(15. Jänner 1891)
1.
Der Mann sitzt dort am Weg schon lang, so lang;
Und ich bin so müd, und ich schliche so gern mich fort,
Und es hält mich sein Blick mit leisem, festem Zwang
Und mir ist, als müßt ich ihm sagen ein Wort ... und mir fehlt das Wort!
Es dämmert. Draußen klirrt und rauscht die Stadt.
Die Steine qualmen. Es ist dumpf und schwül.
Der Werktag geht zur Neige, schlurfenden Schritts und matt.
Hier aber, im Garten, ists leer und feucht und kühl.
Jetzt steht er auf, der hagre alte Mann.
Nein, nein, noch nicht ... Was schläft nur in den Augen,
Den müdverschleierten ... mich hält ihr Bann ...
Daß sie die Kraft mir aus der Seele saugen?
So dämmern Augen, die der Tod umschleiert,
Der langsame, der aus dem Leben quillt,
Indes das Lied der Welt Entsagung leiert
Und Ekel flutend durch die Seele schwillt.
So zucken Lippen, wenn die Seele schreit,
Nach einem Rausch, einem Glück, einem Glanz!
Und was in mir schläft, verklungen, weit, so weit,
Das regt sich erwachend in schmerzlichem Tanz.
So zucken Lippen, wenn zu oft betrogen
Mißtrauisch jedes Wort im Innern lauert,
Wenn, die einst flügelschlagend ausgeflogen,
Die Seele frierend jetzt zusammenkauert.
[100]Setz dich zu ihm und hör dem Atmen zu,
Wie das gepreßt, verschüchtert durch die Brust ihm schleicht,
Doch stör ihn nicht, er sehnt sich so nach Ruh ...
Und nah ihm leise, er mißtraut dir leicht ...
2.
Kennt ihr den Mann? Nicht wahr, ihr kennt ihn nicht?
Den alten Mann mit seiner scheuen Pein,
Und doch trägt dies selbe vergrämte Gesicht
Der eure auch, gehauen aus weißem Stein.
Doch um ihn schimmert, den er tönend schuf,
Der marmorweißen Geisteskinder Chor,
Und seines Genius reichumkränzter Ruf
Schlägt tausendzüngig heut an jedes Ohr.
Das ist, was wahllos diese Welt verleiht,
Was tosend durch das Reich der Zeiten wallt;
Des Namens hallende Unsterblichkeit,
Wie Erz so unvergänglich und so kalt.
Der Name, den der Enkel sinnlos nennt,
Wie wir Vergangnes sinnlos mit uns tragen,
Der Formelwahn, der ehrt, was er nicht kennt:
Das könnt ihr geben, das könnt ihr versagen.
Doch was mich rührt und mich verwandt ergreift,
Wobei mir unbewußt die Tränen kamen,
Was dämmernd mir vertraut im Innern reift:
Das lebt, und wüßt auch keiner seinen Namen.
Aus unsern eignen Schmerzen sprichts uns an,
Mitleidend können wir auch mitverstehen:
Das ist mein Wort für jenen alten Mann:
Es lebt der Schmerz, der Marmor wird vergehen.