschenswerth wäre, und zwar nicht blos im Hinblick auf die Kunst selbst, für deren fernere Entwicklung sie von unberechenbarem Nutzen sein müsste, wird jeder zugeben, der davon unterrichtet ist, wie die einzelnen Wissenschaften dazu berufen sind, sich nicht blos gegenseitig zu ergänzen, sondern sich auch gegenseitig zu berichtigen.

6.

Ich habe eben die Behauptung niedergeschrieben, dass all unser gegenwärtiges Wissen von der Kunst, so umfangreich und so trefflich [96] geordnet dasselbe auch, verglichen mit dem der früheren Zeiten, bereits sein mag, doch noch keineswegs ausreichend ist, um sich bereits für eine Wissenschaft von derselben auszugeben. Inwiefern nicht? Ich glaube, meine Gründe hierfür bereits angedeutet zu haben. Indessen, man kann nicht deutlich genug sein. Ich will hier noch einmal auf sie zurückkommen, indem ich sie zugleich präcisire.

All unser gegenwärtiges Wissen von der Kunst kann sich deshalb noch keine Wissenschaft von der Kunst nennen, weil die Gesetze, die seine einzelnen Thatsachen mit einander verknüpfen, noch sammt und sonders auf ein solches letztes, ursächliches zurückweisen, dass ihnen allen ausnahmslos zu Grunde liegt, und das jene Thätigkeit, in deren regelrechten Verlauf sie eben fortwährend störend eingreifen, überhaupt erst ermöglicht. Nie z.B. hätte man nachweisen können, dass das, was wir Kunst nennen, auch der Entwicklung unterworfen ist, wenn das, was wir eben Kunst nennen, gar nicht existirt hätte. Aber es existirt, und eben [97] deshalb können wir heute auch nachweisen, dass es sich entwickelt hat. Welches aber ist nun das Gesetz dieser seiner Existenz selbst? d.h. welche Form hätte diese angenommen, wenn nicht blos das Gesetz jener Erscheinung, die wir Entwicklung nennen, sondern auch die Gesetze aller jener übrigen Erscheinungen, deren Einflüsse auf sie wir in den meisten Fällen noch nicht einmal genügend nachweisen können, obgleich wir durchgehens von ihnen überzeugt sind, keine Macht über sie gehabt hätten?

Es ist klar, dass erst die Erkenntniss dieses Gesetzes unser Wissen von ihr zu einem vollständigen machen würde, d.h. zu einer Wissenschaft von ihr. Erst durch die endliche Leistung dieser Arbeit wären wir in den Stand gesetzt, nicht blos sämmtliche uns bis heute bereits vorliegenden Thatsachen der Kunst zu »erklären«, indem wir sie als nothwendige Folgeerscheinungen eben dieses einen Gesetzes, fortwährend modificirt durch die Summe aller jener übrigen, nachwiesen, sondern – und das ist wieder das weitaus wichtigste – wir könnten uns dann endlich auch an die Lösung [98] jenes für uns noch so ungleich bedeutsameren, weil im Gegensatz zu diesem ersten, mehr theoretischen, rein practischen zweiten Problemes unserer Wissenschaft heranwagen, dessen Beantwortung durch uns bereits eine zufriedenstellende genannt werden müsste, wenn es uns gelungen wäre, von den zur Zeit noch ausstehenden Thatsachen der Kunst auch nur die ungefähre Reihe vorherzusagen. Denn es ist wohl nur selbstverständlich, dass, falls sich als Folge dieses durch jene wahrscheinlich nie ganz von uns zu detaillirenden Einflüsse in seiner vollen Entfaltung stets behinderten Gesetzes in deutlichen Umrissen jene bisherige, bekannte, historisch von uns controllirbare Linie ergeben hätte, zugleich mit ihr sich auch diese uns zur Zeit noch vollständig unbekannte ergeben müsste. Und zwar mit einer – wohlverstanden im Verhältniss! – nicht minder grossen Wahrscheinlichkeit, als sie beispielsweise die Astronomie für sich in Anspruch nimmt, wenn sie etwa die zukünftige Stellung irgend einer Anzahl Planeten am Himmel berechnet. Was für uns damit gewonnen wäre, liegt auf der Hand ...

[99] Dieses Gesetz ist bisher noch nicht gefunden worden. Weder von Taine noch von Spencer, noch von sonst jemand.

Ja, es scheint sogar, man hat es bisher noch nicht einmal als »Problem« gefühlt!

Wenigstens dies herbeizuführen und so, damit aus unserm Wissen von der Kunst endlich eine Wissenschaft von der Kunst wird, den ersten vorläufigen Anstoss zum Anstoss zu geben, war für mich der Zweck dieser kleinen Arbeit.


Damit war das Rad in Gang getreten, und ich spulte nun weiter runter:

Es ist klar: Das Gesetz einer Erscheinung kann nur aus der Betrachtung dieser Erscheinung selbst geschöpft werden. Um hinter das Gesetz zu kommen, dessen Verkörperung die Kunst ist, würde es also meine erste Aufgabe sein, diese einer Analyse zu unterziehen. Diese Aufgabe ist jedoch für mich unlösbar. Denn, selbst angenommen, das betreffende Thatsachenmaterial wäre bereits ein nach allen Richtungen hin scharf abgegrenztes, was es [100] indessen noch keineswegs ist: der U mfang desselben wäre ein so ungeheurer, dass auch eine weit stärkere Kraft als die meine bereits an dieser einen Klippe ohnmächtig scheitern müsste.

Ich bin also gezwungen, mich nach einem anderen Verfahren umzusehn. Nach einem Verfahren, das geeignet ist, mich auf einem anderen Wege zu demselben Resultat gelangen zu lassen.

Ich sage mir: liegt ein Gesetz einem gewissen Complex von Thatsachen zu Grunde, so liegt dieses selbe Gesetz auch jeder einzelnen Thatsache desselben zu Grunde. Liegt der Kunst in ihrer Gesammterscheinung ein Gesetz zu Grunde, so liegt eben dieses selbe Gesetz auch jeder ihrer Einzelerscheinungen zu Grunde. Ich würde also bereits in den Besitz desselben gelangen, falls es mir glückte, auch nur eine einzige Thatsache derselben einer Analyse zu unterziehen.

Es schien, als ob meine Aufgabe, auf diese Form reducirt, eine leicht zu bewältigende geworden war. Ich brauchte jetzt aus der Masse des Vorhandenen nur die erste beste herauszugreifen, [101] die von mir als nothwendig erachtete Analyse an ihr zu vollziehen, das Ergebniss derselben durch ein mehr oder minder grosses Material zu bewahrheiten, respective betreffend zu rectificiren, und mein Problem war gelöst. Gleichgültig, ob diese Thatsache nun eine indische Pagode, ein Wagner'sches Musikdrama, ein Garten aus der Rokkokozeit, oder eine Kielland'sche Novellette gewesen wäre.

Allein bereits aus diesen vier angeführten Beispielen leuchtet vielleicht ein, dass es hier mit einem willkürlichen Draufzugreifen nicht gethan war. Denn was berechtigte mich wohl, von vorn herein anzunehmen, dass eine Kielland'sche Novellette und eine indische Pagode Ausdrucksformen ein und derselben menschlichen Thätigkeit seien? Dass ein Wagner'sches Musikdrama nichts anders als die Verkörperung desselben Gesetzes sei, dem eine Le Nôtre'sche Gartenanlage ihre verschnörkelte Pedanterie verdankt? Doch wohl nur der Sprachgebrauch. Derselbe, der den Walfisch kein Säugethier sein lässt und das Nilpferd unter die Einhufer rechnet! Aber, wie [102] sich schon Engels damals so drastisch in seiner prachtvollen »Umwälzung« aus drückte: »Wenn ich eine Schuhbürste unter die Einheit Säugethiere zusammenfasse, so bekommt sie damit noch lange keine Milchdrüsen«!

Und dieser Satz war so köstlich, so überwältigend, dass ich, als er mir einfiel, laut auflachen musste. Und ich sagte mit Jobst Sackmann, dem alten biedern Pastor und Bierhuhn: »Ek hebbe düssen Veersch nich maaket, man he dreept gladd in!«

Ich sah also, dass meine Wahlfreiheit hur eine sehr beschränkte war. Der alte Plato, den sie den Göttlichen nannten, zog die Hebeammen- und die Schuhmacherkunst der tragischen vor, der Volkswitz kennt die »unnütze Kunst, Linsen durch ein Nadelöhr zu werfen«, ein Mann wie Herder phantasirte noch von der »schönen Bekleidungskunst«, Barnum hat von der »Kunst, reich zu werden«, ein Anderer über die »Kunst, verheirathet und doch glücklich zu sein« geschrieben, Julius Stettenheim neulich erst eine Broschüre über die »Brodlosen Künste«, unter denen, als letzte, die »Kunst – eine Cigarre anzubieten« [103] florirt, und Goethe, der grosse Goethe, setzt sogar an einer Stelle die Kunst diametral der Poesie gegenüber. Die Poesie wäre ebenso wenig eine »Kunst«, wie eine »Wissenschaft«. Künste und Wissenschaften »erreichte« man »durch Denken, Poesie nicht«; denn diese wäre »Eingebung«: sie wäre in der »Seele« »empfangen«, als sie sich »zuerst regte«. Man solle sie daher »weder Kunst noch Wissenschaft« nennen, sondern »Genius«. Wortwendungen, die, wie man heute vielleicht bereits das Ohr hat, nicht einmal den Vorzug haben, dass sie schön klingen!

Die Grenze zwischen dem, was Kunst ist, und dem, was nicht Kunst ist, soll eben noch erst gezogen werden. Und ich sagte mir, sie zu ziehen, ist naturgemäss erst dann möglich, nachdem das Problem, das hier in Frage steht, gelöst worden ist. Es ist aber noch nicht gelöst, und daher muss ich in der Wahl meiner Thatsache so vorsichtig, als nur irgendwie möglich zu Werke gehn. Ich muss mich nach ihr auf einem Gebiete der Kunst umsehen, das als solches noch nie und nirgends in Frage gestellt worden ist.

[104] Ein solches schien mir nun vor allen anderen dasjenige der Malerei zu sein. Oder irrte ich mich? Sollte es bereits thatsächlich jemand eingefallen sein, ein Werk wie z.B. die Sixtinische Madonna als nicht der Kunst angehörig hinzustellen? Ich durfte das wohl bezweifeln. Und ich glaube auch heute noch: die Malerei hat man überall und zu allen Zeiten als »Kunst« gelten lassen!

Mithin, sagte ich mir, würde es allerdings alle Wahrscheinlichkeit für sich haben, dass jedes ihr angehörige Werk, und zwar ganz gleichgültig welches, einer ausreichenden Analyse unterworfen, mir zur Erkenntniss des von mir gesuchten Gesetzes verhelfen müsste. Ein Bild wie die Sixtinische Madonna musste mir dieses Gesetz eben so gut liefern, wie eine Pompejanische Wandmalerei oder das Menzelsche »Eisenwalzwerk«. Nur sah ich mich aber leider bereits nach dem oberflächlichsten Nachdenken über diese Werke zu dem Geständniss gezwungen, dass sie mir durchweg zu complicirt waren. Eine ausreichende Analyse irgend eines derselben, darüber durfte ich mich gar keinen Augenblick einer leichtsinnigen Hoffnung [105] hingeben, wäre mir schlechterdings unmöglich gewesen.

Und ich war mir nun also darüber klar geworden: Wenn es mir nicht gelang, andere als diese grossen Thatsachen der Geschichte ausfindig zu machen, deren Bedingungen ich nicht mehr controlliren konnte, so musste ich auf die Lösung meines Problems wohl oder übel endgültig verzichten. Es waren einfache Thatsachen, die mir noth thaten! Thatsachen, deren Zusammensetzung mir weniger zu rathen gab! Thatsachen, die ich übersehn konnte! Denn es war und ist eben auch heute noch nur ein alter naturwissenschaftlicher Satz: »Die Erkenntniss eines Gesetzes ist um so leichter, je einfacher die Erscheinung ist, in der es sich äussert.«

Die Idee der Entwicklung, die unsre ganze Zeit beherrscht, die endliche Erkenntniss der Wesenseinheit der höheren und niederen Formen jedoch machte mir glücklicher Weise die Auffindung dieser einfachen Thatsachen zu einer spielend leichten. Auf ihr als Basis war ich gezwungen, die Kritzeleien eines kleinen Jungen auf seiner Schiefertafel für [106] nichts mehr und nichts weniger als ein Ergebniss genau derselben Thätigkeit anzusehn, die einen Rubens seine »Kreuzabnahme« und einen Michel Angelo sein »Jüngstes Gericht« schaffen liess, und die wir, zum Unterschiede von gewissen andern, eben als die »künstlerische« bezeichnen. Es fragte sich jetzt also nur noch, ob es mir möglich sein würde, eine dieser Thatsachen einer hinreichenden Analyse zu unterziehen. Ich war gezwungen, zu folgern, ich hätte dann thatsächlich gegründete Aussicht, mein Problem zu lösen.

Und ich wagte den Versuch!

Ich grabe ihn hier aus aus meinen Papieren:

»Vor mir auf meinem Tisch liegt eine Schiefertafel. Mit einem Steingriffel ist eine Figur auf sie gemalt, aus der ich absolut nicht klug werde. Für ein Dromedar hat sie nicht Beine genug, und für ein Vexirbild: »Wo ist die Katz?« kommt sie mir wieder zu primitiv vor. Am ehesten möchte ich sie noch für eine Schlingpflanze, oder für den Grundriss einer Landkarte halten. Ich würde sie mir vergeblich zu erklären versuchen, wenn ich nicht wüsste, dass ihr Urheber ein kleiner [107] Junge ist. Ich hole ihn mir also von draussen aus dem Garten her, wo der Bengel eben auf einen Kirschbaum geklettert ist, und frage ihn:

»Du, was ist das hier?«

Und der Junge sieht mich ganz verwundert an, dass ich das überhaupt noch fragen kann, und sagt: »Ein Suldat!«

Ein »Suldat!« Richtig! Jetzt erkenne ich ihn deutlich! Dieser unfreiwilige Klumpen hier soll sein Bauch, dieser Mauseschwanz sein Säbel sein und schräg über seinem Rücken hat er sogar noch so eine Art von zerbrochenem Schwefelholz zu hängen, das natürlich wieder nur seine Flinte sein kann. In der That! Ein »Suldat«! Und ich schenke dem Jungen einen schönen, blankgeputzten Groschen, für den er sich nun wahrscheinlich Knallerbsen, Zündhütchen oder Malzzucker kaufen wird, und er zieht befriedigt ab.

Dieser »Suldat« ist das, was ich suchte.

Nämlich eine jener einfachen künstlerischen Thatsachen, deren Bedingungen ich controlliren kann. Mein Wissen sagt mir, zwischen ihm und der Sixtinischen Madonna in Dresden besteht kein Art- sondern nur ein Gradunterschied. [108] Um ihn in die Aussenwelt treten zu lassen und ihn so und nicht beliebig anders zu gestalten, als er jetzt, hier auf diesem kleinen Schieferviereck, thatsächlich vor mir liegt, ist genau dasselbe Gesetz thätig gewesen, nach dem die Sixtinische Madonna eben die Sixtinische Madonna geworden ist, und nicht etwa ein Wesen, das z.B. sieben Nasen und vierzehn Ohren hat. Dinge, die ja sicher auch nicht ausser aller Welt gelegen hätten! Man braucht nur an die verzwickten mexikanischen Vitzliputzlis und die wunderlichen Oelgötzen Altindiens zu denken. Nur, dass eben die Erforschung dieses Gesetzes mir in diesem primitiven Fall unendlich weniger Schwierigkeiten bereitet.«

Dass sie mir indessen trotzdem welche bereiten würde, und zwar wahrscheinlich gar nicht einmal so unerhebliche, glaubte ich bereits voraussehn zu dürfen. Denn wonach ich suchte, war ja ein sogenanntes »ursächliches« Gesetz und über diese hatte schon Mill ausgesagt: »Alle ursächlichen Gesetze sind einer sie scheinbar vereitelnden Gegenwirkung ausgesetzt, indem sie mit anderen Gesetzen in Conflict gerathen, deren Sonder-Ergebniss dem [109] ihrigen entgegengesetzt oder mehr oder weniger unvereinbar ist.« Woraus denn natürlich resultirt, dass sie dem naiven Verstand überhaupt nicht in Erfüllung zu gehen scheinen!

Ich durfte also auf keinen Fall hoffen, das Gesetz, das alle Kunst regiert, durch meine kleine »Thatsache« sofort klar und deutlich wie durch ein Krystall zu sehn. Im Gegentheil! Ich musste mich bereits darauf gefasst machen, es, falls ich es überhaupt fand, fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt zu finden. Was aber wieder natürlich absolut nicht verhindern konnte, dass ich mich dann endlich trotzdem in der erwünschten Lage befand. Nämlich aus ihm nicht nur die Gesetzmässigkeit jener complicirteren Thatsache ableiten zu können, zu deren Analyse ich mich platterdings hatte für unfähig erklären müssen, sondern auch die aller übrigen der Kunst. Und zwar ohne Ausnahme! Ganz gleichgültig, ob sie nun der Malerei oder irgend einem anderen ihrer Gebiete angehörten. Die Induction bereits dieses einzigen Falles musste, falls es überhaupt möglich war, sie zu vollziehen, genügen, um, vorausgesetzt natürlich, dass sie richtig vollzogen [110] worden war, hinreichendes Material für die Deduction aller übrigen zu liefern. Und ich versuchte es. Ich sagte mir:

»Durch den kleinen Jungen selbst weiss ich, dass die unförmige Figur da vor mir nichts anders als ein Soldat sein soll. Nun lehrt mich aber bereits ein einziger flüchtiger Blick auf das Zeug, dass es thatsächlich kein Soldat ist. Sondern nur ein lächerliches Gemengsel von Strichen und Punkten auf schwarzem Untergrund.

Ich bin also berechtigt, bereits aus dieser ersten und sich mir geradezu von selbst aufdrängenden Erwägung heraus zu constatiren, dass hier in diesem kleinen Schiefertafel-Opus das Resultat einer Thätigkeit vorliegt, die auch nicht im Entferntesten ihr Ziel erreicht hat. Ihr Ziel war ein Soldat No. 2, und als ihr Resultat offerirt sich mir hier nun dies tragikomische!

Dass ich zugleich in der Lage wäre, auch noch etwas Anderes constatiren zu können, nämlich dass der Junge, seinem eigenen Geständnisse nach, ganz naiv davon überzeugt war, dass das gewesene Ziel seiner Thätigkeit [111] und das erzielte Resultat derselben sich »deckten«, davon will ich vorderhand einmal absehn, weil es offenbar zu meiner Analyse nur mittelbar gehört, aber ich will es mirmerken; vielleicht kann ich es noch einmal brauchen.

Ich habe also bis jetzt constatirt, dass zwischen dem Ziel, das sich der Junge gestellt hatte, und dem Resultat, das er in Wirklichkeit, hier auf dem kleinen schwarzen Täfelchen vor mir, erreicht hat, eine Lücke klafft, die grauenhaft gross ist. Ich wiederhole: dass diese Lücke nur für mich klafft, nicht aber auch bereits für ihn existirte, davon sehe ich einstweilen noch ganz ab.

Schiebe ich nun für das Wörtchen Resultat das sicher auch nicht ganz unbezeichnende »Schmierage« unter, für Ziel »Soldat« und für Lücke »x«, so erhalte ich hieraus die folgende niedliche kleine Formel: Schmierage = Soldat – x. Oder weiter, wenn ich für Schmierage »Kunstwerk« und für Soldat das beliebte »Stück Natur« setze: Kunstwerk = Stück Natur – x. Oder noch weiter, wenn ich für Kunstwerk vollends »Kunst« und für Stück Natur »Natur« selbst setze: Kunst = Natur – x.«

[112]

Bis hierher war unzweifelhaft alles richtig und die Rechnung stimmte. Nur, was »erklärte« mir das?

Das erklärte mir noch gar nichts! Damit stand ich leider immer noch da wie das bekannte alte schöne vierbeinige Thier vorm Berge. Ich musste mir sagen, und zwar ganz deutlich, dass ich es auch ja recht hörte: so schlau war der gute Emil, der dicke Bürgermeister von Medan, auch schon! Nur freilich, dass er zugleich auch noch so draufzutäppisch war, das verschmitzte Löchelchen x, das ich einstweilen noch so fein vorsichtig offen gelassen, gleich ganz mit seinem dummen, klobigen Temperament zustopfen zu wollen; wodurch sich dann natürlich alles sofort wieder in den schönsten Unsinn verkringelte und der alte Blödsinn wieder in vollster Blüthe blühte.

Als ob z.B. daran, dass an meinem Suldaten keine blanken Knöpfe glitzerten, für die doch der Soldat unter allen Umständen aufzukommen hat, einzig das »Temperament« meines kleinen Bengelchens die Schuld trug! Ich wusste ganz genau: wenn ich ihm zu Weihnachten einen [113] Tuschkasten geschenkt hätte, in dem dann aber natürlich auch noch so ein kleines Muschelschälchen mit Goldbronze hätte drin sein müssen, und der Junge hätte so sein Conterfei, statt mit einem Steingriffel auf eine schwarze Schieferplatte, mit einem Pinsel auf ein weisses Stück Pappe gemalt – die blanken Knöpfe wären sicher nicht ausgeblieben! Und ebenso wenig der blaue Rock und die rothen Aufschläge. Mithin, das x würde dann um ein paar Points verringert und die pp. Lücke nicht mehr ganz so grauenhaft gross geworden sein. Und doch würde dann das »Temperament« meines kleinen Miniatur-Menzels zu diesem Subtractionsexempel aber auch nicht das Mindeste beigetragen haben! Es wäre im Gegentheil haarscharf dasselbe gewesen und nur das Resultat ein anderes geworden.

Nein! Das geheimnissvolle x bestand also auch noch aus ganz andern Factoren. So plumpplausibel, dass es nur aus dem einen simplen »Temperament« zusammengeleimt war, ging es leider nicht zu in der vertracten Realität!

Und ich sagte mir:

[114] »Kunst = Natur – x. Damit locke ich noch keinen Hund hinterm Ofen vor! Gerade um dieses x handelt es sich ja! Aus welchen Elementen es zusammengesetzt ist!

Ob ich sie freilich hier gleich alle und nun gar bis in ihre letzten, feinsten Verzweigungen hinein werde ausfindig machen können, das scheint mir schon jetzt mehr als zweifelhaft. Aber ich ahne, dass es vorderhand, um überhaupt erst einmal festen Boden unter den Füssen zu fühlen, bereits genügen würde, wenn es mir glückte, auch nur ihrer gröbsten, allerhandgreiflichsten habhaft zu werden. Die übrigen, feiner geäderten, nüancirten werden sich dann mit der Zeit schon von ganz allein einstellen.«

Und das hob mir, einigermassen wenigstens, wieder den Muth. Und ich spann meinen Faden weiter aus:

»Also Kunst = Natur – x. Schön. Weiter. Woran, in meinem speciellen Falle, hatte es gelegen, dass das x entstanden war? Ja, dass es einfach hatte entstehen müssen? Mit andern Worten also, dass mein Suldat kein Soldat geworden?«

[115] Und ich musste mir antworten:

»Nun, offenbar, in erster Linie wenigstens, doch schon an seinem Material. An seinen Reproductionsbedingungen rein als solchen. Ich kann unmöglich aus einem Wassertropfen eine Billardkugel formen. Aus einem Stück Thon wird mir das schon eher gelingen, aus einem Block Elfenbein vermag ich's vollends.«

Immerhin, musste ich mir aber wieder sagen, wäre es doch möglich gewesen, auch mit diesen primitiven Mitteln, diesem Stift und dieser Schiefertafel hier, ein Resultat zu erzielen, das das vorhandene so unendlich weit hätte hinter sich zurück lassen können, dass ich gezwungen gewesen wäre, das Zugeständniss zu machen: ja, auf ein denkbar noch geringeres Minimum lässt sich mit diesen lächerlich unvollkommenen Mitteln hier das verdammte x in der That nicht reduciren! Und ich durfte getrost die Hypothese aufstellen, einem Menzel beispielsweise wäre dies ein spielend Leichtes gewesen. Woraus sich denn sofort ergab, dass die jedesmalige Grösse der betreffenden Lücke x bestimmt wird nicht blos durch die jedesmaligen [116] Reproductionsbedingungen der Kunst rein als solche allein, sondern auch noch durch deren jedesmalige dem immanenten Ziel dieser Thätigkeit mehr oder minder entsprechende Handhabung.

Und damit, schien es, hatte ich auch bereits mein Gesetz gefunden; wenn freilich vorderhand auch nur im ersten und gröbsten Umriss; aber das war ja wohl nur selbstverständlich. Und auf Grund der alten, weisen Regel Mills: »Alle ursächlichen Gesetze müssen in Folge der Möglichkeit, dass sie eine Gegenwirkung erleiden (und sie erleiden alle eine solche!) in Worten ausgesprochen werden, die nur Tendenzen und nicht wirkliche Erfolge behaupten«, hielt ich es für das Beste, es zu formuliren, wie folgt:

»Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Massgabe ihrer jedweiligen Reproductionsbedingungen und deren Handhabung.«

Ich zweifelte zwar keinen Augenblick daran, dass mit der Zeit auch eine bessere, präcisere Fassung möglich sein würde, aber den [117] Kern wenigstens enthielt ja auch diese bereits und das genügte mir.

»Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Massgabe ihrer Reproductionsbedingungen und deren Handhabung.«

Ja! Das war es! Das hatte mir vorgeschwebt, wenn auch nur dunkel, schon an jenem ersten Winterabend!

Und ich sagte mir:

Ist dieser Satz wahr, d.h. ist das Gesetz, das er aussagt, ein wirkliches, ein in der Realität vorhandnes, und nicht blos eins, das ich mir thöricht einbilde, eins in meinem Schädel, dann stösst er die ganze bisherige »Aesthetik« über den Haufen. Und zwar rettungslos. Von Aristoteles bis herab auf Taine. Denn Zola ist kaum zu rechnen. Der war nur dessen Papagei.

Das klang freilich den Mund etwas voll, aber ich konnte mir wirklich, beim besten Willen, nicht anders helfen. Denn ich war mir darüber schon damals so klar, wie ich es mir noch heute bin. Nämlich, dass Alles, was diese »Disciplin« bisher orakelt hat, genau auf [118] seinem ausgesprochenen Gegentheil fusst. Also, wohlverstanden, dass die Kunst nicht die Tendenz hat, wieder die Natur zu sein! Eine Naivität, deren bisherige länger als zweitausendjährige unumschränkte Alleinherrschaft leider nur allzu begreiflich ist. Denn sie ist die Naivität des sogenannten »gesunden Menschenverstandes.« Jenes grobknotigen, vierschrötigen Burschen, dessen Captus grade so weit reicht wie seine Nase. Aber auch bei Leibe nicht weiter! Engels hat uns in seiner schon einmal hier citirten wunderbaren »Umwälzung« aufs Köstlichste nachgewiesen, wie dieses Knäblein so recht der geborene Metaphysiker ist. »Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen: seine Rede ist Ja, ja, Nein, nein, was drüber ist, ist vom Uebel. Für ihn existirt ein Ding entweder, oder es existirt nicht: ein Ding kann ebenso wenig zugleich es selbst und ein andres sein. Positiv und negativ schliessen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehn ebenso in starrem Gegensatz zu einander.« Allein so plausibel uns dies alles auf den ersten Blick auch scheinen mag, »dieser gesunde Menschenverstand«, fährt Engels fort, [119] »ein so respectabler Geselle er auch in dem hausbackenen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt; und die metaphysische Anschauungsweise, auf so weiten, je nach der Natur des Gegenstandes ausgedehnten Gebieten sie auch berechtigt und sogar nothwendig ist, stösst doch jedesmal früher oder später auf eine Schranke, jenseits welcher sie einseitig, bornirt, abstrakt wird und sich in unlösliche Widersprüche verirrt, weil sie über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehen, über ihrer Ruhe ihre Bewegung vergisst, weil sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.« Nun, und eben grade diesen Wald, sagte ich mir, der ihr dicht vor der Nase gestanden, fortwährend, den sie hätte fühlen können mit ihrem Krückstock, hat bisher auch die alte metaphysische Aesthetik nicht gesehn. Sie wird dran sterben, und:


»Ueber ihrem Grab erhebt sich ein Baum,
Drin singt die junge Nachtigall,
Sie singt von lauter Liebe,
Ich hör' es sogar im Traum!«

[120] Ich muss inne halten ...

Weiss der Himmel, wie das kommt! Aber man braucht nur an die Zukunft zu denken, an die schöne Zukunft mit ihren lachenden Engelsgrübchen und hunderttausend Weihnachtslichtern und man fühlt sich sofort wieder »lyrisch«. Man citirt sofort wieder Verse! Und nun gar »fremde«!


Meine Lieblinge:


»Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,
Und küsse die Marketenderin,
Das ist die ganze »Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.
Trommle die Leute aus dem Schlaf,
Trommle Reveille mit Jugendkraft,
Marschire trommelnd immer voran,
Das ist die ganze Wissenschaft.
Das ist die Hegel'sche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn,
Ich hab' es begriffen, weil ich gescheut
Und weil ich ein guter Tambour bin.«

Ja, das war er! Das Schwert auf seinem Sarge funkelt, und die Herren Hofprediger bespucken [121] unterdessen seine Denkmäler. Also ich meinte:

Die ganze bisherige Aesthetik war nicht, wie sie schon damit prunkte, eine Wissenschaft von der Kunst, sondern vorerst nur eine Pseudowissenschaft von ihr. Sie wird sich zu der wahren zukünftigen, die eine Sociologie der Kunst sein wird und nicht wie bisher – selbst noch bei Taine – eine Philosophie der Kunst, verhalten wie ehedem die Alchemie zur Chemie oder die Astrologie zur Astronomie. Und wenn uns der alte, biedere Pierre Bayle in seinem prächtigen »ersten Conversationslexicon« von dem alten Knaben Herlicius überliefert hat, dass er »die Astrologie als eine ehrwürdige Wissenschaft angesehen, deren Ehre man erhalten müsse, es koste auch, was es wolle«, so zweifle ich natürlich schon heute nicht, dass auch die Pierre Bayle's der Zukunft wieder von solchen seltsamen Käuzen werden zu berichten haben. Es ist eben eine zu alte Geschichte: die Herliciusse werden nie alle!

Ihren geschwollensten Fanfaroneur in aestheticis, glaube ich, haben sie aber doch bereits [122] gefunden. Ich meine, in Proudhon. Wenigstens wäre ich wirklich ehrlich neugierig, wer ihn noch übertrumpfen könnte!

Ich mache mir hier das Vergnügen, den betreffenden Passus tiefer zu hängen:

»Le but de l'artiste est-il de reproduire simplement les objets, sans s'occuper d'autre chose, de ne songer qu'à la réalité visible, et de laisser l'idéal à la volonté du spectateur? En autres termes, la tendance de l'art est-elle au développement de l'idéal ou bien à une imitation purement matérielle, dont la photographie serait le dernier effort? Il suffit de poser ainsi la question pour que tout le monde la résolve: l'art n'est rien que par l'idéal, ne vaut que par l'idéal; s'il se borne à une simple imitation, copie ou contrefaçon de la nature, il fera mieux de s'abstenir; il ne ferait qu'étaler sa propre insignifiance, en déshonorant les objets mêmes qu'il aurait imités. Le plus grand artiste sera donc le plus grand idéalisisateur; soutenir le contraire serait renverser toutes le notions, mentir à notre nature, nier la beauté, et ramener la civilisation à la sauvagerie!«

[123] Ueber das köstliche Cretinismus'chen: »dont la photographie serait le dernier effort«, das, wie ja fast jeder Zeitungswisch lehrt, sich auch heute noch nicht ausgeweint hat, immer noch nicht, darf ich wohl nachgrade stillschweigend hinweglächeln? Es wäre wirklich albern, noch etwas drauf zu erwidern ....

»Renverser toutes les notions, mentir à notre nature, nier la beauté, et ramener la civilisation à la sauvagerie«! Das alte Lied! Man hat es schon von jeher gepfiffen! Seine Melodie erklang noch jedes Mal, sobald eine neue Wahrheit in Sicht war! Das alte, niedliche Anekdötchen von der seligen Ochsenhekatombe pythagoräischen Angedenkens brauche ich hier wohl nicht erst wieder aufzuwärmen? Wir haben uns ja schon Alle darüber gefreut. Und zwar gründlich! –

Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Massgabe ihrer jedweiligen Reproductionsbedingungen und deren Handhabung.

Dass die Induction, die mir zu diesem Satze verholfen, eventuell eine fehlerhafte gewesen sein könnte und mithin auch ihr Resultat, [124] also eben dieser Satz selbst am Ende gar ein illusorisches, fiel mir auch nicht einen Augenblick lang ein. Ich fühlte eben zu deutlich, er traf den Nagel auf den Kopf. Und ausserdem – mir selbst, ich wiederhole, bereits zum Ueberfluss – stimmten auch alle Proben, die ich auf das Exempel machte. Und ich machte unzählige. Wenn ich spazieren ging, wenn ich las, wenn ich beobachtete, wenn ich discutirte. Denn sie amüsirten mich, weil sie klappten, wie die Mechanismen der Regeldetri.

Dass dabei natürlich auch hunderterlei zum Teufel ging, uralter Hausrath »aus der Zeit der Marktschiffe auf der Rhone«, wie Daudet sagt, »und der grossgeblümten Wämser«, der sich jetzt plötzlich, aus weichen, wohligen Winkeln, mitten auf das schäbigste Strassenpflaster geschleudert sah, wo ihm die Sonne in alle Löcher schien, so z.B., um nur Eins herauszugreifen, die ganze schöne sogenannte »Baukunst«, die famose Schlegel'sche »gefrorene Musik«, über die sich selbst Taine noch seinen klugen Kopf zerbrochen, konnte mich selbstverständlich nicht irretiren auch nur ein Viertel Sekündchen lang, denn darauf war [125] ich gefasst gewesen schon von vornherein. Die falsche Deutung zweier Jahrtausende, hatte die Dinge eben nothwendiger Weise nach und nach in die wunderlichsten Verrenkungen zwingen müssen. Und wenn meine Formel jetzt diese Prokrustesversuche auch sofort und scharf als solche wiederspiegelte, so konnte mir das eben nur ein Beweis mehr für sie sein. Nichts weiter.

Der Kölner Dom und ein Kochlöffel, sagte ich mir, mögen ja von Natur immerhin in ein und dieselbe Rubrik gehören; ich weiss das nicht; aber ein griechischer Tempel und ein Eichendorff'sches Lied werden es nie; ebensowenig wie eine Butterblume und eine Fliegenklappe, oder eine Sternschnuppe und eine Regenschirmkrücke. – Es mag ja ein Jammer sein, aber es ist doch nun einmal so: eine Schuhbürste hat doch nun einmal keine Milchdrüsen; und wenn auch aller sogenannter »Idealismus« der Welt sich zusammenthut wie Ein Mann, um ihr welche anzulügen! Est ut est! Das war mein Talisman. Und ich gestehe nachträglich gern, er hat mir brillante Dienste geleistet!

[126] Trotzdem aber musste ich mir doch sagen, war mein »Gesetz« für jeden Andern als mich selbst vorderhand nur erst eine Hypothese. Man konnte es anerkennen, oder auch nicht. Je nach dem. Der intellectuelle Stand des jedesmal Betreffenden entschied Alles. Dass man es allgemein anerkannte, dass es Gebrauchswerth erhielt, dass man seine Barren zu kleiner Münze schlug und damit »werthete«, darauf durfte ich billiger Weise nicht Anspruch erheben, bevor es mir nicht gelungen war, es auch zu beweisen. Und das konnte ich selbstverständlich nur dadurch, dass ich eben die gesammte Entwickelung, wie sie sich thatsächlich vollzogen, einfach aus ihm herleitete. Dass ich nachwies, wie sie aus ihm hatte emporwachsen müssen, ganz von selbst und allmählig, wie aus ihrem Keim eine Pflanze. Erst dann, sagte ich mir, durfte ich die Feder endlich bei Seite legen, erst dann hatte ich die Aufgabe, die ich mir damals, an jenem ersten Winterabend, gestellt hatte, wirklich gelöst.

Und in der That! Ich war naiv genug, mich auch an diesen Theil meiner Arbeit heranzumachen. Der Titel meines Buches [127] hatte sich schon ergeben, mühelos aus dem Vorhergegangenen, fehlte also »nur noch« das Buch selbst:


»Sociologie der Kunst.

Précédée par une lettre ouverte à M. Émile Zola«.


Das nahm sich sehr schön aus, roch erfreulich nach Chic, und ausserdem »passte« es sogar!

Ich muss lächeln, wenn ich daran denke: Eine Pyramide des Cheops, zu der vielleicht noch nicht einmal eine ganze Generation von Arbeitern ausreichte, hatte ich Knirps mir übernehmen wollen, in »fünf Bierminuten« aufzuschachteln!

Aber ich gestehe, es genirt mich heute noch nicht. Begeistrung ist keine Heringswaare. Hat doch schon Goethe einmal diese Entdeckung gemacht! Und so ist es mir denn heute, nachträglich, nur ein beruhigender Beweis dafür, wie wunderbar simsonsstark damals mein »Glaube« war. Und das erfreut immer. Auch in der Erinnerung noch. Aber den offenen Brief an Zola wenigstens brachte ich zu Papier. Und zwar an drei prächtigen [128] Sommervormittagen idyllisch auf einer grossen, blumenumblühten Veranda mitten im Park von Nieder-Schönhausen, umtaumelt von Schmetterlingen, von denen einer, ein Citronenfalter, sich sogar bis in mein Tintfass verirrte. Ich hob mir den armen Jungen auf. Er ziert heute noch, neben diversen »blauen Schleifen« und alten Papierstückchen, auf die andre Leute Thränen geweint haben, mein »Museum«.

Ich will nichts defraudiren. Ich gebe das betreffende Schriftstück hier wieder:


Monsieur!


Dans la préface de la »Campagne«, dernière oeuvre de votre critique, vous avez écrit:

»Aujourd'hui, me voilà dans la retraite. Depuis quatre mois, j'ai quitté la presse, et je compte bien n'y point rentrer, sans vouloir toutefois m'engager à cela par un serment solennel. C'est un état de bien-être profond, ce désintéressement de l'actualité, cette paix de l'esprit appliqué tout entier à une oeuvre unique, surtout au sortir de seize années de [129] journalisme militant. Il me semble qu'un peu de paix se fait déjà sur mes livres et sur mon nom, un peu de justice aussi. Sans doute, lorsqu'on ne m'apercevra plus à travers les colères de la lutte, qu'on verra simplement en moi le travailleur enfermé dans l'effort solitaire de son oeuvre, la légende imbécile de mon orgueuil et de ma cruauté tombera devant les faits.«

Vous avez raison, Monsieur. Six ans se sont écoulés depuis et chacun a contribué à réaliser votre prédiction. On a fini par voir dans vos études un plaidoyer personnel. On a séparé le critique du romancier; on convient qu'il a cherché la vérité passionnément, à l'aide de méthodes scientifiques, souvent même contre ses propres oeuvres; on a compris qu'il a obéi à l'impulsion du siècle. S'il y a cependant encore aujourd'hui des gens qui s'entêtent à dire que le naturalisme – cette réthorique de l'ordure! – n'est qu'une invention que vous avez lancée pour poser »l'Assommoir« comme une Bible, ces gens-là appartiennent précisément à la catégorie de ces Saints qui, selon votre propre expression, se sont fait un petit naturalisme à leur usage. Vous avez [130] écrit »blanc« et ils lisent »noir«. C'est à juste titre que vous avez répondu à ces plaisantins: de cette façon, messieurs, nous ne nous rencontrerons jamais! Mais, grâce à Dieu, ceux-ci ne comptent pour rien. N'en parlons plus. Telle est aujourd'hui la vraie situation: Votre victoire est définitive. C'est un fait évident que personne ne pourrait nier. Pendant que la médiocrité hurlait et protestait, vous, vous êtes allé en avant, vous avez fait votre besogne. Vous avez dit que c'est le propre du génie de s'affirmer au milieu des obstacles, et qu'il faut mesurer un écrivain à l'école qu'il laisse et à son action sur l'intelligence générale de son siècle, si cela est vrai, vous pouvez, Monsieur, dormir tranquille. Ayant fait de la passion du vrai une religion en dehors de laquelle vous avez nié tout espoir de salut, vous vous êtes donné la joie rare de dire tout haut ce que vous avez pensé tout bas. Aujourd'hui, après vingt années de lutte contre l'imbécillité et contre la mauvaise foi, vous avez terminé par un triomphe. La vieillesse n'est pas encore venue et déjà vous avez conquis le public; les réputations de [131] carton sont tombées autour de vous, et lorsque vous vous en irez un jour, vous vous en irez dans votre gloire, certain de la solidité du monument que vous laissez. Vos grandes oeuvres resteront.

Cependant, une génération déplace l'autre; et c'est vous-même, Monsieur, qui avez dit, que la bataille aux conventions est loin d'être terminée et qu'elle durera sans doute toujours. Et c'est ainsi que vous nous avez encouragés à creuser le sillon davantage, si nous le pouvons: »Vous êtes jeunes, rêvez donc de conquérir le monde. Exagérez votre audace, songez qu'il vous faut dépasser vos aînés pour laisser à votre tour de grandes oeuvres. Le métier vous glacera assez vite. Chaque conquête sur la convention est marquée par une gloire, personne n'est grand s'il n'apporte dans ses mains saignantes une vérité. Le champ est immense, infini. Toutes les générations peuvent y moissonner. J'ai terminé ma tâche, mais la vôtre commence. Continuez-moi, allez plus avant, faites plus de clarté. Je vous cède la place par une loi fatale, je crois à la marche de l'humanité vers toutes les certitudes scientifiques. [132] Et c'est pourquoi je vous prie de reprendre mon combat, d'être braves, de ne pas avoir peur de conventions que j'ai entamées et qui céderont devant vous, dussiez-vous, un jour, par des oeuvres plus vraies, faire pâlir les miennes«.

Bravo! Je ne connais pas de paroles ni plus courageuses ni plus nobles. Vous allez même plus loin; vous suppliez les jeunes écrivains de faire une réaction contre vos procédés littéraires. Car, vous le confessez vous-même, vous tous, qu'on est convenu d'appeler naturalistes, même ceux qui, comme par exemple vous, ont la passion de la vérité la plus exacte, vous êtes gangrenés de romantisme jusqu'aux moelles. Vous vous en êtes souvent plaint. Vous avez, en effet, commencé à voir où vous allez, mais vous pataugez encore en plein dégel de la réthorique et de la métaphysique. Je ne vous démens pas, Monsieur. Je ne fais qu'admirer franchement votre connaissance de vous-même. Vous ne voulez pas être illogique; vous confessez parfaitement que le naturalisme aurait tort, s'il déclarait qu'il est la forme définitive et complète de la littérature, celle [133] qui a lentement mûri à travers les âges. Vous croyez, au contraire, s'il en devait être ainsi, qu'il tomberait dans les mêmes drôleries que le romantisme. Puis vous ajoutez:

»Que deviendra l'évolution naturaliste? Je l'ignore. L'imagination prendra-t-elle sa re-vanche contre l'analyse exacte? Peut-être bien. Et, d'autre part, le naturalisme aura-t-il un long règne? Je le crois, mais je n'en sais rien. Ce qui m'emporte c'est que dans cinquante ans, si le mouvement a avorté, il ne se trouve pas de naturalistes assez sots pour dire comme les vieux romantiques: Nous refusons de vider la place, parceque nous sommes la littérature parfaite«.

Certes, je connais trop bien les faits, pour risquer l'affirmation ridicule que le mouvement naturaliste a déjà avorté; bien au contraire! si l'on n'entend par le mot »naturalisme« que le simple retour à la nature, je suis même complètement de votre avis: il va s'élargir de plus en plus, il n'a fait que commencer, on ne peut prévoir encore, jusqu'où il ira; il est l'intelligence même du siècle. Je suis tout à fait de votre avis, lorsque vous dites à un [134] autre endroit: »Croit-on arrêter ce mouvement en faisant remarquer que les conventions subsistent et se déplacent? Eh! c'est justement parce qu'il y a des conventions, des barrières entre la vérité absolue et nous, que nous luttons pour arriver le plus près possible de la vérité!«

Oui, pour arriver le plus près possible de la vérité! C'est aussi selon notre opinion le but de tout art. Mais, hélas! Dieu sait où nous en sommes au sujet de la vérité, malgré le mouvement dont vous vous êtes fait le portedrapeau. Il vaut mieux ne pas en parler. Pour arriver le plus près possible de la vérité! Je le répète: c'est aussi, selon notre opinion, le but de tout art. Mais pour y arriver, non seulement le plus près, mais encore le plus vite possible, il faut avoir une méthode, il faut connaître les lois auxquelles l'art tout entier est soumis. Et ce sont justement ces lois que, selon nous, vous n'avez pas encore découvertes, et votre méthode nous la jugeons encore perverse. Ce n'est pas, en un mot, comme vous le croyez, votre »tralala romantique« qui compromet votre formule, c'est le fond [135] même de cette formule. Il ne s'agit donc plus pour nous, les plus jeunes, de la dégager et de l'asseoir – une besogne que vous avez laissée expressément à vos »fils«, puisque vous vous seriez trop échauffé dans la lutte, pour y avoir eu le calme nécessaire – mais d'en stipuler une neuve, à savoir la »vraie«: la formule qui se confond avec les faits. Car nous admettons complètement votre sentence: »Il faut que l'anarchie littéraire finisse, il faut qu'un état solide soit fondé.« Mais avec des formules fausses on ne fonde pas des états solides. Pour cela il en faut de vraies. Et c'est justement cette formule vraie que nous croyons à présent avoir trouvée. Elle sera complète, si elle parvient à triompher, cette évolution immense, qui selon votre propre expression vient du premier cerveau pensant, et que vous avez intitulée du nom de naturalisme, définition, contre laquelle nous n'avons rien à opposer. Car, je le répète, je ne nie personne, vous-même le moins. Tout à fait comme vous autre fois, je vais à présent définir le passé, pour bien démontrer qu'il est le passé, et que les lettres doivent entrer [136] dans une période encore toute nouvelle, qu'il est bon de dégager nettement, si l'on veut éviter les regrets inutiles et marcher à l'avenir d'un pas résolu. Certes, aussi aujourd'hui encore les sots ne manqueront pas. Mais aussi moi je n'ai la prétention ni de prédire ni de pontifier: je tâche tout simplement d'étudier ce qui se passe et de prévoir ce qui sera demain en m'appuyant sur ce qui a été hier. Moi non plus je n'invente rien, moi aussi je fais mieux, moi aussi je continue. Je dis tout comme autrefois vous: »Je ne suis qu'un simple analyste, tourmenté par le besoin du vrai.« Je crois démontrer par là qu'il existe quelque parenté entre moi et l'heure à laquelle je vis.

Sans doute, les mêmes causes appliquées à des objets semblables doivent produire les mêmes effets. De cette manière on vous a reproché d'avoir été un fils ingrat du romantisme. Vous avez protesté là-contre. Je suis sûr de mon coup: un jour on nous reprochera également d'être des fils ingrats du naturalisme. Et nous aussi nous protesterons. Non, nous n'avons pas d'ingratitude. Nous savons que [137] vous avez combattu le bon combat de la vérité, autant que vous l'avez pu, et nous sommes pénétrés d'admiration et de reconnaissance pour vous. Non! Nous ne le nions pas. Vous avez senti tressaillir en vous les vérités de l'avenir! Si vous balbutîez, c'est que vous étiez au seuil d'un siècle de science et de réalité, et vous chanceliez, par instants, comme des hommes ivres, devant la grande lueur qui se leva en face de vous. Mais vous travailliez, vous prépariez la besogne de vos fils. Et ces fils, je le répète, c'est nous. Et si vous étiez à l'heure de la démolition, lorsqu'une poussière de plâtre emplissait l'air et que les décombres tombaient avec fracas, nous, les plus heureux peut-être, nous sommes aujourd'hui à l'heure de la reconstruction de l'édifice. Mais vous n'avez point à vous en plaindre. Vous avez eu les joies cuisantes, l'angoisse douce et amère de l'enfantement;vous avez eu les oeuvres passionnées, les cris libres de la vérité, tous les vices et toutes les vertus des grands siècles à leur berceau. Que les aveugles nient vos efforts, qu'ils voient dans vos luttes des convulsions de l'agonie, [138] lorsque ces luttes étaient les premiers bégaiements de la naissance. Ce sont des aveugles. Vous les haïssez et nous aussi!

Mais, je le répète, l'évolution sociale et littéraire a continué et nous sommes aujourd'hui dans une autre période d'intelligence. Inutile de discuter, de dire que ce mouvement qui nous emporte à la vérité en tout cas est bon ou mauvais; il est, cela suffit; nous lui obéissons de gré ou de force. Il est un travail humain et social sur lequel des volontés isolées ne peuvent rien. Je sais bien que les médiocres d'aujourd'hui voudraient nous arrêter sous le prétexte qu'il n'y a plus de réformes à faire, que nous sommes arrivés en littérature à la plus grande somme de vérité possible. Eh quoi! de tout temps les médiocres ont dit cela. Est-ce qu'on arrête l'humanité, est-ce qu'on fixe jamais sa marche en avant? Que l'art périsse donc, s'il nous est défendu d'en rompre le cadre conventionnel! Mais nous le romprons. Il ne périra pas!

Vous, Monsieur, vous avez été à l'aise parmi votre génération. Moi, je veux l'être aujourd'hui à la mienne. Vous, Monsieur, [139] vous vous êtes constitué le défenseur de la réalité. Eh bien, moi aussi je me constitue défenseur, non contre quelque vieux romantique, mais contre vous.

Vous vous êtes imaginé que la nouvelle évolution que vous avez pressentie et dont la première manifestation est précisément ce livreci, pousserait les auteurs et le public vers plus de simplicité et plus de vérité. Vous ne vous y êtes pas trompé. Ce que vous n'avez pu que commencer, notre évolution l'accomplit: elle fait table rase de toutes les esthétiques qui courent les rues à cette heure. Et cela sans en excepter la vôtre. Aussi, je le crois, est-elle profondément moderne, en apportant la note »naturaliste« dans toute son intensité. Vous pouvez vous en convaincre en lisant les pages suivantes.

Mon grand désir était avant tout de vous succéder, mon grand modèle, c'est à dire, d'être juste. D'abord je vais reproduire exactement votre théorie. Vous vous assurerez que je ne vous prête pas des opinions qui ne sont pas les vôtres. Je ne me rends qu'à votre propre réclamation, suivant le bon [140] conseil que vous avez donné autrefois à M. Charles Bigot: »Je ne lui demande pas de penser comme moi, je le supplie simplement de ne pas dénaturer ma pensée. Qu'il attaque, mais qu'il comprenne d'abord!« Et si vous voulez vous emporter en tonnant: »Eh! Diable! je n'ai pas de théorie!« comme vous l'avez fait, pareillement autrefois, avec M. Henry Fouquier, je vous présenterai tranquillement votre propre déclaration: »J'ai ma petite théorie comme un autre, et comme un autre, je crois que ma théorie est la seule vraie.« Vous voyez que je vous ai bien compris. N'est-ce pas? Puis j'essairai de démontrer que le fond de cette théorie est le même que celui de toutes les théories précédentes, sans exception, fait que du reste vous ne voulez peut-être pas contester vous-même, et que justement ce fond est faux. Enfin je poserai, en concluant, quelle est, selon moi, la formule vraie, la formule définitive. Car je ne crains point qu'un pareil effort soit aujourd'hui ridicule. N'est-ce pas vous-même qui avez écrit: »Tous les problèmes, ont été remis en question, la [141] science a voulu avoir des bases solides, et elle en est revenue à l'observation exacte des faits. Et ce mouvement ne s'est pas seulement produit dans l'ordre scientifique;toutes les connaissances, toutes les oeuvres humaines tendent à chercher dans la réalité des principes fermes et définitifs?« C'est donc vous-même, Monsieur, qui avez justifié mes recherches. Si elles sont vaines, si je me suis égaré, tant pis pour moi. Je ne peux que souscrire de tout mon coeur à votre bonne et brave parole: »Que les faibles meurent, les reins cassés, c'est la loi!«

Mais je ne me suis pas trompé; je ne mourrai pas, les reins cassés, c'est mon siècle lui-même qui m'emporte. Car, je le répète encore une fois: c'est par notre formule que se manifeste enfin la grande loi jusqu'ici obstinément niée, et qui est la base de tout art. Et si vous ne considérez ce que nous comprenons par le mot d'art que comme une marche longue et en apparence souvent interrompue vers la vérité, notre formule n'est que le triomphe grand et définitif, que vous avez si vivement souhaité vous-même. [142] Je n'improvise pas une fantaisie, je constate un fait, rien de plus. Et j'ajoute tout comme vous, que quiconque voudra barrer le chemin à ce fait sera emporté. Oui! quiconque recule devant un seul des obstacles prétendus insurmontables, déserte sa propre besogne et en subira la peine, même dans sa victoire!

Mais je n'en ai pas peur, Monsieur! Celui qui, comme vous, doit tout à la puissance de 'observation et de l'analyse, qui, comme vous, a grandi par la logique et par la vérité, ne se heurtera pas à quelque borne ridicule de convention! Quelles sont donc les conventions qu'on n'a pas encore renversées? Il faut laisser cet épouventail puéril aux critiques de profession qui pataugent là-devant, avec des cris de rotailles effarouchées. Mais quand on a l'honneur d'être non seulement un grand romancier, mais encore un grand homme, ce qui est peut-être plus encore, et de s'appeler Émile Zola, on s'asséoit sur la convention et on la nie. Elle n'est pas parce que nous ne voulons pas qu'elle soit. – Vous en souvenez-vous? C'est vous-même, Monsieur, vous qui avez dit autrefois de pareilles paroles à M. Edmond de Goncourt.

[143] Avant de finir, il ne me reste maintenant plus qu'à me justifier envers vous de la forme de cette lettre. Elle n'est guère composée que de vos propres mots, ramassés ça et là dans les sept volumes de votre critique. Cependant, pour la première fois je ne pouvais pas agir autrement que je l'ai fait, parce que je ne maîtrise point assez votre belle langue, pour opposer à un si fin styliste que vous l'êtes un plus grand nombre de périodes qui me sont propres et puis – vous me pardonnerez, Monsieur, si je vous pille de nouveau – je voulais aussi autant que possible tirer profit de tous les documents qui me sont fournis. Je ne fais aujourd'hui que ce que vous avez fait vous-même autre fois: je marche les yeux fixés vers un but déterminé, et j'utilise en route les moindres appuis que je rencontre. D'ailleurs je vous renvoie à votre propre confession: »J'attends toujours un adversaire qui consente à se mettre sur mon terrain et qui me combatte avec mes armes«. Cet adversaire, le voici. Je vous cite dès que je le peux. Car je dis tout comme vous: »Je ne veux rien inventer«, et j'ajoute: même pas à l'arrangement des [144] mots. En tout cas vous y remarquerez que j'ai du moins lu les livres dont je parle ...

Je termine en disant:

Si ce que vous avez écrit est vrai c'est à dire qu'il est bon que dans notre époque de trouble des hommes de courage se lèvent et disent ce qu'ils pensent, vous ne devez pas condamner mon procédé!

Si ce que vous avez écrit est encore vrai c'est à dire que vous aimez les gens carrés dont les opinions sont absolument contraires aux vôtres, vous ne devez pas me haïr!

Si ce que vous avez écrit est enfin vrai c'est à dire que vous êtes pour les hommes courageux qui ont la brutalité du vrai, qui enjambent les règles reçues, vous ne devez pas être contre moi!

Je sais bien que, jetant ce livre dans le monde, je risque la paix de mon existence. Mais je ne vous attaque pas pour avoir le plaisir enfantin de croiser ma pauvre plume avec la vôtre; je vous attaque tout simplement pour faire de la vérité, si je puis. Rien de plus. N'est-ce pas encore une fois vous-même, Monsieur, qui avez affirmé qu'il ne [145] faut pas croire le public avide de mensonges? Les vérités le bousculent, et il arrive qu'il proteste et s'emporte d'abord; mais on le laisse réfléchir, les vérités s'imposent et le ravissent. Vous confessez que vous vous êtes imaginé que les lecteurs aiment à être remués dans le train-train quotidien de leurs idées; cela les passionne, les instruit, les pousse en avant. C'est pourquoi vous n'avez jamais hésité à dire tout ce que vous avez pensé, même lorsque vous ne vous doutiez que beaucoup de vos lecteurs ne pensaient pas comme vous. Vous en avez cru agir en honnête homme. Eh bien! Moi aussi je crois agir en honnête homme ...


Ich wiederhole: das Buch hinter diesem Brief wurde nie geschrieben.

Gottseidank!

Ich entsann mich noch zur rechten Zeit, dass ich die Theorie ja nicht der Theorie wegen getrieben hatte, gegen Entree und zum allgemeinen Besten, sondern still in meinem eigenen Kämmerlein für mich selbst und nur, um der verflixten Praxis besser beizukommen. [146] Und so gab ich ihr denn eines schönen Tages kurz entschlossen den üblichen Tritt in die Reversseite und liess sie laufen. Das Herz um einen Centner leichter und den Schädel, aus dem die alten Motten nun glücklich in alle vier Winde curirt waren, vollgepfropft mit neuen Idealen bis zum Zerplatzen.

Böse Beispiele verderben gute Sitten. Mein armer Freund, den ich diesem Büchlein hier als Schutzpatron bestellt, war der Erste, der an all das schlechte Zeug glauben musste. Aber mir ist, er war auch schon vorher ein schlechter Kerl ...

Noch heute, wenn wir recht vergnügt sind, ist uns die Erinnerung an jene Zeit der Gipfel alles Gaudiums.

Der Aermste war damals noch Philologe, zukünftiger Gymnasiallehrer, und stak grade in einem Decanatsexamen. Das alte Eselsfell, das er paukte, war der Lucrez, und der Lohn, der seinem Schweiss als Krone winkte, ein – Stipendium. Arme teutsche Poeterei!

Es war ein grauer, regnerischer Tag, an dem wir uns endlich trennen sollten. Der Gute hatte seine Prüfung eben, in Berlin W. bei [147] seinem Professor, pflichtschuldigst bestanden und war nun wieder – per pedes apostolorum selbstverständlich, denn dazu »langte« es noch grade – zu mir nach Nieder-Schönhausen rausgepilgert, um mir Adieu zu sagen. Das Semester war zu Ende, am Abend wollte er dann wieder nach Berlin zurück und in seine Heimath dampfen. Aber schon am Nachmittag, als wir uns den Kaffee kochten, denn wir kochten ihn uns selbst und verschmähten dabei sogar die verweichlichende Bequemlichkeit eines Trichters, hatten wir es mit Flaubert, declamirten: »O l'art, l'art, déception amère, fantôme sans nom qui brille et vous perd«, und waren uns absolut darüber einig, dass es nun endlich denn doch die höchste Zeit sei, sie an den Nagel zu hängen. Und zwar gründlichst! Die Philologie nämlich. Vouloir c'est pouvoir, per aspera ad astra, aut Caesar aut nihil, etc. pp. Nun, man kennt ja die betreffenden Gemüthszustände ...

Und nun brach ein Winter für uns an, wie wir ihn allerdings nur Ein Mal erlebten. Unsere Finanzlage war eine mehr als türkische, und doch lachen uns heute, wenn wir in unsern [148] Notizen von damals kramen, Sätze entgegen, wie: »Wir leben in einem köstlichen Idyll. Wir wissen, dies sind die glücklichsten Tage«.

Sie waren es.

Nur ist uns heute noch unbegreiflich, wie wir sie überhaupt überstehn konnten!

Unsre kleine »Bude« hing luftig wie ein Vogelbauerchen mitten über einer wunderbaren Winterlandschaft, von unsern Schreibtischen aus, vor denen wir dasassen bis an die Nasen eingemummelt in grosse, rothe Wolldecken, konnten wir fern über ein verschneites Stück Haide weg, das von Krähen wimmelte, allabendlich die märchenfarbensten Sonnenuntergänge studiren, aber die Winde bliesen uns durch die schlechtverkitteten kleinen Fenster von allen Seiten an, und die Finger waren uns trotz der vierzig dicken Presskohlen, die wir allmorgendlich in den Ofen schoben, oft so frostverklammt, dass wir gezwungen waren, unsre Arbeiten schon aus diesem Grunde zeitweise einzustellen. Denn mitunter mussten wir sie auch noch aus ganz anderen Gründen quittiren. So z.B. wenn wir aus Berlin, wohin wir immer zu Mittag essen gingen – eine [149] ganze Stunde lang, mitten durch Eis und Schnee, weil es dort »billiger« war – wieder gar zu hungrig in unser Vogelbauerchen zurückgekrochen waren, wenn uns ab und zu, um die Dämmerzeit, während draussen die Farben starben und in all der Stille rings die Einsamkeit, in der wir lebten, plötzlich hörbar wurde, hörbar und fühlbar, die Melancholie überfiel, oder wenn, was freilich stets das allerbedenklichste war, uns einmal der »Toback« ausging. Das war denn ein Herzeleid – gar nicht zu beschreiben! Von Cuba waren wir so, allmählig, auf »Caraballa« gesunken, von Caraballa auf »Paetum optimum«. Ja, einmal, als die Noth am grössten war, entsinne ich mich, rauchten wir sogar das letzte Stück einer alten Guirlande auf. Honni soit qui mal y pense ... Unsern schönsten, runden Tisch mit bunter Veloursdecke, der eigentlich hätte vor dem Sopha stehen sollen – dem »Perserdivan«, wie es officiell hiess – hatten wir eigens zwischen unsre beiden Schreibtische gerückt, als würdige Unterlage für die lange Stricknadel, mit der wir unsere Pfeifen putzten, eine leere Liebigbüchse diente als Aschbecher.[150] Schliesslich, als dann endlich durch unsre Scheiben wieder blau der Frühlingshimmel brach, hatten wir die Genugthuung constatiren zu können, dass unser schöner, schneeweisser Hermeskopf, der so lange quer über einem grossen, rothgebundenen Don Quixote mitten unter einem Spiegelchen gestanden, aussah wie ein Niggerschädel.

Veröffentlicht von uns, als das erste sichtbare Resultat dieser Campagne, wurde dann ein Jahr später im Verlage von Carl Reissner in Leipzig: Bjarne P. Holmsen: »Papa Hamlet

3

III.

Ich will mich in dem, was ich noch zu sagen habe, möglichst kurz fassen.

Im Januar 1890, also wieder genau nach einem Jahr, erschien im Verlage von Wilhelm Issleib (Gustav Schuhr) in Berlin unser erstes Drama: »Die Familie Selicke«. Es gelangte zur Aufführung an der »Freien Bühne«, drei Monate später, am 7. April.

Den Tag drauf schrieb Theodor Fontane in der Vossischen Zeitung:

[151] »Die gestrige Vorstellung der »Freien Bühne« brachte das dreiactige Drama der Herren Arno Holz und Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Diese Vorstellung wuchs insoweit über alle vorhergegangenen an Interesse hinaus, als wir hier eigentlichstes Neuland haben. Hier scheiden sich die Wege, hier trennt sich Alt und Neu. Die beiden am härtesten angefochtenen Stücke, die die »Freie Bühne« bisher brachte: G. Hauptmann's »Vor Sonnenaufgang« und Leo Tolstoi's »Die Macht der Finsterniss«, sind auf ihre Kunstart, Richtung und Technik hin angesehn, keine neuen Stücke, die Stücke bez. ihre Verfasser, haben nur den Muth gehabt, in diesem und jenem über die bis dahin traditionell innegehaltene Grenzlinie hinauszugehen, sie haben eine Fehde mit Anstands- und Zulässigkeitsanschauungen aufgenommen, und haben auf dem Gebiete dieser kunstbezüglichen, im Publikum gäng und gäben Anschauungen zu reformiren getrachtet, aber nicht auf dem Gebiete der Kunst selbst. Ein bischen mehr, ein bischen weniger, das war alles; die Frage »wie soll ein Stück sein[152] oder »sind nicht Stücke denkbar, die von dem bisher Ueblichen vollkommen abweichen?«, diese Frage wurde durch die Schnapskomödie des einen und die Knackkomödie des anderen kaum berührt. Ich darf diese Worte wählen, weil ich durch mein Eingenommensein für Beide vor dem Verdacht des Uebelwollens geschützt bin.«

Ich citire hier diesen Absatz, weil es uns eine Freude ist, konstatiren zu können, dass es grade Theodor Fontane gewesen, der die jähe Kluft, die uns von aller bisherigen Bühnenproduction trennt, Ibsen nicht ausgeschlossen, als Erster wahrgenommen hat.

Nichts kann uns in der That mehr lächeln machen, nichts zeugt mehr von der urkomischen Verwirrung, die wir Aermsten unter unsern verehrten Herren Collegen, den Schreibern der Zeitungen, nun einmal angerichtet haben, als wenn man uns in seiner Herzensnoth, die nach Schablonen schreit, als Nachtreter der grossen Ausländer etikettirt.

Möge man es sich daher gesagt sein lassen. In aller Ruhe, bewusst, und aus unserer Ueberzeugung [153] her aus. Uns ist darum nicht bange. Es wird dereinst erkannt werden: noch nie hat es in unserer Litteratur eine Bewegung gegeben, die von Aussen her weniger beeinflusst gewesen wäre, die so von innen heraus gewachsen, die mit einem Wort nationaler war, als eben grade diejenige, vor deren weiteren Entwicklung wir heute stehn und die mit unserm »Papa Hamlet« ihren ersten, sichtbaren Ausgang genommen. Die »Familie Selicke« ist das deutscheste Stück, das unsre Litteratur überhaupt besitzt. Es ist auch nicht ein einziges Element in ihr und wäre es auch noch so winzig, das uns von jenseits der Vogesen zugeflogen wäre, von jenseits der Memel, oder von jenseits der Eider. Und wenn uns nichts dafür ein Beweis gewesen wäre, nicht einmal die Thatsache selbst, die unerhörten Beschimpfungen, die damals auf uns niederprasselten, hätten uns hinlänglich darüber die Augen öffnen müssen. Sätze, wie: »diese Thierlautkomödie ist für dasAffentheater zu schlecht!« werden sicher nicht allzu oft niedergeschrieben; selbst in den bewegtesten [154] Zeiten nicht. Und gar als das Stück erst angekündigt war in den Zeitungen, als acceptirt zur Aufführung an der »Freien Bühne«, schrieb dasselbe Blatt: « ... dann wird eben keine Frau, die auf Reputirlichkeit Anspruch erhebt, sich dort sehen lassen dürfen und die Herren werden sich in diese Vorstellungen hineinstehlen müssen, wie man das beim Besuche zweifelhafter Lokale thut.« Mit einem Wort: es fehlte nur noch, dass man den Vorschlag machte, uns ins Irrenhaus zu sperren. O bêtise!


Drei Dinge haben hier im Leben Macht:
Der Neid, die Hoffahrt und die Niedertracht;
Doch wenn sie Dich auch noch so schön bespucken,
Am Ende wirst Du sie zu Boden ducken!
Verloren aber bist Du auf der Welt,
Wenn sich die Dummheit Dir entgegenstellt;
Sie setzt Spinoza hinter Löbel Pintus
Und hat die Weisheit aller Zeiten intus.
Sie lacht wie ein Kretin Dir ins Gesicht
Und lästert Alles, nur sich selber nicht;
Und nichts bleibt übrig Dir vor diesem Viehchen,
Als sacht Dich in Dich selber zu verkriechen.

[155] Dieses Gedicht war als ein Heine'sches, »ungedruckt aus dem Nachlass«, im Frühling 1887 fast durch die gesammte deutsche Presse gegangen, und kaum eine Redaktion hatte vergessen hinzuzufügen, dass es wieder einmal »so recht Zeugniss ablege für die Wahrheit des Satzes, dass der echte Dichter für die Ewigkeit schriebe. Angesichts heutiger Verhältnisse hätte Heine auch nichts Treffenderes schreiben können. Die Nutzanwendungen lägen auf der Hand. Wen's juckte, der möge sich kratzen.«

Wie wahr! Das Gedicht stammte freilich von mir, und ich hatte mir mit den Herren ganz einfach einen Aprilscherz erlaubt, aber trotzdem: wie wahr! Die Nutzanwendungen liegen auf der Hand. Wen's juckt der möge sich kratzen. O bêtise! ...


Stahnsdorf, August 1890.

[156]

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TextGrid Repository (2012). Holz, Arno. Schriften. Die Kunst - ihr Wesen und ihre Gesetze. Die Kunst - ihr Wesen und ihre Gesetze. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-8273-E