Theodor Gottlieb von Hippel
Lebensläufe nach aufsteigender Linie
nebst Beilagen A, B, C.

Erster Theil

Erster Theil.

[1] Ich – Halt! – Ein Schlagbaum – Gut – wohl – recht wohl – Ein wachhabender Officier! – wieder einer mit einem Achselbande zu Pferde – zu Fuß – von der Leibgarde – von der Garde der gelehrten Republik – ich ehr' Ihre Uniform, meine Herren, und damit ich Sie der Mühe überhebe, mir die üblichen Fragstücke vorzulegen, mögen Sie wissen, daß ich, wie der Paß oder Taufschein es ausweiset, ein Schriftsteller inaufsteigender Linie bin. In den folgenden zwei Bändchen, welche ich, wenn Gott Leben und Gesundheit und Lust und Liebe zum Dinge verleihet, künftige Messe zu liefern willens bin, wird mein Lebenslauf, bis zu einer sächsischen Frist vor der Messe, fortgesetzt werden. Im vierten Bändchen werde ich den Lebenslauf meines Vaters, und im fünften den Lebenslauf meines Großvaters erzählen, auch alles nach Gestalt und Gelegenheit der Umstände mit unumstößlichen Urkunden belegen. Dieser Plan soll darum noch mehr Eigenes haben, weil ich den Lebenslauf meines Vaters und Großvaters Berg ab erzählen will, da wir jetzo nur Berg auf zu gehen gewohnt sind. Ich werde von der Zeit, da mein Vater Pastor in Curland war, anfangen und bei seiner Wiege aufhören, und so soll's auch mit meinem Großvater werden, der in meiner Geschichte eher sterben als geboren werden soll. Wurzeln, Zweige und Blätter haben einerlei Struktur. Begrabe die Zweige in die[1] Erde, und laß die Wurzel in die freie Luft gen Himmel sehen: es wird ein Baum.

Vorderhand sey es meinen Lesern genug in Beziehung auf mich von dem vierten und fünften Bändchen, wobei ich die Beilagen nicht ausschließen will, zu wissen


HVIC

MONVMENTO

VSTRINVM

APPLICARI

NON LICET


Ich rathe zu keiner Justinianischen Uebersetzung dieser Stelle 1. 2. §. 27. Cod. de vet. jur. enucl. κατὰ ποδὰ, und da Vorrede die Nachrede hindert, mögen sich meine Leser wohlbedächtig merken:


Ὁ δυνάμενος ϑέλειν, δύναται καὶ μὴ ϑέλειν


welche Stelle sie nach Herzenslust verdolmetschen können.

Es ist die höchste Zeit, daß ich wieder auf mich selbst und auf den Daumen, Zeige- und Mittelfinger dieses Werks zurückkehre. Gibt es nicht, wie es am Tage ist, sogar der heiligen Schrift Spötter? Wie sollt' ich also wohl nach Art jenes Pharisäers mit den Worten an den Altar treten:


Οὐδ᾽ ἄν ὁ Μῶμος (ἔφη) τόγε τοιοῦτον μέμψαιτο.


Uebrigens gestehe ich herzlich gern denen Erzählern ein vorzüglicheres Verdienst, sowohl in Absicht des Ellenmaßes als der Würde zu, welche bei jedem merkwürdigen Vorfall außerhalb ihren Grenzen einen Wegweiser aufrichten und ihre Leser zur Nutzanwendung auf Lehre und Trost bringen. Ich werde mich so nehmen, wie ich mich finde. Wer auf eine Schüssel mehr oder Salat, Sardellen, Caviar, Austern und andere Zusätze Leckerbissen und Noten lüstern ist, lasse sich anrichten, was ihm gefällig ist, und thue, was er nicht lassen kann. So lange meine Leser gehen können, will ich ihnen keine Krücke geben; wenn sie selbst eine Dose haben, warum [2] soll ich ihnen mit meinem St. Omer an die Hand gehen (es braucht vielleicht mancher Espagnol, Tonka, Havanna-Rapee), und wenn sie selbst wissen, daß sie Menschen sind, wie sollt' ich sie wohl all' Augenblick mit einemStehe Wanderer oder Leser pfänden, und ihnen wiederholen, daß sie sterben müssen, auf daß sie klug werden.

Mein Wahlspruch ist: I licet.

So wie aber die Grabmäler der Alten, wo man seit einiger Zeit (einige setzen hinzu »Gott sey gelobt,« andere »Gott sey's geklagt«) auch in Gott ruhet, nachdem man sich vor diesem scheute der selige L. Annaeus Florus, der wohlselige C. Plinius Caec. Sec., der hochselige M. Tullius Cicero und der höchstselige Marcus Aurelius Antoninus, Armenicus, Parthicus, Maximus zu sagen.

So wie die Grabstätten der Alten mit den allgemeinen Landstraßen verbunden waren, um den Reisenden anzuhalten, so ist es zwar Regel für mich, den geneigten Leser sich selbst zu überlassen,


coelo tegitur, qui non habet urnam.


Doch wo ist Regel ohne Aber? Was sich ein paar handelnde Personen auf dem Theater unter vier Augen sagen, gehört ohnehin mit zur Handlung, und mir stand es wohl am wenigsten zu, in einer wahren Geschichte Leuten das Wort aus dem Munde zu nehmen und ihnen ein Stillschweigen aufzulegen.

Gott mit Ihnen, meine Herren, und auch mit meinem kleinen Leopold, der mir eine Sündfluth mit dem Tintefaß gemacht hat.

Die Mutter will dich –

Laß mich hier, lieber Vater –

So laß das Tintefaß –

Ich will auf deine Schulter –

Nur nicht ins Buch –

[3] Der kleine Junge hätte vielleicht Ursach, es übel zu nehmen, daß ich die erste Stufe überschreite und nicht von ihm anhebe. Ich könnte freilich bemerken, daß er kein Sanguinolentus gewesen, sondern fast wieClodius Albinus ganz sauber und schön zur Welt gekommen, wenn er sich nicht eben jetzo mit Tinte besudelt hätte. Wenigstens bist du, lieber Junge –

(Fall nicht,

»ich werd' nicht«) beim Publikum nicht präscribirt, ich habe dich einschreiben lassen, und ein größeres Pflicht- oder Kindertheil gebührte dir in diesem Werke nicht. Der arme Junge! gestern war er zwei Jahr und heute zwei Jahr und einen Tag; bisher war er gesund wie ein Fisch und auch beinahe ein so großer Liebhaber von kaltem Wasser wie ein Fisch! heute! –

»Was schreibst du« –

daß du ungeduldig auf die Zähne bist, die sich melden lassen und nicht kommen wollen!

Daß ihr nur, wenn ihr kommt einem Pfirsichkern zu seiner Zeit zeigen könnet, wer ihr seyd; und daß eine Kraft von achtzehn bis neunzehnhundert Pfund in euren Grenzen wohne. Der Himmel helfe meinem Leopold und mir! und uns allen!

Ha! eine andere Art dienstbarer Geister, ungebetner Gäste, unlieblich anzusehen – zu dienen – damit es die Herren Besucher und Versucher, Thorschreiber, Acciseeinnehmer, Cassirer, Rendanten und überhaupt alle Zöllner und Sündergesellen nur auf einmal wissen, ich, und kein anderer hat dieses Buch geschrieben. Wer von den Herren sich aufs Würdigen versteht, wird es schwerlich auch selbst auf den ersten Blick für Contrebande und auswärtiges Gut, sondern für das, was es ist, deutsche Fabrik halten. Hiesige Wolle, ich bitte Hand aus Werk zu legen (den Puls dieses Buchs anzufühlen, kann ich nicht sagen, so sehr ich ihnen auch Quacksalberehre zu erzeigen Lust habe), hiesiger Stuhl, hiesige [4] Zeichnung, alles hiesig – die Herren selbst aber scheinen nicht von hier zu seyn, und sich auf Blick und Griff, Auge und Hand nicht verlassen zu können – Nun so verlassen Sie sich auf mich, und wenn's wider Ihre theure Amtspflicht ist, sich auf ehrliche Leute zu verlassen, schreiben Sie in Ihre Kladde, in Ihr Hauptbuch, Diarium und Exercitienbuch – was die Feder will. Diese Worte werden wohl, wie ich glaube, an Ort und Stelle seyn. VonAristarch hat keiner einen Zug, wohl aber vom bankerottirten Kaufmanne, Sprachmeister, Zeichendeuter, Altflicker u.s.w. Von ἀστερίσκοις und ὀβελίσκοις hab' ich also nicht reden können, womit derHomer plombirt wurde; denn, da wett' ich,Homer ist Ihnen eben so unbekannt, als es, meine insbesondere Hochzuehrende Herren, meine Wenigkeit bis heute wird seyn, der – – gewesen. Berge und Thäler kommen nicht zusammen! wir aber sind leider! so nahe bei einander, daß wir uns mit der Hand reichen und eins versetzen können. Ich weiß, Sie verschonen nicht Säuglinge, nicht Ungeborne, wie sollte also mein Leopold auf der Schulter ohne Kopf- ober Magensteuer (wie man's nennt) abkommen! Wenn's einmal Sitte in Deutschland ist, so sey's. Du sollst dem O-, der da drischet, nicht das Maul verbinden. Item, ein Arbeiter ist seines Lohnes werth, schreibt Dr. Martin Luther in seiner Haustafel etlicher Sprüche für allerlei heilige Orden und Stände, dadurch dieselben, als durch ihre eigene Lektion ihres Amts und Diensts zu ermahnen. Die Rechnungsableger lassen oft mit gutem Bedacht Fehler stehen, um den Abnehmern zu Noten Zeit und Raum zu lassen. »Sonst,« sagen die klugen Haushalter, »fangen diese Notenkünstler es bei der Person an, da sie doch nur bei den Zahlen bleiben sollten.« Das hatte ich noch auf dem Herzen, eh' ich mich empfehlen konnte.

Plus cautionis in re est quam in persona, heißt auf [5] deutsch: beschließen Sie, was Sie wollen über mein Buch, meine Herren, nur meine Person lassen Sie in Ruhe.

Sey mir tausendmal willkommen süßes, oder besser angenehmes Wort. (Man sagt angenehme Ruhe.) Schlafen Sie wohl, oder eigentlich gesund, meine Herren. Claudatur Parenthesis würde ich sagen, wenn ich nicht den wahren Antipoden von einer Parenthese gebraucht und eben hiedurch ein neues epochemachendes Interpunktionszeichen erfunden hätte.

Was meinet ihr Herren majorum gentium, soll ich mit einem großen I anfangen, oder mit einem kleinen?

Den Schlagbaum auf!

Ich bin in Curland auf dem Kirchdorfe *** geboren, wo mein Vater Prediger oder, nach der deutschen Landessprache, Pastor, nach der curischen Basinzas Kungs oder Basingkungs, wie die Letten der geliebten Kürze wegen sprechen, war. Zu seinem Zeichen, würde ich hinzusetzen, wenn dieser Ausdruck nicht so viel Devalvation gelitten, daß ich meinem Vater dadurch keine sonderliche Ehre einbringen würde. Es war seine Kirche eine Kirchspielskirche oder eine solche, wobei wegen des Compatronat-Rechts des Adels manche Pistole, wiewohl nur nach väterlicher Weise in die freie Luft, losgeschossen worden, bis solches endlich unter einigen Daumschrauben dem Kirchspielsadel (ich glaube von Herzog Friedrich Casimir) zugestanden worden. Ich kann nicht sagen, daß mein Vater eine vorzügliche Neigung gegen mein Vaterland hatte; und wenn ich einem Erdbeschreiber hiedurch irgend einen Gefallen zu erzeigen wüßte, was könnt' ich nicht für ein Breites und Langes über die drei Namen Curland, Lettland und Semgallen an ihn endossiren? welches aber alles zu keiner Lobrede auf Curland dienen würde. So viel ist gewiß, daß mein Vater niemals zugeben wollte, daß Curland vom Flusse Chronus herkäme, wodurch die Memel angedeutet würde; obgleich ihm solches sehr wahrscheinlich [6] vorbuchstabirt wurde. Die Curländer, sagte man, wohnten um den Chronus, sie wollten ihr Land von Preußen unterscheiden, und bearbeiteten und drechselten so lange die Buchstaben und Sylben, bis endlich, so wie in der heiligen Schrift, herauskam, was zu suchen war. Es ist viel von Gottes Wort zu sagen, sagte mein Vater. Ein guter Freund von Curland und von meinem Vater spielte eine andere Karte aus, »so stammt es von Cur oder Cursemme, welches so viel als ein Land, das an der See liegt, andeutet,« allein er gewann sein Spiel nicht. Nichts sagte mein Vater. Der gute Freund fuhr fort: »vom kleinen Könige Curo? von den Curaten oder von den Curiaten? oder« – »Nichts, alles nichts – Es würde nicht verlohnen, diese Fibel über den Namen von Curland weitläuftiger zu machen, und sie wegen Lettland und Semgallen, über welche Namen mein Vater eben so wenig nachgebend war, mit Anhang und Zugabe zu verstärken. Mein Vater hatte, nach dem Ausdrucke eines Weisen des Alterthums, zwei Vaterlande, eines, wo er geboren war, und eines, wo er lebte, eines der Natur und eines des Schicksals, und man traf bei ihm, was man gewöhnlich zu treffen pflegt, daß man das Vater land der Geburt dem andern, oder die Mutter dem Vater vorziehet. Wenn der gute Freund am Ende zum Unwillen überging, wurde mein Vater ein Philosoph. Zum Curländer konnten ihn weder gute noch böse Gerüchte bringen.

So wollen Sie denn, fing der Freund an, nachdem mein Vater mit vieler Gelehrsamkeit die Geburt und Abkunft der Namen Curland, Lettland und Semgallen bestritten hatte, so wollen Sie denn den Herzogthümern Curland und Semgallen die ehrlichen Namen absprechen?

Lieber curischer Freund, antwortete mein Vater, unbiegsam wie der curische Käse, doch auch so dicht und fest wie er. Niemand kommt aus seinem Vaterlande. Seitdem die neue Welt entdeckt [7] worden, ist sie ein Theil von unserm Geburtsorte. Bin ich im Gefängnisse, beim Gastmahl, am Hofe, in der Stadt, auf dem Lande, in Mitau, im – – Pastorat, ich bin beständig zu Hause. Ein Thor sagt, daß er vertrieben sey, ein Weiser hat nur eine Reise unternommen, wenn er im Exilium ist. Oft ist man in seinem Vaterlande ein Sklave und im Exilio in Freiheit. Kann man denn mehr als leben und sterben, man sey in Rom oder inTunis! Tristia und Briefe aus Ponto sind Räusche eines Dichters. Ein Weiser kann selbst Ach nur halb aussprechen, wenn er leidet; obschon das Wort nur dritthalb Buchstaben, und wenn man ganz ehrlich seyn will, kaum eine ordentliche Sylbe im Vermögen hat. Wer sich angewöhnt hat, bloß zu essen was sättiget, und bloß zu trinken was den Durst stillet, findet überall eine offene Tafel. Wo mir wohl ist, da ist mein Vaterland, und der Gerechte ist auch im Tode getrost. Wer aus Athen ist, weiß nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Der Weise ist aus der Welt –«

Auf die Frage: Was für ein Landsmann? antwortet Diogenes für mich: κοσμοπολίτης; die Sonne, Freund! ist die Fahne, der wir geschworen haben. Die Erde ist unser aller Mutter. Saure Grütze und Bierkäse, ein paar curische Original-Essen, sind, wie Pfirsichen und Melonen, eine Gabe Gottes. Wer's mit Danksagung empfähet, ist ein Weiser. Auch in Curland gibts Knochen, die Mark haben. Gott ist überall, er, der nicht Lust hat an Cavallerie oder Stärke des Rosses, noch Wohlgefallen an Infanterie und jemandes Beinen, sieht nur auf die, die seinen Namen fürchten und auf seine Güte hoffen. Heute ist ein Land frei und morgen liegt's einem Tyrannen zu Füßen, der seine Hand ins warme Blut des Erstgebornen, eines Vertheidigers seines freien Vaterlandes, eintaucht, um das schreckliche Jahr, da die Freiheit unterging, am aristokratischen Altar, am Rathstisch anzuzeichnen. Freund! was [8] meinen Sie, wenn wir je solche Blutzahlen sehen sollten? Lassen Sie alles ruhig im Vaterlands seyn; ein Prophet gilt doch nicht, wo er geboren ist. Wie ging's dem Aristides, dem Epaminondas? In der Fremde seyn, heißt in die Hand Gottes fallen; in seinem Vaterlande ist man, wenn's hoch kommt, in der Hand der Menschen, gemeinhin in der Hand seiner Feinde. Und wie soll man sich gegen sein undankbares Vaterland führen? Wie gegen einen Vater, der eine Mutter ohne Ursach verstößt, wie gegen eine Mutter, die zum zweitenmale heirathet? Diese bleibt Mutter, jener Vater. Bei diesen Sprüchen war's dem Freunde so, als wär' er selbst nicht mehr in Curland, als hätte er der Sonne geschworen. Es schien ihm, mein Vater hätte das Feld behalten; der kleine König Curo aber und die Curaten oder Curiaten wären in die Flucht geschlagen. Mein Vater befestigte, was er erobert hatte, mit ein paar griechischen Sprüchen, die seinen Feind um so mehr abhielten, weil er kein Wort griechisch verstand.


Ἀνδρὶ σοφῷ, fing mein Vater an, πᾶσα γῆ βατή,

ψυχῆς γὰρ ἀγαϑῆς πατρὶς ὁ ξύμπας κόσμος.


Und gleich darauf:


ἐπεὶ τὶ δεῖ βροτοῖσι, πλὴν δυοῖν μόνον,

Δήμητρος ἀκτῆς, πώματος δ᾽ ὑδρηχόου.

ἅπερ πάρεστι, καὶ πέφυχ᾽ἡμᾶς τρέφειν.


Es pflegte der gute ehrwürdige Mann von Curland zuweilen als von einer Herberge zu reden, wo man sich oft länger als man wünscht, weil der Reisewagen gebrochen ist, aufzuhalten gezwungen sieht. Bei mir zu Hause essen wir um diese Zeit Spargel, pflegte er zu sagen; bei mir zu Hause raucht man um diese Jahreszeit eine Pfeife Tabak in der freien Luft, bei mir zu Hause hat man Trauben und den Wein bei der Quelle. So ungern er also auch im Herzen in Curland zu seyn schien, und so oft er im Stillen durchs Fenster gesehen haben mag, ob der Reisewagen [9] noch nicht in Ordnung wäre, so hielt er dennoch mit seiner Abneigung zurück. Der Freund, mit dem sich mein Vater auf der vorigen Seite duellirte, und noch ein Secundant waren die Hauptsiegel-Bewahrer dieses Geheimnisses und auch die einzigen, mit denen er griechisch sprach, ohne daß die guten Leute es verstanden. Wer ihn aber nach seiner Heimath fragte (sein Weib und Kind und seine zwei griechischen Freunde nicht ausgenommen), setzte ihn und sich selbst einer großen Verlegenheit aus.

Bei mir zu Hause fing er, wie gewöhnlich, an – und ich war noch im zartesten Alter, als ich ihn fragte, lieber Vater, wo ist dein Haus! wir wollen hin, du, die Mutter und ich! Ist es wohl so schön als dieses hier? Ich zeigte ihm meines von Blättern. Nimm mich ja mit, wenn du nach Hause gehst, oder laß mich, wenn ich größer werde, allein – Wo? Wo? – rief er ganz ängstlich. Meine Mutter, welche eben seinen Kragen zurecht legte, ließ diesen heiligen Halsband fallen, sprang schnell auf und ging davon, als ob sie auf allen Antheil von meiner Frage und der künftigen Antwort Verzicht thäte. Sie war indessen, wie ich es offenbar merkte, nach der Weiberweise, nur bloß dem Auge meines Vaters entgangen. Ob's mein Vater gemerkt habe, zweifle ich, denn er hatte sich auf dem Wege nach seinem Hause so sehr verirrt, daß er nicht aus noch ein wußte. Vielleicht sagt er es dem unschuldigen Kinde, dachte meine Mutter ohne Zweifel, da sie sich in der besten Ordnung zurückzog, wovon er dir allemal ein Geheimniß gemacht hat. Lieber Sohn, fing mein Vater an, als ob er von einem Vorbeigehenden wegen seiner Reise eine Auskunft erhalten, oder in eine Reisekarte gesehen hätte – und meine Mutter machte die Kammerthüre, hinter welche sie sich weislich gestellt hatte, drei Zoll weiter auf – im Himmel ist unser wahres Vaterland, hier unten sind wir Fremdlinge und suchen das, was droben ist. Wir sind in Hinsicht unseres Körpers Gottes Pilger, [10] in Hinsicht unserer Seele Gottes Bürger. Als die Pilgrime! heißt es, darum führet einen guten Wandel

Zu Hause nimmt man sich vieles so übel nicht. Man vernachlässigt sich; thun Sie doch, als ob Sie zu Hause wären, sagt man. Auf der Reise sind wir auf uns aufmerksamer. Die Welt ist für einen klugen Reisenden höchstens eine Hauptstadt. Er läßt sich das Merkwürdige zeigen; für einen Gelehrten eine öffentliche Bibliothek, er sieht die Titel. Beide bestellen Postpferde. Plus ultra.

Hiebei sahe mein Vater so gerührt aus, daß, wenn ich nicht seinen Worten geglaubt hätte, ich jedennoch jedem ehrwürdigen Zuge seines Gesichts hätte beipflichten müssen, auch wenn ich noch einmal so alt gewesen wäre, als ich's nicht war. Wie böse meine Mutter über den Himmel geworden, weiß ich nicht, allein ich hörte, und mein Vater, der nun wieder an Ort und Stelle war, mußte es auch hören, daß sie die Thüre zuzog, als ob sie nicht die mindeste Lust zum Himmel hätte. Ohne Zweifel hat sie dieses unvermerkt thun wollen, um ihre Neugierde zu verbergen; indessen machte das plauderhafte Schloß ein unzeitiges Geräusch und wurde dafür den folgenden Tag, da mein Vater eine Beichtandacht besorgte, ausgebessert. So viel ist gewiß, daß der liebe Mann durch diese Antwort, die zwar mich, nicht aber meine Mutter befriedigen konnte, mich, wiewohl ohne daran Schuld zu seyn, auf den Gedanken brachte, daß man im Himmel früher als in Curland Spargel äße, gleich früher in der freien Luft eine Pfeife rauche, Trauben hätte, und den Wein aus der Quelle schöpfen könnte. Tausend andere Dinge, die er nachher meiner Mutter erzählte, wie es bei ihm zu Hause wäre, kamen alle bei mir auf die Rechnung des Himmels, und ich war zuletzt dort eben so bekannt als auf unserm lieben Dörflein, wo ich über jedes Huhn hätte urteln können, wenn über dessen Eigenthum ein Streit gewesen [11] wäre. Manches kam mir freilich sehr bedenklich vor, worunter zum Exempel war, daß man bei ihm zu Hause ohne Nacht- oder Unterhemde ginge und zu seiner Zeit lange Manschetten (die meine Mutter Handblätter nannte) getragen hätte. Eines Tages, da ein Literatus (welches in Curland eben keinen Gelehrten, sondern ein unselig Mittelding von Edelmann und Bauer bedeutet) mit ungewöhnlich langen Manschetten bei uns des Mittags aß, mußte ich glauben, daß er ein Himmelsbürger und Landsmann meines Vaters wäre, und wegen des ganz ungewöhnlichen Maßes seiner Handblätter schon etwas mehr als ein andrer im Himmel gelten müßte. Kaum hatte er nach meiner Meinung das Jammerthal unseres Pastorats mit den seligen Wohnungen der Gerechten verwechselt, kaum, sag' ich, war er fort, so fragt' ich meinen Vater, was ihm der gute Freund für Nachrichten aus dem Himmel gebracht hätte, und mein Vater nahm Gelegenheit, mir die wahren Begriffe von jener Welt beizubringen, denen mein Herz und Seele auf dem halben Weg entgegen kam oder beide Glaubenshände zureichte, so daß mithin dieser Literatus, der des Mittags bei uns einen vortrefflichen Kalekutschen Hahn verzehren geholfen, meinen falschen Himmel zu reiten mitnahm.


Mein Vatter war, wenn ich so sagen soll, geboren, von der andern Welt zu reden. Seine Seele, man fühlte es, war im Buche des Lebens eingeschrieben und einer Veredlung durch den Tod so gewiß, daß, wenn er davon sprach, man glauben mußte: er würde verklärt. Drei Viertheil war er dort und nur ein Viertheil hier. Gott schenke mir, wenn mein Stündlein vorhanden ist, die Empfindungen, die damals in meiner Seele hervorschossen, als er mir den Himmel zeigte. Mir fielen die Worte aufs Herz: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen – Mein Vater war ein Kind, um mit einem Kinde zu reden, und [12] ich fand an mir erfüllet, was von den Kindern geschrieben steht: ihrer ist das Reich Gottes.

Aber wo muß denn das Haus meines Vaters seyn, dachte ich; allein ich unterstund mir nicht, darnach zu fragen, denn, so jung ich war, so merkt' ich doch, daß er seine Ursachen haben müsse, es zu verschweigen.

Meine Mutter, wie ich sowohl diesesmal als bei andrer Gelegenheit sehen konnte, hatte mein Vater gleichfalls keinen Daumenbreit über fünfzig Meilen in die Länge, und zehn, zwanzig bis dreißig in die Breite, als so viel die Grenzen von Curland ausmachen, mitgenommen, daher sie eben so wenig als ich den Ort seiner Geburt wußte. Die neue Welt, pflegte sie zu sagen, ist entdeckt, deines Vaters Vaterland würde dem Columbus mehr Schwierigkeiten gemacht haben.

Was bei dieser väterlichen Verschwiegenheit einem jeden besonders vorkam, war die Gewohnheit meines Vaters, alle Augenblicke zu erwähnen, wie es bei ihm zu Hause sey. Er kam darüber bei Leuten in Verlegenheit, die er nicht wie mich mit dem Himmel abfertigen konnte; allein ehe man sich's versah, war er nicht mehr in Curland.

Ich bemerkte auch, nachdem ich größer war, daß die Leute über diesen Punkt mit dem guten Manne ein förmliches Mitleiden zu haben schienen, so daß sie dabei die Achseln in die Höhe zogen, als über einen Menschen, der so lange vernünftig wäre, bis er auf sein Vaterland käme, und alsdann scheu würde. Es war daher zum Sprichwort bei vielen geworden »das ist so unbekannt als des Pastors – Vaterland.«

Oft traf es sich, daß die ganze Tischgesellschaft still ward, so bald er nur die Anfangsworte: bei mir aussprach, und dieses ist die natürliche Folge, wenn jemand roth zu werden Ursach gefunden. Ein einziger hat nur die Elektrisirstange angefaßt, allein sie fühlen [13] alle den Schlag. Es herrscht eine feierliche. Stille, jedes spielt mit Messer und Gabel, oder dreht sich Pillen von Brod. Nach einer Weile putzt der, welcher zu den wenigsten Empfindungen aufgelegt ist, das Licht, wenn es Abend ist, oder hustet, wenn zu Mittage gegessen wird; ist's außer Tisch, so spricht er »besondere Witterung,« oder bittet um Tabak, »der meinige,« setzt er hinzu, »ist so dürr wie Sand;« dieses alles that gewöhnlich meine liebe Mutter, wenn mein Vater einen Kreuzzug über Land unternommen hatte, allein gewiß nicht, weil sie dabei unempfindlicher, sondern weil sie's gewohnter war wie alle übrige, und weil sie die beklommene Gesellschaft gern wieder ins Freie in die frische Luft bringen wollte. Oft stand ich mit dem Gedanken auf, und schlief mit dem Gedanken ein, warum sagt er denn nicht wenigstens seiner Familie, wo man um diese Jahrszeit Spargel ißt, wo man um diese Zeit eine Pfeife in der freien Luft raucht, wo man Trauben hat, den Wein bei seiner Quelle genießt und (welches mich am meisten interessirte) lange Manschetten trägt.

So geheim mein Vater mit seinem Vaterlande und seiner Familie war, so freigebig war meine Mutter, so oft sie von ihrer Familie etwas zu erzählen Gelegenheit hatte. Sie wußte sich sehr viel damit, daß sie, wie sie sagte, aus dem Stamme Levi wäre, und zählte fünf Priester- oder (damit die in Curland herrschende lutherische Kirche kein Aergerniß nehme) Prediger-Ahnen von Vater- und vier von mütterlicher Seite. Einer ihrer Ahnherren war Superintendent, und zwei waren Präpositi gewesen. Sie rechnete sich, wiewohl von der Seitenlinie, zu den Verwandten des Superintendenten Paul Einhorn, dessen Vater Alexander Einhorn, der zweite curländische Superintendent gewesen war, und wenn sie an den Eifer dachte, mit welchem der Ehren Paul Einhorn sich der Annehmung des gregorianischen Calenders widersetzte, so schien es, daß sie der nämliche Einhornsche Eifer beseelte. [14] Es hat dieser würdige Eiferer sich die Calendermärtyrerkrone errungen, indem er im Jahr nach Christi Geburt 1655 Dominica XI. post Trinitatis auf der Kanzel mitten in einer Calenderpredigt blieb und sein ruhmvolles Leben mit den Worten: »verflucht sey der Calend« – sanft und selig endigte. Mein Vater schien beständig besorgt zu seyn, es würde meine Mutter eine Märtyrerkrone in ihrem Bluträchereifer überraschen, weßhalb er sie bei der Hand zu nehmen und zu sagen pflegte: »fasse dich, mein Kind, die Sache ist beigelegt, wir schreiben heute den – VI –.« Meine Mutter hielt indessen bis an ihren Tod den gregorianischen Calender für ein ketzerisches Buch, und ließ sich nie Ader, wenn im Calender das Zeichen zum Gutaderlassen stand. Es mußte kein Haar im Pastorat verschnitten werden, wenn der Calender hiezu anrieth, und alles, was sie nur erreichen konnte, mahnte sie ab, Holz zu fällen, Kinder zu entwöhnen, oder sonst eine Medicin zu brauchen, wenn der Calender es gut fand. Es war ein Glück für sie, daß diese ungestempelten Tage die meiste Zeit für sie und die lieben Ihrigen gut ausfielen; es war aber ein Unglück für den gregorianischen Calender, denn sie nahm eben hiedurch einen Grund mehr, dawider zu reden und dem Herrn Superintendenten Einhorn zu parentiren.

Ich würde mich um alles in der Welt nicht unterstehen, in Absicht der Ahnen meiner Mutter einSchriftsteller in aufsteigender Linie zu werden, und meine Leser verlieren auch durch die Erzählung der rühmlichen Thaten, Schlachten und Siege nichts, wodurch sich meine Vorfahren mütterlicher Seits, von der geraden und Seitenlinie, um die Kirche verdient gemacht. Sie nannte sie oft Kirchensteine, um alles zusammen zu fassen. Dieser hatte lettische Lieder, wie sie sagte, aus freier Faust gesungen, jener einige übersetzt, ein anderer hatte sich dem Superintendenten Daniel Hofstein, welcher den Exorcismus bei der Taufe der fürstlichen Kinder weggelassen, mit Hand und Fuß (ich brauche ihre [15] eigenen Ausdrücke) widersetzt und ihn dem Teufel übergeben, der nach seiner wohlehrwürdigen Meinung die Complimente nicht erwiedern würde, die ihm der Herr Superintendent machte; ein anderer hatte die Ostereier in seiner Gemeine abgestellt, welches, wie meine Mutter behauptete, ein aus andern Ländern nach Curland gebrachter, nicht allgemein im Schwange gehender, unchristlicher Gebrauch wäre, und dieser gute Mann war in Kupfer gestochen. Ich weiß bis diesen Augenblick nicht, wie er zu dieser Ehre gekommen war. Meine Mutter hatte diesen Kupferstich lange verwahrt, ohne davon einen andern Gebrauch zu machen, als daß sie, wie sie sagte, dieses Bild alle heilige Abende vor Ostern eine Stunde angesehen. Sie behauptete, daß ich etwas ähnliches in der Gegend um die Augen von diesem so ehrwürdigen als beherzten Manne hätte, obgleich ich davon nicht die mindeste Spur zu entdecken im Stande war.

Es sey nun dieses oder etwas anderes die Ursache, genug, meiner Mutter wandelte auf einmal der Einfall an, diesen Kupferstich unter Glas zu setzen und unter den Spiegel zu hängen, der im Prunkzimmer des Pastorats gegen Morgen hing.

Mein Vater widersprach diesem Gedanken, da ein Glaser unsere Straße zog, und ist also dieser gute Mann, obgleich er die Ostereier abgebracht, nicht der Ehre gewürdigt worden, im Prunkzimmer des Pastorats gegen Morgen unter dem Spiegel zur Schau gestellt zu werden. Sie war etwas ungehalten über meinen Vater, obgleich sie sich solches nicht weiter mer ken ließ; indessen war es nicht das erstemal, daß sie sein Conto mit einer Schuld belastete. Sie faßte dieses und beinahe alles, was sie sonst noch auf ihrem Herzen und Gewissen hatte, die Noth des ganzen Pastorats zusammen, und schrieb's flugs unter die Rubrik:nicht aus dem Stamme Levi. Ihrem Zorne brachte sie ein Opfer, das sie nachher sehr bereuete. Sie schickte eben so flugs den Rahmen abzusagen, den sie für den Kupferstich bestellt hatte, und war verbunden, obgleich [16] der Nahmen noch nicht zur Hälfte fertig war (und dieses gab zu neuem Aergerniß Gelegenheit), ihn ganz zu bezahlen. Nachdem sie ihre zu Paaren getriebene Ideen wieder zu Hauf gebracht hatte, entwarf sie einen neuen Operationsplan, der ihr auch glücklich einschlug, nämlich diesen verdienstvollen Mann in der Speisekammer aufzuhängen. Hier, sagte sie, kann er sich ohne Rahmen behelfen und niemand wird zu ihm sagen: Freund! wie bist du hereinkommen und hast doch kein hochzeitlich Kleid an?

Ich kann es nicht schicklicher anbringen, daß meine Mutter bei aller Gelegenheit feierlich war. Es ward im Pastorat mit nichts anderm als mit Weihrauch geräuchert; alles, was meine Mutter vornahm, ward besungen. Dieses ist der eigentliche Ausdruck. Die Natur hatte sie mit einer sehr melodischen Stimme ausgestattet. Das Bewußtseyn dieser Mitgabe der Natur war indessen nicht die Ursache ihres treufleißigen Gesangs. Meine Mutter wird die Ursache hievon gelegentlich selbst angeben. Sie fing, sobald ihr etwas zu Herzen ging, einen Vers eines geistlichen Liedes in bekannter Melodie aus freier Faust (um ihren Einhornschen Ausdruck nicht zu verfälschen) zu singen an, den alles, was zu ihrem Departement gehörte, mit anzustimmen verbunden war. Sie sang mit Kind und Rind. Es war daher natürlich, daß jedes, so bei ihr in Diensten war, Probe singen mußte, weil außer dem Hausdienst auch eine Art von Küsterstelle durch jedes Hausmädchen vergeben wurde. Vor diesem hatte meine Mutter, nach ihrer selbst eigenen Relation, die Gewohnheit gehabt, einen jeden herzlichen Vorfall mit einem ganzen Liede zu bezeichnen; mein Vater indessen, der anfänglich bemüht gewesen, diese Gewohnheit völlig abzuschaffen, hatte sie doch am Ende nachlassen müssen. Sie ward aber von ihm bis auf einen Vers eingeschränkt, den meine Mutter nicht um die Herzogthümer Curland und Semgallen gelassen hätte.

Ich hab' es oft erfahren, daß mein Vater zuweilen den zweiten [17] Diskant extemporirte und meiner Mutter zum Munde sang, so daß er mithin von seiner vorigen Meinung a posteriori abgegangen war. Meine Mutter rechnete ihm diese Bekehrung im Conto sehr hoch an, und je lauter er mitgesungen hatte, je mehr wurde ihm zu gut geschrieben. Sie wußte sogar den Zeitpunkt anzugeben, wenn mein Vater, der, wie die Folge zeigen wird, keine Anlage zum Geistlichen besaß, aufgehört hätte ein Liederstürmer zu seyn, und diesen Zeitpunkt werden wir übermorgen (ich rechne nach mir und bitte meine Leser deßfalls um Verzeihung) erreichen. Meine Mutter wußte den Rückfall meines Vaters, den sie des zweiten Diskantes unerachtet noch immer befürchtete, so sehr zu verhindern, daß sie seine Lieblingslieder den ihrigen vorzog, obgleich sie es auch mit ihren Lieblingen nicht verdarb, unter denen einige waren, bei denen mein Vater unmöglich den andern Diskant singen konnte.

Das Lied: Ich bin ein Gast auf Erden, schien für meinen Vater gemacht zu seyn, und fast ward kein Glas gebrochen, ohne daß meine Mutter nicht anstimmte:


Die Herberg' ist zu böse,

Der Trübsal ist zu viel;

Ach, komm mein Gott und löse

Mein Herz, wenn dein Herz will;

Komm, mach ein sel'ges Ende

Mit meiner Wanderschaft,

Und was mich kränkt, das wende

Durch deinen Arm und Kraft.


Ich wette, wenn meine Mutter mit diesem Liede meinen Vater gleich zu Anfang bestochen hätte, sie würde nicht auf einen Vers begrenzt worden seyn. Kaum hatte einer der zwei Streiter über die Namen von Curland, Lettland und Semgallen Abschied genommen, und gleich sang ihm meine Mutter nach:


[18]

Wo ich bisher gesessen,

Ist nicht mein rechtes Haus;

Wenn mein Ziel ausgemessen,

So tret' ich frei heraus.

Und was ich hier gebrauchet,

Das leg' ich alles ab;

Und wenn ich ausgehauchet,

So scharrt man mich ins Grab.


Gern, das weiß ich, hätte sie unter der Predigt: vom Vaterlande, wie an hohen Festen diesen Vers angestimmt, wenn sie geglaubt hätte, meinem Vater hiemit einen Liebesdienst zu erweisen. Seine Singzeit indessen war noch nicht gekommen, und außerdem hatte er den Grundsatz: die Andacht gehör' ins Kämmerlein. Der Gesang blieb also bloß unter den Hausgenossen.

Wer keine Einbildungskraft hat, sagte mein Vater, hat auch kein Gedächtniß. Ein großes Gedächtniß kann die Urtheilskraft schwächen, allein auch stärken. Wer sich durch hundert Meinungen, die er weiß, nicht stören läßt und noch eine für sich besitzt, hat viel Gedächtniß und viel Urtheilskraft. Die besten Köpfe klagen am meisten über Gedächtniß. Sie sehen ein, wie viel noch zurückbleibt, was sie nicht wissen, und wollen sich auf eine Art, die ihnen am wenigsten zu stehen kommt, bei Ehren erhalten. Ein Mann von starker Beurtheilungskraft macht sich nur Merkzeichen durch die Vernunft, die Imagination ist bei ihm bloß Köchin. Was sollte ihn also zurückhalten, ohne roth zu werden, über schwaches Gedächtniß zu klagen? Manche, um auch für tiefe Denker gehalten zu werden, machen es nach, obgleich die guten Leute weit eher über schlechten Verstand klagen könnten.

Zum recht guten Gedächtniß gehört, etwas ins Gedächtniß fassen, behalten und sich wieder erinnern. Sieh bei der Sache [19] auf Ursach und Wirkung, inoculire alles auf dein Lieblingsstudium, und es ist dir auch im spätesten Alter, als hättest du es vorm dreißigsten Jahre, bis zu welcher Zeit beim Menschen alles in der Blüthe steht, gelernt. Witzige Leute haben schreckliche Gedächtnisse. Ueberall finden sie eine Aehnlichkeit – weil diese aber oft zu schwach ist, oder weil sie mit einem Blick zehn Aehnlichkeiten finden, vergessen sie alles; das Bewußtseyn, fassen zu können was man will, thut bei einem Genie oft größere Dinge, als wenn's schon ein gerüttelt, geschüttelt und überflüssiges Maß im Kopfe hätte. Ich habe noch keinen Dichter gekannt, der nicht schnell gefaßt hätte, was er gelesen. Beim mündlichen Vortrage gelingts nicht allen. Prosa behalten sie leichter als Verse. Bei andern Leuten ist es umgekehrt. Man würde behaupten können, ein Original müßte wenig Gedächtniß haben, wenn es nicht Leute gäbe, die im Vergessen eben so stark als im Fassen sind. Fassen und Behalten wird im gemeinen Leben für eins genommen, allein ganz unrichtig. Ein jeder Originalkopf muß schnell fassen und schnell vergessen. Etwas bleibt zurück, und nur eben so viel, als nöthig ist, um nicht bloß Abschreiber (Copist) zu seyn. Ein Großmaul hat ein behaltendes, ein Kopf ein fassendes Gedächtniß. Wer viel plaudert, kann auch viel behalten; ein guter Kopf kann nur viel erzählen, wenn er trunken oder verliebt ist; er darf sich indessen beides nur einbilden zu seyn. Wenn ein Poet nicht gut faßt, kommts oft daher, weil er sehen und hören kann und zwar mit Augen und Ohren des Genies, und auch dieser Umstand trägt sein Theil bei, daß er so leicht vergißt. Er kann nichts lesen und hören, was er nicht sogleich mit dem Seinigen bereichert. Er verzinset oft einen Gedanken mit fünfzig Procent, oft mit mehr. Er weiß beständig viel, nur nicht immer was andere wissen. Wer Jahreszahlen und Geschlechtsregister behalten kann, ist kein Dichter.

Lieber Vater, hier macht die liebe Mutter eine Ausnahme. [20] Anlage zur Hauspoesie ist ihr nicht abzusprechen, und wer ihr ein gutes, massives Gedächtniß zugestehen wollte, dem vergäße sie diese Beschuldigung selbst im Himmel nicht, und wenns auch nur bloß darum wäre, um ihr Gedächtniß zu beweisen. – Was sie behält, ist eisern. Meine Mutter wußte nicht nur alle mögliche Lieder aus- und inwendig, sondern besaß auch eine so genaue Lebensbeschreibung von vielen Liederdichtern, daß sie beinahe den Schöpfungstag von jeder Strophe wußte. Es war ihr von vielen Jahr und Tag bekannt, und was das allermeiste war, sie konnte sagen, was jede ihrer Herzensstrophen bei diesem oder jenem für eine Wunderkur gemacht hatte.

Mein Vater, der von dergleichen Dingen nicht das mindeste wußte, hörte ihr (ohne Zweifel von dem Zeitpunkte, da er den zweiten Diskant zu singen anfing) andächtig zu, und schien an ihrer Zufriedenheit über dieses geneigte Gehör theilzunehmen.

Die singende christliche Hausgemeine war noch an den Worten:


Und was mich kränkt, das wende

Durch deinen Arm und Kraft,


und frisch fing meine Mutter an, als wenn sie festen Fuß fassen und occupiren wollte:


»von Paul Gerhard


War mein Vater nicht unter ihren Zuhörern, pflegte die Leichenpredigt länger und erbaulicher zu seyn, und beständig fand sie alsdann auf ihrem Wege Umstände, die mit Umständen, so Leuten aus ihrer Familie begegnet waren, eine Aehnlichkeit hatten. Reiste mein Vater mit, war der Weg wie auf der Diele, und nie sprach sie bei einem Anverwandten auf der Landstraße an, es wäre denn zuweilen bei ihrem sel'gen Herrn Vater oder Großvater, um ihnen aus Kindespflicht die Hände zu küssen.

[21] Paul Gerhard hatte Berlin wegen des Streits der Lutheraner mit den Reformirten verlassen, nachdem er aus Lüben (denkt an Liebau, sagte sie, wenn euch der Name zu schwer fällt) nach Berlin gekommen, und ihr seliger Herr Vetter war, um allen allerlei zu werden, vom Landpastorat nach Mitau als Stadtpastor gegangen und hat in Mitau ein Bein gebrochen. Doch warum nicht sie selbst? Damit meinen Lesern die Zeit nicht zu lang werde, soll mein Vater ab- und zugehen.

»Es ist ganz besonders, daß Herr Paul Gerhard – sein Sohn, Paul Friedrich Gerhard, war Magister; auch gut! allein, so viel ich weiß, kein Liederdichter. Schade!) Es ist ganz besonders, sag' ich, daß Herr Paul Gerhard, welcher als Ober- oder Primarpastor 1676 den siebenzehnten, und nicht den siebenundzwanzigsten Mai, im siebenzigsten Jahre seines reifen Alters unter die himmlischen Sänger aufgenommen ward, kein Lied gemacht hat, das mit C anfängt, obgleich wir sonst viele vortreffliche Lieder haben, die mit diesem Buchstaben anheben. Ich laß jeden Buchstaben in seiner Ehr' und Würde, allein unter den Consonanten ist C mein Liebling. Hat dein Vater je sich des Unterdrückten, des Nothleidenden (sie wandte sich zu mir) angenommen, so war's, indem er behauptete, der Buchstabe C sey so gut deutscher Bürger im ABC als irgend einer, und indem er den Candidaten – ohne C widerlegte. Da die Letten ohne C sind, so könnte man den Herrn Oberpastor Paul Gerhard einen curischen, einen lettischen Sänger nennen, wenn er anders damit zufrieden wäre, woran ich zweifle. Wer Gerhards Lebensgeschichte mit leichter Mühe und ohne Kopfschmerz zu behalten Lust hat, merke sich vier Sieben.«

»Im Jahre sechzehn hundert sechs und siebenzig, den siebenzehnten Mai, im siebenzigsten Jahre, und in Hinsicht des Zweifels wegen seines Sterbetages sieben und zwanzig. Dieser Zweifel hat, wie mich dünkt, einen Druckfehler, eine[22] Schwachheitssünde zum Grunde. Wer kann wissen, muß jeder, der ein Buch schreibt, bekennen, wie oft er fehle.«

Da hast du ganz recht, liebe Mutter; und ich, der ich zweihundert Meilen vom Druckorte entfernt bin, setze bei dieser Gelegenheit mit einer Verbeugung an alle Recensenten hinzu: Verzeihet die verborgenen Fehler. (Meine Mutter fährt fort:)

»Gott weiß, wie die Worte in der Ausgabe des Herrn Feistking lauten. Es ist diese Ausgabe für mich ein Licht unter einem Scheffel. Das Manuscript hat Herr Johann Heinrich Feistking vom Herrn Magister Paul Friedrich Gerhard erhalten.«

Meine Mutter bedauerte, daß sie nicht selbst der Herr Johann Heinrich Feistking bei dieser Gelegenheit gewesen, und wär's auch nur, setzte sie hinzu, der grünen, rothen und blauen Grenzzeichen und Fähnchen halber. Die Autorzeichen brachten sie auf die Tintarten, welche sie alle so wie eine Mehl- und Milchspeise oder Grütze anrichten zu können vorgab. Mein seliger Großvater, sagte sie, konnte ohne alle diese Tinten kein Concept zur Predigt vollenden. Mein seliger Vater brauchte nur die rothe, und jetzt bin ich bis auf die schwarze, und auch die (mein Vater war die ganze Zeit abwesend) wird wenig gebraucht, außer Uebung.

Der holdselige Mann, Paul Gerhard, hat das Feistking'sche Exemplar mit allem Fleiß revidirt. Sein letzter Federstrich war in dieses Buch, und eben schrieb ein Erzengel


seinen Namen auf's beste

in's Buch des Lebens ein.


Ich habe die Vorrede des Herrn Feistking nicht gelesen, sondern nur in ein anderes Buch eingebrockt gefunden; indessen gehört es eben nicht zum Stern und Kern dieser Vorrede, daß Paul Gerhard daselbst mit dem Dr. Martin Luther proclamirt und gepaart worden, und daß man sogar (unter uns gesagt) den Wunsch [23] äußert, daß Gerhard dem Dr. Martin Luther beim Reformationswerk geholfen hätte. Ich thue Einspruch, Herr Feistking, nicht des Buchstabens C, sondern des auserwählten Rüstzeugs Dr. Luthers wegen, der auch wußte, was Sang und Klang war. – – Hier eine Lobrede auf Luthern, der darum, wie meine Mutter sagte, zu Eisleben geboren, weil ihn Gott das Eis zu brechen erkoren. Wir! wir! (sie sang diese Worte in der Melodie: wir glauben all' an einen Gott) wir, – setzte sie ohne Sang fort, – die wir aus Bescheidenheit den Zunamen Lutheraner angenommen, sollten mit dem Vornamen Reformatoren heißen; gewisse andere Leute aber, die nicht paulisch oder kephisch seyn wollen, können beim Namen Reformirte bleiben. Nach dem Luther (mein Vater kommt) muß ich gestehen, keinen bessern Liederdichter als Gerharden zu kennen. Er und Rist und Dach sind einKleeblatt, das auserwählte Rüstzeug Luther aber die Wurzel. Gerhard dichtete während dem Kirchengeläute, könnte man sagen. Ein gewisser Druck, eine gewisse Beklommenheit, eine Engbrüstigkeit war ihm eigen. Er war ein Gast auf Erden, und überall in seinen hundert und zwanzig Liedern – ich wünschte wohl, es wären ein hundert und siebenzig wegen der sieben – ist Sonnenwende gesäet. Diese Blume drehet sich beständig nach der Sonne und Gerhard nach der seligen Ewigkeit. Schwermüthig –

Recht, sagte mein Vater; allein weißt du auch warum?

»Warum?« meine Mutter, »weil er nach dem vorgesteckten Kleinod blickte.«

Weil er ein böses Weib hatte. – Sobald ihn Gott von dieser bösen Sieben erlöste, war keine Sonnenwende mehr in seinem poetischen Gärtchen. Er sang; allein es sang kein Gerhard mehr. Was die Xantippe dem Sokrates war –

Dieser Blitz traf das Wort auf der Zunge meiner Mutter; [24] es bebte noch eine Minute auf der bläulichen Oberlippe, allein es war so matt, daß es in der Geburt seinen Geist aufgab. Meine Mutter, die sich ihres Geschlechts überhaupt anzunehmen gewohnt war, mußte von meinem unlevitischen, unpoetischen Vater, der zum zweiten Diskant nur par bricole gekommen war, erfahren, daß er die Asche einer Oberpastorin entheiligte und ein Sacrilegium beging. Das war mehr als sie tragen konnte! – Sie verstummte vor ihremScherer, und nach einer guten Viertelstunde allererst, nachdem das Herzgespann nachgelassen, sang sie, ohne zu sagen, von wem das Lied gedichtet war:


Wenn böse Zungen stechen,

Mir Glimpf und Namen brechen,

Will ich bezähmen mich;

Das Unrecht will ich dulden,

Dem Nächsten


(meine Mutter sang dieses Wort mit einem tiefen Seufzer)


seine Schulden

Verzeihen gern und williglich.


Dieses war für heute genug am Gemälde meiner Mutter. Daß sie Gedächtniß und, wo nicht ein poetische Puls-, so doch Blutader, wo nicht prasselndes Odenfeuer, so doch eine glühende Kohle vom Altar gehabt, werden meine Leser selbst gefunden haben. Noch einen Zug um die Nase herum, der sich eben bei mir meldet, und es übel nehmen könnte, wenn ich ihn nicht, so spät es auch ist, beherbergen sollte. Meine kreuzbare Mutter war eine so große Verehrerin der Reime, daß sie sogar ein Gelübde abgelegt hatte, gewisse Worte nie zu trennen. Kern und Stern,Rath und That, Kind und Rind. Hack undPack, Dach und Fach, Knall und Fall u.s.w. waren nach ihrer Meinung Zwillinge, Doppelbrüder. Außer diesem behauptete sie, daß gewisse Reime für einander geboren, im Himmel geschlossen wären und durchaus [25] ins Eheband treten müßten, als da sind Stank und Dank, Mund und Pfund,Glimpf und Schimpf, Noth und Tod,Kleider und Schneider, Student und Recensent, Schelm und Helm. – »Was Gott zusammenfügt,« pflegte sie zu sagen, »soll der Mensch nicht scheiden. Wer solche Reime trennt, scheidet eine Ehe; und wer einen andern Reim in diese Stelle aufnimmt, heirathet im verbotenen Grade.« Sie behauptete, die Reime wären gleichsam die Riemen, durch welche das Gedicht verbunden würde, und muß ich ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie bei ihrem poetischen Trichter, oder dem in sechs Stunden einzugießenden Unterricht zur deutschen Dicht- und Reimkunst 1 die Regel gab: trachtet am ersten nach dem Reime der zweiten Reihe, der erste wird euch zufallen, und es wird der Vers wie gegossen seyn. –

Jetzt in die Speisekammer auf ein Gericht Eier.

Der Himmel helfe uns ad mala. Es wird für meine Leser und für mich, glaub' ich, das Beste seyn. Sollte indessen meinen Lesern das Schälchen, das ich aus gutem Herzen nach nordischer Art zum Willkommen herumreichen lasse, Appetit machen und Promulsis (der erste Gang) nicht mißfallen, so hoff' ich, caput coenae (die Hauptschüssel) dieses Theils wird auf ein gleiches Glück Hoffnung machen können. Ein Thaliarchus, ein Credenzer, Disponent, ein Gläserzähler, ein Taktschläger ist mir bei der Mahlzeit eine unausstehliche Creatur.

Meine Mutter läßt zur Canonisation läuten, die einen ihrer Vorfahren treffen soll. Die Reliquien dieses Candidaten zur Standeserhöhung bestehen in einem Kupferstiche, und obgleich, wenn er nach den neuesten päpstlichen Grundsätzen behandelt werden sollte, ihm rechtlich entgegenstände, daß er noch nicht hundert Jahre gestorben, [26] so wird doch bei dieser protestantischen Ceremonie dieser Einwand keine Bedenklichkeit abgeben.

Es war ein Sonnabend – denn dieses war ein Tag, den meine Mutter unter den Tagen, so wie die C unter den Consonanten (alles Widerspruchs des Kandidaten ohne C unerachtet), schätzte. Die C, um aufrichtig zu seyn, weil die Letten diesen Buchstaben nicht haben; den Sonnabend, den heiligen Abend, weil sie selbst, im Fall ich mich so ausdrücken darf, ein heiliger Abend – wenn man nur hinzusetzt, welches einem Sohne nicht zusteht, so haben sie meine Leser in einem Zuge ganz – also nur ein heiliger Abend war. Meiner Mutter gebührte allerdings eine Glorie, allein nur vom Mondschein. – Wegen des Sonnabends muß ich noch bemerken, daß sie von meinem Vater alsdann wegen der Beichtvesper am wenigsten einen Einbruch zu befürchten hatte, und daß der Sonnabend bei allen Priesterweibern dies festus, ein hervorragender Tag ist.

Es war ein Sonnabend, da mich meine Mutter mit dem ersten Verse des Liedes:


Freu dich sehr, o meine Seele,

Und vergiß all' Angst und Qual –


aufsang und nach dessen Vollendung mich also anredete: »Ich weiß, daß dieses Lied einem armen Sünder zugeschrieben wird, der in Hamburg wegen begangener Nothzüchtigung eines neunjährigen Mädchens enthauptet worden. Allein außerdem, daß dieser arme Sünder Doctor in der Medicin gewesen, so glaub' ich auch die ganze Armensündergeschichte nicht. Es ist vielmehr dieses Lied eine Messerspitze von den geistlichen Liedern des Simon Graf, die er unter dem schönen Titel: Geistliches edles Herzpulver, in drei Theilen herausgegeben hat, 2 und dann [27] am Ende, liebes Kind, sind wir alle arme Sünder, – allein wir haben nicht alle ein neunjähriges Mädchen genothzüchtigt, sind aber alle in Sünden empfangen und geboren.«

»Was ist Nothzucht, liebe Mutter?«

»Nothzucht, mein Kind!« sagte meine Mutter, und ich war voll Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, – »ist Nothzucht. Leg dein Feierkleid an, streu Puder auf dein Haupt, und wenn keiner vorhanden ist, Weizenmehl, und sieh heute wie man dem thut, den deine Mutter ehren will aus dem Buche Esther, im sechsten Capitel und sechsten Verse.« Nach einer langen Deliberation, wie die feierliche Handlung vollzogen werden sollte, ging dieser Triumph, oder Oration, oder Leichenconduct an. Io Triumphe! derTriumphator, welchem diese Ehre in effigie erwiesen wurde, lag auf zwei Folianten, und auch dieses kam von ungefähr, sonst würde selbst diese Spur von Triumphwagen nicht gewesen seyn. Bei meiner Uebermessung, die mit einer curischen Elle geschah, fand es sich, daß kein Stuhl hoch genug für mich war, den Kupferstich dem Himmel nahe genug zu bringen, wie meine Mutter sich ausdrückte, welches Ziel aber durch Beihülfe dieser Folianten erreicht werden konnte. Da die Folianten inzwischen einmal im Spiele waren, legte sie selbige kreuzweise so, daß also nicht einer auf dem andern lag. Sie spreitete endlich ein weißes Tuch über sie. – Man kann, sagte sie, auch dabei seine erbaulichen Gedanken haben. Noch gehörten zu diesem Ehrenwerk vier flimmernde Nägelchen und vier Streifen schwarzes Papier. Eine Leichenrede wurde deßhalb entkleidet, die auf einen reformirten Geistlichen gefertigt war. Die Nägelchen und die vier Streifen legte meine Mutter wie Ehrenzeichen neben den Kupferstich. Auf dem Wege von dem Ort, wo ihm der Platz unterm Spiegel gegen Morgen war abgeschlagen worden, wurden Tannenreiser bis in die Speisekammer gestreut. Unterweges war meine Mutter, wie man [28] in der Affekthitze zu seyn pflegt, still. Der Fall war zu groß, um Sang und Klang zu verstatten. Stille Begräbnisse kommen überhaupt der Natur am nächsten, wenn anders der Verstorbene keine lachende Erben nachläßt. Meine Mutter trug die Füße, ich das Haupt, und so kamen wir ins Delubrum, ins Sacrum, ins Gewölbe. Es kam mir unterwegs besonders wegen des weißen Tuches, welches bei meinen Lesern noch im frischen Andenken flaggen wird, so vor, als ob ich eine Leiche trug, und meiner Mutter muß es eben so vorgekommen seyn, denn sie sagte (dies war alles, was geredet wurde): den Weg, mein Sohn, müssen wir alle, und konnte wohl unmöglich die Speisekammer darunter verstehen. Ich merkte aus allem, daß meine Mutter eine Rede an mich halten wollte, und kann vielleicht dieser Umstand mit das Seinige zur Stille beigetragen haben, wodurch diese Handlung geweihet wurde. »Er hat gelitten und hat gesiegt,« fing sie an, »er ist gestorben und sieh! er lebt.


Schau't, die Sonne geht zur Ruh',

Kommt doch morgen wieder;


aus dem Liede: einen guten Kampf hab' ich auf der Welt gekämpfet.« Diese Citation oder eine Wehmuth, die uns Beide anwandelte, lenkte sie vom rechten Wege.

»Dein Ebenbild,« sagte sie, »mein Sohn, wie ein Ei dem andern; – sey ihm an reiner Lehre und reinem Windel gleich, auch« (hier fehlt ohne Zweifel viel) »nimm dich vor harten Eiern in Acht, sie sind schwer zu verdauen.«

»Erinnere dich an die Leiter Jakobs,« sagte sie, nachdem sie sich vom Stickfluß erholet hatte, und die Folianten wurden abgedeckt und das Leichlaken sein säuberlich zusammengelegt. »Zu niedrig,« sagte sie, indem ich die Höhe erstiegen hatte und zu hämmern anfing. »Es stockt in der Speisekammer,« »zu hoch,« gleich darauf: »denn ich kann weiter nichts als vier Sterne sehen.«

[29] Sterne dacht' ich, liebe Mutter. – Sechs für einen Vierding.

Endlich traf ich die rechte Stelle, und nachdem das Monument fertig war, welches diesem Ehrenmanne um so angemessener schien, als es gerad' über einem Eierbehältniß stand, stieg ich herab und meine Mutter umfing und küßte mich. Es war dieses eine feierliche Umhalsung, eine Accolade und nun? – Meine Leser werden es mir verzeihen, daß ich sie so lange im Finstern gelassen, ohne zu bemerken, daß meine Mutter vier Lichter auf dem Tische angezündet hatte, auf welches Castrum Doloris der Wohlselige, nachdem wir ihn von den Folianten abgehoben, eine ganz kurze Zeit zur Ausruhe hingestellt wurde. Drei von diesen Lichtern löschte meine Mutter so aus, wie andere Leute ihre Lichter auslöschen. Das vierte, ein abgebrannter Stumpf, war während dieser Zeit dem Verlöschen nahe.


»Komm! sieh und lerne sterben!«


sagte sie zu mir. Ich sah ein ausgehendes Licht, und meine Mutter betete mit einer Inbrunst, die mir durch die Seele ging:


– Und wenn mir die Gedanken

Vergehen wie ein Licht,

Das hin und her thut wanken,

Bis ihm die Flamm' gebricht;

Alsdann fein sanft und stille

Laß mich, Herr! schlafen ein

Nach deinem Rath und Willen.

Wann kommt mein Stündelein.


Ich sah, was meine Mutter sagte, und oft! oft! hab' ich mein Licht so ausbrennen lassen, um dieses Fest zu wiederholen.

Meine Mutter legte die Hände, sobald alles aus war, auf mich, um mich priesterlich zu segnen. Wir weinten beide. – Nach einer Weile fing sie an (ich glaube, es sind alles dieses [30] Brosamen, die von ihrem reich besetzten Tische fielen, Stücke von der verunglückten Rede): »die lobwürdigste Fürstin Henriette Louise, Markgräfin zu Brandenburg, ließ sich dieß Lied vorsingen, und obgleich alles um sie herum weinte, starb sie doch ohne Ach und Weh sanft und selig zu Onolzbach im Jahre Christi 1650, ihres Alters sieben und zwanzig Jahr. Gott! laß es nur ein Stündlein und nicht eine ganze Stunde seyn, wenn wir heimfahren aus diesem Elend!« Wir brachten die Folianten zu Hause und meine Mutter sang, ohne zu bestimmen, ob's auf Folianten, oder auf Kupferstich, oder auf alle papierne Monumente und Denkzettel gezielt wäre:


Man trägt ein's nach dem andern hin,

Wohl aus den Augen und aus dem Sinn,

Die Welt vergisset unser bald,

Sey jung oder alt,

Auch unsrer Ehren mannigfalt.


Seyd getrost, verdienstvolle Männer (ich will meiner verstummten Mutter aushelfen). Habt ihr nicht das Glück, am Spiegel zu hängen, so ist noch die Speisekammer übrig. Stockt es hier gleich, es schadet nicht, das Bild kann hoch geschlagen werden. Beschert euch nur der Himmel Augen, die vier kleine Nägel für Sterne ansehen, habt ihr gewonnen Spiel.

Nach dieser vollbrachten Arbeit verlangte meine Mutter, daß ich diesen Tag in einem feinen, guten Herzen behalten, und ihn jeden heiligen Abend vor Ostern durch eine Wallfahrt in die Speisekammer (wie sie sich ausdrückte) feiern und erneuern sollte; dieses ist, sagte sie, die Aussaat; vor Ostern, den heiligen Abend, sollst du ernten. Der Geber aller guten und vollkommenen Gaben verleihe dir gutes Wetter oder ein Herz nach seinem Herzen zur Ernte.

Daß aber der ausgesäete Weizen nie zur Reife gekommen und [31] aus dieser Wallfahrt nie etwas geworden, ist einer von uns beiden Schuld, der frommeSchweppermann oder ich. Meine Mutter zog mich wegen eines Epitaphiums zu Rathe, und mir mußte zum Unglücke einfallen:


Dem Mann ein Ei,

Dem frommen Schweppermann zwei;


weil Schweppermann nicht Superintendent in Curland, sondern


Ein Ritter, keck und fest,

Der zu Gnadersdorf im Streit' that das Best',


gewesen, so bekam der Vorschlag meiner Mutter eine andere Wendung. Der bestimmte heilige Tag fiel aus, allein nicht zu meinem Nachtheil, denn wenn ich nach der Zelt ein Stück Geräuchertes zu ernten Lust hatte, wallfahrtete ich Hand in Hand mit meiner Mutter nach dem Mausoleum (oder nach einer ehrlichen deutschen Uebersetzung) in die Speisekammer. Es hing der Tag unseres Eierheiligen von der Angabe meines Magens ab, und war, so oft mich außer der Mahlzeit hungerte. Je nachdem ich Appetit hatte, ward auch die Feierlichkeit zur Ehre eines Mannes zugeschnitten, der nach der Bemerkung meiner Mutter, die sie mehr als einmal anbrachte, »so wie die Speckseiten und Würste, seine Nachbarn, gekommen wäre aus der Rauchkammer dieses Lebens.«

Zur Steuer der Wahrheit steh' es hier wie eine Ehrensäule, daß meine Mutter, wider die Gewohnheit aller Weiber, nicht geizig war. Sie wollte nicht die Eier abschaffen und Hühner dafür einführen, sondern die Rechtgläubigkeit, wie sie sagte, lag ihr hiebei bloß am Herzen.

Mein Vater (damit ich sobald als möglich die vacante Stelle besetze), den meine Mutter durch diesen an seinen Ort gestellten Kupferstich ohne Zweifel auf den Gedanken brachte, daß im Prunkzimmer, zur rechten Hand unter dem Spiegel, kein unrühmlicher Ort im Pastorat wäre, vocirte den Kupferstich des Eugen an [32] diesen ledigen Platz. Er ließ meine Mutter vorderhand bei ihrer voreilig gefaßten Meinung, daß dieser Kupferstich der Herzog Gotthard wäre, welchen sie für den größten Helden hielt, der je in der Welt gelebt hätte, und dem allein sie den Rang über den Superintendenten gestattete, obgleich sich die Herzoge von Curland wir von Gottes Gnaden schrieben und Landeshoheit haben. Es war mein Vater sich als ein Deutscher diese Huldigung schuldig, und nie hat er es verfehlt, dem Namen eines Deutschen Ehre zu machen. Das erste Wort, was er mich aussprechen lehrte, war, aller seiner Kenntniß in fremdem Sprachen unerachtet, ein schweres deutsches. Deutsch eben darum, warum Eugen im Pastorat zur rechten Hand unterm Spiegel des Prunkzimmers hing, schwer, weil mein Vater in allen Dingen die Gewohnheit hatte, mit dem Homer anzufangen.

Damit aber meine Leser ja nicht Realinjurien begehen und an den Gedanken grenzen, als ob mein Vater auch nur stillschweigend eine Unwahrheit verübt, so muß ich ihn bei dieser maßgebenden Gelegenheit rechtfertigen und ihn über jenen Heiden herausbringen, dem man zur Steuer der Wahrheit nachsagt, daß er auch nicht im Scherze unrichtig geworden, welches in unserer galanten Mundart ungefähr heißen würde, daß er keine einzige Equivoke gesagt habe. Wer weiß es nicht, daß eine stillschweigende Lüge eine himmelschreiende stumme Sünde sey, der feinste Meuchelmord, und eben darum der gewöhnlichste. Was meinet ihr, lieben Leser! mißt mein Vater nicht einen Zoll und einen Strich mehr?

Gotthard, sagte meine Mutter, der Held der Helden. Nicht also, fiel mein Vater ein. Eugen! ein Deutscher, der in seiner Jugend Theologie studirte und schon wirklich Candidatus theologiae war, ein rundes Perückchen trug und gepredigt hatte. Dieß brachte meine Mutter zur Andacht. Warum, sagte sie, ging er von der engen Straße, die zum Leben führt? Um der Religion [33] bessere Dienste zu thun, erwiederte mein Vater; um sein Schwert wider die zu ziehen, welche jetzo die Wache zum heiligen Grabe geben und das Schlafgemach unseres Herrn und Meisters usurpiren. Eugen hieß der kleine Abt in Frankreich, und ward ein großer Mann in Deutschland. Die mittelmäßige Statur ist die Gestalt der Helden. – Unser Sohn wird, Gottlob! groß werden, sagte meine Mutter. – Gottlob! er wird es nicht werden, erwiederte mein Vater. Die Titel des Eugen sind, fuhr er fort, Herzog von Savoyen und Piemont, Markgraf zu Saluzzo, Ritter des goldenen Vließes, der römisch kaiserlichen und königlich katholischen Majestät wirklicher Geheimer- und Conferenz-Rath, Hofkriegsraths-Präsident, General-Lieutenant, und des heiligen römischen Reichs Feldmarschall, General-Vicarius der sämmtlichen italienischen Erbkönigreiche und Lande.

Meine Mutter machte, da mein Vater sich bei jedem neuen Ehrenworte beugte, eine Gegenverbeugung, – ohne daß man eigentlich bestimmen konnte, ob's meinem Vater oder dem Eugen galt, und da die Heldengeschichte eben kein Studium für meine Mutter war, so kam manches vor, was sie zum erstenmale hörte. Bei meines Vaters Bemerkung, Eugens Mutter wäre des bekannten Cardinals Mazarini Nichte gewesen, konnte meine Mutter anfänglich nicht begreifen, wie ein Cardinal eine Nichte haben könnte? – Es fühlte Eugen (fuhr mein Vater fort und sah meine Mutter lieblich an) im Gemüthe und Geblüte väterliche Regungen, und dieses Gefühl war unfehlbar die Hauptursache, warum er das Brevier mit dem Degen vertauschte. Ob nun gleich meine Mutter, was den Punkt der heiligen Ehe betraf, sehr protestantisch dachte, so schüttelte sie dennoch wegen dieses Tausches das Haupt. Bei dem eingeweihten Degen, den Papst Clemens der XI. dem Eugen schickte, und beim Anfange seines Anschreibens: Unsern Gruß und apostolischen Segen zuvor, geliebter Sohn, edler Mann! – warf [34] sie die Frage auf: wie doch wohl der curische General-Superintendent an den Eugen geschrieben haben würde?

Mein Vater schloß die Standrede über Eugen, um sich meine Mutter, die nicht ohne Neid den Eugen unterm Spiegel sahe, zu verpflichten: daß dieser unüberwundene Held den ein und zwanzigsten April zumewigen Jubilate eingegangen.

So waren also die beiden Monumente für Eugen, der nie geschlagen worden, und meiner Mutter Ahnherrn, der durch Abschaffung der Ostereier sich unsterblich gemacht, errichtet! Der liebe Gott schenke beiden (dieß sagte meine Mutter, da mein Vater den Rücken gekehrt hatte) in der Erde eine sanfte Ruhe und am jüngsten Tage eine fröhliche Auferstehung, wo es sich ausweisen wird, ob Eugen oder der gute Pastor eher verdient, unter dem Spiegel gegen Morgen im Prunkzimmer zu hängen, wenn gleich auch unser Anverwandter sich über sein Plätzchen in der Speisekammer nicht beschweren darf.

Ich habe zwar von meinem Vater, da ich nicht capitelfest bin, nur wenig und das im Beilauf gesagt, meine Leser aber werden schon hieraus die verschiedenen Denkungsarten meines Vaters und meiner Mutter einsehen und ohne Note sich vorstellen, daß ihre Erziehungsart gleichmäßig nicht übereinstimmen konnte. Meine Mutter wollte mich zu einem Geistlichen machen, und wenn man kein Edelmann und doch ein Mensch in Curland ist, kann man keinen andern als diesen Stand wählen, einige weltliche Stellen ausgenommen, deren aber zu wenig sind, als daß viele darauf rechnen könnten, und die, bis auf die Advokatenstellen bei dem Land-Obergerichtshofe in Mitau, noch obenein adeliche Posten sind, und also als in Verfall gerathene Familien angesehen werden, welche ihren Adel mit leichter Mühe erneuern können. Mein Vater schien mich zu etwas anderm bestimmt zu haben. Meine Leser mögen rathen, wozu? denn, in Wahrheit, ich selbst muß mich bei diesem Umstande[35] mit Rathen behelfen, obgleich ich es nicht läugne, mehr Data als meine Leser zur Auflösung meines Räthsels in der Hand zu haben. Er sah es sehr gern, wenn ich Ball schlug, und erlegte selbst mit mir Kegel. Ich hatte zu Anfang Mühe, die Kugeln zu heben; indessen fand sich mit der Zeit eine Stärke in meine Arme, daß das Spiel zwischen meinem Vater und mir ungewiß und eine Wette wurde, und wir abwechselnd gewannen und verloren. Er hatte es gern, daß ich mich herumbalgte, und hierin that ich mich mit dem Benjamin, dem Sohne des altenHerrn, hervor. Sowohl von Vater als Sohn wird sogleich gehandelt werden! Meine Mutter ermahnte mich, so oft ich gerungen hatte, und fügte hinzu, daß jedes Haar auf meinem Haupte gezählt sey.

Ich arbeitete beständig, allein ich wußte es nicht, ich hätte eben so gut glauben können, daß ich beständig spielte. Mein Vater konnte sich über nichts so sehr ärgern, als daß über der Seele der Leib vergessen würde, und daß man das eine bei Hochwohlgebornen Kindern lernen, und das andere spielen hieße. Es ist alles Spiel oder alles Arbeit, pflegte er zu sagen. Die Unvermögenheiten des Leibes hielt er alle für ansteckend in Absicht der Seele. Es ist ein schlechter Wirth, sagt' er, der sein Zimmer mit Seide ausschlägt und von oben einregnen läßt. Vom Kleide auf den Mann, setzte er hinzu, vom Hause auf den Herrn, vom Leibe auf die Seele schließen, ist kein unrichtiger Schluß. Wenn man seinen Körper, den man sieht, vernachlässigt, wie will man an seine Seele denken, die man nicht sieht. Mark macht's aus, setzte er, um sich zu erklären, hinzu, nicht Lange und Breite, Dicke und Höhe. Ein jeder Erfinder ist wenigstens an dem Tage, da er erfand, ein Mann gewesen, und hätte eben so gut ein gesundes Kind in die Welt setzen als erfinden können, und alles, was in der gelehrten Welt Methusalems Alter erreichen und noch älter werden soll, alles, was eigentlich auf die Nachwelt bleibt, hat ein Gesunder gedacht und [36] geschrieben. Die Helden-und Staatsaktionen des Herkules leisteten meinem Vater auf diesem Wege gute Dienste, und er konnte sich sehr freuen, wenn ich Unwillen zeigte, daß ich nicht auch Gelegenheit gehabt, zweien Schlangen in der Wiege das Lebenslicht auszudrücken. Die Geschichte vom Antäus, dem Riesen, war mir ein Brand im Busen; mein Vater goß Oel dazu, und maß mir seine Länge vor. Ich stieg auf den Tisch, um sie recht zu sehen, und so wie ich mich über die Art des Antäus freuete, sich einen Löwen zum Braten zu fangen, so gratulirte ich dem Herkules, daß er diesen Löwenjäger todt zu drücken die Ehre gehabt. Meine Mutter war so wenig mit der Geschichte vom Riesen Antäus, als mit der von der Schlange zufrieden. Bei der Schlange fiel ihr beständig die im Paradiese ein, wobei sie es dem Noa etwas übel nahm, daß er für sie eine recht holländische Toleranz in seinem Kasten gehabt. Sie äußerte bei dieser Gelegenheit die Meinung, daß das Auszischen sich aus dem Paradiese herschriebe, wo der Teufel unsern ersten Eltern auf diese Art übel begegnet hätte, nachdem die armen Betrogenen den letzten Bissen Apfel genossen. Was den todtgedrückten Riesen betraf, fand sie's anstößig, daß er nicht Goliath hieße. Ich war sehr fürs Todtdrücken des Riesen, aber mein Vater zeigte mir das Erhabene, das Göttliche bei der Geschichte des David, und ich lernte nebenher, wie unrecht es sey, mehr Mittel, und wär's auch nur ein Gränlein, anzuwenden, als man Zweck hat.

Wenn meine liebe Mutter den Eifer bemerkte, der mir bei Erzählung vom Herkules unter die Arme griff, so daß ich vor ihren sichtlichen Augen am Tisch und Stühlen ein Exempel statuiren wollte, pflegte sie mich zu ermahnen, meine Arme zum Kanzelschlage zu schonen und sie nicht an unschuldigen Stühlen und Tischen zu entweihen.

Erziehen, sagte mein Vater, heißt aufwecken vom Schlafe, mit Schnee reiben, wo's erfroren ist, abkühlen, wo's brennt. Wer nie [37] ein Kind unterrichtet hat, wird nie über das Mittelmäßige hervorragen. Docendo discimus ist ein großes und wahres Wort! In gewisser Art lernen wir mehr von den Kindern, als die Kinder von uns. Wer ein Auge hat, lernt hier den Menschen. Wenn die Sonne aufgeht, kann sie der Blick umfassen. Wer kann in sie sehen, wenn's Hochmittag ist? –

Wenn ich auf etwas durchaus und durchall bestand, überließ mich mein Vater meinem Eigensinn, und ich sah aus den natürlichen Folgen, wie thöricht ich gehandelt, daß ich seinen Fingerzeig aus der Obacht gelassen. Er behauptete, daß keine natürliche Strafe gleich einer Todesstrafe wäre, und so ließ er nach dieser großen Vorschrift auch mich nur durch Buße bekehren und leben. Ich verbrannte mich am Licht, ich verdarb mir den Magen unterm Pflaumenbaum. Wie der himmlische Vater es mit uns macht, pflegte er zu sagen, so sollten es auch leibliche Väter machen. Welch einen Einfluß diese Lehrart auf mich gehabt, ist unaussprechlich. – Ich lernte Natur, die wir leider bei dem allgemeinen Fall oder Verfall der Menschenlernen müssen. Ich lernte sie im Kleinen und im Großen. Wenn ein Genie allein auf dem Lande geht, pflegte mein Vater zu sagen, bleibt es nicht lange allein, die Natur geht ihm an die Hand. Sie faßt es an, und es versteht die Blume, wenn sie sich neigt, und den liebevollen Hopfen, der sich hinaufranket. Es bewundert den Regenbogen, das Ordensband, das Gott der Erde als ein Gnadenzeichen umhing. Da sehen dann Genies einen gewissen Zusammenhang zwischen Gott und dem Menschen, und sind Seher, von Gott Angehauchte. Dieß ist unendlich mehr, als ein Autodidaktos, ein Selbstgelehrter. Dieser lernt aus Büchern, ein Seher lernt von Gott und aus seiner für ihn aufgeschlagenen Welt.

Mein Vater ließ es nie zu Thätlichkeiten bei seinen Strafgerichten kommen, denn ich verurtheilte mich selbst, und er bewirkte [38] eben hierdurch eine große Absicht. Er erzog nicht einen Sohn, sondern einen Menschen.

Meine Mutter hielt einen Gnadenstoß für nothwendig, und wenn sie mir mit ihrer theuern Rechten einen Ritterschlag versetzte, pflegte sie zu sagen: Besser so als anders! – eine freie Uebersetzung von: besser Ritter als Knecht – und dann sagte sie wieder: Wer seinen Eltern nicht folgt, folgt dem Kalbfelle. – In der Hauptsache stimmte sie mit meinem Vater, sie zog nur durch einen andern Weg in eben dasselbe Land. – Regen, der ihr kam, wenn sie die große Wäsche vorhatte, die mein Vater scherzweise Fegefeuer nannte, das war ihr Gottesschlag, und immer wußte sie, mit welcher Sünde sie diesen Regen beim lieben Gott verschuldet hatte.

Ich entsinne mich, als wär's heute, daß sie meinetwegen einen Stock ergriff, – feierlich wie einen an einer Kreuzfahne, allein sie besann sich, wie Diogenes, der einen armen Jungen mit der Hand Wasser schöpfen sah, – sie murmelte: »wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen,« und ich habe also nie unterm Gefreitenstock gestanden, sondern nach Prinzenart, da doch niemand ohne Schläge groß wird, bloß Weiberhänden diesen Tribut bezahlt. Meine Mutter nannte diese Zucht Licht undRecht, und hatte eine sehr feine Distinktion zwischen dem Stabe Sanft und dem Stabe Wehe, womit meinen Lesern aber wenig gedient seyn kann.

Die Sprachen rechnete mein Vater zum Departement des Leibes und der Seele. Man muß, pflegte er zu sagen, nur Eine vollkommen besitzen, das ist reden, schreiben und in ihr denken können. Ein Gott, Eine Taufe, Eine Sonne, Ein Weib, Ein Geist, Ein Leib, Ein Freund, Eine Sprache.

Es gibt, sagte er, keine nackte Wahrheit. Worte finden, heißt denken. Worte sind was Körperliches, was Sinnliches, sie sind die [39] Kleider der Gedanken – Beiwörter der Besatz, Worte der eigentliche Anzug. Wer deutsch gedacht und lateinisch geschrieben hat, ist, wenn er gleich der beste Lateiner wäre, doch ein Deutscher. Cicero würde ihn für keinen Landsmann halten. Um französisch zu schreiben, muß man Franzose seyn, um englisch, Engländer. Wer fremde Sprachen zu etwas mehr braucht, als sich andern Leuten, die nicht unsere Mutter kennen, verständlich zu machen, ist allemal ein schwacher Kopf. Es fehlt ihm wo, es sitze das Uebel, wo es wolle.

Mein Vater war bei alle dem so wenig wider viele Sprachen, daß er sie vielmehr nach dem Thurm zu Babel so nothwendig, als vielerlei Essen nach dem höchstbetrübten Sündenfalle hielt. Viele Sprachen, bemerkte er, sind viele Creditbriefe. Zeige sie vor, du bist überall willkommen. Kein Türke schlägt einen Christen todt, wenn der Christ türkisch kann, und wenn es noch so viel Religionsverdienst wäre. Die Sprache ist eine Herzensschlinge. Man ist bestrickt, man weiß nicht wie. Doch, warum soll ich alles wiedersagen, was mein Vater sagte? Seine Behauptungen waren außer der Weise. Er glaubte, es müßte zu kennen seyn, was bei Licht oder am Tage, was des Morgens und was des Abends gedacht wäre, wenn's nämlich aufgeschrieben worden. Morgengedanken waren bei ihm wie die Erstgeburt heilig. Da ich mehr mit Credit, als mit eignem Vermögen in der Welt handeln sollte, führte mich mein Vater fleißig zu fremden Sprachen an, und ich mußte beinahe alle diese Sprachen zu gleicher Zeit lernen. Alles ohne Donat und Grammatik. Zum Schulmäßigen gewöhnte er mich allererst im vierzehnten Jahre, und konnte ich's folglich als Proben ansehen, die man in der Rechenkunst erfunden, um zu sehen, ob richtig gerechnet sey. Mein Vater hielt viel auf wörtliche Uebersetzungen in Sprachen, die noch leben. Hieraus, pflegte er zu sagen, lernt man eine Nation auf ein Haar kennen, und die feinste Politik und Weltkenntniß ist hier verborgen. Dieß ist der Chiffer zu den Geheimnissen [40] der Völker. Auch sieht man aus der Sprache, ob's im Lande kalt oder warm, neblicht oder klar sey. – Er ging hier noch weiter, ich befürchte aber, meine Leser werden nicht weiter gehen wollen. Bei abgeschiedenen Sprachen, fuhr er fort, tödtet der Buchstabe, der Geist aber macht lebendig. Die Griechen nannte er Kirchenväter der Natur und ihre Sprache den Grundtext des Geschmacks. Wenn man uns zugehört hätte, würde man uns für ein paar Maurergesellen vom Thurm zu Babel gehalten haben. Alles durch einander und doch alles in einander. Mein Vater nahm, wenn er fremde Sprachen mit mir redete, auch fremde Arten an, und das war mir mehr als ein Lexikon! Ich hatte für jede Sprache ein ander Gesicht, eine andere Zunge, eine andere Hand, einen andern Fuß, und besonders eine andere Nase. Worte mußte ich lernen, und er war nicht mit der Lehrart zufrieden, bei Worten das Gedächtniß zu stützen und sich Merkzeichen zu machen. Man hat, sagte er, alsdann Bild und Wort zu behalten. Ein Stammvater von Worten aber diente mir zum Leitfaden bei tausend, zum Nagel im Kleiderschrank, wo man zehnerlei aufhängt. Ich lernte den Stammvater, und wußte Sohn, Enkel, Urenkel, und Ururenkel und Ur Ur, so viel man will.

Die lettische, curische oder undeutsche Sprache lernte ich von meiner Mutter und dem Herrn Jachnis (Johann), dem Aufseher über die Pastoratsbauern oder den Gottes-Berat. Das Pastoratshaus nannte ihn Herr Jachnis und sein Weib Frau Masche (Margarethe), er aber meinen Vater, wenn er gleich deutsch mit ihm sprach, Zeenigs machzitajs (wohlgelahrter und hochzuehrender Lehrer), und aus diesen Namen, die er gab und die ihm gegeben wurden, werden meine Leser ersehen, daß man diesen Menschen halb lettisch, halb deutsch nahm. Es hatte Herr Jachnis den semgallischen Dialekt, der um Mitau herum residirt, und außer diesem semgallischen Dialekte, nach welchem die Bibel ins Lettische gedolmetscht worden, [41] hatte er noch ein Flick von einem Brusttuch, welches einer seiner Vorfahren aus der eigenen Hand des Herzogs Gotthard erhalten, da er ihm das Evangelium am Sonntage Palmarum in undeutscher Sprache aufsagen können.

Mein Vater unterstützte die hohe Idee, die Herr Jachnis, der sich auch wohl von den Pastoratsbauern Amtmann nennen ließ, von dieser Reliquie hatte. Er ließ es sich zuweilen zeigen und ermahnte ihn, sein geistliches Ordensband wohl zu bewahren. Hiezu brauchte Herr Amtmann Jachnis keine Aufmunterung, denn er machte kein Geheimniß draus, daß diesesRitterflick bis an den lieben jüngsten Tag beim Aeltesten in der Familie bleiben sollte.

Meine Mutter ärgerte sich, so oft davon geredet wurde, und versicherte auf Ehre, Pflicht und Gewissen, daß dieses Stück Gewand fünf und mehrere Male verwechselt wäre, und hierin schien sie auch um so mehr Recht zu haben, als es noch ziemlich ungebraucht war. Sie legte es ihm zur Last, daß seine Vorfahren nicht lieber ein Stück von dem Psalmbuche zurückgelassen, welches der gottselige Herzog Gotthard zum Druck befördert, allein gewiß bloß darum, weil einer ihrer poetischen Vorfahren sich darin ein Gedächtniß gestiftet hatte. Mein Vater widerlegte meine Mutter nicht, allein er klopfte dem Herrn Jachnis auf die Schulter und sagte: gut ist gut, besser ist besser. Dieses legten beide, meine Mutter und Herr Jachnis, für sich zum Vortheil aus, so daß sich beide durch ein freundliches Lächeln bei meinem Vater bedankten.

Es lebte meine Mutter überhaupt mit dem Herrn Amtmann in beständigem Streite, obschon sie im Grunde gute Freunde waren. Sie gab ihm an Stärke in der undeutschen Sprache nicht einen kleinen Finger breit nach, allein sie sah diese Sprache aus dem nämlichen Standpunkte, wie ein Deutscher einen Letten. Weil Herr Jachnis auch ein Deutscher war, sprach er zuweilen von ABC, und gleich brachte ihn meine Mutter in eine solche Enge, [42] daß er nicht aus noch ein wußte. Erzen Er pflegte sie ihm nachzuspotten (denn, das H fehlet der lettischen Sprache, so wie das C) sagt ABD, sonst würde man euch wegen Dieberei in Anspruch nehmen.

Die Letten haben einen unüberwindlichen Hang zur Poesie, und ob ich gleich gewiß glaube, dieser Umstand habe den poetischen Samen in meiner Mutter ausgestreut, welche schon in ihren Vorfahren mit diesem Volke zusammen Früchte eines Feldes gegessen und Wasser eines Flusses getrunken, war sie doch in diesem Stücke unerkenntlich. Sie bestritt indessen nicht, daß die lettische Sprache schon halb Poesie wäre. Sie klingt, sagte sie, wie ein Tischglöckchen, die deutsche aber wie eine Kirchenglocke. Sie konnte nicht läugnen, daß die gemeinsten Letten, wenn sie froh sind, weissagen oder in Versen reden, und wenn sie das Gegentheil hätte behaupten wollen, würde Herr Jachnis mit den lieben Pastorats-Angehörigen den Gegenbeweis geführet haben. Herr Jachnis und seine Untergebenen ließen keine Ernte, keine Hochzeit, keine Leichenwache vorüber, wo nicht geweissagt wurde. Bei allen Talcken oder Tagesarbeiten, wo die Leute im Schweiße ihres Angesichts herrlich nach lettischer Art bewirthet wurden, bewiesen sie, daß sie poetischen Geistes Kinder wären. Meine Mutter fand, dem Herrn Jachnis zum Hauskreuz, an dieser poetischen Blumenlese, die ihr zugeeignet wurde, beständig etwas zu rügen, und wenn's auch nur das I und U gewesen wäre, welches die Nothhelfer der Letten sind, so oft es an einer Sylbe gebricht.

Es sind viele, welche behaupten, die Letten hätten noch Spuren von Heldenliedern, allein diesen vielen widerspricht mein Vater: »Das Genie der Sprache, das Genie der Nation ist ein Schäfergenie. Wenn sie gekrönt werden sollen, ist's ein Heu- oder höchstens ein Kornkranz, der ihnen zustehet. Ich glaube, Helden [43] gehören in Norden zu Hause, wo man härter ist und fast täglich wider das Klima kämpfen muß: die Letten könnten also hierzu Anlage haben, wo ist aber ein Zug davon? – Würden sie wohl seyn und bleiben, was sie sind, wenn nur wenigstens Boden zur Freiheit und zum Ruhme in ihnen wäre? In Curland ist Freiheit und Sklaverei zu Hause.«

Mein Vater war eben kein großer lettischer Sprachkünstler; wer aber eine Sprache in ihrer ganzen Länge und Breite versteht, kann über alle Recht sprechen. Er versicherte, nie Fußstapfen von Heldenliedern aufgefunden zu haben, wohl aber Beweise, daß schon ihre weitesten Vorfahren gesungen hätten: und wo ist ein Volk, fragte er, das nicht gesungen hat? Er hatte (wie er's nannte) eine Garbe zärtlicher Liedlein gesammelt, wovon ich seine Uebersetzung besitze, die ich vielleicht mittheilen kann, und wodurch dem undeutschen Opitz des Herrn Pastors Johann Wischmann kein Abbruch geschehen soll. Wenn ich nicht diese Garbe in Händen hätte, würde ich doch vom Urtheil meines Vaters, der kein Curländer war, die Appellation einzulegen anrathen. In diesen Liederchen herrscht bäuerisch-zärtliche Natur und etwas dem Volke eigenes. Die Uebersetzung ist noch meines Vaters Manier.

Weil wir bei den Sprachen sind, muß ich noch bemerken, daß mein Vater nur blutwenig hebräisch, arabisch und chaldäisch u.s.w. aber gar nicht wußte. Er hatte sich wegen des Hebräischen im Anfange vielen Nachreden ausgesetzt, da er so ehrlich gewesen, die Grenzen seiner Kenntnisse nicht zu verbergen. Nach der zehnten Hauptverfolgung, die mein Vater dieserhalb in Curland erlitten, zog ein sehr geschickter Conversus (jüdischer Christ oder getaufter Jude) unsere Straße, und dieser brachte meinem Vater das Jüdisch-deutsche in wenigen Stunden bei. Er hatte den Einfall, auf diese Art an einen seiner Herren Amtsbrüder, der über ihn den größten Stock gebrochen hatte, zu schreiben, und da es dem guten [44] Manne unmöglich fiel, diese Schrift aufzulösen, kam mein Vater in einen so großen Ruf wegen der Grundsprache, daß dieser böse Herr Amtsbruder mit dem großen Stocke meinen Vater für einen getauften Rabbiner gehalten haben würde, wenn meinem Vater damit gedient gewesen wäre. Ob nun gleich dieser Conversus meinen Vater wie einen Brand aus dem Feuer zog, und meine Mutter die Aufmerksamkeit bemerken konnte, die mein Vater für diesen seinen Retter faßte, war sie doch anfänglich sehr wenig mit diesem Hieronymo a sancta fide zufrieden. Sie probirte seinen Glauben täglich mit Schweinefleisch, und da mein Vater ihr diese Mode verwies, andere Gerichte anordnete und den ehrlichen Sprachmeister von dieser Tortur und christlichen Daumenstöcken befreiete, war sie der Gesinnung jenes Königs von Spanien, welcher gesagt hat: drei Wasser verdürben; das süße Wasser im salzigen Meer, das Wasser im Weine, das Taufwasser auf dem jüdischen Kopfe. – »Das Wasser im Weine,« sagte mein Vater, »mit Erlaubniß Sr. katholischen Majestät: der Wein im Wasser.« – Meine Mutter gab nicht sogleich die Allianz mit dem Könige von Spanien auf; indessen wurde am Ende alles beigelegt, und die liebe Frau ging einen für ihren Gast sehr vortheilhaften Frieden ein. Sie fand sogar ein rührendes Vorbild in dieser Einigkeit von der Bekehrung der Juden vor dem jüngsten Tage, welche der Conversus steif und fest nach seiner Versicherung glaubte, und worüber mancherlei und manches geredet wurde. Meine Mutter war sehr für schriftliche Aufsätze, mein Vater, wie alle Leute seiner Art, fürs Mündliche. Die gute Frau war entschlossen, dem Converso eine schriftlich abgefaßte Instruction mitzugeben, da er fröhlich seine Straße zog; indessen blieb es doch bei einer mündlichen.

»Wanken Sie weder zur Rechten noch zur Linken. Wer beharrt bis ans Ende, der wird selig. Die Beständigkeit sey um Sie wie ein Kleid, das Sie anhaben, und wie ein Gürtel, womit [45] Sie sich gürten. Wie ein frisches Hemde am schwülen Tage sey Ihnen der Trost des christlichen Gewissens. Vater und Mutter haben Sie verlassen, aber der Herr hat Sie angenommen. – Sie werden nicht bloß ein Grasbürger, ein Einwohner der Vorstädte in der Stadt Gottes seyn, sondern mit Ehren und Schmuck werden Sie in die Hauptstadt eingehen: Ihr Kern und Stern bleibe das Lied:


Keinen hat Gott verlassen,«


setzte sie hinzu, »Sie sind ihm diese Dankbarkeit schuldig.«

Der Conversus hatte ihr erzählt, daß für ihn dieß Lied der Wecker zur christlichen Religion gewesen, und ohne Zweifel war diese Erzählung der Eckstein zur Aufsage des guten Vernehmens mit Sr. katholischen Majestät. Sie gab ihrem Freunde den Hauptschlüssel zu allen Versen dieses Leibliedes, aus welchen, wie sie sagte, summa summarum Catharina herauskäme. Das Wort Akrostichon mußte ihr mein Vater vorschießen, sie hatte es nicht im Vermögen, und da sie selbst Catharina hieß, so wird man desto leichter einsehen, warum Se. katholische Majestät nunmehr keine Bundesgenossin mehr an meiner Mutter hatte.

Mein Vater wünschte schlechthin eine glückliche Reise und gab seinem Sprachmeister, statt des Schatzkästleins von Stoßsprüchen, einen Zehrpfennig. Eigentlich war's, in Hinsicht des mit ihm getroffenen Contrakts, ein Gottespfennig, denn er bat, nicht zu vergessen, was er mit einer Handlobung versprochen hätte. Unfehlbar hat dieser Contrakt darin bestanden, gewissen Geistlichen in Curland keine Lection zu geben, oder wenigstens die ihm gegebene zu verschweigen.

Das Einträglichste bei dieser Sache war, daß die benachbarte Clerisei ihre Verfolgungen einstellte, und da zuvor das dritte Wort beständig eins aus der Grundsprache war, verstummten, von Stund des jüdischdeutschen Briefes an, die Orakel. Mein Vater hatte andere Ursachen, seinen Herren Amtsbrüdern kein Rappier [46] anzubieten oder sie kämpflich zu grüßen, und wußte sich so vortrefflich, ohne die geringste Unrichtigkeit sich zu Schulden kommen zu lassen, bei Ehren zu erhalten, daß, so oft er irgend einen Confrater zum Zuhörer hatte, er den Grundtext tapfer citirte und oft zwei bis drei Verse aushob. Wenn es gleich auf Treue und Glauben eines Andern, wo nicht Dritten, geschah, und sein Grundzeugniß beständig von Hörensagen war, so hatte er doch seine Leute viel zu gut kennen gelernt, und war bei dieser Proclamation kein Einspruch zu fürchten, so daß er sich zuletzt ganz dreist ein Beholzungsrecht, oder die Befugniß, in des andern Walde Holz zu fällen, zueignete. Die griechische Sprache, wovon die Herren Amtsbrüder nicht vielmehr als die beiden griechischen Freunde wußten, war nicht hinreichend, meinem Vater Ruhe zu schaffen. Sie hielten es mit dem alten Testament bis zur Ankunft des Conversus, und nun war jeder furchtsam, in meines Vaters Gegenwart an die heilige Schrift zu denken, und jeder wunderte sich, warum er mit seiner hebräischen Sprachkenntniß so lange hinter dem Berge geblieben.


Personen:

Mein Vater;

Meine Mutter;

Der Ritter Jachnis;

Conversus putzt Licht;

Der alte Herr;

Minchen, seine Tochter;

Benjamin, sein Sohn.


Ich habe gestern Abend meinen Lesern den Auftrittdes alten Herrn und seines Benjamins versprochen. Den alten Herrn habe ich in meinem Leben nie unter einem andern Namen, als dem des alten Herrn, kennen gelernt. Wer mich also nach seinem Vor- und Zunamen fragt, erhält eine abschlägige Antwort. [47] Seine Lebensgeschichte kann von keinem besondern Belang seyn, indem sein ganzes Wesen allem, was man Belang heißen kann, geradezu entgegen war. Er selbst behauptete von sich, so oft man's ihm so nahe legte, daß es ihm an den Fingern brannte: er sey ein Literatus. Meine Mutter, die sich nicht stark genug dünkte, ihm diese Ehre abwendig zu machen, ließ ihn zwar Literatus seyn, indessen pflegte sie ihn in Rücksicht dieser Würde eine geschwächte, eine zu Fall gekommene Person zu heißen. Es ging die Rede, daß er das Schneiderhandwerk gelernt hätte; wenigstens übte er dieses Handwerk aus, und alle meine Schlafröcke und täglichen Kleider sind durch seine gelehrte Hand gegangen. Was die Feierkleider betraf, konnten sie freilich keinem Literato anvertraut werden; der Umstand indessen, daß er Schneiderarbeit verrichtete, schien nicht hinreichend, das Gerede, daß er ein Schneider wäre, außer allen Zweifel zu setzen, denn er war im Grunde genommen ein Tausendkünstler.

Er hatte sich bei einigen hochwohlgeborenen Herren zum Hofnarren, zum Kammerherrn, zum Forst-und Jägermeister brauchen lassen, und nachdem er am Ende einsah, daß es besser sey, ein Schneider als ein Hofnarr zu seyn, zog er sich in bester Ordnung zurück, nahm seine letzten Kräfte der Hofkunst zusammen und war so glücklich, seine Herren Principale dahin zu überschwatzen, daß ihm zeitlebens einstandesmäßiger, das heißt ein höchst nothdürftiger Unterhalt angewiesen wurde. Die Alten starben und die Jüngeren ließen ihn im Besitz, ohne den Canon von Witz einzufordern, den sich ihre Antecessoren jährlich hatten bezahlen lassen. Es legte sich der alte Herr auf den Unterricht der Kinder, stand mit den Pastoren der Gegend in gutem Vernehmen, und verrichtete, sogar einige heilige Handlungen, wobei die Herren Geistlichen substituiren können, zuweilen rührte er das Positiv, welches in einer unserer benachbarten Kirchen stand. Dieses aber [48] mußte wenigstens vierzehn Tage zuvor bestellt werden, und dann war es doch nur ein Gastpräludium.

Er behauptete, daß man sich auf ein Präludium eben so sehr, als auf eine Predigt vorbereiten müsse, und wie der Klang der Worte – wenn er mit der auszudrückenden Sache wie ungefähr der erste und zweite Diskant harmonire – die Originalsubstanz der Sprache bewiese, so verriethe es einen großen Musikus, wenn man das Evangelium so zu sagen ins Präludium setzen und es so deutlich in Noten ausdrücken könnte, daß wer das Präludium hört, auch zugleich das Evangelium wissen müßte.

Hierüber wurden dem alten Herrn von meiner Mutter verschiedene Einwendungen gemacht; allein er behauptete, er hätte nur neulich das Vater Abraham erbarme dich mein so natürlich auszudrücken gewußt, daß der ganzen Gemeinde darüber Furcht und Schrecken angekommen wäre; und da ihm meine Mutter das Evangelium von der Beschneidung, von den viertausend Mann und vom steinichten Acker entgegen setzte, und ihn befragte, wie er Weizen und Kornland, fünf Gerstenbrode und ein wenig Fischlein in der Musik ausdrücken könnte, wollte er zwar im Anfange behaupten, daß alles dieß in die Musik zu übersetzen wäre, nachher aber schämte er sich über sich selbst. Sie warf ihm sehr oft den steinichten Acker, die viertausend Mann, die fünf Gerstenbrode und ein wenig Fischlein vor, obgleich sie an die Beschneidung, ich weiß nicht warum, weiter nicht dachte. Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, zu bemerken, daß meine Mutter sich vor der satyrischen Ader des alten Herrn gar nicht fürchtete, so furchtbar ihn auch in der ganzen Gegend seine Einfälle gemacht hatten.

»Eine Schneidernadel,« pflegte sie zu sagen, wenn er einen Einfall wider sie hatte, und wenn sie ihn recht ärgern wollte, nannte sie ihn Tonkünstler, welchen Ausdruck er weniger als [49] alles leiden konnte, indem er sich hierdurch zu einem Töpfer erniedrigt zu seyn dünkte, und sich hierbei um so mehr getroffen fand, als er dieses Handwerk in den langen Abenden, wie er versicherte, bloß seine Augen zu schonen, die freilich durch Noten und Fäden gelitten haben können, trieb. Er verstand auch etwas vom Schuhmachen, allein nicht das mindeste von der Poesie. Meine Mutter pflegte daher von ihm zu sagen: er hätte den kalten Brand. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, wenn er etwas suchte, auf den Tisch zu klopfen, welche Mode die Schneider haben, wenn sie die Scheere suchen; auch wackelte er beständig mit dem Fuße, welches den Töpfern eigen seyn soll. Vom Schuster hatte er das weite Ausholen mit den Händen, vom Spielmann aber einen taktmäßigen Schritt. Da er für die poetische Gelehrsamkeit meiner Mutter Respekt hatte, unterstand er sich nicht, aus seinem alten Kramladen ihr zum Nachtheil eine witzige Antwort herauszusuchen. Er saß vielmehr, wenn sie ihn böse gemacht, ganz still, und wie meine Mutter sagte, so gerade, als wenn er sich barbiren ließ. Obgleich er als Organist, welches in Curland ein seltener Vogel ist, oder als Schullehrer ankommen können, so hatte er jedennoch alles verbeten, indem er glaubte, daß er sich hierbei aus den Augen setzen und zugleich allen Universitäten einen Brandmark geben würde.


Die Kinder, so er erzog, nahm er nicht anders als bittweise an. Zwar that er sehr unzufrieden, wenn er seine Zahl nicht vollständig und seinen Lehrsaal nicht ganz besetzt hatte, inzwischen schien er nicht darum böse, weil ihm keine Kinder in die Schule gebracht wurden, sondern weil er nicht gebeten war, sein täglich Brod zu verdienen.


Er brachte freilich seinen ihm vertrauten Kindern nicht viel bei; da er indessen mit für körperliche Uebungen war, konnte ihn [50] mein Vater leiden, obgleich er mich seinem Unterrichte so wenig, als meine Feierkleider seiner Nadel anvertraute.

Da der alte Herr übrigens podagraische Zufälle hatte, welche nach meiner Mutter Meinung nur ein Edelmann und Literatus haben könnte; da ferner der ehrliche Nicolaus Herrmann vom Zipperlein geplaget gewesen, welches aus dem letzten Verse des Liedes: »Wenn mein Stündlein vorhanden ist,« erhellet.


Wer ist, der uns das Liedlein sang?

Ist alt und wohl betaget;

Dießmal kommt er nicht aus der Statt,

Das Zipperlein ihn plaget.

Oft seufzt er und hat Gott im Sinn;

Herr, hol' den kranken Herrmann hin,

Wo jetzt Elias lebet.


Da auch noch ferner der alte kranke Herrmann viele gute Chorale gemacht und ein bewährter Tonkünstler und Cantor gewesen, so beehrte meine Mutter zuweilen den alten Herrn mit dem Namen Nicolaus Herrmann, obgleich ihm die Haupteigenschaft des Nicolaus Herrmann fehlte und der alte Herr den kalten Brand hatte. Oft sang sie ihm:


Wer ist, der uns das Liedlein sang


vor, und so wie sie es dem wirklichen Nicolaus Herrmann übel nahm, daß ihm nicht für


»Dießmal kommt er nicht aus der Statt«


die Schulbank eingefallen und er gesungen:


Dießmal kommt er nicht von der Bank,


als wodurch ohnehin der Reim »sang« sein bescheiden Theil erhalten hätte, so empfahl sie dem alten Herrn auch anstatt der letzten Reihe


»Herr, hol' den alten Herrmann hin,

Dort wo es ewig taget


[51] Die Verbesserungsfreiheit nahm sie sich indessen sehr selten heraus, denn sie war keine Liebhaberin von Liederänderungen, und mochte nicht, wie sie sagte, den Saft und Kraft des Alten wässern undentkräften.

Die Zuschrift, so der ehrliche Herrmann seinen Liedern vorgesetzt, parodirte meine Mutter auf den alten Herrn. Ich muß sie hersetzen. Sie verdient's. Die Herrmannsche Dedication ist nur in zwei Reihen geändert:


»Ihr allerliebste Kinderlein,

Seht, das Choralbüchlein

Soll eu'r und keines andern seyn.

Es ist fein albern und fein schlecht,

Drum ist es für euch Kinder recht;

Alt' und g'lehrt' Leut' bedürfen's nicht,

Und die zuvor sind wohl bericht't.

Gott will durch der Säuglinge Mund

Gepreiset werden alle Stund';

Drum o ihr Christenkinderlein!

Durch euch will Gott gelobet seyn:

So g'wöhnt euch nun mit allem Fleiß,

Daß ihr Gott singt Lob, Ehr' und Preis,

Und hebt bald in der Jugend an;

Was ich euch dazu dienen kann,

Das will ich thun bis an mein Grab,

Und weil ich geh'n kann an ein'm Stab;

Ob ich gleich wenig bring' davon,

Und Kinderarbeit gibt Kinderlohn,

So wird's doch alles machen gleich

Der liebe Gott im Himmelreich,

Dem sagt allzeit Lob, Ehr' und Preis

Niclas Herrmann, der alte Greis.«


[52] Der alte Herr war indessen nicht der Herr C.F., wie er in den lettischen Gesangbüchern bezeichnet ist, welches Christoph Fürecker heißt, denn dieser der Gottesgelahrtheit Beflissener war ein unbezweifelter Literatus und Poet, der aus Liebe zu den lettischen Declinationen und Conjugationen, wie ich unlängst gelesen, ein Märtyrer ward, und eine wiewohl bemittelte undfreie lettische Bauerwittwe (hübsch wird sie ohne Zweifel auch gewesen seyn) heirathete, um recht unter das Lettische zu kommen. Ihm hat die lettische Grammatik den Eckstein, die Kirche aber sehr schöne Gesänge zu danken. Ehre, dem Ehre gebühret! sagte der alte Herr; und so wenig ich es zugeben würde, daß dem alten Herrn was abginge, eben so wenig will ich auch meine Leser bei einem Irrthum lassen, der sich sehr leicht bei ihnen hätte zur Miethe anbieten können.

Ehe ich vom alten Herrn zum jungen übergehe, noch ein Wort an den herzlich geliebten Leser, den wider mein Verschulden der Gedanke befallen, daß die Charaktere in dieser Geschichte so ziemlich übereinstimmend wären:

Da mein Vater sein Vaterland und der alte Herr seinen Namen verschwiegen;

Da meine Mutter sich eben sowohl über den Ritter Jachnis, als den Cantor und respective Schneider, Töpfer und Schuster, Nicolaus Herrmann genannt, aufhielt; da – – –

Allein hierauf dienet dem geneigten Leser zur dienstlichen Antwort, daß ich die Sache erzähle, wie sie war, und nicht, wie man sie wünschen könnte. Wenn ich einen Roman schriebe, wäre es was anders. – Haben nicht sogar Völkerschaften gewisse ähnliche Züge? und jede Stadt und jedes Dorf durch die ganze Welt halten unter einander wieder ihr Abzeichen. Würde es mir zuzuschreiben seyn, wenn die Unergründlichkeit wirklich der Hauptcharakter unseres Kirchspiels gewesen wäre? und wäre dieses nicht um so [53] begreiflicher, da mein Vater hierzu den Ton angeben können? wo hab' ichs indessen je gesagt, daß der alte Herr seines Namens wegen in Anfechtung gewesen? oder daß er ihn verschwiegen? Ist dennalter Herr zu heißen nicht eben so gut, als Caspar und Melchior? und ist's einerlei, lettische Verse machen, welches in Curland was allgemeines ist, und ein Positiv schlagen, welches selten vorkommt? – Wenn ich ganz aufrichtig seyn soll, hast du dich gewaltig geirrt, lieber Leser, denn du kennest den alten Herrmann nicht weiter, als wo er von meiner Mutter überflügelt war. Dieser Uebergriff entscheidet nichts – und was ist's am Ende für Kunst, Physiognomien zu beurtheilen, wo der eine eine Habichts- und der andere eine Mopsnase hat, – wo der eine ein Verschwender und der andere ein Harpagon ist. Sieh aber leibliche Brüder, sieh Natur- und Staatsbrüder – find'st du noch Bedenklichkeiten; bist du ein Recensent, und da verlohnt's nicht, zu streiten, daß du nur nicht hingegeben im verkehrten Sinn, zu schreiben, was nicht taugt, mir, um dein vorgeschriebenes Recensionsmaß voll zu machen, ein gegebenes Aergerniß andichtest. – Ich verfluche jedes Wort, das der Religion und ihrer Mutter, der Tugend, nachtheilig seyn könnte; allein ich glaube, die Religion in der Kirche verschließen und sie nicht ins gemeine Leben bringen, heißt alle Wärme, alle Empfindung des Herzens aus der Welt verbannen, und Tugend an einen Ort verlegen, wo denen, die nicht Geistliche sind, weiter keine Handlung übrig bleibt, als öffentlich in den Seckel zu legen, und kein anderes Verdienst, als still zu sitzen. Ich wette, die mich auf diese Art zeihen, vergessen, daß wir nur aus der Kirche eine glühende Kohle vom Altare heimholen sollen, um im gemeinen Leben Gott Opfer der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit zu bringen, die allein ein süßer Geruch vor dem Herrn sind und werth geachtet in seinen Augen. Auch seine Heiligen sind nicht rein vor ihm, und warum soll ich [54] also meine Mutter anders darstellen, als? – Ich bin zu bewegt, als daß ich heute mehr könnte als die Sonne untergehen, und wenn ich ins Bett' mich lege, nach meiner Mutter Weise ein Licht ausbrennen – sehen.


Geschrieben an einem schönen

Abend den – 17 –


Benjamin gefiel mir unter allen Jungen unseres Kirchspiels am besten, und da ich vollkommen entschlossen war, aus ihm den Darius (den kleinen oder letzten) zu machen, so muß ich gestehen, daß ich viel Mühe befürchtete, durchzukommen. Zum Glück fiel mir die Thronerhöhung eines seiner Vorfahren ein. Wie kann Benjamin Darius werden? sagte das Heer. Hier sind acht Jungen, die gerade Beine haben, und außerdem, daß dem Herrn Benjamin (so nannten sie ihn schon, weil er Candidat des Throns war) das Bein nicht an der rechten Stelle sitzt, hat er den Fehler, daß er link ist. Nehmt sieben, sagt' ich, nach Anzahl der sieben Fürsten, welche den König Smerdis mit seinem Anhange ausrotteten, und der, dessen Pferd, wenn ihr beim Spital angeritten kommt, am ersten beim Aufgange der Sonne wiehern wird, sey Darius. Gut, sagten die sieben Candidaten zur königlichen Würde; allein sie wußten nicht, daß der königliche Candidat es so einrichten ließ, wie es Darius, des Hystaspis Sohn, oder vielmehr dessen Stallmeister einrichtete, und wie man es noch bis auf den heutigen Tag bei allen Wahlen, man wähle einen König, einen Landesdeputirten, einen Priester, einen Küster einrichtet. Es wird überall gewiehert. Kurz Benjamins Pferd wieherte zuerst, und die Krone war sein, damit ich sie ihm durchs Recht der Waffen, welches das besonderste Recht von allen ist, nehmen könnte. Er nahm die Glückwünsche an, und da ich bei dergleichen Dingen erschrecklich gelehrt war, brachte ich noch so viel Umstände aus der Geschichte bei, daß ich nunmehr, wiewohl zu spät, aus der Bewunderung[55] des Volks einsah, wie ich um eines Darius wegen eben kein Pferd hätte wiehern lassen, sondern bloß meine Zunge tapfer brauchen dürfen. Einen Alexander durften wir nicht suchen, denn die heilige Taufe hatte mir dazu ein Recht gegeben. – (Das Glück ist nicht viel auseinander, einen Freund oder einen Feind zu haben, der uns Ehre macht, und wenn ich also den Benjamin zu meinem Feinde anzunehmen kein Bedenken trage, was wollten denn die Jungen?) – Fast schäme ich mich, da ich meinen Lesern so spät eröffne, daß ich Alexander heiße. Um indessen diese Verspätung gut zu machen, will ich dabei bemerken, daß meine Mutter mit diesem Namen den Alexander Einhorn, zweiten Superintendenten in Curland, mein Vater aber den wirklichen Alexander, oder den Alexander Magnus, den Alexander, gegen den alle andere Alexander es nicht sind, zu verstehen schienen. Meine Mutter hielt sogar das Wort Einhorn für eine freie Uebersetzung des Namens Alexander, und rief mich daher sehr oft Einhörnchen, obgleich mein Vater nicht sonderlich damit zufrieden war. Sie hätte um alles in der Welt willen nicht Olympias seyn wollen. Es war ihr sehr unangenehm, daß wir heidnische Historien aufführten, daher sie, sobald sie Kriegsgeschrei im Dorfe hörte, uns die Historie vomJoseph in Vorschlag brachte, wozu sie unter andern den Grund hernahm, weil ich einen bunten Rock hatte. Indessen bestärkte mein Vater meinen Entschluß, Alexander zu werden, und war dabei so zufrieden, daß ich den guten Mann als Feldpropst hätte mitnehmen können, wenn Alexander einenFeldpropst gehabt hätte.

Zum Aristander war mein Vater nicht als ein christlicher Geistlicher zu brauchen, eine so wichtige geistliche Rolle auch Aristander zu seiner Zeit in der Geschichte Alexanders spielte. Gelegenheiten machen Diebe, Gelegenheiten machen Helden, und es ist nicht zu läugnen, daß auch Alexander Gelegenheit gefunden. [56] Aristander indessen, das wett' ich, hat eben so viel gethan als Alexander, obgleich der erste eigentlich nur ein Gelegenheitsmacher war. Von der Auslegung des Traums des Philippus an, welchem vorkam, daß er den Leib seiner königlichen Gemahlin Olympias mit einem Wappen, worauf ein Löwe gegraben war, versiegelt, als welchen Traum Aristander auf einen Sohn, der ein Löwe seyn würde, auspunktirte, bahnte er durch alle seine Auslegungen unerhörte Wege. Es ging wie beim Religionskriege zu Aristander gab dem Alexander, seinem Generalfeldmarschall Bucephalus und der ganzen Armee den Sporn. Die Auslegung, als man ihm meldete, daß eine Bildsäule des Orpheus geschwitzt hätte, gefiel seinem christlichen Herrn Collegen, meinem Vater sehr übel. Es sollte dieses nach des Aristanders Deutung anzeigen, wie die Poeten bei der Alexandriade schwitzen würden. »Daß dich,« – sagt mein Vater, »Aristander hat bei dieser Auslegung selbst geschwitzt.« Ich kann es jetzt zwar meinen Lesern nicht ohne Lachen erzählen, durch den Umstand sehr aufgefordert zu seyn:


Daß in der Nacht, da ich geboren, ein Backhaus durch einen Brand zerstört worden.


Indessen brauchte mein Vater diesen Vorfall sehr zu meinem Vortheil. Es war das Gerüste, auf das ich stieg, um gut dazu zu kommen, die Leiter, mich, so jung und klein ich war, doch künstlich groß zu machen. Der Vorfall diente ihm meine Lebenskarte zu illuminiren, und es half mir diese Fiction bei Sprachen und bei Schlachten. Wenn gleich ich mir nicht einbilden konnte, daß die Diana nicht Zeit gehabt, das Backhaus in Protection zu nehmen, da sie bei meiner Mutter Hebammendienste verrichtete, schien's mir doch was Denkwürdiges. Das Feuer vom Backofen war mir eine Leuchte auf manchem sauern Vocabelnwege, und nimmermehr würd' ich dieses alles so herzlich erzählt haben, wenn nicht bei tausend [57] Merkwürdigkeiten, die in der Welt geschehen, ein abgebranntes Backhaus der Entstehungsgrund wäre. Eine Art Bucephalusgeschichte veranstaltete mein Vater, da er einem Pferde diesen Namen verehrte, das wie alle andere Pferde war, das seines Schattens wegen nicht in Unordnung kam, und das eben nicht werth war, im besondern Verstande von der Sonne beschienen zu werden. Meinem Tempel der Diana indessen war der Gaul sehr angemessen. Ich sah verschiedenes, was man beim Bucephalus sah, allein ich konnte es nicht ändern, daß ich nicht auch verschiedentlich etwas anders sah. Mein lieber Vater sah alles mit.

Was der Herr von Voltaire in seiner Geschichte »Alexander Magnus« vom Bucephalus unter andern im sechsten Buch und fünften Kapitel sagt, daß nämlich Alexander denselben non eodem quo caeteras pecudes animo aestimabat, das traf bei mir auf das genaueste ein; wenn ich ihn abrichten wollte, daß, wenn ich aufstieg, er die Knie beugen und empfinden sollte, wer ihn zu besteigen ihm die Ehre erwiese, war er doch zum Kniebeugen nicht gelehrig, und wenn ich die aufrichtige Wahrheit sagen soll, viel zu steif; wie ich denn auch blind seyn müssen, falls ich behaupten sollen, daß ers empfunden, wenn ich oben war, wen er trüge, wie Herr von Voltaire in dem angezogenen Roman vom Bucephalus des Alexanders berichtet, et regem, quum vellet ascendere, sponte sua genua submittens excipiebat, credebaturque sentire, quem veheret.

Ueberhaupt war es ein sehr alltägliches Pastoratspferd, und darf ich's also nicht bemerken, daß mit der Reiterei bei meinen Feldzügen es nur sehr schlecht bestellt gewesen. Dies ist ein unverlöschlicher Beweis, daß ich zu keinem Roman, wo beständig ein merkwürdiges Pferd nöthig ist, wohl aber zur Geschichte, wo man mehr zu Fuße ist, (wie's am Tage und an mir erfüllt wird) Stoff abgeben könne. FürTalente war mein Bucephalus nicht [58] gekauft; mein Vater konnte auch nicht sagen, da ich ihn zum ersten male unter meine Füße gebracht, daß sein Pastoratzu klein für mich wäre; indessen hatte ich das Unglück, dieses Pferd, wiewohl Alters wegen, während dem Kriege zu verlieren. Es starb nicht den rühmlichen, den schönen Tod fürs Vaterland; indessen heißt der Ort, wo es mit andern seines gleichen, welche aber nicht den großen Namen Bucephalus geführt, begraben ist, Bucephalia bis auf den heutigen Tag. Das ist alles, was ich mich unterstehe, in einer wahren Geschichte von einem Pferde zu erzählen.

Der gordianische Knoten war für mich ein wahrer Knoten, denn außerdem, daß ich zuweilen meiner Mutter, wegen meiner kleinen Hände, beim Stricken, wenn etwas verknüpft war, kindliche Dienste geleistet, war mir kein gordianischer Knoten vorgekommen, obgleich ich mich schon in dieser Erwartung im Knotenlösen so geübt hatte, daß mir so leicht nichts zu sehr verknüpft war. Ich hatte den Stolz, den Knoten nicht symbolisch, nicht witzig, sondern künstlich lösen zu wollen. Da ich indessen eine geraume Zeit vergebens auf einen gordianischen Knoten gewartet hatte, führte mich die Knotensucht auf das Geistige. Ich legte diesen Umstand in der Geschichte des Alexander so aus, wie man vieles auszulegen gewohnt ist. Ich deutete es auf schwere Stellen in den Autoren, die man durchaus witzig lösen muß. Mein Kopf war hiebei so fertig, als meine Hand beim Strickzeug; und wie Alexander, nach dem Berichte des oberwähnten Romanenstellers, sagt: nihil interest quomodo solvatur: so konnte man auch, was loco citato hinzugefügt wird, von meinen meisten kritischen Erzählungen sagen: oraculi sortem vel elusit vel implevit.

Es würde ferner eine Unwahrheit seyn, wenn ich meinen Lesern erzählen sollte, daß ich meinen Vater beneidet und mit Thränen bedauert, daß er mir keine Sünder zu bekehren übrig ließe.

[59] Mein Vater legt' es auch nicht an, einen Alexanderden Großen aus mir zu ziehen, ich sollte nur Alexander werden.

Unter dem Orden Groß, sagte er, liegt etwas Seelenverderbendes, es trage diesen Orden ein Monarch unterm oder überm Kleide, oder ein Privatmann am Knopfloche. Hüte dich vor dem, den Gott gezeichnet hat.

Regenten, die sich so peinlich, wie Alexander der Große, bemühen, Groß zu heißen, leben nicht der lieben Unsterblichkeit wegen. Sie tragen Fesseln, die ihnen die Dichter und Redner anlegen. Wenn es gleich das Ansehen hat, als ob die Dichtkunst und Geschichtskunde auch den Huldigungseid abgeleistet hätte, wissen sie doch, daß einer von diesen Zünften sie bei einer Lampe in einer Stunde um eines ganzen Lebens Ruhm bringen könne. Sie zittern vor einem jeden, der Reime kommandiren, oder: es war einmal ein Mann etc. schreiben kann.

Wie Alexander des Homers Schriften verehret, weiß jeder, welcher weiß, daß Homer und Alexander in der Welt gewesen. Homers Schriften waren sein Gesangbuch, das er auf Reisen mitnahm, und da er ein güldenes Kästchen erbeutet, antwortete er denen, die ihn fragten: »wozu?« den Homer hinein zu legen. Das waren mehr als silberne Clausuren.

Den Nachkommen des Pindars ließ er Salvegarden anschlagen, und beehrte auf diese Art das Haus dieses Dichters, und damit der Maler Apelles selbst das Aeußere eines Alexanders nicht verunstalten möchte, schenkte Alexander, wie man erzählet, ihm eine seiner vorzüglichsten Inclinationen. Des Malers wegen that er's nicht. Der gute Apelles sollte diese Schönheit nackt in forma probante vidimiren, und konnte nicht der Liebe widerstehen. Alexander merkte diese Neigung und befriedigte sie.

Die Gewalt, die sich die Großen des Nachruhms wegen anthun, die sie zu Knechten ihres ganzen Lebens macht, [60] ist von der Hofmanier ungefähr wie ein Tänzer vom Fechter unterschieden. Alles ist solch eines Großen wegen da, bis auf den lieben Gott, den er aber auch nur der Curialien halber in Ehren hält. Thut er was Gutes, plaudert es nicht nur seine Rechte der Linken aus, sondern es wird ausgetrommelt, als wenn man in einer Glücksbude oder Lotterie was gewonnen hat. Bei ihrem Gutsthun sieht's so wie beim stolzen Geiz aus, der aus Noth gedrungen ist ein Mahl auszurichten. Es soll was seyn! sagen die Leute. Ein großer Privatmann ist noch unerträglicher. Riegelt die Thüren eurer Herzen zu, wenn er sich melden läßt, und laßt ihn höchstens ein Visitenblatt einreichen. Ich wollte mit ihm nicht unter einem Dache wohnen, wenn gleich er mir den rechten Flügel seines Schlosses aufräumen würde. Lieber will ich beim Lot auf dem Boden schlafen. Jonathan Wild ist noch der leidlichste unter Großen dieser Art.

Warum war ich denn Alexander?Respondetur eben darum, weil Eugen unterm Spiegel hing, und weil man bei meinem Vater zu Hause eher als in Curland Spargel ißt, in der freien Luft eine Pfeife raucht, Wein braut und lange Manschetten trägt. Ich sollte zwar nicht groß werden, allein ich sollte auch nicht klein bleiben. Hier hatte er eine feine Distinktion, die ich mir nicht getraue wiederholen zu können. Sie würde mir untern Händen bleiben.

Mein Vater war – wie ich schon meinen Lesern bei einer andern Gelegenheit reinen Wein aus seinem Geburtsorte, wo man ihn bei der Quelle trinkt, eingeschenkt – sehr für mannhafte tapfere Leute, mithin lag ihm der Soldatenstand nicht aus dem Wege. Alles war bei ihm nach Soldatenart. Er hatte zum Exempel die Gewohnheit, alle Jahre seinen Büchervorrath, den erArmee oder seine Macht nannte, auszustäuben. Dieß hieß, in seiner Sprache, sie mustern und Revue halten. Alle acht Tage [61] (nach russischer Art) zogen zehn Bücher auf die Wache. Es war ein besonderer Ort, wo sie aufgestellt wurden. Seine Absicht war, diese zehn zu durchlaufen. Meine Mutter fand hiebei viel Anstößiges, weil auch geistliche Bücher sich diesen Kriegsdienst gefallen lassen mußten. Vielleicht liegt der Umstand, den ich noch anführen will, nicht sehr aus dem Wege.

Mein Vater mochte gern wilde Thiere zähmen. Er sagte zwar: »wir sind auf die Art Menschen geworden; Gott weiß, was aus ihnen wird.« Indessen warf er hierbei einen Seitenblick auf den monarchischen Staat und den Soldatenstand, wofür er im Grunde des Herzens war.

Das sind die Data, die ich meinen Lesern, in Hinsicht seines Entwurfs zu meiner künftigen Bestimmung, bis hierher mit dem Mantel der Liebe und mit dem Pelz der Verschwiegenheit bedeckt habe.

Warum aber, wenn ich zu mir selbst komme, diese Hüllen? Meine Leser werden, das weiß ich, von meiner Ehrlichkeit keinen bösen Gebrauch machen, da sie nunmehr wissen, was ich weiß.

Für einen Mann aber wie du, lieber Vater! ein unerwarteter Plan, daß ich aus dem Stahl und Stein deines Feuerzeuges keinen einzigen Funken mehr herausschlagen kann.

Zwar weiß ich, daß die Bürger zu viel Zeit brauchen, Zeitungen zu lesen, um selbst zu Zeitungen Gelegenheit zu geben, daß sie zu weichlich sind, um sich das Auge und den Rücken frei zu halten. Indessen, lieber Vater, sieh an die Thiere, von denen wir durch die Kunst verdorbene Menschen leider die Natur absehen müssen, haben sie einen Obersten? einen Hauptmann? einen Lieutenant, einen Fähndrich? und außer dem Zank unter sich und mit andern Thieren ist der Mensch ohnehin ihr Türke, ihr Erbfeind. Ein jedes Thier wehrt sich seiner Haut; und wenn wir uns zusammenarmen, wir! die wir durch Boden und Sonne vereinigt [62] sind, um das nämliche zu thun, würden wir dann nicht vernünftige Thiere seyn? Ein jeder wäre Soldat und Bürger, jeder hätte Leib und Seele. Der Gelehrte würde abgehärteter, der Soldat vernünftiger seyn, und allen wäre geholfen.

Meine Leser werden, das sehe ich im Geiste, die Köpfe schütteln, wenn sie den dritten Theil meiner Geschichte mit dieser Stelle in einem Gliede marschiren sehen werden. Sie können mir indessen nicht verargen, daß ich ihnen den Schlüssel vom fünften Akt verhalte, denn warum sollten sie einem Feuerwerk des Mittags um zwölf Uhr zusehen, das erst um zwölf Uhr in der Nacht abgebrannt werden soll?

Die Kriege wurden griechisch geführt, die Reden respective lateinisch, und wegen des Ekels des Benjamin gegen diese Sprache, lettisch gehalten.Recht wurde nach Leonhart Fronspergers kaiserlichen Kriegsrechten gepfleget. Rechne, lieber Leser! alles dieses zusammen, schwerlich ist Summa Summarum: Soldat, wenigstens bleibt der Zweifel, was für ein miles? (Soldat) togatus oder sagatus, ein Soldat mit dem Haarzopfe oder mit der Alongenperücke. Die Behauptung meines Vaters, daß man aus den römischen Gesetzen, und was ihnen anhängt, lateinisch, und aus den alten deutschen Gesetzen und ihren Verwandten deutsch lernen könnte, stützt den gegebenen Zweifel; allein meines Vaters Bibel wird den Ausschlag geben.

Mein Vater hatte alle Schriftstellen, wo von Soldaten geredet wird, gezeichnet. Im zweiten Buche der Maccabäer, im dreizehnten Kapitel und fünfzehnten Verse, sagt' er, wird die Parole ausgegeben. »Und er lagerte sich bei Modin und gab diese Worte ihnenzur Losung«: »Gott gibt Sieg!« Jetzt, sagt' er, hat sich die Parole, recht als ob sie ihm selbst war gegeben worden, von dieser Art sehr gändert, indessen könnte diese Manier im Kriege mit Nutzen gebraucht werden, um das sinkende Rohr aufzurichten[63] und den flimmenden Docht aufzufrischen. – Von Feldgeschrei wird im Buche der Richter im siebenten Kapitel vom achtzehnten bis zwanzigsten Verse geredet: hier lag ein großes Zeichen: »Wenn ich die Posaune blase, und alle, die mit mir sind, so sollt ihr auch die Posaunen blasen um's ganze Heer, und sprechen: hie Herr und Gideon! Also kam Gideon und hundert Mann mit ihm an den Ort des Heeres, an die ersten Wächter, die da verordnet waren, und weckten sie auf, und bliesen mit den Posaunen und zerschlugen die Krüge in ihren Händen. Also bliesen alle drei Haufen mit Posaunen und zerbrachen die Krüge. Sie hielten aber die Fackeln in ihrer linken Hand, und die Posaunen in ihrer rechten Hand, daß sie bliesen und riefen: hie Schwert des Herrn und Gideon!«

Es fand mein Vater im zweiten Buch der Chronik im dreizehnten Kapitel im vierzehnten Verse ein Bataillon quarré:


»Da sich Juda umwandte, siehe, da war vorn und hinten Streit. Da schrien sie zum Herrn und die Priester trommeteten mit Tromme ten«,


wie er denn auch mit dieser Spruchstelle bewies, daß die Priester ehemals Hautboistendienste verrichtet; diesen Spruch führte er beständig an, wenn er vom geistlichen Priesterthume redete, und legte ihn von dem Muthe aus, den ein Christ dem andern bei den Feldzügen und Scharmützeln dieses Lebens zuzublasen verbunden wäre, um ihn wenigstens zu betäuben. Ueber die Werbung, Handgeld undMusterung hatte er im zweiten Buche der Chronik im fünfundzwanzigsten Kapitel den fünften und sechsten Vers gezeichnet:

»Und Amazia brachte zuhauf Juda, und stellete sie nach der Väter Häusern, nach den Obersten über tausend und über hundert unter ganz Juda und Benjamin, und zählete sie von zwanzig Jahren und drüber, und fand ihrer dreihunderttausend auserlesen, [64] die ins Heer ziehen mochten, und Spieße und Schilde führen konnten. Dazu nahm er aus Israel hunderttausend starke Kriegsleute um hundert Centner Silbers.«

Jethro, sagte er, hat die ersten Patente alsOberster und Kapitän gegeben, und von ihm schreiben sich die Herren Stabs- und andere Officiere her, im zweiten Buche Mosis im achtzehnten Kapitel vom neunzehnten bis zum siebenundzwanzigsten Verse heißt es also:

»Aber gehorche meiner Stimme, ich will dir rathen und Gott wird mit dir seyn. Pflege du des Volks vor Gott, und bringe die Geschäfte vor Gott, und stelle ihnen Rechte und Gesetze, daß du sie lehrest den Weg, darin sie wandeln, und die Werke, die sie thun sollen. Siehe dich aber um unter allem Volke nach redlichen Leuten, die Gott fürchten wahrhaftig, und dem Geiz feind sind, die setze über sie, etlicheüber tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn, daß sie das Volk allezeit richten. Wo aber eine große Sache ist, daß sie dieselbe an dich bringen, und sie alle geringe Sachen richten. So wird dir's leichter werden, und sie mit dir tragen. Wirst du das thun, so kannst du ausrichten, was dir Gott gebeut, und alle dieß Volk kann mit Frieden an seinen Ort kommen. Mose gehorchte seines Schwähers Worten und that alles, was er sagte. Und er wählete redliche Leute aus ganz Israel und machte sie zu Häuptern über das Volk, etliche über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn. Daß sie das Volk allezeit richteten, was aber schwere Sachen wären, zu Moses brächten, und die kleinen Sachen sie richteten. Also ließ Mose seinen Schwäher in sein Land ziehen.«

Das Exerciren bewies er aus dem andern Buche der Könige im fünf und zwanzigsten Kapitel im neunzehnten Verse:

»Und einen Kämmerer aus der Stadt, der gesetzet war über die Kriegsmänner, und fünf Männer, die stets vor dem Könige [65] waren, die in der Stadt funden wurden, und Sopher, den Feldhauptmann, der das Volk im Lande kriegen lehrte, und sechzig Mann vom Volk auf dem Lande, die in der Stadt funden wurden – –«


Gern hätte ihm meine Mutter diese Zeichen insgesammt wie Spreu in die Luft zerstreuet; allein sie schien diese Schriftstellen selbst als bewaffnet anzusehen,


und nun sollen sie so lange wie Fahnen in der Kirche hängen. Da liegt sie vor mir, diese vä terliche Bibel, wo Stunde, Tag und Jahr meiner Geburt von meinem Vater eingeschrieben ist. Sey mir gesegnet, göttliches Buch!


Bei meinem Namen steht: eine schwere Geburt! der Name des Herrn sey gelobt! Feierlich bete ich Amen dazu! Theure Bibel, jedes Zeichen in dir, ob's gleich eine Menschensatzung ist, bleibt mir doch unschätzbar. Es enthält für mich einen Zug vom Bilde meines Vaters, der überwunden hat. Laßt mich einen Augenblick, damit ich meine Hände zu den Bergen hebe, von welchen uns Hülfe kommt. Unsere Hülfe kommt im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat! – –

Ich finde Oerter mit einer solchen papiernen Schildwache versehen, wo


vom Schwerte,

von Pfeilen,

Bogen,

Lanzen,

Panier,

Trompeten, geredet wird;

wo ein Fähnlein wehet,

ein Gezelt im Lager stehet,

Gold ausgetheilt wird,


[66] und wo das Wort ausziehen, welches nach seiner Erinnerung marschiren und nicht laufen bedeutet, gebraucht ist.

Ferner liegen Zeichen bei den Worten: Kriege,Kriegsknechte, Streiter, Streitgenossen oder Kriegskameraden;

bei List, Hinterhalt, Schlagen, Fechten, Streiten, Wagenburg, Sturm und Beute;

beim Hauptmann von Capernaum und bei drei Obersten.

Ihr sollt unversehrt bleiben, ihr! nur lieben Zeichen, und so oft ich dich, theure Epistel am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis, die erschrecklich begriffen ist, im Haupt-Exemplare sehe, und sonst lese und höre, seh' ich und les' und hör' ich meinen Vater.

Hierauf wollen meine christlichen Leser mit theilnehmender Herzensandacht verlesen hören: die Epistel am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis, wie sie beschrieben stehet in der Epistel an die Epheser im sechsten Kapitel und zehnten Verse, und wie sie in unserer deutschen Uebersetzung lautet:

»Zuletzt, meine Brüder, seyd stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. Ziehet an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnet gegen die listigen Anläufe des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsterniß dieser Welt herrschen mit den bösen Geistern unter dem Himmel. Um deßwillen so ergreifet den Harnisch Gottes, auf daß ihr, wenn das böse Stündlein kommt, Widerstand thun und alles wohl ausrichten und das Feld behalten möget. So stehet nun, umgürtet eure Lenden mit Wahrheit, und angezogen mit dem Krebs der Gerechtigkeit, und an Beinen gestiefelt, als fertig zu treiben das Evangelium des Friedens, damit ihr bereitet seyd. Vor allen Dingen aber ergreifet den Schild des Glaubens, mit welchem [67] ihr auslöschen könnet alle feurige Pfeile des Bösewichts, und nehmet den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes.«

Wenn ich mir die Seelenfreude vorstelle, mit welcher mein Vater über diese Epistel predigte, empfind' ich ein groß Stück dieser Seelenfreude. Meine Mutter sagte zwar: »Heute geht er gestiefelt und gespornt, wie ein geistlicher Ritter, auf die Kanzel.« Laß ihn, liebe Mutter! den hochwürdigen und gestrengen Herrn. Es ist ein Mann, mein Vater! Wenn es gleich aus der heiligen Schrift ziemlich deutlich hervorgeht, daß er für den Soldatenstand sey, bin ich denn darum schon in Reih' und Gliedern? – Warte, wenn ich bitten darf, den dritten Theil meiner Geschichte ab – und am Ende, liebe Mutter! heißt es: Gebet dem Kaiser was des Kaisers, und Gott was Gottes ist! Sind wir nicht geistliche Soldaten, die sich zum Himmel durchschlagen müssen? Die klugen Israeliten mußten mit dem Könige vorn Willen nehmen, da die Pluralität einen begehrte. Gott gab allen einen König. Sapienti sat.

Clitus, damit es meine Leser nur ja wissen, ist auch nicht in unserm Kirchdorfe erstochen, vielmehr ist er noch jetzt am Leben und sitzt auf dem väterlichen Acker. Er hat mir nicht das Leben gerettet, auch ist seine Schwester nicht meine Amme gewesen. Dieß Trauerspiel ward also als ein Lustspiel vorgestellt, wie man es mit den meisten Trauerspielen machen kann. I nunc ad Philippum et Parmenionem et Attalum, wurde nüchtern gesagt, und blieben daher die Bußtage aus, vielmehr wurde ein allgemeines Gelächter, weil Clitus so frisch und gesund seiner Wege ging, wie unsere Schauspieler, wenn sie erstochen, er schossen und mit Gift vergeben sind. Seneca, das fällt mir eben ein, hätte sich die Todesart wählen sollen, im Trauerspiele am fünften Akt zu sterben. Es wäre seinem Leben und seinen Schriften angemessener [68] gewesen, und leichter muß es auch seyn, als wenn man sich alle Adern öffnen läßt.

Die schönen Redeübungen, doch nur von Alexanders Seite, womit der beredte Curtius seine Leute ausstaffirt, konnte ich auf ein Haar. Benjamin hielt alles, was er hielt, aus oben angezeigten wichtigen Gründen in curischer Sprache; ich habe dem Q. Curtius Rufus eben den christlichen Namen Voltaire beigelegt, um diesem letzten mit Ehren grau gewordenen Dichter und Geschichtschreiber, Comödien- und Tragödiensteller, den ich von Person kenne, vorzüglich wegen seiner Geschichte bei dieser Gelegenheit ein Compliment zu machen.

Dieser große Mann trägt's auch am Knopfloche, und wenn er als Geschichtschreiber auftischen läßt, fehlt's an gesundem, unverfäschtem Weine. Gebackenes die Menge. Da heut eben sein Geburtstag ist, hoffe ich von ihm, wegen dieses kleinen Andenkens, Toleranz, und von meinen Lesern Verzeihung!

Es ist schon gesagt, daß die Nüchternheit bei unserm Alexanderspiel beobachtet wurde; indessen tranken wir Wasser aus dem Hute, wenn's in der Rolle vorkam, daß getrunken werden sollte; und der Hut stellte des Herkules Becher sehr gut vor. Ich konnte also nicht durch das Gift des Weins ums Leben kommen, sondern lebte den Curtius einigemale durch und durch.

Ich zog mit wenigen Jungen oder Pfefferkörnern dem Benjamin Darius und seinem Mohnsamen auf den Hals.

Wir lieferten alle Schlachten, die Alexander geliefert hat.

Bei Issus in Cilicien, welches über Feld lag, verlor Benjamin Darius eine Menge Volks, und ich bekam seine Frau Mutter Majestät, seine Frau Gemahlin Majestät und seine Kinder königliche Hoheiten zu Kriegsgefangenen. Die königliche Frau Mutter stellte, auf Befehl meines Vaters, unsere alte Köchin vor, und meine Mutter sagte: »kann sie nicht lieber die Potiphar machen?« [69] Benjamins Schwester war die älteste Prinzessin Tochter, und des Ritter Jachnis Frau und Tochter stellten die königliche Frau Gemahlin und Tochter vor. Wegen des Prinzen waren wir nicht verlegen, denn hierzu hatten wir viele Jungen im Dorfe. Mit der Schlacht bei Arbela hatte die persische Monarchie ein Ende.

Der Tod des Darius ward nicht vorgestellt, weil Benjamin über den Tod nicht spaßen wollte, und aus Todesangst sehr leicht untern Händen bleiben können. Es fehlte uns auch eine Kleinigkeit, die goldnen Ketten. Wenn alle Schlachten zu Ende waren, fingen wir sie von Anfang an, obgleich, wenn wir an die Gefangennehmung der königlichen Familie kamen, wegen der königlichen Frau Mutter der Verdruß unvermeidlich war. Meine Mutter beklagte sich über die Köchin, daß sie wenigstens drei Tage bei dieser königlichen Gelegenheit den Gehorsam aufsagte und vorzüglich alles versalze. Desto besser, sagte ich, sie macht ihrer Stelle Ehre. Die Frau Potiphar würde sie besser machen, antwortete sie, und ich brachte ihr das Salzfaß, ging mit ihr in die Speisekammer, aß unterm Eier-Monument ein Stück Schinken, und die Köchin blieb die königliche Frau Mutter.

Die Jungen im Dorfe nannten diese feierlichen Tage Talken, allein ich brachte diesen unheiligen Namen ab und pflanzte so viel Griechisch im ganzen Dorfe, daß derjenige, welcher der lettischen Sprache die Ehre that, sie aus meiner Welt zu beurtheilen, die griechische Sprache für Mutter, Schwester, Tochter oder was weiß ich für was für eine nahe Blutsverwandtin von der lettischen halten mußte.

Die königlichen Gefangenen waren bei mir so gut als beim Alexander aufbewahrt. Ich war eben so wie Er justus hostis und misericors victor. Die königliche Frau Gemahlin würde auch schwerlich jemanden, wenn gleich er sie nicht so gut als [70] Alexander und ich besessen, in Versuchung geführt haben, da sie bei den Blattern um ein königliches Auge gekommen war.

Nach dieser Anzeige darf ich auch nicht bemerken, daß die dreihundert sechzig Pellices (Kebsweiber) nicht angebracht werden konnten; wie denn auch deßhalb nicht zu behaupten war, Pellices CCC et LV totidem quod Darii fuerant, regiam implebant. Denn Benjamin wußte in diesem Stücke eben so wenig wie ich, was gut oder böse sey. Ich vermied mithin den Vorwurf des Lagers: daß ich mehr verloren als gewonnen hätte, und daß, obgleich ich den Darius überwunden, ich doch von ihm in diesem Stücke wäre überwunden worden (ex Macedoniae Imperatore Darii satrapem factum).

Bei dieser Gelegenheit indessen, und vorzüglich weil Darius seine Gemahlin so sehr, wie Hans seine Grete geliebt, sah ich seine und des Alexander und des Königs Salomo Kebsweiber für Lexika an, die man, um ein Wort nachzuschlagen, nöthig hat.

Außer den Soldat- und Sprachabsichten hatte mein Vater auch eine moralische, woran ihn sein Priesterkleid auch bei einer heidnischen Geschichte erinnerte. Es ward oft mitten in der Schlacht ein Porisma ober ein Komma gemacht, womit ich aber meine Leser nicht belästigen, mir selbst aber nicht in die Rede fallen will.

Die Geschwindigkeit, z.E. in der Ausführung, ist für jeden Alexander eine Haupteigenschaft. Ist's möglich, nimm Postpferde, sagte er, wenn du thust – allein denk erst! Kannst du Courierpferde haben, desto besser! Was geschwind geschieht, vergeht geschwind, kann nur von Planen verstanden werden, oder über die ganze Regel, wie über viele, ein Schwamm! Wer bald gibt, gibt doppelt, und wer schnell thut, ahmt Gott nach, der sprach und es ward.

Unter anderem behauptete er auch, daß Aristoteles durch den Alexander und Alexander durch den Aristoteles so groß geworden, als sie's wirklich waren. Mali corvi malum ovum! Einer [71] war stolz auf den andern; wie er denn auch der Meinung war, daß solche außerordentliche Leute, wie Alexander, an dem nichts mittelmäßig als seine Gestalt war, und der unter den Großen der Flügelmann ist, nicht vierzig Jahre alt würden, und daß große Eigenschaften auch große Laster, oder wenigstens große Fehler zu ihren Waffenträgern hätten.

Alexander, sagte er, thäte alles der atheniensischen Avisen wegen, allein er nehme mir nicht übel, daß ich ihm nicht beitreten kann. Er, welcher die ganze Welt für eine Festung ansah, wo ihm nur verstattet worden, auf den Wällen herumzugehen, sollte des Wandsbecker Boten wegen in Athen? – – – Nein, die späteste Nachwelt war sein Ziel; unser Dorf, wo Er gespielt wurde, war seine Aussicht, und wahrlich, wir sind nicht die ersten Kinder, und werden auch nicht die letzten seyn, die den Alexander spielen. Diese Geschichte hat viel Unheil in der Welt angerichtet, vom Brudermörder Caracalla an bis auf den heutigen Tag wird sie ins Große und ins Kleine gespielt, allein es geht, leider! dabei nicht so ruhig zu, wie in – und in unserm Dorfe, wo Gottlob! kein Blut vergossen wird.

Und ich? warum vergieß' ich Tinte, warum ergreif' ich die Feder? warum bin ich Alexander und Q. Curtius Rufus in einer Person? Das ist ein gordianischer Knoten im ganz besondern Sinne! Einer wird sagen, um in der – gelobt oder (wie ich vorlaut bin!) recensirt zu werden, ein anderer, um über tausend Jahre den Jungen im Dorfe zum Marionettenspiele zu dienen, ein anderer – die Zeit wird's lehren.

Schon vor vierzehn Tagen sagte ich übermorgen! und legte also eine schriftliche Zusage ab, an diesem Uebermorgen meinen Lesern den Zeitpunkt zu bestimmen, wenn mein Vater den zweiten Diskant rühmlichst mitzusingen angefangen, um sie in diesem Sinne nicht länger absque die et consule zu lassen. Ich hätte [72] keine Stundung ober Tagung vonnöthen gehabt, wenn nicht ein guter Freund, der nach Gastrecht zu behandeln war, diesen Aufschub veranlasset. Heute will ich meine Schuld abtragen, wenn ich zuvor meinem guten Freunde eine glückliche Reise gewünscht habe.

Damit ich alles siguire, war's in meinem vierzehnten Jahre, da ich ohne Hoffnung krank darnieder lag. Mein Vater konnte nicht begreifen wie's zuging. Bei einer solchen Bewegung an Leib und Seele, sagte er, wo kommt das Uebel her?

Vom betrübten Sündenfalle, half ihm meine Mutter aus, denn alles Böse war bei ihr ahnenreich und vielschildig.

Vom betrübten Sündenfalle, seufzte mein Vater, und meine Mutter sang aus vollen Seelen- und Leibeskräften:


Heut' sind wir frisch, gesund und stark,

Sieh, morgen liegen wir im Sarg;

Heut' blüh'n wir wie die Rosen roth,

Bald krank und todt,

Ist allenthalben Müh und Noth.


Mein Vater, der diesen Vers mit vieler Andacht gehört, doch aber noch nicht mitgesungen hatte, verfolgte seine Zweifel. Seine Meinung, um sie zu filtriren, war, daß ein Mensch, der der Natur getreu wäre, und ihrem Fingerzeige folge – denn es ist Gottes Finger, setzte er hinzu – daß ein solcher Mensch, der seiner Seele und seinem Körper nicht zu viel, nicht zu wenig thäte, nicht krank werden, und ehe er achtzig erreicht hätte und das Gewicht abgelaufen wäre, auch nicht sterben könne.

Allein die Thiere, sagte meine Mutter, sind krank, ehe ihre Stunde schlägt.

Thut alles nichts zur Sache; Hausthiere sind wie Menschen am Hofe. Sie sind verwöhnt. Wilde Thiere, das wäre ein Einwand, allein nur ein scheinbarer, denn der Mensch hat Verstand.

[73] »Nur nicht in seiner Kindheit; selbst wenn er älter wird, verdirbt er sich den Magen.«

Dafür hat ein Kind Vater und Mutter. Der Eltern Verstand ist der seinige. Ist er erwachsen und übertritt sein bescheiden Theil, trifft's meine Regel nicht.

»Aber wenn Vater und Mutter schon krank sind, ehe sie ein Kind in diese Hütten Kedars setzen; ich sag's nicht von uns beiden.«

Du hast Recht. Gottlob! aber wir sind frisch, gesund und stark, wie du gesungen hast.

»Indessen etwas fehlt einem jeden, und wenn er ein Gesicht wie ein Stettiner-Apfel hätte. Wir haben alle einen Schaden und der kommt von Adam her, du magst sagen was du willst. Siehst du, wie ich durch die offene Thüre beim betrübten Sündenfalle bin. Hast du nicht selbst gesagt, Thoren! sie wollen das Fleischessen auf einmal abbringen! das Kind kommt schon mit Fleischhunger und Bischofsdurst auf die Welt. Allmählig und durch fünf Generationen (wars nicht so?) muß es erst zur Natur reducirt werden. Da siehst du, wie ich deine Prose behalte. Ich habe noch in meinem Leben nicht so geistlich mit dir gesprochen, wie jetzt. Gott Lob für diesen Tag!«

Wenn du so den Fall Adams nimmst, hast du Recht; kann aber der liebe Junge nicht aufstehen? Arbeit ist die beste Arznei wider den Tod. Auch ein Kranker sollte arbeiten, wenn's nur so viel ist, als er zu seiner Beköstigung braucht. Das ist wenig! Die Natur hat ihm nicht mehr auferlegt, als er ertragen kann. So allmählig, als ein Kranker Appetit bekommt, fängt er auch an besser zu werden.

Ich. Vater, ich kann nicht mehr auf, kann auch nicht mehr essen.

[74] Mein Vater. Armer Junge! (Geht ab. Ich wollte versuchen aufzustehen.)

Meine Mutter. Bleib, bleib! Es ist immer besser, die Krankheit trifft uns auf dem Bette, als auf dem Felde. Davon weiß ich auch ein Lied zu singen! Gewisse Krankheiten wollen wie vornehme Leute behandelt werden; man muß ihnen entgegen – ein Flußfieber nimmt's so genau nicht.

Mein Vater kam wieder, faßte mich an die Stirn und Hände, und ich konnte an seinen Augen in Frakturschrift lesen, was er, sobald er merkte, daß ich hereinsah, vor mir verbarg.

So sehr mein lieber Vater wider die Aerzte war, die er wie die Beichtväter und Gewissensräthe für etwas hielt was uns und unsern Gott und die Natur, sein Werk, von einander schiede, so gab er doch dem Verlangen meiner Mutter nach, die sich ihr Votum nicht nehmen ließ.

Oft habe ich ihn sagen gehört, ohne Arzt stirbt man leicht und schnell. Mit einem Arzte stirbt man täglich. Wer bis in seinen letzten Augenblick lebt, wer beharrt bis aus Ende, stirbt nicht – er wird lebendig gen Himmel geholt, und dieß alles kann man nur ohne Arzt. Dieß und noch mehr sagte er sehr oft, allein jetzt blieben diese schönen Sprüche weg, er schrieb an denDoctor Saft, der sechs Meilen von meinem Puls entfernt war, und machte ein Gesicht als ein Referent, der von seiner Meinung durch die Mehrheit abgestimmt ist.

Die Antwort des Doctor Saft traf ihm das Herz. Er war nicht mehr. Er bestätigte mit seinem Beispiele, daß uns die Aerzte feig machen, indem sie Gefahren aufdecken, die vor uns verborgen sind.

Meine Mutter hingegen war so sanft wie ein Lied. Er nahm sie an der Hand, zeigte ihr den saftischen Brief, und sie, ohne Schrei ohne Ach, stimmte an, ihre Augen gen Himmel:


[75]

Da wird uns der Tod nicht scheiden,

Der uns jetzt geschieden hat;

Gott der Herr wird selbst uns weiden

Und erfreu'n in seiner Stadt.

Ewig, ewig für und für,

Ewig, ewig werden wir

Mit einander jubiliren

Und ein englisch Leben führen.


Noch sang mein Vater nicht mit. Seine Seele war versunken in Schmerz. Meine Hoffnung, sagte er, die der Herr bei meinem stummen Gram mir in einem fremden Lande aufgehen ließ: ein Nachtfrost, und siehe da –

Er hat große Hitze, sagte meine Mutter.

Gütiger Gott! laß ihn mir, laß ihn einem Unglücklichen, der für sich lange die Wünsche aufgegeben, zu dem Staube seiner Väter versammelt zu werden.

Herr Superintendent Alexander Einhorn, fiel meine Mutter ein, liegt in Curland begraben, –

O mein Sohn! sagte mein Vater;

und meine Mutter: er hat die Kirchenordnung im Jahre ein tausend fünf hundert und siebenzig verfertigt; –

O mein Sohn! sagte mein Vater;

und nach ihm blieb die Superintendenten-Stelle vierzehn Jahre unbesetzt.

O mein Sohn! beschloß mein Vater, der sich in seinem Gebete nicht hätte stören lassen, wenn's eingeschlagen hätte. O mein Sohn, mein Sohn! wollte Gott, ich könnte für dich sterben!

Hierauf sagte meine Mutter kein Wort.

Ich sah bei dieser Gelegenheit, was ich oft gesehen, daß das schlecht und rechte Christenthum eine edle Gleichgültigkeit, einen gewissen Liederton im Leben wirkt, der uns bei allem in der Welt, [76] wär's auch ein Alexander-Verlust, Ruhe ins Herz weht. Mein Vater schlug wie Petrus mit dem Schwerte drein. Seine Religion war ein höheres Halleluja, welches aber für die Vollendeten gehört, und das für die Zeitlichkeit nicht zu seyn scheint. Bald sind wir zwar, wenn wir uns in diesem höhern Chor befinden, entzückt bis in den dritten Himmel, bald aber schreien wir: Herr hilf uns, wir verderben!

Lange stand mein Vater mit gelähmter Seele, allein meine Mutter brach diesen Seelenschlaf durch einen freundlichen guten Morgen.

Eins, sagte sie, lieber Mann, bedaur' ich.

Ich mehr als Eins, sagte mein Vater; und was ist dieses Eine? mein Kind! fuhr er mit einer bedeutenden Miene fort.

Meine Mutter nahm ihn (ohne ihm zu antworten) bei der Hand, und drückte ihm ein wiederholtes liebliches: Was denn? heraus.

»Daß ich ihn predigen gehört.«

Mein Vater seufzte laut, ohne ein Wort zu sagen.

Nach ihrer Meinung hätte mir eine Predigt einen gewissen Rang im Himmel zutheilen müssen. Ob ich nun gleich nicht die Kanzel bestiegen, so versicherte mich jedennoch meine Mutter, da mein Vater mit gekreuzten Händen hinausgegangen war, daß sie mir ebenfalls ein Monument in der Speisekammer errichten würde. Der alte Herr, sagte sie, soll deinenNamen in Mitau zum Druck befördern, und da du von deinem lieben Vetter eine schreckliche Aehnlichkeit hast, ist euch beiden geholfen.

Von den sechs Nägeln für einen Vierding sind noch zwei übrig. Verlaß dich auf deine Mutter!

Dieser an sich unbeträchtliche Umstand von den zwei übriggebliebenen Nägeln fiel mir so auf, daß ich von dieser Minute an den letzten Rest meiner Hoffnungen einbüßte, und meinen ungezweifelten [77] Tod in den zwei Nägeln sah. Wären wohl zwei Nägel übrig geblieben, wenn es nicht darum gewesen wäre, deine Grabschrift zu befestigen, dacht' ich, und warum würden wohl sechs Nägel für einen Vierding zu haben seyn, wenn ich nicht dießmal sterben sollte? Ich war kein Alexander mehr, und ich fühlte es, daß die Medicin mit der Einbildungskraft stritte und dieses letztere überwand. Es schlug nichts an.

Wenn er nur ein einzigesmal gepredigt hätte, wiederholte meine Mutter; und mein Vater, der bei dergleichen Irrthümern sonst ein sehr heftiger Widerleger war, that nichts weiter als seufzen. Eine totale Sonnenfinsterniß lag auf seiner Seele, sein Herz konnte nicht ins Geleise gebracht werden. So vergingen drei bis vier Tage. Werde ich sterben? fragt' ich. Gott kann dir helfen! sagte er; und meine Mutter, wie Gott will! und beide, Amen!

Nach einer Weile zog ich meine Mutter fest an mich: »Ei, die zwei Nägel?« Sie glänzten mir so schrecklich, als die Kometen dem gemeinen Manne. Wie verstellt die Verzagtheit, die Mutter der Hypochondrie, die Geberden eines jeden Dinges?

Meine Mutter, ohne die Frage in ihrem Umfange zu denken, antwortete: Sie sollen dein!

Ach! war meine Antwort;

Und hilft dir Gott, fuhr sie fort, hänge ich deine Lieblingswürste dran.

Die, sagte ich, Liebe, die – ich konnte sie vor Freuden nicht bestimmen.

Eben die, erwiederte sie.

Das war Medicin. Ich sammelte mich. Die Kometen verloren ihren Schein. Ich sah, anstatt meines Namens im Druck, zwei kleine Würste. Ich bekam Appetit und hätte gewiß alle beide aus freier Faust aufgegessen, wenn nicht alsdann die beiden Nägel wieder vacant geworden wären. Ich schlief die Nacht, und wenn [78] mein Vater nicht noch ganz verfinstert gewesen wäre, würd' er aus meinen Augen eben so viel gelesen haben, als ich zuvor aus den seinigen las.

Ehe noch das Fatale interponendae und introducendae abgelaufen und mein Leben ober Tod res judicata (eine rechtskräftige Sache) war, bekam mein Vater einen Brief, für den er viel Postgeld bezahlen mußte, und dieser Brief brachte ihm den zweiten Diskant mit, den meine Leser ihn sogleich singen hören werden.

Er las diesen Brief, las ihn wieder, und da er ihn zum drittenmale anfing, rief er mit wehmüthiger Stimme: Licht! Es ist aus! – Gott! – schrie ich – aus! und meine Mutter: aus!

Wenn er lieber auf die Würmer curirt hätte? fragte meine Mutter meinen Vater; nicht wahr? lieber auf die Würmer?

»Es ist aus!« sagte mein Vater. Der Stärkste in seiner Kunst ist Saft nicht, fuhr meine Mutter fort. Ich wette, er ist da Doctor geworden, wo der alte Herr Literatus gewesen ist. »Gottes Wege sind nicht unsere Wege!« sagte mein Vater. »Im fünf und vierzigsten Jahre seines Alters im Herrn entschlafen!« Wer? fiel meine Mutter ein, Doctor Saft? ist er todt, der geschickte Mann? Curland verliert viel an ihm!

Mein Vater. Die letzte Stütze des Hauses!

Meine Mutter. Er hat noch einen Bruder!

Mein Vater. Licht! Licht! Licht! Licht!

Meine Mutter. Wie! todt? am Schlagfluß?

Mein Vater. Alles todt! alles todt!

Meine Mutter. Mit Weib und Kind?

Mein Vater. Licht! Licht!

Man brachte ein Licht.

Noch eins! sagte er, und nachdem er beide Lichter (es war heller Tag) hingestellt hatte, nahm er eine Handvoll Papiere, die [79] sich mit dem neuen Briefe, für den er eben so viel Postgeld bezahlt hatte, begrüßten, und nachdem er diese Papiere allzusammen gen Himmel gehalten, sagte er: »wie du willst, unbegreiflicher Gott!«

Er steckte an, und noch hör' ich die wehmüthige Stimme! Wir sind Staub, und unsere Hoffnungen Staub und alles Staub! Hier verbrannte er sich die Finger, indem er das eine Papier nicht zeitig genug fallen lassen. Heilige Asche, diese Thräne sey Weihwasser für dich. Mit dir, geweihter Staub! will ich den Sarg meines Sohnes begrüßen. Du bist Erde und sollst zur Erde werden.

Cleopatra, die eine Perle austrank, sagt' er nach einer Weile, hat nicht mehr verzehrt, als ich heute, und kein Lucius Plaucius hat die andere Perle gerettet.

Die Nägel fingen wieder an zu blinken, ich sah meinen Tod vor Augen, und empfand, wie es einem jungen Menschen von vierzehn Jahren zu Muthe ist, wenn er sterben soll.

Freilich hätte mir einfallen können, daß ein Brief vom Doctor Saft und so viel Postgeld nicht im Verhältniß wären; doch fiel es meiner Mutter so wenig wie mir ein.

Mein Vater zog mit dem Doctor Saft über mein Leben schriftlich Schach. Mein Vater schrieb ihm seinen Zug, der Doctor den seinen, und die Verwirrung, die mein Vater durch das Wort aus, welches ein schreckliches Wort ist, und durch die zwei Lichter am hellen Tage, welche zum Worte aus eben so schrecklich abstechen, erregt hatte, brachten meine Mutter und mich auf den Gedanken, Doctor Saft hätte Schachmatt gesagt. Das Feuer ist ein vernichtendes Element! Noch schaudert mir die Haut, da ich diese Papiere brennen und in Asche, ohne Leben und Bestand und Saft, verwandeln sehe; solch einen Eindruck machte dieses Feuer auf mich. Ich würde meinen Leib um alles nicht verbrennen lassen, und viele[80] meiner Leser, welche bedenken, daß die Verwesung zugleich eine Geburt sey, werden mir beitreten.

Die Art, wie mein Vater anfänglich die Sache betrieb, ließ mich vermuthen, Doctor Saft hätte unbedachtsam gezogen, und was mich noch freut, ist dieß, daß ich dem Doctor Saft nicht fluchte.

Gott verzeihe ihm, sagte ich, und meine Mutter setzte hinzu: aus Barmherzigkeit!

Nachdem wir beide, meine Mutter und ich, aus den abgebrochenen Reden einen andern Schluß zogen, Doctor Saft wäre nämlich vorausgegangen, wünschten wir ihm beide aus gutem Herzen eine glückliche Reise; ich will ihm abbitten, sagte ich, wenn ich ihn im Himmel sehe, daß ich ihn unrecht verdacht habe. Nach vollbrachtem Opfer sah ich eine Thräne nach der andern die Wangen meines Vaters herabfließen und die Papierasche, die sonst verflogen wäre, anleimen.

Es sey nun das weinende Auge meines Vaters, oder das unrichtig vermuthete Schachmatt des Doctors, oder sein selbsteigener tödtlicher Hintritt die Ursache, die meine Mutter zum Singen brachte, sie fing an:


Gott eilet mit den Seinen –


und bei der zweiten Strophe fiel mein Vater im zweiten Diskant ein (zum erstenmale hören ihn also meine Leser mitsingen):


Läßt sie nicht lange weinen

In diesem Jammerthal.


Wenn ich jetzt die Sache überlege, finde ich, daß ich eigentlich damals nur einen Sterbenden vorstellte; ich starb schön, ich starb poetisch, denn mein Körper hatte sich von den zwei kleinen Würsten erholt. Mein Herz war aber aller der Vorgänge wegen im fünften Akte des Trauerspiels. Ich war bewegt – ich sah alles mit mir [81] sterben; bis auf die Lichtputzerin zu weinte alles (ich weiß nicht, ob es die königliche Frau Mutter oder ein anderes Geschöpf war).

Eine Bitte habe ich an Vater und Mutter, fing ich nach einer langen Stille an.

Meine Mutter, die unfehlbar sich vorstellte, daß es wegen des Monumentes in der Speisekammer wäre, fragte leise: »an beide?« Ja, liebe Mutter, und gleich, lieber Vater, sagte ich laut. Sprich, sagten sie beide. Verlasset – hier weinte ich zärtlich – Minchen, des alten Herrn Tochter, nicht. Gut, sagte mein Vater; warum? fiel meine Mutter ein. Weil ich sterbe und mich ihrer in dieser Welt nicht annehmen kann, liebe Mutter. Schade, daß ich es nicht kann! Wie ich Alexander und sie die Tochter des Darius war – denke nicht mehr daran, sagte meine Mutter; wollte Gott, du wärest Joseph und die alte Babbe (Barbara) Potiphars Weib gewesen – hab' ich gefunden, daß sie verdiente, Königin zu seyn. Ich habe ihr nie gesagt, daß ich ihretwegen des Amtmanns – – Christoph zwei Finger gelähmt – Gott stärke sie, wenn es dem Christoph nützlich und selig ist. Ich meine seine beiden Finger. Christoph behauptete, Minchen sey verwachsen; das ist sie nicht, sagt selbst, liebe Eltern! Das ist sie nicht! versicherten beide, und ich fügte noch einmal hinzu: das ist sie nicht. Nach meinem Tode, fuhr ich fort, entdecke ihr, liebe Mutter, meinen Streit mit Christoph und daß ich ihr gut gewesen bis in den Tod; denn ich möchte gern, daß sie mich nicht vergäße und mir auch gut wäre bis in den Tod. Meinen Benjamin grüßt von mir, auch den Christoph. Die Sonne ging nicht unter während unserm Zorn. Grüßt das ganze Heer! – Nicht wahr, mein Vater, jetzt kann kein anderer als Benjamin im Dorfe Alexander werden? (Joseph, willst du sagen, sagte meine Mutter, und drückte mir die Hand.)

Alexander, erwiederte ich, will ich sagen. Meine Mutter sah meinen Vater an, mein Vater sah auf die Erde. Benjamin, fuhr [82] ich fort, hat zwar die rechte Hand nicht in seiner Gewalt, allein sonst ist's ein guter Junge. Ehrlich und treu wie der Wiederhall. Das Bein verwächst sich vortrefflich; und fallen gleich die lateinischen Reden weg, im Lettischen ist er Alexander. Minchen, Benjamin und ich waren Castor, Pollux und Helena. Ein Drittel dieses Dreiblatts welkt, Gott segne die Zurückgebliebenen mit dem Thau seiner Gnade. Wenn Minchen heirathet, ich möcht' es nicht gern, wenn aber – sehet zu, liebe Eltern, daß sie einem ehrlichen Kerl ihre Hand gibt, und nun – und nun – hier stockt' ich – lebt wohl, meine theuern, lieben, gütigen Eltern, lebt wohl! lebt wohl! Hier nahm ich alle ihre Hände zusammen und küßte sie und sagte: Gott vergelte euch alles Gute. Dir, liebe Mutter, das Geräucherte unterm Kupferstich. Seyd Minchen und Benjamin gut, liebe Eltern, und wenn es seyn kann, laßt mich hinter der Kirche an dem großen schwarzen Kreuze begraben, wo mein liebstes Lager war. Lieber Vater, du weißt den Platz so gut wie ich.Minchen wird, das weiß ich, sich gern auch da begraben lassen – wenn anders ihr Mann es zugibt; und auch ihr, meine lieben Eltern, wenn ihr so gütig seyn wollet, ruhet zusammen mit mir bis an den Morgen des jüngsten Tages. – Dann gehe ich mit Minchen, wie ein Bräutigam mit seiner Braut, aus der Schlafkammer. Eine lange Brautnacht. – Mein Herz bebt vor dem Worte lange zurück! Gott schenke uns allen eine angenehme Ruhe! – Wir weinten alle. Die Thränen meiner Mutter flossen sanft, so sanft als ein warmer Mairegen. Mein Vater war heftig. Stirb, sagte er, im Namen Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat! und meine Mutter: Amen! und ich: Gott mit euch in alle Ewigkeit! und wir alle drei zusammen: Amen! Amen!

Nach einer kleinen Weile fragte mich mein Vater, ob ich noch Minchen, oder Benjamin, oder beide zusammen sehen wollte? – Minchen? sagt' ich heiter, Minchen? Nein – Minchen nicht, [83] lieber Vater, sie würde sich zu sehr grämen, wenn sie ihren Gemahl Alexander sterben sehen sollte. Sie hat mich bloß als Ueberwinder gesehen. Benjamin? auch nicht, er würd's ihr vorwimmern, was er gesehen, gehört und empfunden hat; Benjamin ist ein guter Junge, nicht wahr, lieber Vater? Er muß Alexander werden! Lange genug ist er Darius gewesen – und, in Wahrheit, es ist nicht viel, Darius zu seyn. Er und ich waren guteFeinde zusammen, eine Seele in zwei Leibern.

Dieses alles brachte mich auf ein Codicill. Ich änderte mein Testament und bat meine Eltern, Minchen nichts, auch nichts vom Christoph, auch nichts vom großen Kreuze zu eröffnen, wenigstens die Publication des Testaments noch viele Jahre auszusetzen. Meine Mutter, die mit der Anfrage meines Vaters, die zwei Lieblinge meines Herzens noch in dieser Welt zu grüßen, unzufrieden geworden, freute sich, daß alles so vortrefflich beigelegt und der vorige Druckfehler verbessert war. Er ist schon ein Engel, sagte sie, und es war völlig klar in ihrem Gesichte. Werden wird er's, sagte mein Vater. Bei ihm sah es noch sehr finster aus. Der Platzregen hatte aufgehört, allein eine Gewitterwolke hielt ihn zurück, und man hörte von ferne ein Donnerwetter murmeln. Ich bin ruhig, sagte er, und das ist immer der größte Beweis, daß man's nicht ist. Nichts ist so leicht anzusehen, als Ruhe. Ein Hofmann selbst könnte sie nicht verbergen, wenn er die Ruhe je zu kennen die Gnade gehabt. Im Grunde war er so ruhig als ein Mann, dem Haus und Scheuern abgebrannt sind, und dem ein gutgesinnter Nachbar ein Kämmerlein mit einer Klinke eingeräumt hat.

Mein Feierabend bricht heran, willst du nicht, sagt' ich, Licht bringen, liebe Mutter! das hin und her thut wanken, bis ihm die Flamm' gebricht, alsdann fein sanft und stillelaß, Herr, mich schlafen ein!

[84] Meine Mutter setzte hinzu: Nach seinem Rath und Willen, wann kömmt dein Stündelein!

Mein Vater wurde von dieser letzten Oelung unterrichtet, ohne daß man dabei des Eierheiligen dachte, und seine Seele war gerührt. Es fielen große Tropfen.

Noch nicht, sagte meine Mutter zu mir, dein Auge ist noch zu hell. Dies soll das Letzte seyn, damit du die letzten Worte noch im Himmel singen kannst.

Mein Vater ermannte sich nach einer Weile, um mich mit der Stadt Gottes bekannt zu machen. Er hatte einen andern Himmel für ein Kind, einen andern für meine Jahre. Wir sprachen viel. Ich fragte ihn so, als ob er schon dagewesen, und er antwortete mir so. Ich will nur etwas anführen:

Seine Meinung war, daß die Verwandlung eben so groß nicht seyn würde. Wir können, sagte er, nichts mehr durch ein Seherohr sehen, was wir nicht schon durch's Auge gesehen haben.

In dieser Welt sehen wir in der Ferne eine Menge Menschen wie Dünste aus der Erde steigen, wie Gesträuch – im Himmel kommen wir diesem Menschenklumpen näher, wir kennen sie, wir geben ihnen die Hand; indessen blieb uns wohl auch in der Welt ein Haar auf ihrem Haupte verborgen? In der Welt ist alles gezeichnet, dort ist's ausgemalt. Was wir hier im Kleinen sahen, geht uns dort im Großen auf. Was ist in der Welt für eine Wissenschaft, die nicht schon in unserer Seele läge? Nur Licht hereingebracht und alles ist aufgedeckt – der gemeinste Mensch begreift alles, noch mehr, er weiß alles, was du ihm sagest. Gib ihm den ersten Buchstaben, er gibt dir den zweiten. Wir lernen nichts, was eigentliche Wissenschaft, bleibende Kenntniß, himmlische Wahrheit ist. Die Seele ist ein gestimmtes Instrument, das nur gespielt werden darf; und wenn du die Kunstwörter von der Sache abnimmst, diese Rüstung, die einem kleinen Körper das Ansehen [85] eines Riesen gibt, find'st du nichts Unerwartetes. Wenn du die Tressen vom Kleide absonderst, ist's dem gemeinsten Mann, als hätte er sein eigen Kleid an. Quantum est in rebus inane! Die Gelehrten bemühen sich weislich, dieses ihr Kunststück nicht zu verrathen, weil sie damit auf die Märkte ziehen, und große bunte Zettel drucken lassen, um sich für Geld zu zeigen.

Ist's denn Wunder, wenn der Gelehrte dem Ungelehrten in der andern Welt nichts nachgeben wird! O ihr Thoren, die ihr glauben konntet, ein Gelehrter würde dort schon eine höhere Klasse der himmlischen Glückseligkeit betreten, als ein Bauer. Der letzte wird in Wahrheit nur ein kleines nöthig haben, um dem Gelehrtesten gleich zu seyn. Der einzige Unterschied zwischen einem Gelehrten und Ungelehrten in der andern Welt wird seyn, daß der erstere mehr vergessen muß als der letztere, um himmlisch zu wissen, was er weiß; und was ist schwerer? vergessen, was man nicht halb, nicht ganz wußte, oder gleich die Sache beim rechten Ende fassen? Der Literatus (welches in Curland gemeinhin ein gekaufter Titel ist), wenn ihm auch dieses Diplom seiner Geschicklichkeit wegen ohne Geld und gute Worte zugestanden werden kann, hat nicht Ursache stolz zu seyn, denn der Unwissende unterscheidet sich von dem Wissenden bloß dann, daß dieser sagen, aussprechen kann, was beide wissen, und das erste Capitel von dem, was sie beide nicht wissen. Ein schönes Buch, das wirklich schön ist, das vom Herzen kommt und zu Herzen geht, was meinst du? Hast du das nicht alles gedacht, was drin steht? Du hast nur – eine Kleinigkeit – nicht das Buch selbst geschrieben. Du hast nichts gelernt, sondern nur mit diesem Buch Feuer in deiner Seele angefacht.

Mein Vater nahm Gelegenheit diese Sätze auf Vernunft und Religion anzuwenden.

Aber die Sprachen, sagte ich, lieber Vater?

[86] Nur eine ist da, und keinem wird ein Wort fehlen. Sieh! wie fein und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtlich bei einander wohnen, wird's von Gedanken und von Worten heißen. Es werden Zwillinge seyn, wie Nachbarskinder werden sie zusammenhalten.

Hier, fuhr er fort, lernen wir Sprachen, um mit der Natur umgehen zu können. Wir wollen uns ihr gern bequemen, und da ihre Hofsprache unbekannt ist, halten wir viele Sprachen in Bereitschaft, und kommen, da kein Mensch mehr als Eine Sprache recht wissen kann, mit einem Frachtwagen voll Grammatiken und Wörterbüchern, um bei der Königin Natur, mit Beihülfe dieser Dolmetscher, Audienz zu haben!

Die Natur versteht, wie Gott der Herr, eben so gut deutsch, als griechisch und lateinisch; auch sie will nicht mit Worten, sondern im Geiste und in der Wahrheit verehrt seyn. Eine Sprache ist der Hauptstuhl, das eigentliche Capital, die andern sind die Zinsen.

In dieser Welt sprachst du mit Gott deutsch. Jachnis spricht lettisch mit ihm. Wenn ein Deutscher französisch betet, läßt er sich vom lieben Gott französische Vocabeln überhören. Die letzten Worte sind alle in der Muttersprache, auch die letzten Seufzer so. Da kommt gemeinhin alles an Stell' und Ort. Man sagt sogar, daß sich das ganze Gesicht im Sterben verändere und der Hofmann wie ein anderer Mensch aussehe, und der Cain ohne Zeichen da läge, alles in Gottes Gewalt.

Zu jeder Sprache, das weißt du, lieber Junge, denn du hast außer der commandirenden deutschen mehr als eine, gehört eine andere Zunge und ein anderer Mensch. Von der in der andern Welt läßt sich, glaube ich, kein einzig Wort, auch nicht einmal lieber Gott, mit einer Menschenzunge aussprechen. Da fehlt's [87] am R, am H, am L, und an jedem Buchstaben. Eine Engelzunge ist uns vonnöthen.

Meine Mutter sang mitten unter dieser Predigt, da mein Vater Athem holte:


Wie herrlich ist die neue Welt,

Die Gott den Frommen vorbehält!

Kein Mensch kann sie erwerben.

Doch ist zu jener Herrlichkeit

Auch ihm die Stätte zubereit,

Herr! hilf sie ihm ererben.

Einen

Kleinen

Schall von jenen

Freudentönen

Schenk dem Schwachen,

Ihm den Abschied leicht zu machen.


Mein Vater lehrte mich nachdrücklich das Irdische, das Hinfällige, das Hektische in dem größten Theile der menschlichen Kenntniß, und da er nur ein wenig anhielt, fing meine Mutter wieder an:


Herr! wir wallen sämmtlich hier,

Da der Leib uns hält verschlossen,

Brüder! Menschen! was sind wir?

Fremd' und Reichsgenossen.

Unsers kurzen Wandels Lauf

Geht hinauf,

Da wir her entsprossen.


Historie, fuhr mein Vater fort, ist darum gut, damit sich nicht die Kaufleute freuen, wenn Kinder und Narren zu Markte kommen; und Erdbeschreibungen und Reisen zu Wasser und zu [88] Lande und Weltentdeckungen, damit wir uns selbst entdecken und kennen lernen.

Ich lese, das weißt du, sehr gern Reisen, um in mich selbst zu kehren; ich freue mich über jede neue Völkerentdeckung, weil ich hierdurch den Schlüssel zu mir selbst und zu meinem Nachbarn finde. Vom Anbeginn ist's so nicht gewesen, wie es jetzt in der Welt ist.

Meine Mutter hatte vieles in dieser Predigt gefunden, was ihr zu prosaisch war. Ihr Himmel bestand aus einer Schaar heiliger Sänger und Sängerinnen. Da, pflegte sie sonst zu mir zu sagen, werden wir nicht reden, sondern alles wird Musik seyn. Lauter Duettos und Terzetten, Recitative und – sie wandte indessen jetzt nur bloß mit dem Kopfe ein, den sie zuweilen von der Linken zur Rechten, wie die meisten Menschen ihre Köpfe zu schütteln gewohnt sind, schüttelte.

Wenn mein Vater nur etwas still hielt, wollte sie anstimmen, indessen konnte sie keinen Takt zu Ende kommen, mein Vater griff beständig plötzlich an.

Es ist ein Gott! deine Seele ist sein Hauch, er ist! er war! er wird seyn! Sein Bevollmächtigter ist das Gewissen. Du fühlst diesen Machthaber, wenn du ihn gleich nicht siehest, als einen gegenwärtigen Zeugen, wenn du im Stillen Gutes oder Böses thust. Er ist mit dir, er geleitet dich, um dich dort als Bürger in der Stadt Gottes einschreiben zu lassen mit einem neuen Namen, der über alle Namen in der Welt ist.

Gottes Güte, seine Gerechtigkeit ist's, daß wir im Tode nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat kein Ende! Neu ist sie am Morgen der Ewigkeit! Welch eine Sonne, die dann aufgeht! Welch ein Wort, Ewigkeit! Etwas ohne Ufer und ohne Grund.

Dort haben wir nicht nöthig, uns um einander zu bekümmern. [89] Die Eltern brauchen keine Pflege, die Kinder keine Stütze: Ganze wird unser Gegenstand seyn.

Gott, der in uns angefangen hat das gute Werk, wird's vollenden in Ewigkeit. Wir werden ihn sehen von Angesicht zu Angesicht, jetzt sehen wir ihn im Spiegel, der seine Welt ist, den er uns vorhalten ließ, und da unser Standort dunkel war, sahen wir nur wenig, nur daß er war! Dort werden wir sehen, was er ist!

Selig sind die Todten, die im Herrn sterben! Sie stärken sich durch einen sanften Schlaf zu himmlischen Beschäftigungen, um zu erwachen nach Gottes Bilde. Muß der Mensch nicht hier immer im Streite leben? Seine Tage sind wie eines Tagelöhners. Man legt ihn in die Erde, und wenn man ihn morgen sucht, beschämt ihn der Stuhl, wo er saß, das Buch, das er eben gelesen hat, denn er ist dahin; den Sucher ergreift ein Schauder. Heil dem, der in der Jugend vollendet wird! Er kommt froh zum Grabe, wie Garben mit Jauchzen eingeführt werden zu ihrer Zeit – du wirst liegen und schlafen ganz mit Frieden, denn allein der Herr hilft dir, daß du sicher wohnest – –

Zu allem diesem sprach meine Mutter den Segen. Empfange, sagte sie mit gerührtem Herzen, hierauf den Segen des Herrn:

Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über euch und sey euch gnädig! – und da kein Chor antwortet, setze ich, sagte sie, selbst hinzu: Der Herr erhebe sein Antlitz auf uns und gebe uns seinen Frieden, Amen!

Sie sprach diese Worte mit einer so zuversichtlichen Segensstimme, daß meine Seele das Licht sah, das mir leuchten sollte bei dem schrecklichen Todesgange, und die Hülfe empfand, die mir helfen würde bei dem allerletzten letzten Todesstoß.

Kaum hatte sie ihn aber mit Herzen, Augen, Mund und Händen ausgesprochen, ihr Auge war gen Himmel gerichtet, ihre [90] Hände hatte sie auf mich gelegt – kaum hatte sie Amen gesagt, so ward sie des Segens wegen verfolgt, weil der Candidat mit den langen Manschetten, der vor vieler Zeit, wie meine Leser sich erinnern werden, einen kalekutischen Hahn verzehren geholfen, während des Segensspruchs ins Zimmer getreten war. Es war dieser gute Mann in der Bauskeschen Präpositur, welche, so wie die Seelburgsche, den dreigliedrigen Segen angenommen hatte.

Der Herr Superintendent Alexander Gräven, unter dessen Regierung, wie meine Mutter zu sagen pflegte, ich leider! das Licht der Welt erblickt, hatte im Jahr eintausend siebenhundert und achtzehn den dreigliedrigen Segen eingeführt; indessen blieb meine Mutter, so wie beim alten Kalender, so auch beim alten Segen, wenn er gleich ein Glied weniger hatte.

Meine Mutter, die, wie Brutus, nicht mehr auf den Sohn ihres Leibes, sondern auf's Unsichtbare und Allgemeine, und was noch mehr war, die Ehre der Kirche und ihre Ordnung sah, gerieth in Paul Einhornschen Eifer, sprach wider die Regierung, nicht des Herzogs Ferdinand, sondern des Gräven, ärgerte sich, daß ich und er Alexander hießen.

Er, weil ein würdiger Einhorn so geheißen.

Ich, weil man außer vielen andern Bedenklichkeiten, die sie hatte, auf den, wie sie sagte, unseligen Gedanken kommen könnte, daß ich von diesem dreigliedrigen Alexander Gräven den Namen empfangen haben könnte.

Dem Herrn M. Adolph Grot, Pastor in Windau, der sich des alten Gebrauchs angenommen, setzte sie eine Märtyrerkrone auf, und dem Herrn Pastor Christoph Sennert, der des dreigliedrigen Segens wegen Kreuzzüge thun mußte, und in gewisser Art Fähnchenführer war, hatte sie keinen Segen auf den Weg gewünscht, wenigstens sollten seine Gebeine nicht im Vaterlande verwesen, welches auch nur, wie sie sagte, zweigliedrig wäre: Curland und Semgallen.

[91] Ich will nicht hoffen, daß eben wegen dieses Unsegens (Fluch war es nicht) dieser Grävensche Adjutant unstät und flüchtig geworden, und auch wirklich in der preußischen Grenzstadt Memel sein unruhiges Leben, wiewohl schlüßlich, wie Paul Einhorn, sanft und ruhig geendigt hat.

Es würde kein Segen für meine Leser seyn, wenn ich ihnen den Streit meiner Mutter und des Herrn Candidaten auseinander setzen sollte.

So viel zur Nachricht, daß dieser Segensstreit in Curland durch den landtäglichen Schluß vom einunddreißigsten Julius eintausend siebenhundert und dreiunddreißig, und durch die Verordnung vom neunzehnten August eintausend siebenhundert und dreiunddreißig, in der Art beigelegt worden, daß meine Mutter zwar nach der Zeit einsah, es sollte in Curland nicht mehr zweigliedrig gesegnet werden, indessen was sind Edikte und landtägliche Schlüsse dem Gewissen? Sie lebte und starb nach dem alten Kalender und nach dem alten Segen, und wenn sie gleich oft und viel nicht wider den Strom schwimmen konnte, hoffte sie doch, es werde alles ein Ende gewinnen, daß wir's könnten ertragen.

Den Ungläubigen, die vielleicht auf den Gedanken kommen könnten, daß ich ein Mährlein erzählet, zur Beschämung, will ich wörtlich die segensreiche Verordnung unter die Augen setzen, welche den neunzehnten August eintausend siebenhundert und dreiunddreißig in der Residenz Mitau gegeben worden:

»Von Gottes Gnaden Wir Ferdinand, in Liefland, zu Curland und Semgallen Herzog, geben allen Einsassen dieser Herzogthümer zu vernehmen, daß in diesem letzten landtäglichen Schluß vom einunddreißigsten Julius jetztlaufenden Jahres wohlbedächtig, und alle bisherige Discrepance und angewachsene Streitschriften unter den Geistlichen in diesen Herzogthümern einmal zu heben, den dreifachen Segen beizubehalten und durch Publicationes festzusetzen,[92] beschlossen worden. Dahero Wir denn, kraft dieses unsers Patents, sowohl dem wohlehrwürdigen und hochgelahrten Herrn Alexander Gräven, Superintendenti und pastori primario zu Mitau, als allen ehrwürdigen und hochgelahrten Präpositis dieser Herzogthümer, auch sämmtlichen übrigen würdigen und wohlgelahrten Pastoribus in Gnaden befehlen, daß sie solchen dreifachen Segen, der in verschiedenen Kirchen allhier bereits angenommen, sofort, wo es noch nöthig, gleichfalls einführen und den zweifachen künftighin nachlassen mögen. Gewärtigen auch ein Gleiches von den Priestern der adeligen Kirchen, und wollen gnädigst, daß zu aller Wissenschaft dieses Patent drei Sonntage nach einander in deutscher und undeutscher Sprache von den Kanzeln verlesen, auch nachgehends ad valvas templi affigiret werden soll. Urkundlich unter dem fürstlichen Insiegel und unserer Unterschrift. Gegeben in der Residenz Mitau den neunzehnten August eintausend siebenhundert und dreiunddreißig.«

Mein Vater, der es beständig mit dem weltlichen und nicht mit dem geistlichen Arme hielt, mischte sich gar nicht in diesen Segensstreit des Herrn Candidaten und meiner Mutter, obschon ich aus anderweitigen Aeußerungen weiß, daß er's dem Herrn Superintendenten nicht verzeihen konnte, daß derselbe eigenmächtige Veränderungen zu machen sich unterfangen hätte. Er war so gleichstimmig mit der wohlgebornen Ritter- und Landschaft, daß man glauben sollen, er selbst hätte den landtäglichen Schluß vom einunddreißigsten Julius eintausend siebenhundert und dreiunddreißig entworfen, den ich meinen Lesern aber nicht vor die Augen stellen will.

Jetzt war mein Vater während dem Segensrauch ganz still und blickte zuweilen auf mich, seinen zweigliedrig eingesegneten Sohn. Da es sich zum Waffenstillstande anließ, der dem Herrn Candidaten um so rathsamer war, als er während dem Streite [93] fallen lassen, daß er heißhungrig sey, indem invita Minerva wohl schwerlich ein kalekutischer Hahn wieder sein Theil geworden wäre.

Da, sag' ich, der Herr Candidat ins Winterquartier zog, nahm mein Vater das Präsidium bei diesem Disputationsactu und sagte etwas, was weder den Opponenten noch Respondenten traf.

Von Gott, fing er an, kommt aller Segen. Meine Mutter nahm dies Wort; wollte Gott, sagte sie, Sie hätten Segen für meinen Sohn mitgebracht!

»Hier ist ein Brief von Doktor Saft und er selbst wird auch noch heute hier seyn.«

Er lebt? sagte meine Mutter.

Und ich zu gleicher Zeit: er lebt! indessen setzte ich noch das Wort also hinzu. Wir hätten auch fragweise: lebt er? die Sache nehmen können, und ich hätte das also alsdann vielleicht gespart; indessen, wollten wir ohne Zweifel den Accent auf Er legen, und es war ein Frag- und Verwunderungszeichen bei den Worten: er lebt! an Ort und Stelle.

Der Candidat, der nicht zu wissen schien, ob vom geistlichen oder leiblichen Leben die Rede wäre, zog seine Handblätter weiter heraus, denn diese Frage war ihm in alle Wege so besonders, daß er die Antwort hervorziehen mußte.

Meine Mutter kam ihm entgegen und setzte die Frage durch eine andere ins Licht.

Ist er nicht todt? und nun waren die Manschetten heraus und die Antwort:

»Ich habe ihn frisch und gesund gelassen –«

Und woher todt? fragte mein Vater.

Diese Frage befremdete meine Mutter noch mehr, als ihre und meine Frage den Herrn Candidaten. Sie wollte indessen meinen Vater keiner Lüge beschuldigen und ihn öffentlich beschämen.

Mein Vater las den Brief und sagte mit einer Stimme: [94] außer Gefahr, daß es mir auffiel, mein Leben sey ihm nach den verbrannten Papieren gleichgültiger geworden. Es war ihm so, als wenn ein Sterbender eine Pension bekäme, auf die er zwanzig Jahre gehungert, oder wenn jemand, dem alle sein jetziges und künftiges Habe und Gut heut confiscirt ist, morgen hundert tausend Dukaten durch einen Rechtsspruch gewinnt.

Ich habe es oft erlebt, daß der beste Freund, wenn er seinen sterbenden Jonathan beweint hat, im Anfange gleichgültig ist, wenn er hört, dein Freund Jonathan lebt. Er schließt nach seinem erlittenen, nach seinem überwundenen Schmerze auf den, der ihm noch bevorsteht. Bei meinem Vater wie oben.

Welch eine Veränderung bei ihm! welch eine bei mir! Meine Mutter blieb, wie sie war; ich fühlte mich die Minute besser, da diese Worte ausgesprochen wurden. Es war Schlag auf Schlag. Die Krankheit hatte mich schon vorher verlassen, nur ich nicht die Krankheit. Ich getraute es mir nicht zu glauben, daß ich gesund wäre. Lieber Herr Candidat, Sie hätten, unter uns gesagt, den Segen zuletzt lassen sollen, wie es Sitte in der Christenheit ist.

Warum soll ich's läugnen, daß mir jetzt mein letzter Wille zusammt dem Codicill, in Absicht Minchens, herzlich leid zu thun anfing; ich möchte wissen, was die Ursache war? Ich wurde Mal auf Mal im Bette blutroth, als wenn mir das Gewissen ins Gesicht sähe. Um alles in der Welt willen hätte ich das Testamentum nuncupativum zurück gehabt.

So gern meine Mutter es wissen mochte, wie das ganze Briefmißverständniß entstanden wäre, unterfing sie's doch nicht, die Auflösung in des Candidaten Gegenwart abzufragen. Die verfluchten Briefe! überall, wo sie sind, sind Falten und Verwicklungen! Spitzet nicht eure Federn, Kunstrichter, wenn sie in Romanen und auf dem Theater große Rollen spielen. Es ist wahr, sie sind der faule Knecht für unsere Theaterdichter, denn wo [95] würden sie ohne Briefe einen gordischen Knoten hernehmen? Und wie würden sie die Knoten so alexandrisch, als durch eine Antwort auf diesen Brief entzweihauen? Allein, siehe da! wie die Natur spielt, auch in einer wahren Geschichte ein Brief! und gewiß nicht der letzte.

Die blanken Nägel waren mir nicht mehr im Wege, ich bekam Appetit, eine von den Würsten zu essen, die meine Stelle vertreten sollten.

Aus dem Bette, sagte mein Vater, wenn du essen willst! Kein Mensch muß im Bette essen und trinken. Es ist schon zuviel, daß man darin schläft oder stirbt. Wer auf der Erbe stirbt, stirbt auf dem Bette der Ehren. Er nimmt's mit der Krankheit auf.

Da stand ich, wie mich Gott geschaffen hat, bis auf's Hemde –

Obgleich meine Mutter es gern gesehen, wenn ich der Krankheit standeshalber das Geleite gegeben, übersah sie dennoch diese Sünde wider die Etikette, um vielleicht meinen Vater zur Erkenntlichkeit in Beschlag zu nehmen, welche darin bestehen sollte, daß er ihr zu seiner Zeit das Geheimniß des Briefes und der Feuersbrunst entdecken möchte. Ich glaub's schwerlich, liebe Mutter, wenn du nicht durch die Künste der Palingenesie – –

Der Doktor fand mich beim Geräucherten, und das war meinem Vater gewonnen Spiel. So, sagte er, sollte der Doktor jeden treffen; gelt! wir würden weniger Patienten und – mit Erlaubnis Herr Doktor – weniger Doktores haben. Der ehrliche Saft schämte sich, dem Puls die Hand zu geben. Nach einem Bedenken nahm er sein ganzes Doktoransehen zu Hülfe, fühlte wirklich Schande halber nach dem Pulse, indessen that er's verstohlen und so ungefähr, als ein hochwohlgeborner Herr, wenn er eines ehrlichen Bürgers Tochter geheirathet, seinem Herrn Schwiegervater die Hand gibt. – Ich riß mir die Hand los, um das abgeschnittene [96] Stück an seinen Ort zu stellen. – Der Herr Schwiegervater sollt's auch so machen.

Warum aber Geräuchertes? fragte der Doktor. »Weil er's gewollt« (mein Vater und meine Mutter). Hierin war meine Mutter mit meinem Vater gleichlautend, denn sie hatte Beispiele, daß viele Leute mit Sauerkraut von hitzigen Fiebern, und kalten Fiebern, und faulen Fiebern, und Flußfiebern, und Seitenstechen, und Entzündung der Lunge, und Entzündung der Leber, und Entzündung des Gekröses, und Frieseln und Schlagflüssen, und Herzgespann und vielen Suchten und Gichten kurirt wären. Die Stimme des Magens war ihr eine heilige Stimme.

Der Doktor Saft und sein Freund, der Herr Candidat, fanden für gut, drei Tage bei uns zu bleiben. Ich will nicht hoffen, Herr Candidat, um auch hierin dreigliederig zu seyn! Meiner sonst gastfreien Mutter waren sie unausstehlich, denn sie ward wegen des Briefstaubes durch die Gegenwart entsetzlich gemartert. Es zog der Doktor Saft während dieser drei Tage mit andern Leuten in der Nachbarschaft Schach, und war fröhlich und guter Dinge, als ob er immer gewönne.

Schon ehe der Doktor angekommen war, hatte mein Vater den Staub, der mich am allerersten als seines Gleichen bewillkommen sollte, in weißes Papier eingesargt; ich glaube, es war ein großer Bogen Postpapier, weil, wenn gleich die Thränen nicht alles zurückhalten können, und vieles in die Luft gesprengt war, doch immer von einer Handvoll Papier ziemlich viel geweihete Asche zurückbleiben mußte.

Es schien mir indessen, da ich zusahe, daß mein Vater diese Asche nur vorderhand in sein Nußbaumschränkchen beisetzte, weil der Paradesarg noch nicht fertig war.

Kaum hatte der Doktor, der unvermuthet nach drei Tagen zum Uhrwerk eines andern Pulses zu reisen nothwendig fand (sonst [97] wär' er länger geblieben), mit seiner Hand meinem Vater und Mutter zum letztenmale einen Kuß zugeworfen und sich tief herausgebogen, kaum war er ihrem Auge entfahren (der Candidat, sein Freund, war eine Stunde früher ohne eine solche feierliche Begleitung und ohne einen Kußwurf abgereiset), fing meine Mutter an:

Der Brief – – – Um Verzeihung, liebe Mutter! warum? Schach dem Könige! warum gleich mit dem Hauptworte? Eine Hauptschlacht ist bei einer solchen Gelegenheit nicht immer das rathsamste. Warum so geradezu und nicht durch ein Strategem? Für Helden, die in einem Jahre die Geographie so unbrauchbar machen können, wie den vorjährigen Kalender, ist freilich kein Strategem; eine liebe Frau Pastorin aber, die keinen Beruf zur Amazonin hat, kann den Vogel im Neste greifen.

Was für ein Brief? erwiederte mein Vater. Mich dünkt eine schlechte Deckung auf Schach dem Könige. Meine Mutter war auf diese Frage unvorbereitet, indessen verlor sie noch nicht den Muth; sie hatte Hülfsvölker in Bereitschaft.

Den du eingeäschert hast, sagte sie, und setzte in einem Tone: mein Kind, dazu, daß man wohl einsah, wie sie, wenn es nicht anders wäre, auch zum edeln Frieden bereit sey. Noch streckte sie indessen nicht das Gewehr. Ich hielt ihn, sagte sie, für einen Brief vom Herrn Doktor Saft (sie nannte ihn Herr, welches sie mit Anwesenden selten that, es wäre denn, daß sie vom Herrn Superintendenten gesprochen hätte; auch die Herren Praepositi hatten schon diesen Vorzug, nur der Bauske'sche und Seelburg'sche ausgenommen, die Dichter hatten alle Herr).

Dieser Brief hat uns alle in Unordnung und Verwirrung gebracht. Ich dachte, Saft sey todt.

Du hast unrecht gedacht, mein Kind.

Aber der Brief, sagte meine Mutter. Sie war einmal in Unordnung, und wie eine Uhr, die unrichtig ist, so lang von eins bis [98] zwölf immerfort schlägt, bis das Gewicht abgelaufen ist, war auch sie mit ihrem: der Brief.

Glaube mir, mein Kind, erwiederte mein Vater, es gibt nicht Aerzte, Wundärzte gibt's hier und da einen. Hier folgte ein langes Kapitel für und wider die Aerzte, wodurch meine Mutter in eine solche Enge gebracht wurde, daß sie nicht aus noch ein wußte.Ehre den Arzt, sagte sie in der Verwirrung; allein welch eine allgemeine Ursache? erwiederte mein Vater; denn der Herr hat ihn gemacht. Wenn dem Arzte keine andere Ehre zukommt, so sind sie eben nicht hochgeehrt! Was thun sie auch? Sie sind unsere Peiniger. Sie suchen eine Ehre darin, daß wir durch ihre und nicht durch die Hand der Natur sterben. Sie sind privilegirte Giftmischer und subtile Todtschläger, die ein Recht promovirt haben, tödten zu können; und wenn's ihnen glückt, wenn sie einen Menschen auf ein halb Jahr befristen, ist's ein Mensch? eine Mißgeburt ist's, ein im Reich der Todten Angeworbener. Wer einen Arzt annimmt, hat vom Tode Handgeld genommen. Aerzte sind seine Werber! Mein Vater sprach den Recepten Ehre und Redlichkeit ab. Hätte die Natur nicht gemischt, wenn die Mischung nöthig gewesen? Er wollte, daß man den Aerzten den Proviant abschneiden und die Apotheken zerstören sollte. Den Arzeneien aus dem Pflanzenreiche ließ er Gerechtigkeit widerfahren. Wenn ein Arzt, fuhr er fort, krank wird, kurirt er sich nicht selbst, sondern ersucht seine Herren Kollegen, Standrecht über ihn zu halten. Er selbst weiß wohl, daß er nichts weiß; indessen mit der Kunst geht's ihm wie einem Lügner mit der Lüge, die er oft und viel für Wahrheit ausgegeben – wie einem Schwarzkünstler. – Der Arzt hält die Kunst am Ende selbst für Wahrheit, und denkt, die Unwissenheit hab' an ihm gelegen. Ein kranker Arzt schickt also zu andern Aerzten, und diese, wenn gleich sie den Kranken wegen seiner zeither geleisteten vielen Wunderkuren, wodurch er sie bei [99] weitem übertroffen, von Herzen beneiden, denken doch, heute mir, morgen dir! und würden dem Herrn Kollegen gern helfen – wenn sie nur könnten. Wenn die Natur sich selbst nicht mehr helfen kann, ich möchte den Arzt sehen, der Naturstelle vertreten könnte? – Wie kann er den Weg wissen, den die Natur will? Geht sie zur Rechten, so will er zur Linken. Geht sie zur Linken, will er zur Rechten, und am Ende – da sie sieht, man traue ihr nicht, man haue sich Brunnen, wo kein Wasser ist, wird sie der Neckerei überdrüssig, und dieß ist das Gericht der Verstockung im leiblichen Sinn. – Am Ende weiß er, was nicht alle wissen wollen, die Signa mortis, obgleich auch selbst hiebei viele Ungewißheiten vorfallen.

Wie meiner Mutter bei allem diesem zu Muthe gewesen, kann ich mir sehr klärlich vorstellen.

Sie wollte indessen noch einmal eine Schwenkung mit der Fahne versuchen; wer weiß, dachte sie, ob sich die zerstreuten Leute nicht sammeln. Sie sagte, was sie schon oft gesagt hatte, und was ich meinen Lesern nicht mehr sagen mag; weiter nichts, als –der Brief – und mein Vater machte ihr ein Gesicht, das ich einem jeden Ehemann als ein probates Hausmittel empfehlen würde, wenn seine Frau zu oftder Brief sagt, und wie eine verdorbene Uhr in einem Zuge von eins bis zwölf schlägt, wär's auch das beste Weib in der Welt und eine liebe – – Ein Gesicht dieser Art hat seinen guten Nutzen. Eigentlich sollte ich nur sagen das linke Auge, denn über das ganze Gesicht darf es sich nicht verbreiten, auch das rechte Auge kann frei bleiben, oder darf diese feindliche Einquartierung nicht einnehmen. Dieß ist das einzigste, was ich einem Manne von seiner Herrschaft zugestehen kann. Es ist dieß Gesicht so sehr von Zorn entfernt, daß der Ehemann hiebei seiner Frau die eine Wange küssen kann.

So oft mein Vater dieses Gesicht machte, blieb meine Mutter plötzlich still, und das geschah oft mitten im Wort, so daß sie zuweilen [100] a – anfing, das ber indessen hatte das linke Auge meines Vaters getroffen. Arme Mutter! wenn du nur besser angefangen hättest. Warum eben »der Brief!«

Kurz, meine Mutter erfuhr nicht, wo der Brief herkäme, und wie's mir vorkam, konnte sie auch nicht einmal auf Spuren kommen; so total war sie aufs Haupt geschlagen. Sie zog ohne Ehrenzeichen aus ihrer Festung, ohne Unter- und Obergewehr, ohne klingendes Spiel, ohne fliegende Fahne, brennende Lunten, Kugel im Munde, und ohne zwölf Schüsse für ihr Gewehr, großes und kleines –

Ich aber war völlig bei mir überzeugt, daß dieser Brief daher käme, wo man die Spargel früher als in Curland ißt, gleich früher in der freien Luft eine Pfeife raucht, den Wein mit der Hand aus der Quelle trinkt, und lange Manschetten trägt.

Wenn man die Augen zuhält, kann man genauer und richtiger überlegen. Zum Erfinden muß man sehen, zum Anordnen kann man blind seyn. Ein großer Kopf, der sehen und blind seyn könnte, wenn's die Umstände erfordern, müßte größer als Homer werden.

Die Umstände, die mein Vater mit dem feierlich verbrannten Briefe machte, und andere während meiner Krankheit von ihm verstreuten Worte, brachten mich auf den Gedanken, daß er von seiner Familie schlechte, unerwartete Nachrichten erfahren haben müßte. Mehr unbekannte Zahlen konnt' ich aus den gegebenen nicht heraus bringen, und gewiß, ich war weiter als meine arme Mutter, die noch nicht einen Finger breit näher vorrücken konnte, als sie ausgezogen. Meine Besserung indessen vergnügte sie so sehr, als sie meinem Vater gleichgültig schien.

Kaum war ich gesund geworden, so ermahnte mich mein Vater, daß ich mich auf die Theologie legen und mehr Fleiß als zeither darauf verwenden möchte. Ein Geistlicher, fing er an, ist der glücklichste Mensch in der Welt. In seiner Seele ist beständig Frühling, wo es weder zu kalt noch zu warm ist. Die Leidenschaften kommen [101] nie bei ihm in gewaltige Bewegung. Dinge der Zukunft sind seine Beschäftigung, und ein Mensch, der nicht von Stande ist, kann keine bessere Lebensart als diese ergreifen, wobei er hoffen lernt. Er beklagte, daß er keine Gelegenheit gehabt, die Grundsprache ex professo, wie er sagte, zu erlernen, segnete das Andenken des Conversus, der ihn jüdischdeutsch gelehrt hatte. Wenn's auch nur wäre, weil der Herr und Meister unserer Religion die hebräische Sprache geredet hätte, sollten wirs thun (nämlich hebräisch lernen) zu seinem Gedächtniß.

Wie vergnügt meine Mutter über diese theologischen Anstalten war, kann man sich sehr leicht vorstellen. Sie dachte nicht weiter an meines Vaters Vaterland, noch an den eingeäscherten Brief.


Lobt Gott mit Herz und Munde


sang sie, und mein Vater sang den andern Diskant:


Für das er euch geschenkt;

Das ist ein' sel'ge Stunde,

Darin man sein gedenkt,

Sonst verdirbt alle Zeit,

Die wir zubring'n auf Erden,

Wir sollen selig werden

Und bleib'n in Ewigkeit.


Wie sehr sich alles im Pastorat nach diesem änderte, kann ich nicht beschreiben. Gegen die vorige Zeit war kein Stein auf dem andern. Alexander und Darius ward nicht mehr gespielt.

Mein Vater, der sehr für die Quellen war, lehrte mich die christliche Religion aus der Bibel, die wenigsten lernen sie draus, pflegte er zu sagen. Das, was dir abgeht, fuhr er fort, werden dir die Schriftgelehrten beibringen. Er schien selbst nichts mehr zu wissen, als was die Fülle seines Herzens und eine andächtige Lesung der heiligen Schrift in ihm gewirkt hatte.

Von seinen vorigen Heldenthaten blieb ihm noch ein gewisser [102] Ausdruck; er nannte ihn adelich – er war feierlich dem Gedanken treu und nicht jedermanns Ding. Dem Adel und dem weltlichen Arm blieb mein Vater getreu bis in den Tod. Ich nahm täglich in Kenntnissen der Schrift zu, wenigstens war mein Herz ein Schriftbefolger. Meiner Mutter zu gefallen, mußte ich meines Vaters Kragen anlegen, und ein andermal seinen Mantel, und dann wieder ein anderes geistliches Kleidungsstück anpassen, damit sie sähe, wie es mir ließe. Eines Tages, da mein Vater viel Beichtkinder hatte, und ich meiner Mutter zu Ehren bis auf die neue Perücke meines Vaters zum Geistlichen investirt war, fing der Gedanke, der schon oft wie die Sonne auf- und untergegangen war, hell zu scheinen an. Ist es denn nicht möglich, sagte sie, daß ich dich, ehe du auf Universitäten ziehest, predigen hören kann?

Die Brodstudien haben mit den Handwerkern alles nur mögliche gemein, und meine Mutter hatte nicht ganz Unrecht, daß sie auf ein Gesellenstück bestand, ehe ich losgesprochen werden sollte. Es war ausgemacht, daß ich über einige Zeit als Geselle auf meine Künste und Wissenschaften reisen, oder, wie man es in Curland nennt, ausreisen und das Haus meines Vaters verlassen sollte. Mein Vater war einen Sonntag gegen Abend recht vergnügt, und überhaupt pflegte er nach abgelegter Sonntagsarbeit, wie ein Taglöhner alle Abend ist, zu seyn. »Das,« sagt' er selbst, »hat ein Taglöhner vor mir voraus, daß er so alle Abend ist; allein meine Freude ist eine Sabbathsfreude.«

Dieser Sonntagsfreude bediente sich meine Mutter, die ihm um diese Zeit die Gesichtsbewegungen seiner Zuhörer zu erzählen pflegte, die sie bei dieser oder jener Stelle seiner Predigt bemerkt hatte.

Was denkst du, mein Lieber! fing sie an, wär' es nicht gut, daß unser Sohn Alexander Einhorn (Alexander sagte mein Vater), ehe er uns verläßt, eine Predigt hielte? Eine Predigt? sagte mein [103] Vater, und schwieg stille, nicht aber, als ob er abbrechen wollte, sondern weil er sich nicht so geschwinde auf eine Antwort besinnen konnte. Da nun meine Mutter sein Stillschweigen eben so verstand, klopfte sie zum andernmal an, und balgte sich mit allen Zweifeln meines Vaters, die ohnedem alle sehr leicht nachgaben, weil er selbst keine Lust zu zweifeln hatte. Der alte Herr beging hiebei einen tückischen Streich, denn da ihn meine Mutter über diese Sache ebenfalls zum Vertrauten gemacht hatte, schlug er ihr den fünften Vers aus dem zehnten Kapitel des zweiten Buchs Samuelis zum Text vor. »Ich will's vortragen, Herr Cantor Herrmann,« sagte sie. Sie hielt Wort, und da man nachschlug, fanden sich die Worte: »bleibet zu Jericho bis euch der Bart gewachsen ist, so kommet dann wieder;« das war gewiß mehr als eine Schneidernadel! Dominica III. post Epiphanias ward beschlossen, daß ich Dominica Judica meine erste Predigt in unserer Dorfkirche ablegen, oder, wie es meine Mutter in der Sprache ihrer Ahnherren nannte, mich hören lassen sollte. Ich entwarf die Predigt selbst, mein Vater gab das Imprimatur, nachdem er sie befeilt hatte. Meine Mutter sonderte mir die Lieder aus. Dieses macht' ihr viele Mühe. Ein Lied war um einen Vers zu lang, ein anderes war wieder um einen zu kurz; bei manchem war die Melodie nicht der ersten Predigt angemessen, bei noch einem war noch was anderes zu bedenken: endlich getroffen. Ich habe den sehr bescheidenen Autorausdruck: befeilen, gebraucht, die Wahrheit aber zu gestehen, that mein Vater mehr. Ich hatte den Styl so sehr von den Feldreden beibehalten, daß alles Trommel und Trompete war, und zum Kammerton herabgestimmt werden mußte.

Bei der Nutzanwendung z.E. gab ich Kanonenfeuer auf die Sünder, ich versicherte sie, daß sie im Pfuhl, der mit Pech und Schwefel brennt, o Solon! Solon! rufen würden. Den Pech und [104] Schwefel strich mein Vater, und setzte: in den Flammen des Gewissens. Den Solon, Solon ließ er stehen.

Die ersten vierzehn Tage erzählte meine Mutter mir vielerlei Begebenheiten, die ihren verstorbenen Hochwohlehrwürdigen Ahnherren begegnet, und durch die Tradition bis auf den heutigen Tag unverloschen bei der Familie geblieben wären. Ein Literatus hätte nämlich sehr pathetisch seine heilige Rede angefangen, allein er wäre gleich beim ersten Theile in die Irre gerathen. Mein seliger Aelter- oder Großvater hätte ihm lateinisch zugerufen: ab initio (von vorn) und der Literatus wäre wieder nur bis auf diese unglückliche Stelle, wo er schon einmal den Faden verloren, gekommen. Noch einmal hörte der nun Trostbange die Stimme ab initio, und da er wieder diese unglückliche Stelle berührte, fiel (meine Mutter sagte dieß mit vieler Theilnehmung) ihm das Amen zu rechter Zeit ein. Das Dorf, welches das ab initio für bravo! gehalten, hatte dem Herrn Candidaten, der aus Angst gewaltig geschwitzt, das Zeugniß beigelegt, lange keine so gute Predigt gehört zu haben.

Ein andrer Candidat hätte aus Angst die Kanzel verfehlt, und anstatt beim letzten Wir glauben all' auf die Kanzel zu steigen, wär' er geradezu aus der Kirche gegangen. Mein lieber Herr Großvater hätte also ex tempore seine Gemeine bewirthen müssen. Ein dritter hätte die vierte Bitte zweimal gebetet, woraus man geschlossen, daß er zwei Magen hätte. Noch ein dritter hätte, und dieß schien ihr die traurigste Begebenheit zu seyn, das Vater Unser nach der Predigt zu beten vergessen. Der arme Mann! Er hat keine Kanzel weiter bestiegen. Dein lieber seliger Großvater rieth ihm zu einer andern ehrlichen Handthierung, indem derjenige, der vergäße das Vater Unser auf der Kanzel zu beten, mit Zuverlässigkeit es als ein Omen ansehen müßte, daß er nie mit Ruhm in den Priesterorden aufgenommen werden könnte.

Endlich wär' es einem in der Predigt vorgekommen, der Herr [105] Pastor, der mit ihm in die Kirche gekommen, sey in ein Bildniß, wie Loths Weib in eine Salzsäule, verwandelt. Die Geschichte verdient gelesen zu werden, obgleich sie nicht in der Familie meiner Mutter sich begeben hat. Der Herr Pastor hatte sich bei lebendigem Leibe in Lebensgröße malen lassen, und dieses Bild war so getroffen als die Trauben desZeuxis, welche die Vögel lüstern machten. Der Herr Pastor war da mit Leib und Seel.

Damit ich meinen Lesern die Bemerkung meiner Mutter nicht verhalte, so kam die Ehre der Aehnlichkeit nicht dem Künstler, sondern dem Herrn Pastor zu. Er hatte etwas im Gesicht von Karl XII. und Martin Luther, die jeder Töpfer trifft, wenn er sie auf den Teller hinwirft, und die der liebe Gott mit einem besondern Gesicht ausgerüstet hat. Ich, sagte sie, möchte sie treffen, obgleich ich nicht weiß, was ein i-strich in der Malerei ist.

Beim zweiten Theil fällt dieses Bild dem armen Candidaten ins Auge. Wer eine Predigt im Kopfe hat, und zum erstenmal pro candidatura sich hören läßt, kann nicht alle Ideen in ihre rechte Fächer bringen. Ein Duodezbändchen kommt dann wohl zum Folianten zu stehen. Dem armen Mann kommt's vor, er sähe ein Gesicht, er wird bleich, und mit den Worten: Herr Pastor, Herr Pastor, Herr Pastor, die immer schwächer nach dem Grade der Ohnmacht werden, fällt er rückwärts von der Kanzel. Doch Gottlob! setzte sie hinzu, ohne sich weiter am Leibe Schaden zu thun.

Die Woche vor der letzten ließ meine Mutter nach, ihre Gespensterhistörchen zu erzählen.

Ich wußte die Predigt ganz fertig und war gezwungen, aus kindlicher Liebe, wiewohl gegen ein schönes Stück geräucherten rohen Schinken pro honorario, gerad' unter dem schon genug gepriesenen Bildniß, das ich mit Ehren dem Himmel zugebracht, Probe zu halten.

[106] Dieser Ort war Kebla für meine Mutter. Nach meiner Meinung war dieses eine Goldprobe. Bin ich hier bewährt und komm' ich in der Speisekammer nicht aus dem Concept, wo mich der Geruch auf allerlei Dinge führt, wird es in der Kirche noch besser zum Amen kommen. Es ging in der Speisekammer alles bis in den dritten Theil gut. Da warf der Wagen um. Meine Mutter fiel nicht mit ab initio ein; allein nach glücklich erreichtem Ende sagte sie mir im Vertrauen, daß mein Vater weit besser gethan haben würde, es bei drei Theilen bewenden zu lassen. Er hat ja selbst, setzte sie hinzu, im vorigen ganzen Kirchenjahre nur ein einzigesmal vier Schüsseln oder Theile aufgetragen. Indessen war der vierte Theil so wenig Schuld daran, als ich mein Schnupftuch zu Hülfe nehmen und husten mußte, daß mich vielmehr der angenehme Rauchgeruch aus der Fassung brachte. Ich besann mich bald wieder, und meine Predigt kam in der Speisekammer mit vielem Beifall zum Ende. Meine Mutter hatte herzlich geweint. Wie ich die Sünder anredete, mußte ich das Gesicht gegen die weißen Erbsen wenden (sie waren dieses Jahr sehr wurmstichig). Sobald ich aber von diesen auf die Frommen kam, die ich in meiner Predigt meine Brüder nannte, mußt' ich das Gesicht meiner Mutter zukehren, welche anfänglich durchaus verlangte, ich sollte auchmeine Schwestern dazu setzen, bis ich sie durch die heilige Schrift selbst auf andere Gedanken brachte. Sie umarmte und segnete mich, wiewohl wieder zweigliedrig mit beiden Händen, so daß jede Hand ein Segensstück sich zueignete. Die Zeit der Ernte ist vorhanden! sagte sie, weißt du noch, was ich dir hier an dieser heiligen Stätte gewünscht habe? Meine Ermahnungen sind auf ein gut Land gefallen. – –

Ueber diese Zurückerinnerungen bei diesem Erntefest vergaß ich das Stück rohen Schinken, welches mir meine Mutter für diese Cabinetspredigt versprochen hatte. Sie selbst hatte bei der in der [107] Speisekammer genossenen Seelenspeise den Leib ganz und gar vergessen. Ich habe indessen diese Schuldpost mit Zinsen usque ad ultimum solutionis momentum zurückerhalten. Die ganze letzte Woche vor der Predigt wurde von meiner lieben Mutter so wie der heilige Abend vor einem der drei hohen Feste angesehen. Sie feierte Weihnachten, Ostern, Pfingsten meinetwegen auf einmal, und alles ging auf Zehen. Am Freitage führte mich mein Vater zwischen zehn und eilf des Abends in die Kirche, und setzte mich mit meiner Mutter, die eine kleine Laterne in der Hand hielt, in seinen Beichtstuhl. Ich wurde durch diesen Schein der Lampe in ein so heiliges Feuer gesetzt, daß ich meine Predigt mit einer solchen Rührung ablegte, als ich bei der ordentlichen Ablegung nicht empfand, bei welcher ich nur auf die Gesichtszüge dieses oder jenes merkte, und insbesondere nicht vergaß auf Nr. 5 zu sehen, wo mein liebes Minchen saß.

Im Vorbeigehen will ich bemerken, daß wenn gleich Minchen aufgehört hatte die königliche Prinzessin und ich Alexander zu seyn diese alte Liebe, wiewohl unter anderm Namen, fortgelodert habe.

Mein Vater war außerordentlich mit dieser Predigtprobe zufrieden. Predige, so lange du lebst, mit einer solchen Rührung, mit einem solchen Gott ergebenen Herzen, sagte er, so wirst du dir und denen nützlich werden, die dich hören.

Diese Probe in der Kirche war inzwischen, so spät sie auch anfing, einem Paar Leuten aus unserm Dorfe nicht entgangen. Die Laterne in der Hand meiner Mutter hatte einen solchen Wiederschein geworfen, daß in der ganzen Gemeine das Gerede ging, es würde sich ein bedeutender Todesfall ereignen, welches auch nach einer geraumen Zeit durch das Ableben eines Cavaliers unsers Kirchspiels und der Frau des alten Herrn in Erfüllung ging.

Am Sonnabende vor der ersten Predigt war im Pastorat alles so feierlich still, als es noch nie gewesen; meine Mutter sagte [108] selbst, »wie vor der Erschaffung der Welt.« Meine Mutter hatte die Lieblingsschüsseln auf den andern Tag für mich bestellt, und entdeckte mir wohlbedächtig schon Sonnabends am Hühner-oder Polterabend, womit sie mich Sonntags erfreuen würde. Auch der liebe Gott, setzte sie hinzu, erfreut seine Kinder in dieser Welt mit leiblichen Gaben. Wer am ersten nach seinem Reiche trachtet, erhält diese Zugaben und empfähet sie mit Danksagung und Wohlgefallen.

Bald hätte ich einen Zug vergessen, der mir sehr rührend und eben so lächerlich vorkam. Ungefähr um eilf Uhr in der Nacht auf den Sonntag, da meine Mutter in der festen Meinung war, ich sey schon eingeschlafen, kam sie in meine Kammer, und nachdem sie das Concept zu meiner Predigt sehr andächtig aus der Bibel genommen, legte sie's mir unters Kopfkissen, murmelte einige mir unverständliche Worte und ging davon. Schon war ich im Griff nach der Hand dieser lieben Mutter, um sie zu drücken und zu küssen. Ich konnte diese – ich will sie Brautnacht nennen, nicht schlafen, und war also ein Augenzeuge von diesem Vorgange, wenn ich gleich meine Augen bis auf ein kleines Ritzchen verriegelt hatte.

Des Morgens erfuhr ich den Aufschluß dieser Ceremonie, die sich von der Schwester der Mutter meiner Mutter herschrieb, welche behauptet hatte, daß das Concept unterm Kissen sehr das Gedächtniß stärke. Ich glaub's nicht, fügte meine Mutter hinzu, indessen ist's in der Familie beibehalten bis auf die vorige Nacht.

Ich hielt meine Predigt mit erwünschtem Glücke, allein ohne Rührung, indem, wie ich schon bemerkt habe, mein Auge herum wankte und bei Nr. 5 sich lagerte.

Ich sah ein, was mein Vater oft zu behaupten pflegte. Ein Geistlicher muß wie ein Vater zu seinen Kindern reden. Wenn er sich's aufschreibt, muß er's nicht der Gemeine, sondern seines [109] Gedächtnisses wegen thun. Auch ein Vater macht sich wohl ein Promemoria, wenn er viel mit seinem Sohne zu sprechen hat.

Meine Predigt nannte er eine Kirchenchrie, ein Exercitium, und sehr richtig.

Wer, pflegte er zu sagen, sich ein Gebet auswendig lernt, spottet Gott des Herrn. Entweder muß man gar nicht auf der Kanzel beten, oder man bete nach der göttlichen Vorschrift: »ihr sollt nicht viel plappern.« Sonst war mein Vater der Meinung, daß junge Leute nicht eher die mindeste Ausarbeitung machen sollten, als bis sich ihre Seele entfalten könne. In jedem Menschen, sagte er, liegen Zurüstungen und Triebfedern zu allen Charakteren. Die erste Schrift die ein junger Mensch entwirft, muß der Kupferstich seiner Seele seyn. Notabene der Kupferstich. – Wer die Tropen und Figuren erfand, erfand Masken für Diebe, Verräther, Mörder und Ehebrecher. Man schreibt sich jetzt nicht aus, wenn man schreibt, sondern man hat eine Vorschrift. – Auf die erste Predigt ist wenig von dem, was ich gesagt habe, zu deuten. Schwerlich, wenn sie auch ohne Lineal gemacht wird, kann daraus mehr erhellen, als ob der junge Mensch zum Gesetz-oder zum Evangelienprediger gedeihen werde.

Meine Mutter hätte gern gesehen, wenn ich ein Paar Verse nach mütterlicher Weise eingewirkt hätte, allein es ging ihre Meinung nicht durch. Warum predigt man denn nicht mitten im Liede? fragte mein Vater. Meine Mutter konnte nichts dagegen singen.

Alles, was man wünschen konnte, wünschte mir Glück, nur Minchen nicht, diese ging aus Nr. 5, als ob sie nichts gehört hätte. Ihr Scherflein, ein verstohlener Blick, galt aber mehr, als alle übrige klingende Münze. Sie hatte mich nach dieser Predigt noch lieber als ehemals, ohne daß ich einsehen konnte, was eine Predigt auf die Liebe für einen Einfluß haben könne.

Nach der Zeit erklärte ich mir dieses Räthsel. Das Frauenzimmer [110] liebt Leute, die öffentlich reden und Geschäfte treiben; vielleicht weil es Herzhaftigkeit verräth, vielleicht weil die Ehre, die auf den Verehrten fällt, auf sie zurückprallt. Kurz ich gewann beiMinchen. Ich hatte sie in der Predigt angesehen, ich hatte Gott in der Kirche (so kam es ihr vielleicht vor) hierdurch zum Zeugen unsrer Liebe angerufen. Wir waren nur eine Seele vor der Predigt, nach der Predigt war ich der Mann ihrer Seele und sie das Weib der meinigen. Im Küssen kamen wir uns nach dieser Predigt oft auf dem halben Wege entgegen, an mehr dachten wir beide nicht.

Der alte Herr wollte wieder mit einem Spruch bei meiner Mutter gut machen, was er mit einem Spruch verdorben hatte. Man kann vom jungen Herrn, versicherte er, nicht sagen, was man vom Herrn Pastor in – sagte, der die Gemeinde von seinem Herrn Vater erbte, und mit ihr des Vaters Concepte. »Alles, was der Vater hat, ist sein, und von dem Seinen wird er's nehmen, und euch verkündigen.«

Meine Mutter sprach gleich nach eingenommenem Mittagsmahl von Universitäten, allein mir schienen Universitäten ein sehr unnöthig Ding zu seyn. Ich wiederholte ihr das, was mein Vater darüber verkündigt hatte.

Müssen denn alle Bäume, die ihr Haupt emporheben sollen, ehe sie an Stelle und Ort kommen, in einer Baumschule ihre Jahre stehen? Wo Gott und die Natur ist, da ist eine hohe Schule. Gott wohnet nicht in Tempeln, mit Menschenhänden gemacht, nicht in Jerusalem, sondern in ihm leben, weben und sind wir.

Wer läugnet, daß auf Universitäten geschickte Männer sind; allein ich glaube, daß ein geschickter Mann sein Licht nicht bloß auf der Universität leuchten lassen, sondern schreiben werde. Professor Sokrates schrieb nicht; allein, es schrieben andere für ihn,[111] und sobald ein Professor schreibt, warum sollen wir hin, ihn zu sehen? – Warum soll ich einen Geistlichen bitten, die Predigt zu halten, die gedruckt ist? Ist's wo, damit ich reden höre, kann ich denn nicht laut lesen?

Da griff mich meine Mutter. Dein Vater und sein Wort in Ehren, nur in diesem Stücke hat er Grundsätze, daß man beinahe glauben sollte, er wäre auf keiner Universität gewesen.

»Wollte Gott, er wär's nicht, denn in Wahrheit, er verdient so sehr Pastor zu seyn, als die auf zehn gewesen sind.«

Alles gut, allein beim Hebräischen stehen die Ochsen am Berge.

»Ein Conversus.«

Sag mir nichts vom Conversus, Gott leite den unsrigen auf meinen Instruktionswegen! Besser wär's für ihn gewesen, wenn ich ihn schriftlich instruirt hätte. Was kann (um auf deinen Vater zurück zu kommen), was kann, im Grund genommen und aus der Tiefe geschöpft, was kann ein Conversus? Muß man nicht in die Kirche, obgleich Predigtbücher feil sind?

»Doch nicht jeder?«

Nicht jeder?

»Nein.«

Nicht?

»Der Prediger.« –

Hätt' ich meiner Mutter einen Augenblick Zeit bei dieser Antwort gelassen, wär' ich verloren gewesen, allein ich erklärte mich, daß ein Prediger nicht hörte, sondern redete, und mithin eigentlich nicht in der Kirche wäre.

Diese Erklärung öffnete ihr viele Gelegenheit, mich zu überzeugen, daß er erst sich und dann andere zu bekehren zur Pflicht hätte, wie er denn sich auch selbst hörte, im Fall er nämlich nicht taub wäre. Ich oder eigentlich mein Vater fuhr fort:

[112] »Es ist unmöglich in drei Jahren alles zu lernen, was fünfzehn Professores wissen.«

Wer sagt's, antwortete sie, du sollst nur erfahren, wo du weiter nachschlagen kannst.

»Das sagt mir aber jedes Register.«

Das liest du in jedem Register, willst du sagen.

»Und liebe Mutter! unsere jungen Herren, die von Universitäten kommen? – –«

Alles recht, allein du sollst ein Vorbild werden der Heerde – du hast Talente, die müssen auf einer privilegirten Wage gewogen und das Gewicht durch ein beglaubtes Testimonium bezeichnet werden. Es wird in schönem Latein gegeben.

Die Talente brachten mich auf ein weites Feld, ich sagte zwar nichts, was nicht mein Vater schon öfters gesagt hatte; ich sagte aber, wovon ich überzeugt war. Man klagt überall über Unterdrückung der Talente, und daß so viele Lichte unterm Scheffel bleiben. – »Glaubt's nicht,« pflegte der gute Mann zu sagen. »Wer ein recht Talent hat, brennt sich durch den Scheffel durch, dessen Flamme so weit nicht reicht, bleib' unterm Scheffel, oder bleib im Lande und nähre sich redlich.« Muß denn, wer ein Talent hat, gleich ein Buch schreiben? Kann man nicht ein Talent haben und den Pflug führen? Ein Talent ist Hefen. – Er macht, daß sich der Teig hebt, wenn er herein gelegt wird.

Protagoras, der Taglöhner, legte und band sein Holz so künstlich, daß er dem Demokritus ins Auge fiel, der ihn die Wissenschaften so legen und binden lehrte, und so findet jeder Protagoras seinen Demokritus, obgleich noch die Frage bleibt, hat Demokritus dem Protagoras eine Last abgenommen oder aufgelegt?

Niemand als Minchen machte mich so beredt, und da endlich meine Mutter mir entgegensetzte, daß, wenn ich nicht auf Universitäten gewesen, ich nicht Pastor werden könnte, kam ich auf andere [113] Gedanken, und das (wie zuvor) auch Minchens wegen. Ich sah, wie ein Erleuchteter, auf einmal alle Gründe meiner Mutter ein, und hatte keinen Zweifel mehr als den: Muß denn jeder in der Fremde als Gesell arbeiten und wandern, eh' er Pastor wird? Diesen Zweifel löste mein Vater.

Was er wider die Universitäten gesagt hatte, war vorm Brande geschehen. Jetzt war er zwar eben kein Apologist der hohen Schulen, denn so sehr konnt' er nicht seinen Grundsätzen untreu werden; allein er war der Meinung meiner Mutter, die ihn sehr bat, mir andere Gedanken einzuäugen, die aber schon wirklich, ohne daß es meine Mutter gemerkt hatte, bei mir in Blüthe standen.

Kinder, sagte mein Vater, sollte man keinem Menschen anvertrauen, der nicht auch Kinder hat oder gehabt hat, so wie man keine Hebamme anzunehmen pflegt, die nicht weiß, wie es einer Gesegneten zu Muthe sey. Wenn ich ja einem Arzt ein Ohr zuneigen sollte, ich sage mit Fleiß ein Ohr – obgleich ich Gott lob beide brauchen kann – müßte er selbst die Krankheit haben, die er curiren will. In diesem Fall wird mir ein Hufschmied und eine entzahnte Matrone eben so willkommen, als ein rother Mantel seyn.

Seht da! warum ich dem alten Herrn, der Schuster, Schneider und Töpfer ist, alle diese Handwerke auf Herz und Seele der ihm anvertrauten Jugend anzuwenden gestatte. Sein Sohn Benjamin und seine Tochter Wilhelmine haben ihn examinirt und tüchtig befunden. Es sind gut gezogene Kinder.

Bei dem Worte Wilhelmine zog ich mein Schnupftuch aus der Tasche, ohne sonst zu wissen warum, als des Namens Wilhelmine wegen.

Man muß alles von sich anfangen. Selbst wenn die Schulgelehrten die Existenz Gottes beweisen wollen – Schande ist's zu sagen, daß sie's wollen – fangen sie von sich an: ich bin, sagen sie, [114] also ist auch Gott der Herr. Es sind gewisse Geheimnisse, welche die Natur, obschon der Kunst viel verrathen worden, doch für sich behält, und dahin gehört die Kinderzucht. Man wird in dieses Geheimniß allein durch die Vaterschaft initiiret. Ich glaub' es steif und fest, daß jeder Vater, wär's gleich ein Bürstenbinder, und jede Mutter, wär's gleich eine Bürstenbinderin, ihre Kinder erziehen können, und es also nicht nöthig haben, andern Unterricht für die kleinen Bürstenbinderchen in einem öffentlichen Laden zu kaufen. Wie sollte wohl die Natur so ungerecht seyn, das Größere zu geben und das Kleinere zu versagen? Du weißt, Alexander, was dein Vetter, der große Summus Alexander (an diese Vetterschaft hatte er lange nicht gedacht) seinem Lehrer, dem Summus Aristoteles für ein Compliment machte, im rechten Sinne ein Compliment: er hätte ihm mehr als seinem Vater Philipp zu danken. Sobald Alexander bleiben wollte, was sein Vater war, hatte er Unrecht. Wollte er aber die Grenzen seines Reichs erweitern, und nicht Bürstenbinder bleiben, setzte meine Mutter hinzu, hatte er Recht. Da liegt der Grund von dem Leben der Erziehung. Der Vater, der aus seinem Sohne mehr machen will, als er selbst ist, muß freilich einen andern Weg einschlagen. Indessen sollte dieser andere Weg keinem Vater verstattet seyn, der nicht Alexanders zu Kindern und Aristoteles zu Lehrern aufweisen könnte. In diesem Falle müßte, aller Beispiele vom Gegentheile ungeachtet, die Jugend, die Gnadenzeit, der Morgen nicht versäumt werden.

Der Staat braucht viel Hände, aber wenig Köpfe. Ein politischer Kannengießer ist ein schlechter Kannengießer und ein schlechter Bürgermeister; die Kenntnisse des gemeinen Mannes müssen bei der Hand bleiben und nicht bis zum Kopfe kommen. Wer dem Menschen das Denken nehmen will, setzt ihn herab. Denken kannst du, du kannst denken, das Grübeln, das Weiterhinausdenken als vier und zwanzig Stunden, zwölf in die Länge und zwölf in die [115] Breite, ist dem Menschen schädlich, und Tinte und Feder, Papier und Presse sind eben solche Verheerer des menschlichen Geschlechts, als Bomben, Kartätschen und Pulver und Schrot und Büchsen und Säbel.

Mein lieber Vater war über diesen Gegenstand ein Verschwender, er gab ungezählt – ich will bedachtsamer zu Werke schreiten und mit geiziger Kürze nur etwas von seinen Grundsätzen ausgeben. Der Himmel gebe, daß es lauter seltene Schaustücke wären, ich würde sie meinen Lesern herzlich gönnen.

Daß jeder Kinderlehrer verheirathet seyn müsse, wissen wir schon. Man hat, sagt' er, lange auf Verbesserung der niedern Schulen gedacht, und freilich müssen diese eher verbessert werden, als hohe, wo du, mein Sohn, dein Heil versuchen sollst; allein man sollte noch eine Stufe heruntertreten und mit der Verbesserung der Mütter dieses gute Werk anheben. Man sollte Töchter ziehen, ehe man noch an Söhne kommt. Jetzt ist die Erziehung, wenn man an die Männer appellirt, gemeinhin schon in der ersten Instanz von unwissenden und ungeschickten Sachwaltern verdorben, und die Kur einer von der Mutter verfälschten Seele. – Was in so vielen Generationen verdorben ist, muß wieder allmählig verbessert und zu seinem anfänglichen Wesen gebracht werden. Desperate Mittel sind eben so viel gewisse Morde. Bliebe der Mensch bloß Mensch, er müßte sehr alt werden und beinahe unsterblich seyn. Jetzt aber, da ihn die Vernunft verleitet, von der Landstraße bald zur Rechten, bald zur Linken abzuweichen, und theils seinem Leibe, theils seiner Seele zu viel zu thun, fällt er eher wie ein wurmstichiger Apfel ab. Er hat einen Wurm, der ihn zehrt.

Den rechten Weg abzustecken und auf dessen Erhaltung zu sehen, wäre die Pflicht der Gelehrten. Sie sollten Wegcommissärs für das menschliche Geschlecht seyn. Wer einmal den rechten Weg verschlägt, kommt immer weiter vom Ziele.

[116] Ein Vater kann mehr als ein Kind haben und ein Lehrer mehr als einen Schüler; allein seht euch nur um. Der von zehn Jahren ist eben so weit als der von fünfen.

Man kann den Privatunterricht nicht verachten. Schulen haben ihr Gutes; der Privatunterricht, der der Natur näher verwandt zu seyn scheint, auch.

Elementarbücher sind sehr gut, allein ein Elementarlehrer ist noch besser. Für wen sollen Elementarbücher geschrieben werden? für Genies, oder für Mittelmäßige, oder für Marode? Will man sie für Mittelmäßige schreiben, um die Mittelstraße nicht zu verfehlen, auf der viele wandeln, leiden andere, die den schmalen Weg anzutreten Herz haben und die enge Pforte nicht scheuen weil sie zum Leben führt. Die Bibel ist das einzige Buch, das für alle Menschen paßt, ein göttliches Elementarbuch.

Ein poetischer Kopf darf nur vieles durchblättern, von allem nimmt er Zoll. In der ganzen Natur schreibt er Schatzung aus. Er befindet sich in den Wissenschaften auf Reisen, wo ihn oft etwas aufhält, worauf der Eingeborene, das Landeskind, der Philosoph nicht kommt. Ein denkender Kopf weiß weniger, allein seine Aecker kennt er auf ein Haar. Er thut, wenn ich so sagen darf, was der Dichter weiß. Ein großer Kopf ist eine Mischung von beiden. Selig sind, die wissen! Seliger die thun! Und am seligsten die wissen und thun! So viel Köpfe, so viel Sinne; so viel Alexander, so viel Welten; so viel Planeten, so viel Bahnen; so viel Genies, so viel Methoden.

Es ist unerhört, daß unsere Schulhalter lauter Geistliche sind. Sehr klug für die Geistlichen, besonders in der monarchischen Kirche. – Unsere Knaben werden alle erzogen, als ob sie Schulmänner werden sollten, unsere Töchter, wenn's köstlich gewesen, als Mamsells (als französische Hofmeisterinnen).

Jedes Mitglied des Staats muß sein Votum haben, wenn [117] eine allgemeine Schulanstalt im Staate erbaut werden soll. Bei Töchtern dürfen nur drei ganz gewöhnliche Weiber votiren. Diese Weiber müssen gesund seyn, jede einen Sohn und eine Tochter haben, auch NB. jede nur einen Mann. Jünglinge haben viele Zwecke; Mädchen nur den, Weiber und Mütter zu werden. Ein gutes Weib ist auch immer eine gute Mutter.

Schule und Welt ist jetzt zweierlei. Schulbegriffe sind mit einem Worte solche, denen die Erfahrung widerspricht. In der Schule sind Worte. Sachen, Nadel und Zwirn sind ein Kleid, Mittel ist der Endzweck.

Schullehrer! bleibt nicht auf der Bank mit euren Schülern, sondern zieht mit ihnen in die freie Luft der Natur, werdet Peripatetiker. Lehrt sie im Angesicht Gottes – oder laßt sie nur herumgehen; die Natur selbst wird sie besser unterweisen als ihr, wenn ihr Gottes Wetter nicht ertragen könnt.

Die Gabe zu unterrichten (donum docendi) hat jeder Mensch. Wer durch die rechte Thür gekommen ist, wird auch wieder durch die rechte Thür herausfinden. Wer eine Treppe in die Höhe steigen kann, wird sie auch herabsteigen. Bergab ist immer leichter. Wer eine Sache halb weiß, kann nur ein Viertheil beibringen. Wer nur ein Viertheil weiß, ist ein Miethling. – Je länger ich studire, je kürzer ist die Predigt. Bedenkt den Haufen Holz, und Stein, und Ziegel, und Dachpfannen, und Glas, und Kalk und tausenderlei, eh' es ein Haus wird. Steht das Haus; alles hat sechzig Fuß in die Länge und dreißig Fuß in die Breite Raum.

Je schöner aber die Rede, desto weniger behältst du. Das Gedächtniß hat keine Zeit, anzuhalten, keine Ruhe. So was Schönes kann nur die Kunst machen, wo kein Punkt, kein Komma, kein Semikolon ist. In der Natur hat die Sonne selbst Flecken. Ein Dichter hat das kleinste Donum docendi, setze ihn auf einen[118] Lehrstuhl, auf welchen du willst. Er wirst Strahlen, allein die meiste Zeit ist er umwölkt. Aratus hat ein berühmtes Gedicht über die Astronomie geschrieben, ohne daß er sie verstand. Er würde kein Gedicht, wenigstens kein berühmtes darüber geschrieben haben, wenn er sie verstanden hätte. So nachlässig der Anzug eines Dichters ist, so sieht's auch mit seinem Wissen aus. Da fehlt ein Hemdknöpfchen, da hat das Kleid einen Kaffeeflecken und an den Beinkleidern fehlt vorzüglich bei jedem Dichter was. Bitt' ihn, sein Stubenfenster zuzumachen, er riegelt nichts zu, er zieht nur an. Es ist kein gemeines, sondern ein heiliges Dunkel, so den Dichter umgibt. Eine schöne Dämmerung, und nach Bewandtniß der Umstände Morgen oder Abend.

Wer vielerlei weiß, ist biegsam, wer einerlei weiß, ist stolz. Jener steht ein, wie viel ihm fehlt, dieser ist ein Hahn auf dem Miste.

Haben wir mehr Wege zur Seele als Empfindung und Reflexion? Wer dieß die hohe und jenes die untere Schule nennt, hat sich übel erklärt.

Das Wohlfeile, das Schlechte dieser Erziehungsanstalten meines Vaters ist, mich dünkt, sehr auffallend; es sind alles Hausmittel (simplicia).

Allein bei alledem, lieber Vater, ist dieß nichts mehr als eine gute Unterlage. Noch bist du nicht immatriculirt, und meine Leser haben von Mutterleibe ausgehen müssen, um endlich auf die Börse der Gelehrsamkeit zu kommen, wo der Cours

vls. bestimmt und Dukaten und harte Thaler nach der Zahl der Liebhaber gewürdigt werden. Die Herren Geistlichen machen sich in jeder Predigt eine kleine Bewegung vom Paradiese aus, und keuchen daher gemeinhin, wenn sie an die Herzen ihrer lieben Gemeinde anklopfen. Wenn mein Vater nur nicht keucht, anstatt daß er von der Leber wegreden sollte. Den Stand der Unschuld, den Stand [119] der Sünden, den Stand der Gnaden und den Stand der Herrlichkeit wollen wir ihm verzeihen.

Die Akademien, mein Sohn (Gottlob, Land!), sind gut und nicht gut, so wie alles in der Welt. Niemand ist gut als der alleinige Gott.

Die Akademie ist das, was bei den Zünften und Handwerkern die Fremde ist.

Ich habe nie, das weißt du, der Akademie gejubelt und Lobopfer gebracht, allein auch nie habe ich mich wider sie durch eine niedergelegte Akte verwahrt. Die Wahrheit zu gestehen, wollt' ich mit dir anfänglich zum andern Thore hinaus. Es hat große Leute auf Akademien gegeben, obgleich Newton ein Münzmeister, Copernikus ein Domherr und Leibnitz ein Hofmann war.

Mein Vater warf die Frage auf, wer auf der Universität den Kürzern zieht, der Lehrling oder der Lehrer? Allein wenn er gleich über den Lehrer länger als über den Schüler den Kopf schüttelte, so sah er doch auf den Schüler in Seelen- und in Leibesgefahr. Professores sind, damit ihn meine Leser wieder selbst hören, Sklaven, die an Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre gebunden sind. Es sind Körper in der gelehrten Welt, die nicht ihr eigenes Licht haben, sondern die vielmehr ihr Licht gemeinhin von dem Vivat junger, roher Leute erhalten; Körper, die ihren Lauf alle halbe Jahre unselig vollenden, Uhren, die zu Ostern und Michael ausgestäubt werden. Professores sind stehende Wasser, die faul werden. Ich will es, wie ich schon oft gethan, kürzen, wenn auch der Zusammenhang dabei ein paar Grane einbüßt. Ein akademischer Lehrer muß, wenn er seine Kenntnisse gut verzinsen will, marktschreien und durch eine Universalpille die Leute an seine Bude locken. Die meisten haben ein Arcanum, ein Mysterium, das sie empfiehlt, wovon sie zwei Drittheile alle halbe Jahre für sechs bis acht Thaler schwer Geld verhandeln, ein Drittheil behalten sie[120] noch zurück. Man erfährt also das Ganze nicht eher, als bis es im Druck erscheint, und siehe da! kein Mensch findet das, was der Professor fand. Es ist ein gewöhnliches Compendium.

Weiß ein Professor nur einerlei, ist er ein Pedant. Seine Wissenschaft ist der Despot, der über ihn herrscht. Weiß er (und dies ist gemeinhin der Fall, weil er mit seinen Herren Amtsbrüdern oft eine Lanze brechen muß) mehr, ist's bloß so so. Das wenigste ist Wissenschaft, was wir haben, das meiste ist Muthmaßung, Weg, den man gehen muß, um zur Wissenschaft zu gelangen. Es geht mit den Wissenschaften wie mit der Liebe: die verstohlne ist die angenehmste. Das Handwerk wird einem jeden so geläufig, daß er auf keine Erfindung kommen kann? Per aspera ad astra. Würden die Professores bloß von regierenden Herren bezahlt werden, so dürften die Wissenschaften zwar gewinnen, allein die Lehrlinge würden alles verlieren. Wie die Nonne den Psalter singt, würde gelesen werden. Die Lehrer würden nur auf das denken, was gedruckt werden soll. Jetzt aber die Metaphysik für wenige Thaler kaufen, ist unschicklich. Ein Professor, der ein Autor ist, – und wer ist nicht beides? – hält es nicht der Mühe werth, junge Leute zu unterrichten. Die Welt ist sein Auditorium, und da sitzen Kaiser, Könige, Fürsten u.s.w. auf den Bänken. Ein Autor ist ein so stolzes Ding, daß er mit dem ganzen menschlichen Geschlechte spricht.

Ein Professor spickt (lardirt) seinen Vortrag. Er ist oft gezwungen, über gesunde Speisen ungesunde und unschmackhafte Brühen zu gießen.

Und dem akademischen Jüngling! was legt sich nicht in den Weg, ihn zu stören! Da ist ein Ständchen zu bringen; da kommt ein Landsmann; da hat er sich zu schlagen; da dem Professor, der die Privilegien schmälern will, die Fenster einzuschlagen. – Die Freiheit ist ihm der Weg zur Ungezogenheit. Seine Mitbrüder [121] ersticken bei ihm den Trieb, sich empor zu arbeiten. Will er ein ehrlicher Landsmann seyn, muß er, wie der Haufen, nichts lernen. Es sind kleine Höfe auf den deutschen hohen Schulen errichtet; der Prinz, der Reichsgraf halten sich Kammerherren, Stallmeister, Hofmarschälle u.s.w.

Auf Universitäten sagt dir jeder Lehrer, nicht was du zu wissen nöthig hast, sondern was er weiß. Da lernst du den Werth der Wissenschaft nicht von dem, der sie vorträgt, sondern von seinem Nachbar, einem andern Professor, der sie verachtet.

Erinnerst du dich, was der Herr Candidat von einem benachbarten Könige erzählte, der seinen Professor der Moral selbst prüfte. Herr, sagte er, moralisir' er mir was vor, damit ich seh', ob er was weiß. Ich fand hier viel richtiges gesagt, und noch eins auf den Weg von einem Professor der Moral, der durch seinen Wandel seine Lehren mit Gift hinrichtete. Was hör' ich von ihm? sagte der dirigirende Minister dieser hohen Schule. »Verzeihen Ew. Excellenz, ich bin nur Extraordinarius.«

Diese Rede widerrief nun zwar, mein Vater nicht, indessen lenkte er jetzt alles zum Besten, da er, wie er sich ausdrückte, durch ein anderes Thor mit mir hinaus wollte. Es muß, sagte er, eine Zeit seyn, wo man einsehen lernt, was man nicht weiß, und kein besserer Ort dazu ist, als eine hohe Schule. Ein Professor kann, wenn er seine Wissenschaft nicht bis zum Handwerk treibt und sie zuweilen ein Jahr ruhen läßt, unendlich weit kommen. Diese Wissenschaft ist eine liebe Frau, die man nach einem Jahre Entfernung wieder in seine Arme schließt; da ist's, als würde man auf's neue kopulirt. Ein Professor sieht, ob seine Saat gut sey, vor sich, er lernt eine Bewirthschaftung guter Köpfe, und wird ein Financier in der Gelehrsamkeit. Wer hat mehr Gelegenheit, Proben zu machen, als er? und seine Begriffe bis zum Anschauen deutlich, wer seine Wissenschaften mehr unüberwindlich [122] zu machen, als er? Durch alle fünf Species der Rechenkunst rechnet er seine Wissenschaft durch. Der Glaube kommt durch die Predigt. Steht der Professor hoch im Cours, so bringt er auch seine Wissenschaft in den nämlichen Werth. Er erleuchtet eine ganze Provinz, und macht, daß man seinen Namen annimmt, z.E.Wolfianer. Ein würdiger Professor hört sich in wohlgerathenen Schülern von der Kanzel, liest sich im Urtheil, sindet sich am Krankenbette.

Er ist in einer beständigen Wärme, wenn andere Gelehrte durch ihren Beruf sich erkälten und Mühe haben, wieder in gelehrte Transspiration zu kommen.

Auch die Alten hatten ihre Schulen, und so wie Kirchen gut sind, obgleich Gott überall ist, so sind Akademien nicht zu verwerfen. Wo habt ihr's denn her, daß ihr so gelehrt auf Akademien schelten könnt, wie ihr's thut. Beinahe könnte man sagen: die Deutschen wären Universitäts- oder akademische Köpfe. Warum wollt ihr eure Mutter verachten, weil sie nicht so gut gekleidet geht, als eure junge Frau?

Ist denn der Wetteifer nichts, wozu man auf Akademien Gelegenheit hat?

In der Schule locirt der Herr Präceptor, auf der Akademie locirt ihr euch selbst.

Es gibt auf Universitäten Gelegenheit, ohne ein beschwerliches Lexikon in die Hand zu nehmen und den Buchstaben und Zahlen nachzuschlagen, gleich zu lernen, was man nicht weiß. Ein Wort, das oft ein Lehrer im heiligen Enthusiasm verlor, das heißt, das er sagte, ohne es beinahe zu wissen – gewiß aber ohne es zu behalten; ein solches Wort fällt nicht auf die Erde. Der Jüngling faßt es; aus dem Meeresschaum wird eine Venus.

Eine Universität ist ein gewisses Ganzes der Gelehrsamkeit, eine Messe, wo man nicht an den Stadtkrämer gebunden ist, wiewohl [123] es auch hier oft heißt: Wenn die Narren zu Markte kommen, freuen sich die Kaufleute.

Freilich kann man Meister werden, ohne gereist zu seyn; allein wer achtet einen Meister, der nicht Certificate von fremden Ländern aufweisen kann? Die bekannte Authentica habita Cod. ne filius pro patre, welche sich vom römischen Kaiser Friedrich herschreibt, sagt ausdrücklich: Omnibus, qui causa studiorum peregrinantur, scholaribus et maxime divinarum atque sacrarum legum professoribus, hoc nostrae pietatis beneficium indulgemus. Was ist das? fragte meine Mutter auf Luthers Art, und mein Vater antwortete: Dieß Privilegium kommt nur gelehrten Wandersburschen zu. Gott geleite sie, sagte meine Mutter, und bringe sie gesund zu den lieben Ihrigen.

Man hat daher auch den gelehrten Zweifel aufgeworfen, fuhr mein Vater fort, ob diejenigen, welche auf einer Universität geboren werden, sich dieses Privilegiums zu erfreuen hätten? und ob auch Lehrer hierunter zu begreifen, die nicht divinarum atque sacrarum legum professores wären? Allein man ist der gelehrten Meinung ad eins gewesen, daß alsdann die Reise aus Mutterleibe unter den Worten: qui causa studiorum peregrinantur, zu verstehen sey, wenn man auf einer hohen Schule geboren würde, wie denn ein Professor aller Fakultäten, wenn gleich er haussäßig ist, jedennoch schon darum unter dem Privilegio Raum hat, weil er mit seinen Gedanken in die Kreuz und in die Quer verreist, und immer, er sey auch Doktor aller Fakultäten, ein scholaris bleibt. Das Wort maxime entscheidet ad zwei die gegebene akademische Frage so deutlich als möglich.

Alles dieses, mein Kind, sind akademische Gedanken, und kann ich dir einen Commentarius Auctore Helfrico Ulrico HUNNIO, doctore et in inclyta Academia Giessena Juris [124] Professore publico et ordinario, in die Hand spielen, woraus du dir eine Reisekarte zu zeichnen im Stande seyn wirst.

Hier ist eine große Lücke. Meine Leser werden die andere von selbst bemerkt haben. So viel noch hinzu. Meine Mutter traute dem Panegyrikus meines Vaters auf den Universitäten in usum Delphini nicht ganz. Sie merkte es ihm ab, daß er seine Zweifel nicht völlig los werden konnte.

Plato hat, wie erzählt wird, die Schriften des Comödienschreibers Aristophanes geliebt, und da er gestorben war, fand man noch im Bette die Schriften dieses gekrönten Comödienschreibers, der sich mit Sokrates wie ein paar Professores und ein paar bekannte Hausthiere vertrug. Dieß ist genug zur Vertheidigung meines Vaters bei seinen Seitenblicken.

Akademie (mein Vater läßt sich vernehmen) hieß der Ort, wo Plato seine Philosophie lehrte, die so schön war als der arkadische Garten dieses Unsterblichen. Wär's auch nur seinet- und des alten Herkommens halber, müßte man Universitäten besuchen.

Sollte nicht, sagte meine Mutter, die mit dem alten Herkommen und dem Plato noch bei weitem nicht zufrieden war, sollte nicht, da Adam und Eva doch wirklich relegirt wurden, schon das Paradies die erste Akademie –?

Und die Schlange und der Seraph mit dem bloßen Schwerte: fragte ich, liebe Mutter?

Wenigstens versetzte sie, war doch Eli Samuels Professor und Gamaliel des Paulus und die Prophetenkinder Studenten. – Und Stephanus, fiel mein Vater ein, voll Glaubens und Kräfte, that Wunder und große Zeichen unter dem Volk. Da stunden etliche auf von der Schule, die da heißt der Libertiner und der Cyrener und der Alexandrier und derer, die aus Cilicia und Asia waren, und befragten sich mit Stephano, und sie vermochten [125] nicht bei dieser Inauguraldisputation zu widerstehen der Weisheit und dem Geiste des, der es redete.

Meine Mutter war außer sich über diesen Text, nur die Alexandrier hätten sie gerne relegirt. Die gute Mutter! Sey ein Stephanier, sagte sie, lieber Sohn, ein Stephanier.

Mein Vater kettete seine Stammtafel der hohen Schule, von den Griechen und Römern an bis auf die gegenwärtige Zeit, zusammen, und ward diese akademische Stunde von Seiten meiner Mutter mit der Bemerkung beschlossen, daß ihres Wissens kein Doctor theologiae kurisches Brod gegessen, es müßte denn einer von den Herren Einhorns diese Würde incognito gehabt und aus heiliger Demuth sie verschwiegen gehalten haben. Mein Vater erklärte beiläufig nach seiner Weise die adelichen Rechte, welche denDoctoribus zustünden –

So wie den Literatis (meine Mutter verstand ihrenCasum), sagte meine Mutter, in Curland. Sie behauptete, es sey gleichviel, adelich behandelt werden und adelich seyn. Allein ich sagte: königlich essen, liebe Mutter, und König seyn, ist zweierlei. Und mein Vater war, zum Bedruck meiner Mutter, unerschöpflich über die Ehre des Adels. Er erklärte, was vierschildig sey, und ließ so viel auf der Ritterbank und an der Ehrentafel sitzen und in den deutschen, Marianischen, Johannis- und Maltherserorden, und in hoch-und andere adeliche Stifte aufnehmen, und die Grandes vor dem Könige von Spanien den Hut aufsetzen, bis meine Mutter zu Curlands Ehren behauptete, daß der Herzog beim Lehen sich auch einige Augenblicke bedecken könnte, wenn er wollte.

Laß den Braunen satteln, sagte mein Vater, um nach – zu reiten. Es sind zehn Jahre, daß ich den Herrn v. G. – nicht gesprochen habe. Meine Schuld ist es nicht, und die seinige, das hoff' ich, auch nicht. Die Zeit wird an's Licht bringen, was noch im Finstern verborgen ist. Herr von G – – will, daß du[126] mit seinem Sohne, der auch reisefertig und universitätsreif ist, diese Reise unternehmen sollst. Der alte Herr ist der Mäkler in dieser Sache gewesen.

In acht Tagen bist du vielleicht nicht mehr in dieser Hütte –

Pastorat, sagte meine Mutter. Deine Wäsche ist bereitet, setzte sie hinzu. Sechs Dutzend Oberhemden, sechs Dutzend Unterhemden, zwei Dutzend für den Sonntag, ein halbes Dutzend für hohe Feste. Meine Mutter registrirte noch mancherlei, was für mich bereitet wäre, allein mein Vater blieb bei den Hemden stehen, auf die meine Mutter gleichfalls einen besondern Accent legte. Sie dachte sich die weißen Kleider unter dieser Hieroglyphe, womit wir im Himmel angethan seyn würden. Was meinen Vater zum Stillstand vermochte, war etwas Irdisches. So viel Hemden, sagte er, haben zwölf Prinzen vom Hause nicht. Je vornehmer der Mann, je schlechter die Hemden, fuhr er fort, im monarchischen Staate, wo man nur auf das, was vor Augen ist, siehet. In der Schweiz, in Holland, in England feine Wäsche, und je vornehmer der Mann, je feiner. Wo ein Tyrann, ein Despot herrscht, will ich das Hemde nicht sehen. Die Menschen achten ihren Leib nicht, der ihnen nicht zugehört. Je näher auf den Leib in monarchischen Staaten, je schlechter der Anzug. Für einen Despoten ist ein grobes Isabellenhemde gut genug.

Also Sonntags- und Montagshemden, liebe Mutter, und wie Gott will! Sterbehemden und Prophetenkinderhemden; nur eins (das wett' ich) nicht – ein Brauthemde.

Da bin ich eben, wo ich seyn muß, um meinen Lesern den Schlüssel zur akademischen Ehrenpforte und zum Stall des Braunen getreulich einzuhändigen. Ein Schlüssel öffnet alles – die Eltern eilen gemeinhin mit ihren Söhnen aus dem Hause, sobald die Natur die Fabel vom Storch widerlegt. Ich will es nicht ausmitteln, in wie weit es gut sey, Kinder der Natur in diesem Stücke [127] an Heim zu geben, um die Frage unbeantwortet zur rechten Hand liegen zu lassen, ob es Kinder ins Treibeis bringen hieße, wenn man ihnen im zartesten Alter dieß Storchgeheimniß erklärt, und sie so altklug macht, daß sie selbst die Natur, wenn sie sich zum Belehren meldet, belehren und mit ihr disputiren können? Vom Blatterninoculiren haben wir guten Erfolg. Hier müßte auch Erfahrung entscheiden.

So viel dient nur hier zur Sache, daß Eltern, sobald sie den Sohn vaterfähig halten, ihm eine glückliche Reise anwünschen, recht als ob sie eine Befugniß zur besondern Oekonomie in optima juris forma bewilligten. Sie besorgen, die Söhne wollen sich an ihrem Hause einen Flügel anbauen lassen, und sehen es gern, wenn der Sohn reich heirathet, dieses letzte eben darum, warum viele Leute kein Testament machen. Hier ist der Beleg zu diesem Eingange.

Meine Mutter war nach meiner Krankheit zuweilen die dritte Person, wenn ich mit Minchen allein zu seyn Lust hatte. Die Liebenden, wenn sie lieben, glauben insgemein, es wüßte niemand, daß geliebt würde, und oft sieht's alle Welt. Sie bilden sich ein, ihre Liebe sey die einzige in ihrer Art, da aber jeder die nämliche Methode hat, und Adam selbst mit den Augen die erste Anwerbung gethan hat, so schläft der Verräther nicht. – Meine Mutter merkte, mein Vater merkte. – Beide sagten mir aber kein Wort. Meine Mutter, weil sie es für unmöglich hielt, daß die Liebe des Sohnes eines Literatus, des Anverwandten Paul Einhorns und Alexander Einhorns, des zweiten curischen Superintendenten, Wurzel fassen könne, wenn er die Tochter eines Töpfers, der zugleich Schuster und Schneider ist, liebt. Mein Vater, weil er wegzusehen sich verpflichtet hielt. Er verlangte von mir ein gänzliches kindliches Vertrauen; Minchen nahm er aus. Wie richtig ist Regel und Ausnahme? Kann man nicht das Recht lernen, ehe [128] man Recht spricht? Lehrt, Eltern, eure Kinder wählen, ehe die Natur sie lieben lehrt. Es ist eine unüberdachte Behauptung, daß Söhne kein Geheimniß (die Liebe nicht ausgenommen) vor ihren Eltern haben sollten; Irrthum – wer Liebe nicht ausnimmt, gibt seinen Söhnen im Lügen Unterricht. Der Sohn, der fühlt er könne Vater werden, ist von der Natur emancipirt, er hat in diesem Stücke keinen Vater mehr. Töchter behalten Vater und Mutter, bis sie einem zu Theil werden, dem sie als ein heiliges Depot überliefert werden müssen.

Ich hatte die Gewohnheit, zuweilen mit Minchen in ein benachbartes Wäldchen spazieren zu gehen, und nichts war mir angenehmer, als wenn ihre natürlich schöne Stimme die Nachtigallen zum Concert aufforderte und wenn sie von den Vögeln des Himmels accompagnirt wurde. Hätte sie bei einem Italiener Stunden genommen, keine Nachtigall hätte sich mit ihr eingelassen. Jetzt sang die ganze Natur mit, weil sich gleich und gleich gesellte, und ihr Gesang Natur war. Ich hatte Minchen umgefaßt, sie war mein. Mein Auge sagte laut: Ewig mein! und das ihrige antwortete: Ewig dein! – In dieser Stellung und während diesem Augengespräch und dem Concert, das die Natur dirigirte, traf uns mein Vater wie ein Blitz. Ich hatt' ihm sonst nie in diesem Wäldchen begegnet. Mich zu belauschen hatt' ers nicht angelegt, daß weiß ich. Da standen wir und sahen uns an. Lange hielt ich meinen Arm wie um ihren Hals geschlungen. Sie zog sich aus der Schlinge; allein ich hielt meinen Arm noch immer in der Höhe, als ob er ihren Hals hätte, und sie – die der liebe Gott so himmelan gebildet hatte, stand, wie mich dünkt, noch immer so von der Seite, so übergebogen, so angeschmiegt, als ob sie noch nicht auf freiem Fuße wäre, oder als ob sie sich nach mir geformt hätte. – Wie ich endlich meinen Arm fallen ließ, war's mir, als wenn die Welt fiel, so angst war mir. Wie ihr gewesen, da sie wieder ins gerade [129] Geleise kam, konnte sie nie angeben. Wir armen Kinder der Natur! Ich sehe ein, wie es dem Adam zu Muthe gewesen, da er zum erstenmale inne geworden, er sey nackt. Wer nicht empfinden kann, was Minchen und ich empfunden, thue mir den Gefallen und lese nicht weiter. – Ich glaube, ich werde den Eindruck nie verlieren, und hab' ich ihn gleich nach der Zeit nicht so stark empfunden, war es mir doch, so oft ich daran dachte, als ständ' ich mit Minchen im Wäldchen. – Ich empfand's, die Nachtigallen schwiegen und alles, was eben wachsen wollte, machte Stillstand und sah uns an. – Mein Vater war in der nämlichen Verlegenheit und hielt mit uns völlig das Gleichgewicht. Entweder wollte er sich heraushelfen, oder er wußte nicht, was er sagte. »Ist der Herr Vater nicht hier?« wendete er sich zu Minchen, und sie: »Nein, er ist auch nicht hier gewesen.« Kann wohl was Unschuldigeres auf die Frage: Ist der Herr Vater nicht hier? geantwortet werden, als: nein, er ist auch nicht hier gewesen. Das war kein Feigenblatt zur Schürze! O Minchen! Minchen! welch eine Süßigkeit ist's, dich zu lieben! Für dein: »Nein, er ist auch nicht hier gewesen,« verdientest du schon den Lohn der Unschuld, und könnte ich den Ton hinschreiben, in dem du dieses sagtest – du verdientest bis ans Ende der Welt gemalt und gezeichnet zu werden, mit der Umschrift: »Nein, er ist auch nicht hier gewesen.«

Wenn ich diese Naturscene, sowie sie ringsherum empfunden worden, getroffen hätte – (Was kann aber der Vater dafür, wenn ihm sein Kind nicht ähnlich ist?) Chodowiecki! es wäre dir mit Minchen gegangen, wie Adam mit Eva, Adam sah sie – Bein von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch – sah sie wieder, küßte sie und – Du hättest diese Seite durch und durch gehüpft, sie gelesen und ihr Handgeld zur doppelten Unsterblichkeit gegeben.

Minchen, wie sie allmählig gen Himmel wächst – nicht [130] weil sie Gewitterwolken sah, weil sie aus Furcht dem Himmel auswich, weil sie Trost bei der Erde suchte, die, wenn der Vater im Himmel schilt, wie eine wahre Unser aller Mutter keinen Blick verschmäht, womit Schuld und Unschuld sich zu ihr wenden, nicht darum, sondern

Chodowiecki! Schwestersohn der Natur, deutscher Mann! Du weißt dieß sondern so gut als ich. Zeichne diese Scene eben um des sondern willen, das dir dein Herz in Aug' und Hand dictiren wird – und dann liest man nicht Minchen bloß, man sieht – Da steht sie! und ich, froh darüber, fliege über Jahrhunderte zu Jahrtausenden, und juble und sage zu meinem Buche: fürchte dich nicht vor denen, die den Leib tödten und die Seele nicht tödten mögen. – Auch wenn der Leib Jahrhunderte lang zerstreut, und, wenn's hoch kommt, in Anleitungen zur Dicht- und Redekunst in wahre Gebeinhäuser gesammelt wird, wo man nicht kennt den Gerechten und Ungerechten. Ich bin's gewiß, es kommt die Stunde, in welcher eine Posaune des Geschmacks die Barbarei wegscheucht und dieß Buch zur Auferstehung und Leben aufhaucht, dann sey dieß Blatt, um Minchens wegen, das erste, das wieder lebendig wird!

Wir gingen alle zusammen nach Hause, und unterwegs erzählte uns der gute Mann wider seine Weise, was er künftigen Sonntag, geliebt's Gott! seiner lieben Gemeine vorsetzen würde. Das Ende dieser Geschichte war den folgenden Tag die Predigt von den Universitäten und die Nutzanwendung:


»Laß den Braunen satteln.«


Ich ging zu Minchen, der ich einen großen Theil von dem Werthe der Universitäten vorsagte, um sie zu meiner Abreise vorzubereiten. Ich erklärte ihr die Authentica habita Cod. ne filius pro patre. Omnibus, sagt ich, qui causa studiorum peregrinantur. Sie sah ein, was sie schon zuvor eingesehen hatte, daß [131] es gut sey, daß ich hingehe. Um Pastor zu seyn, ziehst du von hinnen, sagte sie. Zieh hin in Frieden.

Ich weiß, daß sich mancher den Kopf hart an dem Latein stoßen wird, das ich Minchen vorsagte, allein um Verzeihung! dieser Mancher versteht nicht, was Liebe ist, und ich hätte nicht ein Wort Latein von derAuthentica habita Cod. ne filius pro patre auf dem Herzen behalten können – die Liebe erträgt keinen Rückhalt, sie will alles, was man hat, alles, was man kann, es sey lateinisch oder deutsch. Daß ich indessen mit einer Uebersetzung, so treu als unsere Liebe, Minchen unterm Arm gefaßt, muß ich um des Schwächern willen anführen. Keine Manche, die geliebt hat, wird sich am Latein den Kopf stoßen oder das Aermchen streifen.

Der alte Herr, der mir ein tiefunterthänigstes Kompliment an Se. Hochwohlgeboren mitgab, that, was Mäkler thun, wenn sie den Käufer und Verkäufer angeführt: er wünschte mir Glück und Segen, wobei er aber nicht bloß meine Reise nach –, sondern auch die auf Universitäten verstand. Die Frau des alten Herrn, ein gutes Weib, zwar nicht aus dem Stamme Levi, doch aus dem Stamme der christlichen Einfalt und Ehrlichkeit, gab mir die Hand, da ich wegging. Gott geleite Sie, sagte sie, und segne Sie, und geleite Sie und segne sie immerdar, jetzt und in alle Ewigkeit!

Da ich noch auf eine längere Zeit nach – reisen werde, will ich mich, in Rücksicht meiner Leser, nicht lange in – aufhalten, obgleich ich drei Tage zu bleiben gezwungen war. Ich lernte den jungen Herrn mit Flinte, Jagdtasche und Hirschfänger kennen, sein Vater – ein rechter echter heller klarer Mann. Wie hat der Mann zehn Jahre meinem Vater den Rücken kehren können? Seine Gemahlin, eine gnädige Frau –

Ich will nicht vorfassen –

Die Frau v. G. – – brachte mich auf den Wunsch, wenn [132] Minchen so ein gewisses Etwas hätte, das man in der großen Welt in zwei Stunden lernt, wenn man in Purpur und köstlicher Leinwand geht, einen Gönner am Hofe und Geld auf Zinsen hat, und wozu man längere Zeit braucht, wenn eins von diesen Stücken gebricht. – Eine Viertelmeile von der gnädigen Frau war ich von diesem Etwas und meinem voreiligen Wunsche zurückgebracht. Ich überrechnete die Eigenschaften, die bei Minchen hierdurch leiden könnten, und was dacht' ich, da ich das Schöne der Natur rings um mich sah. Was ist diese künstliche Dreistigkeit – gegen die der Natur! Was ein Garten gegen Wald und Feld! Ein Junge, der ehemals unterm Phalanx gedient hatte und in Gnaden verabschiedet war, ließ mich wegen der Nachricht, daß Minchens Mutter gestorben, nicht ausdenken. Plötzlich sagte er, niemand konnte sich's vorstellen. Eben ist sie kalt geworden. Die Worte: »Gott geleite Sie und segne Sie, und geleite Sie und segne Sie immerdar, jetzt und in alle Ewigkeit!« fingen mir so lebhaft an zu werden, daß ich diese alte gute Mutter sah – und Minchen, sagt' ich? Ihro Königliche Hoheit, antwortete er, befindet sich wohl, außer daß sie halb todt wegen des Todes der Alten ist.

Mein ehrlicher Helm (er hieß eigentlich Wilhelm, seiner Tapferkeit wegen war ihm indessen die erste Sylbe allergnädigst erlassen) sagte dieß mit so viel Subordination (diese und nicht Ehrfurcht verlangte ich von den Meinen), daß er in jedem Wort Takt hielt. Er bemerkte unmaßgeblich, daß dieser Todesfall vor einiger Zeit durch ein Licht in der Kirche zwischen eilf und zwölf sehr richtig vorher verkündiget wäre, allein ich belehrte ihn, daß dieses Licht meiner Mutter Handlaternchen gewesen; ich, fuhr er fort, habe diesem An- und Vorzeichen nicht geglaubt. Desto besser, erwiederte ich. Unterthänigsten Dank, beschloß Helm, für die Parole »Handlaternchen«, ich werde sie weiter geben. – Gut! sagt' ich. [133] Soll ich mit, fragte Helm, und zeigte Briefe, die er wegschnellen sollte; ich winkte ihm ab, und mein Pferd, als ob es den Helm verstanden hätte, hielt am Trauerhaus. Ich fand Minchen die Hände ringen und laut, laut wimmern; meine Mutter! meine Mutter! Meine liebe Mutter!

Sobald ich ins Zimmer trat, artete ihr Schmerz in Kunst aus. Sie veredelte ihre ersten natürlichen Aufwallungen; sie schrie nicht aus, sie seufzte nur ein sanftes Ach! Sie weinte zwar, allein sie schluchzte nicht. Sie goß nicht Thränen, sie thaute sie nur; sie rang nicht mehr die Hände, sie faltete sie. Sie bedauerte ihre Mutter, allein sie war bemüht, dabei auch ihrem Vielgetreuen zu gefallen. Im allerersten Affekt hätte ich dieses vielleicht nicht über sie erreicht, jetzt aber opferte sie mir ihren Schmerz auf. Sie verließ ihre Mutter, um an mir zu hangen. Alle poetischen Uebel geben der Liebe Zuwachs. Ein Mädchen, das einen Bräutigam hat, kann unmöglich über den Tod ihrer Mutter anders als dichterisch betrübt seyn. Ihr Schmerz ist ein schöner Schmerz. Sie übersetzt den Schmerz, wenn ich so sagen soll, in wohlklingende Verse: Alles was sie that, gehörte der Seligen und mir zur Hälfte.

Hätten Sie sie sterben gesehen! Einen Gruß über den andern an sie. Sie ging so schön wie die Sonne unter; ich hätte was drum gegeben, wenn sie diese untergehende Sonne noch beschienen hätte. Gewiß sind Sie ihrem Geist begegnet.

Ich bin ihm begegnet, ich hab' sie gesehen, ich hab' sie gehört. Gott geleite sie und segne sie, und geleite sie und segne sie jetzt und in Ewigkeit! Ich hör's noch.

Da sah und hörte mich mein Vater. Alexander! rief er, und ich war kein Sonntagskind mehr, ich kam von meiner Mondsucht zurück. Mein Vater! antwortete ich –. Er hatte der Seele dieser frommen Alten mit einem andächtigen Zuspruch das Geleite gegeben, und selbst so etwas von Vollendung, von Himmel im Gesicht. [134] – Er sah selbst selig aus. Seine Erzählung war mir neu, ob er gleich erzählte, was ich wußte, was ich sah. Nach dieser Entzückung in den dritten Himmel kamen wir aufs Irdische, und ich erzählte ihm, daß ich erst in fünf Monaten abreisen würde. Willst du, sagte er noch zu guter Letzt, eine Leichenrede – darf ich bitten, sagte der alte Herr. – Minchen bat mich nicht, ich entschuldigte mich, und gewiß hätt' ich beim Sommergetreide eingebüßt, was ich beim Wintergetreide, bei der Predigt, eingenommen und eingeerntet, wenn ich bei dem Grabe Minchens und meiner Mutter eine Leichenrede übernommen. Dieß war wohl der größte Beweis, daß mein Vater nicht wußte, wie es mit Minchen und mir stünde. Er hielt's ohne Zweifel für Alexander- und Dariusspiel. Mein Vater ging zu Hause, ich blieb noch einen Augenblick zurück und ging mit Minchen ans Bett ihrer Mutter. Nie sah' ich die Aehnlichkeit, die diese Verklärte mit Minchen hatte, so klar als jetzt. Zwar ein Schattenriß, doch Minchen! und mir sollte grauen? – Ich nahm die mütterliche kalte Hand und rief sie zum Zeugen über mich, daß ich Minchen liebe und lieben würde. – Sie fahre über mich, sagte Minchen, so kalt sie da ist, wenn ich einen andern liebe, und tödte mich, wenn ich nicht Minchen liebe, jetzt und bis vor Gottes Thron, setzte ich hinzu.

Wir schieden dießmal von einander, als wenn wir Probe stürben! So gerührt! so –

Mein Vater, der gute Mann, der mich bei meiner Mutter angemeldet hatte, war so gütig gewesen, ihr zu verschweigen, wo er mich und den Braunen getroffen. Sonst war sie von den fünf Monaten und daß ich die Redeübung ausgeschlagen, unterrichtet und über beides erbaut. Die fünf Monate gaben ihr noch zu einer Rubrik unter den mitzugebenden Hemden Gelegenheit, und meine abschlägige Antwort? – ich erzähl' es ungern, daß meine Muttter hieraus meine Gleichgültigkeit gegen Minchen, wie aus [135] einmal eins eins heraus brachte. Liebe Mutter! die Liebe hält keine Reden!

Die fromme Alte wurde in aller Stille beerdigt, und ihr Grabmal war das heilige Kabinet, wo Minchen und ich in Liebesangelegenheiten zusammenkamen. Ein Engel mehr, sagten wir, der uns hört, ein uns so verwandter Engel.

Um meine Leser wegen der Rede schadlos zu halten, bin ich bereit, einem jeden, der hören will, eine von anderer Art vorzufechten. Liebe und Tod grenzen überall zusammen, im Roman und in der Geschichte.

Ich bin der festen Meinung, daß jedes, was schreiben kann, wenn's liebt, auch Liebesbriefe schreibe, geschrieben habe, auch schreiben werde. Die Liebe ist eine völlige Opferung, eine Universalsocietät. Man gibt alles, was man hat, man thut alles, was man kann. Man sagt alles, was man weiß, die Authentica habita Cod. ne filius pro patre nicht ausgenommen. Ein Bauer kritzelt den Namen seiner Grete in den Sand. Die Harke ist seine beste Feder. Schrammt er ihn in Kürbiß, schmeckt ihm dieser am süßesten. Schnitzelt er ihn in eine Linde, schmatzt er den Saft aus, der aus den Buchstaben quillt. Grete steht überall, wenn er's bis zu fünf Buchstaben gebracht hat; wenn nicht, ist der erste Buchstabe des Vornamens sein. Er pflügt ein G, er springt ein G, er geht ein G – und Grete? nennt ihn zwar Hans, allein sie näht den ersten Buchstaben seines Zunamens ins Tuch, das sie ihm schenkt. Hans Ficht heißt ihr Adonis, und sie streut ihre Tannen ins F, und kommt sie an die Blumen der Venus, von der sie aber Gottlob! nichts weiß, an Rosen und Myrthen, legt sie sie ins F. Selten weiß sie mehr als den ersten Buchstaben, allein den näht und streut sie – wie gedruckt. Sie sticht ihn mit Nadeln ins Eichenblatt, in alle Blätter. Die Rinde kommt dem Hansen zu; im Kürbißkabinet aber leben sie [136] in Gemeinschaft der Güter. Hier steht F und dort G. Das kleine gnädige Junkerchen macht Greten für die erste Handvoll Kuhblumen oder ein Eichhörnchen zum F die Vorschrift, oder Sr. Wohlehrwürden kleiner Benjamin, und dieser letzte gegen einen Maikäfer oder jungen Häufling.

Wenn nur eins schreiben, beide aber lesen können, ist das, was bloß liest, weit verliebter, wenn's zum Klappen kommt, als das, was lesen und auch schreiben kann. Das Schreiben zeigt von Bedachtsamkeit und Beständigkeit. Ein Philosoph will immer schreiben, allein selten kommt er dazu. Ein Dichter kann sich zur Noth, wo Gott für sey! auch ohne Schreiben behelfen. Dahero kommt's, daß oft große Dichter unrichtig buchstabiren. Der größte Philosoph schämt sich nicht und hat's auch wahrlich nicht Ursache, buchstabiren zu können. Er setzt die Worte, der Dichter wirft sie hin.

Man kann nur füglich im Stehen oder Sitzen schreiben, und es setzt eine gewisse Bedachtsamkeit zum voraus, welche die Liebe sehr bei der geliebten Person vergrößert, die nur geglaubt hatte, es wäre ein Ueberfall. Die Natur schlägt in der Liebe eine beliebte Kürze und Einfalt vor. Sie faßt die Frucht an, reif ißt sie sie vom Baum. – Die Kunst hat diesen Weg erweitert, und bald hätt' ich gesagt, verschö nert; es kommt auf den Geschmack an. Die schönsten Früchte von der Spitze des Baumes (welche die Hand nicht ohne Verlängerungsstange reichen konnte; der Mund kann gar nicht heran), die schönsten Früchte werden ausgewählt, auf porcellanene Teller gelegt, mit Blumen und Blättern, die, wenn man lang am Tische sitzt, vor unsern Augen den Geist aufgeben und welken, geschmückt, und so auf eine mit Spiegelglas und Puppen gezierte Tafel gesetzt. – Hier tanzt man, dort ging man. Die gnädige Frau, die das Obst aus der Hand des lieben Gottes nicht vertragen kann, der's Blähungen macht, läßt's verzuckern und [137] candisiren, und Mumien im ägyptischen Sinn daraus sieden. Pfefferkuchen ist ihr besser als Honig. Da man indessen sich heut zu Tage leider! fein sauber wäscht, anstatt daß man sich baden sollte, und wir unmöglich bis auf die erste Natur zurückgestimmt werden können, wo wir tausend und abermal tausend Dinge vergessen müßten, die wir jetzt wissen, dient das Schreiben zur Verfeinerung. Fühlt ihr also einen Ekel, die Früchte unterm Baum im Garten zu essen; schreibt Liebesbriefe, nur schreibt sie nicht aus dem Talander, und wenn er auch nur seit vierzehn Tagen in Paris gedruckt wäre, sondern aus dem Herzen. – Hier haben Sie den Schlüssel zu den folgenden vier oder sechs Seiten – ich weiß nicht, wie viel es, wenn's gedruckt wird, betragen werde – wenn Ihnen, Durchlauchtigste Prinzessin! gnädigste Gräfin! – diese Hausmannskost Blähungen macht, es sind, glaub' ich, auch eingemachte Sächelchen da. Finden Sie nichts – ich rathe zum Talander, es thut nichts zur Sache, ob's französisch oder deutsch ist, ob's 1697 oder 1776 gedruckt ist, was Ihnen das Herz verdirbt – ihr aber, meine Lieben! die ihr schmecket und sehet, wie freundlich Mutter Natur ist, denkt von meinem Vorbericht, was ihr am Ende von allen Liebesbriefen denkt, die man nicht selbst geschrieben hat. Und hiermit fünf Briefe von meinem Minchen, nach der Anzahl der Feierhemden, die mir meine Mutter bereitet hat, wenn sie mir nicht jetzt, wegen der Fünfmonatfrist, wider Vermuthen noch eins dazu legen sollte.


* * *


Sie an Ihn.


O du lieber, lieber Junge! – Was hast du für eine gute Art zu schelten! Es ist so was Herzliches drin, daß ich es mit [138] Fleiß auf ein Scheltwort von dir anlegen werde. Du bist ein ganzer Junge! ein Gott und sein Weib liebender Junge. Mein All, All, All, Alles bist du. Ich lese deinen Brief und schreib' an dich beinahe alles zusammen. – Was kann aber die Liebe nicht! du schiltst, daß ich durch Nähen und Stricken mir den Finger wund gemacht. Soll ich denn die Hände in den Schooß legen? da würd' eine Närrin aus mir werden, obgleich ich jetzt dein Weib bin. – Was Klügeres kann kein Mädchen in der ganzen weit und breiten Welt seyn, als dein Weib. Der Finger ist auch wohl behalten und heil, und sieht aus wie – neu hätt' ich bald geschrieben – wie zuvor. Er hat keinenschwarzen Band mehr. Die Trauer ist schon gestern abgelegt. Was willst du mehr? – Fast wünscht' ich, du möchtest noch mehr wollen, damit du schelten könntest. Schilt doch, lieber herzlieber Junge, schilt doch was rechts auf. – Die Musik war bei der Fingertrauer nicht verboten. Soll ich meine Doris missen, kann ich dir so herzbrechend singen und spielen: du sollst's hören. Mein Vater wunderte sich über den schnellen Gang in der Musik. Der gute Mann weiß nicht, daß ich eigentlich in der Schule der Liebe bin, und von ihr Klavierspielen lerne. – Gott im Himmel und dich in der Welt! Wie kann ich Gott lieben, den ich nicht sehe, wenn ich dich nicht lieben sollte, den ich sehe. Ich liebe Gott in dir. Es ist unaussprechlich, wie ich dich liebe. Du bist Gottesbote an mich. Gott gab mir dich. Meine Seele ist dein, und unsere beide Seelen sind Gottes. Heut sehen wir uns; allein nicht ganz, wir sprechen uns allein schwerlich drei Viertheil. Du müßt' es denn machen wie neulich. Deine Mutter braucht aber nicht alle Tage Pfefferkraut. Was ist doch die Liebe für eine Lehrerin? Wir sonderten uns vor aller Leute Augen ab, die mit uns gingen, und kein Mensch dachte Arges in seinem Herzen. Es fehlte nicht viel, deine Mutter selbst hätte darum gebeten, und das Beste war, wir fanden gleich so viel Kraut, [139] daß wir Zeit genug hatten, uns viel, viel zu sagen. Findst du aber, daß es weniger wird, was noch rückständig ist, und was wir uns noch zu sagen haben? ich nicht. – Wir zahlen nicht einmal alle Zinsen ab; diese werden noch Capital. Wann wird uns Gott in Stand setzen, Capital und Zinsen richtig zu machen. Wenn du Pastor bist und ich Pastorin. Dein Weib bin ich lang. Gott und alle seine heiligen Engel waren auf unserer Hochzeit, und die sind ständig beinahe sichtbar um uns, wenn wir allein sind. Es kann nur wenig, sehr wenig daran fehlen, um sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen. – Da kann man wohl mit Recht über den betrübten Sündenfall klagen. Ist's denn Sünde, so zu lieben, als wir? und liebt nicht Gott unsere Liebe? Seine heiligen Engel sind ja unsere guten Männer gewesen, und wir sind nicht so verbunden – (ich wollte nicht verheirathet schreiben, allein ich ärgere mich über den Anstand, den ich drüber genommen, und schreib's zweimal hin) so verheirathet, wie die verkehrte Welt, sondern wieAdam und Eva. Gott selbst hat uns getraut, und sag': hat je ein böser Gedanke dein Herz verfälscht? mir ist keiner vorgekommen. Je frömmer ich bin, je inbrünstiger denk' ich an dich. In der Kirche höre ich deine Stimme unter hundert, und ich singe schnell mit, damit wir beide zusammen zu Gott kommen. Aus der ganzen Fülle meines Herzens bin ich dir gut. Bin ich nicht dein Weib, dein treues Weib, du Einziger, du Eva's Adam! Sag es mir tausendmal und wieder tausendmal, daß du mein Mann und ich dein Weib sey. Das lernt man immer schöner aussprechen, je öfter man es ausspricht. Wenn du es sagst, ist's mir himmlische Musik, Kirchengesang. – Jetzt sind wir nur beim lieben Gott bekannt. Ueber ein Kleines oder über ein Großes – mir ist's gleich, wird Gott uns auch unter die Leute helfen. Ich liebe deine Seele, und du die meinige. Du bist der Mann meiner Seele, und ich das Weib deiner Seele, sonst könnten die Engel mit uns [140] nichts mehr zu schaffen haben. Leb wohl! – Zu Mann und Weib hat uns der liebe Gott gemacht, zum Herrn Pastor und Frau Pastorin müssen es die Menschen thun. Da ist das ganze Räthsel.

N.S. Zur rechten Hand. Das Pfefferkraut würd' ich zum Kraut der Liebe machen, so gut bin ich ihm.

N.S. Zur linken Hand. Warum hast du deinen letzten Brief so weitläufig geschrieben? Wenn du mir so gut nicht wärst, als ich weiß, daß du es bist, würd' ich mir Gedanken machen. Hab' ich es nicht von dir: »je kälter, je weitläufiger, wenn man Briefe schreibt.« »Wer liebt, läuft immer über. Er kennt nicht Maß und Gewicht.« Aber so bist du! auf deine Finger siehst du nicht, allein die meinigen sollen nicht trauern. Könnt' ich dann nicht dich und du mich lieben, wenn auch alle unsere zwanzig Finger in tiefer Trauer wären. Ich komme wieder aufs Vorige. Wer war es denn, der sagte, die Natur liebt eben die Finger nicht weiß. Rothe Wangen, starke Hände, wo gesundes Blut durchscheint, ist Naturuniform: wer war es? Ich muß noch ein Stück Papier mit der Nadel anheften. – Lieber Mann, ein Naturmensch, wie du, sollte nicht auf weiße Finger sehen. Das nenn' ich! ich! ich! nenn' das schelten! Grüße alle deine Finger von mir – sie sind meine Finger. Du bist ganz mein, ich ganz dein. Wir sind eins, ich habe deine Briefe unter meine Bibel gelegt. Erst Gott, und dann mein Mann. So gehört und gebührt es sich. – Ihr Männer, dünkt mich, seyd zum Reden und zum Schreiben. Wir Weibchen zum Thun, und wenn's hoch kommt, zum Lesen. Das wirft du wohl finden, ohne das ich's nöthig gehabt habe zu schreiben.


Sie an Ihn.


Wie du vom Alexander zum lieben Jungen erniedrigt, oder besser, erhöht bist! Unsere Liebe hat sehr gewonnen, jetzt da dein [141] Vater den zweiten Diskant singt. Ich wette, er hat mit dir zuvor etwas Großes im Schilde geführt. Gottlob! daß du jetzt Pastor wirst. So sind wir doch so sehr nicht auseinander. Lieber, lieber, lieber Junge! was meinst du? Die Regenten müssen sich doch auch zuweilen so nennen, wie wir, oder sie wissen nicht, was Liebe heißt, und dann sind sie ärmer, als wir, und ärmer, als alle Bettler in unserm Dorfe. Ich weiß doch auch, wie es einer Prinzessin zu Muthe ist; allein ich tausche nicht mit der Königin Elisabeth, da ich dich habe – und du nicht mit Alexander, da du mich hast. Wir würden jetzt schlecht Alexanderchen spielen! die alte Babbe würde die königliche Frau Mutter besser machen, als wir Alexander und Frau Alexander. Außer der Liebe, das fühl' ich, ist alles Possen und Unwesen in der Welt. Du hast recht, ganz recht, »die Liebe macht gleichgültig gegen Ruhm und Glanz, allein gegen die Menschlichkeit nicht. Sie schränkt das Herz ein, allein sie erweitert es auch. Eins liebt nur eins, wie Mann und Weib, alle Menschen aber, wie Schwester und Bruder. Einen Verliebten, glaub' ich, kann jeder Mann betrügen, er hält alles für ehrlich, was ihm begegnet, die Liebe ist stark Getränk für die Seele. Sie betrinkt sich in ihr, und Verliebten geht's kein Haar besser, als Leuten die ein Gläschen über'n Durst getrunken haben. Es ist ihnen alles besser, wie zuvor. Sie sehen alles in den besten Jahreszeiten, alles im Junius.« So weit du. Eine schöne Antwort auf deinen Brief. Ich schreibe ab, was du geschrieben hast. Mich dünkt aber – das ist die rechte Art für ein Weib. Sie ist eine Kopistin des Mannes, wenn sie schreibt. Denn dieß ist ihr Fach nicht. Das war wieder eine Abschrift von dir, und überhaupt bin ich ganz nur eine Abschrift von dir. Du hast mir gestern geschrieben, daß ich deine Buchstaben nachmache, und daß sie mit der Zeit wie deine seyn würden. Lieber Junge! ich leg' es nicht dazu an, ich mache sie nicht nach. Es kommt von selbst, ungebeten. – [142] Ich lese deine Briefe mir ins Herz und in die Hand. Wenn du morgen zu mir kommen willst, komm um vier; von vier bis sieben sind nur drei Stunden. Ich habe dir viel von der Liebe zu sagen, worauf mich dein Brief gebracht hat. So was muß man sich sagen; schreibt man, ist's so, als wenn man Schlagwasser aufs Schnupftuch gießt. Ich denke, die Liebe ist noch das Einzige, was in der Welt von ihrem Stande der Unschuld, und von der Zeit, da sie aus der lieben Gottes Hand kam, übrig ist. Und du lieber Gott! bei dem allen glaub' ich, daß nicht drei Paar in ganz Curland sich lieben, wie man recht liebt, sich lieben wie wir. – Du wirst über vieles lachen, was ich mir im Kopf gezeichnet, über vieles wirst du mich aber küssen. – Im Lande, schreibst du, wo man sich in der Landessprache nicht auf gute Weise dutzen kann, liebt man nur so so – – recht! ganz recht, lieber Junge, und wann hättest du nicht bei mir Recht? Das Dutzen ist so was zum Herzen, daß ich's nicht sagen kann. Was das hübsch ist, daß du deinen Vater und deine Mutter du zu nennen das Herz hast. Meinem Vater dürft' ich so nicht kommen, der Muttter wohl – darum liebst du auch deinen Vater mehr, als ich den meinigen. Unsere Mütter lieben wir, glaub' ich, gleich. – Den kleinen Finger von der Liebe, womit wir uns lieben, auch der nicht! – Ich habe schon gedacht, ihr Männer könnt nimmer so zärtlich seyn, als wir. Hörst du? als wir. Wo ich alles vernehme, was ich schreibe, mußt du besser wissen, als ich – denn in Wahrheit, wenn ich mich an das Papier setze, weiß ich kein Wort. Morgen von vier bis sieben! Ich würde nicht eine Sylbe an dich schreiben, wenn du es nicht so wolltest, aber du müßtest ohne Ende und ohne Ziel an mich schreiben, sonst wüßte ich nicht, was ich anfinge. Ich finde in keinem Buche das, was ich in deinen Briefen finde. – Was du aber in meinen findest, kann nicht viel seyn.

[143] N.S. Komm ja um vier; mich ärgert, daß ich alles so voll geschrieben habe, ich möchte dich gern noch einmal, und noch einmal drum bitten: um vier.


Sie an Ihn.


Sie an ihn! diese Erfindung macht dir Ehre. Du und ich, ich und du. Mehr ist für uns nichts in der Welt. Mir kommt's wenigstens so vor. Es geht dir mit meinen Sachen, wie mir mit den deinen. Ich könnte nicht leben, wenn ich nicht was von dir bei mir trüge. Ich sehe dieß als ein Pfand an, das du mit einem Kusse auslösen mußt. Den letzten Brief trage ich immer im Busen, bis ihn der folgende ablöst. Dein Tuch aber kann ich in der Hand halten und küssen, und mich damit vor aller Welt Augen erfreuen. – Mein Tuch und meine Feder, und mein Buch und das Band auf meinem Kopfe, das du nicht berührt hast, ist mir als ein ungetaufter Heide. Was du angefaßt hast, ist mir eingesegnet und geweiht. Die Stadtleute, die nicht wissen, wie schön es ist, Blumen an der Wurzel zu sehen – geben sich einander Blumen. Ihr Blumengeschenk – das habe ich von dir – ist ein Bild ihrer Liebe, die auch bald dahin stirbt. Ich möchte nicht in der Stadt wohnen um vieles! Die Leute, glaub' ich, haben da den lieben Gott nur in der Kirche, wir – der Name des Herrn sey gelobt! – haben ihn überall. – In Mitau werde ja nicht Pastor. Werd' es auf dem Lande. Da hast du halb predigen, und wir leben doppelt. In der Stadt ist man, wie's in der Bibel steht, lebendig todt. Man lebt sich da, wie du sagst, krank und todt. Daß du mir ja keine neue Feder mehr schickst. Ich will keine, mit der du nicht schon geschrieben, und die du nicht schon in Gang gebracht hast. Und was ich noch mehr will, das hätt' ich bei einem Haar vergessen. – Der alte Herr geht morgen aufs Land und bleibt drei Tage. –

[144] N.S. Um acht Uhr des Morgens kommt der Wagen nach ihm; um neun ist er gewiß nicht mehr hier.


Sie an Ihn.


Gestern, lieber Mann meiner Seele! Einziger! habe ich den Geburtstag unserer Liebe gefeiert. Im Buche der Lebenden, das vor dem Throne Gottes liegt, sind wir gewiß von Anbeginn in einer Reihe zusammengeschrieben. Ich zittere und freue mich. Es schaudert mich und ich bin entzückt, da ich an das zurückdenke, was gestern neu geboren ward. Der erste Kuß und mit ihm der Schwur: »Ewig mein!« ich habe meinen Schutzengel sehr gebeten, es dir einzuflößen, was ich gestern empfunden habe, es ist unausschreiblich! Denkst du auch noch zurück? Unsere Augen waren die ersten Bekannten; sie waren immer zusammen, wenn sie sich erreichen konnten. Eh man sich liebt, ist das Auge, wie du sagst, als eine Sonne mit Wolken belagert. Die Liebe steckt das Auge an, zuvor ist es eine unangezündete Kerze. Kaum brennt's, so ist auch der ganze Mensch hell. – Alles stufenweise in der Liebe! Nach dem Blick eine Berührung. Ich denke noch oft daran, wenn sich unsere Finger berührten, da du mir was reichtest, oder ich dir – die Funken spritzten mir bis in die Seele, so oft wir so Feuer anschlugen, und da ich dein Glas wie aus Versehen nahm, und du das meinige, und da ich mit gutem Bedacht an eben der Stelle trank, wo du getrunken hattest. Himmel, was trank ich! ich trank dich, ich war von dir betrunken, und mein ganzes Blut ward davon entzündet. Endlich das hohe Fest, dessen Jahrestag gestern war! Sprachen wir oder sprachen wir nicht? Ich glaube: Nein. Sprache und Liebe bestehen nicht sonderlich, das habe ich oft erfahren. Die Sprache ist ein ungetreuer Dienstbote. Gott, wie du mich küßtest und drei Blüthen vom Baume herabfielen, um diesen Ort zu heiligen, und die Nachtigall schlug, und wir dieß [145] alles nur halb sahen, nur halb hörten, bis wir uns von diesem Kusse erholt hatten! O Mann, o lieber Mann! welch ein Fest! Wie hab' ich gebetet, daß Gott mit unserer Liebe sey! Er, der die Liebe ist, sey mit unserer Liebe! Er weiß das Ja, das wir stammelnd vor seinem Angesichte ablegten, die Sonne beschien es, der Altar war mit Vergißmeinnicht bordirt und mit Blumen geschmückt, die so schön zusammenstanden, als ob sie auch untereinander vermählt und zusammen getraut wären. An diesem Tage, lieber Mann! müssen wir auch einmal, wenn Zeit und Stunde ist, vor der Welt zusammengegeben werden. Dieser unser Welthochzeittag sey uns ein untergeordnetes Fest, und also am nämlichen Tage! – Man muß Gott mehr lieben als die Menschen – ich habe sehr, sehr für dich gebetet. Ich bin deinetwegen beim lieben Gott Sturm gelaufen. Laut, laut schrie ich: Gott sey mit ihm, mit ihm! Ich nenn' dich immer zum lieben Gott Er. Gott weiß ja alle Dinge. Einmal – das muß ich dir ohrbeichten – kam mir der Alexander in den Mund, und ich ward so zurückgesetzt – ich schämte mich so vorm lieben Gott, daß ich in zwei Tagen kein Wort hervorbeten konnte. Ich denke, es kommt daher, weil wir Alexander gespielt haben, und weil der liebe Gott das Herz und kein Spiel haben will. Weißt du woher anders? schreib's mir. Es war doch nicht ein Schelmenstück, daß du den Alexander machtest, und mein Bruder Benjamin den Darius. Du heißt ja leider Alexander. Da bin ich wie deine Mutter! Ich gäbe was drum, wenn du Johann oder Gottlieb hießest. – Ich vergess' es nicht, was der Herr Candidat * sagte, der als Volontair nur einem der Feldzüge zusah, den dein Vater mitmachte: »Gut wär's, wenn überhaupt König nur gespielt würde!« Dein Vater schüttelte Nein! warum nein? – Ich bin des Herrn Volontairs Meinung.

Es hat doch bei unsern Schlachten kein Junge ein Bein gebrochen, und die Jungens sind alle so vollkommen, so stark. Benjamins [146] Fuß ist obenein gerader geworden; was fällt aber nicht, wie man hört und liest, im Kriege? Im Anfange glaubte ich, daß in der Geschichte die Zahlen verdruckt wären, ich fand's aber oft ganz ausgedruckt. Die Leute sollten's nicht so deutlich machen, damit man wenigstens denken könnte, es wäre eine Null zu viel. Da seh' ich, was ich zusammen geschrieben habe. Wenn du oder ein anderer Alexander das, was ich geschrieben, schreiben, oder besser zusammenlegen sollten, wär's ordentlicher und kürzer, glaube ich, aber nicht herzlicher. Ich streiche nichts. – Mögt ihr doch streichen, wenn ihr nur nicht das Herz herausstreicht, wie ich glaube, daß es die meisten von euch thun. Da fiel's mir neulich beim Pilatus ein: »was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.« Gott verzeihe mir's. Ich dachte – das Weib – er, als Landpfleger, hätte ja streichen können. Wie ich froh bin, lieber Junge, das wird dir dein Schutzgeist sagen. Der meinige hat ihn heute gewiß mehr als einmal besucht und es ihm erzählt. Wenn wir sie kennen lernen werden, das wird eine Lust seyn. Mir ist's sehr, sehr angenehm, an den Tod zu denken. Ei wie denn dir? Gott segne dich und behüte dich in alle, alle Ewigkeit! Amen! Amen!

(An der einen Seite:)

Heute gewiß einen Brief von dir. Es ist Geburtstag. Die Briefe werden sich begegnen. Ist er noch nicht abgeschickt, laß ihn den meinigen küssen; ich werd's empfinden; und eh' die Briefchen einmal, wenn wir zusammen sind, auch zusammen kommen und sich paaren, wird's noch eine Zeit dauern. An unserm Welthochzeittage wollen wir sie zusammen legen. Eben denk' ich dran, wie furchtsam unser erster Kuß war, um dir zugleich eine gute Lehre zu geben. Jetzt ist's so, als wenn du mir das Aug' austrinken wolltest, wenn du es küssest. – –


[147] Sie an Ihn.


Ich habe zum erstenmale einen Menschen sterben gesehen! und gleich zum erstenmale eine Mutter. Nun würde folgen, selbst zu sterben, und das Entsetzlichste – von deinem Tode zu hören. Denn dich sterben sehen, wär' unmöglich. Lieber Junge, alles auf einmal! Du wirst weg – meine Mutter ist schon weg. – Du kommst zwar wieder, allein meine Mutter nicht mehr. Du weißt, wie ich sie geliebt habe, und wie sehr ich Ursach dazu gehabt. Wenn wir zu einem Briefträger einen Vertrauten nöthig gehabt, wäre sie es gewesen. Du hast mir's gesagt und geschrieben: Ein Mädchen kann zur Vertrauten in der Liebe niemand anders als eine Mutter nehmen – höchstens einen Bruder. Wie wird's jetzt werden, da du dem Benjamin unsere Liebe nicht entdecken willst? – Du schreibst, ein guter, sehr guter Junge, nur ist er gewohnt in die Flucht geschlagen zu werden. Wer Geheimnisse bewahren will, muß des Siegens gewohnt seyn. Wir armen Leutchen! jetzt schreiben wir einander und tragen die Briefe selbst an Ort und Stelle. Wenn du aber nicht mehr dreißig Schritte für Männer, und sechzig Schritte für Weiber, und fünf und vierzig Schritte, wenn wir beide zusammen gehen, von mir entfernt seyn wirst, wie werd' ich dir meine Briefe im Buche reichen oder in die Hand drücken, oder auf diese oder jene Stätte legen, welche der liebe Gott bloß unserer Briefe wegen so dick mit Gras bewachsen ließ, um unser Geheimniß zu decken. O Gott! wenn ich an deine Abreise denke, ist's mir so, als wenn ich meine Mutter sterben sähe, und doch wirst du wieder kommen, und dein Weib bekennen vor den Menschen. Gott helf' uns dieses Bekenntniß vor dem Altare ablegen, wo wir ehemals unser Glaubensbekenntniß gen Himmel ablegten! Du mußt auf eine Universität, das hast du mir bewiesen, also gehe hin. – Ich werde dir noch viel, viel mitgeben, daß du dich meiner erinnern kannst! – Du armer Junge! ich behalte doch mehr zurück. [148] Dein Vater hat deine Finger, als wenn ich sie sehe. Wie werd' ich darnach blicken, selbst wenn er mir die Hand beim Beichtstuhle auflegen wird, selbst da werd' ich an deine Hand denken. Das ist keine neue Sünde! Was behalt' ich nicht noch mehr! Alle die Oerter, wo du gingst, wo du kamst. Wo Alexander siegte, wo ich deine Gefangene war, wo unsere Augen einen Bund machten; den Altar, wo wir getraut wurden; den Ort, wo wir Concert hielten; wo du oft, oft mich zusammennahmst und küßtest, und wo ich dir durch einen bescheidenen Kuß für deinen heftigen dankte; wo wir uns freueten, daß es Frühling war, und das erste Veilchen, die erste gelbe Blume, den ersten Schmetterling bewillkommten. Der Ort, wo dein Vater uns überfiel, lieber Junge! – ich glaube noch immer, du magst mir so viel sagen als du willst, der hat viel zu deiner Abreise beigetragen. – Der Tod sucht Ursach. Gott sey Dank! noch fünf Monat. – Was wimm're ich Thörin! du gehst hin, um beständig bei mir zu seyn, um Stroh zum Nestlein für uns zu holen. – Flieg denn aus, find bald dein Stroh, und denk, daß deine Sie auf dich wie eine von den klugen Jungfrauen wartet. Schick' mir dann und wann eine Taube mit einem Oelzweig. Wir müssen noch verabreden, wie wir's mit den Briefen halten wollen! – ich kann dir nicht sagen, wie mir ist! – So sind wir Menschen! Wer stirbt gern, wenn er gleich weiß, daß er dadurch zum ewigen Leben kommen soll? – Das Letzte ist gewiß. Leute, die recht sehr fromm sind, müßten hier schon wie dort seyn. Sie studiren die himmlische Geographie, und sind im Himmel so, wie ich in Gedanken auf all' den Universitäten seyn werde, wo du wirklich seyn wirst. – Wer stirbt aber gern? Wer? Warum ich eigentlich an dich schreibe, hab' ich dir noch nicht gesagt. Ich habe meine Mutter vor dir nicht sehen können; ich will sie unsere Mutter nennen, meinen Vater aber nie, nie unsern Vater. Der meinige ist er, weil's Gott hat haben wollen; warum sollst du dich [149] aber mit ihm beschweren? Gott verzeihe mir's! wenn ich hiedurch dem vierten Gebote zu nahe trete – du hast mich als Mann darüber losgesprochen und die Grenzen abgemessen: »Bis dahin und weiter nicht.« Als Pastor mußt du diesen Losspruch noch bestätigen und vollführen, Amen! Wieder von unserer Mutter ab – ich hab' dir noch etwas Schriftliches von ihrem Abschiede versprochen, weil ich's dir mündlich nicht sagen konnte.

Wisse also, mein lieber Junge, daß ich ihr, kurz eh' sie starb, unser Liebesgeheimniß entdeckt habe – ich habe vor der Minute gezittert, da es hieße: Vollbracht – nachdem ich ihr aber unser Geheimniß gesagt hatte, zitterte ich auch für ihre Besserung. – Ist's nicht gut, daß ich's ihr gesagt habe? – Sie hätt's doch im Himmel erfahren, und dann hätte sie Ursache gehabt, es mir zu verdenken, wenn dieß Wort im Himmel nicht verboten ist. – Was weiß ich – ich dachte, es wäre unrecht, sie ohne dieß Geheimniß sterben zu lassen. – O lieber Junge, welchen Segen hat sie über uns ausgesprochen. Sie war schon lange wie todt, hatte lange sprachlos gelegen, da ich ihr aber unsere Liebe erzählte, bekam sie ihre Sprache wieder. Zacharias fiel mir ein mit seinem – »er soll Johannes heißen.« Sie nannte dich Sohn. Das hätte sie in dieser Welt nicht das Herz gehabt, wenn ich gleich wirklich die Frau Pastorin gewesen wäre. Sie fühlte aber, wer sie war! Sie fühlte ihre Beförderung zum Engel. Sohn! Sohn! Sohn! sprach sie, als ob sie sich dabei was zu gut thäte, und blieb im Segnen. – – Gewiß hat sie's mit himmlischen Worten fortgesetzt, was sie mit irdischen angefangen; und was sie in Schwachheit begann, geendigt mit Kraft. Gott schenk' ihr die himmlische Seligkeit, die sanfte, ewige Ruhe der Auserwählten! Auf ihrem Grabe will ich oft Rath holen, wenn ich in deiner Abwesenheit Rath bedarf – du mußt noch oft, oft, – so schwarz, so nackt, so unbegrast, so unbeblümt es gleich da ist – (wer wird sich aber [150] vor Staub, vor seinesgleichen fürchten?) oft mußt du noch an ihr Grab mit mir wallfahrten. O Lieber! mir ist so – so – rings ums Herz, als wenn ich meiner Mutter bald folgen werde – und hätt' ich dich nicht – wie gern! wie gern! ich hätte diese letzten Zeilen gern weg! Aengstige dich nicht. Du kennst mich so gut, wie ich mich selbst kenne!

Du schreibst mir: »Schone dich! ich weiß, du bist in dein Leben nicht verliebt – schone dich meinetwegen!«

Junge! deinetwegen, deinetwegen, deinetwegen will ich leben, leiden und sterben! –

Da hab' ich ihn mit einem Griffe deinen lieben Brief, den ich aufsuchen wollte.

»O Mine, wenn doch unsere Väter alle Nächte den Himmel observiren möchten. – Was war das für eine Nacht! Mine – was für eine Nacht! Mine, was für eine Nacht! Wie feierlich, zwischen eilf und zwölf auf dem Kirchhofe zu seyn! mit dir! mit dir allein auf dem Kirchhofe.« – – Ich vergesse dieseszwischen eilf und zwölf in meinem ganzen Leben nicht. – Die Alten sahen auf der andern Seite des Kirchhofs nach den Sternen, und ich? »sah dich – dich – dich – doch warst es du? Sag, warst du entzückt, oder warst du wie sonst? Ein Mondstrahl umleuchtete dich – ich stand im Dunkeln und sah ein Gesicht im prophetischen Sinne. – Nie hab' ich so was gesehen! du warst verklärt, und dein Gesicht war wie eines Engels Angesicht: so – so – wie ich dich nach der Auferstehung der Todten sehen werde in alle Ewigkeit!«

Wozu diese Abschrift? – gleich, lieber Junge.

Gestern standst du in der Sonne! Sie beschien dein edles Angesicht – sanft und zurückhaltend war ihr Strahl, so als wenn Gott mit Menschen spricht. – Die Sonne blitzte nicht, sie hatte einen Augenschirm vor, und ich! kurz lieber Junge, wie es dir mit [151] dem Monde ging, ging es mir mit der Sonne; ich sah dich, ich kannte dich, allein du warst wie Moses, indem er vom Berge kam und mit Gott gesprochen hatte, und ein Gesicht voll Sonnenglanz mitbrachte – da dacht' ich: Sonne und Mond ist Mann und Weib. – Da sah ich uns beide im Himmel, dich in die Sonne, mich in den Mond gekleidet – ich weiß nicht, wie mir war! mir kam es so vor, daß ich bald stürbe, und daß meine Mutter ein Mondgewand in der Hand hielt, mir das Sterbehemde auszog und mich himmlisch einkleidete. Ich war in Wahrheit außer mir! – das hab' ich noch behalten, daß es selig wäre, selig, selig wäre zu sterben – wenn du mit stürbest. – Gottes heiliger Wille geschehe!

Oben wo sie angefangen hatte (das andere ist so voll geschrieben, daß kein Wort mehr Raum hat): Was haben wir nicht noch abzureden, ehe du gehst. Fünf Monate sind zu kurz, wenn wir von vier des Morgens anfingen und um neun aufhörten. Wie kommt's, daß wir nicht zum Worte kommen, wenn wir zusammen sind.


Dixi!


Und wenn gleich meine Mutter drei Hemde-Rubriken mehr während der Zeit erfunden hätte. Dixi!

Euch, gute Seelen, die ihr den Hänfling, den ein Bube aus dem Neste stahl, um ihn mit aufgeweichtem Brode zum Sklaven zu füttern, versteht, wenn er, seinem Kerker entflohen, auf dem benachbarten Kastanienbaume seinem Tyrannen Hohn singt;

Euch, gute Herzen, die ihr einer Pflanze die Wollust ansehen könnt, wenn der Gärtner sie aus dem Blumentopf in die weite Erde bringt, oder einen Feigenbaum, wenn der Besitzer in nördlichen Gegenden ihn vom Fenster in den schönen sanften Regen setzt;[152] Euch wenigen Edeln! die ihr, wenn die Bohne in eurem Garten eine schwere Geburt hat, ihr nachhelft und die Schlauben abstreift, um ihr Luft zu machen, und die Blume, die der Sturm wie eine Wittwe beugt, mit tröstender Hand aufrichtet, damit sie, so wie ihr selbst, gen Himmel sähe, euch, die mein Vater Seher, von Gott Angehauchte, nennen würde; Euch, die ihr höret und sehet, was Viele mit offnen Augen nicht sehen, mit offenen Ohren nicht hören, schreib' ich diese Briefe zu. Schützt sie wider Hof- und Stadtleute, die Ach und Weh über sie kreischen, wider die Schwätzer und Trunkenbolde in der Liebe, die, gewöhnt an italienische Musik, die kein Schäfchen blöken, keine Nachtigall schlagen, keine Biene schwärmen, keinen Käfer brausen hören können.


* * *


Es war eines Sonnabends – wie hätt' es wohl ein anderer Tag seyn können? – da mich meine Mutter bei der rechten Hand nahm, welche sie dieAuserwählte zu nennen pflegte, und sich folgendergestalt verlauten ließ: Mein Sohn, heute König, morgen todt. Es ist leicht möglich, daß, wenn deine Noviciatsjahre geendigt sind, und du dich, zu Ablegung der heiligen Gelübde, nach Curland zu den Altären deiner Väter mütterlicher Seits einfindest (mein Vater hätte gesagt: wenn du deine Jahre der Wanderschaft zurückgelegt und ans Meisterrecht denkst), du mich nicht mehr in dieser irdischen Hütte siehst. – Dort sehen wir uns gewiß und wahrhaftig; indessen hab' ich noch viel auf meinem Herzen für diese Welt, das ich nicht gern wie einen Haufen Reiser zusammenraffeln, sondern mit Zuckererbsen zur Saat lesen und sondern und dir ins Ohr säen, oder, nach dem ein und vierzigsten Psalm im achten Verse, raunen möchte.

Ich glaubte, daß dieser aufgespannte Pfeil Minchens Geschichte treffen würde, allein ich betrog mich am Ende, obgleich ich meine Mutter, um ein anderes tödtliches Gewehr anzuführen, Pulver auf [153] die Pfanne streuen und zielen sah, da sie von den Vorzügen eines guten, ehrlichen Herkommens sprach. Sie lenkte auf meinen Vater, ihren vielgeliebten Eheherrn, und legte es mir so nahe als möglich, daß ich sie fragen möchte, was sie wohl von seiner Abkunft dächte? Wir bogen beide zur Rechten und kamen nicht zusammen. Freilich hätt' ich auch gern gewußt, was meine liebe Mutter, baß als ich, von dieser Sache wußte. Ich befürchtete aber Aufträge zu gewissen Fragen an meinen Vater, und wie hätt' ich einen Mann foltern, oder wie meine Mutter sprach, stöcken sollen, der so väterlich war, mir wegen Minchen keine Frage ans Herz zu legen? Sie mußte also durch einen andern Weg in ihr Land. Ueber deinen Vater, sagte sie, habe ich tausend und abermal tausend Thränen vergossen. Selten wird ein Frauenzimmer das Wort Thränen trocken aussprechen, und ohne es anschauend zu machen, was Thränen sind.

Ich weiß zwar nicht, wo er her ist, und wer seine Eltern gewesen, bald hätt' ich liebe Eltern gesagt; Gott weiß aber, ob sie's verdient hätten und ob's nicht unschlachtig Volk gewesen. – Ich vermuthe, daß sie ihm eben keine Ehre machen können, denn sonst wüßte ich nicht, warum er so zurückhaltend über diesen Punkt zu seyn Ursach hätte. Hier fing sie so bitterlich an zu zeigen, was Thränen sind, daß ich sie herzlich tröstete. Sie jammerte mich von ganzer Seele.

Was ich weiß, will ich dir sagen; wollte Gott, daß es ohne die größte Bewegung meines Herzens geschehen könnte.

Ich verbat ihre Erzählung, da ich sah, wie sehr es sie angriff.

Nein, um des Himmels willen, nein, aber nein, rief sie aus, und wenn mir drüber das Herz brechen, wenn ich gleich sterben sollte, mußt du alles erfahren, was ich gewiß weiß, was ich hoffe, was ich glaube, was ich fürchte, und noch manches was mehr.


[154]

Nichts war es spät und frühe


sang sie –


Um alle meine Mühe;

Mein Sorgen war umsonst. –


Und nach Vollendung dieser Herzstärkung fing sie an: Du weißt, wie sich die Lebensläufe unserer in Gott ruhenden Vorfahren anfangen: »Was nun anlangt« – ich kann diesen Anfang nie, ohne Lust aufgelöst zu werden. – beten –

»Was nun anlangt die ehrliche Geburt, den Tauftag, den geführten christlichen Lebenswandel und die selige Sterbestunde unserer in Gott ruhenden Glaubensschwester, der weiland viel ehr- und tugendsamen Frauen, Frauen – – so ist selbige – – von christlichen Eltern geboren. Ihr Herr Vater war der weiland Wohlerwürdige, und ihre Mutter die weiland – – leibliche Tochter des weiland Wohlehrwürdigen – ihr Herr Großvater war der weiland Wohlehrwürdige – so viel Weilands Wohlehrwürden ohne Ende und Ziel.« Bei deinem lieben Vater ist ehrliche Geburt und alle Wohlehrwürden in die Rappuse gegeben. Gott gebe, daß dieser Gedanke ihm sein Sterbelager nicht schwer mache.

Es war im Jahr nach Christi Geburt 17 – den – da er zu deinem lieben, seligen Großvater gegen Abend um sieben Uhr ankam. Es schlug eben unsere Stubenuhr, die so katerhaft brummte, eh' sie eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben herauswürgte, daß ich kein Wort von den Erstlingen deines Vaters zu vernehmen im Stande war. Er schien mir mehr mit dem Rücken als mit dem Munde zu sprechen. – Es war der kälteste Winter, den ich je erlebt habe. Ich sehe noch, wie dein Vater that, als wüsch' er sich die Hände. Drei Aepfelbäume rührte der Frost in unserm Gärtchen, auch den letzten Zahn, wie es deine Großmutter nannte, oder den letzten Pflaumenbaum. Dein seliger Großvater pflegte im Scherz zu sagen, so viel wäre wohl außer Zweifel, daß das [155] Paradies nicht in Curland gestanden hätte – im Scherz sag' ich, denn er war sonst, wie sich's eignet und gebühret, mit Haut und Haar, mit Herzen, Mund und Händen, Curländer.

Deine liebe Großmutter, so gastfrei wie ich, bat abzulegen. Dein Vater that's nicht eher, als bis er die Anwerbung angebracht hatte – nicht um mich, so weit sind wir noch nicht, sondern um die Informatorstelle, die im Kirchspiele offen war – Hofmeisterstelle, sagte dein Großvater, und belehrte zugleich deinen Vater, daß ein Prediger Pastor hieße, und deß bin ich herzinniglich froh, und verehre im Staube die wunderbare Schickung Gottes in Curland; denn kein Titel hat solche Verkürzungen erlitten, als Pastor auf deutsch. Erst hieß es Pfarrherr, mithin Herr von vorn und Herr von hinten, wie's billig ist: Herr Pfarrherr. Nachher Pfarrer und jetzt Pfarr. Daß sich Gott erbarme! wer nicht buchstabiren kann, schreibt Farr, und das ist ein einjähriger Ochse. In der Aussprache ist so kein Unterschied, wenn man auch drei Ohren hätte. Mein Vater war bei Sr. Hochwohlgeboren, der für seinen Sohn einen Hofmeister suchte, Hähnchen im Korbe. Sehr gern, sagte mein Vater, wenn wir einig werden. – Jetzt spannte dein Vater sich aus, rauchte sein Pfeifchen und that eine Mahlzeit, daß meine Mutter nachher zu mir (auch im Scherze, denn sie hungerte vor Freuden, wenns ihrem Gaste schmeckte) sagte: wäre der Candidat unter den vier tausend Mann gewesen, so viel Körbe wären nicht übrig geblieben.

Dein Vater muß es selbst gemerkt haben, denn er bewies sehr gelehrt, daß man im Winter bessern Appetit, als im Sommer hätte, so wie eine übermäßige Kälte auch schläferig mache. Das eine hatte er weidlich bewiesen, das andere war er im Begriff zu thun.

Mir strahlte dein Vater, ich muß es frei gestehen, gleich ins Herz, obgleich eine übermäßige Kälte, so wie eine übermäßige [156] Hitze, schläfrig macht. Ich sah nicht mehr gerad aus, sondern sehr oft von der Rechten zur Linken, und war dein Vater, der uns oft besuchte, gegenwärtig, so konnte mich das mindeste roth machen. Ein gestohlenes Schaf machte mich über und über roth, wenn man den Dieb nicht wußte und die Frage aufwarf: wer kann es wohl gestohlen haben? Wenn mich dein Vater fragte: ob ich wohl geruhet hätte? war Feu'r im Dach – und ich konnte wohl aus dem schönen Liede:


Ich Erde, was erkühn' ich mich,


bei jeder Sylbe, die er sprach, mit Recht singen: Sie sang –


Ganz feurig wirb mir mein Gesicht,

Und das, was meine Zunge spricht,

Kann kaum mein Ohr vernehmen!

Ich bin voll Angst und Schämen. –


Ich weiß nicht, ob ich schon an- und ausgeführt habe, daß dein lieber Vater Hofmeister wurde. Man hatte es ihm sehr nahe gelegt, ein Frauenzimmer, das der Frau vom Hause Gesellschaft leistete, schön zu finden; allein er fand weder sie, noch irgend eine Dirne also. Einige glaubten, daß er die seltene Gabe der Enthaltsamkeit hätte, davon war ich durch sein dringendes, feuriges Auge eines bessern belehrt. Er blieb nicht lange Hofmeister; sondern in kurzem starb sein seliger Antecessor, und er bekam das Pastorat, wo er noch bis diese Stunde Gottes Wort rein und lauter (das muß man ihm lassen) verkündigt.

Kaum hatte er diese Stelle, kam er wieder einen Abend und wusch sich abermals die Hände. Dießmal konnt' es schwerlich aus Frost seyn, denn es war Sommertag. Die drei Aepfel- und der letzte Pflaumenbaum haben sich nie wieder erholt und den Kuckuk nicht mehr schreien gehört, denn der Garten war ohne Windkenntniß angelegt, wie dein lieber Großvater zu sagen pflegte. Meine Mutter hätte noch nie gebeten abzulegen, da er mit der Anwerbung [157] um mich anfing. – »So viel Neigung als Dankbarkeit« – Gut, sagte meine Mutter, Herr Pastor! allein, ehe man Ja sagt, muß man sich bedenken. Beim Nein kann man eher fertig werden. Sie sehen, wie sehr ich zum Ja mich neige. Sie verlangte zu wissen – und das konnt' ich ihr nicht verdenken – wo er her wäre? wer seine Eltern wären? ob sie noch am Leben? ob er Geschwister hätte? – und auf tausend antwortete der Herr Bräutigam nicht eins. Er liebte weder die seltenen noch gemeinen Fragen meiner Mutter, und wollte nicht mit der Sprache heraus, und da die Sache weiter getrieben wurde, erklärte er mit Ja und Amen: eher unglücklich zu seyn, und weder Theil noch Anfall auf mich zu haben, als diesen Vorhang aufzuziehen.

Deine selige Großmutter war das im ganzen Hause, was ich in der Küche bin, und wollte dein seliger Großvater wohl oder übel, er mußte den Kopfschütteln. Zum deutlichen Nein konnte sie es nicht bringen. – Das war ein Fersenstich für deinen Vater. Er war gekommen, einen Salz-einen ewigen Bund zu machen, und nun zerriß er alles aufs schierste. Starken Laufs, ohne Schnauben oder Drehen, ohne den Staub von seinen Füßen zu schütteln, ohne das Wasser glum zu machen, zu reden aus Ezechiel zweiunddreißig Vers zwei, ging er verstummt von seiner Scheererin von dannen. Man sah, was er litt, und gern hätt' ich ihm hülfreiche Hand geleistet. Der Abschied war kalt und warm, sauer süß, und weg war er.

Dein seliger Großvater hielt groß von deinem Vater und liebte ihn zu sehr, als er so ganz gelassen dabei bleiben sollen. Es war dein Großvater ein grundgelehrter Mann, der aber außer der Kirche nur bloß in seinem Studirstübchen Potentat war, und es auch nur hier seyn wollte, obgleich deine selige Großmutter auch hier zuweilen ihr Licht leuchten ließ, wowider er selbst nichts hatte. Was ich von seltnen Fragen und Antworten weiß, ist von ihr. [158] Sie hatte hiervon ein Naturalienkabinet, das nicht gemein war. Ich hab' oft gedacht, sie gäbe ihrem Manne manche Nuß aufzubeißen, darum ihre gelehrten Fragen! ich im Druck! und darum mein Gesang! Sie wußte, was für eine Farbe das Kleid gehabt, das der liebe Gott dem Adam gemacht, und behauptete, es wäre grün gewesen. Sie wußte die Apfelart, die Adam und Eva gegessen; wo das Paradies gestanden, und empfahl die Birnen als eine unschuldige Frucht, die auch allen Menschen besser thäte. Wenn ich's aufrichtig sagen soll, so geberdete sie sich bei Aepfeln und Birnen so, als ob diese ohne Erbsünde, jene mit Erbsünde behaftet wären – ich finde hiebei, wenn man's dazu anlegt, viel Erbauung. – Sie wußte, ob Rahel weiß oder braun gewesen; was für Federn Gabriel in seinen Flügeln gehabt; ob Adam mit einem Nabel versehen gewesen; ob David ein Adagio oder ein Allegro vor Saul gespielt; ob die Schriftgelehrten Doctores in der Theologie oder der Rechte gewesen, und ob Pilatus sich mit Seife gewaschen; wie vielmal Sela in der heiligen Schrift vorkäme.

Meinem Vater fehlt es weder an Seel' noch Leib, um meine Mutter so zu umzäunen, als ich es bin, allein, warum er nachgab, war um sich selbst ein Kreuz aufzulegen. Er behauptete, er hätte sein Lebtag keine Niete gezogen, sondern wär' allstets glücklich gewesen; und da man durch viel Trübsal zum Reiche Gottes eingehen müßte, so litt er gern diese Ungemächlichkeit, beklagte sich nur gegen mich, nachdem ich mein neunzehntes Jahr erreicht, und gegen einen einzigen guten Freund – ohne Trost anzunehmen, wohl wissend, es werde seiner lieben Frau jedes unnütze Wort noch vor Sonnenuntergang gereuen, was sie geredet hatte. Dieß geschah auch anfänglich; allein nach der Zeit weiß ich mich zu besinnen, daß es in wichtigen Fällen bis zweimal vier und zwanzig Stunden währte, alsdann aber war auch draußen schlecht Wetter, und die Sonne blieb im Bette, ohne einmal aufzustehen und zu [159] sehen, was für Wetter es sey. Hier ist der Schlüssel zu deines Großvaters Charakter.

Polykrates. Erbherr auf Samos, tödtete seinen jüngsten Herrn Bruder, und den Bruder schickte er nach Sibirien, um allein auf Samos zu wohnen. Polykrates war der älteste. Alles, was er wollte, ward.

Ich versicherte meine Mutter, die sonst Stationes liebte, daß ich diese Geschichte zur Noch wüßte, allein sie hatte, wie meine Leser es ohne Fingerzeig, so gut wie ich, merken werden, auf ihren Vortrag studirt. Bring mich nicht aus der Melodie, antwortete sie, dein Vater hat meinen Styl ohnedem ins Bockshorn gejagt. Sonst pflegten hahn und lahn und stahn meine Busenwörter zu seyn – jetzt aber muß ich genau auf die Noten sehen, um nicht aus der Weise zu kommen.

Sein guter Freund – des Polykrates nämlich – den das Glück seines Freundes nicht eifersüchtig, sondern besorgt machte, bat ihn sehr, er möchte doch Brunnenkresse zum Rehbraten essen, und nur etwas weniges sein Leben verbittern. Polykrates wirft seinen Ring ins Meer. Nach wenigen Tagen fäht ein Fischer einen ungewöhnlich großen Fisch, verehrt ihn dem Hofe und der Koch findet den Ring. Der gute Freund, der ihm gerathen, sich unglücklich zu machen, kündigt ihm nach diesem Vorfalle seine Freundschaft auf, weil er keinen so glücklichen Freund haben wollte, indem er ein so großes Unglück für ihn befürchtete, daß er ihm nicht würde beistehen können. So gesagt, so geschehen. Er fängt Krieg an. Seine Tochter warnte ihn, weil sie seinetwegen einen Traum gehabt. Es kam ihr nämlich vor, daß ihr Herr Vater vom Gott Jupiter gebadet und von der Sonne gesalbet worden. Er verwarf diesen Wink und lachte über den Finger seiner wahrsagenden Tochter. Allein siehe! Er zog nach Magnesiam, wo er von den Einwohnern jämmerlich getödtet und hernach aus Kreuz [160] geschlagen worden. So ward er, wenn's regnete, gebadet, und wenn die Sonne schien, gesalbet. – Diese Geschichte ist uns zur Lehre geschrieben, dachte dein seliger Herr Großvater. Er hatte in seinem Sinne die Hülle und Fülle und hielt sich so glücklich wie Polykrates, obgleich er nie einen Ring ins Meer geworfen und, wenn das Jahr um war, keinen Dreier übrig hatte.

Ich fand, sagt' er, von jeher die erste Rose, das erste Veilchen, die erste reife Pflaume; ging ich zu Bett, schlief ich; stand ich auf, war ich munter. Die bösesten Hunde kamen, mir die Hände zu küssen, um mir zu huldigen. Mein seliger Vorfahr hat den Pastoratsgarten bloß angelegt, um dem Winde ein Spielwerk zu machen; doch glaub' ich, wenn ich ihn so, wie er da ist, bepflanzen sollte, die curischen Stürme würden sich mit ihm vertragen; darum pflanze ich nicht wieder, was ausstirbt. Einen neuen Garten leg' ich nicht an, um dem Boden nicht, meiner glücklichen Hand wegen, Frohndienste aufzulegen. – Was ich in meiner Jugend setzte, ging alles auf. Eine Bohne, wenn sie gleich hektisch aussah, wuchs und trug gesunde Kinder. Schieß' ich, treff' ich! schießt ein anderer, weiß ich beinahe mit Gewißheit am Schuß, ob's Niete oder Gewinnst ist. Komm' ich nach Mitau, grüßt mich ein jeder, der mir begegnet, und ein jedes eher als ich. Bei allen meinen Examens ward ich über das gefragt, was ich den Abend vorher gelesen hatte. Ich schlage mit einer Klatsche wenigstens zwei Fliegen. Oft bemühe ich mich recht geflissentlich nur einer aufs Haupt zu schlagen, allein, indem ich den Streich vollführen will, kommen Freiwillige dazu; dieß macht mich aufmerksam. Erst dreißig fette Jahre, dreißig Jahre ununterbrochenes Glück, und drei Jahre darauf mager wie Pharao's Kühe. Wer nimmt sie? Dreißig magere Jahre aber voraus, und drei fette hernach, dürfen nicht öffentlich licitirt werden, man nimmt mit beiden Händen. Ich wollte nicht in der letzten Zeit meines Lebens [161] ausstreichen, was ich die vorigen Jahre geschrieben, und wie sollt' ich meinem Glücke Zaum und Gebiß in den Mund legen. Ich bin gesund, habe Nahrung und Kleider, und was noch mehr ist, habe mich von jeher damit begnügen lassen. – In Gottes Hände konnt' ich also nicht fallen, ich mocht's machen, wie ich wollte. Was war zu thun? ich gab selbst Gelegenheit, in Menschenhände zu kommen. Meine Ehegenossin muß schweigen in der Gemeinde, und ich schweige in meinem Hause.

Es war also, lieber Leser, mein Großvater mütterlicher Seits, wie es scheint, ein christlicher Sokrates; meine Großmutter aber keine Xantippe, und übrigens eine so ächte Pastorin als meine Mutter, nur jede von anderer Art.

Ein Mann soll meine Tochter heirathen, der nicht Schuster und Rademacher werden kann, sagte deine Großmutter, – der aber (sagte dein Vater im sanften Tone, als wenn er auf der Kanzel zu den Bußfertigen redete), der aber Pastor ist. Schlecht genug, schrie sie aus, daß er durch deinen Vorschuß es geworden. Ich weiß sehr wohl, daß er keinen Dreier hebräisch besitzt. Hierin hatte sie Recht. Ein Pastor, ohne die Sprache Gottes zu wissen! Da mein Vater wohl aus dem Tone hörte, daß es Zeit wäre entweder seines Leidens ein Ende zu machen oder sich zurückzuziehen, ging er gelassen aus dem Zimmer in sein Studirstübchen, wo er auch drei Stunden eingeschlossen blieb. Während dieser Zeit fing meine Mutter Bürgerkriege mit mir an. Bald war mein Kopf ein Wetterhahn, bald hatte ich läppische Angewohnheiten, und andere sieben Sachen mehr. – Der Zorn wider deinen Vater hatte sich gelegt, und sie schien es mir sehr deutlich zu verstehen zu geben, daß, wenn ich nur den Kopf gerade gehalten, mein Bräutigam wohl gesagt haben würde, wer sein Vater wäre. Endlich sprang ihr Zorn, so wie das Fieber, wenn's nicht mehr so heftig ist, das von deinem Vater auf deinen Großvater, und von deinem [162] Großvater auf mich gekommen war, von mir auf die Kathrine. So fuhr der Satan, meiner Mutter nicht zu nahe geredet, in die Säue. Kathrine hatte ihr, statt des Salzfasses, Pfeffer gereicht, woran sie freilich nicht gut reichte, denn meine Mutter schüttete so viel Pfeffer in die Fische, als sie Salz gebraucht haben würde. Pratz! eine Ohrfeige, und nun war der Zorn gelöscht. Zwar zischt' es noch, als wenn Wasser auf den glühenden Herd gegossen wird, indessen ward es zuletzt ganz, ganz mausestille.

Dieß Pratz war eben keine Christenpflicht; indessen was denkst du vom Pratz der Fr. v. ***, welche bei ganz kaltem Blute jedes neue Dienstmädchen, wenn es zum erstenmale Hand aus Porcellan legt, mit einem Pratz bewillkommt. Warum, gnädige Frau? »Damit ihr ein Andenken habt, so oft ihr das Porcellan zur Hand nehmt.«

Meine Mutter mochte dieser Blutreinigung wegen gern das alte Gesinde behalten, und ich bin ihrer Meinung. – Es muß doch wo einschlagen, und ersticken würd' ich! ich! Kreuzträgerin! wenn ich mich nicht ausschelten könnte. – Babbe wäre den andern Tag abgestellt, nachdem sie die königliche Frau Mutter gemacht hatte, wenn man mit neuem Gesinde so herumspringen könnte, als mit altem. – Ich weiß nicht, gegen das gemeinste Volk hab' ich, bis ich bekannt bin, rückhaltende Achtung; ich glaube, das macht das Bild Gottes, das es trägt.

Das Gebet vor Tische, welches dreimal so lang war, als leider das unsrige ist, betete meine Mutter ungewöhnlich laut mit, und das war schon immer ein gutes Zeichen, denn wenn sie das ganze Haus beinahe in einander geworfen hatte, betete sie am lautesten und inbrünstigsten, als wenn sie hiemit den Himmel versöhnen wollte, und alsdann war es alles wie abgeschnitten. Dieser ihrer Gemüthsruhe bediente sich mein Vater, deinem Vater eine Lobrede zu halten; sie gab kein Wort darauf.

[163] Auf einmal fing sie von selbst an: Er liebt zu sehr, als daß er sie verlassen sollte, und man sehe sie, wer kann dreißig seyn, ohne stehen zu bleiben und sie zu lieben (Gott hatte mich schön gebildet, wie es noch am Tage ist). Wie gerade sie sich hält, fuhr deine selige Großmutter fort, welche feine Arten! Er wird sich besinnen und sagen, von wannen er kommt. Es ist ein sehr geschickter, feiner Mann. Man kann mit Wahrheit sagen, das Hebräische ausgenommen, dein Geist, lieber Mann, ruhe zwiefach auf ihm. Du Elias, er Elisa. Ich hatte diesen Gedanken gleich, da du ihm deinen alten Mantel verkauftest.

Denk das nicht, mein Kind! sagte dein seliger Großvater, der über den Namen Elias sich vergnügte, ich habe wenig Aussicht, denn er hätte gewiß, da er in die freie Luft kam, ein freundlich Wort fallen lassen; allein – meine Mutter blieb, der freien Luft unbeschadet, bei ihrer Hoffnung, und that unwillig, daß dein Großvater mir nicht einen Vater gönnte, dem dieser Unwillen hinreichend war, auch Hoffnung zu fassen.

Das Gespräch wurde auf die hebräische Sprache gerichtet, von welcher dein lieber seliger Großvater behauptete, daß sie eben nicht so nöthig für einen Diener des göttlichen Worts an einer christliebenden Gemeinde sey, und daß er selbst nicht einen Punkt zu verborgen, sondern nur zur höchsten Noch hätte. Dieser letzte Umstand beruhigte meine Mutter, und mich machte er noch betrübter als ich schon war, denn das einzige was mich bei dem Vorfall, wenn dein Vater mich verlassen, getröstet hätte, war der Umstand, daß er nicht hebräisch konnte, und also nicht alle gesunde Gliedmaßen als Geistlicher hätte.

Hier hielt meine Mutter an, und nachdem sie mich befragt, ob ich wozu Appetit hätte, und ich für alles gedankt, wandte sie sich nach dieser Vorbereitung ganz zärtlich zu mir, und bat mich dringend, dieser Umstände ungeachtet, alle nur mögliche Sorge auf [164] die hebräische Sprache zu verwenden, welches ich ihr auch feierlich versicherte. Es ist alle Vermuthung, daß dieß die Sprache der andern Welt ist, und dann darf ich meinen Sprachmeister nicht weit suchen. Ich war jetzt neugierig geworden, ihre Helden-, Staats- und Liebesgeschichte zu Ende zu hören, und hatte nicht Ursache, hierum zu bitten.

Wir gingen ein jeglicher seinen Weg ins Bette; allein, welche Vigilien für mich! So wie das Bild der Sonne im Auge fortdauert, wenn man die Augen gleich zuschließt, so sah ich auch, was ich, um zu schlafen, nicht sehen sollte. Eine arme Sündernacht war diese Nacht –


In welcher Nacht ich lag so hart,

Mit Finsterniß umfangen;

Von all'n meinen Sünden geplaget ward,

Die ich mein Tag begangen.


Gottlob, dacht' ich, die Sonne! Allein sie war mir nicht zum Glück aufgegangen.

Noch muß ich dir bei dieser erwünschten Gelegenheit vertrauen, daß eben dieser Zeitpunkt der war, da ich die geistlichen Lieder als das probatste Mittel, mein aufgewiegeltes Herz zu beruhigen, kennenlernte. Befiehl du deine Wege – Was Gott thut, das ist wohl gethan – Keinen hat Gott verlassen: das löschte meinen Durst bei meiner Angst. Wenn die Zunge an meinen Gaumen klebte, und ich zwischen der hebräischen Sprache, meiner Mutter und deinem Vater getheilt war, fing ich an zu singen. Fühlt' ich gleich nicht die Wahrheit in ihrem ganzen Umfange:


Wenn ich ein Lied von Herzen sing,

So wird mein Herz recht guter Ding,


so ward ich doch gottergebener und weicher, und da mein ganzes übriges Leben zwischen Thür und Angel ist, und ich nie aus diesem [165] Drang gekommen – sing' ich weiter, bis ich kommen werde zum hohen Halleluja vor dem Throne Gottes:


(Sie sang's)

Da, da,

Da ist Freude,

Da ist Weide,

Da ist Manna,

Halleluja! Hosianna!


Den andern Morgen ein Brief!

Ein Brief, sagte meine Mutter. – Hab' ich's nicht gesagt? Sie wog ihn – das Geschlechtsregister liegt drin. – Meine Mutter irrte; es war ein Brief an meinen Vater, und einer an mich.

Auch gut, sagte meine Mutter, laß hören.

Der Brief an meinen Vater enthielt eine Danksagung für alle Freundschaft. Das Herz redete darin. Dem wohlehrwürdigen Mann flossen Thränen die Wangen herab. Jede von diesen sanftabschleichenden Zähren verdiente in eine Perle verwandelt zu werden. Wenn er gestorben wäre, setzte mein Großvater hinzu, würd' ich nicht weinen; ich habe noch nie über einen Todten geweint, denn er ruhet in Gottes Hand; allein ich weine über ihn, weil er nicht todt ist.

Es ist ein sehr rührender Anblick, einen glücklichen Mann weinen zu sehen! – Ich glaube, wenn er je gewünscht, ein Kreuzträger anderer Art zu seyn, so war es jetzt. An deine Großmutter hatte dein Vater einen kostbaren Ring beigelegt, den er, wie er schrieb, für seine Braut bestimmt gehabt, und den er jetzt nicht besser, als auf diese Art anzuwenden wüßte. Mein Vater behauptete, dieses wäre das letzte Lebewohl; meine Mutter, es sey ein frischer Wurm zum Hamen. Mein Vater und meine Mutter behaupteten jedes seine Meinung, und ich ärgerte mich übern Wurm, wie Jonas über den, der ihm den Kürbiß stach.

[166] Würde er wohl, sagte meine Mutter mit entscheidendem Tone, solchen Ring beigelegt haben, wennn er nicht unter der Wildschur ein anderes Kleid hätte. – Ich weiß nicht, warum mir dieser Grund gleichfalls sehr wahrscheinlich auffiel; allein desto heftiger war mein Entsetzen, da ich vernahm, daß er den Pastor L – fleißig besuchte, und daß er die jüngste von seinen Töchtern, welche ein sehr lustiges und hübsches Mädchen war, heirathen würde. Diese Zeitung blitzte und traf; ich fiel, so lang ich war, zu Boden, und ward herzlich, jawohl herzlich krank. Die ganze Gegend wußte jetzt, daß dein Vater die Gabe der Enthaltsamkeit nicht hatte, desto besorgter war ich; denn so unangenehm es wir war, daß dein Vater nicht hebräisch konnte, wovon leider! manches geredet ward, so sehr lieb war es mir dagegen, daß man ihm die seltene Gabe der Enthaltsamkeit andichtete. Ich stand entsetzlich viel aus. Zu dem Gerüchte wegen der jüngsten Tochter des Pastors L – kam ein Traum, dessen ich mich jetzt erinnerte, und den ich, von der Stunde der Erinnerung an, Tag und Nacht in eins weg träumte. Die Nacht auf den Abend, da dein Vater die erste Mahlzeit bei uns aus allen Kräften that, und da er zu seiner Entschuldigung behauptete, daß man im Winter besseren Appetit hätte als im Sommer, die Nacht auf diesen Abend träumte mir, daß die jüngst Tochter des Pastors L – mir Gift eingäbe, und da es wirkte, billigte ihr Vater dieses Verfahren, und wollte mir noch eine vergiftete Pille von derselben Art im Säftchen beibringen, um, wie er sich großmüthig ausdrückte, mich nicht lange quälen zu lassen; allein seine Tochter ward des Landes verwiesen, und er ward Präpositus – wie besonders doch ein Traum ist. – Er Präpositus! Sie des Landes verwiesen! Daß ich das Säftchen des Herrn Pastor L – verbat, weiß ich! allein ob ich von dem Gifte seiner Tochter gestorben, oder nicht! konnt' ich mich nicht besinnen. Ich hatte bis dahin keine andere als biblische, oder solche Träume gehabt, [167] die in der heiligen Schrift vorkommen. Die sieben fetten und die sieben magern Kühe des Pharao zum Exempel, und die Sonne, Mond und Sterne des Josephs waren oft vorgefallen, und kein ehrliches Mädchen muß, ehe sie Braut wird, anders als biblisch träumen. Dieser Gifttraum richtete mich völlig hin. Zwar erzählte dein lieber Vater eben diesen ersten Abend, daß er den Pastor L – und sein Haus kenne, und hätte sich freilich alles natürlich erklären lassen; indessen ist und bleibt dieser Traum immer was besonderes. Man sage von den Kometen, was man will, sie sind und bleiben doch Kometen. Mein Blut siedete auf. – Ich hört' es kochen, wie das Wasser in einer Theemaschine, allein deine Großmutter hörte nicht sieden, nicht kochen. Sie nahm die ganze Sache auf die leichte Schulter, bis sie zu ihrem Erstaunen sah, daß mir das Herz zu brechen anfing. Jetzt dachte sie auf eine Kur, und diese glaubte sie mit dem Ringe auszurichten, allein sie goß Oel ins Feuer. Ich lag in einer Ungewitterhitze. Es kam ihr vor, es hätte sie etwas abgekühlt, und nun glaubte meine Mutter, wäre es Zeit, die Medicin einzunehmen. Sie schenkte mir den Ring und ich mußte ihn anlegen; allein sie goß Oel, siedend Oel zum Feuer. Bon dem Spitzchen, wo der Ring seinen Lauf angetreten, gings durch alle Adern – wellenschlagend! und ich schien außer Hoffnung. Man nahm mir den Ring ab, allein das Feuer, das er angezündet hatte, wüthete fort. Das Feuer ist ein schreckliches Element! In der Hitze wollte ich durchaus hebräisch lernen, und um mich zu beruhigen, mußte dein seliger Großvater mich darin unterrichten. Wenn ich zu mir selbst kam, seufzte ich nicht über meine Mutter, sondern über des Pastors L – jüngste Tochter. Der liebe Doktor Saft, dessen Sohn dir nächst Gott geholfen, half mir. Sein Recept war dein lieber Vater, und eine Mixtur von seiner eigenen Erfindung. Er war in der Medicin, so wie in Liebesangelegenheiten gleich stark und brauchbar. Sein Herr Sohn ist ihm [168] in der letzten Kunst nie gleich gekommen. Der alte Doktor Saft hat Wunderkuren durch Heirathen gethan.

Er verhieß es feierlich, deinen lieben Vater zurück an Ort und Stelle zu bringen. Ich sah zwar noch nicht, allein ich fühlte die Farben wie Blinde. – Wie viel hätte ich darum gegeben, wenn meine Mutter den Doktor Saft sogleich seine Straße ziehen lassen.

(Ich will meine Mutter, ihrer Lunge und der Geduld meiner Leser halber, ablösen, und das in Kurzem sagen, was sie im Langen gab.) Allein meine Großmutter und Doktor Saft gaben sich noch schwere Fragen auf: vom Kleide Adams und von seinem Nabel, vom Apfel, den er gegessen, von der Gesichtsfarbe der Rahel, und über den Punkt, ob Pilatus sich mit Seife gewaschen, obgleich meiner Mutter in ihrer Verfassung mit nichts weniger als schweren Fragen gedient war.

Mein Vater kehrte um und erhielt Ja von Mutter und Tochter, ohne daß er sagen durfte, von wannen er käme. Wer am wenigsten damit zufrieden war, ist keine kritische Frage. Der Doktor Saft sagte, indem er fortging:


Wär' dieser Trost nicht kommen,

So hätt' es große Noth.


Diese Spötterei hätt' ich ihm vergeben, versicherte meine Mutter, wenn sie bloß mich und nicht zugleich ein geistliches Lied betroffen hätte. Pastor L – war bitterböse, obgleich seine Tochter ohne hitziges Fieber davonkam und ihr Vater das Hebräische in der Fieberhitze nicht prostituiren durfte. Er hielt als Beichtvater die Traurede bei dem Myrthenfeste meines Vaters, wobei er die Vorzüge der ehelichen Geburt abhandelte. Hierbei fielen so viele Satyren auf meinen Vater, daß der arme Mann zum allgemeinen Gelächter wurde. Eine gewisse Frau v. – warf den ersten Stein und nahm Gelegenheit, in öffentlichen Gesellschaften zu behaupten, [169] er sey, wie sie sich ausdrückte, vom Kanapee und nicht aus dem Ehebette. Sie schadete sich indessen mit diesem Steinwurf. Sie warf ihn so unglücklich, daß er auf Ihro Gnaden zurückfiel.

Denn es kam bei dieser Stammgelegenheit aus, daß ihr Herr Vater seliger nicht wirklich Vater gewesen, sondern einer seiner Leute, den Hofmeister, Jäger, die Bedienten, Vorreiter ausgenommen, Vaterstelle vertreten – und so ging's bei dieser Gelegenheit sehr vielen, an deren ehelicher Abkunft vorher niemand gezweifelt hatte, in deren Augen, Nase, Mund und andern Gesichtsstellen man aber jetzt einen andern Vater lesen wollte.

Ein Ausdruck des Pastor L – war meinem Vater am gefährlichsten geworden: Nach der Weise Melchisedech. Meine Mutter sagte ihn mir ins Ohr. Mein Kind, setzte sie hinzu, dieser Name hat mir tausend und abermal tausend Thränen gekostet, und unter uns gesagt, wär' es kein Vorbild, ich hätte gewünscht, es wär' an Melchisedech nicht in der heiligen Schrift gedacht. Mein Vater wußte, daß ihn die ganze Gegend mit diesem Beinamen bezeichnete, und das ging ihm so nahe, daß er, wie meine Mutter versicherte, darüber seines Lebens müde ward.

(Hier muß ich wieder meiner Mutter den Lauf lassen.)

Melchisedech war ein König zu Salem, sagte sie ganz leise und auf Zehen, ein Priester des Allerhöchsten, oder Herzog und Superintendent von Curland in einer Person. Da dein Vater kein König ist, paßt der Name von dieser Seite nicht, allein sonst paßt viel: kein Mensch weiß, wo Melchisedech geboren, wer sein Vater gewesen, sein Geschlecht, sein Tod, alles geheim. – Als Abraham von der Verfolgung der vier vereinigten Könige, welche die Könige zu Sodom und Gomorra überwunden, und den Lot, seinen Vetter, mit sich als Kriegsgefangenen geführt, heim kam, ging ihm Se. Hochwürdigste Majestät Melchisedech bis ins Thal Sare entgegen (dieses Thal ward Königsthal benannt), ließ dem Abraham eine [170] schöne Tafel decken und sprach folgenden Segen über ihn: Gesegnet seyst du, Abraham, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde besitzt, und gelobt sey Gott der Höchste, der deine Feinde in deine Hand beschlossen hat. Abraham gab dem Segnenden den Zehnten von allem, und mehr wissen wir von Melchisedechs Geschichte nicht. Wohl aber spricht der Psalmist im einhundert und zehnten Psalm und dessen vierten Vers: »du bist ein Priester ewiglich, nach der Weise Melchisedech.« Im Briefe an die Hebräer im fünften Kapitel und dessen sechsten und zehnten Vers, und im sechsten Kapitel und zwanzigsten, im siebenten und dessen ersten, zweiten und dritten Vers entwickelt sich dieses näher, welches du, wenn dein Vater nicht dabei ist, weiter nachlesen kannst.

Ich fand die Bemerkung meiner Mutter sehr bewährt, daß mein Vater weder öffentlich noch häuslich diesen Namen ausgesprochen. Die Nachrede vom Kanapee, welche die Frau Schwiegermutter ihrem Herrn Schwiegersohn getreulich, und oft wohl mit bittern Salzen, wie meine Mutter sagte, vorsetzte, hätten meinen Vater unfehlbar auf den Kirchhof gebracht, so daß sein Tod gewiß kein Melchisedechs Tod gewesen wäre, wenn er sich nicht plötzlich ermannt und über die Worte: Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet, eine Predigt gehalten hätte. In dieser Predigt, sagte meine Mutter, war so viel Salz undSchmalz, daß alles wie Schnecken, wenn sich ein Blättchen rührt, die Hörner einzog. Sein blutübertragenes Herz bekam Luft, und er genas. Nach der Predigt ward das Lied: In dich hab' ich gehoffet, Herr, gesungen, welchem M. Jakob Daniel Ernst in der historischen Confecttafel die rührende Befreiung des Herrn Andreas Steinberg, wohlverdienten Pfarrers zu Budin in Böhmen, zuschreibt, und wider welches ich kein Wort habe, außer daß mir der dritte Vers zu kriegerisch vorkommt.


[171]

Mein Gott und Schirmer steh' mir bei,

Sey meine Burg, darin ich frei

Und ritterlich mag streiten.


(Sie sang die drei letzten Strophen, die sich anfangen:)


Mir hat die Welt trüglich gericht't

Mit Lügen und mit falschem Gedicht –

Viel Netz und heimlich Stricke; – –


Hätte es deinem lieben Vater gefallen, mich bei dieser Liederwahl zu Rathe zu ziehen, so würden die Lieder einen ebenso allgemeinen Beifall gefunden haben, als die fanden welche ich bei deiner Predigt erkor. Jedes sprach von deines Vaters Predigt, niemand aber dachte an die Lieder, und doch gehört zurSeelenmahlzeit Essen und Trinken, Predigt und Gesang. Geschehene Dinge waren nicht zu ändern. Ich konnte nichts mehr thun, als zu Hause, um feurige Kohlen auf deines Vaters Haupt zu sammeln, einige treffendere Strophen singen. Ich sang:


(sie sang auch jetzt)


Woher wollt' ich den Aufenthalt

In dieser Welt erlangen?

Ich wäre längst schon todt und kalt,

Wo mich nicht Gott umfangen

Mit seinem Arm,

Der alles warm,

Gesund und fröhlich machet;

Was er nicht hält,

Das bricht und fällt,

Was er erfreut, das lachet.


Und gleich darauf stimmte sie an:


Er weiß viel tausend Weisen,

Zu retten aus der Noth,

[172]

Er nähret und gibt Speisen

Zur Zeit der Hungersnoth;

Macht schöne, rothe Wangen

Oft bei geringem Mahl,

Und die da sind gefangen,

Entreißt er dieser Qual.


Das Lied: mein Dankopfer, Herr! ich bringe, ist wie auf diese Predigt gemacht.

Dich Lied sang indessen meine Mutter nicht, sondern empfahl es mir zum Nachlesen. Was es heiße, fuhr sie fort, er predigte gewaltiglich, hab' ich in dieser Predigt gelernt. Dein Vater trieb seine Feinde zu Paaren, zu Einzeln trieb er sie, ihre Stätte war nicht mehr. Melchisedech und Kanapee waren nun wieder Melchisedech und Kanapee. Gott sey dafür gelobt und gebenedeit! Meine Mutter versicherte mich hierbei mit Thränen, daß sie in der kritischen Zeit keinen Menschen aufs Kanapee zu nöthigen das Herz gehabt, wie sie denn auch auf die Rechnung Melchisedechs schrieb, daß ich erst im dritten Jahre nach ihrer Verheirathung das Licht der Welt erblickt (in parenthesi: ich war die erste und letzte Geburt).

Es werden nicht viele seyn, welche die eheleibliche jüngste Jungfer Tochter des Herrn Pastor L –, die ein Komet in dieser Geschichte ist, weiter interessirt, als daß sie ohne hitziges und hebräisches Sprachfieber abgekommen; indessen um alle Gerechtigkeit zu erfüllen, mag der geneigte Leser observiren, daß mein Vater ihretwegen auch nicht ein Wort beiher fallen lassen. Es war auch in diesem Pastorat erschollen, daß mein Vater die Gabe der Enthaltsamkeit nicht hätte, und dieß bewog den Pastor L – und die Pastorin (ob die Töchter daran Antheil gehabt, wußte meine Mutter nicht), meinen Vater zum Gastmahl einzuladen. Er kam und begrüßte die jüngste Tochter des Pastor L – eher als ihre [173] ältern Schwestern, und auf diesen Umstand gaben ihre Eltern die Einwilligung. Sie gefiel nach der Zeit dem – v. –, und da sich dieser mit seinen Lippen schon oft und viel zu ihr genaht, obschon sehn Herz fern von der heiligen Ehe war, geschah es, daß er sich einstmals noch mehr nähern wollte, und sie – gab ihm mit tugendhafter Hand eine Ohr –. Die Sache ward ruchbar und machte in Curland großes Aufsehen. Einige von den alten Häusern votirten, daß der jüngsten L – die Hand abgehauen werden sollte; andere Häuser, wo eben die Söhne von Universitäten gekommen waren (denen vielleicht dergleichen Ohrfeigen nichts Ungewöhnliches waren), votirten, daß die Hand eines artigen Mädchens keinen Cavalier entehren könnte. Die Stimmen waren sehr getheilt. Die Sache indessen ward zum Vergleich ausgesetzt, und schloß, wie sich die Komödien alle schließen, mit der Heirath. Der Herr v. – heirathete, o Wunder über Wunder! die jüngste Tochter des Pastor L –. So kann man auch zum Ehemanne und nicht bloß zum Ritter geschlagen werden! In Curl- konnte aber dieser Gräuel von Seiten des – v. – nicht von der Sonne beschienen werden. Der Pastor gab Geld und die Tochter – der Geschlagene nichts als Ja – weil er nichts weiter hatte und ein Krippenritter war. Das Paar reiste ab. Glückliche Reise! Mein Gifttraum, sagte meine Mutter, war wenigstens von Seiten der jüngsten Tochter des Pastors L – pünktlich erfüllt, obgleich der Pastor L – niemals Präpositus geworden ist und es auch schwerlich werden wird. Sein Säftchen war der Melchisedech, welches du ohne Auslegung verstehen wirst. Meine Mutter nahm mich beim fünften Westenknopf, von oben gezählt, und hielt mir wegen des Namens Alexander eine sehr lange Rede, die mir zugleich aufklärte, warum sie mich, wie es meine Leser selbst gehört, statt Alexander Einhörnchen genannt. Diese Aufklärung bin ich meinen Lesern zu ihrer gleichmäßigen Aufklärung schuldig. Meine Mutter war im [174] Grunde auch nicht zufrieden, daß der Ehren Einhorn, weiland zweiter Superintendent in Curland, Alexander geheißen, vielmehr sagte sie, welches mich erschrecklich befremdete, Herr Superintendent Einhorn hätte besser gethan, wenn er bei der heiligen Schrift geblieben wäre. Ich kann's nicht bergen, fuhr sie fort, daß ich dem NamenHabakuk vorzüglich zugethan bin, und wenn du so hießest, ich würde den silbernen Becher missen, der noch von meinem Großvater ist. Wenn ich's ändern könnte, Habakuk sollte mir gewiß nicht unter den kleinen Propheten seyn. War aber der Name Habakuk Sr. Hochwürden dem sel'gen Herrn Superintendenten nicht genehm, warum nicht einer von den großen Propheten, Jesaias, Jeremias, Klagelieder Jeremiä, Ezechiel oder Daniel? Warum denn Alexander? ein Name, der in der heiligen Schrift nicht sonderlich angeschrieben ist, und von dem es in der zweiten Epistel an den Timotheum, im vierten Kapitel und vierzehnten Vers, etwas mißlich heißt: Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses beweiset, der Herr bezahle ihm nach seinen Werken; vor welchem hüte du dich auch, denn er hat unsern Worten sehr widerstanden.

Ich sah deinen Namen nicht anders als einen Höcker an. Damit ich mich indessen über diesen Auswuchs einigermaßen beruhigen möchte, nannte ich dich Einhörnchen, und dachte, geschieht dieß am grünen Holz, am Ehren Einhorn, weiland zweiten Superintendenten in Curland, was will am dürren, deinem lieben Vater, werden, von dem man außer, daß er in seiner Jugend früher Spargel gegessen als in Curland, nicht viel mehr weiß, was hierher gehören könnte.

Wie unzufrieden meine Mutter mit dem Alexanderspiel, wobei ihre Köchin Babbe die königliche Frau Mutter vorstellte, gewesen, hab' ich nie so deutlich als jetzt erfahren. Sie bezeugte ihren Todhaß gegen denHerkules, den mir mein Vater, wie sie sagte, [175] so süß vorgepfiffen, daß ich's bedauert, nicht auch Schlangen in der Wiege erdrückt zu haben. Herkules ist am Ende, sagte sie, ein blinder Heide, und Alexander auch. Ich freue mich, daß dein lieber Vater selbst in diesem Stücke seine Voreilung einsieht, und dich nicht mehr Alexander, sondern mein Sohn heißt. Du bist, Gott sey gedankt, schier ein guter Prophetenknabe, zierlich, manierlich! allein noch besser würdest du seyn, und nicht so oft in Gedanken, Geberden, Worten und Werken trommeln und querpfeifen, du würdest deine Meinung ohne Schäumchen aufgießen, wenn dein lieber Vater dich gleich mein Sohn, und nicht Alexander aufgerufen. Sobald ich dir anrieth, Särge zu schnitzeln, und Leichen zu begraben, lehrt' er dich Spieße und Bogen machen, und noch ganz klein stellte er türkische Bohnen wie Soldaten, von denen du Gottlob! damals keinen Begriff hattest. Wenn dich Leute küssen wollten, stieß er sie von dir. Brecht die Rose nicht, damit sie nicht welk werde. Er schien zu meinen, daß dir durch Küsse das Fett abgeschöpft würde. Wenn er lieben wird, setzte er hinzu, kann er küssen. Ich gab dir die wohlgemeinte Lehre, wenn eine große und kleine Pforte zu einem Wege führt, gehe durch die kleine, und hab' auch hiebei erbauliche Gedanken – Dein Vater sagte durch die große –

Ich: wenn du gähnst, schlag ein Kreuz und halt' die Hand vor.

Dein Vater: schlag kein Kreuz und laß jedem deinen Mund sehen (in diesem einzigen Stück hab' ich ihm nach der Zeit Recht eingeräumt).

Ich: wenn dir Brod oder Bibel, Gesangbuch und Luthers Katechismus, aus den Händen fällt, küß Brod, Bibel, Gesangbuch und Luthers Katechismum.

Dein Vater: küß weder Brod, Bibel, Gesangbuch noch Luthers Katechismus; heb auf, was fällt und Aufhebens werth ist, was Erd ist, laß zur Erde werden.

[176] Ich gratulir' am ersten Adventssonntag zum neuen Jahre; denn es ist der erste Tag im Kirchenjahre, und wünsche nicht nur dieses, sondern noch viele neue Kirchenjahre in Seelen- und Leibeswohlergehen anzufangen und zu beschließen. Ihm ist der erste Advent, wie der erste Sonntag nach Trinitatis – mir nichts, dir nichts. Kaum daß er am Laien-Neujahrstage, das ist den ersten Januar, Glück wünscht. Was ich eine Nickel und unehrlich nenne, heißt er unehelich. Bei dem letzten Umstande denk' ich mehr, als ich sagen kann.

Aus dem schnaubenden Saul ward ein frommer Apostel Paul, und auch du, mein Lieber! kann gleich aus keinem Alexander ein Habakuk werden: fleißige dich dennoch bei Leibesleben Superintendent in Curland zu werden. Der Name selbst würde, da schon zwei Alexanders Superintendenten geworden, wohl etwas von seiner Härte verlieren, wie Senf durch Zucker. – Hier sah man meiner Mutter eine gewisseSohnsfreude an, die bei Müttern die einzige ihrer Art ist. Wo ist ein Maler, der die Marienfreude ausgedrückt hat? Sie hätte keinen heiligen Schein nöthig, wenn dieß ein Maler treffen könnte! Man rechne, so genau man will, sagte meine Mutter schlüßlich, ein kleiner Bruch bleibt bei einem jeden Menschen übrig. – Er aber, der in dir angefangen hat das gute Werk, woll' es durch seinen heiligen Geist in dir bestätigen und vollführen, und dich kräftigen und gründen; ihm sey Ehre und Lob und Preis! Amen, Amen.

Was mich betrifft –

Sie sang:


Ich bin's gewiß und sterbe drauf,

In meines Gottes Händen:

Mein Kreuz undganzer Lebenslauf

Wird sich noch fröhlich enden.


[177] und nach dieser Strophe:


Thu wie ein Kind und lege dich

In Gottes Vaterarme,

Und laß nicht nach, bis daß er sich

Dein väterlich erbarme;

So wird er dich durch seinen Geist,

Auf Wegen, die du jetzt nicht weißt,

Nach wohlgehaltnem Singen

Aus allen Sorgen bringen.


Im Liede steht Ringen anstatt Singen. Wer wird indessen meiner Mutter diese Aenderung verdenken? Lieber hätte sie, das weiß ich, nach wohlgehaltenem Takte gesungen, sie mußt' aber den Reim bedenken.

Sie schloß in Prosa mit wiederholentlichem Amen, Amen.

Nach dieser Erzählung und diesen mütterlichen Wünschen las sie mir einen Aufsatz vor, den zum größten Theil ihr Vater für ihren Bruder aufgesetzt hatte, welcher aber in der Kinderlehre geblieben, wie sie sich ausdrückte. Vieles, sagte sie, ist deines Vaters, das meiste gehört mir. Ich will es meinen Lesern zum Besten von mächtiger zu mächtiger Stätte, von treuen zu treuen Händen mittheilen.

Noch nie war mir die Geschichte meines Vaters so sehr aufgefallen, als jetzo, wo mir die kleinsten Umstände nicht Adiaphora mehr waren, obgleich ich Summa Summarum nicht viel mehr erfahren, als ich schon wußte. Zu dem Spargel und der Pfeife in der freien Luft und den langen Manschetten war nur ein Kanapee und der königliche Priester Melchisedech gekommen. Ein Name, den ich noch nicht ohne Bangigkeit, man möcht' ihn übel deuten, ausspreche, und den ich meinen Lesern, so oft er vorgekommen, ins Ohr geschrieben habe.

[178] Denkzettel an den, der unter meinem Herzen und an meiner Brust lag, welche niemand außer seinem Vater (und der nur beiläufig) vor und nach ihm gesehen hat, der den – – – 17 – in einem kalten Winter meinen Leib öffnete und schloß, den ich die Hände falten und Gott aussprechen lehrte, und den ich in diesem Jammerthal, wo man auch bei frühem Spargel nicht an Ort und Stelle ist, nicht mehr sehen werde, aber – dort bei dem Herrn! allezeit.


* * *


Siehe zu, daß deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sey, nicht ein Kranz, der Firne-Wein anmeldet wo doch nur Heerlingssaft ist, und suche nicht Ruhm bei Leuten durchs Weiße in deinem Auge, und durch ein Aussehen, als wenn du den Tag zuvor Medicin genommen. Die ganze Natur ist fröhlich und guter Dinge. Ehre Vater und Mutter mit der That, mit Worten und Geduld, auf daß ihr Segen über dich komme; denn des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißet sie nieder. Ihr Unwillen beschädigt das Dach, und es regnet ein ewiglich. Wie kann der Gott lieben, den himmlischen Vater, der nicht die liebet, die das wohlgetroffenste Bild vom Schöpfer und Erhalter an sich tragen; ehre Vater und Mutter, damit dir's wohlgehe und du lange lebest auf Erden. Sprich, wenn du Melchisedech sagen willst,der königliche Priester, so wie man den David den königlichen Propheten heißt, obgleich er auch in der Apostelgeschichte, im zweiten Kapitel, im neunundzwanzigsten Vers, Erzvater genannt wird. Gedenke, wenn du Spargel ißt, oder eine Pfeife in freier Luft rauchest und lange Manschetten siehst, oder Wein an der Quelle trinkest: deinen Vater ehren ist deine eigene Ehre, und deine Mutter verachten, heißt einen stinkenden Odem haben. Ein gutes Gewissen ist besser als zwei Zeugen. Es verzehrt deinen [179] Kummer, wie die Sonne das Eis. Eis ist ein Brunnen, wenn dich durstet, ein Stab, wenn du sinkest, ein Schirm, ein Riga'scher Pastorhut, wenn dich die Sonne sticht, ein Kopfkissen im Tode. – Der Herr, unser Gott, ist der Allerhöchste, und er schuf Löwen und Frösche, Adler und Mücken, und alles was auf Erden kreucht. Kein Sperling fällt ohne seinen Willen, und in ihm leben, weben und sind wir. Gleiche Brüder, gleiche Kappen. Gleichheit, sagt dein Vater, ist das Winkelmaß der Menschheit. Wer nicht über andere wegsieht, und am Tisch sich oben ansetzt, und nach der Hechtleber langt, erregt keinen Neid, und niemand spricht zu ihm: weiche diesem. Der größte Hümpler, die meisten Späne. Keine Antwort ist auch eine Antwort. So wie das Wasser Feuer löscht, so überwältigt die Bescheidenheit den Stolzen. Sie ist der Ring, den man dem Bären durch die Nase zieht. Gut macht Blut, Blut macht Muth, Muth macht Uebermuth. Es ist eine schwere Sache um die ächte Schamröthe. Bei vielen ist sie Schminke, und Pfui über die viele. Wenn sie aber auch gesundes, unverfälschtes Blut ist, kann man sich schämen, daß man Sünde daran thut, und kann sich schämen, daß man Gnade und Ehre daran hat, vor Gott und Menschen. Wer A sagt, muß B sagen. Aus Scham sterben heißt eben so viel, als aus Furcht sterben. Die Schamröthe bleichet nach einer Weile aus, wie eine sechsstündige Provinzrose. Kirchenbuße ist kein Staupenschlag. Wasch mir den Pelz, und mach ihn nicht naß. Wer ein Tiger in seinem Hause ist, pflegt ein Schaf außer demselben zu seyn. Sey langsam zu reden, schnell zu hören und langsam zum Zorn, denn des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist. Kaltes Blut hat mehr Unheil gestiftet als der Zorn! Thue nichts Böses, so widerfährt dir nichts Böses. Halte dich vom Unrecht, so trifft dich kein Unglück. Was bös' ist, bleibt böse, wenn's gleich viele thun. Wie das Bett, so der Schlaf Ringe nicht nach Gewalt bei Fürsten, denn sie sind Menschen und [180] können nicht, wenn sie auch wollten. Sey fröhlich mit den Fröhlichen, und weine mit denen, die zerschlagenen Herzens sind; denn Gott schuf uns all aus einem Erdenkloß, und blies uns einen lebendigen Odem in die Nase, und da ward eine lebendige Seele. Verzweifle nicht, wenn die Glocken um deinen Freund gezogen werden, und wenn es von ihm heißt: er ist versammelt zu seinen Vätern. Freue dich nicht, wenn dein Feind stirbt, gedenke, daß wir alle sterben werden,


Müss'n all' davon,

Gelehrt, jung, reich, alt, oder schön.


Willst du den Frevler kennen, steh ihn, wenn seinFeind den Arm bricht. Artet sein Herz zum Jubel aus, und raucht sein Haupt wie eine Flasche alter Wein, wenn man die Pfropfe herausgezogen, so hast du ihn auf ein Haar, wie dein Vetter getroffen ist im Kupferstich. – Wenn gleich der Gottlose in einem Palaste wohnet, irre dich nicht. Sein Palast ist wie das Haus der Spinne und wankender, wie ein Schauer, das der Wächter sich gemacht hat. – Es kommt die Stunde, da Schrecken ihn treffen, wie Wasser! Ein Platzregen kommt über ihn, wenn er ein seidnes Kleid anhat. Ohne Ordnung fällt man über ihn her, wie durch ein gesprengtes Thor; wie eine eingenommene Feste wird man ihn umzingeln. Ist nicht Tag und Nacht, Sommer und Winter, kalt und warm? Es liegt alles fingerdick in der Welt, das Gute und das Böse. Harre auf den Herrn, deine Seele hoffe auf ihn, er wird's wohl machen. Gott zerschmeißet und seine Hand heilet. Aus sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in der siebenten wird dich kein Uebel rühren. Er wird deine lassen Hände stärken, damit du zu deiner Predigt den Takt schlagen könnest zur rechten Zeit, und wenn deiner Seele widert, den dunkeln Weg zu gehen, den kein Vogel entdeckt, und keines Geiers Auge gesehen; wenn es stockfinster ist, sey Gottes Wort deine Leuchte und das Licht auf deinem Wege! Er! der den Winden den Weg wies, führet seine Heiligen [181] zwar wunderlich, doch selig. Unsere Kraft ist nicht steinern, unser Fleisch nicht ehern, das weiß der uns schuf, und wird unser Lager leichtern und dir einenDr. Saft senden, wenn du krank bist, und einen Tröster, wenn deine Seele wimmert. Nichts kann uns mehr verstimmen, als das Geschrei kleiner Kinder! Die leiblichen Eltern finden es unerträglich, denn dieErbsünde ist's, die aus dem Kinde schreit, und sein Weinen verräth Unverstand und Eigensinn. So ist unser Weinen und Heulen dem lieben Gott – Kindergeschrei!

Wer am Wege baut, hat viele Meister. Leihe nicht einem Gewaltigern denn du bist; leihest du aber, so acht' es gestreut auf einen undankbaren Acker. Brich den Hungrigen dein Brod, und so du einen nackt siehst, glaube, daß ein Loch in deinem Strumpfe sey. Nackend bist du von deiner Mutter Leibe gekommen, und nackend wirst du auch heimfahren aus diesem Elend. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Halleluja! Ein neuer Freund ist ein neuer Wein, laß ihn alt werden, und dann koste ihn und siehe da, solch ein Wein erfreut des Menschen Herz, daß er jung wird wie ein Adler. Wer Pech angreift, besudelt sich, wer mit Leidenschaft spielt, hat Lust zu betrügen, und wer oft tanzt, will heirathen. Sey züchtig, wenn von Dingen die Red' ist, die die Natur selbst mit Feigenblättern verhangen hat. Gewöhne dich nicht zur Sängerin, daß sie dich nicht mit einem Triller in die Flucht schlage, und dich zum schimpflichen Gefangenen mache für und für. Höre lieber eine Nachtigall, eine Lerche, oder so etwas, und dein Gemüth wirdgesund zu derselben Stund. Mit Ringen zu spielen ist nur dem Doge zu Venedig am Himmelfahrtstage erlaubt, wenn er sich mit der adriatischen See verlobet. Ich halte selbst dieß Spiel für sündlich und anstößig, wenn's gleich der heilige Dreifuß oder Sorgstuhl, auf dem dein Namensvetter, Papst Alexander der Dritte saß, im Jahr 1174 verordnete. Man muß [182] sich nicht verloben, wenn man nicht heirathen will; man muß keiner adriatschen See einen Ring geben, die nicht unsere Frau werden kann. Du verstehst, was du hörest und liesest, mein Sohn! Merke wohl, was ich sage!

(Die adriatische See war ohne Zweifel Minchen.)

Wehe dem Jüngling, der einer Dirne verspricht, was er nicht erfüllt, der mit ihr handgemein wird, wenn er nicht herzgemein mit ihr zu werden in den Umständen ist. Leute dieser Art meiden das Land wie die jüngste L – an der mein Traum erfüllt ist, und ihr Krippenritter, von dem mir nie etwas geträumt hat. Falsche Jünglinge bauen ein Gerüste von Schmeicheleien, und wenn ihr Gebäude fertig ist, zerstören sie das Gerüste, und seine Stätte ist nicht mehr. Du nicht also!


Wenn dich der böse Feind anficht

Zur linken und zur rechten Hand,


empfehl' ich dir das Tintenfaß, nicht wie unser Glaubensvater, ihm damit den Kopf zu bläuen, obgleich diese Tintenflecken an der Wand die schönste Malerei sind, die ein Christenauge in der Welt sehen kann. Der Teufel, da er schon an sich tintenschwarz ist, hatte keinen Flecken davon. Nicht des Wurfes wegen, sondern um eine Predigt oder geistliche Betrachtung daraus abzufeuern. Tinte sey dein Pulver, die Feder Flinte, die Sandbüchse Schrot. Vom Weihrauch thut dem Teufel der Kopf weh; es ist nicht fein, wenn ein Geistlicher mit etwas anderm räuchert. Um die Tinte gut zu kochen oder Teufelspulver zuzubereiten, werd' ich dir ein Recept zu deiner Wäsche packen. Es hat Kranke gegeben, auf die der Anblick des Recepts die nämliche Wirkung gemacht hat, als die Medicin, die darauf charakterisirt war. Sie schwitzten, sie gingen zu Stuhl. Der Teufel müßte sein Spiel haben, wenn dieß Recept in deine Wäsche Tintenflecken machen sollte. Stecke die Manschetten unter, wenn du schreibst, denn es steht nur einem alten wohlerfahrenen [183] Gelehrten an, mit Tintenftecken zu prangen. Leute, die die Sünde aus ihrem Fleische, wie den Staub aus ihren Kleidern herausklopfen und sich casteien, kennen den inwendigen Menschen nicht. Verse zu machen, mein Kind! ist ein probates Mittel wider die Erbsünde und die bösen Fleischeslüste, die man bloß durch Seelenmotion dämpfen kann. Es müssen die Verse aber gereimt, im Schweiß des Angesichts erarbeitet oder erjagt seyn. Dein Vater sagt, im Reimwörterbuch nachschlagen, heißt hetzen. Weg mit den Hunden; allein wo ist ein Jäger ohne Hunde? Ein Mensch, der die schmutzigsten Verse schreibt, wenn sie ihm wohlgerathen, läuft ihnen wie den unkeuschen Dirnen nach, die er besungen hat. Jammer und Schade um die Poesie! Sonst aber für jedes eine Reihe, für den Verstand eine, und für den Reim auch eine. Gib dem Verstande, was des Verstandes, und dem Reim, was des Reimes ist. Dichter probirt man wie irdenes Zeug durch's Klingen. Kein großer Sänger singt, wenn er in Gedanken ist, wie es die meisten thun, die nicht große Sänger und große Philosophen sind. Die letzteren reden mit sich selbst, und machen mit der rechten Hand eine Bewegung. Dichter pfeifen. Dein Vater. Nationen, die singend reden, und deren Sprache so ist, als wenn die Orgel gestimmt wird, singen schlecht. Alles dein Vater. Auch hab' ich von ihm die deutsche Sprache, sey nicht also. Der selige Herr Dr. Martin Luther sagt, der Teufel ist ein Trauergeist und macht traurige Leute; daher flieht er die Musica, und bleibt nicht, wenn man singt. Das Loblied Moses, der Prophetin Debora und Barak, als Sissera geschlagen ward, der gottseligen Hanna, das Loblied Hiskia, als er wieder gesund geworden, und des Jonas, da er aus dem Wallsische angelandet war, beweisen, daß nicht nur Männer, sondern auch Weiber heilige Lieder gesungen, und im neuen Testament singt der Priester Zachariä und auch die heilige Jungfrau. Durch die Instrumentalmusik spricht ein Stummer. Der Kranke [184] geneset, das Alter verjüngt sich. Durch die Stimmmusik zertheilen wir die Wolken und dringen zum Herrn. Nur die Engelstimmen gehen über Menschenstimmen. Wenn Barbaren, die kein Wort deutsch können, uns überfielen: singt! Wenn man eine Wagenburg schlägt, und euch an allen Orten ängstigt: singt! sag' ich, und abermals sag' ich's, singt! Gesang ist ein niederschlagendes Pulver, Cremor Tartari für die Seele. Mein Sohn, wenn auch ein anderer über dieß Schatzkästlein käme, er wüßte von jedem Worte, wessen Geistes Kind es sey, ob mein oder deines Vaters und deines Großvaters. Bei vielen hab' ich gesagt: dein Vater, bei vielen hab' ich's gedacht. Dein Großvater und Vater haben gepflanzt, ich habe begossen, Gott gebe das Gedeihen!

Plato und Pythagoras waren zwar blinde Heiden; indessen glaubten sie, daß der Lauf der Sterne ein Concert spiele. Lobe den, der sie in Melodie setzte. Alles was Odem hat, lobe den Herrn! Dein Vater sagt, wer dieses Sphärenconcert nicht hört, wenn er ein Loblied singt, ist ärger denn ein Heide. Die Traurigkeit macht feig; ein Lobgesang macht lustig. Durch den Gesang redet der Leib der Seele zu: Sey gutes Muths, kleine Närrin! Siehe die Lilien auf dem Felde, sie säen nicht, sie spinnen nicht, Gott nährt sie doch; sind sie denn mehr wie du? Ich sing', indem ich schreibe, und will, daß du singest, indem du liesest.


Was den Odem holet,

Jauchze, preise, singe!

Blick herauf und blicke nieder!

Er ist Gott,

Zebaoth!

Er ist hoch zu loben,

Hier und ewig droben!


Wer Gott dankt, um ihn zu bestechen, der dankt sich selbst. Mit dem Gebet kann man Gott nicht so schänden, als mit Lobopfer. [185] Bete wie ein klein Kind: Abba, mein Vater! dank auch so. Ich grüße euch, ihr englischen Sänger in der Stadt Gottes, wo alles lieblich zusammenstimmt! ich segne dich zweigliedrig, du Pforte des Himmels! du hast mir mein Herz genommen, himmlisches Jerusalem, mit deiner Süßigkeit, und die Lieblichkeit der Stimme des Vollendeten hat mich gefangen. Ich habe Lust zu singen ein Lied im höhern Chor, und den andern Diskant beim heilig, heilig, heilig! zu versuchen. Böse Gesellschaften verderben gute Sitten, und Buhlerblicke sind Pfeile, die die Seele verwunden, und da hilft nicht Kraut noch Pflaster. Hüte dich! die Buhlerin spielt dir dein Herz aus der Tasche. Hier steht sie, dort liebäugelt sie. Betrug ist ihr Gespinnst und Gewinnsucht ihr Zeitvertreib. Sieh nicht an eine Dirne, die betrübt ist, und ihr Auge niedergeschlagen hat. Wie die Gelehrten ihr Auge von der Sonne nicht wenden, wenn sie verfinstert ist, so zieht auch eine verfinsterte Schönheit die Jugend an. Jugend hat keine Tugend, und gleich und gleich gesellt sich gern. Das Werk lobt den Meister. Wie der Regent ist, so sind auch seine Amtleute; wie der Rath, so die Bürger. Ein wüster König verdirbt Land und Leute, wenn aber die Gewaltigen klug sind, gedeiht die Stadt. So wie unser Herr und Meister mit Zöllnern und Sündergesellen zu Tische saß, vermeide es auch nicht, mit Großen der Erde umzugehen. Ziele nach diesen Leuten, sonst trifft man sie nicht, und fleißige dich, den rechten Fleck zu treffen. Bücke dich, allein zerbrich nicht das Bein; sey höflich, allein nicht beschwerlich. Wende dich an die Frau, wenn du an den Mann ein Gesuch hast. Krieche nicht, denn du hast gesunde Füße. Bete nicht an güldene Kälber der Erde.


Du bist ja ein Hauch aus Gott,

Und aus seinem Geist geboren:

Darum liege nicht in Koth;

Bist du nicht zum Reich erkoren?


[186] Sprichst du mit einem König, denke, du bist ein geistlicher König; sprichst du mit einem großen Gelehrten, du bist ein geistlicher Prophet, und mit dem Superintendenten in Curland, du bist ein geistlicher Priester. Dränge dich nicht nach oben, oder zur Rechten; allein verrichte auch nicht Lakaiendienste. Hüte dich, daß dein Fuß nicht einschläft, wenn du beim Vornehmen sitzst, und zerbrich keinen Teller, wenn du ihn dem Nachbarn aufdringst. Höre mein Kind auf eine Geschichte, die ich nicht erzählen kann, ohne daß Feuer in meinem Gesichte auskommt. Ein Literatus wollte bei seinem Gönner um eine Stelle anklopfen. Da der Herr verzog, glaubte der gute Candidat Zeit und Raum zu haben, seine Strümpfe zu spannen, die nachgelassen hatten; und siehe! eben nun kommt sein Gönner und erblickt das entblößte Knie und das Strumpfband, das zum Unglück ein Bindfaden war, in des Literatus Rechten. Das Amt ging vor ihm vorüber, als Wolken vom Winde getrieben, und der Gönner sprach, da er mit seinen Freunden zu Tische saß: in der Jugend eine Hure, im Alter eine Hexe. Aus einem Funken wird ein groß Feuer, und ein Lügner und Mörder sind Nachbars Kinder. Iß keine Rüben, wenn du zu Sr. Excellenz gehst, und lege deinem Magen ein Gebiß an den Mund, sonst sieht es aus, als ob du zum Essen kömmst. Eine alte Weste und neuer Rock sind wie eine alte Tresse und ein neues Kleid, zusammengebrachte Kinder. Schlucke nicht, und wenn's auch Wasser wäre, daß es aussieht, als wolltest du den Jordan austrinken. Willst du einen beständigen Gönner haben, mache, daß er dir eine Wohlthat erweist, die bekannt wird im Volke. Dieß bindet wie Kitt. Er läßt dich nicht, als ob er von seinem Vorschuß Zinsen haben wollte. Leihe dem Armen ohne Zinsen, dann bezahlt's Gott. Lern ein Glas leeren, nur mit Maaßen, damit du dich nicht aufreibst. Männer, die an einer großen Tafel keinen Tropfen trinken können, sehen aus wie Verschnittene am [187] Hochzeitstage. Sich am Wein warm trinken, heißt menschlich werden. Wenn ich mir zuweilen ein Schälchen nehme, ist's mir, als ob ich Menschenliebe getrunken hätte. Ein böses Gewissen ist ein Ofen, der immer raucht, ein Gewitter ohne Regen; es ist Kläger, Richter, Henker, in einer Person. Die Nachtigall singt dir: du bist ein Dieb; die Lerche: du hast gestohlen. Eine Krähe beißt der andern die Augen nicht aus, und wo der Bürgermeister ein Bäcker ist, backt man das Brod klein. Wenn ich streiten sollte, es gäbe im Stamme Levi keine zerbrochene Töpfe, die laufen lassen, würd' ich Krebse angeln. Was sich im grünen Kleide mit Gold schickt, schickt sich nicht in der Reverende, und auf der Kanzel muß man anders reden, als wenn man seine Füße unter einem gedeckten Tische beherbergt, und seiner Nachbarin eine Gesundheit zubringt, welches die Tischreden unseres Glaubensvaters sehr lebhaft bestätigen. Sey allen allerei, wie eine Citrone, die man von innen und außen brauchen kann. Leute, die sich völlig vor der Welt verschließen, die nur mit ungefallenen und in der Wahrheit gebliebenen Geistern Umgang haben, sehen oft, wo andere nichts sehen, und hören noch öfter, wo andere nichts hören; denn das Ohr ist leichtgläubiger als das Auge. Ein Pastor dieser Art hatte seiner Gemeinde das Nasenschneuzen und Husten abgewöhnt. Ich erzähle dir diese Geschichte mit den nämlichen Worten, wie mein seliger Vater sie mir erzählt hat. Es war in der Kirche dieses Pastors eine besondere Mannszucht, eine so heilige Stille, wie des Morgens bei schönem Wetter um vier Uhr. Ehe er zur Nutzanwendung überging, war es, wie ein Commando: präsentirt's Gewehr! Der Herr Pastor gab mit seiner Nase ein Zeichen, und alle Nasen folgten ihm, auch die, so es nicht nöthig hatten, aus Provision, oder weil's der Nachbar und der Herr Pastor that. Es begab sich, daß ein Fremder, der diese Straße zog und nichts von dem Uebergange zur Nutzanwendung wußte, und [188] die Sitten und Naseart dieser christlichen Gemeine nicht kannte, den natürlichen Wink seiner Nase befolgte. Der Pastor beschlug die Contrebande mit den Worten: wer grunzt in der Gemeine? allein der gute Pastor mußte, weil der Gast von Adel war, diesen Beschlag sehr theuer büßen, und schriftlich versichern, das Wort Grunzen nicht im bösen Sinne genommen, sondern vielleicht selbst gegrunzt zu haben, und vor's künftige ward der Herr Pastor angewiesen, seineNase in die Bibel zu stecken. Der Mensch ist gut, die Welt böse. Gehe fleißig in die Kirche und siehe zu Menschen beerdigen. Gedenke, wie er gestorben ist, mußt du auch sterben. Heute mir, morgen dir. Zeit liegt von Ewigkeit einen Sabatherweg, eine Viertelmeile, die den Kranken im alten Bunde zu reisen erlaubt war. Wenn du einen Kirchhof offen findest, gehe herüber, wenn du auch einige Schritte Umweg machst. Sieh die offene Thüre als eine Erinnerung an, daß auch du dem Kirchhofe, dem Zollhause der Ewigkeit geben wirst, was ihm gebührt. Wenn die Glocken gezogen werden, sprich: Gott schenke mir eine selige Stunde! Huste nicht im Vorzimmer des Großen, um dich hören zu lassen. Der Wein ist die Wage des Menschen; lege deinen Freund drauf, und prüfe, wie viellöthig er ist. Denke an den Tod des Tycho Brahe, der leider! unter seinem Stande heirathete, und verdamme nicht die Natur: sie leidets nicht. Plaudere nicht bei der Musik, denn predigen und singen hat seine Zeit. Die behagliche Genügsamkeit ist reich ohne Mühe. Den Edelstein fasse in Gold, und beim Wein singe. Gib fröhlich, was du gibst. Ein Geber, der nachdenkt über das, was er geben soll, gibt's nicht von Herzen, sondern vom Verstand. Wenn du den Weg nicht kennst, nimm einen Wegweiser. Ehre im Menschen das Bild Gottes. Diene mit Rath und That. Ehrliche Einfalt ist besser als spitzbübischer Witz. Man sagt von Geistlichen: Kinder und Bücher. Dein Vater und ich haben einen Sohn, wie [189] Abraham den Isaac, und der sey dem Herrn geopfert! Ein junger Mensch muß sich so in Gesellschaft der Alten führen, als einer, dem Geld zugezählt wird. Gehe nicht um mit Uebermüthigen. Was soll dir der irdene Topf bei dem ehernen? denn wo sie an einander stoßen, zerbricht jener. Wächst wohl Schilf, wo es nicht feucht ist? und wer hat gegen einen Großen einen Zeugen? Ein Wolf und ein Schaf ist wie der Reiche und der Arme. Ein Gottloser, wenn er arm ist, redet viel Böses; ein Frommer hat immer Schätze. Schicke keinen Hund nach Fleisch, und verpfände nicht das Lamm beim Wolfe; der Mensch verschießt wie ein Kleid, und wenn man alt ist, kann man nicht genießen, was man gesammelt hat. Darum freue dich in dem Herrn, und abermal sag' ich dir, freue dich! Denk an den Armen, wenn du deinen Geburtstag feierst, und laß ihm seine Wunden von deinem Barbier verbinden. Sprich nicht zum Goldklumpen: mein Trost, und zum sechslöthigen Silber: meine Hülfe. Ein Armer genießt selbst dieses Leben mehr als ein Reicher; denn ein Glücklicher und ein Reicher lebt bloß des Gedankens wegen nicht: Mensch, du mußt sterben. Wer täglich stirbt, hat den Tod lieb gewonnen, wie man ein häßliches Gesicht mit der Zeit gewohnt wird. Der Reiche zieht seine Zinsen in dieser Welt, und die meiste Zeit mehr, als die landüblichen. Der Arme hebt in diesem Leben die Zinsen nicht, sondern läßt sie beim lieben Gott stehen, der ihm sicher ist, und der ihm seine Zinsen fein zum Capital schlägt, für die andere Welt. Jeder Reiche fühlt, daß der Arme, wenn er stirbt, reich wird, es stehen ihm die Haare hiebei zu Berge, und wenn es so anginge, würd' er dem Armen wohl zehntausend Thaler Albertus leihen, um einen Wechsel auf ihn im Himmel zu haben. Allein bedenke, Reicher! dein Tod ist ein Bankerott. – Mein Sohn! theile in dieser Gnadenzeit den Leckerbissen mit dem Dürftigen. Das beste Mittel, gut zu verdauen, ist einen Armen essen sehen![190] Wirf deine Magentropfen zum Fenster hinaus, und brauche dieses Mittel. Dein Vater. Wenn dir ein Unglück begegnet, greift die Seele nach einem Geländer, wie der Körper nach einem Stab. Schilt im Podagra auf den Wein, beim üblen Wetter auf's schlechte Steinpflaster, im Tode auf's Leben. Was ist der Mensch, wenn er nicht unsterblich ist? Unser Leben währt siebenzig Jahr, wenn's hoch kommt, sind's achtzig Jahr, wenn's köstlich gewesen, ist's Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Wir bringen unsere Jahre zu, wie ein Geschwätz. Hüte dich, Hiobsposten zu bringen; man haßt den Verräther, und liebt die Verrätherei. Wer heut ein Spiel gewinnt, verliert morgen siebenfältig, und mancher gibt mit einem Auge, und mit sieben sieht er, was er wieder erhalte. Wem das Glück wohl will, den macht's zum Narren. Die Narren haben ihr Herz im Munde; aber die Weisen haben ihren Mund im Herzen. Wer mit einem Narren redet, redet mit einem Mondsüchtigen. Hüte dich vor dem, der sich selbst gezeichnet hat. Ueber einen Todten trauert man, denn er hat das Licht nicht mehr; aber über einen Narren sollte man trauern, weil ihm das Lämpchen im Verstände, wie den fünf thörichten Jungfrauen, ausgegangen. Der Schweiß eines Aussätzigen ist besser, als der Ambra eines Narren. Gin gelehrter Mann ist in Gesellschaft wie der Mond, bald voll, bald halb, bald ein Viertheil; in seinem Hause ist er immer eine Sonne. Lerne selbst, ehe du lehrst, und ahme nicht die Aerzte nach, die wie Schneider den Schnitt am fremden Tuch lernen. Kühle dein Müthlein nicht, wie deine liebe Großmutter, an Vater, Tochter oder Köchin, sondern lerne von deiner Mutter, auch ohne Schläge, dem Zorn ein Opfer bringen. Diene wieder deinem Knecht, der dir dient. Die Biene ist ein klein Vögelein, und gibt doch die allersüßeste Frucht. Wenn dir's wohl geht, denke, daß dir's übel gehen könne, und wenn dir's übel geht, denke, daß dir's wieder wohl gehen könne.


[191]

Auf Regen folget klare Zeit;

Auf Leid die frohe Ewigkeit.


* * *


Ich weiß, wen Gott will herrlich zieren,

Und über Sonn' und Sterne führen,

Den führet er zuvor herab.


Das Lied:


Warum betrübst du dich, mein Herz,

Bekümmerst dich und trägest Schmerz,


hat viele von übler Laune, von der Unzufriedenheit und der Schwermuth geheilt, und wenn dein Herz nicht verdorben ist, wenn du kein böses Gewissen hast, wirst du auch geheilt werden. Hast du ein böses Gewissen, so schlägt keine Seelenmedicin, kein Lied an. Beim siebenten Vers erinnere dich der Leiden, die deine Mutter des Namens Alexander wegen erduldet hat.


V. 7.


Des Daniels Gott nicht vergaß,

Da er unter den Löwen saß.

Seinen Engel sandt' er ihm,

Und ließ ihm Speise bringen gut,

Durch seinen Diener Habakuk.


Der zwölfte Vers aus diesem Herzensliede ist ein Universalmittel.


V. 12.


Alles was ist auf dieser Welt,

Das Seel' und Leib gefesselt hält;

Reichthum und zeitlich Gut,

Das währt nur eine kleine Zeit

Und hilft doch nichts zur Seligkeit.


[192] Traue deinem Feinde, wenn er sich gleich mit dir versöhnt, so wenig, als ein Leiter seinem Bären. Leide keinen Schmeichler, wie der Cypressenbaum keine Würmer leidet. Ein frommes Kind ist besser denn hundert, die den Herrn nicht fürchten, und es ist besser ohne Kinder sterben, als gottlose Kinder haben. Wer satt ist, wird wieder hungrig, wer des Morgens ausgeschnarcht hat, geht des Abends wieder zu Bette. Ein Reicher kann arm werden. Des Ungerechten Söhne wurzeln nicht, und seine Töchter sind Feigenbäume ohne Frucht. Kinder ziehen heißt gerade oder ungerade spielen. Erziehen heißt ein Fundament legen, wo unter der Erde gearbeitet wird und nichts zu sehen ist. Ein gut gezogenes Kind ist eine Rechnung ohne Probe. Der Jüngling muß beweisen wie die Zucht war. Lege dein Almosen nicht besonders, denn es segnet dein anderes Geld, daß es dir gedeihe für und für. Kleiner Topf, kleine Stürze; großer Vogel, großes Nest. Gesunder Leib ist besser denn eine Tonne Goldes. Die Sonne geht auf mit Hitze, und das Gras welkt und die Blume fällt ab: so verwüstet ein Reicher, wenn er verschwendet, sich, seinen armen Nachbar und deßgleichen. Sausen und Brausen macht siech, und was hilft ein güldener Galgen, wenn man hängen soll. Was ist ein schön Gericht für einen Kranken, dem schon der Geruch Blähungen macht? Der Tod ist besser als ein sieches Leben. Ein fröhlich Herz ist besser als Magenelixir, und eine Mahlzeit mit Wohlgefallen ist die sicherste Blutreinigung. So lange du selbst Töpfe und Schüsseln hast, untergib dich nicht dem Tische eines andern. Ziehe dich nicht eher aus, als bis du zu Bett gehst. Das Hemde ist dir näher als der Rock. Eigener Herd ist Goldes werth. Rathen macht Schuld, und du stellst Wechsel aus, wenn du Rath gibst. Die Naseweisheit ist, wenn man die Nase höher hält, als sie gewachsen. Nimm dieses zu Ohren und Herzen, denn du hast eine Nase, die was gilt unter den Leuten. Die Nase ist der Text zum Menschen, die Stirne [193] der erste Eingang, die Lippen das Thema, worüber in gegenwärtiger Stunde soll gepredigt werden. Wein und Weiber bethören die Weisen. Männerlist ist behend, Weiberlist ohn' End. Kleider, Scharrfuß, Lachen und Gang melden den Menschen an. Kluge Leute wissen schon, was am Jüngling ist, wenn sie ihn sehen die Nase schneuzen. Ein Thor ist schwerer als Blei. Krebs ist kein Essen auf der Post. Hilf dir selber, ehe du andere arzneiest. Was niemand wissen soll, sage keinem. Wer einen übeln Rausch hat, verscheucht seine Freunde, wie ein Schuß die Vögel. Erst Rauch, dann Feuer; so Scheltworte, dann Schläge. Der Arzt ist der Sünde Scharfrichter, ehre ihn, denn der Herr hat ihn geschaffen, und er trägt das Schwert nicht umsonst. Hüte dich vor böser Nachrede, denn die Welt liegt im Argen. Wenn man des Morgens von da herausgeht, wo man des Abends hinein gegangen, sagen die Leute, man sey die ganze Nacht da gewesen. Der Schlund der Welt ist ein offenes Grab; mit der Zunge handeln sie trüglich. Ottergift ist unter den Lippen, der Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. Die Obrigkeit ist des lieben Gottes Soldatenstand, die Priester sind sein Civilstand. Es ist traun! ein Weib aus dem Stamme Levi eine helle Lampe auf dem heiligen Leuchter. Mein! heirathe keine andere, denn sie hat ein gut Muster gehabt. Schone dein Auge für die hebräischen Punkte, und gaffe nicht nach Dirnen der Stadt. Denk nicht eher an eine Hausfrau, bis du ein Haus hast. Wo kein Zaun, ißt jeder das Obst, eh es reif ist; so auch bei einem Pastor ohne Pastorin. Leib und Seele können nicht zu gleicher Zeit essen und verdauen. Wer mit der Seele arbeitet, kann den Pflug nicht führen. Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden. Item, ein Lehrer ist seiner Calende werth. Wer säet, erntet in zwölf Monaten. Wer Gottes Wort verkündigt, erntet in Ewigkeit. Heil dir! du hast beim lieben Gott offene Tafel, du wirst einst vom Altar leben, und hier gedeihen, [194] wie' 's am Tage ist. Brosamen sind besser als Leckerbissen an den Tafeln der Abgötter, deren Bauch ihr Gott ist. Du bedarfst keines Theils in Israel; der Herr ist dein Theil und Erbe! Das Land Gottes trägt mehr als du bedarfst. Brich aber dem Hungrigen dein Brod, so wird es dir gehen wie der Oelwittwe. Wer den Armen segnet, spottet sein, wenn er diesen Segen nicht selbst in Erfüllung zu setzen anfängt. Dieser Unmensch will Gott Lehren geben. Erinnere dich, was man vor kurzem vom Herrn v. – erzählt, und erzähl' es deinen Kindeskindern, auf deinem Schooß, damit sie segnen lernen, wie Gott sein Volk segnet, der seine Fenster öffnet, und Früh-und Spatregen gibt, und in dem wir leben, weben und sind. Es strandete ein Holländer (wäre es nicht ein Holländer gewesen, wie viel mehr leid würd' es mir gethan haben; Holland ist der Strand von Europa), und der Herr v. –, der das Recht der Seestraßenräuberei hat, nahm ihm alles, was er hatte, bis auf einen holländischen Käse (der Herr v. – hatte oft Steinschmerzen) und ließ den geplünderten Holländer ziehen seine Straße, wie Hr. v. – sich ausdrückte,fröhlich; denn er schrieb ihm folgendes Certificat, das er einen christlichen offenen Wechsel nannte: »Da der Clas – – das Unglück gehabt zu stranden, und alles werthe Seinige einzubüßen, so wird ihm nicht nur Gottessegen zu seinem künftigen Fortkommen von mir herzlich gegönnt, sondern auch jeder, dem dieser offene Brief vorgezeigt wird, ersucht, ihm christlich fortzuhelfen und ihm, so viel er kann, unter die Arme zu greifen, wohl bedenkend, daß, wer dem Armen hilft, dem Herrn leihe, der es ihm zu Wasser oder Lande verdoppeln kann und wird, als welches ich dem armen Clas – aus christlicher Liebe anwünsche.« Den Herrn v. – möcht' ichfluchen hören, sagte Clas – und sah seinen Käse an. Der Holländer hatte keinen Steinschmerz. – Wer sich als abgebrannt und beraubt angibt, um Leute warmherzig zu machen, und sie zum Mitleiden [195] zu betrügen, ist ärger als ein Räuber und Brandstifter! Wehe dem, der auf diese Art Brandschatzung ausschreibt. Er bestiehlt nicht den Menschen, sondern die Menschheit. Sorge nicht für den andern Morgen, es ist genug, daß ein jeder Tag seine eigne Plage habe. Mache des Geldes wegen auf der Kanzel keineGans zum Schwan, keinen Häring zur Sardelle, und keinen Hasen zum Löwen; denn die Lehrer werden leuchten, wie des Himmels Glanz, wie die Sonne immer und ewiglich. Gott ehrte Aaron, und gab ihm alle Erstlinge. Seine Nachkommen aßen des Herrn Opfer, und wurden gespeiset an seinem Tisch. Gott war ihr Theil und Erbe, und darum hatten sie kein Theil am Lande. Wenn Kaffee aufs Kleid gegossen wird, ist's kein Kaffee mehr, sondern Schmutz. Es kommt viel auf Zeit, Ort und Gelegenheit an. Wenn du einem Edelmann Heil wünschest, sprich nicht: Gott, der den Wurm unterm Felsen erhält, sondern: der Allmächtige, der die Welt aufrief; wenn er in Diensten gewesen, und es bis zum Hauptmann gebracht, setze hinzu: und Helden in seinem Volke erwecket.

Ein Mensch, der keine Stimme hat, muß nicht den Adler und den Löwen auf die Kanzel bringen, er wird schon Thiere für sein Stimmchen in der Bibel finden. Ich selbst habe einen Diskantisten über die Worte:Sieh, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamme Juda, predigen gehört. Es gibt Diskant-, es gibt Baßpredigten. Ein Geistlicher muß Gedächtniß haben. Wenn er liest, steht's aus, als ob er die Predigt auf drei Viertelstunden geliehen hätte. Auch Gras muß ein Pastor wachsen hören.

Ein Geistlicher sprach, da er zum zweiten Theil überging, indem er die Kanzelsanduhr, welche mehr als andere Sanduhren ein Sinnbild unsers Lebens ist, umkehrte: Noch ein Gläschen, meine Geliebten! und man nannte ihn, wie einen faulen Käse: Bierbruder.

[196] Man kann zwar auch hiebei erbauliche Gedanken haben; indessen hatte der Pastor L – nicht Gras wachsen gehört, da er die Frau v. – auf ihrem Krieg und Siegbette besuchte, und ihr die Worte Matthäi im einundzwanzigsten Capitel, im zweiten Vers, ins Herz schob: löse sie auf und führe sie zu mir. Noch größer ist's Uebel, wenn der Geistliche satyrisch auf der Kanzel seyn will; er verliert alsdann den Stachel, wie die Biene, wenn sie sticht.

Wenn du einen Umstand lange suchen müssen, fang ihn an: Wem ist's nicht bekannt; dadurch bestrafst du den Umstand, daß er sich versteckt hatte, und kein Mensch glaubt, daß du so lange gesucht hast. Dein Vater würde sagen: Windbeutelei, faul Holz statt Licht; allein klimpern gehört zum Handwerk. Einem Geistlichen steht's am wenigsten an, zu sagen, ich will dieß und das thun. Er steht in Gottes Dienst. Sage also, zu reden aus Jakobi im vierten Capitel und fünfzehnten Vers: So der Herr will und ich lebe, will ich dieß oder jenes thun. Fliehe die vergängliche Lust der Welt; denn nur hiedurch wirst du theilhaftig werden der göttlichen Natur. Um eines faulen Astes willen reiß nicht Stamm und Wurzel aus. Jeder Mensch hat was Gutes. Lege auf die Fingerspitze, wo der verdorbene Saft aus der Hand sich hingezogen, und wo er schwärt, Kraut und Pflaster, so behältst du die Hand. Brich hervor wie ein Feuer, und dein Wort brenne wie ein Kirchenlicht (ein Wachsstock ist nur eine Pfeife zu entzünden). Tröste den Bußfertigen, und laß über ihn aufgehen den Regenbogen mit seinen schönen Farben. Wenn dich eine Kälte im Ausdruck überfällt, wärme dich an ein paar Psalmen in der heiligen Schrift, und wenn böse Buben auf die Bibel lästern, denk daran, daß es Gottes Schulbuch sey, woraus groß und klein, arm und reich, vornehm und gering, alt und jung, unterrichtet werden sollen, und dann laß den Lästerer ein Buch [197] nennen, das so wie dieß zu diesem Zweck eingerichtet, und für all zusammen und für jeden einzelnen ist. Gott laß dich nie vor Narren zum Spott werden, noch deinen Rücken zur Brücke, worüber jeder geht. Wachse wie ein Palmbaum am Wasser, und dein Geruch sey süß vor dem Herrn, wie der Weihrauch im Studirstübchen deines Vaters. Er, der die Erde mit Schnee und Reif salzet, bereite dich zu seinem Knechte in seinem Weinberge: wenn aber das Salz dumm oder unkräftig wird, womit wird man salzen? Verrichte deine Andacht vor Gott und nicht vor Menschen. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Himmlische Glorie umstrahle dein Haupt, wenn du auf der Kanzel bist, damit man's fühle, daß du nicht von dir selber redest. Ein roh Ei (wenns angeht ein Kibitzei) hilft viel zur guten Predigt; wer wie ein Engel spräche und nicht verständlich wäre, fruchtet weniger als ein ausgelernter Staar, oder das Getöse der Glocken, das ich nie ohne Herzensschlag und Erbauung hören kann. Ich wünschte wohl, die Glocken, wenn ich begraben würde, hören zu können. Alte Kirchen haben dunkle Fenster, indessen weiß jeder seinen Stand. Ein Prediger dem die Zähne ausgefallen, muß sich nicht von einer andern Gemeinde vociren lassen. Man hat mir erzählt, daß Demosthenes und Cicero von Natur schlechte Stimmen gehabt; durch Kunst haben sie schön reden gelernt. Ich hätte sie nicht hören wollen. Mancher Pastor kann sich hören, mancher sich lesen lassen. Es kann also auch Redner geben, die stumm sind. Deine erste Predigt schlürftest du bei der Probe in der Speisekammer, als wenn du weiche Eier äßest. In der Kirche ging's besser. Lerne deine Gemeinde so kennen, wie ein Gelehrter die Sprache, der bei jedem Worte daswarum und darum weiß. Ein Pastor, der seine Gemeinde nicht kennt, und sich nicht wie der gemeine Mann ausdrücken kann, ist ein Miethling. Brauen und Backen geräth nicht immer. Allemal kanns nicht was Neues vom [198] Jahr seyn. Schneid an eine alte Predigt ein Zwiebelchen, lege Butter dazu, es ist eine frische Schüssel. Hunger ist der beste Koch. Ein Eierkuchen macht Appetit allen, die vorübergehen. Ein einzig faules Ei verdirbt die ganze Pastete. Wenn es mit deiner Predigt nicht fort will, und von drei bis in die Dämmerung gefischt und nichts gefangen ist, laß Licht anzünden, und es wird dir auch ein Licht aufgehen. Wenn du übern Tod predigst, mache deine Predigten nie am Tage, sondern des Abends. Predigst du vom Lobe Gottes, steh Morgens um vier auf. Wenn gleich das Andenken deiner Trübsal verwächst, suche eine Narbe zu behalten, damit du an Gottes Hülfe denken, und ihn in deinem Kämmerlein und in der Gemeinde des Herrn preisen könnest. Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der, die Waisen und Wittwen in ihrem Trübsal besuchen, und sich von der Welt unbefleckt behalten. In deinen Predigten lehre Himmel und Hölle; sey nicht bloß Brenn-, sondern auch Bauholz. Halte dir selbst Wort, mein Lieber! so wirst du auch andern es halten. Narren ins Fegfeuer, Gottlose in die Hölle. Weide die Heerde und siehe wohl zu, nicht gezwungen, sondern williglich, nicht um schändlichen Gewinnes willen, sondern von Herzensgrund; nicht, als die über das Volk herrschen, sondern werd' ein Vorbild der Heerde, so wirst du, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Ehren empfahen. – Siehe das übrige Taufwasser nicht als bloß gemeines Wasser an, sondern mache die Verfügung, daß es auf einen besondern oder heiligen Platz gegossen werde. Du wirst das Gras darauf sehen! im Paradiese könnt' es kaum grüner seyn! der Kirchthurm ist ein Finger, der gen Himmel zeigt, denk, so oft du einen siehst, an den Finger Gottes, ohne den nichts geschieht, was geschieht, und durch den ist, was ist. Am Martinstage iß eine Gans; es ist ein alter wohlhergebrachter Gebrauch, und denk an den unglücklichen BischofMartin, der durch eine Gans verrathen ward. Der Hahn ist [199] der richtigste Kalender, und was die Sonnenuhr im Zeigen ist, das ist ein Hahn im Schlagen: das richtige Zeitmaß. – Der Hahn, der zuerst kräht, ist Superintendent unter den Hähnen. Alles, was krähen kann, kräht ihm nach, so lahm und candidatenmäßig es auch zuletzt herauskommt. Ein Hahn hilft oft zu Thränen. Dein seliger Großvater hat eine Hu – auf diese Art zur Reue gebracht. Alle seine Ermahnungen waren vergebens; zum Glück krähte ein Hahn; diesen Umstand griff dein seliger Großvater, und sie weinte bitterlich. Findest du mühlsteinerne Herzen, verzweifle nicht – Gott kann dir aus Steinen Kinder erwecken. Rufe getrost! schone nicht! Lerne recht fürchterlich:wer da? schreien, wenn der Teufel herumgeht wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen er verschlinge. Wer bösen Leumund macht, vergeht am Ende wie das Unrecht.


Die Welt kann doch nichts geben,

Was wahre Ruhe gibt;

Wer hier und dort will leben,

Ist! Vater! der dich liebt!


Wenn du im Consistorio sitzst, rede niemand mehr nach deinen Worten, außer daß gesagt werde: du habest wohl gesprochen. Die Alten müssen sich freuen über deine Weisheit, und die Jungen müssen auf dich warten wie auf den Regen, und ihren Mund aufsperren, als auf den Abendregen. Sey des Blinden Auge, des Lahmen Fuß, des Verzagten Arm. Wenn du einen Brief schreibest, vergiß nicht A und O auf griechisch obenan zu setzen, das ist der geistliche Stempel. Aergere dich nur deiner Gesundheit wegen, und eben darum, warum man Gift in Arzeneien mischt. Dein Vater lernt alle fünf Jahre eine Sprache, um dem Gedächtniß eine Bewegung zu machen. Versuch, ob's deinem Gedächtniß gesund ist. Denk nicht zu scharf über einen Namen, und spiel nicht blinde Kuh mit ihm. Ich hab' gehört, daß jemand darüber den [200] Verstand verloren, und ihn eher nicht wieder bekommen, als bis ein andrer diesen Namen von ungefähr ausgesprochen. Es ist die Frage, ob sich ein solcher Andere so leicht findet? Wenn du betest, falte die Hände, denn dieß hilft, auch die Gebauten zusammen halten. Bist du betrübt, bete; bist du vergnügt, singe. Der Arbeiter ist seines Lohnes werth, und der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben, und von euch abgebrochen ist, schreiet, und das Rufen der Ernter ist kommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Richte nicht, so wirst du nicht gerichtet; vergib, o wird dir vergeben; gib, so wird dir gegeben. Alles, was du willst, das dir die Leute thun sollen, thu ihnen auch. Wer selbst Fenster hat, schlage sie nicht dem Nachbar ein. Die Zunge ist ein klein Glied und richtet große Dinge an. Sieh ein kleiner Funken, welch einen Wald verwüstet er! Die Zunge singt Gott Lob und Preis, und die Zunge kann von der Hölle entzündet werden. Aus einem Munde blasen wir kalt und warm; aus einem Munde geht Loben und Fluchen. Wir loben Gott den Vater, und fluchen den Menschen nach Gottes Bilde gemacht.

Kann auch ein Feigenbaum Oel oder ein Weinstock Feigen tragen? Klügle nicht über deine Reverende, sondern trage sie wie deine Vorfahren mütterlicher Seits sie getragen haben. Die Banise in schwarz Corduan mit goldenem Schnitt sieht wie ein Gesangbuch aus. Wer Possen in geistlichen Melodien singt, zieht diesen eine Reverende an. Wehe dem, der diese Maske erfindet. Ein Geistlicher in seinem Geschmeide kann von einem Engel ungefähr unterschieden seyn, als ein Küster vom Priester. Der Küster muß aber entweder die Altarlichte anstecken, oder sie mit einem Löschnäpfe bedecken und auslöschen. Dinge, die oft im Munde am angenehmsten, sind am schwersten zu verdauen. Wenn du viel Austern gegessen, iß Käse darauf. Warum aber sinnenarme Austern? Wenn du etwas mit Umschweif zu sagen hast, fang's an mit dem [201] Worte: Kurzum, oder endlich, das befördert die Andacht. Wer nicht Tabak schnaubt und raucht, ist ein Republikaner, ein Curländer, ein freier Mensch. Wer kann den Hunger durchs Andenken an ein vorjähriges Gastmahl befriedigen? Denke am kürzesten und längsten Tage im Jahre an Zeit und Ewigkeit. Sey mausestill, wenn dich Jungen mit Koth bewerfen. Wer eine Ehrenstelle erhält, hat ein neu Kleid angezogen, und überall ist steife Leinwand. Zieh nie Sonntags ein neu Kleid an, denn dieser Tag ist verloren. Halt dir aber dein Alltags- und dein Feierkleid; ein Mensch, der Sonntags nicht ein ander Kleid anlegt, ist auf dem Wege, ein Freidenker zu werden. Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, auch die im Verborgenen geschehen sind, und den geheimsten Rath des Herzens offenbaren, dann wird einem jeglichen von Gott Lob widerfahren. Die Hühner- und Elsteraugen schneide aus, doch so, daß du dabei vorsichtig zu Werke gehst; es sieht sonst so aus, als wäre man gichtbrüchig; und so sehr gut die Gicht einen alten Mann kleidet, so häßlich ist's, wenn ein Jüngling gichtbrüchig wandelt. Geizige Leute erhenken sich, um das Pulver zu sparen, und den Strick andern guten Freunden, und vor allen Dingen ihren lieben Erben, zurück zu lassen. Ein Geizhals ist leicht zur Bürgschaft zu bringen. Er will Gutes thun, ohne daß es ihn einen Heller kostet; allein der Geiz ist auch hier die Wurzel alles Uebels. Verbürge dich nicht, bezahle lieber für den Dürftigen; so hast du einen freien Kopf und ein freies Herz. Schreib deinen Vornamen nicht aus, damit die Leute das A für Adam, Abraham und andere biblische Namen halten. Streue nicht auf fremden Acker, wenn du willst ernten siebenfältig. Ich habe noch nie gesehen den Gerechten verlassen und seine Kinder nach Brod gehen. Wenn du Obst gegessen, nimm ein wenig Brod, ehe du trinkest. Man sagt, es sey Wahn, allein es hilft. Wenn du des Nachts reitest, nimm einen Schimmel, er dient dir zur Laterne. Neckereien [202] machen gewitzt, Erfahrungen klug, Noth lehrt beten. Sieh nicht aufs Handgeld, sondern auf den Herrn. Der Teufel gibt Silberlinge, allein das Ende ist Verzweiflung. Hüte dich vor Prozessen in Curland. Gott weiß! wie es anderswo ist, denn am Ende heißt's, Esaias im achtundzwanzigsten Kapitel, im zehnten Vers: gebeut hin, gebeut her, gebeut hin, gebeut her, harre hie, harre da, harre hie, harre da, hie ein wenig, da ein wenig. Wer Gewalt übet bei Gericht, schändet sein Mündel, das er bewahren soll. Die Sachwalter machen's wie die Fischer; sie trüben das Wasser, eh sie angeln: bei hell und klarem Wetter ist nichts zu fangen. Sey gerecht gegen jedermann, gib auch, wenn du geschwinde schreibst, dem u seinen Strich, dem i seinen Punkt. Ich habe kein u um das Seinige betrogen, und mich ärgert, wenn man gewissen Worten den großen Buchstaben nehmen will, als bei Stubenuhr schreib ich S und U mit großen Buchstaben. Ehre, dem Ehre gebührt. Uebe dich auch mündlich abzuschlagen, was du nicht leisten kannst: schriftlich kann's jeder Narr. Bist du unentschlossen, ich setze zum voraus, daß dieß oder jenes nichts böses ist, worüber du getheilt bist! zerbrich dir nicht den Kopf, recipe zwei Loose: in eins schreib flugs Ja, ins andere flugs Nein. Mache sie sich einander gleich, greif eins, und thue, was du gegriffen hast, dieß ist eben so gut, als wenn du lange gedacht, und Ja und Nein auf einer Goldwage abgewogen hättest. Es ist eine Art von göttlichem Regiment, von Theokratie. Heißt es nicht so? Auch der Weiseste greift in einen Glückstopf. Glück und Glas, wie bald bricht das. In der Demuth stolz seyn, heißt falsch spielen. Wenn die Menschen Methusalems Alter erreichen könnten, würde man mit Gewißheit sehr früh behaupten können, wer gewiß hängen würde. Kluge Leute lesen ihre Briefe von hinten. Singe an deinem Geburtstage Neujahrslieder; sie haben was Tröstliches in sich. So wie der Geiz seinen eigenen Händen nicht traut, so traut auch der Kluge [203] seiner Vernunft nicht. Ein Bettler gab einem andern die Lehre: sprich keinen an, der allein geht; gehen zwei, geben beide; wäre jeder allein gegangen, hätte keiner gegeben. Die ungefärbte Menschenliebe ist erkaltet, und Stolz führt bei der Gabe die Hand. Der Weg zum Himmel ist mit lauter gutem Willen gepflastert. Guter Wille gilt bei Gott und allen ehrlichen Leuten so viel als die That. Zwinge dich nicht ohne Geld auszugehen, das heißt, aus einem guten ein schlechter Mensch werden wollen. Gib mit der Rechten, ohne daß es die Linke weiß, und sieh nicht, wie man's nimmt. Es ist schwer, gut zu geben, noch schwerer aber, gut zu nehmen. Tausche gegen einen Pfeifenkopf nichts, was Leben und Odem hat. Thiere, sagt dein Vater, sind unsere Gränznachbaren. Der Gerechte erbarmt sich auch seines Viehes. Pflanze keinen Baum, wo er ausgehen muß. Heirathe keine Mondsüchtige, wenn sie auch Superintendentens Tochter wäre. Schneide keine Blume ab, wie kämst du zum Köpfen? und die Blume, geköpft zu werden? sondern pflücke sie, wenn's nicht anders seyn kann, sonst aber laß sie ihren reisen Samen ausstreuen, und den Tod der Guten sterben, die ihr Ziel nicht verrücken, und ihr Leben durch Unmäßigkeit verkürzen. Ein Fleischer ist immer grausam; Blut ist ihm am Ende Blut. Gewisse Haare werden nie grau, und Alter schützt vor Thorheit nicht, decke aber die Schande des Alten. Ueber ein Wort muß man sich nicht den Hals brechen. Wort um Wort, Zahn um Zahn, Hals um Hals. Ein Arzt, der sein Latein falsch spricht, kurirt auch falsch; warum sagt er nicht lieber, ich weiß es nicht? und ein Geistlicher, der nicht die Grundsprachen versteht – – (daß sich Gott erbarm!) – – Einfältig heißt von einer Falte: So sey dein Herz gegen Gott und gegen deinen Nächsten; nicht wie ein Fächer, der vielfältig ist, und nicht wie eine Reisekarte, die man in ein Beinkleidertaschenformat legt, und wenn sie ausgekramt ist, deckt sie einen Tisch auf vier Personen. Edle Einfalt [204] war beim Anfang der Welt, und wird, wie ich nach der Liebe hoffe, bei der Welt Ende seyn. Eine Heerde und ein Hirte. Lobe nicht Leute, die nicht lobenswürdig sind. Ein Thor denkt nie beim unverdienten Lobe: »weißt du nicht, daß dich Gottes Güte zur Buße leite.« Falsche Freunde sind Schwalben, die nur des Sommers da sind; Sonnenuhren, die nur brauchbar sind, so lange die Sonne scheint. Der Mensch geht in dieser Welt in die Schule beim lieben Gott. Der Tod befördert ihn zur Akademie. So wie du gewartet hast, ehe dir das Licht angezündet ward; so wart auch, bis es ausbrennt, oder ausgelöscht wird, und denk an die Sonne der Gerechtigkeit, die nach der Zeit über deinem Haupt aufgeht, ohne unterzugehen in Ewigkeit. Der Herr wird uns erlösen von allem Uebel, und aushelfen zu seinem ewigen himmlischen Reich; denn sein ist das Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit, von Ewigkeit, zu Ewigkeit, Amen. Wir sterben lieber in jeder Stunde, als daß wir die Hoffnung aufgeben sollten, wir halten täglich mehr aus, als den Tod, um der Hoffnung willen, noch länger zu leben, und müssen doch einmal recht aus dem Grunde sterben. Nimm dir recht vor zu sterben, so stirbst du am wenigsten und hältst beinahe die Stunde. Stirb als hättest du deinen Tod auswendig gelernt, und sieh nicht ins Concept; stirb von ganzem Herzen, so stirbst du den Tod der Gerechten, und deine Seele ist in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an. Wer so stirbt, der stirbt wohl! Sieh die du liebst zuweilen schlafen, damit du nicht trauerst um deinen Todten. Denke dir deinen ärgsten Feind im Himmel, damit du ihm verzeihest. Wem es so und nicht anders ist, ob sein Freund stirbt, und ob seine Pfeife ausgeht, ist nicht werth, einen Freund, wohl aber eine Pfeife zu haben. Diese Welt ist nicht ein Klima für den Frommen. Geht's ihm gut, so hört er's auf zu seyn; geht's ihm übel, so ringt er sich die Hände wund. Ist's dann nichts:


[205]

Aller Engel Schaar,

Und die lieben Seinen,

Sprechen immerdar,

Nirgend über Weinen,

Ohn' Gefahr und Pein,

Undim Himmel seyn.


Dein Vater sagt: Stirb, als wenn du den Tod observiren wolltest; so stirbst du nicht, sondern machst Observationen – ich nicht also. Sey getreu bis in den Tod, so wird dir die Krone des Lebens gegeben, und es wird heißen: Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenig treu gewesen, ich will dich über viel setzen, gehe ein zu deines Herrn Freude! Wähle nie ein Amt, das größer ist als du, damit du hervorragest, und kannst du in eine Stelle kommen, die vor dir ein unbedeutenderes Männchen, als du, bekleidet, hast du gewonnen Spiel. Brauch' griechische, hebräische, arabische, chaldäische, lateinische Worte in deiner Predigt, die vertragen sich; um des Himmels willen aber kein einziges französisches, das ist in einer deutschen Predigt wie Katz und Hund. Die französische Sprache ist die zweite Erbsünde. Der geringste Uebelstand auf der Kanzel ist ein Flecken auf deinem weißen Kragen. Es scheint überhaupt die französische Sprache nicht für den Himmel und den schmalen Weg eingerichtet zu seyn. Wohl dem unter diesem Volke, der noch eine andere Sprache weiß! Diene deiner Gemeinde mit allen fünf Sinnen. Man meint, der Geschmack sey so ein Geizhals, daß ein anderer nichts davon hat; allein wer den andern mit Geschmack essen sieht, bekommt auch Lust. Willst du deine Gemeinde zu Abtragung der Calende bewegen, brauch Worte, diese rühren plötzlich. Willst du sie in den Himmel bringen, trag Sachen vor; diese wirken langsam, aber sie bleiben. Eine gute Predigt muß nicht zu breite Tressen haben, das Tuch muß zu sehen seyn. Wer eine gute Predigt drucken läßt, die er gehalten hat, hat geschaffen und erhalten. Bestimme, was [206] deine Kinder werden sollen, und wenn's seyn kann, die Erstgeburt der Kirche! Eltern, die ihren Kindern die Wahl lassen zu bestimmen, was sie werden wollen, irren; du wärst Alexander geworden, und jetzt gehst du auf dem Wege zur Superintendentur. Was süße schmeckt, hat einen übeln Nachgeschmack, und schleimt obenein; was herb zu Anfang ist, wird lieblich am Ende. Das gilt von der Tugend und vom Rheinwein. Pflanze nicht im Garten, ehe dein Feld bestellt ist, und mach dir keinen Schatten, bis du ein zinsbares Kapital haft. Beständige Ruhe ist keine Ruhe. Wenn's geregnet hat, ist's in freier Luft am schönsten. Wenn der Regen gerade herunterfällt, ist er am fruchtbarsten; man könnte sagen, die Natur hab' eine gute Geburt; so müssen auch deine Worte fallen. Kreise nicht, sprich aber gerade herunter. Ein junger Geistlicher muß seine Predigt blöd' anfangen, und dreist vollenden, dann hat er alles, was ihn hört, wie eine Klette am Kleide. Der Geruch hat seine Moden, die ein Pastor nicht mitmachen darf. Bisam und allerlei wohlriechende Wasser sind nicht für ein schwarzes Kleid. Willst du wohl riechen, so sey's nach Himmelschlüsseln, Rosen und Nägelchen (nicht Nelken, wie etliche wähnen). Diese Gerüche bekommen wie täglich Brod alle Menschen, und keine schwangere Frau wird darüber ohnmächtig am Beichtstuhle werden. Sey stark am inwendigen Menschen. Deine Seele sey wacker, dein Herz ohne Falsch, so wird auch der auswendige Mensch blühen und Früchte ansetzen. Die Seele ist der Gärtner, der Leib ist die Pflanze, die gezogen wird. Sprich zuweilen laut, sonst glauben die Leute nicht, daß es Ernst ist. Ich habe dir in deiner Jugend angerathen, das Skelett von den Butterblumen auf einmal wegzuhauchen. Es stärkt die Lunge. So wird Gott, der gerechte Richter, die Welt weghauchen! Ein jeder Lehrer muß mehr sagen, als im Concept ist. Was aus dem Herzen kommt, geht wieder zum Herzen; was aus dem Munde kommt, [207] geht wieder in den Mund; was aus dem Concept kommt, geht ins Concept, und was aus dem Buche, ins Buch. Ende gut, alles gut! Ich werde dir nicht erscheinen, mein Kind! wenn ich heimgehe – es würde dir und mir beschwerlich seyn; allein ich komme dir gewiß entgegen. Der Herr sey mit dir im Leben, und wenn du leidest, und wenn du stirbst. Geht's mit dir zu Ende, sey es mit dem Schluß deines Lebens, wie mit dem Jahresschluß, wo die Tage kurz sind! – Des Abends muß man einen schönen Tag loben. Amen, das heißt: Ja, ja, es soll also geschehen! Amen ist des lieben Gottes großes Siegel und der Frommen Zuversicht. Ich beschwöre dich beim Amen, daß du diese Regeln aufbehältst und sie befolgest, und sie alle Vierteljahre liesest, und vor der Lesung singst:


O Gott, du frommer Gott,


und nach der Lesung:


Groß ist, Herr, deine Güte. Amen!


Dieß war der Abschied, den meine Mutter von mir schriftlich nahm, wie sie ihn auch gern vom Conversus genommen hätte, und den sie, eben so wie den Tod, nicht auf die letzte Stunde ausgesetzt. Von meiner Mutter hab' ich, und auch meine Leser, in diesem Theil Abschied genommen.

Gute Nacht also, liebes Weib! Lebe wohl, liebe, theure Mutter. Deine heilige Harfe soll mein Herz in eine heilige Ruhe spielen, wenn es trotzig' oder verzagt' Ding seyn will, wenn es sich bäumt und wenn's sinkt. Ruhe der Religion der Vollendeten, du bist die Diät für Leib und Seele! Bin ich bestimmt, sechs Tage meines Lebens Last und Hitze zu tragen, laß mich wenigstens am siebenten ruhen von dieser Arbeit, und eine Seelen- und Leibeserlösung kosten. An diesem Sabbath soll dein heiliges Bild, liebe Mutter! vor meinen Augen schweben! Ich will dich hören, wie du das erste der drei großen Feste, als die Lerche den Frühling, mit dem:


[208]

»Dir, dir und deiner Güte,

Dir, dir, mein Gott, allein,

Dir, dir soll mein Gemüthe«


begrüßtest.

Wie du am heiligen Abend vor Weihnachten die Hirten des ganzen Kirchspiels vor das Pastorat versammeltest, und »Vom Himmel hoch, da komm' ich her etc.« anstimmen ließest – wie du dieß arme Volk, das seiner Sommergesellschaft am Ende ähnlich wird, zu christlichen Schäfern verschönertest, und in ihnen vor der ganzen Gemeinde ein Licht anzündetest, so daß jedes, auch im Weihnachten, Achtung für den Hirten hatte, da er nach dem Laufe der Natur am wenigsten gilt.

Deine Wörter: hahn, stahn, lahn, sollen mir besser klingen, als die weichlichen Worte der schwelgenden Poesie. Dein Titel: Weib Lobe san, den du dir selbst beigelegt hast, ist köstlicher als alle Welttitel. Ich will weit eher in den Vorhöfen des Herrn in der Halle wohnen, wozu dir dein Schutzgeist den Schlüssel für dich und deine Nachkommen gab, als in den Palästen der Gottlosen! Deine alten Worte: Wohlgemuth, fürbaß, und pflag, und traun! und schier! bezeichnen mir die Einfalt der Alten der güldenen Zeit, da die Menschen Gottes Nachbarn vorstellten, ihm über'n Zaun in seinen Himmel sahen, vor ihm wandelten und fromm waren, und wie sollt' ich diesen Kern gegen den Prunk dieses versilbert blechernen Jahrhunderts vertauschen? – Am Ende, wenn mir die Gedanken vergehen, wie ein Licht, das hin und her thut wanken, bis ihm die Flamm' gebricht, soll der Tod mir ein sanfter Schlaf seyn! Amen, das heißt: ja, ja, es soll also geschehen!

Dieß war ungefähr das Gefühl, auf Worte herabgesetzt, das in mir brannte, da diese Anrede von meiner Mutter zum erstenmal verlesen ward. Beim eigentlichen Abschiede bezog sie sich auf die [209] schriftliche Haustafel, wie sie's nannte. Diese Hand, sie gab mir ihre Rechte, reich' ich dir nicht wieder, als in der Ewigkeit, nicht mehr beim Abschiede. – Dieß ist der Abschied, mein Sohn, das eigentliche Begräbniß. Wenn du wirklich von hinnen ziehst, wird nur der Paradesarg beigesetzt.

Von Minchen nahm ich Abschied, wie der Sommer vom Frühlinge; man merkt's nicht. Zehnmal dachten wir, es sey das letzte Lebewohl; allein es kam noch ein Lebewohl – und dann noch eins, bis eins, ohne daß wir's beide wußten, das allerletzte war. Wir hatten schon vorher verabredet, daß nicht Sie anIhn, sondern Er an Sie den ersten Brief schreiben sollte. Dieser erste Brief sollte an den guten Benjamin, um aus der Noch eine Tugend zu machen, zur Beförderung gerichtet werden, und der Brief an Benjamin sollt' eine Einlage eines Briefs an den Herrn Hermann seyn. Wie sehr wir über diesen Plan gedacht, kann ich nicht beschreiben. Er ist das Resultat von vielen Stunden. In diesem ersten Briefe sollt' ich meiner lieben Mine den Weg zeigen, an mich zu schreiben, denn da noch nicht ausgemacht war, welcher Universität wir anvertraut werden sollten, so konnte der Plan füglich nicht anders eingerichtet werden.

Die ehrlichen Jungens, die tapfern Griechen, hatten sich bei meiner Abreise versammelt, hielten sich gerade, Helm ragte vor, und alle sahen ihrem Könige nach, der avanciren und Student werden sollte.

Wir kamen gegen Abend in *** an, und für ein paar Leute, die sich in zehn Jahren nicht besucht, wohl aber, so oft sie sich nur reichen können, mit Gedanken, Geberden, Worten und Werken (wiewohl alles in Ehren, und wie es ein paar so klugen und so rechtschaffenen Leuten ansteht) gepfändet hatten, war der Empfang sehr freundschaftlich. – Wo bleiben Sie so lang, lieber Herr Pastor? ich hab' schon zehn Jahre auf Sie gewartet, sagte der Herr [210] v. G – und mein Vater wie aus der Pistole: eben so lange, einen halben Tag, den ich zur Reise nöthig hatte, abgerechnet, habe ich Ew. Hochwohlgeboren Briefe entgegengesehen. Hier eine Umarmung, und von der Frau v. G – ein tiefer Knix, vom jungen Herrn ein russischer, und von seinem Hofmeister ein französischer Bückling – und zwar so durcheinander, daß niemand wußte, wem eigentlich die Verbeugung oder der Scharrfuß gelten sollte. Nach diesem Zeichen der Wiedergeburt einer seit zehn Jahren verfallenen Freundschaft hätte man glauben sollen, es wäre zwischen Sr. Hochwohlgeboren und Sr. Wohlehrwürden alles berichtigt; allein es ging diesen beiden Leuten so wie Richtern, die sich zwar geeinigt haben, wer von beiden Kläger oder Beklagter, gewinnen oder verlieren soll? nachher aber über die Entscheidungsgründe, und die Gegengründe die Köpfe schütteln, und zuweilen an einander stoßen, um ein Urtheil zu formen. Alle Augenblick war ein Knoten, den keiner von beiden lösen konnte, den aber auch keiner von beiden so geradezu spalten wollte. Ich muß gestehen, daß ich nicht viel von dem beherzigt, was diese beiden streitführenden Mächte mit ein ander ausgefochten. Ich weiß kein Wort weiter, als daß wegen Hut und Trift kein Wort weiter vorfallen sollte, und daß eine Koppelweide brüderlich verabredet wurde. Man ging Hand in Hand zur Tafel. Der Vergleich war zugesäet, wurde mit einem ächten Glase Wein aus einem Schäuer begossen, und trug noch den nämlichen Abend tausendfältige Früchte. Morgen, denn heute seh' ich alles über Bausch und Bogen, will ich meine Leser mit den Charakteren dieses hochwohlgebornen curischen Hauses und seiner Art bekannter machen, oder wie es mir eben einfällt, sie sich selbst bekannt machen lassen. Ich will versuchen, diesen Tag nachzuschreiben; wenn ich gleich nicht ein Verballexikon, einen Wörterkram, über das, was damals geredet ward, besitze, so habe ich doch ein sehr richtiges Reallexikon, und hier darf ich nur klopfen, und es wird aufgethan. Hausrath [211] ist bald angeschafft, wenn man liegende Gründe hat. Wäre dieser Lebenslauf kein Lebenslauf, hätt' ich von der Kanzlei des Sir Karl Grandison einen Kanzlisten auf zwölf Stunden zum Anlehen erbeten; allein einem Lebensläufe schlägt er's ab. Wo hätte ich aber, wenn Sir Grandison fiat wie gebeten gesagt hätte, wo hätte, ich dem Ehrenmann Ort und Stelle anweisen sollen? Im ganzen Hause des Herrn v. G – war zur Ehre des Hauses keine spanische Wand und keine Vorhänge, als vor den Fen stern, auch die nur gegen Mittag. Die Gespräche sind originalisirt. Wer's versteht, was ein Eid de credulitate ist, wird wissen, was ich sagen will, wenn ich behaupte nach bestem Wissen und Gewissen meine Leser behandelt zu haben.


Der Schauplatz

in unserm Schlafzimmer.


Dieses Zimmer ging gerade auf eine Wildniß, einen Haupttheil des – Gartens, wo sich ein Blumenbeet, welches wie ein verschönertes Wiesenstück aussah, an einer alten Eiche zu halten schien, um die kleines Gesträuch rings herum stand, als wenn's in die Schule ginge, und lernen wollte auch so groß zu werden. Es war alles wie Wiese und Wald, was man sehen konnte, und doch war's nicht Wiese und Wald. Die Blumen anders, und wenn sie gleich nicht in Reih' und Gliedern standen, waren sie doch in einer entzückenden unordentlichen Ordnung. Bäume hinderten das Auge nicht, den Wald zu sehen, und es fiel von oben ein reines Wasser, [212] wie ein starker Regen, und schlenkerte durchs Blumenstück, und aus ihm heraus, wie ein Betrunkener.


Personen.

Vater. Ich.

ICH. Guten Morgen, Vater.
VATER. Dank, Alexander. Wie im Edelhofe geschlafen?

ICH. Nicht wie im Pastorate. Blinde Kuh gespielt. Zugegriffen, nichts erhascht. Die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. – Gewollt und nicht gekonnt.

VATER. Die erste Nacht am fremden Orte ist immer eine Brautnacht. Niemand schläft sie aus.
ICH. Wie kommt das?

VATER. Betten und Nester müssen nicht kalt werden. Ein neuer Bezug kostet mir zu Hause zwei schlaflose Stunden, ein neues Bett anderthalb Nächte.

ICH. Ich habe den neuen Bezug mit einer halben Stunde bezahlt, vom neuen Bette weiß ich erst seit sechs Stunden mitzureden.

VATER. Hätten wir keine Betten, würden wir nicht diesen Schlafzoll bezahlen. Es ist viel davon zu sagen. Wenn ja der Mensch nicht in sich selbst Wärme hätte, sollt' er nach Vorschrift der Natur auf Haarbetten ruhen.

ICH. Ich will's versuchen.

VATER. Wenn's nur nicht zu spät ist. Deine Mutter trägt die Schuld, daß dein Blut Federn kennt. Mich freut's, daß du diese Nacht so wenig mit dem Schlaf gezankt. – Wir haben beide gethan, als schliefen wir. Wer sich mit dem Schlafe überwirft, zieht immer den kürzern.

[213]

ICH. Aber mit einmal Aufstand machen, und dem Schlaf zeigen, daß man sein Sklave nicht sey. Was meinst du, Vater?

VATER. Recht! in allen Fällen; nur nicht, wenn ein neues Bett daran schuld ist. Der Schlaf kann nicht büßen, was unsere Weichlichkeit verschuldet hat. – Wer, wenn er schnell aufwacht, nicht gleich herausspringt, versteht nicht Winke der Natur. Der zweite Schlaf ist ein Postscript, das keinem Manne ansteht. Mittagsschlaf ist ein brennend Licht am Tage. Achtung, Alexander! Schlag an, Feuer! bist du heraus?

ICH. Wie Blitz!

VATER. Merk's dir ewig. Wer einen Fuß aus dem Bette setzt, und den andern nachholt, arbeitet auch nur mit halbem Kopf.

ICH. Wie kann's anders? Ich hätte mögen den Dr. Luther hören und sehen das Walt sprechen, und aus dem Bette fahren.

VATER. Er fuhr gewiß mit sechs.
ICH. Aber das Kreuz, das er schlug, wäre nicht nöthig gewesen.

VATER. Wer's vertragen kann, des Morgens und des Abends, kann's nicht schaden. Deine Mutter hatte die Gewohnheit zu kreuzen, wenn sie gähnte und den Mund hielt. Diese Kreuzschläge habe ich ihr so aus dem Grunde abgewöhnt, daß sie's nach der Zeit für Sünde zu halten schien, und den Schlagbaum des Mundes, um die vorigen Kreuze zu verbüßen, noch weiter aufriß, als es nöthig war. Das Kreuz war die gemeinste Strafe, womit man bei den Syrern, Aegyptern, Römern und andern Völkern einen Missethäter von der Welt brachte. Aus Schande ist Ehre geworden. Deine Mutter nannte dieß einen Triumph der christlichen Religion. Ein Kreuz ist ein Ritter- und Ehrenzeichen; es hat so was Edles in und an sich, als die liebe Sonne, die alles glänzend macht, was sie bestrahlt. Häng' es um ein schlecht' Gewand: [214] es übertrifft Purpur und köstliche Leinwand. Die Wappenkunst gehört zwar nicht zu Kanzelgaben; indessen rath' ich dir dieß Studium an, und da wirst du ein Andreaskreuz, ein Schächerkreuz, ein Ankerkreuz, ein Kleekreuz, ein Krückenkreuz, ein Lilienkreuz, ein Patriarchenkreuz und noch viele Kreuze kennen zu lernen die Ehre haben.


Eine Stille! Wir sahen beide zum Fenster, und jeder stieß eins wie auf's Kommando auf; – noch eine

Stille! –


VATER. Hast du gebetet?

ICH. Zweimal angesetzt, einmal vollendet. Aber keinen Morgensegen, denn ich habe nicht geschlafen. Ich kann dem lieben Gott für nichts danken, was ich nicht auch empfangen habe. Die sagen können: Wir danken Gott für seine Gaben, die wir von ihm empfangen haben, wenn sie vor Hunger sterben möchten, sind, denk' ich, Schmeichler, Heuchler, Schriftgelehrte und Pharisäer.

VATER. Zum Dank hat der Mensch, wie zum Trost, immer Gelegenheit. Auch das größte Unglück ist nicht so groß, daß man sich nicht noch ein Stockwerk drüber denken könnte. Der Armbruch ist nicht so arg als der Halsbruch. Viele Leute aber glauben freilich, so mit dem lieben Gott umzuspringen, als mit ihres Gleichen. Herz, Ehrlichkeit ist das, was Gott angenehm ist; ich denk', er verzeiht hundert Flüche eher, als ein Gebet und Lob von dieser Weise. Er will eigentlich nur die freudige Empfindung über das Gute, das wir gethan haben. Versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere. Thue was Gutes, und du betest – die ganze Natur betet und singt und die Raben selbst nicht ausgenommen. Siehst du einen schönen Abend, einen schönen Morgen, so fehlen nur Worte zum Gebete, und die sind nicht nöthig. Leute, die es auf bloße Worte anlegen, zaubern im eigentlichen Sinne; sie betrügen die Umstehenden, und erwerben sich Almosen, das nicht [215] immer ein Stück Brod und ein Vierting ist, sondern auch ein Bückling, ein Ehrenwort seyn kann, »das ist ein frommer Mann.« Es hat weise Heiden gegeben, die dafür hielten, man sollte laut beten, damit Gott nicht mit unklugen Bitten belästigt würde; allein die Herren mögen es mir verzeihen. Gott ist unser Vater, und wir können ihm alles sagen. Wir bleiben gegen ihn bis an's Ende kleine Kinder. Wir sollen Gott lieben! Liebe ohne Aufopferung von der geliebten Seite ist schwer zu denken. Gott opfert sich, wenn er uns Gutes thut, nicht auf. Es kostet ihn keine Mühe, wenn er Früh- und Spätregen und fruchtbare Zeiten gibt, wenn er uns die Hand reicht. Es wäre also nur Ehrfurcht, was wir gegen ihn hätten, wenn wir nicht beten dürften. Das Gebet hilft uns zu einer Liebe, die anders ist, als alle Lieben in der Welt. Christus hat die Lehre vom Gebet so vortrefflich abgehandelt. – Betet im Glauben; bestimmt nicht; laßt's Gott über. Plappert nicht; betet im Kämmerlein.


Mein Vater betete das Vater unser und sah zum Fenster, und ich betete mit; wir beteten sehr laut.

ICH. Das war gebetet.
VATER. Amen.

ICH. Viele Leute schämen sich, den lieben Gott auszusprechen. Sie sagen: der Himmel. Ich sag' ja nicht Mitau, wenn ich den Herzog meine. Einige sagen: die Vorsicht, das sind mir schon die rechten, nicht wahr, Vater?

VATER. Nicht immer wahr. Da muß man sehr duldend seyn. Ich sage gern, herzlich gern heraus: Gott, mein Gott, und freu' mich, daß ich nach meiner Religion darf. Andere Leute mögen andere Weisen haben. Man nennt oft nach der Hauptstadt den Hof, der Wiener Hof – ich werde bei meiner Weise bleiben.

ICH. Und ich auch in Ewigkeit.
[216]
VATER. Eine Nacht gewach macht munter. Wir werden beid' einen herrlichen Tag haben.

ICH. Ich dacht', es wäre des ersten Ausflugs wegen. Der erste Ausflug aus dem Neste muß Alten und Jungen was Angenehmes seyn. Du verstehst mich – nach dem lieben Gott bist du mein Vater.

VATER. Sey gut, Alexander, und das wirst du seyn, wenn du Gott von Herzen Vater nennst.


Vater. Tafeldecker. Ich.

TAFELD. Wünsch' unterthänigen Morgen.
VATER. Guten Morgen, guter Freund.
TAFELD. Gnädiger Herr und gnädige Frau und gnädiger Junker bitten zum Thee.

VATER. Gleich – aber, lieber Freund, das Wasser hier ist von gestern. Nur Thee fehlt, so ist's Theewasser. Können wir nicht kaltes, frisches Wasser –

ICH. Mit Eis, wenn's angeht, ich hab' vom Eiskeller gehört.
TAFELD. Wird nicht gut thun.
ICH. Ich bin's gewohnt, Eis im Wasser, Speck im Kohl, Ehr im Leibe, Gewissen im Herzen.
TAFELD. Das sind vier gute Schüsseln, wollt' ich sagen, ja, ich weiß nicht was? bin der Tafeldecker.
ICH. Herr Tafeldecker, ich bin sehr hitzig auf's Eis.
TAFELD. Sollen haben. Geht ab.

VATER. So oft ich taufe, ärgre ich mich, daß wir nicht untertauchen. Das wäre was für Leib und Seele.

ICH. Wenn wir so mit dem Feu'r umspringen könnten, Vater! wenn wir so die Sonne wie ein Kaminfeu'r ansehen, und, wär' sie näher, herantreten könnten, ohne von der Flamme ergriffen zu werden –

[217]

VATER. Die offenbare See –

ICH. Ich möcht' mich doch da eher baden, als die Hände dicht am Sonnenkamin wärmen. Was auf der Erde ist, gehört uns, hast du mich gelehrt –

VATER. Das erste Feuer auf der Erde muß eine schreckliche Wirkung auf Menschen und Vieh gemacht haben. Ein Blitz schlug's vielleicht an, und die Menschen unterhielten ein heiliges Feuer, deß; sich jedes bediente, bis sich's jedes selbst anschlagen lernte. Der Mensch hat sich ohne Zweifel vorgestellt, die Sonne wäre herabgekommen und wandle unter uns.

ICH. Eine große Vorstellung!

VATER. Ich vergebe den Heiden, daß sie die Sonne angebetet. Sie ist eins von den großen Lichtern, die im Saal Gottes brennen. Wir haben sie noch so ziemlich aus der ersten Hand; in wenig Minuten ist der Strahl auf der Erde.

ICH. Ich wünscht', ich hätt' das erste Feuer auf Erden gesehen.

VATER. Auch ich; ich denk', der erste Feuerlärm ist die Ursache, warum wir noch immer ins Feuer sehen, wo wirs finden. Wir feiern das Fest des ersten Feuers. Kaminfeuer verdirbt das Auge, sagt man, und was thut denn der Rauch der Oefen? das Unwürdigste, was je die Menschen erdacht haben, höchstens für schwangere Weiber gut. Der Kreißstuhl steht am Ofen. Ich bin kein Republikaner, allein ich bin ein Mensch. Kein Mensch, der sich frei fühlt, sollte einheizen und sich die Haare stecken oder sie kleben. Wer nicht mit der Hand in die Haare kann, und mit unverwandten Augen ins Feuer sieht, und sich Feuer zu machen versteht, ist wenigstens kein Engländer. Ich bin für den monarchischen Staat, das weißt du, allein auch da gibt's Freiheit. Du weißt die Fabel vom Prometheus?

ICH. Dem Feuerdieb, ja!

[218]

VATER. Man läßt es nicht, ins Feuer zu sehen, und wenn man seinen Augen drüber einen Bund macht, so sieht man nicht, man schielt, man stiehlt – die Thiere selbst machen große Augen und staunen das Feuer an. – Wie ich mich freue, wenn ich Spuren der Natur finde, das ist unbeschreiblich; ich denk' immer Gottes Finger zu sehen, wenn ich Natur sehe.

ICH. Ich sehe Gottes ganze Hand.

VATER. Junge! Tausendmal hab' ich gedacht, mein Ebenbild! nur etwas rauher, dünkt mich. – Schadet nichts, du bist in Curland geboren und ich in einer bessern Gegend. Du jung, ich – alt. Söhne, die der Mutter ähnlich sind, bekommen ihre Fähigkeiten und Neigungen, allein in höherm Maße. Sie sind Birnäpfel, ich würde sie alle zu Geistlichen bestimmen. Sie haben bis zum Papst Anlage, nur keinen Schuß vertragen sie. Hättest du etwas, Alexander, von diesen Wachsjungen, ich gäbe was drum.

ICH. Und warum, Vater?
VATER. Das eine Frage! du sollst nicht mit Feuer, sondern mit Wasser taufen.

ICH. Gott braucht auch Luthers im Dienst, nicht bloß Melanchthons, Vater! Ich wette, Luther sah seinem Vater ähnlich, wie ich dir, und Luther, das wett' ich auch, wär' ein so guter Generalfeldmarschall geworden, als er jetzt Glaubensvater ist, und hätt' so gut Sieg' erfochten, als einen Katechismus geschrieben.

VATER. Es würde manchmal gut seyn, wenn sich ein Geistlicher mit einem Narren von Freigeist herumschießen könnte. Gewiß würd' er mehr durchs Pulver als durch Gründe frommen, besonders in Curland, wo alles nach Pulver riecht – allein wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen –

ICH. Mit Dreien nehm' ichs auf – ich meine mit Freigeistern, sonst weiß ich auch, wer Herz hat.

[219]

VATER. Feigheit fällt in alle fünf Sinne, man steht sie im Finstern. Einen muthigen Mann kennt man nicht so leicht. Er trägt nicht Spieß und Lanze. Gemeinhin sieht er blöde aus. Seine Miene ist sanft und edel; wenn er spricht, ist's, als spräche man mit einem Frauenzimmer.

ICH. Wer hat, darf nicht borgen.

VATER. Ein muthiger Mann ist ein vermögender Mann, und darum braucht er kein Creditkleid, keinen Empfehlungsbrief. – Er ist überzeugt, daß es ihm nicht fehlen könne. Muth ist ein edles Bewußtseyn, von dem einige Leute sehr einfältig sagen, er sey anzusehen. Stolz ist anzusehen, allein kein edles Bewußtseyn –

ICH. Wie kommt's aber, Vater! daß auch den Herzhaftesten der Muth zuweilen verläßt, und daß er nach einer Zeit wieder muthig wird?

VATER. Weil er krank war und wieder gesund wurde! das ist aber eine Krankheit ohne Namen, etwas Kolik ist immer dabei. – Ost kommt's, weil der Held mit einer Schlafmütze sein Haupt bedeckt hat, da er eben angegriffen wird. Er sollte selbst im Hute schlafen.

ICH. Im Hut oder im bloßen Kopf. – Vater, ich will dein Sohn nicht seyn, wenn ich je anders zu Bette gehe.

VATER. Du warst Alexander! jetzt bist du es nicht mehr, kannst es nicht mehr seyn, mußt es nicht seyn! Ich dacht' anders und Gott dacht' anders. Setze immer eine Schlafmütze auf und bekämpfe dich selbst, dann hast du Muth, auch ohne den Degen in der Faust und im Schlafrock und Pantoffeln. Muth braucht man, wie Salz, zu allem, und beim Kammertod mehr als auf dem Bette der Ehre, wo Wuth und Verzweiflung oft die Herzhaftigkeit einfeuert. Dieß ist ein eingeheizter Muth. Ist der Ofen kalt, ist alles kalt.

[220]

ICH. Ich weiß, Vater, wie ich das Loch hier am Kopf kriegte, was es heiße, auf dem Bette der Ehre ein Loch kriegen, und wie ich krank war, was ein kalter Ofen heiße. Das Loch war mir weniger, als wenn ich mir das Hemde vorbei ins Fleisch gestochen. Ich wollt' drüber was Schriftliches aufsetzen, so weiß ich's. Sich selbst bekämpfen, Vater, und eine Hopfenstange seyn, ist doch zweierlei.

VATER. Sich in wagerechten Stand setzen und immer im Gleichgewicht halten, ist unmöglich. Wer nicht Leidenschaften hat, ist kein Mensch. Unser Herr und Meister jagte Käufer und Verkäufer aus Gottes Tempel. Wer im Sitzen schelten, und wenn er sich stößt beten kann, ist ein Mensch, mit dem ich nichts zu theilen haben will. Ich werd' gewiß betrogen. Ich hab' mich als Pastor zu dem »daß dich der Tausend« bequemen müssen, »daß dich der Teufel« sagt man, soll gesunder seyn. Es soll wie ein Glas Wasser abkühlen. Die Natur kühlt sich auch durch Donner und Blitz. Um dem Teufel nicht so viel Ehre anzuthun, sollte man ein ander Wort erfinden. Es kommt alles auf Begriffe an. Augustinus und Lactanz konnten sich nicht überreden, daß die Erde rund sey, weil sie die Schwere der Körper nicht kannten und –

ICH. Vater, was du mir sagst, ist mir, Augusti nus und Lactanz ausgenommen, so bekannt, als ob ich's gewußt hätte, und doch lernte ich's erst.

VATER. Das ist der größte Beweis der Wahrheit. Der Vers ist gut, den man auf einmal behält, und eine Sache, die, wenn wir sie gehört, uns so dünkt als hätten wir sie schon zuvor gewußt, ist gewiß wahr.

ICH. Du bist mir Philippus und Aristoteles in einer Person.

VATER. Wenn man den Kindern auf alle ihre Fragen antwortet, [221] kurirt man sie durch Aderlassen. Man macht sie schwach. Wenn du A frugst, antwortete ich B, und hierdurch gewöhnt' ich dir ab, zu fragen, und an, selbst zu denken. Wer immer in seiner Jugend gefragt hat, fragt auch, wenn er alt wird. Hättest du noch einen Bruder gehabt, hätt' ich ihn negativisch erzogen, und ihm nicht gesagt: hier geht der Weg, sondern: hier geht er nicht. – Wenigstens, Alexander, hast du einen mündigen Ausdruck. Du bist ein Mensch, der bei der Natur in die Schule gegangen, ein Stück vom Seher! – Wer bloß die Alten liest, ist ein Gläubiger; du kannst sie auch zur Noch lesen, diese erste Version der Natur. Laß uns jetzt gehen – der Thee ist schon erwünscht kalt.

ICH. Vater, ich möcht noch zehn Stunden hören.

VATER. Und ich bin lang' nicht so ein Vielwisser gewesen wie heut, und auch du umfassest alles, du sprichst so behend, und jedes Wort ist Schach dem König. Das machen die neuen Betten und die Nacht ohne Schlaf.

ICH. Noch eins, Vater: ha, Wasser!
VATER. Ströme! desto besser, für dich einen und für mich auch einen – –

* * *


ICH. Das noch eins hab' ich nicht ersäuft; die gnädige Frau ruft mich Monsieur.

VATER. Besonders daß Monsieur bei den Deutschen zwei Pfund weniger als Herr, und Mamsell zwei Pfund mehr wiegt als Jungfer.

ICH. Immerhin, Vater! Ein Franzose mag ein Monsieur seyn, aber nicht ich. Zwei Pfund weniger oder mehr, ich ehre das Wort Jungfer.

VATER. Ich auch, Alexander, und auch darum mit, weil es sich rein hält und mit keinem Reim in Gemeinschaft tritt. Das [222] sind für mich königliche Wörter; sie geben sich nicht mit erst was ab.

ICH. Wer meine Schwester –
VATER. Wenn du eine hättest!

ICH. Mamsell hieße, der sollte eine Ohrfeige mit dieser Hand haben, oder ich will Monsieur seyn. – Und immer in der dritten Person spricht die gnädige Frau. Wird Monsieur nicht haben wollen, will Monsieur nicht ein Glas Bier? Bin ich denn kein Du oder Sie werth! Kann sie mir nicht grad' ins Gesicht sehen, wenn sie mir zuspricht. Warum stößt sie denn nicht das Glas mit mir an. Sie schielt nur von der Seite herab. Gottlob, daß sie nicht mit Er herumwirft, ich wüßte nicht – Vater! – Wenn fängt man denn an, Literatus zu seyn?

VATER. Es ist nicht überall gleich. Im Mitauschen Kreise früher, im Bauskeschen Kreise später, im Seelburgschen Kreise noch später, im Doblehnschen Kreise früher als im Mitauschen, und so weiter durch alle Kreise.

ICH. Ihr Mann, Vater, hätte verdient den linken Flügel meiner Phalanx zu commandiren. Zum Parmenio. Vater, nicht wahr? Er weiß doch, was einem seligen Alexander zustehet. Von ihr, dünkt mich, kann's heißen: ihr Wurm wird nicht sterben, und von ihm: sein Feuer nicht verlöschen.


Im Garten.


Die Frau v. G. Die Vorigen. Herr v. G.


FRAU v. G. Sehr erfreut, Herr Pastor – Wohl geruht? Ich bitte Platz zu nehmen. Herr v. G. hat einem Sperling das Leben abgesprochen, und ist unten, ihm das Wort zu halten. Monsieur, bitte zu sitzen – Ohne Umstände. Gartenfreiheit! da sind wir alle gleich.

[223]

ICH. Vom Paradiese her.


Mein Vater bückte sich bis ans Wort halten, ich

von Monsieur an.


FRAU v. G. Kaffee?
VATER und ICH. Unterthänigen Dank.
FRAU v. G. Thee?
VATER UND ICH. Gehorsamst.
FRAU v. G. Niemals?
VATER. Niemals, gnädige Frau.
FRAU v. G. Und warum?

VATER. Jedes Volk hat, was es bedarf, gnädige Frau, kann Original seyn, darf nicht Thee und Kaffee trinken.

FRAU v. G. Aber Wein?

VATER. Der ist vom lieben Gott fürs ganze menschliche Geschlecht eingesetzt, und dann, gnädige Frau! wächts nicht Wein in Curland?

FRAU v. G. Vielleicht würd' auch Thee und Kaffee wachsen.

VATER. Nimmer; und wenn es wäre: wie kann wohl die Natur mit Bohnen und Strauch die Absicht verbunden haben, die man jetzt damit verbindet?

FRAU v. G. Aber angenehm ist wenigstens Kaffee im Grünen?.
VATER. Warum nicht eine Mahlzeit aus natürlichen gesunden Speisen?
FRAU v. G. Es ist zu warm.

VATER. Des Abends. In Curland geht's mit dem Frühstück beinah wie in England, und das hat, ich muß gestehen, sehr viel Verführerisches. Alles kommt ungeputzt zusammen, wie bei einer Brunnenkur, und mit einem so freien unverfäschten Kopf, daß es eine Lust ist, gute Leute frühstücken zu sehen. Die Seel' ist so wie der Leib im Negligé, und wenn's früh ist, ist der Tag selbst so. Sein Schleier ist ein liebenswürdiger wonnevoller Anzug – nicht immer [224] aber, gnädige Frau! können wir in Pyrmont seyn, und den Brunnen trinken, und unsrer Seele und dem Tage bei der Toilette aufwarten. Wir haben Geschäfte: die Morgenstunde –

FRAU v. G. Ich halte Kaffee und Thee nicht für gesund.
VATER. Ich auch nicht.
FRAU v. G. Die Aerzte sind indessen getheilt –

VATER. So wie in allem, was die Diät betrifft, die ein jeder Arzt nach dem Schnitt seines Magens beurtheilt.


Ein Schuß; gehört und gesehen.

FRAU v. G. VATER. ICH. Der Sperling.

HERR v. G. einen todten Sperling in der Hand. Ha, willkommen im Grünen! Herr alter und Herr junger Pastor.

FRAU v. G. Gelt! Monsieur ist erschrocken.
ICH. Ueber einen Schuß?

HERR v. G. Er erschrickt über dich, und ich auch, gnädige Frau. Für erst bitt' ich Herr statt Monsieur! Wer nicht vor einem Schuß erschrickt, ist kein Monsieur. Sieh ihm ins Gesicht. Ist er erschrocken?

FRAU v. G zu mir. Sie haben gepredigt?
HERR v. G. Das heißt ein Seelenschuß. Ich habe Sie weit und breit rühmen gehört.
ICH. Ohne Verdienst und Würdigkeit.
VATER. Ew. Hochwohlgeboren –
HERR v. G. Herr Pastor, lassen Sie mir den Hochwohlgebornen weg oder –
FRAU v. G. Wenn der Herr Pastor sich's aber angewöhnt hat.
HERR v. G. So muß er's sich abgewöhnen.
FRAU v. G. Falls es ohne Mühe geschehen kann.
HERR v. G. Wenn's auch Mühe macht.
FRAU v. G. Das nenn' ich Zwang.
[225]
HERR v. G. Es hängt von Ew. Gnaden ab. Herr Pastor! Sie wollten von der Predigt sagen.
VATER. Wenn Sie sie gehört hätten, würden Ew. –

HERR v. G. Herr Pastor, ich bitt' – ich nehm's für ein heimliches Verständniß mit meiner Frau, wenn Sie nicht thun, was ich bitte, was ich will. – Wenn ich sie gehört hätte, würde ich –

VATER. Eine gute Suppe und einen guten Nachtisch gefunden haben. Ein paar schöne Lieder, die seine Mutter ausgesucht hatte. Die Predigt war nur, um zu versuchen, ob Stimme und Anstand – nur des Leibes Nahrung und Nothdurft wegen, wenn ich so sagen darf.

FRAU v. G. Ich würde bitten, sie im Grünen zu wiederholen.
HERR v. G. Warum nicht gar? Eine Predigt in die Kirche, eine Pfeife Tabak im Grünen.
ICH. Ich glaub' auch, ich würd' im Grünen von der Natur überschrien werden.
HERR v. G. Recht! – schon warm Wasser getrunken?
VATER. Wir haben gedankt, wir trinken nur kalt Wasser ohne Gewürz, wie's Gott bescheert.

HERR v. G. Das ist brav! ich auch so – da siehst du, Frau! was brave Kerls sind Indem er den Sperling wegwirft. Ein Dieb weniger in der Welt.

VATER. Ein wahrer Dieb. Unstet und flüchtig, wie das böse Gewissen.

HERR v. G. Indessen kommt's auf Erziehung an, und der Sperling singt, wie einer der schönsten Sänger unter den Vögeln, Dieb würd' er freilich auch bei einer Sirenenstimme bleiben. Ich selbst habe Proben, und der Schluß ist richtig. Kein Vogel hat eine eigenthümliche ihm von Gott verliehene Singstimme, sondern [226] nur Flöt'traversansatz, Fähigkeit zu allem vögelmöglichen Gesang. Es kommt auf den Cantor an: wie die Alten sungen, so zwitschern nach die Jungen! – Wo ist Fritz mit seinem halbehrwürdigen Hofmeister geblieben?

FRAU v. G. Der Junker Der Aceent auf Junker. kleidet sich an. Der Hofmeister leistet ihm Gesellschaft. Sie haben sich das Längste –

HERR v. G. Der Jung' ist gut, nur nicht viel Herz, und das hast du Schuld.
FRAU v. G. Besser kein Herz, als keinen Verstand.

HERR v. G. Nichts geredet. Verstand ist des Herzens Spürhund. Ich kenne noch keinen beherzten Mann, der nicht mindestens fürs Haus Verstand hätte; aber verständige kluge Schurken kenn' ich dir so gut, als meine Kugel, Schrot, Wind-, Bürschbüchsen. Gewehr auf ein Haar. Ich weiß den Unterschied zwischen beherzt und gutherzig; allein Herz ist hol' mich – Herz. Es kommt alles auf eins. Du wirst dein Lebtag nicht einen beherzten Mann kennen, der nicht mitleidig, großmüthig, gutthätig ist, und sein paar Tropfen weinen kann. Verstand! Sieh doch! was ihr Weiber dieß Wort in den kleinen Mund nehmt. Dieß Wort ist mit Ew. Gnaden Erlaubniß generis masculini, oder wenn du es im Deutschen haben willst: Es hat Haar um den Bart.

FRAU v. G. Wird aber oft kahl geschoren.

HERR v. G. Einfall! Euretwegen aber wächst wieder. Ha, gnädige Frau, wie gefällt Ihnen meine Predigt in der freien Luft? Die Anwendung werden Sie selbst machen.

FRAU v. G. Sie ist gemacht.
HERR v. G. Darf ich wissen?

FRAU v. G. Mich dünkt, es zeigt wenig Verstand, Böses von seinen Kindern zu sprechen. Monsieur – der Herr – wollt' ich sagen, wird sich einen schönen Begriff vom Junker machen.

[227]

HERR v. G. Böses? sagt' ich nicht guter Junge –

FRAU v. G. Junge! Schon dieß Wort in gewisser Gegenwart, Auf die Bedienten weisend. ich denk' doch, er hieße so gut Herr v. – als Ew. Hochwohlgeboren?

HERR v. G. Es scheint, Ew. Gnaden wollen mein Schiff entern. Gehorsamer Diener, so nah sind wir noch nicht. Weißt du, was entern ist? frag's nach in Liban!

FRAU v. G. Entern hier, entern da, es schickt sich wenig –

HERR v. G. Albern! es muß sich schicken. Er ist Edelmann, weil ich einer bin, dabei ist wenig auf seiner Seite.

FRAU v. G. Der Adler ist darum Adler, weil sein Herr Vater einer war.

HERR v. G. Warum Adler; warum nicht Gans? so bleibst du in der Landsmannschaft – Adler! ha! ha! ha! Engel haben keinen Zunamen; Teufel auch nicht. Wenn nicht Zunamen wären, würden mehr Menschen seyn. Weißt du wohl, wie lang es ist, daß Zunamen sind. Der Teufel hol' den Schlingel, der sie zuerst aufbrachte. Man thut darum selbst nichts, und sieht vor oder hinter sich. Hat doch dieser und wird doch jener – In Curland besonders, in Curland ist ein Edelmann ein Erdschollen, glebae adscriptus, nicht wahr, Herr Pastor?

VATER. Ich hab's oft gesagt, da ist aber nicht der Edelmann, Curland und Semgallen sind Schuld. In diesem Fall hat ein Literatus den Vorzug, daß er, wie die Apostel, in alle Welt geht. Befällt ihn ja das Heimweh, er stirbt wenigstens nicht auf der Stelle, wo er geboren ist. Mit ihm ist's Komma, Kolon, Semikolon, mit dem Adel Punktum.

HERR v. G. Recht, Punktum, ein groß Punktum, man kann es einen Klecks nennen; da wo ich geboren bin und sterben werde, sind schon sieben geboren und gestorben, und mein Jung' wird den Punkt nicht verrücken.

[228]

FRAU v. G. Warum denn nicht?

HERR v. G. Will er nicht kann, und kein Curländer es kann. – Für ihr Vaterland Korn und Weizen säen, das ist alles, was in ihrer Macht ist. Darum Punktum! Punktum! Punktum!

FRAU v. G. Der Himmel gebe, du machtest Punktum, und wir singen was anders an.

HERR v. G. Mit dir, wenns Ew. Gnaden gefällt. Aber, Herr Pastor, wie kommt's, daß es mit gelehrten Leuten in gewisser Art nicht besser geht?


Die gnädige Frau ging beim Wort: gelehrten Leuten, sehr freundlich ab. Ihr Compliment für mich zeigte, daß ich Herr und nicht mehr Monsieur in ihren Gedanken war.


VATER. Sie haben Recht. Ein Gelehrter hat selten einen Sohn, der seinem Bilde ähnlich ist. Mit ihm fängt's an, mit ihm hört's auf; allein dieß gilt nur von Gelehrten majorum gentium, von halb Engeln; ganz Engel gibt's nicht unter Menschen, die Fleisch und Bein haben; Copernikus, Newton, Kepler, Leibnitz – –

HERR v. G. Das waren Kerls! dem Copernikus bin ich am gutsten, Gott weiß warum. Seinetwegen wünscht' ich ein Preuße zu seyn.

VATER. Es ist wahr, Copernikus schloß den Himmel auf. Es war ein Petrus, zu dem Gottes Stimme erscholl: ich will dir des Himmel reichs Schlüssel geben. – Newton aber war chargé d'affaires des menschlichen Geschlechts, im Himmel und auf Erden, und unter der Erden. Licht war sein Blick, und was er machte, das gerieth wohl. Kepler, ein Haushalter über Gottes Geheimnisse, Siegelbewahrer der Natur; und Leibnitz, ein Kammerherr unter ihnen, ein Mann, der allen allerlei war, der erfinden konnte, ohne Bleifeder und Schreibtafel in der Hand zu [229] haben, der, wie man von Newton erzählt, keinen Damenfinger, so viel ich weiß, verbrannt hat.

HERR v. G. Kein Mensch weiß von dieser Leute Kinder, und doch ist Nachruhm entweder gar nichts, oder Erbgut. Wer keine Kinder hat, thut thöricht, sich von fremden Leuten nachrühmen zu lassen: »Er hatte Verstand, er hatte Geld

VATER. Geld wirst keinen Nachruhm ab. Es trägt nur Zinsen, so lang man lebt. Ein Reicher ist, so lang er lebt, Souverain in diesem Jammerthale. Er kann sich alles kaufen, vielleicht gar ruhiges Gewissen und Gesundheit. Ist er geizig – und wo ist ein Reicher, der es nicht wäre? – wird er wenigstens seltener krank, wie ein andrer. – Kein epischer Dichter hat solch eine Einbildungskraft, wie er. Er genießt alles in der Einbildung. Kein Wunder, daß er sich nie den Magen verdirbt. Er sieht seinen Geldkasten an, und da steht er Wagen und Pferde, da steht er seinen Tisch mit allem Neuen vom Jahr besetzt – Leckerbissen und seine Weine! Das sieht man in keinem optischen Kasten, was der Geizhals alles steht. Hier ist der Hals übel gepaart, der Geizige müßte denn am fremden Orte seyn, wo es ihm nichts kostet. Geld sollte das Mittel seyn, um zu genießen; allein der Reiche hat gemeinhin Mittel, um sich neue Mittel zu erwerben, und am Ende Mittel über Mittel; allein keinen Zweck. – Im Tode heißts: »Sohn, du hast dein Gutes empfangen in deinem Leben,« es thut nichts, ob in Prosa oder im Gedicht, ob wirklich oder in Einbildung. Das Geld bleibt zurück, und wenn man ja an den seligen Herrn denkt, so heißt's der Geck! so schönes Geld! und ein so schlechter Keller! Mit dem Nachruhm des Gelehrten ist's eine andre Sache. Verstand trägt Zinsen bis an der Welt Ende. Newton hat keine Kinder nöthig. Jeden Gelehrten hat er über die Taufe gehalten, ist's ein Jude, hat er ihn beschnitten. Jeder seiner Schüler ist sein Sohn. – Ein Gelehrter dieser Art hat das [230] Glück, lauter wohlgerathene Kinder zu haben, es sind Seelenerben, die er mit Geist und Wahrheit nährt – Er darf weder Gastwirth, noch Schwertfeger, noch Fechtmeister, noch Wäscherin für sie bezahlen.

HERR v. G. Alles gut, lieber Pastor, was hat aber Newton und alle von seinem Gelichter davon?

VATER. Ein doppeltes ewiges Leben – in jener Welt eins, in dieser Welt eins. Ein Gelehrter, der sich seiner Unsterblichkeit bewußt ist, hat einen Beweis mehr in sich, daß er nicht aufhören werde. Diese Unsterblichkeit und jene Unsterblichkeit sind verwandt – und rechnen Sie dieß Bewußtseyn für nichts, ehe solch ein doppelt Unsterblicher den Weg geht, den alle gehen? Er lebt doppelt – schmeckt sterbend doppelte Kräfte der künftigen Welt.

HERR v. G. Pastor, es ist mir nicht anders, als wenn ich losdrücken will, und der Vogel stiegt davon – ich bin so nahe an der Ueberzeugung; allein weg ist der Vogel.

VATER. Ich bitte, lassen Sie ihn nicht stiegen.
ICH. Ich hab' ihn im Fluge getroffen, Vater!
VATER. Die Sache ist geistig, und will geistig gerichtet seyn.
HERR v. G. Bei gelehrten Familien laß ich den Nachruhm gelten.

VATER. Allein, in Wahrheit, er ist nicht andenkenswerth. Die Historie wird mit der Zeit ein Familienstück werden, und es wird heißen: dort linker Hand wohnt die Historie in sechs Häusern – die gelehrten Familien aber aus dem Fuß, wie wir sie bis jetzt kennen – vielleicht viel Vorruhm: allein desto weniger Nachruhm. Die meisten Menschen halten den Nachruhm für Nachhall: allein gefehlt! sehr gefehlt! Aufrichtig, ich kenn' bis jetzt keinen stiftsfähigen Familiengelehrten. Der Sohn lernt beim Vater das Handwerk aus, und hat Vorzüge beim Meisterwerden. Der Sohn [231] behält des Vaters Leisten, und alles ist nach väterlicher Weise. – Man nennt dieß Wissen: Familiengelehrsamkeit.

HERR v. G. Gelt! die ist nicht viel über eine Elle besser als Familienwitz.
VATER. In die Länge oder Breite.
HERR v. G. Wie ist das?
VATER. Gelehrsamkeit halt' ich breit, Witz lang.
HERR v. G. Dank für gute Nachricht.

VATER. Witz erfindet, Urtheilskraft behandelt. Wer Witz hat, kauft den Acker. Wer Urtheilskraft besitzt, theilt die Felder ein, säet und umzäunt. Der Witzige vergleicht, der philosophische Richter verknüpft oder trennt. Der Witzige macht allem, was schön ist, die Aufwartung. Der Philosoph ist für Verlobung und Beilager, und was er zusammengefügt hat, soll der Witz nicht scheiden. Der Mensch ist stumpf, heißt: er hat nicht Witz. Der Mensch ist dumm, heißt: er hat nicht Urtheil.

HERR v. G. Setzt man nicht Kopf dazu, Dummkopf, Stumpfkopf?

VATER. Ja! allein sehr unrichtig. Man entweiht den Namen Kopf, denn er deutet Scharfsinn an. Das ist ein Kopf, heißt: er ist scharfsinnig. Er ist kein Kopf, heißt: er ist es nicht.

ICH. Aber, Vater, wenn man von einem Kinde sagt: es hat einen Kopf?

VATER. Ein Kopf seyn, und einen Kopf haben, ist zweierlei. Beim Kopf seyn, fingirt man sich, der Mann sey lauter Kopf, a potiori fit denominatio. Einen Kopf hat jeder.

ICH. Aber, Vater! in welchem Jahr stellt sich denn der Scharfsinn ein, und wenn kann man von einem, der einen Kopf hat, sagen: er sey ein Kopf?

VATER. Nicht an der Mutter Brust, allein oft früh, oft später.
[232]
ICH. Also, Gottlob! kann auch Kind und Jüngling Kopf seyn?

VATER. Allerdings! in Hoffnung! man sieht, was die junge Seele werden wird, so wie im Frühling die Ernte, des Morgens den Tag! Die meisten Knospen haben den Geschmack der künftigen Frucht.


Hier machten wir uns alle drei Complimente, und stießen die Köpfe im Guten an einander. Der geneigte Leser wird mir diese Stöße gern erlassen. Es würde auch unartig gewesen seyn, wenn einer dem andern den Kopf abgesprochen hätte.


VATER. Gedächtniß, Schärfe der Sinnen, sind beim Witz und Urtheilskraft Gesellschaftskavaliere, Sekretärs, Haushofmeister u.s.w. Verstand hat dasVotum decisivum.

HERR v. G. Gott ehr' mir den Witz, weil er zu lachen macht; das Klügste, was die Menschen können.

VATER. Ueber Witz lacht man. Die Urtheilskraft aber macht seelenfroh. – Die Seelenfreude ist eine ganz besondere Freude. Man kann hiebei auf seine eigene Hand, wie ein König, vergnügt seyn. Dieß ist der einzige Fall, da man sich auch ganz allein einen geistigen Rausch antrinken kann. Der Witz liebt Gesellschaft. Bei der Urtheilskraft erfreut man sich über die zurückgelegten Schwierigkeiten, wenn wirklich die Sache uns schwer gewesen. War sie uns leicht, so freut man sich der Leichtigkeit wegen, und macht sich selbst ein Compliment.

HERR v. G. Beim Witz muß alles wie von ungefähr kommen.
ICH. Alles ex tempore und pro tempore aus dem Ermel. Es blitzt, ohne baß man vorher Wolken sieht.

HERR v. G. Wenn ich vier Köche und Jungens ohne Zahl mit weißen Schürzen herumlaufen sehe, ehe die Flügelthüren zur Tafel geöffnet werden, sag' ich schon vor Tische: prosit. Mir [233] schmeckt es nicht. Auf Hochzeiten ess' ich am wenigsten; ich könnt' immer Medicin einnehmen, eh' ich zur Hochzeit führe. Ich denk', Herr Pastor! Witz und Vergnügen ist wie Vater und Sohn, und Vergnügen, wenn's gleich noch so viel kostet, muß so aussehen, als wenn es Geschenk wäre.

VATER. Jeder Einfall hat die Natur, daß er uns in der Erwartung betrügt; im gemeinen Leben gehört ein Gesicht dazu, Einfälle zu sagen. Es gibt Witz, der im Anfang nicht ausfällt, allein in der Folge wird man überrascht, und das ist der regelmäßigste, der beste. Er gefällt im Nachgeschmack; wir wußten nicht, wohin man uns führte; allein auf einmal ein schöner Platz. – Mancher Witz kommt von vorn, mancher von hinten, dieser ist englisch, jener französisch. – Wie die Seidenzeuge in England und Frankreich, so auch englischer und französischer Witz. – Der Engländer hat Baß-, der Franzose Diskantsaiten. Aus einem englischen Gedanken macht der Franzos ein halb Dutzend.

HERR v. G. Und der deutsche Witz?

VATER. Noch ist nicht viel von ihm zu sagen. Er soll aber, wenn uns Gott leben und ge sund läßt, die Tenorstimme haben, halb französisch, halb englisch. Witz müßte des Deutschen Erholungsstunde werden; Gründlichkeit, Ordnung, sein eigentliches Kopfwerk. Zwischen Einfall und Einsicht ist ein so großer Unterschied, als zwischen nachthun und nachmachen, zwischen Form und Materie, zwischen Ursache und Folgen. Ein Genie – stößt mich fort, ein Philosoph leitet mich. Unsere Kinder werden sehen und hören, was wir in Deutschland noch nicht sahen, noch nicht hörten.

ICH. Der liebe Gott verleih' uns Aug' und Ohr an Leib und Seele.
HERR v. G. Und bescher' uns auch was zu hören und zu sehen, mit Leib und Seele.

VATER. Wüßt' ich, daß meine Erwartungen mich nicht [234] trügen, ich würde wie Simeon sagen: Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren!

HERR v. G. Ich auch, obgleich ich eigentlich kein Diener Gottes, sondern des lieben Gottes Fröhner bin. – Wissen Sie, Pastor, was ich mir für Begriffe von Verstand mache? Vernunft ist major, Verstand ist minor, bei der Conclusio gehen Verstand und Vernunft paarweise.

VATER. Ich habe nichts dawider. Verstand urtheilt, Vernunft schließt. Vernunft ist Urtheil a priori, Verstand a posteriori.

ICH. Auf die Art ist Vernunft grob Geld, Verstand klein Geld.

HERR v. G. Was ist das aber für ein Ding, wodurch man heilige und unheilige Scribenten auslegt? – kann man's Witz nennen?

VATER. Witz, Herr v. –, allerdings Witz; allein Witz den man im Schlafrock sitzend, ein Knie übers andere gelegt, haben muß. – Eine Federmütze kann nichts dabei verderben. Witz, bei dem man so langsam geht, als wenn man einer Leiche folgt, und in Wahrheit folgt man einer Leiche.

HERR v. G. Lassen Sie uns aufräumen, Pastor, Sie sind ein Mann, der zum Menschen menschlich redet. Viele der Herren Philosophen haben da erst so einen Wörterkram, daß mir der Kopf darüber bricht, und was sollt' ich mir den Kopf über Worte brechen! Ueber Sachen mit Freuden. Man muß erst drei Jahre schweigen, ehe man ein Wort mitreden kann. Sie sind immer bis an die Zähne verschanzt. Sie sind die Priester, die lateinisch zu Werke gehen. Wir armen Leute wissen nur Amen und Gospodipomila. Sollte denn nicht alles, was gelehrt ausgedrückt wird, auch in der gemeinen Sprache Raum haben? Es kommt nur, dünkt mich, darauf an, daß die Herren Philosophen sich den Kopf [235] zerbrechen, anstatt daß sie ihn uns brechen lassen. Was ich sagen wollte, betrifft ein paar Worte: Naiv und Laune, meine Frau und mich. Sie braucht das Wort Naiv, ich Laune; allein was beides eigentlich sagen will, wissen wir, hol' mich der – beide nicht; ob wir es gleich gewiß so wissen, wie man das meiste weiß. So viel aber glaub' ich, daß man nur von einer Frau sagen kann, sie wäre naiv: von unser einem aber, wir hätten Laune.

VATER. Um Sie beim Wort zu halten, wenn man etwas Philosophisches, etwas Richtiges in der gemeinen Sprache sagt, ist man, dünkt mich, naiv. In Einfalt richtig denken und thun, heißt naiv seyn. Philosophie ohne Kunstwörter würde ich eine naive Philosophie nennen. Launig ist man, wenn man, ohne auf sich Acht zu haben, oder wenigstens diese Achtsamkeit merken zu lassen, spricht und handelt. Man kann auch durch seinen Anzug, durch die Farbe im Kleid Laune verrathen. Man könnte sagen, man wäre launig, wenn sich die Seele ohne Spiegel angezogen hat.

HERR v. G. Von der Laune auf die beste Welt. Wenn man dem Worte das Menschliche nimmt: könnte man sagen, Gott habe die Welt bei Laune gemacht. – Was will man eigentlich mit der besten Welt? Leibnitz hat keiner Dame den Finger verbrannt, sagten Sie, und ich sage, er selbst hat sich auch nicht die Finger verbrannt. – Ich wünschte von Herzensgrund, die Welt wäre die beste! Zu sehen ist's nicht.

VATER. Mit dem sterblichen Auge nicht, wohl aber mit dem unsterblichen. Leibnitz hat mit diesem Gedanken kein Licht anzünden wollen, er hat nur ein schon brennendes geschneutzt, oder höchstens ihm den Räuber genommen. Es brannte dieses Licht im Auditorio, wo vom Ursprünge des Bösen disputirt wurde, und dieß Zimmer wollte er helle machen. Mit diesem Schuß mußt' er das Ziel erreichen. Die Sache also war da, er wandte sie nur an. [236] Das Kleid war fertig, er setzte nur Knöpfe darauf, und zwar Knöpfe mit Gold besponnen.

HERR v. G. Aber konnte Gott nicht machen, was er wollte?

VATER. Warum sollt' er aber wollen, das Schlechtere dem Bessern vorziehen? So will kein lieber Gott. Es ist gewiß, daß der liebe Gott in seinem Verstande sich Risse von allen möglichen Welten machen könne; denn sonst würde man seine Erkenntniß verschränken.

HERR v. G. Concedo.
VATER. Ergebenster Diener.

HERR v. G. Ich kann ja über jedes einzelne Ding poetisch oder schön denken, ich meine, es von der Spreu reinigen, es sichten wie den Weizen, und das muß auch in der Summe angehen. – Ich kann mir vorstellen, wenn der liebe Gott dem Blitz und Donner keine Macht und Gewalt beigelegt, und Blitz und Donner bloß Gottes Feuerwerk wäre, daß ich's mit Wonne sehen würde, über die nichts ist. Ich liebe Blitz und Knall.

VATER. Ergebenster Diener. Also kann Welt über Welt gedacht werden.

HERR v. G. Aber gelt! Ein Gedanke, wie aus der Pistole. Können nicht zwei gleich gut seyn? So wäre nicht die beste, nur eine gleich gute da. – Können sie nicht al pari seyn, wie die Kaufleute reden?

VATER. Das will sagen, eine so vollkommen als die andere.

HERR v. G. Vollkommen! der Henker, Herr Pastor, nein, das will was anders sagen, wenn ich nicht irre. Ich bin nicht so roh, als mir das Haar auf die Stirn gewachsen, ich hab's gehegt; was soll mir eine höhere Stirn, als der liebe Gott wollte? Ich denke aber, vollkommen ist, wenn alles auf eins herausläuft, wenn viele Mannigfaltigkeiten unter Eine Regel sich wenden, diese mag seyn, welche sie will, Peter oder Paul. Es ist mir so als [237] ein monarchischer Staat: daß sich Gott erbarm; alles zu Einem. Ein Dieb ist, mit der Herren Philosophen Erlaubniß, vollkommen; ein Betrug ist mit der Herren Philosophen Bewilligung vollkommen. Es hat mir nie, unter uns gesagt, von den guten Herren gefallen, daß sie so was vollkommen heißen, indessen ist dem nicht also, Herr Pastor?

VATER. Im respektiven, nicht aber im absoluten Verstande. In diesem letzten Sinne stimmen die Philosophen mit Ihnen. Sie nennen etwas nur vollkommen, in sofern das Mannigfaltige den Grund einer Realität in sich enthält. Je größer diese, je größer die Vollkommenheit. Wie wollen Sie aber Realität von Realität als Realität unterscheiden?

HERR v. G. Wie ich alles unterscheide, durch zehn Dinge, die in jener nicht sind, und in dieser sind.

VATER. Schon ein Ding würde den Unterschied machen.
HERR v. G. Ganz recht.
VATER. In einer Realität setzen Sie Etwas.
HERR v. G. Eine Realität ist eine Eins, das Gegentheil eine Null.

VATER. Wenn Sie also zwei Welten von einander unterscheiden wollten, müßten Sie in einer etwas annehmen, was in der andern nicht wäre. In dieser wär' eine Null, eine Verneinung; in jener ein Eins. Realitäten unterscheidet man durch den Grad derselben, durch Größe und Schranken.

HERR v. G. Können denn nicht zwei Raritäten, oder Realitäten – ich wünschte, ich könnte bei der Eins bleiben – allein es läßt sich nicht – können nicht zwei Realitäten von gleichem Grade in ihrer Beschaffenheit sich von einander unterscheiden?

VATER. Nein, denn eben hierdurch würd' in einer etwas seyn, was in der andern nicht ist; hier eine Eins, dort eine Null. [238] Da haben Sie den Mangel, den Zaun, die Verneinung, und die Probe des Unterschiedes von Seiten des Grades.

HERR v. G. Ich verstehe so halb und halb; um es ganz und gar, durch und durch, oder das Netto provenü zu verstehen, würd' ich ohne Kopfschmerz nicht abkommen. In der besten Welt, der besten Welt wegen Kopfweh, das würd' ich der besten Welt, und die beste Welt es mir übel nehmen, ich könnte schon was drüber reden, schreiben aber nicht – das ist in meiner Sprache, zwar losschießen, nicht aber gut treffen. Nach meiner Art denk' ich, und mich dünkt, ich fasse die Sache wie den Stock, das ist beim Knopf: Gott ist das gütigste, das weiseste Wesen, und kann also nicht werden heißen, was diesen Eigenschaften nicht ähnlich ist. Ueber die Möglichkeit und Unmöglichkeit, denk' ich, ist keine Frage, denn die Welt ist da – ich sehe Sonne. Mond und Sterne, Fische im Meer, Vögel in der Luft, und den Menschen.

VATER. Recht! ganz recht! Sie fassen die Sache beim rechten Ende, und ich – ich weiß selbst nicht wo. Sie reden von der Leber, und ich plaudre aus der Schule. Wider Sie ist kein Zweifel, wider mich aber noch ein Berg. – Ein Philosoph des Alterthums meinte, ehe die Leiber waren, existirten die Seelen. Gott ließ die Seelen loosen, und was kann er dafür, wenn dieses oder jenes eine Niete zog. Indessen das Ende vom Liebe. Wenn ich unter Irrthum wählen soll, will ich lieber eine gütige Nothwendigkeit, als eine Freiheit, die das Beste verwirft.

HERR v. G. Herr Pastor, nur nicht auf den monarchischen Staat angespielt! Da haben wir gestern Halt gemacht, und ich möchte nicht gern meiner Liebe zur Freiheit durch einen monarchischen Thron zu nahe kommen lassen. Noch etwas Philosophisches, Herr Pastor! Wir wollen aber englisch Dame ziehen, und hin und zurückschlagen – ich will mich schon anstrengen. – Auf Ehre, [239] manches Wort von Ihnen, lieber Pastor, ist mir eine Nominaldefinition. – Heißt es nicht so?

VATER. Gehorsamer Diener, Herr v. –

HERR v. G. Aber, Pastor, sagen Sie, sind wir nicht ein Paar Verneinungen, ein Paar Nullen, ein Paar Narren gewesen, daß wir uns und so manchen Realitäten sieben Jahre, wenn's nicht mehr ist, den Rücken gekehrt? Ich glaube, wir hätten schon ein neu System, einen neuen Kalender in der gelehrten Welt während dieser Nullenzeit eingeführt. Ein immerwährender ist unter euch hochgelahrten Herren nicht möglich. – Lassen Sie uns einmal von uns selbst eins plaudern. Wir verdienen, daß wir uns eins versetzen, wir wollen aber das ganze Geschlecht zur Gesellschaft mitnehmen. Ich hab' es, glaub' ich, von Ihnen, wer gen Himmel fahren will, muß erst Höllenfahrt halten. Wer Gott erkennen will, erkenne sich erst selbst. Nosce te ipsum. Das ist die Lehre von Buße und Glauben.

VATER. Das Wörtchen ich ist ein Gemälde der Seelen! Es will mehr sagen, als Singularis. Es ist der Singularis im Superlativo. Ich ist natürlicher Werth, du, er, wir, ihr, sie, nur in so weit ich voraussieht. So lange es heißt ich, ist's recht, sagt man aber ich selbst, so ist man krank, und recipe: den Menschen von sich selbst abzuziehen. Bei der Noth meines Nachbars denk' ich an meine Sicherheit; wenn man den Nachbar wegen seines Eheprocesses beklagt, denkt man an seine Frau. Dem Reichen immer den ersten Stuhl; man könnte ihn, denkt man, doch wohl nöthig haben. Die Gegend aus meinem Fenster ist die schönste, das Landgut meines Freundes das schattenreichste. Ein Gereister lobt in seinem Vaterlande die Fremde, in der Fremde sein Vaterland. Die Faulheit ist oft der Sporn des Fleißes: die künftige Gemächlichkeit, nicht das Edle der Arbeit, treibt. Kein Sohn läßt den Vater begraben, ohne vorher die Nachlaßbalance zu [240] ziehen, und die Bücher zu schließen, und wenn auch der Verstand zuweilen Recht sprechen will, das Seihst vertritt ihm den Weg Rechtens. Je mehr man dieses ich versteckt, je mehr Welt hat man. Die Selbstschätzung besteht nur darin, daß uns andere nicht gering schätzen. Sogar, wenn man in Gesellschaften sich selbst tadelt, ist's verdrießlich; man will lieber mit einem Tubus nach Sternen sehen, und aus einem indifferenten Standpunkt die Welt betrachten, als andere Leute ich aussprechen hören. Man glaubt, dieses ich spotte uns nach, und mache uns Männchen. Der Mensch ist zum Tausch geboren, er möchte seinen Stand, seine Seele, seinen Leib, nur nicht sein ich vertauschen. – Wenn man ein Buch schreibt, kann man ich brauchen, ohne daß es so übel genommen wird, denn die größten Dinge sind durch Selbstbilligung entstanden. Diese wirst ein Licht auf alle Gegenstände, die uns beschäftigen. Wir haben einen heitern guten Tag durch dieses Licht. Es ist schade, daß die deutsche Sprache drei Buchstaben beim ich hat. Man kann aber, wie meine Frau zu sagen pflegt, bei allem erbauliche Betrachtungen haben. Beim Schmerz leidet das ch, ist man betrübt, leidet das i.

HERR v. G. Herr Pastor, ich habe noch nie vom ich so viel sprechen gehört, ohne daß man sich meint, als Sie. Ihr ich ist bloß Bild aller Menschen; das Selbst ist das Ziel, wornach wir alle schießen, mancher trifft in's Schwarze, mancher dicht bei, mancher weit davon. Aber darüber eine Erklärung: warum gehört zur Beobachtung sein Selbst Anleitung! Warum Kunst, sein eigener Zuschauer zu seyn? obgleich man sich vor der Nase hat.

VATER. Warum muß man die Alten lesen, um zur Natur zu kommen? Warum brauchen wir Dolmetscher, da die Natur doch Deutsch versteht?

ICH. Warum studirt man Medicin?
HERR v. G. Um kuriren zu können.
[241]

ICH. Und wenn wir nicht kuriren wollen, sollten wir Medicin studiren, um dem Arzte zu sagen, was uns fehlt.

HERR v. G. Fast dächt' ich, es wäre nöthig, und darum so viel Gräber, weil sich beide nicht verstehen. Der Doktor spricht aus dem Buch, der Kranke spricht aus dem Leben – jener Latein, dieser Deutsch.

VATER. Die Aerzte müssen entweder Menschen, oder alle Menschen müssen Aerzte werden.

ICH. Viele Menschen, denk' ich, Vater, besehen sich bloß, wie man sagt, er hat die Welt gesehen oder besehen.

VATER. Sie sind in einem Naturaliencabinet, in einer Bibliothek ohne Kenntnisse. Sie lassen sich alles zeigen; sobald sie heraus sind, weiß kein Mensch ein lebendig Wort, höchstens todte, wie ein Reise- Journal geschrieben.

HERR v. G. Ueberhaupt, denk' ich, ist das Reisen nicht die Art, Menschen zu kennen. Zu den meisten Reisenden könnte man sagen: bindet ihm Hände und Füße, und werft ihn in sein Vaterland. Der Mensch versteckt sich, so wie das Wild. – Kein Bild ist ihm ähnlicher, als das in der heiligen Schrift: »Adam versteckte sich unter die Bäume im Garten,« machte sich grüne Vorhänge. Er ward aus einem Freunde Gottes ein Wilder.

VATER. Ich glaube keinem Gereisten, wenn er von den Menschen spricht. Unsere meisten Reisebeschreiber zeichnen das Zimmer, wo sie abgetreten, die Wirthin oder ihre Tochter, den Herrn Wirth oder seinen Wildfang von Sohn. Eher wollt' ich aus dem Hervorgeruch der Apotheken, wenn ich vorbeigehe, schließen, was für Krankheiten in Stadt und Land gang und gäbe sind. Aus einem Wirthshause geht der Weg in die Welt, allein nicht in die Nation. Reisende, selbst Entdecker neuer Völker, sollten nur erzählen, was sie gesehen und gehört, was ihnen vorgekommen und vorgefallen, ohne Vor- und Nachklang; denn was thut man nicht[242] einem guten Einfall, einer Wendung, einem Lieblingsgedanken zu Gefallen. Dem Beschreiber sind keine Glocken zu gestatten; er muß nie läuten lassen.

ICH. So wär's wohl am besten, daß jemand aus dem Volke selbst das Volk beschriebe.

VATER. Ja, wenn er gereist ist, ohne an eine Reisebeschreibung fremder Länder gedacht zu haben, wenn er kein Amt und doch zu leben hat, wenn – und noch viele Wenns.

HERR v. G. Aber, lieber Pastor, um wieder an Ort und Stelle zu kommen, sind denn nicht alle Menschen Menschen, und hat man nicht alle, wenn man sich hat?

VATER. Wahr, gewisse äußere Dinge, Verzierungen, Schnitzwerk, Ein- und Ausgänge ausgenommen.
HERR v. G. Wer hat sich aber?
VATER. Jeder, der je die Menschen getroffen, hat in seinen Busen gegriffen.

HERR v. G. Indessen, denk' ich, ist's gut, zuweilen zu phantasiren, im musikalischen Verstande, und das liebe ich an den Nagel zu hängen; es versteht sich, an einen festen, der nicht reißt; bei sich nicht Feuer zu machen, sondern beim Nachbar essen zu gehen. Bete und arbeite, das heißt: lerne dich und andere kennen.

VATER. In einer sehr freien Uebersetzung. Alle Merkzeichen, wodurch man an den Tag legt, man gebe auf sich selbst Acht, man sey auf dem Observatorio, geben unsern Handlungen ein linkes, steifes, gebrechliches, bucklichtes Ansehen.

HERR v. G. Und der vornehme Mann will ohne dieß, daß man auf ihn, und nicht auf sich selbst Acht geben soll. Da denk' ich an das Irrlicht, von dem die gemeinen Leute erzählen, es ließe sich dabei eine Stimme hören: hier her, hier her! und wenn man sie befolgt, bumbs! liegt man im Sumpfe. Wie kommt's, lieber Pastor, wer mit Frauenzimmern umgehen kann, versteht es [243] auch mit Fürsten und Gewaltigen, und mit den Herren der Welt? – alle Welt sagt von ihm: er hat Lebensart.

VATER. Vornehme und Frauenzimmer haben sehr viel Aehnliches; sie wollen geschmeichelt seyn, und wir thun's gern, weil wir sie übersehen. Männer sehen auf das, was man von ihnen denkt; Weiber, was man von ihnen sagt. Wir huldigen dem Geschlecht, nicht der Dame; wir huldigen dem Amt, nicht Sr. Durchl. Lebensart ist Geschick schwere Sachen leicht vorzutragen, durch treffende Beispiele sie zu erleichtern, sie faßlich zu machen, ein Buch, anstatt es zu lesen, es zu durchbildern. Die Franzosen sind diejenigen unter Europens Nationen, welche Lebensart haben. Ihre Schriftsteller haben in der Philosophie nur die Bilder gesehen. Schönheit und Farben setzen eine Substanz voraus, worauf sie angebracht werden sollen. Schöne Wissenschaften ohne Philosophie ist Farbe ohne Leinwand und Pinsel. Der Verstand muß der Sinnlichkeit, und nicht diese jenem untergeordnet seyn. Er ist der Compaß, der die Weltgegend zeigt, das Schiff commandirt und ihm die Richtung gibt. Weltkenntniß heißt Menschenkenntniß, wie das Haus nach dem Herrn, und nicht nach Weib und Kind.

HERR v. G. Was meinen Sie, Pastor? – Man führt die Weiber bei der Rechten, um sie obenan zu lassen. Unding! ich denke, Se. Durchl. zur Rechten, allein ein Weib müßt' uns zur Linken gehen, zum Beweis, daß sie Schutz bedarf, und daß wir sie begleiten oder beschützen. Es ist ein unnatürliches Compliment, sie an der rechten Hand zu führen. Bei der Trauung ist's, glaub' ich, nicht so!

ICH. Das Herz liegt ohnedieß zur Linken (ich dacht' an Minchen).

HERR v. G. Zumich, lieber Pastor, gehört auch Lachen und Weinen; das eigentliche Lachen, das Lachen mit Leib und [244] Seele, ist bloß dem Menschen eigen – ich halte viel aufs Lachen, und sind's fürs beste Digestiv.

VATER. Jammer und Schade daß wir gleicher Meinung sind, denn sonst würd' es doch noch was zu lachen geben. Ueber Wahrheiten muß man mit fröhlichem Munde, mit dem Munde der Wahrheit streiten. Alle Menschen, wenn sie sich malen lassen sehen freundlich aus, zum Beweise, daß dieß die beste Miene sey. Einem von Leidenschaften gefesselten Menschen vorpredigen, heißt: einen Galeerensklaven Glück greifen lassen. Ich hasse einen tapfern offenen Feind; ich verachte, was an sich keinen Werth hat. Die Art, Laster verachtungswerth vorzustellen, ist die beste. Wer es hassenswürdig macht, thut oft der Menschheit Schaden, und zieht Menschenfeinde. Der Mensch ist durch Hang zum Scherz geboren. Er hat viele, viele Thorheiten; allein die größte ist, wenn er sie zu wichtigen Dingen macht.

HERR v. G. Es steht nicht geschrieben, daß Christus gelacht habe; allein er nannte den Herodes einen Fuchs, und das setzt ein Lächeln zum voraus. Die Schrift spricht: der Herr lacht ihrer, ich glaube gar Pastor, es wäre nicht übel, auf der Kanzel selbst so ein Fuchswörtchen zu verlieren.

VATER. Dazu gehört mehr Geschicklichkeit, als ich praktisch glaube.
HERR v. G. Freilich muß es nicht der Herr Pastor G – seyn – die verdammte Traurede!

Als Adam hackt' und Eva spann,

Ei, wo war da der Edelmann?


Meine Frau kann, ohne Lebensbalsam in der Hand, daran nicht denken. – Ist's also nicht auf der Kanzel, so doch, wenn man herunter kommt – die ganze Natur lacht.

VATER. Nur nicht laut.
[245]
HERR v. G. Das kann doch aber zuweilen der Lehnsherr der Natur, um sich hören zu lassen.

VATER. Ich glaub' es selbst – und gute Menschen finden, daß, wenn sie fröhlich sind, alles um sie herum froh ist. Der Mensch lacht, wenn andere lachen, und oft noch lauter, als der, so den Ton angab. Die Traurigkeit des andern rührt; allein mit Schluchzen und großen oder Platzthränen können wir nicht dienen. Die Mitfreude, das Mitleid beweist, daß wir alle einen Gott und Vater haben, und alles, was Augen hat, kann sympathisiren.

HERR v. G. Jeden Menschen aber, lieber Pastor, kleidet das Lachen nicht; ich glaub', es gehört dazu, wie zu allem, Uniform, was ordentlich seyn soll. Einem kleinen dicken Mann steht's herrlich – das sollten sich die Luftspieler merken, und keinen langen, groß gewachsenen Menschen Possen reißen lassen.

VATER. Man freut sich, daß der kleine dicke Mann eben wegen seines lustigen Wesens so dick und fett geworden. Ein groß gewachsener Mann ist schon zum Beschatten, zum Anlehnen geboren; es ist eine Stange, an die sich der Feigenbaum und die Bohne schmiegt und ranket.

HERR v. G. Vernünftig lachen ist schwer.

VATER. Mich dünkt, vernünftig weinen noch schwerer. Vielleicht kann es jeder Mensch, wenn er gleich seine siebenzig erreicht, nur zweimal in seinem ganzen Leben; wenigstens hat der fürs menschliche Geschlecht ein größer Verdienst, der es zu lachen macht, als der Thränen preßt; indessen ist viel beim Lachen zu erinnern. Es entsteht aus einem Widerspruch. Man lacht, wenn jemand fällt, und sich nicht Schaden thut; besonders lachen dann gemeine Leute, die nicht feinere Widersprüche begreifen können. Man lacht über Kleidung, wenn Eitelkeit und nicht Armseligkeit zu sehen ist. Wenn jemand, der aufziehen will, wieder aufgezogen wird, und den Kürzern zieht, so, daß ihm zum Nachtheil der Vorhang fällt, [246] klatscht alles in die Hände. Ist's aber nicht Eitelkeit und armseliger Stolz, über armselige Ungereimtheiten sich zu ergötzen? Sollte man wohl darüber lachen, weil man klüger als ein anderer ist? Hier gibt's so viele Feinheiten, daß ich gewiß glaube, das Lachen sey die Probe vom Menschen; – wie und wenn er lacht, zeigt was er ist, obschon das Gesicht das Protokoll vom Charakter, und die andern Theile das Protokoll vom Temperament sind. – Scheint es Ihnen nicht auch, der menschlichste Mensch, der beste Lacher, begeht einen Widerspruch, wenn er über einen Widerspruch sich freut, das ist, wenn er lacht. – Jemanden mit weinenden Augen lachen sehen, ist ein schöner Anblick. – Ein Regenbogen ist's. – Schriftsteller, die Thränen mit dem Lachen kämpfen lassen, so, daß keines die Oberherrschaft erhält, treffen das Leben eines Weisen.

HERR v. G. Citronensaft mit Zucker. Ich für meinen Theil liebe nichts Sauersüßes. Es lebe das fröhliche Herz. Ist das Lachen gleich Widerspruch, auch da ist das Leben getroffen, wenn gleich nicht das weise Leben. Was ist in der Welt ohne Widerspruch? Sind doch bei uns im Sommer oft kalte Tage, regnet es doch, wenn wir ernten wollen, und doch ist diese Welt die beste! Wer mir selbst die heiligsten Sachen mit finsterer Stirne sagt, wird mein Herz nicht aufschließen, und hat's nie aufgeschlossen. Daher denk' ich, mit Ew. Hochwohlehrwürden Erlaubniß, richten die Herren Geistlichen so wenig aus. Der Pater von Sancta Clara hat mehr Gutes gestiftet, als zehn Kopfhänger.

VATER. Er lächelte noch seinem Todesengel entgegen, der ihn zum Demokrit abholte.
HERR v. G. Eine glückliche, glückliche Reise!

VATER. Betrübniß kommt gemeinhin aus dem hohen Begriff, den sich der Mensch vom Leben macht. Beim Schmerz leidet der [247] Leib, bei der Betrübniß die Seele, und wenn die Herrschaft trauert, trauert der Bediente mit, nicht aber umgekehrt.

HERR v. G. Ich denk' die Traurigkeit oder Betrübniß, oder was weiß ich, wie es recht heißt, kommt aus der gar zu großen Ordnung, die man sich vorschreibt.

VATER. Beide recht! Warum sagt man aber sein Geheimniß lieber einem unordentlichen guten Jungen, als einem abgemesseneren nach Maß und Gewicht, oder nach Grundsätzen, gut Handelnden?

HERR v. G. Weil jedes Geheimnis etwas Unordentliches, etwas Unregelmäßiges an sich hat. Ich hab' immer gedacht, Geheimniß und Wunder sind mit einander verwandt.

VATER. Warum wählt man den unordentlichen guten Jungen lieber zum Freunde?
HERR v. G. Weil er ein Freund fürs Geheimniß ist.

VATER. Und warum eine Mutter just den wildesten, aufgewecktesten unter ihren Buben zum Liebling, der Vater den gesetztesten?

HERR v. G. Die Weiber brauchen Leute, die sich balgen; die Männer Leute, die vernünftig eine Pfeife rauchen.

VATER. Ich wollte fragen und antworten; allein meine Fragen haben ihren Mann gefunden.

HERR v. G. Nun geb' ich Karten? was denken Sie von dem monarchischen Staat? – (daß dich! wie komm' ich auf den monarchischen Staat?) ich wollte sagen vom Despotismus der Empfindung?

VATER. Wir empfinden nichts, was nicht sinnlich ist – wer es sich gemächlich als Philosoph machen will, nennt dunkle Vorstellungen: Empfindungen, und anstatt sie zu entwickeln, thut er seine Augen nicht auf, sondern schlägt an seine Brust, und spricht: ich empfinde!

[248]
ICH. Gott sey dem Sünder gnädig –
HERR v. G. Und barmherzig.
VATER. Amen!
HERR v. G. Solch ein Empfinder kann doch nicht mit Recht behaupten, ich soll ihm nachempfinden.

VATER. Durch die Evidenz und öftere Wiederholung der Vernunftideen werden diese geläufiger, so, daß sie uns von selbst anwandeln. Wir kennen sie im Dunkeln. Diese Kette dunkler, hurtigfolgender Ideen nennen wir Empfindungen.

HERR v. G. Das laß ich gelten – und Ordnung, lieber Pastor?

VATER. Ordnung ist nur Mittel, an sich hat sie keinen Werth. Es ist das Schweißtuch, worin man das vergräbt, was man erhalten hat. Es ist ein Bücherschrank mit Glasthüren. Weiber müssen ordentlich seyn. Reinlichkeit und Ordnung, oder die Entfernung des Fremdartigen sind ihre Fächer. Die Weiberordnung muß aussehen wie gesucht, die Männerordnung wie in der Lotterie gewonnen, von selbst zugefallen. Ordnung ist übrigens bloß das Formale; daher kann man den größten Theil der Wissenschaften, ich hätte bald gesagt die ganze Philosophie, das Formale nennen.

HERR v. G. Wie kommt's aber, daß die Menschen die Formen höher schätzen als die Materialien?

VATER. Die Form gibt die Kunst, das Geschick, die Materialien die Natur. Jedes Kind schätzt den Vater höher als die Mutter, und den, der regiert, höher als den, der ernährt. Den Verstand hält man höher als die Sinnlichkeit, ohne die doch der Verstand unthätig wäre.

HERR v. G. Aber das Genie? wer schätzt es nicht höher als den Fleiß?
VATER. Fleiß und Kunst ist zweierlei.
[249]
HERR v. G. Zur Kunst gehört Fleiß.

VATER. Und Genie. Ein Verstand, der seine Erkenntnisse sinnlich zu machen weiß, ist für mich vorzüglicher Verstand; wenn er Sinnlichkeit den Verstandesbegriffen ertheilt, macht er sie anschauend, und ein solcher Verstand heißt ein gesunder Verstand.

HERR v. G. Und steht aus, wie alles, was frisch und gesund ist. Nicht wahr, er kennt keine Terminologie?

VATER. Er kocht freilich nicht aus der philosophischen Speisekammer, sondern nimmt's aus der Welt. Er gibt nichts Geräuchertes; Früchte, Geküche trägt er auf.

HERR v. G. Sinne sind die Bauern. Sie stehen zwar unter der Obrigkeit, indessen, wenn sie nicht wären? Ich ärgere mich, wenn man die Sinne wie das liebe Vieh nimmt und herabsetzt – bald hätt' ich mich verredet und gesagt: sie sind ja auch Menschen – Sie verstehen mich schon, Pastor.

PASTOR. Vollständig!
HERR v. G. Warum sind wir unerkenntlich gegen die Sinne?

PASTOR. Ich habe schon einen Grund angegeben; hiezu kommt, weil wir alles hassen, was uns unsere Freiheit raubt, und sie einschränkt. Gelt! das ist ein Grund für einen Monarchenfeind. Beinahe eben darum würd' ich allen Herren Moralisten, weß Standes, Alters und Ehren sie seyn mögen, anräthig seyn, die Tugend nicht in ihrer erhabenen Hoheit, im hohen Lichte zu zeigen, sondern liebenswürdig. Nicht als einen König im Diadem, sondern als ein hübsches Mädchen; denn selbst wofür wir Respekt zu haben verbunden, wird uns beschwerlich. Lieber bei Freunden, als Gönnern.

HERR v. G. Ich wenigstens kann auch das Laster nicht martern sehen, aber wie wir erst abvotirten – in der Narenkappe.

PASTOR. Das ist der wahre Standpunkt; denn der Mensch kann nichts weniger ausstehen als Spott. So denkt jeder, der gut [250] erzogen ist, oder eigentlich, der sich selbst erzogen hat. Wir sind beinahe wieder, wo wir ausgingen; fröhlich zogen wir unsere Straßen, fröhlich sind wir wieder zurück.

HERR v. G. Wo ich »Vivat das Lachen hoch!« rief. Es lebe! – Hoch! hoch! aber sagen Sie mir die Lustigkeit.

PASTOR. Die Lustigkeit ist die Fertigkeit im Lautlachen. Das Ueberlautlachen –
ICH. Ein Vivat höher als hoch, das höchste.

PASTOR. Sie ist mehr als Zufriedenheit; allein wer mehr Mittel, als nöthig sind, zur Glückseligkeit anwendet, ist der glücklicher? Ueber seine Bedürfnisse etwas haben, macht das reich? In der Sparsamkeit liegt so viel Stoff zur Glückseligkeit, daß es unaussprechlich ist. Ein Verschwender verzählt sich alle Augenblick in seinem Vergnügen; er wird in seiner Lust betrogen. Die Sparsamkeit hat Vor- und Nachgeschmack und Genuß – der Verschwender höchstens Genuß, höchstens Wollust für einen gegenwärtigen Augenblick. Die Lustigkeit ist was Convulsivisches, was Erschöpfendes. Ein Lustigmacher ist ein Mensch, der zu tausend Gerichten ohne Hunger und bei verdorbenem Magen verdammt ist. Da will ich lieber bei Wasser und Brod sitzen.

HERR v. G. Ich denk' aber, Pastor! wir leiden darum einen Lustigmacher nicht, weil wir ihn beneiden; wenn er sich zum Narren macht, stehen wir ihn aus, denn wir verlangen nicht, uns mit ihm zu vertauschen.

ICH. Ich glaube, weil wir ihn verächtlich finden, weil er unser Bild verächtlich macht, weil wir uns den Grad seiner Verzagtheit vorstellen, wenn es ihm übel ginge, weil seine Lustigkeit keinen Wiederhall abgibt. Schmerz und Freude sind gesellig; allein wenn sie das Mittelmaß überschreiten, werden sie uns unnatürlich. Wir wollen uns nicht betrinken, sondern nur trinken.

[251]

HERR v. G. Aber, Pastor, wie kommt's, daß die liebe Jugend so sehr auf Tragödien hält, das Alter auf Comödien?

PASTOR. Die Alten lassen der Jugend nicht die Maschinen sehen, durch welche die Oper der Welt gespielt wird. Um sich selbst bei ihr im Ansehen zu erhalten, müssen sie vieles bei Ehren halten. Ein jedes Mädchen ist dem jungen Menschen eine verwünschte Prinzessin, und er glaubt sie vom feuerspeienden Drachen zu erlösen, sie zu entzaubern, wenn er sie heirathet. Er sieht Vorfälle in der Welt, allein er sieht sie nicht in Verbindung.

HERR v. G. Wie ich jung war, dacht' ich, wie schwer muß es fallen, Herzog zu seyn; allein jetzt: man mache mich heute zum Kaiser, und ich wette, ich will Kaiser seyn wie irgend einer. Sie haben Recht, Pastor! Die Jugend fliegt, macht sich tausend Chimären. Sie kennt die Menschen zu wenig, drum setzt sie alles in Feuer und Flammen.

PASTOR. Wer bloß zusieht, findet Gaukeleien unerträglich; wer mit agirt, dem ist der Hanswurst ein allergnädigst privilegirter Witzling, eine bedeutende Staatsperson, und wo ist ein großes Haus, wo ein Hof ohn' ihn? – Man schafft hie und da Titel vom Hofnarren ab; allein die Hofwürde bleibt, und ich verdenk' es keinem großen und kleinen Herrn, der gut verdauen will, daß er sich ein Lachen bereiten läßt. Lachen ist das beste Desert. Am Ende kommt heraus, daß die Thränen ein Beweis von unsrer eingeschränkten Weltkenntniß sind. Wo die Jugend Schicksal sieht, schimmert dem Alter eigene Schuld hervor.

HERR v. G. Aber machen wir diesen Jüngling Auf mich zeigend. nicht zu klug? Geben wir ihm nicht die Waffen wider uns in die Hand?

PASTOR. Ich befürchte nichts. Talent und Verdienst des Verstandes ist so unterschieden wie Wissen und Thun. Insoweit der Verstand den allgemeinen und verhältnißmäßigen Werth der [252] Dinge schätzt und hiernach wandelt, heißt's: Verstand kommt nicht vor Jahren. So was muß Erfahrung lehren.

ICH. Oder bestätigen, Vater! Ich habe keinen Beruf zur Altklugheit. Ich denke, das heißt Klugheit ohne Erfahrung. Wie es mir vorkommt, muß man alt, wie ein Mann seyn, um einen Mann beurtheilen zu können – ich wollt' auch nicht meine Jugend verklügeln, um wie viel.

HERR v. G. Sie kommt freilich nicht wieder.
PASTOR. Der Frühling ist das beste Stück im Jahr.

HERR v. G. Und was ist's am Ende! Es ist ein elend, jämmerlich, kränklich Ding mit aller Menschen Leben, von Mutterleibe an, bis sie in die Erde begraben werden. Das Alter und die Jugend sind krank. Das Alter ist hektisch, die Jugend hat das hitzige Fieber. – Die Lunge hat keine Nerven.

PASTOR. Besonders aber ist's, daß Leute, die vorzüglich im Trauerspiel weinen können, es selten bei Vorfällen des gemeinen Lebens thun. Sie haben sich verwöhnt; sie sehen im gemeinen Leben keinen König, keinen Kaiser leiden, und wer leidet so schön, als im Trauerspiel, wer so großmüthig! In der Tragödie sieht man eine Sonne unter Wolken; drei Ungewitter begrüßen sich um sie herum, und machen Allianz und verschwören sich. – Die Sonne aber, ihrer Größe bewußt, ruht, und dann und wann blickt sie auf, um die verwaisete, um ihre Königin bekümmerte Erde zu trösten. – Da ist ja schon ein Trauerspielsanfang. – Wer in der Comödie lacht, lacht auch im gemeinen Leben; denn wahrlich, wenn sie gut ist, trifft sie die Welt bis auf Coloritskleinigkeiten. Wenn man sich sehen lassen will, zieht man ein Feierkleid an. Wer will aber das Kleid, und nicht den Mann?

HERR v. G. Und endlich, Pastor, da wir einmal im Schauspielhaus sind, hab' ich gefunden, daß eine Tragödie im Lesen, eine Comödie in der Vorstellung gewinne.

[253]

PASTOR. Weil man zwar für sich tragisch und betrübt, nicht aber anders komisch vergnügt seyn kann, als in Gesellschaft. Eigentlich sollt' ein Lustspiel ein Spiel seyn, wo das Ende nach meinen Wünschen ausfällt, und so würd' auch manches Trauerspiel ein Lustspiel werden.

HERR v. G. Liebster Pastor, Dank für Ihren Unterricht. Nun was aus dem Roquelaurärmel.
PASTOR. Mannigfaltigkeit ist Reichthum.
HERR v. G. Ich glaube, der liebe Gott hat manches bloß der Mannigfaltigkeit wegen gemacht.

PASTOR. Schwerlich, obgleich wir bei vielem keine andere Summe ziehen. Ich liebe die Abwechselung, die Mannigfaltigkeit durch verschiedene Zeiten. Wer im Bett immer auf einer Stelle liegt, schwitzt ohne Bezoarpulver.

HERR v. G. Wenn man immer auf einerlei bleibt, wird man stehend Wasser. – Das glaub' ich sind, mit Ehren zu melden, alle Einsiedler und Weltflieher gewesen, und sind es noch.

PASTOR. In der Welt außerhalb der Welt seyn, das ist Weisheit. Ein Diogenesfaß in der Vorstadt und nicht in der Wüste verdient den Namen Auditorium. Ein beständiger Hunger nach Neuem ist eine Zeitungskrankheit, ein verdorbener, verzärtelter Appetit. Eine Kriegslist gilt nur einmal, eine Medaille bezeichnet einen Tag. Kann man aber nicht denselben Gegenstand von einer andern, und wieder von einer andern Seite, und von tausend andern Seiten sehen, ihn durch und durch ganz und gar sehen, und zeigt dieß nicht mehr Scharfsinn, als immer einen neuen haschen? Ein Gedanke, der an sich leicht und natürlich ist, den man endlich so oft sagt, daß ihn der gemeine Mann gefaßt hat, verliert von seinem Ansehen. – Feine Irrthümer sind ein Reiz für die Eigenliebe, man will nicht offenbare Wahrheiten, weil sie auf allen Straßen feil sind, man will Erkenntnisse; sind sie gleich ungesund,[254] wenn sie nur was kosten, und nicht gar zu gut Kauf sind. – Darum von einem aufs andere.

HERR v. G. Darum die Liebe zum Seltenen.

PASTOR. Mit der Seltenheit ist's, wie mit dem Magnet, was mit ihm bestrichen wird, zieht auch an. Ein Mensch, der viele Seltenheiten gesehen hat, wird auch für selten gehalten.

HERR v. G. Man sieht ihn indessen bloß wie Meerwunder an, man will nichts weiter als ihn sehen.

PASTOR. Man glaubt, er sey nur für Seltenheiten, und traut ihm nicht. – Noch mehr! Je mehr Bekannte man hat, je weniger Freunde findet man. Leute, die sich öffentlich zeigen, haben selten Busenfreunde. Wer das Publikum zum Freunde hat, hat wenige oder keinen Privatfreund.

HERR v. G. Man glaubt, daß die Herzensflügelthüren eines solchen Menschen schon zu oft auf- und zugemacht sind, als daß sie noch zusammenhalten könnten.

PASTOR. Bei Feierlichkeiten gehen die Menschen paarweise. Ich denk' Ein Weib und Ein Freund – das übrige dient nur zur Folie.

HERR v. G. Ich glaube, Pastor, das weibliche Auge, das einen jungen Menschen zum erstenmal electrisirt, ist sein Ideal der Schönheit, seine Venus, denn jeder hat seine. Die Liebe kommt auf einmal, sie wohnt parterre. Die Freundschaft steigt Treppen, und es gehören Jahre dazu, ehe ein Freund ein Freund wird. Ein Zorniger und ein rasend Verliebter sind stumm, keiner kann erzählen, was ihm fehlt. Sehen Sie, Pastor! ob ich nicht auch was weiß; über Freundschaft und Liebe könnt' ich schon zur Noth mitreden. Nun sind wir für mich an Ort und Stelle. Ich bin Ehemann und Freund, beides wie es sich eignet und gebühret.

PASTOR. Die Liebe ist Natur, die Freundschaft Kunst. Nase und Augen sind Natur, Stirn und Mund, und Hand und Fuß [255] sind zu Kunst geworden. Gott hat den Menschen aufrichtig gemacht; allein er sucht viele Künste. Wir sehen einem Menschen, den wir wollen, ins Gesicht, vorzüglich in die Augen. Seine Affekte liegen auch im Naturtheil, und rings herum. Wer sich sehr verstellen kann, treibt sie nach unten, und immer zugleich in Hand und Fuß. Fuß und Hand sind wie Mann und Weib ein Leib; Fuß der Mann, Hand das Weib. Das Gesicht ist das Bild und die Ueberschrift der Seele. Um den Mund herum liegt die Mienensprache, zu fordern und abzuschlagen, um die Augen herum, zu bejahen und zu verneinen. Dieß ist die verehrungswürdigste Sprache, die alle Welt versteht, die auch ein guter Theil Thiere faßt. Mein Gott! Warum lernt man sie nicht mehr?

HERR v. G. Sie würd' uns das Herz abstoßen. Das ABC, was wir haben, ist schon so herzbrechend.

PASTOR. Es würde aber viele Kunst dazu gehören, um diese Natur auszuspähen. Ihre Probe wäre, daß sie von aller Welt gleich verstanden würde.

HERR v. G. So hat sie ja eine gleiche Probe mit dem Guten, nicht wahr? Da muß auch das Urtheil allgemein seyn? beim Schönen nicht. Was die Sonne am Himmel, das ist das Auge dem Menschen; indessen hab' ich gefunden, daß die Größe nicht immer gleich ist; ich selbst hab's bald groß, bald klein – oft Augenfinsterniß.

PASTOR. Wenn die Augenlider weiter aufgethan sind als gewöhnlich, ist der Mensch heiter – froh. Wenn er einen großen Gedanken faßt, sind die Augen nur halb offen, zum Zeichen, daß dieser Gedanke von innen komme, und daß man ihn da gern sehen möchte, wenn's möglich wäre.

HERR v. G. Aber wieder was von der Liebe, Pastor, mir zur Ehre, denn da habe ich Sitz und Stimme. Was ist hübsch?

PASTOR. Was ohne Reiz gefällt. Viele Mädchen haben [256] Reize, die nicht hübsch sind – bei einem hübschen Mädchen ersetzt die Natur, die Geschlechterneigung, das Fehlende. Reiz gehört zur Liebe. Rührung zur Furcht, zur Achtung.

HERR v. G. Ich glaube, das andere Geschlecht ist nie so häßlich als das unsrige: wer die Häßlichkeit nicht verzeichnen will, muß eine Mannsperson wählen, und doch flieht alles ein altes Weib. Einem alten Mann gibt man eher die Hand; wie kommt das?

PASTOR. Man vergleicht ein Weib mit Weibern, kein Wunder, wenn es verliert. Man lasse aber einen alten Kerl Weibskleider anziehen, wir bleiben länger bei Odem. Es geht uns länger nach der Männerweise, als ihnen nach der Weiberweise. Der Mann ist in einem Stück ganz gemacht, das Weib ist zusammengesetzt. – Es ist mit Deckel und Schraube.

HERR v. G. Kein Wunder also, daß es ein starkes und schwaches Werkzeug ist.

PASTOR. Sie haben Recht, in der Ehe ist der Mann gegen das Weib stark und schwach, wie man's nimmt. Daß er physisch stark gegen sie ist, zeigt der Augenschein; allein wer gibt nach?

HERR v. G. Ein gemeiner Mann schickt seine Frau, so oft es zu reden gibt.

PASTOR. Weil die Weiber eine natürliche, zum Herzen gehende Beredsamkeit besitzen, und an wen schickt er sein Weib ab? an Männer. Gewiß kommt aber der Mann selbst, wenn z.B. die gnädige Frau eine Wittwe ist, und den Gütern vorsteht. Eine gesunde gute Saat ist nicht hinreichend, es muß auch ein gutes Land seyn, wohin sie gestreut wird.

HERR v. G. Das läßt sich hören. Die Geschlechterneigung kömmt also mit in die Erklärung, und in tausend Fällen ist sie die Feder, die das Werk regiert. Warum aber, Pastor, sind die Weiber [257] stolzer wie die Männer? Meine ist es auf eine übertriebene Weise, aber im Grunde sind sie es alle.

PASTOR. Weil ihr Rang sehr zweideutig ist. Der Fürst ist gegen einen Grafen stolzer als gegen einen Edelmann. Ist des Mannes Rang dazu auch zweideutig, ist er z.B. ein neuer Edelmann, so ist ihr Stolz gränzenlos.

HERR v. G. Warum putzen sich die Weiber, wenn sie gleich schon an sich gefallen?

PASTOR. Nicht unsertwegen. Gegen Männer brauchen sie ihre natürlichen Waffen; andere ihres Geschlechts zu verdunkeln, andere zu überglänzen, darum der Putz.

HERR v. G. Pastor! das nenn' ich fragen und antworten wie gedruckt! wie abgeredt! und eben so als ein Buch, das frag- und antwortweise abgefaßt ist. Was ich über die Liebe gelesen und gedacht habe, ist viel; was ich gethan habe, ist wenig. Man denkt und liest von dieser Art das meiste in blanko (ich bin ein halber Kaufmann, das hören Sie wohl, ich handle und wandle wie wir eurische Cavaliere alle handeln und wandeln –). In blanko, wahrlich in blanko, denn wie es zum Ausfüllen kam, fand sich's, daß meine gnädige Hausehre eben nicht erdacht und erlesen war! Sie könnte besser seyn, – Pastor! dafür steh' ich del credere (da ist wieder der Libauer Kaufmann), daß man ohne Theorie heirathen müsse. Nur um des Himmels willen kein dummes Weib, denn wie die Mutter, so die Söhne, wie der Vater, so die Töchter.

PASTOR. Nicht allemal.
HERR v. G. Mutatis mutandis. Etwas ist immer da.

PASTOR. Eher haben die Großeltern auf den Geist der Großkinder Einfluß, auch der Leib ist mehr der Großeltern Abdruck. Hierüber habe ich Bemerkungen von besonderer Art gemacht. Oft ist der Körper auf ein Haar die Mutter, die Seele aber der Vater und umgekehrt.

[258]

HERR v. G. Mein Sohn – Zu mir. – den ich Ihnen empfehle, er selbst wird es schwerlich – ist die Mutter in meinem Jagdrock. – Der Jung' ist nicht ich. Was ist zu machen? Die Welt ist nicht die beste.

PASTOR. Die beste –
HERR v. G. Noch eine Frage, Pastor! warum ist meine Frau geizig?
PASTOR rückhaltend. Gehorsamer Diener!
HERR v. G. Warum sind die Weiber allzumal geizig?

PASTOR. Weil sie selbst nichts erwerben, und von Zinsen leben. Jedes Zinsenleben ist vom Geiz begleitet.

HERR v. G. Die Schlußfrage Wir hörten die Kommenden. warum sprechen Sie nicht Zu mir. mit?

ICH. Weil ein junger Mensch in Gesellschaft der Alten nicht anders als Secretär ist, der aufschreibt.


Da sehen meine Leser, wie es zugegangen, daß ich so viel behalten habe. Erst Sekretär! dann Rath! So geht es in allen gesitteten freien Reichsstädten. Jetzt wird es große Lücken geben. Ich kann nur wieder sagen, was ich gehört, und wiederholen, was ich selbst dazu beigetragen habe, also je nachdem ich gegangen, je nachdem ich gestanden, je nachdem ich gesessen.


Da ist der Herr v. W., seine Frau, ein kleines Fräulein. Mein Herr Schwiegervater, reitend beim Wagen, den Hut alle Augenblicke unterm Arm. – Herr v. G – und sein Haus, ihnen entgegen. Mein künftiger Herr Reisegefährte und sein Herr Hofmeister, die sich nicht lang mehr haben werden, schließen sich an. – Noch eine Ladung, und noch eine! noch eine! – ich armer Schreiber! wenn es anginge, wünschte ich Diensterlassung. Für ein so großes Kollegium hat mich die Natur mit zehn Fingern zu wenig ausgerüstet. – Meine Leser (ich werde mich protestando verwahren), werden finden, daß ich gethan, was ich gekonnt.


[259] Im Zimmer.


HERR v. W. Um Verzeihung, Herr Bruder, daß ich dem Herrn Bruder noch einen Gast mitbringe.

HERR v. G. zum HERRN v. W. Bei mir hat gebetener und ungebetener denselben Platz – Zum Literatus. ich gratulire zum Hermann! Herr, alter Herr!

HERMANN. (So will ich von Stund an meinen vielbenannten oder namenlosen Schwiegervater nennen.) Ich dank' unterthänigst.

HERR v. G. Wie aber zum Hermann. Wie Saul unter die Propheten?
HERMANN. Des Zipperleins wegen –
HERR v. G. Das lass' ich gelten.
HERMANN. Der edeln Musica halber.

HERR v. G. Das läßt sich hören. Sonst war der rechte Hermann ein frommer stiller Mann, aber der alte Herr ist ein geborner Hofschranze von Kindesbeinen an gewesen.

HERMANN. Ich bitte unterthänigst um Vergebung, ich habe oft zu sehr die Wahrheit geliebt, ich habe sogar die Ehre gehabt, Märtyrer der Wahrheit zu werden.

HERR v. G. Hier! Herr Hermann, hier ist Pulver auf die Pfanne – ich weiß, Sie mußten zum Beispiel drei Tage und drei Nächte wachen.

HERMANN. Der reinen Wahrheit wegen. Ew. Hochwohlgeboren haben die Gnade, mich recht zu gelegener Zeit daran zu erinnern, oder wie Sie es zu nennen geruhen, mir Pulver auf die Pfanne zu reichen. Ich setzte dem Herrn v. – eine Grabschrift: Hier schläft ein Mann, der nie gewacht hat; höchstens that er, als wacht' er. Genau genommen sprach er im Traum. Wanderer, bete für ihn, sonst verschläft er den jüngsten Tag.

HERR v. G. Wahr, allein warum wahr? weil der Todfeind [260] des Herrn v. – dem Grabschriftsteller wohlthat. Wie oft, lieber alter Herr, haben Sie sich auf den Mund geklopft, und sich eine Palinodie recantatio und Widerruf gefallen lassen müssen, so was geschieht nicht salva fama. Herr! Sie waren klug genug, die Lebendigen leben zu lassen, Sie trieben nur Muthwillen an den Todten! indessen fand sich doch noch hie und da ein Grabrächer, und Ew. Hochedeln mußten, ihrer Grabschriften ohne Censur wegen, den selig Verstorbenen ehrenerklären. – Ei, denken Sie noch an Ihre selbsteigene Grabschrift: Das nenn' ich Retorsion und Beleg zu der güldenen deutschen Regel: Auf eine Lüge eine Maulschelle.


»Hier wacht der lebendig Todte


HERMANN. Die Zeiten sind gottlob! vorbei.

HERR v. G. Zu Grabschriften freilich, allein Sie waren, wie ich merke, erst mehr ein Fechter, jetzt mehr ein Tänzer. Wenn ich wie mein Schwager v. W – wäre, ich würd' Ihnen die Bücklinge abgewöhnen – und dann würden Sie ein brauchbarer Mann seyn! allein mein Schwager liebt die Höflichkeit – die Schmeichelei – wie soll es heißen?

HERR v. W. Höflichkeit und Schmeichelei sind zwei unterschiedene Dinge.

HERR v. G. Herr Bruder! da kommen wir in zehn Jahren nicht von einander. Ich weiß, bei dir macht die Seele mit dem Leibe, und der Leib mit der Seele Umstände. – Du sagst zu dir selbst, wenn du allein im Walde bist und niesest, Gott helf! und wenn das Echo nachsagt: Gott helf! sprichst du, ich bin ergebenst verbunden; wenn du dich am Baum stößest, bückst du dich mit den Worten: ich bitte tausendmal um Vergebung. – Das ist einmal deine Weise: Gott helf dir mit dem Petrus an der Himmelsthür aus einander! Was darf aber Herr Hermann accompagniren? und sich wie eine Klinge biegen, die man probirt?

[261]

HERMANN. Ich bitte unterthänigst um Verzeihung.

HERR v. W. Ich nicht – ich fordere dich auf deine eigene Klinge heraus. Klingen, die sich biegen, springen die wohl? Herr Hermann, richten Sie sich nach der Jahreszeit. – Beim Herrn v. G. – ist alle Mühe vergebens. Glaub mir, Herr Bruder, du verfehlst deinen Zweck – du willst ein Deutscher seyn; die deutsche Sprache ist dir eine Fundgrube, und du erniedrigst sie. Wo ist eine, in der mehr Samen zur Höflichkeit keimt?

HERR v. G. In meiner deutschen Sprache nicht.

HERR v. W. So sprichst du die curländisch-deutsche, das ist, eine Sprache, die man so gut, wie die curische, undeutsch nennen könnte.

HERR v. G. Wenn du behauptest, die deutsche Sprache sey höflich, so behaupt' ich, sie sey grob, wenigstens ist sie beides in gleichem Grade. So lange das verdammte Wort Dero drin ist, hat das Genie einen Todfeind in der Sprache. Entweder alles Sie, oder alles Du, sonst – daß Euch der Teufel mit Ew. Hochwohlgeboren –

HERR v. W. Herr Bruder, das ist noch der einzigste Beweis, daß wir der Deutschen Nachbaren sind – sonst wären wir Barbaren, in diesem verfluchten Du-Lande.

HERR v. G. Wir sollten hier in Norden kurz seyn. Die Worte frieren sonst im Munde.

HERR v. W. Und ich denk', in Süden hat man nicht Lust, den Mund zu bewegen. Reden ist eine Bewegung.

HERR v. G. Es kann seyn; indessen ist die Bewegung, die Ew. Hochwohlgeboren sich dabei machen, höchstens stubenlang. – Du bleibst immer auf einer Stelle. Man sagt von den Seeleuten, wenn sie sich gleich Landgüter von vielen Meilen kaufen, daß sie nur so weit spazieren gingen, als ihr Schiff lang war. – Du sprichst, wie die Seeleute gehen.

[262]

PASTOR. Indessen ist die Bewegung dieselbe. Der Mensch nimmt zwar gern einen entfernten Ort, wohin er gehen will; dieses Ziel leistet ihm Gesellschaft. – Er unterhält sich mit ihm, er fragt es: werd' ich bald da seyn? – Geht er mit Freunden und Freundinnen, geht er wie der Schiffsmann; denn die Gesellschaft ist Seelenbewegung, die geht über die körperliche. Sonst aber glaub' ich, je weiter das Ziel, desto entschlossener der Kopf. Auch bei Erholungen will man Zweck.

HERR v. W. Da siehst du, Herr Bruder –
HERR v. G. Daß Ew. Hochwohlgeboren keinen entschlossenen Kopf verrathen.
HERR v. W. Einen Admiralskopf –
HERR v. G. Der sein Schnupftuch vorhält, und sich Segel macht, wenn er zu Pferde steigt.

HERR v. W. Das allgemeine Du in Curland ist und bleibt mir unerträglich; alles ist Bruderherz und Du.

HERR v. G. Das Menschlichste, was ich weiß.
HERMANN. Ich mache mir Bedenken, den Hund eines alten Edelmanns zu dutzen.

HERR v. G. Und der Hund eines alten Edelmanns ist erkenntlich, und dutzt auch nicht. – Herr! um Ihnen ganz deutsch zu sagen, Sie sind –


* * *


Schade! – der junge Herr von G – nahm mich, und wir gingen im Garten eine grüne Straße auf und ab, wie ein Paar Schiffsleute.


Im Garten.


DER JÜNGERE HERR v. G. Jagen Sie?
ICH. Nein.
DER JÜNGERE HERR v. G. Was werden Sie denn auf der Universität machen?
[263]
ICH. Studiren.

HERR v. G. Ich, jagen und studiren. Man wird doch wohl einen akademischen Jäger, einen Nimrod treffen, der Jagdcollegia liest. Fechten und Jagen ist gut, Jagen ist der Mittelpunkt. Ich wünschte, der Vater gäbe mir den Satan mit.

ICH. Den Satan?
HERR v. G. Den großen Jagdhund. Ich hab' ihn so benannt.

ICH. Ich bin kein Jagdfreund, ich werd' es nie seyn. Man lernt da auf Unschuld anlegen und zielen, und meuchelmorden.

HERR v. G. Essen Sie kein Wild?

ICH. Gern – ich lass' aber das Jagen, wie das Schlachten und Kochen, andern über. – Mein Vater sagt, jede Köchin sey grausam. Das Kochhandwerk ist ein Handwerk für Männer, die sich auch, sobald es ins Große geht, nicht von ihrem angebornen, ihnen angestammten Recht abbegeben. Jagen und Kochen, denk' ich, sind sehr nahe verwandt.

HERR v. G. So weich, und haben Krieg geführt?

ICH. Um meinen Arm auszuarbeiten. Hätt' ich einen göttlichen Beruf gehabt, Soldat zu werden, zum ersten Schlage würd' ich nicht seyn, allein zum zweiten Herr v. – wie der Donner auf den Blitz. Hätte mein Vaterland den ersten Schlag erhalten, wär' ich verbunden gewesen, es zu freien – und zu Kopf, zu Händen und zu Füßen hätte der Muth heraus gewollt. – Im gemeinen Leben muß man oft erweichende Mittel brauchen; im Kriege würde man uns darüber als Narren auskrähen, wenn wir die Segel streichen ließen. Der Feind heißt Legion; ihrer sind viele.

HERR v. G. Ich schieße nichts, was nicht vor den Schuß läuft.

ICH. Das sind Jägergrundsätze; ein laufender Feind ist keinen Schuß Pulver werth. Im Kriege muß man schießen, was steht.

[264]

HERR v. G. Das ließ' ich brav bleiben! ich würde das Spiel durchsehen, fänd' ich es zweifelhaft, was ist natürlicher, als die Karten zusammen zu legen.

ICH. Das heißt laufen.
HERR v. G. Mag es doch.

ICH. Ich würde kein Menschenjäger, sondern Soldat, Held, wenn Sie wollen, würd' ich seyn. In der Hölle muß man nicht Waffenstillstand machen, sondern auf den letzten Mann steuern und wehren. Wäre noch ein Mittel, den Teufel zu bekehren, wär' es dieß; ich habe Krieg gespielt, aber nach dem Leben.

HERR v. G. Und ich bin wirklich auf der Jagd gewesen, und habe manchen Wildbraten bereitet. – Laßt uns Brüderschaft machen!

ICH. Wir dienen nicht Einer Fahne – unsere Herzen schlagen nicht einerlei Wirbel; indeß auf's näher kennen, Bruder! –

HERR v. G. Bruder!
ICH. Die Hand!
HERR v. G. Die Hand! – Mich dünkt, ich werde Soldat,
ICH. Ich nicht Jäger.
HERR v. G. Ich fühl' Herz! Mich sollte wer anheulen.
ICH. Du red'st vom Wolf, Bruder!

HERR v. G. Beleidigen, wollt' ich sagen! ich wollt' ihn! – Herr Bruder, du wirst mich nicht verlassen.

ICH. Ich merk's, noch hab' ich dir nicht Muth genug in die Hand geschlagen.
HERR v. G. Auf einmal kann's nicht kommen.

ICH. Das Herz immer auf einmal. Das weiß ich, Bruder! – Ich hab' zwar nicht von unten auf gedient; allein ich hab' mich von unten auf gedacht, und als Alexander oft gemeine Dienste gethan. Wenn ein Feldherr nicht gemeiner Kerl seyn kann, ist er nicht des Ordens werth. – Er wird nicht wie ein Ruderknecht [265] schreien, nicht betäuben; allem er wird ein gemeiner Kerl zum Malen werden. Er wird ihn allerliebst machen; es seyn, darf er nicht.

HERR v. G. Ich hab' gehört, daß ein General, der schon im Felde gewesen, nicht mehr so viel Herz habe. – Junge sollen die besten seyn.

ICH. Junge kennen vielleicht die Gefahr nicht, und da sie schon Heldenphysiognomien kennen, so verzagen sie, sobald sie Züge davon entdecken. Blindhereinhauen ist ein Kunstwort, und ein wahres Wort.

HERR v. G. Eine Jagd, Herr Bruder, müssen wir noch zusammen machen, lieber heut' wie morgen! Es wird dir gefallen.

ICH. Ich zweifle. Mir gefällt zweierlei: Kühe und Rinder auf einer Wiese. Das ist der edle Friede, und eine Wiese voll wiehernder Pferde, das ist der edle Krieg.

HERR v. G. Zur Probe, Herr Bruder!

ICH. Meinetwegen. Herr laß weg – bei Bruder schickt es sich nicht. Ich werde dich so nicht nennen; Bruder ist kein Herr; Herr Bruder ist halb Bruder. Pfui! über halb! –


Die Gesellschaft hatte sich während dieser Zeit in den Garten verfügt, und ging an uns paarweise vorbei.


Der Herr v. W. und mein Vater.

Der Herr v. G. und Hermann.


Ich kann also nur wieder erzählen, was ich beigehend vernommen. Mein Vater pflegte zu sagen: Man hört im Sitzen besser, man sieht im Stehen schärfer, im Gehen ist Ohr und Auge nicht zuverlässig.


DER JÜNGERE HERR v. G. Wann, Bruder?
ICH. Auch heute Nachmittag. – Du kommandirst bei der Jagd.
DER JÜNGERE HERR v. G. Du bist Gast.
HERR v. W. Ehre dem Ehre gebührt.
[266]

PASTOR. Wenn man nur nicht am Ende glaubt, ein verbindliches Wort sey die That selbst. Wünsche müssen kommen, wenn unser Vermögen zu helfen aufhört. – Todten muß man wünschen.

HERR v. W. Warum soll man aber nicht Canel auf die Grütze streuen, und seine helfende Hand mit einem weißen Handschuhe bekleiden, den Wein mit Zucker und Pomeranzen veredeln, und Butter aufs Brod streichen.

ICH. Wo ist denn dein Hofmeister?
DER JÜNGERE HERR v. G. Unbeschwert, sag' gewesener.
ICH. Vater bleibt Vater.

DER JÜNGERE HERR v. G. Bruder, du würdest doch nicht leiden, daß dein Fibelrektor dich bis an dein Lebensende meistern sollte?

ICH. Das thut auch kein Vater einem Sohne, der in gewissen Jahren ist.

HERMANN. Und stellte in aller Einfalt und Kürze, »Gott gebe,« setzt' er hinzu, »zu aller Seelen Erbauung und Besserung,« vor:


»Die beste Kur des Podagra.«


Im ersten Theil: Der Patient muß, wie der Gichtbrüchige im unserm Evangelio, einsehen, daß er aus sündlichem Samen erzeugt sey; er muß zweitens Vergebung suchen, und drittens aufstehen und wandeln.


HERR v. G. Ich hatte nicht Kirchenpatron seyn sollen.
HERMANN. Witz ist wie ein Aal, er windet sich heraus.

HERR v. G. Ich hätt' ihn schon gehalten. Man wird doch wohl in der Gemeinde mit Ehren die Gicht haben können?

DER JÜNGERE HERR v. G. Auf den ersten Gegenschlag kommt viel an.

ICH. Alles, Bruder. Eine Hauptregel beim Kampf. Gib [267] zuerst den guten Wein, und wenn dein Gegner trunken, den geringern. Der erste Schlag ist die erste Frage beim Examen. Die erste Antwort entscheidet.

DER JÜNGERE HERR v. G. Ich denk' immer, Bruder, ein Armer ist allein herzhaft.

ICH. Hat er denn weniger zu verlieren als ein Reicher? Leben ist Leben! – Zu viel Herz macht kühn, zu wenig Herz macht desperat. Der Kampf ist in beiden Fällen blutig.

DER JÜNGERE HERR v. G. Ein General hat das beste Theil erwählt. Er ficht nicht allein; er weiß, wer ihn umgibt. Das möcht' ich seyn!

ICH. Ein Adler fliegt allein, Bruder. Küh' und Schafe gehen zusammen. Ein General ist der Hahn, der die Veränderung des Wetters zuerst merkt, der den Ton angibt. Meine Mutter meint, der Hahn, der zuerst kräht, sey der Superintendent unter den Hähnen. Der Generalstitel steht dem Hahn besser an. Hiemit genug vom Muth. Es sieht thrasonisch aus, viel über den Muth zu sprechen. Der Muth hat seine Theorie; er fängt mit der Praxis an und hört mit der Theorie auf.

DER JÜNGERE HERR v. G. Bruder, du red'st wie ein Buch. Was ist thrasonisch?
ICH. Prahlhänsisch. – Kein Wort vom Muth mehr.
DER JÜNGERE HERR v. G. Meinetwegen.
HERR v. W. Die Art, Geschenke zu machen –

PASTOR. Das hab' ich nie geläugnet. Es ist der Schlüssel zum geheimsten Herzenskämmerlein; der eine drückt in die Hand, der andere legt es unvermerkt auf den Tisch; dieser gibt in Papier gewickelt, der in Geld, der in Geldes Werth; dieser wird roth, der blaß – der steht freundlich aus, der als ob er im Spiel verloren, der andächtig, als wenn er etwas in den Gotteskasten legt, und vom lieben Gott einen Wechselbrief entgegen nimmt, oder ihn[268] bezieht, der als wenn er die Musikanten bezahlt und von ihnen erwartet, daß sie ihm den Dank vorgeigen möchten. Jeder Griff bei allen diesen Arten ist aus dem Herzen genommen. Wenn ich einen Menschen gesehen ein Geschenk geben, so müßt' ich mich sehr irren, wenn ich seinen Charakter nicht auf ein Haar treffen sollte.

HERR v. W. Also die Manier, der Anstand, die höfliche Art – Herr v. G. – würde das Geschenk an den Kopf werfen.

PASTOR. Vielleicht edler, als es mit überdachten Worten geben, und den Nehmer noch in mehr Schuldigkeit setzen – die höfliche Art macht es nicht.

HERR v. W. Ei! Ei! Herr Pastor – die Höflichkeit ist zu allen Dingen nütze.
PASTOR. Die Gottseligkeit, wollen Ew. Hochwohlgeboren sagen.

Diese beiden Leute schieden sehr höflich auseinander, und so wie Wasser zu Wasser, so flossen Herr v. W. und Hermann zusammen.


DER JÜNGERE HERR v. G. Wirst du viel Bücher mitnehmen?

ICH. Sehr wenig. Ich bin sehr für geliehene Bücher. Hat man selbst das Buch, glaubt man: ein andermal. Man sieht es im Schranke und denkt: wenn ich gelegenere Zeit haben werde. Ein Bibliotaphus, ein Büchergeiziger, ist, nach meines Vaters Ausdruck, ein Teufel, ein Seelenverderber.

DER JÜNGERE HERR v. G. Wenn man ein Buch leiht, sagt mein Hofmeister, ist es am sichersten, sich Auszüge zu machen; ich glaub', es hilft dem Gedächtnis.

ICH. Einerlei, ob das Buch oder der Auszug sanft im Schranke ruht. Ich bin für keinen Auszug.
DER JÜNGERE HERR v. G. Ein Rückhalt, Bruder, ist eine gute Sache. Wenn man es vergißt –

ICH. So ist das Buch da. Auszug, wenn er ja den Namen [269] verdient, ist eine Brühe. Ich bin nicht für Brühen, solang ich gesund bin.

HERR v. W. Ich leide keine Uebertreibung. Einem Kinde, was todt auf die Welt kommt, den Verstand ansehen wollen, find' ich zu hoch geflogen.

HERMANN. Wenn es indeß die Züge des Vaters hat, und der Vater –

ICH. Manches Buch soll uns nur die Stirn lichten – von manchem dürfen wir nur die Thaler Alberts behalten. Ist es nöthig, daß ich etwas bis auf Ort und Vierding weiß, kauf' ich mir das Buch, um mir nachzuhelfen, um einen Stab zu haben, an dem ich gehe.

DER JÜNGERE HERR v. G. Erst Gewehr, dann Bücher. – Leib und Seel', sagt alle Welt, und nicht Seel' und Leib.

ICH. Beim Edelmann Leib und Seele, beim Literatus Seel' und Leib, wenn es gleich wider den Redegebrauch ist.

HERR v. G. Je reiner und dünner die Luft, hab' ich wo gelesen, je feiner die Köpfe.

PASTOR. Mich dünkt, zu schönen Künsten; zur Philosophie ist rauhe Witterung die beste. Man ist an Schwierigkeiten und an Unerschrockenheit und Stärke, sie zu überwinden, gewohnt, und Schönheit gehört unter einen sich immer gleichen Himmel; man zieht nicht das Gesicht vor Kält' und Wärme; man kämpft nicht mit seinen Gesichtsmuskeln. Frauenzimmer, die in Einer Luft bleiben, haben eine schöne Haut. – Mustern Sie in Curland gemeiner Leute Köpfe, werden Sie wohl einen Bauernkopf finden, der in ein historisches Gemälde passe? Ich kenn' ein Volk, wo ich alle Götter und Göttinnen des Alterthums in kurzem zu finden wetten will. Haben Ew. Hochwohlgeboren in Curland auch nur einen Venuszug gesehen? Eben so wenig ist ein Altarstück, ein [270] Marienzug zu haben. Was ich in Curland von Schönheit bemerkt, schränkt sich auf den Wuchs ein. Schönheiten für Bildhauer, allein für Maler nicht.

HERR v. G. Wenn alles bei kleinen Leuten proportionirlich ist, kann man ihnen den Ehrennamen schön nicht absprechen.

PASTOR. Kein Zweifel, und so auch mit wohlproportionirten Erkenntnißkräften – und die Anwendung? –


Sie bogen sich so, daß ich keine Sylbe haschen konnte.


HERR v. G. Ich will nicht vorurtheilen; aber daß die Leute im demokratischen Staate klüger sind als im monarchischen, Pastor, das müssen Sie zugeben.

PASTOR. Gern – weil sie an der Regierung theilnehmen, weil sie mitsprechen. In England gibt es einen sehr klugen gemeinen Mann, und das machen die Zeitungen. Dieß Staatsmittel könnt' auch im monarchischen Staate probirt werden.

HERR v. G. Im monarchischen Staate gibt's keine Zeitungen. – Wenn die Regierung Zeitungen schreiben läßt, sind es Seifenblasen, womit die Kinder in der Sonne stehen.


Sie blieben eine Weile auf einer Stelle.

ICH. Bibel und Gesangbuch nimmst du doch mit?
DER JÜNGERE HERR v. G. Ja, die Bibel hab' ich vom Vater, das Gesangbuch von der gnädigen Mutter.
ICH. Warum gnädige?
DER JÜNGERE HERR v. G. Es ist mir zur andern Natur. Meine Mutter wollte durchaus gnädig heißen.

ICH. An gnädig erkenn' ich sie. Eine gnädige Mutter, Bruder, ist ein Unding. Bei Bibel und Gesangbuch seh' ich deinen Vater. Bibel und Gesangbuch muß man sich nicht kaufen, sondern von den Eltern haben, und eben so wie du, so auch ich, Bibel vom Vater, und Gesangbuch von der Mutter.

DER JÜNGERE HERR v. G. Dein Vater und der meinige –
[271]
ICH. Sind wie Herz und Seele gegen einander.
DER JÜNGERE HERR v. G. Dem Vater Seele, der meinige Herz. Nicht wahr?
ICH. Beide Seel' und Herz.
DER JÜNGERE HERR v. G. Dieser mehr Herz, jener mehr Seele.

ICH. Sie waren vieljährige Freunde; sie schieden sich, wie mein Vater sagt, von Tisch und Bett, allein ihre Herzen blieben gebunden.

DER JÜNGERE HERR v. G. Wir wollen uns nie von Tisch und Bett scheiden. Kommen wir von Universitäten, wirst du mein Pastor, und dann wollen wir leben wie auf der Universität – du studiren! ich jagen.

HERR v. W. Es ist ein Cavalier.
HERMANN. Das ist die Sache.
HERR v. W. Und mein Schwager.
HERMANN. Das ist die Hauptsache.

HERR v. W. Es scheint unhöflich. Doch wie der Ast, so der Hieb. Man muß sich über den Herrn v. G. wegsetzen.

HERMANN. Kriechend zu mir?

HERR v. W. Ich hätte Worte mit Hänkelchen? Traget die Groben, weil ihr höflich seyd. Es sind, unter uns gesagt, manche Ausdrücke in der Bibel, die nicht auf unserer Seite sind.

DER JÜNGERE HERR v. G. Wenn ich das Wort Schreck höre, empfinde ich es. Was wollte dein Vater gestern Abend damit sagen, daß der Schreck der Anfang zu allen Leidenschaften sey?

ICH. Schreck, sagt' er, ist die Vorbereitung, das Präludium zu allen heftigen Affekten, und das ist wahr. Hast du dich je recht sehr über eine Sache erfreut, ohne daß du vorher erschüttert warst? Alle heftigen Leidenschaften sind wie ein kaltes Fieber, Frost, Kälte, dann Hitze.

[272]

DER JÜNGERE HERR v. G. Du hast es besser behalten wie ich.

ICH. Er führte Beispiele an, daß Leute vor Freuden gestorben wären, und daß kein großes Loos in der Lotterie, ohne den Gewinner auf eine kleine Zeit zurückzusetzen, von jeher gewonnen sey. Der Mensch, sagt' er, traut sich nicht recht die Freude in dieser Welt zu. Er besinnt sich erst, ob er ihr sein Herz öffnen, ob er sich freuen könne. Er läßt sie von hinten und verstohlen ein. Seine Freude scheint eine Entfernung des Schmerzes, und wer läßt einen alten guten Freund ohne Bewegung von sich?

DER JÜNGERE HERR v. G. Du hast ein könig liches Gedächtniß.
ICH. Ein gemeines, aber vortreffliches Beiwort.

DER JÜNGERE HERR v. G. Es ist von meinem Vater – Aber was dein Vater vom Vergnügen und Schmerz anmerkte –

ICH. Weiß ich auch. Er widerlegte sich selbst. Er glaubte, Vergnügen sey die Empfindung von Lebensbeförderung, und Schmerz Empfindung von Lebenshinderniß, und wenn es schon so weit gekommen wäre, daß man die Lebenshindernisse nicht überwinden und das Feld behalten könnte, meint' er, sey Vergnügen die Kunst, sich selbst von sich zu entfernen, die große Kunst, nicht an sich zu denken.

DER JÜNGERE HERR v. G. Ich bin noch im Schreck, in der Vorbereitung, denn bis jetzt fass' ich's noch nicht.

HERR v. G. Was meinen Sie, lieber Pastor! wenn wir nur negative weise und gut sind, ist es nicht schon viel, und sollte man nicht diesen Gedanken auszuüben suchen?

PASTOR. Ich weiß nicht. Wissenschaften, die bloß Irrthümer widerlegen, sind, wenigstens was mich betrifft, unangenehm. Der [273] Mensch ist von Natur träge und negativ, durch Grundsätze wird er thätig.

HERR v. G. auf den Herrn v. W. und Hermann zeigend. Licht und Lichtknecht.


Alles lagerte sich auf einen Rasen, und war so still, daß man sah, was ich oft gesehen. Die Natur behauptet ihre Rechte, sobald wir ruhig sind, sobald wir Zeit haben sie anzuhören, sobald wir uns auf's Gras, ihren Lehnstuhl, setzen. Alles verstummt und empfindet. Gott! warum fallen wir der Natur so oft unzeitig in's Wort!


Für uns, den jungen Herrn v. G. und mich, war kein Raum in diesem Naturaudienzzimmer. Herr v. G. der Jüngere ging zur gnädigen Mutter, ich einen grünen finstern Gang – was ich hörte (ich konnte nicht bemerkt werden) will ich aufschreiben.


FRAU v. W. Und das Geld?
KLEINE. Verschenkt, gnädige Mutter.
FRAU v. W. Wem?
KLEINE. Einem bösen, bösen Jungen.
FRAU v. W. Damit er gut würde?

KLEINE. Ja, gnädige Mutter! damit er gut würde; er hatte dem lieben Gott einen Vogel weggestohlen, den bot er mir zum Kauf an. Der Vogel schrie zum lieben Gott (singen könnt' er nicht mehr) sehr ängstlich, und der Junge hielt ihn in der Hand, und wollt' ihn nicht gen Himmel schreien lassen. Der Junge muß sich wohl gefürchtet haben, daß der liebe Gott schelten würde. Es bezog sich, wo er stand, als wären es Gewitterwolken.

FRAU v. W. Und du?

KLEINE. Ich gab dem Jungen das Geld und den Vogel gab ich dem lieben Gott wieder. Es wurde gleich so klar, wenigstens mir vor den Augen, ich bildete mir ein (sie sprang dabei), daß ich [274] den lieben Gott sähe, wie er sich darüber freute. Der Junge mag es wohl aus Noth gethan haben.

FRAU v. W. Das denk' ich auch.
KLEINE zur Begleiterin. Desto besser, daß ich dem Jungen alles gab.

EIN FRAUENZIMMER, DAS DIESE LIEBE KLEINE BEGLEITETE. Wir sind im Streit, Ew. Gnaden. Das Fräulein gab ungezählt; so denk' ich, gibt man einem Bettler, allein keinem Dieb.

KLEINE. Wer hat nun Recht?

FRAU v. W. Du nicht völlig, meine liebe Seele! Ei, wenn gleich wieder so ein böser Junge mit des lieben Gottes Vögelchen gekommen wäre, und du hättest kein Geld gehabt?

KLEINE. Dann wär' ich zu Ihnen gekommen, Gnädige!
FRAU v. W. Und wenn ich auch kein Geld hätte?

KLEINE. Ja, dann hätt' der liebe Gott den Vogel strafen wollen. Setzt man doch auch Menschen in's Gefängniß.

FRAU v. W. Mit Recht, aber auch mit Unrecht. – Man muß nicht für sich, sondern auch für andere sparen. Um mehr Gutes zu thun, kann man dingen. Gottes Geschöpf – wer kann das bezahlen? Hätte der Junge den Vogel nicht minder lassen wollen, wär's ein anders. – Was war's für ein Vogel?

KLEINE. Ich habe nicht gefragt, Gnädige! Ich weiß nur, daß es ein Vogel war, und daß er fliegen konnte. Haben Sie's mich nicht gelehrt, man muß nicht nach dem Namen fragen, wenn man Gutes thut. Sie hätten nur sehen sollen, der Vogel konnte vor Freuden nicht recht fliegen! Er war betrunken, aber der Junge mußt's mir versprechen, ihn nicht mehr zu haschen.

FRAU v. W. Du hast gut hausgehalten. – Hier ist wieder Geld.
[275]
KLEINE. Dank, gnädige Mama! Ich glaub' es war eine Nachtigall.
DAS FRAUENZIMMER. Ich nicht.
KLEINE. Sehen Sie nur, gnädige Mutter! Lieschen ist dem Vogel nicht gut.

DAS FRAUENZIMMER. Seit der letzten Nachtigall im Garten ist ihr jeder Vogel eine Nachtigall. Ew. Gnaden waren so gnädig zu sagen, Mensch ist Mensch, aber Vogel ist nicht Vogel.

KLEINE. Wie sie den Vogel verfolgt! da hören Sie selbst, gnädige Mutter!
FRAU v. W. Kind, du hast eine Seele.
KLEINE. Die Ihrige, liebe Mutter!
FRAU v. W. Gott segne dich.
KLEINE. Auch Sie! liebe Mutter, auch Sie reichlich und täglich!

FRAU v. W. Aber, was meinst du, Kleine! Des Jungen wegen sollst du Lieschen Recht geben. Sah er dir denn so bös aus, daß er eine Nachtigall dem lieben Gott stehlen könnte?

KLEINE. Bös' wohl! aber freilich so bös' nicht.
FRAU v. W. Ich denke, Judas der Verräther hat in seiner Jugend die erste gefangen.
KLEINE. Lieschen hat Recht – ich Unrecht! es war keine Nachtigall.
FRAU v. W. Also hat Lieschen Recht?

KLEINE. Recht! und ich Unrecht, ein so betrübtes Vögelchen, als eine Nachtigall! o! wer kann das drücken – ich möcht' es gern trösten, wenn ich könnte.

FRAU v. W. Es scheint zuweilen, daß es sich selbst tröstet; als wenn es schluchzt und wieder lacht.

KLEINE. Ja, Gnädige! und dann bin ich so froh! so froh! aber wie kann man im Augenblick weinen und lachen?

[276]

FRAU v. W. Lachen und Weinen hat einerlei Züge, mein Kind! Sey darum auf die Nachtigall nicht böse. Es ist weit leichter, daß Einer, der weint, lacht, als Einer, der ernsthaft ist. Wenn wir einen Betrübten zum Weinen bringen, haben wir ihn bald zum Lachen – das trifft uns Weibchen mehr, als das andere Geschlecht.


* * *

Ich konnte nicht länger verborgen bleiben, und legt' es dazu an, daß wir zusammenstießen.

FRAU v. W. Der Garten ist schön.
ICH. Gnädige Frau! ich hab' ihn nirgend schöner gesehen, als im ersten Buch Mose.
FRAU v. W. Da haben Sie ihn auch nicht schöner gesehen, sondern schöner gelesen.
ICH. Ich bitt' um Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich die Bibel lese, seh' ich alles, was ich lese.
FRAU v. W. Mich dünkt, ich sehe den Herrn vom Hause, wenn ich diesen Garten sehe. Sein Ebenbild –
ICH. Jeder Garten, gnädige Frau! glaub' ich, ist des Eigenthümers Ebenbild, oder sollt' es seyn.

FRAU v. W. Sollt! allein wer legt seinen Garten nach der Natur der Gegend und des Landes an? – Ein Garten, der die Ehre gehabt, in's Geschrei zu kommen, ist die Vorschrift zu zehn und zehn, zu fünfzig und fünfzig, zu hundert. Durch Gärten kann man, denk' ich, noch weit eher, als durch Haus und Hof Geschmack zeigen. Umstände sprechen hier mit, und die Mode hat keine Stimme.

ICH. Der beste Garten indessen ist ein Gefängniß, wenn er umzäunt ist. Das Paradies war die Welt, und die Welt das Paradies.

FRAU v. W. Sind wir aber bestanden in der Wahrheit?
[277]
ICH. Die gnädige Frau sagen da einen großen Gedanken! Der Sündenfall war der erste Zaun.

FRAU v. W. Jetzt können wir schwerlich uns ohne Zaun behelfen. Er kann sich aber allmählig verlieren – und dann lasse ich ihn gelten. Hecken sind mir weit unausstehlicher.

ICH. Ein lebendiger Zaun!

FRAU v. W. Ein schönes Leben, das unter der Scheere des Gärtners steht. Mir kommt jede Hecke wie ein Tanzboden vor, man lehrt die armen Bäume die Beine gerade setzen, in die Quere treten, Brust heraus, und andere Possen mehr – und wenn man noch dazu Hecken an seine Fenster anlegt, ist's mir völlig unerträglich. Ich habe einen Amtmann, der sich eine Fensterhecke von einem armen Feigenbaum gemacht hat. Die Kleine da sagte, der Feigenbaum sey ans Kreuz geschlagen.

KLEINE. War er's denn nicht, Gnädige?
FRAU v. W. Ja, mein Herz.
KLEINE. Und ganz unschuldig?
FRAU v. W. Ganz.
ICH. Gnädige Frau, das Sprichwort:

Fische fangen und Vogelstellen

Verdirbet manchen Junggesellen.


erklärt mein Vater vom Herzen.

FRAU v. W. Und sehr richtig. Wer in der Jugend Vögel in die Festung bringt und Fische anführt – wird ein Betrüger, und wenn es hoch kommt, grausam und –

ICH. Ich weiß nicht, gnädige Frau! ob ein Amtmann, der dem Feigenbaum Daumen schraubt und ihn torquirt, es mit den Bauern nicht so zu machen Lust hat, als mit dem Feigenbaum? – Dem Baum fehlt nur ein lebendiger Odem.


Die gnädige Frau ward abgerufen, und ich sah mich mit der kleinen Fräulein an, ohne daß wir alle beide mehr thaten, als lächeln. Ich [278] weiß nicht, wie das kommt, daß junge Mannspersonen gegen Kinder so blöde sind! Frauenzimmer sind in diesem Stücke dreister. Sie können eher an ihre Bestimmung denken, als es uns nach der jetzigen Einrichtung erlaubt ist. Oft, wenn ich auf diese Art mein unschuldiges Minchen mit kleinen Kindern sich abgeben und spielen sah, fielen mir die Worte ein: Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht

des himmlischen Vaters. Daß ich gegen eine große Dame nicht blöde gewesen, siehe oben. Das Daumenschrauben und Torquiren hätte ich unterwegs lassen können, wie es mir gleich, nachdem ich's gesagt hatte, einfiel. – Die Frau v. W. kam wieder.


FRAU v. W. Was ist dir?
KLEINE. Liebe Mutter, da flog es – das Mückchen hat mir viel Blut abgezogen.
FRAU v. W. Ich hoff' auf eine gute Manier.
KLEINE. Nicht völlig, noch nie hat's mich so geschmerzt.
FRAU v. W. Bist du böse?
KLEINE. Nein, liebe Mutter! ich wünsch' ihr wohl zu bekommen.

FRAU v. W. Gut, mein liebes geduldiges Kind. Sehr gut! dein Bruder hätt' es morden können, allein wir Frauenzimmer müssen keine Mücke tödten. – Wir sind zur Geduld geboren. Verjagen höchstens.

KLEINE. Das wollt' ich schon, ich überwand mich doch.
FRAU v. W. Bist du nicht froh drüber?
KLEINE. Sehr froh.
FRAU v. W. So ist's immer, wenn man sich selbst was abgeschlagen hat.
KLEINE. Und nun sticht's auch nicht mehr.
FRAU v. W. Alles Leiden ist kurz, Mückenstich –
KLEINE. Im Himmel werden keine Mücken seyn! Meinetwegen könnten sie – stechen werden sie da nicht.
[279]
FRAU v. W. Gewiß nicht.

KLEINE. Und wenn auch, ich bin's gewohnt. Der liebe Gott helfe nur dann meinem Bruder, der den Mückentodtschlag in der Hand hat.


Wir gingen, ohne zu reden, eine lange Weile.

FRAU v. W. Das werden späte Erbsen werden.
KLEINE. Die da ging eben auf, wie ich hinsah.

FRAU v. W. Das nicht, mein Kind! man sieht nichts aufgehen. Man sagt daher, Gras wachsen hören; zum Sehen hat's keiner gebracht.

KLEINE. Die beiden dort sind, so wie mein Bruder und ich, nach der Größe.

FRAU v. W. Sieh nur her, wie behutsam diese Aufgehende die Erde auf ihrem kleinen Rücken trägt. – Sie hebt sie, sie ehrt ihre Mutter.

KLEINE. Das ist ihre Schuldigkeit.
FRAU v. W. küßte ihre Tochter herzlich.

* * *


KLEINE. Sehen Sie doch, Gnädige, wie hoch der Baum ist. Der babylonische Thurm war wohl weit höher?
FRAU v. W. Weit.
KLEINE. Den hätte ich sehen mögen!
FRAU v. W. Ich auch!

ICH. Mein Vater erklärt ihn so: Gott wollte, die Leute sollten nicht zusammenbleiben, nicht in die Höhe bauen, sondern in die Länge, und die Erbe benutzen, die Gott ihnen angewiesen hatte.

FRAU v. W. Ich hab' oft gedacht: dadurch, daß sich die Menschen vertheilten, entstand die Verschiedenheit der Sprachen.

ICH. Wollte Gott, wir sprächen alle Eine.
[280]
FRAU v. W. Dann würden viele nicht in den Himmel wollen, so schön würd' es in der Welt seyn.
KLEINE. Des Thurmes wegen muß ich auch französisch lernen!
FRAU v. W. Hast du Ursach', dich zu beklagen?

KLEINE. Nein, Gnädige! ich beklage nur Sie – und doch könnt' ich öfter herumlaufen – wäre der babylonische Thurm und das Französische nicht.


Es war Mittag und alles fand sich von selbst zusammen. Frau v. G. – hielt bei allem Hochdünkel sich nicht zu vornehm, die Tafel zu bereiten; die Küche nicht – und das steht keiner Dame an; höchstens einen Ueberblick.


FRAU v. G. Darf ich bitten –

HERR v. G. Was meinen Sie Zu meinem Vater. das sagt meine Frau gutherzig und allerliebst. Ich habe sie bloß dieses darf ich bitten wegen geheirathet. Ich hall's ihr bloß nach, darf ich bit ten. – Herr Bruder, Herr Pastor, Herr Bruder, Herr Bruder, wie ihr alle steht.

FRAU v. G. Ich bitt' –


Man ging Hand in Hand, ich mit der Kleinen v. W. – und (ich rede von der Tischgegend, wo ich war) wir saßen. Der Herr v. W. – (er hatte sich herunter genöthigt), gradüber wohlbedächtig Herr Hermann. Der Herr v. G. –, die Kleine v. W. –, mein Vater, der junge Herr v. G. –, noch allerlei vom Unterhause und Ich.


HERR v. W. Alle Feierlichkeiten, Herr Bruder, gehen zuletzt auf Schmausereien hinaus.

HERR v. G. Beim Tisch macht alles Friede, da verliert matt das Uebel und das Gute empfindet man lebhafter.

HERR v. W. Ich glaube, daß man nach Beschaffenheit des Gemüths auch den Tisch einrichten müßte.
HERMANN. Und ihn mit Cypressen oder Myrthen bestreuen.

HERR v. G. Ich nicht! jeder Tisch muß fröhlich seyn, wir [281] müssen mit Danksagung empfahen und zu uns nehmen, und uns auf Gott verlassen lernen.

PASTOR. Alles, was groß ist, geschieht bei Tische. Das Paradies ging bei Tische verloren, Monarchien und Regenten entstanden und gingen unter bei Tafel; alle Ehen werden im Himmel und bei Tische geschlossen. Jemanden zu Tische bitten, ist die feinste Art zu bestechen; hat man den Revisionscommissarien nur einmal zu essen gegeben, ist das Spiel gewonnen. Bei Tische kommt der Mensch seinem natürlichen Zustande näher. Der Vornehme sieht, daß er hier mit dem Geringern gleichen Appetit hat; da er mit ihm aus Einer Schüssel ißt, aus Einer Flasche trinkt, fängt er an, ihn für seines Gleichen zu halten. Alle Herzenssachen, wozu ich den größten Theil der Religion zähle, gehören vor einen weißbedeckten und mit Essen und Trinken besetzten Tisch. Die christliche Religion gibt uns hiezu viele Gelegenheit.

HERR v. G. Recht, lieber Pastor! Magen und Herz sind Nachbarskinder, sowie sich die Drüsen im Munde und Magen verwandt sind. Was jene reizt, bringt diese in Bewegung. Bei Tisch lernt man thun, wirken, in den Schulen lernt man reden. – Mit meinem Freunde muß ich genießen.

PASTOR. Die herzliche Beredsamkeit, wo eine Einsylbe oft mehr gilt als ein prahlendes: Allerseits nach Stand und Würden, ist auch bei Tisch zu Hause. Bei Tisch wird man nicht alt. Sehr richtig. Was uns hiedurch an Zeit abgeht, ersetzen Stärke, Gesundheit und eine lachende, alles leicht findende Stirn. Hiedurch richten wir in einer Stunde mehr aus, als ein Kurzesser in einem halben Tage.

HERR v. G. Es lebe Luther und seine Tischreden! – Ein schönes Stück von ihm, eine Ehrensäule für die Menschheit. – Hätt' er die nicht nachgelassen, ich würd' ihn lange nicht für das halten, was er war. Die Fröhlichkeit, die Freundschaft an einem [282] wohlbesetzten Tisch, die Gerechtigkeit, lieber Pastor, und ihre Ausübung, an einem rothbehangenen unbesetzten Tisch.

PASTOR. Sie muß nüchtern verwaltet werden. Wer am besetzten Tische Recht spricht, beugt das Recht. – Viele Leute sind der Meinung, man müsse nüchtern schwören, und halten es für Mißbrauch des Namens Gottes, wenn sie gefrühstückt haben. Ein Richter muß aber keinen Wein trinken, wenn er Recht spricht. Er sieht gleich alles anders an. Mit der Gerechtigkeit ist es eine besondere Sache, ein einzig Gläschen macht oft einen andern Menschen; wer mitleidig ist, weicht vom Wege ab und –

HERR v. G. Mit Ihrer gütigen Erlaubniß, ich glaube, daß es zu manchen Begebenheiten auch besondere Gerichte gäbe. Unsere lieben Alten sind uns darin rühmlichst vorgegangen.

HERMANN. Eben hierdurch wird das Essen schmackhaft. Vielleicht könnte man trostgebende, glückwünschende Gerichte erfinden.

HERR v. W. Ich habe noch niemand frische Milch mit saurem Gesicht essen gesehen.

PASTOR. Die Natur hat zwar jedem Essen seine Jahreszeit angewiesen, alle aber kommen am Ende darin überein, daß wir dabei fröhlich und guter Dinge seyn sollen. Nennen Sie mir eine Schüssel, die Thränen auspreßt?

HERR v. W. Der Grad des Vergnügens indeß könnte verschieden seyn.

HERR v. G. Hiebei kommt viel auf die Einbildung an. Nachdem eine Schüssel selten, das ist vornehm gehalten wird.

Aber, meine Herren da unten, die Suppe wird Ihnen kalt.

HERR v. W. Freilich! bei ihr sollte nicht gesprochen werden.

PASTOR. Wer sie ißt, wird sich von selbst hüten. – Man [283] kann leicht dabei den Weg verfehlen. – Suppe geschickt zu essen, ist sehr schwer – ich esse keine.

DREI STIMMEN, BASS, TENOR, DISCANT. Keine?
PASTOR. Alexander auch keine.
WIEDER DREI STIMMEN. Keine?

PASTOR. Suppen sind für Kranke, es sind Fleischessenzen, und für Leute, die kein Fleisch mehr verdauen können.

HERR v. G. Ich bin nicht darauf gefallen, aber der Pastor hat Recht. – Braten ist das natürlichste, wenn von Fleisch die Rede ist.

PASTOR. Wer Fleisch und die davon erpreßte Suppe ißt, ißt den Kern und nachher die Schale, genießt den Saft und hinterher die Hülse.

HERR v. W. Wenn Sie mir gleich nicht besondere Festtagsgerichte gestatten, Nationalspeisen werden Sie mir wenigstens zugeben?

PASTOR. Gern, und da ist beim Engländer Braten, bei dem Deutschen Mehlspeise, beim Franzosen Kraut auf dem Felde. Die Deutschen sind Männer des Tisches. Sie sitzen lange dabei, ihr Tisch ist der beste. Kein Wunder, daß sie am längsten dabei weilen. Sie sind die gastfreiesten, die menschlichsten Esser und Trinker.

HERR v. G. Katholiken kochen vortrefflich Fische.

PASTOR. Noch lehrt beten. Wenn ich zu reformiren hätte, müßte das schöne Geschlecht, wenn es ja kochen soll, mit strenger Ausschließung alles dessen, was Odem gehabt, sich auf Milchspeisen und Gemüse einschränken. Kein Fleisch und Fische müßten sie kochen, sondern bloß natürliche Gerichte würden zu ihrem Departement gehören. Obst aus Frauenzimmerhänden ist beinahe wie vom Baum.

[284]

HERR v. G. Obst, Pastor, denk' ich, sey die natürlichste Speise in der Welt.

PASTOR. Es ist ein paradiesisches Essen, ein Manna, das noch vom Himmel fällt, wonach alle Kinder einen Erbgeschmack mit auf die Welt bringen.

HERR v. G. Obst ist die gesundeste Speise unter allen. Nach Obst Milch und Honig.

PASTOR. Ich bin nicht von denen, die schon das liebe Brod in der Welt zu gekünstelt finden, und sich auf die allerersten Naturelemente reduciren wollen. Wer mir aber Obst verachtet –

HERR v. G. Ist ein verderbter unnatürlicher Mensch. Er hat seine Unschuld verloren und trägt davon das Malzeichen an sich. Pastor, ein Glas Wein aus den Händen eines Frauenzimmers –

PASTOR. So wie ein Glas Wasser und aller Trank aus ihren Händen. Der Trank ist mehr der Kunst entgangen als die Speisen, und aus Gottes Händen ziemlich unverfälscht auf uns gekommen. Ein Glas Wein bei der Quelle.


Wie bange mir bei dem Worte Quelle ward, können sich meine Leser nicht vorstellen. Ich habe wenigstens ein Quartblatt, dicht geschrieben, drüber verhört, und doch ging es glücklich ab, obgleich eine allgemeine Stille darüber ward.


HERR v. G. Säle sind gut, nach Tische hineinzugehen. Beim Speisen ein schmales Zimmer, um nah zusammen zu seyn. Man hat sich mehr.

PASTOR. Daher ein runder, ein Artustisch und eine kleine Gesellschaft. – Wir sitzen hier an einer deutschen Tafel in allem Betracht.

HERR v. G. Was meinen Sie, Pastor, von den vielen Schüsseln? Ist nicht Eine genug?

PASTOR. Viele Schüsseln verlängern den Tisch und mithin [285] auch das Vergnügen. Es ist wahr, es reizt mehr zu essen; indessen liegen in uns auch vielerlei Appetite. Sobald es wahr ist, daß wir Fische, Fleisch, Obst, Gemüse essen können, daß die Natur eine Schatzkammer für uns sey, so seh' ich nicht ab, warum wir geizen sollten.

HERR v. G. Es ist auch schwer, ein einziges Gericht, das für sich selbst besteht, zu nennen.
HERR v. W. Fleisch mit Rüben.
HERMANN. Das sind schon zwei mit Ew. Hochwohlgeboren Erlaubniß.
HERR v. W. Braten und Salat.
PASTOR. Ohne Salat wollen Ew. Hochwohlgeboren sagen.
HERR v. W. Ja, ohne Salat.

PASTOR. Ich esse auch keinen Braten mit Salat. So eine Hauptschüssel, so eine natürliche Schüssel braucht keine Anreizung.

HERR v. G. Und warum? Beim Tanz muß Spiel seyn.
PASTOR. Beim Tanz, allein beim Gange nicht.

HERR v. G. Ich hab' es von einem Beobachter, der im Vorzimmer eines vornehmen Mannes bemerken konnte. Ein Franzose kam, ging an den größten Spiegel im Zimmer und schnitt Capriolen; ein Engländer setzte sich aufs Kanapee, ein Deutscher stellte sich an den Ofen, ein Russe ging an den kleinsten Spiegel und zog sich die Haare in Ordnung. Wär' ein Curländer gekommen, der hätte sich die Stiefeln aufgebunden, und ein Pole den Bart gestutzt. So, lieber Pastor, sind diese Leute auch am Hofe, an der Tafel, als Schriftsteller.

PASTOR. Um Verzeihung! ich würd' in Europa nur vier Völkern Sitz, Tisch und Stimme erlauben: Engländern, Franzosen, Deutschen – und einem Volk in Norden. – Vier Hauptwinde, der Engländer Ost-, der Franzose Süd-, der Deutsche Westwind, und das Volk in Norden der Wind seines Namens.

[286]

HERR v. G. Curland würde dieses Volk wohl schwerlich heißen – aber, Pastor, der Tischstyl ist allgemein – leicht, nicht wahr? – Man könnte den französischen zum Muster vorschlagen.

PASTOR. Warum das? je nachdem der Mann, der spricht, je nachdem das Gastmahl, je nachdem der Styl. Der hört die Austern wie einen russischen Fuhrmann pfeifen, der läßt sie erst verstummen vor ihrem Scheerer, der ißt sie mit Haut und Haar, der barbiert sie erst! Fremde Gewürze verderben das Essen und das Gespräch; die liebe Natur muß bei Tafel präsidiren.

HERR v. G. Ich bete nicht eher, als bis Salz auf dem Tische ist. – Es ist ein Sinnbild vom Verstande, und ich denke, gewisse Art Leute müssen bei Tisch nie anders reden, als daß es zur Noth aufgeschrieben werden könnte. Der Tischstyl und der Briefstyl sollte freilich aus der ersten Hand seyn; wer kann Natur genug predigen? Wir sind wie Affenleiter, wie Bärenleiter, die ihre Thiere schlagen, wenn sich selbige vergessen und zur Natur kommen. Gemeine Sprache ist Wassersuppe. Ausgesuchte Worte sind Canel, Muscatennuß; es fällt auf die Zunge; allein es macht Hitze. – Lieber Pastor! gießen Sie Oel in meine Lampe, sonst geht sie aus.

PASTOR. Sie brennt trefflich!


Der junge Herr v. G. fing an, mir etwas leise zu sagen.

Der alte Herr v. G. verlangte, daß er's laut sagen sollte und der junge Herr v. G. verstummte.

Eine Weisung vom Herrn v. G. dem ältern, bei Tische nicht leise zu reden. Es sieht, sagte der alte Herr v. G., nach Verräthern aus.

Herr v. W. setzte hinzu: und ist ein Verstoß wider die Höflichkeit.

Obgleich eben diese ungebetene Anmerkung ein dergleichen Verstoß war.

[287] Wir waren bei Fischen. Herr v. G. behauptete, es gäbe Gerichte, bei denen man nicht sprechen müßte.

Sie leiden es nicht, sagt' er, und wollen durchaus, daß man sich mit ihnen allein beschäftigt. Sie sollen auch besser schmecken, wenn sie still gegessen werden. – Fische, fuhr er fort, sind von der Art.


PASTOR. Es gibt Augenblicke, wo man auch beim Fleisch, beim Brode nicht sprechen kann. Anakreon starb, weil ihm eine Traube in die unrechte Kehle kam.

HERR v. G. Lassen Sie uns Probe essen.
HERMANN. Du bist stumm wie ein Fisch, sagt man.
HERR v. G. Dumm, wie ein Stockfisch, sagt man auch.

Man machte eine Pause, und die Sache blieb nach einem langen Stillschweigen unausgemacht, obgleich beinahe jedes Gräten bekam, weil sich keins des Lachens enthalten konnte. Ich gewinne bei diesem Carthäuser-Silentio, und meine Leser, furcht' ich, auch. Am Ende blieb es unausgemacht, weil ein verabredetes Stillschweigen keine Probe seyn könnte. Herr v. G. war dieser Meinung.


PASTOR. Wer mit mehr als zweien bei Tische spricht, muß sehr lustig seyn, sonst verliert der vierte. Mit zweien muß man sprechen; denn man ist freilich bei Tische nicht immer in den Umständen sprechen zu können. Drei wechseln sich beständig um. Unvermerkt kommt's an jeden. Sind vier, spricht selten mehr als einer. Zwei können nur streiten, der dritte entscheidet; dieses aber muß nicht als gravissimus praeses, sondern als Nachbar seyn.

HERR v. G. Was meinen Sie, Pastor! wie man spricht, ißt man, wie man ißt, kleidet man sich.

PASTOR. Nicht immer. Ein Stolzer kleidet sich prächtig, ißt schlecht, und spricht schwülstig; ein Wollüstling –

HERR v. G. Wird zugegeben, ich mein' es anders.
PASTOR. Alles dreies zeugt von Geschmack.
[288]

HERR v. G. Das meint' ich. Was gebilligt wird ist gut, was vergnügt ist angenehm, was gefällt ist schön. Ich glaube, wir thun dem Herrn v. W. einen Gefallen, wenn wir von Kleidern sprechen. Er wechselt drei- bis viermal an manchem Tage.

HERR v. W. Niemals ohne Ursache, Herr Bruder. Ich geb' jedem Tage, jeder Stunde, was recht ist.
HERR v. G. Das ist eine gute Uebung in der Gerechtigkeit.
HERR v. W. Herr Bruder, du hast, wie Christianus der Zweite, im Mutterleibe geweint.
PASTOR. Wie Christiernus.
HERR v. G. Und was weiß ich, wie wer im Mutterleibe gelacht.

HERR v. W. Ich schicke mich in die Zeit, und bin ein festlicher Mann, das ist: die vergnügten und traurigen Vorfälle meines Lebens sind mir beständig im frischen Andenken. Oft traur' ich an demselben Tage und bin fröhlich an demselben Tage.

PASTOR. Sehr natürlich! – Selten ist ein Tag, der nicht seine Plage hat.

HERR v. W. Alles dieses drück' ich durch Kleider aus. Man hat Trauer-, warum denn nicht Freudenkleider?

HERR v. G. Da hat der Herr Bruder einen guten Gedanken, an Freudenkleider denkt niemand, und doch sollte man Freudenfarben und Freudenkleider erfinden, und sie dazu privilegiren. So was hat Einfluß auf uns. Wenn ich Pleureusen, Trauersäume –

PASTOR. Pharisäersäume!

HERR v. G. Gehe, ich bin betrübt. – Es erinnert mich an alles Trübe des Lebens – ich fühle die Krankheit von weitem, an der ich sterben werde. Das, glaub' ich, fühlt jedes, wenn es betrübt ist.

[289]
HERR v. W. Man theilt die Trauer in halb und ganz ein; ich theile sie in Viertheil –
HERR v. G. Das ist, nach dem Monde – ich bin nach der Sonne, immer ganz, Herr Bruder!

PASTOR. Nur nicht immer Mittagssonne oder Mitternacht! – Sind Morgen- und Abendröthen nicht die schönsten Stücke am Tage? Gibt's nicht eine gewisse Ruhe, die besser ist als Tanz und Jubel? Warum immer Adagio, oder Allegro? – Das männliche Alter ist die Mittagssonne. Die Jugend aber hat ihren Reiz, und das Alter hat auch sein bescheidenes Theil. Das Alter genießt, es verweilt, wenn die Jugend herumwankt und vom Hoffnungswinde hin und her getrieben wird.

HERR v. W. Ew. Wohlehrwürden bin ich ergebenst für diese Hülfsvölker verbunden.
HERR v. G. Ein Viertheil oder halb ergebenst – ganz ergebenst sagst du wohl nur zum Präpositus.
HERR v. W. Getroffen! Alles sein Gewicht, und Wage!

HERR v. G. Gott erbarm! So ein Curländer! Solang das Land steht, hat es solche höfliche Männer nicht gehabt, als dich und deinen Waffenträger, den Hermann. Wir gehen in Stiefeln! und du, Herr Bruder, wie ein Papst, in Pantoffeln. Schuhe sind dir schon zu schwer.

HERR v. W. Die Frage ist, wie's sich leichter geht? – Wir haben darüber schon so oft und viel gesprochen – ich behalte meine Weise, und lass' jedem die werthe seinige.

HERR v. G. Eins indessen, Herr Bruder, mit deiner Erlaubniß. – Warum bleibst du im Cirkel deiner Familie? Du solltest ein Path' und Leichenbegleiter und Hochzeitsgast von der ganzen Welt seyn, und als ein Kosmopolit –

HERR v. W. Das Hemde, ob es gleich nur von Linnen ist, bleibt uns näher als das Kleid. Wenn die Noth der ganzen [290] Christenheit mit der meinigen stimmt, und wenn ich sie weiß, accompagnir' ich gern. So auch mit der Freude.

HERR v. G. Und wenn ich sie weiß? Geschichte, Herr Bruder, Geschichte –
HERR v. W. Aber Zeit! Geschichte ist Zeitvertreib.
HERR v. G. O! du edle Zeit! Kein Missethäter wird so behandelt, als du!

HERR v. W. Von ungefähr hab' ich manches erfahren, und ich läugne es nicht, es gibt gewisse an sich rothe Tage, im Staats- und Hof-, so wie im Hauskalender, als da ist der einunddreißigste Julius.

HERR v. G. Darf ich –

HERR v. W. Benedictus I., der LXII. römische Papst, starb an diesem Tage, und auch Ignatius Lojola im fünfundsechzigsten Jahre seines Alters. Mein Großvater ist am nämlichen Tage, gleichmäßig im fünfundsechzigsten, meine Mutter am nämlichen Tage im zweiundsechzigsten Jahre verstorben.

HERR v. G. Das ist ja ein rechter Pesttag.

HERR v. W. Nicht genug. Mein Sohn Casimir bekam am nämlichen Tage die ersten Zahnsprossen, und starb acht Tage nach diesen Todeskeimen. Meiner Mutter Bruder brach ein Bein, und –

HERR v. G. Spare deinen Zinnober, schon roth über roth! – Zweiundsechzig und fünfundsechzig! Du sprachst die Zahlen so feierlich, so groß aus, daß ich ordentlich römische Zahlen hörte – ich kondolire von Herzen. An dem Tage wohl ganz tiefe Trauer?

HERR v. W. Du willst spotten – allein man lebt nur durch dergleichen Kunstgriffe, sonst betrügt man sich um das Leben. Kleider sind das, was Ceremonien in der Kirche sind.

HERR v. G. Das letzte mag seyn, das erste nicht also. Du, hochzuverehrender Herr Bruder, du! du selbst bist der größte Lebensbetrüger, [291] den ich kenne, du lebst die vorige Zeit so vielmal, du wiederholst dich selbst so oft –

HERR v. W. Ich mische Wasser und Wein, Herr Bruder, das Vergangene und das Gegenwärtige.
HERMANN. Wasser macht weise, und fröhlich der Wein.

HERR v. G. Wer weise ist, Herr! ist auch fröhlich. – Weg mit diesen Zusammenfügungen, die die Natur nicht selbst veranstaltet, mit diesen elenden Kupplereien. Wasser allein, Wein allein.

HERMANN. Aber mit Ew. Hochwohlgebornen Erlaubniß –


Hier ist wieder etwas außerhalb der Linie. Dieß Etwas gehört auf die Rechnung der Frau v. G. Sie winkte mir, um mir einige Festfragen wegen meiner Predigt der Frau v. W. zur Lehre und Trost vorzulegen. Meine Leser haben über diese Predigt schon mehr als eine Predigt gehört. Ich antwortete der Frau v. G., bückte mich gegen die aufs Wort merkende Frau v. W., und gern hätt' ich dieses Predigtwasser mit dem weinreichen Gespräch des Herrn v. G. gemischt, wer hat aber Cäsars Fähigkeit? der lesen, schreiben und seine sieben Sachen diktiren konnte. So viel weiß ich, daß Herr Hermann zum förmlichen Waffenträger des Herrn v. W. installirt wurde. – Herr v. G. war Brabevta. Um in der obigen Figur zu bleiben, muß ich es eine Taufe nennen. Jetzt sitz' ich wieder, meinen Lesern zu dienen, an Ort und Stelle.


HERR v. G. Einen Tag, Herr Bruder, will ich dir noch aus der Geschichte zum Geschenk machen. Wenn ich nur, so wie du, römische Zahlen aussprechen könnte. Den achtzehnten April

ICH. Ist Alexander Magnus gestorben.
HERR v. G. Und wer mehr?

ICH. Diogenes aus Sinope, der Cyniker, dem Alexander, obgleich Alexander klein war, doch schon zu viel Schatten machte. Diogenes ist Alexander unter den Philosophen.

[292]

HERMANN. Und auch der Tempel zu Ephesus wurde an diesem Tage eingeäschert.

HERR v. G. Ei! Ei! Herr Hermann, das war ein Pathenpfennig von der Göttin Diana, da Alexander geboren ward.


Man lachte allgemein über Herrn Hermann.

HERMANN. Ich bitte tausendmal um Verzeihung.
HERR v. G. Warum das? Sie haben das Feuer nicht angelegt.
HERR v. W. und FRAU v. W. Zusammen. Der achtzehnte April! unsrer Kleinen Geburtstag.
HERR v. G. Damit ans ihr ein Alexander stamme! Es war eine Gesundheit.
FRAU v. G. Und sie einen Alexander heirathe! Ein allgemeiner Gläseranstoß.

HERR v. W. Du weißt, Herr Bruder, für wen ich sie bestimmt habe Auf den Herrn v. G. den jünger zeigend.

FRAU v. G. zur Frau v. W. Auch ich habe es die Ehre, zu wissen.
FRAU v. W. zur Frau v. G. Warum die Ehre?
HERR v. G. Dann heirathet sie keinen Alexander, der Himmel erfülle also meine Gesundheit.
HERR v. W. Das würde mir ein Fest seyn!
HERR v. G. Das Myrten- oder das Wiegenfest?
HERR v. W. Beide! beide!
HERMANN. Ew. Hochwohlgeboren nehme mir die Erlaubniß, meine aufrichtigsten Glückwünsche –
HERR v. G. Alle guten Dinge, nur kein Glückwunsch.

Eine Gesundheit.


Zusammen: alle gute Dinge!

HERR v. W. Diesen guten Tag muß ein Kleid bezeichnen, das gefallen soll. Du spottest über meine Kleider, Herr Bruder! [293] Alles, was Augen hat, soll diesem Ehrenkleide den gegenwärtigen und den künftigen Alexander ansehen, und alles –

HERR v. G. Gefallen soll, Herr Bruder? Wird, willst du sagen. Man kann nicht sagen: es soll gefallen, sondern wenn es hoch kommt: es wird.

HERR v. W. Da hast du Recht. Mit dem Geschmack muß man complimentiren, ich beicht' und widerrufe mich.

HERR v. G. Pastor! mit Ihrer Erlaubniß, eine kleine Wiederholung über die Farben von gestern Abend; ein Versuch, ob ich behalten habe. Bei den Farben gibt's heilige Zahlen. – Es sind drei Hauptfarben: roth, blau, gelb. Roth ist die älteste Farbe in der Welt; das Chaos war ohne Zweifel roth. Blau ist die Leibfarbe der Erde, gelb die Leibfarbe der Sonne. Die weiße Farbe ist die Seele, das Licht zu allem. – Was denken Sie, Pastor?

PASTOR. Daß wenig oder gar nichts von diesem allem auf meine Rechnung gehöre.
HERR v. W. Theorie, meine Herren, ich bearbeite dieses Feld praktisch.

PASTOR. Mein Satz ist: folg der Natur! Sieh die Lilien auf dem Felde. Die Natur hat nichts, was sich nicht passen sollte. Die Blüth' ist das Kleid; der Spiegel die Weste.

HERR v. W. Schön! wahr! viel gesagt! Wenn ich ein halb trauriges, halb lustiges Fest habe, roth und schwarz – und da kann man Feinheiten anbringen. – Ist der Uebergang von der Trauer zur Freude, so ist das Kleid licht, die Weste dunkel; ist's von Freude zur Trauer, umgekehrt; ist's allmählig, so auch der Uebergang, so allmählig, daß man nichts merkt.

PASTOR. Das erste nennt man es schreit, als wenn ihm auf den Fuß getreten wäre, das andere könnte man: es spricht, nennen, und so könnt's bis ins Ohr so leise herunter kommen.

HERR v. G. Es geht mit den Farben der Kleider vielleicht [294] wie mit den Festen meines Freundes. Es widerspricht sich oft, es paßt nicht alles.

PASTOR. Wenn eine Farbe der andern beinahe gleich ist, sieht es aus, als falle sie ihr ins Wort. Es hat das Ansehen, als wenn eins so wie das andere werden will, und nicht werden kann. Das verdrießt den Zuschauer, er sieht keinen erwünschten Ausgang ab. Der Knoten bleibt geschürzt. Also eine solche Farbenwahl, daß wegen ihres Unterschieds kein Zweifel bleibt.

HERR v. G. Blau und roth! Die preußische Uniform!

PASTOR. Ganz recht; allein die Weste sollte roth, das Kleid blau seyn, und das der Vermischung wegen. Diese entsteht, wo die Farben recht zusammenstoßen; denn hier wird selbst diese Vermischung eine begreifliche in rerum natura existirende Farbe. Ist das Kleid roth, die Weste blau, gibt die Vermischung ein schmutziges, ein ekles Roth. Es sollte jedes Land seine Uniform haben, jetzt tragen sie höchstens die Soldaten.

HERR v. G. Jede Uniform kleidet. Wenn ein Officier seinen Dienstrock auszieht, ist's oft so, als wenn er Anstand und Geschmack und alles mit ausgezogen hätte.

PASTOR. Uniform kleidet. – Sie haben Recht, allein warum? Die meiste Zeit, weil sie Gesetz ist. Man nimmt's nicht so genau. Man weiß, daß man sie tragen muß. Ist dieser Zwang vorbei, sieht man den Menschen in naturalibus.

HERR v. G. Pastor, Sie hatten gestern Abend den Einfall, daß die Worte Kleider der Gedanken wären, und daß man sich auch hier Farben denken könnte. Wahrlich, manches Wort ist wie ächte, manches wie unächte Farbe, manches Wort ist ein violettes, grünes, rothes Kleid.

HERR v. W. Ich hab' indessen Leute gekannt, denen vom Rothen übel ward. Es war ihnen ein Ach und Wehgeschrei.

PASTOR. Es ist die härteste Farbe, der Stand der Natur, [295] der Stand der Wilden. Die Jugend scheinen helle, einfache, das Alter zweifelhafte, vermischte Farben zu kleiden. Jene könnte man kühne, diese bedächtige Farben nennen. Den Blonden kleiden blasse, oder ganz schwarze Farben; jenes wegen der Harmonie, dieses wegen des Contrastes. Den Brünetten kleiden harte Farben. So gibt's auch seidene, baumwollene Gesichter, und Gesichter von Garn. – Ich halte dafür, ein jeder Mensch, ich sage Mensch, muß seine königliche, priesterliche und prophetische Stunden, und auch so seine dreierlei Kleider haben. Meine Frau hat mich darauf gebracht. So stimme ich mit dem Kleiderschmuck Sr. Hochwohlgeboren des Herrn v. W., und so weich' ich von ihm ab. König geht eigentlich auf die vergangene, Priester auf die gegenwärtige, Prophet auf die künftige Zeit; indessen gibt es Zeiten, wo die Minute, wo der Augenblick den König, den Priester, den Propheten fordert.

HERR v. G. Pastor, die Idee gefällt mir, ich glaube, jeder kluge Junge, das heißt doch eben so viel, als jeder Mensch, ich sage Mensch – ist König, Priester und Prophet, wenigstens weiß ich mir Zeitpunkte zu besinnen, wo ich König, Priester und Prophet gewesen, und wäre mir das Wort König nicht so gehässig – würd' ich nicht gern mit Cromwell: anstatt dein Reich, deine Republik komme! beten; König wäre meine Lieblingsuniform.

PASTOR. Sie können immerhin ihre republicanischen Fasces beibehalten. Sie dürfen kein nigscher werden, um im Geiste König zu seyn – ich bin für Könige, das heißt was anders, als froh wie ein König seyn.

HERR v. W. Schicket euch in die Zeit, ich schlage Herzog, Priester und Prophet vor.
HERR v. G. In dem Sinn, wie der Pastor es nimmt, ist Herzog von Curland viel zu wenig für mich.

Hier breche ich ein Politisches Gespräch ab, das wie ein Heckenfeuer heraussprang, und wobei mir viel entging. Wie sich dieß Gespräch auf [296] den Aufschlag am Kleide reducirte, weiß ich nicht. Das Ende vom Liede war, daß Curland ein Aufschlag von Polen sey, und daß, wenn ja ein anderer Aufschlag, als von dem nämlichen Tuche, seyn

sollte, er lichter seyn müßte.


HERR v. G. Das wahre Verhältniß von Polen gegen Curland.


* * *


PASTOR. Geschmack ist die Bemühung, unser Urtheil mit andern allgemein zu machen. Die Deutschen werden es nie zu viel Genies bringen, welche Flügel der Morgenröthe haben; sie besitzen aber sehr große Anlage zum Geschmack; alles zu berichtigen, ist ihre Sache. Man könnte den Geschmack eine Galanterie des Verstandes nennen; er will sich bequemen. Der Mensch hat Appetit, heißt: der Wirth ißt an seiner Tafel gut; der Mensch hat Geschmack, heißt: er macht, daß andere mit Appetit bei ihm essen. Ein Genie trägt einen rothen Rock, oder so was; ein Geschmackvoller eine sanfte Farbe. Er will alle Leute bestechen, wenn man so sagen darf. Engländer haben Genie, Franzosen Geschmack, Deutsche beides. Wem es in einem Stück an Geschmack fehlt, wird schwerlich irgendwo Geschmack zeigen. Der Geschmack ist aristokratischer Staat. Geschmack ist das allgemeine Gefallen, Gefühl ist ein Privatgefallen. Geschmack ist das Geschick, die Fähigkeit zu wählen, was jedem gefällt. Gefühl hat man, Geschmack lernt man.

HERR v. G. Von wem aber?

PASTOR. Die Pluralität entscheidet, nicht aber die Pluralität des Volks, sondern von Leuten, die Gelegenheit gehabt haben sich in der Welt umzusehen. Geschmackvolle Leute wissen zu treffen, was allgemein gefällt. Man hat indessen Geschmack bloß anderer wegen. Alles Schöne sucht und liebt man für die Gesellschaft, und man kann es sich kaum vorstellen, was man nicht der Gesellschaft alles zu Gefallen thut. Man wählt ein schönes Weib nicht seinetwegen; [297] man nimmt sie, damit sie andern auch gefalle. Der Eifersüchtige macht hier keinen Einwand, sondern auch er wählt nicht anders.

HERR v. G. Sonderbar, aber wahr.
Oben: hi hi hi ha ha ha! Ein Gelächter in allen ganz und halben Tönen.

PASTOR. Ein Garten gefällt in Gesellschaft; Wald, wenn wir allein sind. Ungesellige haben keinen Geschmack. Man sollte glauben, der Geschmack habe keine Regel, allein er hat seine Regeln. Man kann indessen nur durch Erfahrung darauf kommen.

HERR v. G. Wenn man Freunde hat, sendet man nicht zuvor Kundschafter aus, um zu fragen, was jeder essen will; indessen müßt es doch mit dem Teufel zugehen, wenn man nicht eine Mahlzeit anrichten sollte, die jedem gefiele.

PASTOR. Der nicht krank ist.
HERR v. G. Für den kochen die Aerzte. Der arme Schelm!
PASTOR. Griechen und Römer sind Muster des Geschmacks, und werden es bleiben in Ewigkeit.
HERR v. G. Da bitt' ich um Vergebung.
HERR v. W. Und ich tausendmal wegen der deutschen Sprache.

PASTOR. Wenn Sie ihr das Leben absprechen, gut! so kann auch die deutsche Sprache zu der Ehre kommen, welche der griechischen und lateinischen, eben weil es selige und vollendete Sprachen sind, zusteht. Solang eine Sprache lebt, wird dieß Wort adelich, dieß bürgerlich, dieß bäuerisch, nachdem es die Mode will. Es geht mit den Worten, wie mit den Familien: dieß kommt empor, jenes fällt. Heut' ist es am königlichen Hofe, in der Epopee, willkommen, morgen findet man es schon bis im Schäfergedicht unausstehlich. Gedankenwendung, Denkart, alles ist im ägyptischen Diensthause der Mode. – Gewinnsucht, Eigensinn in der Nation, kann [298] Worte erhöhen und erniedrigen. Alle Münzen in einer lebendigen Sprache sind der Reduction unterworfen – und wenn dann die Tyrannei triumphirt, und Götzengräuel die heiligen Stätten schändet, wenn von den Tempeln des Geschmacks kein Stein auf dem andern ist, wenn Barbarei das Land deckt, sind Homer und Pindar, Virgil und Horaz

HERR v. G. Wenn aber der Geist der Weltweisheit in einem Volke wohnt, welcher Tyrann kann da das Land verheeren?

PASTOR. Philosophie ist Festung, ich gesteh' es, wo ist aber eine, die unüberwindlich wäre? Die Wissenschaften, sie mögen bloß schön oder zugleich gründlich seyn (Kolorit, Geschmack, muß jedes Buch haben, wenn es nicht mathematisch ist), sind mit einander verwandt. Hatten denn die Alten kein Licht in der Weltweisheit? Wo bist du Sonne blieben, singt die christliche Kirche, und meine Frau mit ihr. Die schönen Künste und Wissenschaften sind die Mobilien, die Pretiosen. Die Hände der Noth greifen sie zuerst an; allein am Ende verbreitet sich die Tyrannei über alles – dürr ist das Land, das Volk in Ketten, der Priester des Wütherichs Gevatter – bis ein Heerführer in der Nation hervorragt, Feuer sieht, und nach den Schätzen der Alten gräbt – dann kommen auch tabulae naufragae der Natur zum Vorschein.

HERR v. G. Der Himmel wende diese Gefangenschaft von Deutschland und seinen Gränzen ab, und wenn Deutschland ja Ziegel streichen muß, und ihre Knaben in der Geburt erstickt werden, schenk' er ihnen Mosen, und führ' sie zurück nach Kanaan!

HERR v. W. Ohne durch eine Wüste zu gehen.

PASTOR. Noch ist Deutschland im Werden. Ein schönes Gewächs! wird man bald sagen. Noch ist es weit vom Luxus, der wie das eigene Fleisch und Blut der ärgste Feind ist, ein innerlicher Fresser, ein Bürgerkrieger. – Solang es einfältig ist, [299] schlecht und recht, wie die Natur einhergeht, wer kann es verwüsten?

HERR v. G. Deutschland fing mit Blitz, Donner und Hagel an, und das war (so finster es rings umher aussah, wie kann es anders bei Donner, Hagel und Wolken?) ein deutscher Anfang. Die asiati sche Banise, meiner Frau Leibroman, ist –

HERR v. W. Blitz, Donner, Hagel reinigt die Luft, und alles gedeiht wohl.

HERR v. G. Ich weide mich an der Vorstellung, daß Deutschland, das so vortrefflich zu blühen anfängt, auch Frücht' ansetzen werde zum ewigen Leben.

PASTOR. Wir sehen den Mai, so manches Erste, so manches Neue vom Jahr.
HERR v. G. Deutschland – wie ein Feuerwerk brannt' es ab, Deutschland!
PASTOR. In deutschem Wein.

Wer französischen Wein hatte, ließ sich zu Deutschlands Ehre deutschen geben.

HERR v. G. Wird euch auch so deutsch ums Herz als mir?
Wir tranken noch einmal: Deutschland! und zum drittenmal: Deutschland!

Wir feiern, fing Herr v. W. – an, als ob er den Faden gefunden hätte, den Herr v. G. – und mein Vater verloren, wir feiern das selige Andenken unserer in Gott ruhenden Vorväter, die, wenn gleich sie ein Glas über Durst tranken, dieß und noch mehr in Ehren thaten, und Wein und ein Kuß in Ehren, soll niemand wehren.

HERR v. G. Sie gaben Gott was Gottes, dem Kaiser was des Kaisers, dem Freunde was des Freundes, ihren Weibern was der Weiber war.

PASTOR. Sie waren tapfer, ohne durch ein Aushängeschild [300] ihren Muth zu verkündigen. Frisches, unvergiftetes Blut röthete ihre Wangen, sie liebten ihre Weiber wie Menschen, ihre Freunde wie Engel, wie starke Geister. Sie waren beglaubt ohne Schwur. Wollte Gott, daß ihre Kinder eine solche Denkungsart nie unter das alte Eisen legen möchten!

HERR v. G. Wir feiern die selige Zukunft, da sich die Wissenschaften zu diesen deutschen Eigenschaften wie Weib zum Manne gesellen, und nichts soll dieses Paar scheiden! Jeder, der in Curland deutsch spricht, empfinde, daß er ein deutscher Nachbar, ein Mitdeutscher sey!


Mein Vater schien einwenden zu wollen; allein es blieb beim Schein.

Dieser Gedanke sey der verborgene Hebel, der uns in Bewegung setze, deutsch zu seyn!

HERR v. W. Damit wir uns dem Genie einer Sprache bequemen, die zur Bescheidenheit und zur Höflichkeit, zum Unterschiede zwischen Herr und Knecht geboren ist. So rauh auch unsere Vorfahren waren, so rauh ihre Sprache auf uns gebracht worden, die noch bis diesen Augenblick nicht über alle Botmäßigkeit des Vorwurfs erhaben ist; so sehr unterscheidet sie sich von allen Sprachen, wegen des in ihr liegenden Originalstoffs zur Höflichkeit. Was schadet ein harter Ton, wenn die Kraft der Sprache ihn widerlegt?

Hier entstand Krieg und Kriegsgeschrei. Endlich hatt' alle Fehd' ein Ende. Ein Friedensartikel war, daß Herr v. W. – diesen Tag, als Fest der Deutschen, auf Kindeskind bringen würde.Omne trinum perfectum perorirte Herr Hermann, dem es mit diesem lateinischen Brocken besser ging, als mit dem Tempel der Diana. Fest der Deutschen, fuhr Hermann fort, mütterlicher Geburtstag (die Mutter des Herrn v. W. – hatte an diesem Tage das Licht der Welt erblickt), vorläufiger Verlobungstag. – Man dachte auf feierliche Einweihung dieses Festes, und es ward ein Schäuer gebracht, welchen der Herr v. G. – zu leeren anfing [301] und den er die Runde gehen ließ. Herr v. W. – war außer sich wegen dieser feierlichen Anstalten. Ich hätte dieses wissen sollen, sagte er. An ihn kam der Schäuer zuletzt. Sein Dank war rührend. Der gute Mann jammerte mich, und, wie ich hoffe, wird er alle meine Leser jammern. Er ließ eine Thräne in den Wein fallen, die er lange gesammelt hatte. »Diese heilige Thräne,« fing er an, »Allerseits Hochwohlgeborne, Wohlehrwürdi ger und Hoch-Edler, Hoch- und Werthgeschätzte Herren und Freunde, diese heilige Thräne,« mehr erlaubte ihm die Wehmuth nicht. – Da man einsah, daß Herr v. W. – kein Wort mehr in seiner Gewalt hatte, fing mein Vater an:

PASTOR. Wer allein trinkt, schämt sich. Wer in Gesellschaft trinkt, stärkt sein Leben. – Wir bringen uns durch den Trunk in Norden in ein besseres wärmeres Klima. Wir sind im Geist in dem Lande, wo der Wein gewachsen ist, den wir trinken; Branntwein macht heimlich, Bier schwer, Wein gesellig.

HERR v. G. Im Weine ist Wahrheit.

PASTOR. Das Temperament nicht, aber die Gesinnung kann man durch den Trunk beim Menschen erkennen – allein auch das Essen verändert den Menschen, und öffnet verborgene Kammern. Leute, die sich im Trinken vor Spionen hüten, sind nur auf einer Seite gedeckt. Ist der Mensch trunken, so ist er schwach, und das ist Glück für ihn, sonst würde er seinen Phantasien nachlaufen und Schaden nehmen; so wie ein Nachtwandler, wenn er die Augen brauchen könnte. Der Wein löst die Zunge bei Leuten, die in sich gekehrt sind. Schwätzern, die einen witzigen Einfall zu verbeißen für Kindermord halten, und ihre Schwangerschaft nicht verheimlichen, sondern lachen, ehe sie noch entbunden sind, Schwätzern stopft der Wein den Mund. Es ist diese Wirkung eine besondere Sache; indessen bestätigt sie die Erfahrung. Jeder kluge Mann spricht, wenn er ein Glas getrunken, und jeder Narr verstummt, und [302] wenn er ja zu sprechen sich erkühnt, ist es so etwas Unausstehliches, daß niemand lacht, als er selbst. – Anderer Art Narren, die sich nur dadurch von ihm unterscheiden, daß sie nicht lustige Rollen spielen, sondern stillnärrisch sind, selbst die achten sich zu gut, Theil an ihren beredten Landsleuten zu nehmen. – So unterschieden, wie Bauern und Astronomen den bestirnten Himmel ansehen, so unterschieden ist hier die Wirkung des Weins.

HERR v. G. Pastor, für dieß Wort zu seiner Zeit. Das Wort zu seiner Zeit!


Sie tranken alle.


PASTOR. Leute, die eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die im Staat bezeichnet sind, können sich nicht betrinken, ohne sich verächtlich zu machen – wie zum Exempel Pastores und Juden. Alles läuft ihnen nach. – Man sieht den Noa, wenn man einen trunkenen Pastor und Juden sieht. In England, wo ein Prediger kein Erzvater ist, würde es weniger anstößig seyn, einen kopfhängenden Pastor in betrunkenem Muthe zu sehen.

HERR v. G. Ein Schwärmer ist ein Seelentrunkener. Wenn ich schon nüchtern unter Trunkenen seyn soll, will ich lieber unter Leibes- als Seelentrunkenen seyn. Betrunkene verstehen sich unter einander; so auch Schwärmer.

PASTOR. Durch den Körper haben wir Anschauung. Wer mit der Seele sieht, ist ein Schwärmer, ein Geisterseher. Ein Enthusiast ist ein edler Phantast. Ein Phantast glaubt etwas zu empfinden, was er sich einbildet. Insofern sein Ideal sein Maximum, das er sich ohne Sinnen aus sich selbst denkt, einen ruhmwürdigen Gegenstand trifft, ist's Enthusiasmus. Ueber Schwärmerei und Seherei muß man reden, wenn man, wie wir, ein paar Gesundheiten getrunken hat.

HERR v. G. Lieber Pastor, ich habe mir unter einem Schwärmer einen Menschen vorgestellt, der tanzen will, und nicht Takt [303] halten kann. So wie die Biene um eine Blume herumsummt, und hie und da was herauszieht, so auch ein Schwärmer mit seinem Gegenstande. Nicht jeder Schwärmer kommt an einen Lindenbaum. Honig macht er gar nicht.

PASTOR. Ein Schwärmer rechnet, ohne das Einmaleins der Seele zu wissen, er baut, ohne ein privilegirter Architekt zu seyn. Die Philosophen bedenken sich oft zu lange, ein Schwärmer oft zu kurz. Der Philosoph sieht nach der Uhr, der Schwärmer nach der Sonne. Der Schwärmer ist eher Feldherr, als ein Philosoph; oft zeigt der Schwärmer dem Philosophen kühne Wege; der Philosoph pflastert sie, und dann geht sie jedermann. Der Tag gehört dem Philosophen, so wie die Nacht dem Schwärmer.

HERR v. W. Das Gallakleid der Mannsperson, das Negligé der Dame.

HERR v. G. Hab' ich Recht, Pastor, ein Hypochondrist ist ein Mensch, der sich selbst, wie ein Geiziger seinen Kasten, bewahrt der sein Leben lieb hat. –

PASTOR. Und es eben darum verliert.

HERR v. G. Ich würde, wenn der Mensch an der Seele krank ist, die Kur des Leibes, und wenn er am Leibe hinfällig ist, die Seelenkur vorschlagen. Diese sympathetischen Mittel sind nicht zu verachten.

PASTOR. Wo aber die Aerzte?
FRAU v. W. zur Frau v. G. Wollen Sie meiner Kleinen erlauben, den Salat anzurichten?
FRAU v. G. Wenn ich meine Schwiegertochter nicht bemühe?

Die Kleine schritt ohne Umstände zum Werke.


FRAU v. W. Das strengste Augenmaß und Händegewicht, so ich kenne, Oel, Essig, Salz. – Jeder Blick, jeder Griff trifft. Sie schneidet alles ohne Elle. Sie mißt kein Band.

[304]

HERR v. G. Wir wollen, um sie auf die Probe zu stellen, alle Augen auf sie richten, ich wette, sie ärgert sich, und gibt zu viel Essig.


Das Fräulein v. W. lächelte bei diesem examine rigoroso, ohne aus der Fassung zu gleiten. Der Salat erhielt allgemeinen Beifall. Der Braten ward hinterher gegessen, wie erwiesen war. Bei dieser Gelegenheit votirten wir ab (da dieses den obigen Grundsätzen nicht entgegenstand), daß alle Speisen und Getränke, die öffentlich abgebrauen und angerichtet würden, durch Frauenzimmerhände gehen müßten. Es ist, sagte.


HERR v. W. Feierlicher.
HERR v. G. Es schmeckt besser.
PASTOR. Die Natur ist eine Dame.

Das Fräulein v. W. mit dem vortrefflichen Augenmaß und Handgewicht bat, nachdem sie ihre Salatpflicht, die sie vielleicht noch so lange zurückgehalten, mit dem Salze vollendet, Erlaubniß von ihrer Mutter, frische Luft zu holen. Ihre Bitte that sie sehr beredt mit dem rechten Auge. Sie erhielt, was sie wollte; ich drang mich auf, sie zu ihrer Aufseherin zu begleiten. Sie ging, wie aus einer belagerten Stadt. Der jüngere Herr v. G. würde mir diese Ehre der Begleitung gern ganz abgetreten haben, wenn seine gnädige Mutter ihn nicht zu seiner Bräutigamspflicht aufgefordert hätte. Wir gingen und kamen, ohne eine Sylbe zu sagen. – Indem ich mich setzte.


HERMANN. Schön, sagte der Jude, nachdem er das Porcellan gesehen. Ich bitte, damit Sie sich nicht mehr als einmal ärgern, einen Tag anzusetzen, an dem alles auf einmal in Stücken gebrochen werde.

HERR v. G. Ich kann den Herrn v. –s mir vorstellen. Der witzige Jude hat indessen Unrecht. Selbst die Art, womit man dergleichen zerbrechliche Dinge behandelt, machen sie angenehm. Man denkt mehr daran, man genießt sie also mehr. Pastor, Sie [305] sprachen gestern wider die Gleichförmigkeit bei Trink- und Eßgeschirren? –

PASTOR. Jedes meiner Hühner ist von anderer Art. Jede Tasse sollte eine andere Malerei auszeichnen. So wie Tapeten zu einem Zimmer voll Schildereien, so mein Vorschlag zu einem Service. Beim Service liegt eine gewisse Idee vom Geiz, der sich aber auch hier wie allemal im Wege ist, denn wenn ein Stück aus dem Service zerbricht, hat das Ganze keinen Werth mehr.

HERR v. G. Was auf bloßen Nutzen ausgeht, muß gleichförmig seyn. Die Franzosen zeichnen alle nach einem Muster; die Engländer auch. Alles ist Service bei ihnen, ihre Werke sind Tapeten. In Deutschland, wie verschieden ist Klima und Regierungsform. Sie können werden, Pastor, wie Ihre Hühner. Sie können Schildereien aufstellen.

HERR v. W. Die Gesundheit unserer lieben Frauen –
HERR v. G. In was für Wein befehlen Sie, meine Gnädigen?
FRAU v. W. Ich denk' in Rhein –
FRAU v. G. Ich in Champagner. Die übrigen Damen: in Champagner! die Frau v. W. mußte beitreten.

Es ward Champagner gebracht, und ein anderer Pokal klar wie Krystall. Mein Vater hatte (ich ergänze mein Protokoll) bei dem ersten Pokal die Bemerkung gemacht, daß nichts unstimmiger, unrichtiger wäre, als geschliffenes Glas zum Trinkgeschirr. Der Wein, sagte er, ist für das

Auge eben so, wie für Nase und Mund.


Man trank das Wohl aller ehrlichen Wei ber.

Herr v. W. hätte das Weiber gern zierlicher gegeben, und es in Damen verwandelt, wenn er nicht besorgt hätte, wegen Diebshehlerei vom Herrn v. G. in Anspruch genommen zu werden, der ihn sich wegen des Festes der Deutschen bis zur Thräne verpflichtet hatte. Auch das Beiwort ehrlich war dem Herrn v. W. [306] anstößig; indessen rügte er auch diesen Verstoß nicht, des Festes der Deutschen wegen.

Herr v. G. leerte noch einen Pokal voll Rheinwein auf die Gesundheit der Frau v. W. rein aus, und ich bückte mich tief, als ob ich daran Theil nähme.

HERR v. W. blieb diese Höflichkeit nicht schuldig, sondern erwiederte sie, mit allen Zeichen der Dankbarkeit, durch ein gerüttelt, geschüttelt und überflüssig Maß Champagner, den er nicht wie Herr v. G. eingoß; sondern einsprudelte.

HERR v. G. Warum Wind, Herr Bruder?

HERR v. W. war dieser Frage wegen in Verlegenheit, antwortete keine Sylbe, sondern bewies durch eine Nagelprobe, daß er den Pokal geizig, bis auf den letzten Tropfen, geleert halte.

Es kam bei dem Herrn v. X. noch ein Staatsfeuer aus, welches aber gleichfalls, durch die vortrefflichen Anstalten, sogleich in der Geburt erstickt ward, und da die Herren v. X., Y., Z., die außer curischen Staatsangelegenheiten nichts mehr als höchstens von Pfeifenköpfen und Hunden zu sprechen wußten, sehr viele lange Weile gehabt, so fing Herr v. G., um die Herren v. X., Y., Z. zu entschädigen, an, ein Kappfenster bei der gepreßten Luft, welche diese Leute umzingelt hatte, zu öffnen.

HERR v. G. Es ist wohl kein Land in Europa, wo die Hunde so viel geachtet werden, als in Curland und Semgallen.

Die drei Herren fielen mit Hundeshunger dieser Unterredung zu. Die Transplantation des Gesprächs war, wie in der Heilungskunst, magnetisch, magisch – ich müßt' indessen eine Unwahrheit begehen, wenn ich behaupten sollte, daß ich bei dem Jagd- und Waldgeschrei der Hochwohlgebornen Jäger v. X., v. Y., v. Z. alles in Dach und Fach hätte bringen, und mir hinter das Ohr schreiben können. Ihr Gespräch war ein Gesammtkauf, nicht eine Klapper, sondern eine Geschreijagd. Einer schoß dem andern [307] das Wort von dem Munde. – Mein Vater pflegte zu sagen: »Ein gewisser Stand in Curland am Pfropfenzieher, ein gewisser anderer am meerschaumenen Pfeifenkopf.« Ich würde, wär' ich so ein Antagonist wider Curland wie er gewesen, die Hunde nicht übergangen haben. Die Herren von X.Y.Z. begnügten sich nicht mit ihren sehr gesunden Jagdkehlen. Während der Zeit, daß Herr v. G – ihnen so liebreich entgegen gekommen, hatt' einer von ihnen einen Ueberfall veranlaßt. Es ließen sich zwei Waldhornisten, zum höchsten Verdruß des Herrn v. W –, der nur Kammermusik liebte, hören. Herr Hermann trug die Schleppe dieser Meinung nach, und rümpfte, wiewohl, da er nicht einmal die Hunde der Herren von X.Y.Z. zu duzen sich unterfangen hätte, wenn er mit diesen Hunden conversiren sollen – nur unter der Serviette die Nase.

Mein Reisegefährte war begeistert, und konnte nicht sitzen bleiben.

Die Herren v. X.Y.Z., die den Hunden, nach Landesmanier, gleich nach dem Literatenstande den Rang anwiesen, behaupteten in corpore, daß der Hund wegen seiner Treue ein weltberühmtes Thier sey.

PASTOR. Auch wegen seiner Gierigkeit, seines Neides, und seiner Nicken. Vater- und Kindermördern ward er beigepackt.

CAVE CAVE CANEM.


X.Y.Z. Der Hund bewacht' im Kasten Noa die ganze Welt.

HERR v. G. Ei, der Archenhahn und die Gans, von welcher in gerader Linie die aus dem Capitolio abstammte.

Bei dem Capitolio brauchten die Herren v. X.Y.Z. eine Fähre zum Ueberfahren.

X.Y.Z. Hunde sind die Auxiliartruppen vom Menschen, [308] durch deren Allianz er die meisten Thiere zwingt, die nach dem Fall Adam seinen Commandostab verkennen.

HERR v. G. Warum sind sie aber wider ihres Gleichen?
X.Y.Z. Was ist treuer als ein Kettenhund?
HERR v. G. Eine Treue an der Kette ist auf zweierlei Art verdächtig.

X.Y.Z. Was ist fleißiger, als ein Spürhund, behender als ein Windhund? Dieß ward von allen zugegeben. Der jüngere Herr von G – schlug an seine Brust und betheuerte. Herr v. G – der ältere war selbst ein großer Freund, nur kein Sklave von der Jagd, und ich merkte zum erstenmale an meinem Vater, warum er sich lieber des meerschaumenen Pfeifenkopfs und des Pfropfziehers als der Hunde bedient, um gewisse Stände in Curland zu bezeichnen. Mein Vater hielt die Hunde für wohlhergebrachte adeliche Thiere. Die Herren v. X.Y.Z. waren mit den erschrienen Trophäen befriedigt, ihre gnädigen Frauen aber hatten noch eine Frage: »Was ist schmeichelhafter als ein Schooß-, ein Zimmerhündchen?«

FRAU v. W. Wer wird sich schmeicheln lassen? Wer sich verwöhnen? Wir haben Engel bei uns. – Wer wird Thiere in ihre Gesellschaft bitten – solang ich noch Menschen zu Freunden haben kann, warum zu Thieren? Warum soll ich nicht eher des Hirts Liese, die Gottes und mein Bild an sich trägt, erziehen, als den Fripon?

Sie sagte dieses nicht im Lehrton, wie ich's herschreibe, sondern allerliebst! – sie trieb auch zur Freude ihres Mannes die gnädigen Damen X.Y.Z. in die Enge; die Frau v. G – wollte die Frau v. W – ins Weite bringen, und nahm sich ihrer verstummten Gesellschaft an, mit der sie in Absicht dieses Punktes gleich dachte, über die sie sonst aber (sie hatt' einen G – zum Gemahl) unendlich erhaben war. Wir, beschloß die grundgütige Frau [309] v. W –, wir können schon in dieser Welt Engel werden, das Thierische ganz ablegen und auferstehen.

Dieses brachte meinen Vater geraden Weges auf die Seelen der Thiere, auf die himmlischen Sternbilder dieses Namens, und auf das Schicksal der Thiere in der andern Welt. Die Frau v. W – fand nichts dabei einzuwenden, die andern Damen aber, so sehr sie auch ihre Jolichens liebten, desto mehr. Sie lebten mit der Idee in Todfeindschaft, daß sie dort mit Kammerzofen in Einem Paar gehen, und in Gemeinschaft der Güter leben sollten, und dachten in ihrem Innersten: Stände müßten seyn. – Jetzt, da sie die Pforten der andern Welt sogar den Thieren geöffnet sahen, die ungefähr das dort vorstellen sollten, was hier der gemeine Mann; so waren sie über diese himmlische Toleranz so bitterböse, daß sie die andere Welt für ein Linsengericht verkauft hätten. – Diese Unterredung würde Schatten zu Herzenssilhouetten von diesen Damen abgeworfen haben; allein Herr v. W – hatte schon geraume Zeit darauf gedacht, einen Tag, eine Mahlzeit, die alleinannum siderum platonicum verdiente, nicht so unangemessen zu schließen. Dieser Tag war ihm merkwürdiger als der achtzehnte April, an welchem Alexander und Diogenes gestorben waren; die Herren v. X.Y.Z. schienen ihm wieder in Schlachtordnung, und sie waren es wirklich. Herr v. W – fing daher zur Zerstreuung von der Musik an, wozu ihm die Waldhörner Gelegenheit zubliesen. Herr Hermann fand sich hiebei getroffen, und wünschte nichts mehr, als ein Spinet, damit die Meinung des Herrn v. W – bestätigt würde, die darin bestand, daß die Feldmusik bloß zu Krieg und Jagd zu verbannen wäre. Mein Vater ließ den Harfenschläger Arion auf einem Meerschweine vorreiten. Die Herren v. X.Y.Z., gewohnt an die Jagdfolge oder das Recht, ein bereits angeschossenes Thier, welches auf eines andern Grund und Boden entflieht, zu verfolgen und zu erlegen, [310] waren eben bereit, die Waldhörner, um sie zu vertheidigen, zu überschreien. Von diesem Plan wären sie nicht abgegangen, wenn selbst das erwünschte Spinet, wie lupus in fabula geheult hätte; allein das Meerschwein und Arion kamen ihnen so unerwartet, als ein Wild oder Hirschkalb. – Sie waren, außerdem daß sie jagdgerechte Weidmänner waren, auch gute Stallmeister, und wunderten sich höchlich über diesen Ritt. Herr v. W – machte von diesem Zeitpunkt Gebrauch, und befragte meinen Vater, was er überhaupt von der Musik dächte?

PASTOR. Ich bin für die Musik der Seelen, so nenn' ich ie Poesie, für die Harmonie der Sphären, die dem platonisch-philosophischen Ohre hörbar ist. – Was die andere Musik betrifft, so fällt mir oft dabei ein, wie Dionysius einen Musikus behandelte. Er versprach, ihn reichlich zu belohnen, und da er den Lohn abforderte, verwies er ihn aufs Gehör, um Null mit Null aufgehen zu lassen.

Der Herr v. W – fand diese Antwort für einen Dionysius viel zu sein, und gewiß würde er die Waldhornisten, so höflich er übrigens war, anders abgefertigt haben. Aus Angst und Noth Der natürliche Weg zum Wortspiel. kam Herr V. W – aufs Spiel, und freute sich herzlich, da er das Interesse bemerkte, das die Herren v. X.Y.Z. an diesem Worte nahmen.

Der Herr v. G – war über die Lage des Herrn v. W – schalkhaft still vergnügt.
PASTOR. Ein jeder Kopf lernt schwer spielen; auch das leichteste Spiel macht ihm Mühe.
HERR v. W. Woher kommt das?

PASTOR. Es verdrießt ihn, daß er es nicht gleich mit einem Blick umzingelt, und eben dieser Verdruß zerstreut ihn.

HERR v. G. Das Kartenspiel ist ein Krieg. Alle Leidenschaften ziehen zu Felde. Man hat über die Moralität des Spiels [311] gestritten, allein oft aus sehr falschen Gesichtspunkten. Einem Mann, der von Zinsen lebt, ist das Spiel ein Amt, und so etwas von Amt ist nöthig, um die nöthige Portion Galle in den Magen zu sprengen.

Herr v. W – glaubte sein Spiel hierdurch gewonnen zu haben, allein die Sache wurde den Herren von X.Y.Z. nicht nach ihrem Sinn abgehandelt, und sie fingen auf gut weidmännisch den Hafen zu anatomiren an. Mein Reisegefährte wußte so gut wie sie, was Balg, Löffel und Sprünge hieße, und was es sagen wolle, der Hase drückt sich. – Man handelte die Hohe-, Mittel- und Niederjagd ab. Ich ärgerte mich nicht wenig, daß Lerchen und Wachteln mit Mardern und Heistern zur Niederjagd gehören; allein der Herr v. W – ärgerte sich noch weit mehr, daß er aus dem Regen unter die Traufe gekommen war. – Alles war über und über. – Herr v. W – mußte also aus der Noth eine Tugend machen, und bracht' eine Gesundheit auf die glückliche Reise des jungern Herrn v. G – in Vorschlag. Ich hatte die Ehre mit eingeschlossen zu werden, so wie unsere beiden Väter. Diese Gesundheit wurde unter dem Vorsitz des Herrn v. W – geblasen – und zwar, nach des Herrn v. W. – Anordnung, auf die Art, als wenn Kanonen gelöset würden. Es war ein jämmerlicher Ton. Dem wohlmeinenden Herrn v. W – ging er durch die Seele. Er hatte noch etwas wegen der Kuchen anzubringen. Das Resultat seiner Meinung war, daß gewisse Signaturen dabei angebracht, und Trauer- und Freudenfeste darauf bezeichnet werden könnten. Herr v. G – widersprach. Frau v. G – brachte das Wappen in Vorschlag, welches sie in jeder Serviette gewebt hatte. Die Waldhörner hörten nicht auf, und der Herr v. W – bekam Seelenkrämpfe, die ihm mein Vater, wiewohl nur auf eine kurze Zeit, durch eine freundschaftliche Theilnehmung linderte.

Der Name Waldhorn deutet schon an, sagte mein Vater, daß [312] dieß Instrument im Walde zu Hause ist, wo Dissonanzen so nicht zu bemerken sind. Das war dem Herrn v. W – Balsam; indessen griff der vorige Schmerz wieder um sich, und Herr v. W – schien zu meinem Vater das Zutrauen zu verlieren, da mein Vater wider alle Tafelmusik sich erklärte. Es ist ein schlechtes Compliment, das der Wirth sich selbst und seinen Gästen macht, erinnerte mein Vater, wenn er das Gespräch an der Tafel durch Musik unterbricht. Hr. v. G – glaubte die Tafelmusik, wenn es eine Kammermusik, wäre bei gewissen Festen nöthig, und fand also nirgend Trost. – Das letzte. Mittel war, die Tafel aufzuheben. Herr v. W – griff so schwer dazu, als man zum Trepan greift. Was war zu machen? Die Herren von X.Y.Z. hatten, ohne die öffentlichen Gesundheiten abzuwarten, reichlich den Werth des Weins bewiesen, und die Tafel mußte (Herr v. W – mochte wollen oder nicht) aufgehoben werden.

Die letzte Gesundheit und Schluß der Tafel war Luthers Gesundheit:

»Daß es uns wohlgeh' auf unsre alte Tage!« Der Herr v. G – wollte noch besonders des seligen Dr. Luthers Gesundheit in Rheinwein trinken, es war aber schon alles auf den Beinen.

Herr v. W –, dem Profit die Mahlzeit viel zu unhöflich war, wollte ganz was besonders sagen; allein könnt' er vor den Waldhörnern? Alles ging seinen eigenen Weg. Ich, zu meinem Vortheil, quartierte mich in ein klein Zimmerchen ein, wo ich den heutigen Tag in Kürz' und Einfalt wiederholen wollte. Dieser Umstand ließ mich hören, was meine Leser lesen sollen.

HERR v. G. Warum laßt ihr einen so guten Alten nicht geradezu? Bediente gehen ab.
DER ALTE griff ein. Gnädiger Herr! Sie wollten – ich aber wollte nicht.
[313]
HERR v. G. Und warum?

DER ALTE. Ich schäm' mich es zu sagen, da ich Sie sehe. Es ging mir, wie dem ungerechten Haushalter – ich schämte mich zu betteln.

HERR v. G. Vater! – wäret Ihr mein leiblicher Vater, ich würd' mich Eurer nicht schämen. Dieß habt Ihr aber freilich nicht wissen können. Ich habe gute Freunde bei mir, seyd so gut, einer davon zu seyn.

DER ALTE. Nein, Herr, wenn sie auch alle wären wie Sie, ich habe nicht Zeit.
HERR v. G. Was habt Ihr denn zu thun?

DER ALTE. Was wichtiges, Herr! zu ster ben – ich will es wohl alles sagen, wenn wir allein sind – (ich hielt den Odem zurück), ich habe nur höchstens acht Tage zu leben.

HERR v. G. Wie wißt Ihr das?

DER ALTE. Das weiß ich so – ich kann es selbst nicht sagen – weil ich es weiß, weil ich es fühle, weil es gewiß ist – und nun! Meine Tochter und ihr Mann haben mich zwei Jahr ernährt.

HERR v. G. Da haben sie ihre Pflicht gethan.

DER ALTE. Ich hatte mir so viel Geld gesammelt, um niemand aufs Alter beschwerlich zu fallen. Wie ging's? Ich lehnte dieß Gelb einem Cavalier; der aß und trank und war fröhlich und guter Dinge, bis er nichts wiedergeben konnte. Verzeihen Sie, gnädiger Herr! Sie sind ein Cavalier, allein ich sage die Wahrheit.

HERR v. G. Und ich höre sie so gern, beträf' es mich selbst, als Ihr sie nur sagen könnt.

DER ALTE. Klüger wär's gewesen, wenn ich mich zu Tode gearbeitet hätte. – Da fiel ich einmal blaß und bleich hin, und das hielt ich für Gottes Wink, in dieser Welt zu schließen. [314] Gnädiger Herr, ich habe nicht die Arbeit gescheut; wie ich jung war, kurirt' ich mich mit Arbeit, ich habe nie andere Medicin gebraucht. Was einen in der Jugend stärkt, schwächt im Alter – ich konnte nicht, Herr, ich hatte schon ein halb Jahr bloß gebetet und gesungen, da ging mein Gelb verloren; ich versuchte meinen Arm, ich fing an zu wollen, ich wollt' im ganzen Ernst; allein ich könnt' nicht, ich konnt' nicht – verzeihen Sie diese Thränen. Ich habe keine betrübtere Stunde als eben diese Probestunde gehabt, wo ich so schlecht bestand.

HERR v. G. Da gingt Ihr zu Euren Kindern?

DER ALTE. Ja, Herr, und sie kamen mir entgegen. Ich habe nur eine Tochter, ich fand aber an ihrem Mann einen Sohn. Was sie hatten, hatt' ich. Sie pflegten mich, obgleich ich ihnen keinen Dreier nachlassen konnte. Gott labe sie dafür an seinem himmlischen Freitisch auch aus Gnad' und Barmherzigkeit, wie sie's hier an mir gethan.

HERR v. G. Und jetzt, Vater, sind sie gegen Euch kälter?

DER ALTE. Nein, Herr, das nicht! aber sie sind arm geworden. Das Gewitter schlug ihr Häuschen zu Grunde. Sie hatten etwas zu meinem Begräbniß abgelegt – ich bin so ein alter Geck auf ein ehrliches Begräbniß, und diesen Sterbepfennig, Herr, haben sie angegriffen – darum geh' ich betteln. Wenn ich sterbe, sollen sie die unvermuthete Freude haben, mein Begräbniß bestellt zu finden. Sie hatten geborgt, Herr, um mir nach meinem Tode zu Gefallen zu leben, das weiß ich; allein das wollt' ich nicht. So bin ich, Herr, ein alter Mann, allein ein junger Bettler!

HERR v. G. Wo wohnt Ihr denn?
DER ALTE. Herr, Verzeihung! das sag' ich nicht, meinet- und meiner armen Lieben wegen!
[315]
HERR v. G. Verzeihung, Alter, daß ich es gefragt habe; Gott züchtige mich, wenn ich Euch nachsehe.

DER ALTE. Das ist brav, gnädiger Herr! In acht Tagen sehen Sie gen Himmel, dann (Gott sey gedankt), dann ist meine Wohnung nicht mehr geheim.

HERR v. G. Aber wo glauben Euch jetzt die Eurigen?

DER ALTE. Ich sagt', ich hätt' ein Gelübde auf mir und müßte nach Gottes Welt sehen; sie wissen, daß es mein letzter Gang ist.

HERR v. G. Nehmet, Vater, Gott sey mit Euch!

DER ALTE. Herr, so viel! Nein, Herr, so war es nicht gemeint. Ich brauche nur noch zwei Orte, das übrige hab' ich nicht nöthig. Im Himmel brauch' ich nichts.

HERR v. G. Gebt's Euren Kindern.
DER ALTE. Behüte Gott, Herr! Meine Kinder können noch arbeiten – sie selbst brauchen nichts.
HERR v. G. Zum Haus, Alter!
DER ALTE. Es steht schon.
HERR v. G. Ihr macht mich roth, Vater!

DER ALTE. Nun dann sind wir's beide. Ich bin es auch über und über, weil ich zwei Ort' angenommen. Sparen Sie, gnädiger Herr, das übrige für Leute, die länger für Sie beten können als ich.

HERR v. G. Ihr bewegt mich, Vater!
DER ALTE. Ich hoff, ich hab' auch Gott bewegt, der lass' es Ihnen nicht missen!
HERR v. G. Wollt' Ihr was essen?
DER ALTE. Ich habe schon gegessen, Milch und Brod.
HERR v. G. Aber mitnehmen?

DER ALTE. Nein, Herr, ich will dem lieben Gott nicht ins Amt fallen. Alle Leute, die mich sahen, boten mir Essen an. Ich [316] habe mir aber den Magen nicht verdorben. Es wär' ein schlechter Dank beim lieben Gott, wenn ich jetzt mitnehmen sollte. Doch – ein Glas Wein, ein einziges!

HERR v. G. Mehr, Vater!

DER ALTE. Nein, Herr, nur eins. Mehr trag' ich nicht. – Sie sind es werth, daß ich zum letztenmal vom Gewächs des Weinstocks bei Ihnen trinke. Es soll der letzte Weintropfen seyn, den ich in der Welt nehme, sonst würd' ich nicht gefordert haben. Nun kann ich im Himmel erzählen, wo ich den letzten Labetrunk genossen. – Lieber Gott, ein Glas kalt Wasser bleibt schon nicht unvergolten.


Der Herr v. G – holte den Wein selbst, der alte Mann hob seine Hände gen Himmel, da er allein war, und sprach.


Den letzten Wein! Das Nachtmahl hab' ich schon vor acht Tagen genommen. Lieber Gott, erquicke den Geber, wenn ihn kein Trunk mehr erquickt!


Der Herr v. G – brachte Wein.

HERR v. G. Hier, Vater. Ich hab' mir auch ein Glas mitgebracht, wir müssen zusammen trinken!

DER ALTE gen Himmel. Habe Dank, lieber Gott, für alles Gute, für diese Welt habe Dank! Er trank etwas. jetzt Zum Herrn v. G –, sie stießen zusammen. Gott schenke Ihnen ein sanftes Ende, wie ich's gewiß haben werde!

HERR v. G. Vater, bleibt diese Nacht hier, ich bitt' Euch. Kein Mensch soll Euch sehen, wenn Ihr es so wollt.

DER ALTE. Nein, Herr, ich kann nicht. Meine Zeit, Sie wissen, ist edel.
HERR v. G. Gott, großer Gott, womit kann ich Euch noch dienen?

DER ALTE. Herr, ich wünscht' Ihretwegen, daß ich noch mehr brauchte. Sie sind ein guter Herr; allein ich hab' auf der [317] Welt nichts mehr als – noch einen Handschuh nöthig. Ich hab' ihn verloren.

HERR v. G. Gleich.
DER ALTE allein. Zum letztenmal gelabt! dort wird es besser seyn!
HERR v. G. bracht' ihm ein Paar Handschuhe. Hier, Alter!
DER ALTE. Den einen brauch' ich nicht, nur einen hab' ich gefordert.
HERR v. G. Warum den andern nicht auch?

DER ALTE. Dieser Hand fehlt nichts. Es ist bloß die Linke, so die Luft nicht vertragen kann. – Ich werd' an Sie denken!


Er gab dem Herrn v. G – die rechte bloße Hand.

HERR v. G. Und ich auch an Euch! – O Alter! mir ist es schwer, mein Wort zu halten.
DER ALTE. Desto besser, Herr, für Sie, wenn Sie's halten.
HERR v. G. Noch einmal Eure Hand, Alter. Es ist Angriff, es ist Segen Gottes drin.
DER ALTE. Gott segne Sie!
HERR v. G. Und helf' Euch!

Noch war ich dieses Gesprächs wegen in einer unaussprechlichen Bewegung, in einer schwermüthigen Wonne – auf einem schönen baumreichen Kirchhofe, als Herr v. G – der jüngere mich im Namen meines Vaters aufsuchte. Ich flog, mein Vater reichte mir die Hand entgegen und ging mit auf unser Zimmer, stieß ein Fenster auf und fing an: »Ich dachte, Alexander, noch vierundzwanzig Stunden um dich zu seyn; mein Amt will mich. Der – ist im Letzten.«

Dieser arme Mann war ein Bekannter von uns. Das erst' und letztemal, da er eine Flinte losdrückte, oder vielmehr, da sie ohne sein Vorwissen und Mitwirkung in seiner unerfahrnen Hand losging, erschoß er seinen Sohn. Er wollte seiner Frau Bruder, [318] der auf Vogelwild ausgegangen war, eine unerwartete Freude ma chen und ihm in Jägeruniform entgegenkommen. – Das Trauerspiel geschah in dieses Jagdverständigen Hause und also nicht in unserem Kirchspiel, wo, wie meine Mutter zu sagen pflegte, die Erde keinen Tropfen unschuldig Blut (er wäre denn von einem Barbier verspritzt) getrunken hätte. – Knall und Fall! Die Gerichte sprachen ihn frei, allein er sich selbst nicht. Er hat sich nie in der Welt ein Lachen bereitet. Sein Weib starb aus Gram, mehr über den Gram ihres Mannes, als über den Verlust ihres einzigen Sohns. Dieser Unglückliche war jetzt in Seelenangst. Ich soll meinen Gerg sehen, rief er mal über mal. Er wollte, mein Vater sollt' ihm an die Hand gehen, wie er sich gegen seinen Sohn in der andern Welt führen sollte? Gott helf' ihm über, sagte mein Vater. Es ist schwer, wenn ein Vater seinem Sohn im Himmel abzubitten hat.

Ich erzählte meinem Vater den Vorgang zwischen dem Herrn v. G – und dem Alten. Diese Vorfälle (ich will mir die Ehr' erweisen und unsere Trennung mit in diese Summe bringen) brachten meinen Vater, der sonst, wie meine Leser wissen, sehr beredt war, zu einer rührenden Kürze. Ich lag an seiner Brust. Ob es hier am rechten Ort steht, kümmert mich nicht; allem ich habe nie meinem Vater die Hand geküßt. Küsse für Weiber, pflegt' er zu sagen.

Hier, fing er an, eine versiegelte Schrift! Oeffne sie nicht eher, als wenn du in der größten Noth bist. Ich wollt' ihn dieser versiegelten Schrift wegen, die zur Aufschrift ἀνέχου καὶ ἀπέχου hatte, befragen, allein er fuhr fort:

Unser Herr und Meister sagte zu seinen Jüngern: ich hab' euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es nicht tragen. Uns sind allen beiden die Thränen nahe. Der alte Mann mit dem einen Handschuh, der in acht Tagen sterben wird, und der Kreuzträger, der wegen des Grußes, womit er seinem Sohn im Himmel begegnen soll, verlegen ist (ich glaube, der Herr v. W – würd' es selbst seyn, wenn er in der Stelle dieses Armen wäre) haben uns äußerst bewegt. Ein Abschied, der auf einen nassen Boden fällt, bringt keine Früchte. Es ist ärger als der steinige Acker, den der alte Herr in Musik gesetzt hat. Ueberhaupt redet kein Mensch ein kluges Wort, wenn er Thränen in den Augen hat. Sey ein guter [319] Streiter, ein Alexander, kämpfe recht, so wirst du die Lebensessenz, das ist die Krone des Lebens, hier und dort empfahen!Amen.


* * *


Amen! auch in Absicht des ersten Bandes. Ich hoffe die folgenden zwei, die Ich noch zu laufen hab', in kurzem zu vollenden. Ueber diesen ontologischen Theil hätt' ich noch viel zu sagen; vielleicht aber heißt es auch von vielen meiner kritischen Leser, wie von meinem Vater und mir:


ihr könnet es nicht tragen!


Da jede Stadt, jeder Flecken zwei Thore hat, eines beim Eingang und eines beim Ausgang, so sey es mir erlaubt, denen, die in diesem Theile zu wenig Geschichte gehabt, schließlich den Trost zu lassen, daß die folgenden Bände sie entschädigen werden. Wer Romane liest, sieht die Welt im optischen Kasten, ist in Venedig, Paris und London, je nachdem die Bilder vorgeschoben werden. Dieses sey ein Wort ans Herz für die, welche meinen Lebenslauf zu sehr als Lebenslauf finden, wo dieEinheit der Zeit und des Ortes zu eng das Vergnügen verschränkt; denn wenn gleich meine Leser oft nur Thal, Berg und Gesträuch gesehen haben, so war es doch wenigstens nicht durchs Glas. Ein andermal von der gerechten Klage über die verkehrte Welt, daß Geschichte in vielen Fällen Roman, und Roman Geschichte geworden.

Ich wiederhole, daß ich mich befugt glaube, auf einforum privilegiatum Anspruch machen zu können, und nicht verbunden zu seyn, überall Recht oder Unrecht nehmen zu müssen. Druckfehler wolle der gerechte Richter (ich habe schon anderswo, eben da mir eineLese- und Buchstabirrecension über ein gewisses Buch zu Gesichte kam, gesagt, wie weit ich vom Druckorte bin, und füge diesem Umstande noch hinzu, daß ich sehr unleserlich schreibe) nicht rügen und der geneigte Leser selbst verbessern. – Mein Weib undKind bitten zu grüßen. Es mag übrigens dieser Nachtrag, wenn er nicht als ein zierlicher Nachbericht gelten kann, als ein Codicill, als eine donatio mortis causa, als ein Avertissement aufBlaupapier oder eine Nachricht für denBuchbinder angesehen werden.

Fußnoten

1 Nürnberg, gedruckt bei Wolfgang Endter 1650.

2 Leipzig, 1632.

Zweiter Theil

An den geneigten Leser und an den ungeneigten Kunstrichter
An den geneigten Leser
und an den ungeneigten Kunstrichter.

Dieß Gespräch ist über Bausch und Bogen, wie mir alles war, was bei meiner Ankunft in – –, dem Hause des Herrn v. G., vorfiel.

Mein Vater betete weniger, als er vom Gebet sprach, und es gefiel mir seine Anmerkung, die er zu einer Zeit machte, daß vom Gebet reden auf gewisse Weise beten heißen könne. – Wenn diese Anmerkung richtig ist, so wird man fast behaupten können, es wär' ohn' Unterlaß in dieser Geschichte gebetet worden. – Dieses Gespräch hätt', ich gesteh' es, überschlagen werden können, ich wollt' indessen ehrlich bei dieser Sache verfahren, und so wie in der ganzen Schrift verfahren ist. Des ungeneigten Kunstrichters wegen (der geneigte Leser wird es so genau nicht nehmen) muß ich anführen, daß dieses alles und jedes nach der Tafel an dem Tage vorgefallen, da wir nach – zum Herrn v. G. kamen, und zwischen Herrn v. G. und meinem Vater eine Koppelweide brüderlich verabredet ward, und da dieser Vergleich mit einem ächten Glas Wein aus einem Schäuer begossen ward, und wo ich, quod bene notandum, alles überBausch und Bogen sah und hörte, wovon der Schluß dieses Gespräches einen hinreichenden Beweis zu geben im Stande ist.

Dieß ist also das Datum

zum Gebetsgespräch,

zur Frage wohin?

Zur Antwort: Königsberg vorderhand – der Pietisterei des Codicis Fridericiani und der Instruktion unerachtet,

Königsberg vorderhand.

[84] Göttingen nachderhand.

Dieß nachderhand aber sag' ich meinen Lesern ins Ohr, wie ich es mit mancher Nachricht aus gutem Herzen gemacht habe.

Herr v. G. wollte nicht, daß wir den andern Tag zeitig unsere Reise antreten sollten.

Große Reisen, sagt' er, immer nach Mittage. Tagereisen fangen des Morgens an. Er war sehr kurz in den Ermahnungen an seinen Herrn Sohn.

Er rieth ihm nach Anleitung meines Vaters an, lebendige Thiere zu halten. Sein theurer Herr Sohn hatte schon, wegen des Satans, den er gern mitgenommen hätte, eine abschlägige Antwort erhalten, und war also seine etwas störrische Frage sehr natürlich:

Was für Thiere?

Der junge Herr v. G. hielt den Hund für ein Compendium aller nützlichen Thiere, für ein lebendiges Thierκατ᾽ ἐξοχὴν.

Noch eine andere Bemerkung, eh' ich die Antwort auf die störrische Frage: was für Thiere? mittheile. Es hatte der gute Herr v. G. der ältere viele Hühner. Aus seinem geschmackreich gebauten Hühnerhäuslein und der Weise des Herrn v. G., sie selbst zu füttern, hätte man schließen sollen, daß er das alte Wahrsagerprincipium angenommen, und daß er aus der Begierde, womit die Hühner fraßen, so, daß die Körner auf dem Boden herum tanzten, Glück oder Unglück sagen könnte.

Hühner, antwortete der Herr v. G. seinem Sohne. Alles, was Odem und Leben hat, zieht an, fing ich an. Die Sympathie hat im Odem ihren Hauptsitz. – Im Odem ist Leben und Tod.

Der Herr v. G. der ältere löste mich ab und wandte sich zu seinem Sohne.

Du wirst bei deinen Hühnern bleiben, wenn du dir Hühner anschaffst und meinen Rath befolgst, du wirst mancher Gesellschaft [85] eine abschlägige Antwort geben. Der Satan hätte dich zur Jagd verführt, ob er gleich auch Odem hat und mit dir sympathisirt; – auf der Akademie keine Jagdhunde!

In Polen halten sich einige Familien ein Paar, um die Teller zur zweiten, dritten und vierten Schüssel stehenden Fußes rein lecken zu lassen. – Das wirst du nicht nöthig haben. Die Reinlichkeit hat man überall umsonst.

Hast du Hühner und Tauben, fuhr er fort, und hat der Wirth ein Gärtchen beim Hause, verdopple die Miethe. – Jeder Mensch muß einen Zeitpunkt in seinem Leben haben, wo er zu Hause bleibt. Laß dir den Vorfall mit deiner Braut, der lieben Kleinen, zur Lehre dienen – und thue der Jagd einen Possen und schieß' und hetz' in drei Jahren nicht. – Conversation ist dem Studiren und selbst der Lectüre spinnefeind. – Vergeßt nicht (sein Blick traf uns beide), daß ihr aus einem freien Lande seyd. – Die Monarchie hat viel Verführerisches; allein sie versäuert das Herz, sie nimmt Seele und Gewissen in Beschlag. – Ein Monarch! ja, was so ein Herr nicht alles thut! Wunder über Wunder! – Es ist aber auch darnach. – Das leichteste Stückchen Brod ist es, das Gott gibt. Sie säen nicht, sie ernten nicht, wie die Lilien auf dem Felde, und Gott nährt sie doch. – Der Pastor, Ihr Vater (Herr v. G. der ältere wandte sich zu mir), der mich ehegestern beten gelehrt, wird mich nie, nie dahin bringen, in dieser Rücksicht etwas anderes zu beten, als daß Gott der Herr Curland womöglich noch unabhängiger mache, als es jetzt, Gott sey Lob und Preis, schon ist! – Je unabhängiger, desto mehr Gott ähnlicher. Ich hab' einen Franzosen gekannt, der von Curland sagte, das elendeste Land, das ich kenne! Man kann im Sommer nicht seinen Winterrock versetzen. Das Wetter wechselt wunderlich. – Du guter Schlucker! Ich will dir dein Land und deinen allerchristlichsten König lassen. – Gott ehre mir mein schlecht und rechtes Haus, [86] wo manche priesterliche Schwalbe nistet. – Du sollst so viel Freiheit haben, wie ich gutes Ding, wohlehrwürdiger Vogel! Seht nur, Kinder! wie die mich da eben ansieht! ich kann den Schwalben nichts nachsagen, und außer dem Umstande, daß sie den Todtengräber Tobias blind gemacht – weiß ich nichts Böses von ihnen!

Preußen hat einen geborenen König, dem man nicht X vor U machen kann, der königliche Gaben hat; allein roth, blau und grün machen schwarz, kohlschwarz. – Gern hätt' ich den Herrn v. G. gebeten, mir dieses Räthsel zu lösen, allein er hielt inne.

Nach einer Weile fuhr er fort: Der Staat, dem ihr zueilt, hat – ich gesteh' es, einen Philosophen und einen König zum Beherrscher. Er hört jeden, er sieht jeden, er hilft, so weit seine lange Königshand es kann – jeden! und es ist mir ordentlich bange, daß er euch die Monarchie in einem zu vortheilhaften Lichte zeigen werde. – Prüfet alles, und das Gute behaltet. Eine Schwalbe macht keinen Sommer!

Die Monarchen sollten nur angeloben, zu hören, physisch zu hören; allein thun sie es? Sie messen ihre Superiorität nicht mit ihren allerunterthänigsten treugehorsamsten Knechten, sondern mit andern Monarchen, und da mag der Teufel Unterthan seyn. Sie haben keinem Rechenschaft zu geben, als dem lieben Gott in der andern Welt und den Poeten und Geschichtschreibern in dieser. – Die letzten haben nicht aufs Recht geschworen und nehmen Geschenke an, und mit dem lieben Gott hat's Zeit genug, daß sie ihm im Titel den Rang lassen! Kommt Zeit, kommt Rath!

Der Herr v. G. der ältere hielt diese Anrede mit einer unaussprechlichen Wärme. Er schien im Ernst zu fürchten, wir würden uns in Preußen werben lassen und Königische werden.

Noch muß ich bemerken, daß er sich während der Zeit, da er Curland pries, aufs grüne Gras geworfen hatte, als wenn er der freien Erde seinen Dank ablegen und sie umarmen, umfassen wollte. [87] – Es schien, da er geendigt hatte, als besorgt' er, nicht aufstehen zu können.

Dieß bewog den alten Herrn, ihm unter den Arm zu greifen; allein Herr Hermann kam beim Herrn v. G. jederzeit zu kurz, er mocht' es anlegen, wie er's wollte. Es riß Herr v. G. den allezeit dienstfertigen Hermann auf Gottes Erdboden. Da lag mein Schwiegervater so lang er war. Herr v. G. stand auf, so frisch, als ein Jüngling von fünfzehn Jahren. – Es war bei diesem Niederriß nicht Gewaltthätigkeit, sondern nur Stärke. – Es war schön anzusehen!

Den Abschied durchaus im Freien! Er verfliegt eher, sagte Herr v. G. Es ward auch im Freien Abschied genommen. Wollte Gott, fuhr Herr v. G. fort, wir könnten auch so den letzten Abschied nehmen und im Freien sterben! Und warum sollten wir es nicht? Wo ist uns am meisten Gutes geschehen? Der Geist sucht das Freie und wird dort nicht wohnen in einem Hause mit Menschenhänden gemacht. Der Tod würde nur halb so schwer seyn. Wahrlich, der Mensch entzieht sich zu sehr Luft und zieht eben dadurch Leib und Seele eine Art von Stockung zu. Ward unser Geist denn nicht, wenn er das Freie sucht, schon entzückt, obgleich ihn der Leib wie ein Bleigewicht zur Erde zog?

Die Frau v. G. hatte noch viel auf ihrem Herzen, indessen empfahl sie ihrem Sohne, das Alter zu ehren, und es macht' ihr viele Mühe, die Sache endlich zu drehen, wohin sie sie wollte. Sie sagte, daß sie für einen alten Baum, für einen alten Mann (an eine alte Frau dachte sie nicht) und für eine alte Familie große Hochachtung hätte.

Also auch für eine alte Familie? Ein neuer Edelmann, setzte sie, um es noch eindrücklicher zu machen, hinzu, ist ein Baum, der noch nicht die Blattern gehabt, der noch nicht oculirt ist. – Weiter ließ sie ihr Gemahl nicht; das paßt, sagt' er, wie [88] die Faust auf's Auge, und in Wahrheit, du weißt nicht, wer Koch oder Kellner ist.

Von der Frau v. W. wieder einen Blick – von ihrer liebenswürdigen Tochter ein Lächeln. Leben Sie wohl und glücklich! sagte die Frau v. W. – und glücklich! hallte die liebe Kleine nach. – Die Worte fielen auf den jungen Herrn v. G., allein das Auge auf mich.

Ich weiß nicht, wer auf den Gedanken kam, daß mein Reisegefährte seiner kleinen Braut einen Kuß geben sollte. Ihrem Retter auch einen, sagte Herr v. G. und die Frau v. W., als wenn sie darauf gewartet hätte; freilich, kleine Undankbare, das solltest du von selbst thun. – Ich nahm mich sehr ungeschickt dabei. Die arme Kleine ward roth über roth – und da ich mich zum letztenmal gegen sie beugte, trat ihr eine Thräne in ihr blaues schönes Auge, welches so durchschimmerte, wie ein Veilchen durch ein Thautröpfchen. – Gott segne die gute Frau v. W. und ihre Tochter, dachte ich, und den Herrn v. G., der mir zum Kuß verhalf und zu der schönen Thräne!

Jetzt war die Reihe an dem Herrn v. W. und dem Herrn Hermann. Ich hatte schon einigemal mich an den Herrn v. W. gewendet, allein er hatte es sehr höflich verbeten, weil es – wie er sich auszudrücken gefälligst beliebte –


noch nicht an ihm wäre.


Er umarmte meinen Reisegefährten und that mir, wiewohl mit steifem Arm, eine gleiche Ehre an. – Hiebei machte er (weil es eine Abschiedsumarmung war) ein griesgrämisches Gesicht.

Bei meiner Umarmung weniger, bei des jungen Herrn v. G. mehr.

Der Herr v. G. der ältere sagte: Herr Bruder, du siehst ja aus, als ob du vom verbotenen Baum gegessen hättest!

[89] Laß mich, sagte er, und that so peinlich, als verlöre er ein Glied vom Finger.

Es ist, fing er an, es ist – er unterbrach sich wieder mit einem tiefen Seufzer!

Es ist mein Herr Schwiegersohn, brach er endlich heraus, und die heißesten Wünsche, daß der große Gott ihn auf seinen Reisen begleiten, seine Studien zu seiner Ehre und des Vaterlandes Nutzen segnen und ihn zu seiner Zeit in die Arme seiner kleinen Braut gesund zurückbringen wolle! – Das, das ist ein Theil, der kleinste, von der Empfindung.

Zieh ein Paar weiße Handschuhe auf, sagte Herr v. G., solch eine Rede verdient es; deine Briefe sind alle auf Postpapier mit vergoldetem Schnitt und –

Dieser Eingriff war sehr erwünscht, um den Herrn v. W., der viel zu leiden schien, zurechtzubringen. Ich bin ein Diener der deutschen Sprache, sagte er, Herr Bruder! allein ein gewisses je ne sais quoi suche ich in Gedanken, Geberden, Worten und Werken.

Das ist auf deutsch, du suchst nichts, rein nichts, erwiederte der brave Herr v. G.

Mir konnte Herr v. W. nichts mehr sagen, als Dank! und tausend Dank! – Sein Compliment war noch nicht ausgeknetet.

Du hast mich gestört, sagte er zum Herrn v. G., wie ehegestern die Waldhörner. – Das wundert mich, fiel Herr v. G. ein, du fährst ja sonst immer mit fünf Rädern; auf allen Fall eins aufgebunden – du hättest ja das fünfte abbinden können.

Der alte Herr drängte sich vor, um mich vor aller Augen zu küssen. Ich that es, dieser Schwachheit unerachtet, doch, und – das ganz ehrlich, ich entzog ihm nichts.

Grüßen Sie, sagte ich ihm –

Ich werde, erwiederte er.

[90] Ich. Tausendmal –

Er. Tausendmal.

Dieser Gruß gehörte nicht Vater, nicht Mutter, sondern bloß Minen, bloß ihr, alle tausend ihr, alle ihr. – Mir kam es vor, daß der alte Herr es fühlte, wem es galt, und für dieses Gefühl drückte ich ihm die Hand, und er schien überaus mit mir zufrieden zu seyn; ich sagte ihm ganz leise: tausendmal, tausendmal!

Herr v. G. sah mich an, und sein Blick wollte in Beziehung auf meinen herzlichen Abschied vom alten Herrn sagen: Junger Mensch, dir fehlt Erfahrung! Man sieht's; sonst würdest du den Hermann so nicht herzen und küssen, den ich nur eben körperlich zur Erde riß; mit seiner Seele mache ichs alle Augenblicke so. Der gute Herr v. G. irrte dießmal mit dieser Geberde. – Zwar hatte er, wie meine Leser so gut wissen als ich, einen naturfindenden umfassenden Blick, daß er aus diesem Abschiede hätte wissen können und sollen, Hermann habe eine Tochter, deren Freund, deren Seelenmann ich sey – allein dießmal fand er nicht den rechten Weg.

Die Frau v. G. konnte sich nicht des Lachens erwehren, da sie meinen Feldkessel, den mir mein Vater mitgeben lassen und den meine Mutter nicht zu kennen die Ehre hatte (sonst wäre er gewiß nicht mitgekommen), aufbinden sah. – Der junge Herr v. G. hatte alles nach Jagdmanier, als ob er auf eine weite Jagd sich begeben sollte, obgleich der Herr v. G. der ältere den Satan seinem Sohn abgeschlagen und ihn versichert hatte, »daß jeder Mensch einen Zeitpunkt in seinem Leben haben müßte, wo er zu Hause bleibt,« obgleich er ihm die Jagd wohlmeinend widerrathen und ihm Hühner empfohlen, um nach der Meinung meines Vaters etwas, was Odem hat, um und neben sich zu haben.

Obgleich – so war doch der Sohn wie ein Jäger ausstaffirt.

[91] Der gute Herr v. G. der ältere that dieß in seiner Unschuld. Seht da einen Originalzug von Curland, dem Herr v. G. der ältere nicht ausweichen wollte und konnte. – Die grüne Farbe ist Trumpf.

Herr v. W. schlug eine Begleitung aus Höflichkeit vor, allein Herr v. G. verbat sie nachdrücklich. – Es blieb alles so lange stehen, als man uns sehen konnte, und da wollte ich wetten, Herr v. W. noch ein wenig länger.

Sobald wir ihrem Nachblick entfahren waren, küßte mich mein Reisegefährte von freien Stücken herzlich. – Wir wollen uns einander alles seyn – Vater und Mutter, sagte er – ich seufzte, denn ich dachte an Minchen.

Wir langten in der Haupt- und Residenzstadt Mitau an, um hier mit einem Königsbergschen Fuhrmann (man nennt dergleichen Leute Riga'sche Fuhrleute) die Fahrt bis Königsberg zu verabreden. – Ich fand in dem Fuhrmann und seinem Untergebenen ein Paar so gesunde und starke Menschen, daß ich wohl einsah, wie man auch im monarchischen Staat, der Ermahnung des Herrn v. G. auf dem curischen Grase unerachtet, seinen stattlichen Schritt haben, gerade aussehen und sich wohlbefinden könne. – Ich konnte nicht aufhören, diese Menschen zu fragen und sie anzusehen, so daß ich die Haupt- und Residenzstadt Mitau darüber vergaß, die am Ende auch nur zur Johanniszeit unter die sichtbaren gehört, und gewiß unter den sichtbaren nicht die vornehmste ist. Um Johanni ist eine allgemeine Wallfahrt nach Mitau; dann läßt der Edelmann, in Begleitung eines Theils Bauern, die Eßwaaren und sogar Möbeln an diesen Johannisort nachbringen. Dem Vorreiter ist auf dem linken Arm ein Silberblech aufgenäht, worauf das hochadliche Wappen steht, um Mitau Ehre zu machen.

Ich hatte mir, die Wahrheit zu sagen, einen zu großen Begriff von Mitau gemacht, woran meine Mutter zum größten Theil [92] Schuld war. Dieß bitte ich zu den preußischen Leuten hinzuzurechnen, um das unbeträchtliche Interesse herauszubringen, das ich an Mitau nahm. – Das vom Herzoge Ernst Johann angelegte Schloß, wozu 1738 den vierzehnten Junius der Grundstein gelegt worden, und welches an der Stelle des alten verwüsteten, seit 1269 gestandenen, errichtet worden, stand da zum glänzenden Beweise, daß Plan und Ausführung, Verlobung und Hochzeit, zweierlei sind. Diese Betrachtungen führten mich zu Minen, und was führte mich nicht alles zu ihr?

Meine Mutter würde es mir sehr verdacht haben, daß das anschauende Erkenntniß meinen Begriff von Mitau so sehr herabgestimmt. Wohnet denn, würde ohne Integralrechnung ihre Bemerkung gewesen seyn, wohnet denn nicht der Herr Superintendent hier?

Mein Reisegefährte war im Mittelpunkt und konnte nicht aufhören zu sehen. Mitau schien ihm


Terrarum Dea gentiumque Roma,
Cui par est nihil et nihil secundum.

Die Hauptstadt der Welt! – obgleich es nicht Johanni war. Die Residenz ist für jeden Edelmann das Treibhaus im kalten Klima. So wie's Arzeneien gibt, die nur durch das heilige himmlische Feuer der Sonne gekocht, gebleicht und getrocknet werden können, so ist auch die Residenz die Insolation in Absicht des Edelmannes. Mein Reisegefährte empfand alle Nepos wollas, die er in seinem Leben geben würde, und Adam hätte nicht auf die Schwangerschaft von allen Seelen, die in ihm lagen, so stolz seyn können, wenn man ihre Fortpflanzung per traducem sich träumet, wie Herr v. G. auf alle Nepos wollas, als die Insignien eines Edelmannes in Polen und Curland. Was ist denn, fing ich an, in Mitau? Man muß es zu Johanni sehen! erwiederte er. Dann ist's illuminirt, erwiederte ich, und wann die Lichter ausgebrannt [93] sind, was ist's dann? Kennst du ein Johanniswürmchen? fragte ich zur Wiedervergeltung; ich will es dir präsentiren. Es ist ein Würmchen, grünlicht auf dem Bauch. – Hier hat es auch ein kleines Bläschen, welches einen grünlichen hellen Glanz wirft; sobald dieß Bläschen sich einzieht – weg ist ihr Glanz. Die Existenz dieses Würmchens währt nur einige Sommernächte. – Mein Reisegefährte lachte – ich mochte nun denken, daß der Superintendent in Mitau sey oder nicht, so war es mir doch so, als ob ich nicht in Curland, sondern da zu Hause gehöre, wo man früher Spargel ißt, eine Pfeife in der freien Luft raucht, den Wein bei der Quelle hat und lange Manschetten trägt. Kein Wunder also, daß Mitau nicht meine Residenz war. In Curland gehörte ich in unserm Pastorat und auf dem Gute des Herrn v. G. zu Hause. Ueberhaupt scheinen die Curländer zu keiner Stadt Lust und Liebe zu haben. Sie gehören auf's Land, wo sie auch Geschmack anzubringen wissen. – Sie sind gestiefelt und gespornt, und es läßt keinem Curländer, wenn gleich er sich in Unkosten setzt und Schuhe und Strümpfe anlegt. Sie sind geborne Cavalleristen. Wenn sie geputzt sind, muß es ihr Pferd auch seyn. Ich habe allerliebste Reit-und Jagdkleider in Curland gesehen, die Mitgabe meines Reisegefährten kann hier zum Beleg dienen, unerachtet sein Herr Vater durchaus keinen Jäger auf der Universität haben wollte, seinem Sohn den Satan abschlug und unter lebendigen Thieren die Hühner in Vorschlag brachte.

Unsere Preußen verzögerten uns beinahe zwei Tage, ehe wir endlich die curische Residenz verließen. Das herzogliche Schloß hat so wenig Verhältniß zu dem übrigen Theil der Stadt, als das Mitausche Pflaster zur Regelmäßigkeit und Ordnung. In Wahrheit, wenn man die Nation beschreiben wollte, müßte man Mitau beschreiben. Ich fiel auf den Gedanken, indem ich dieß niederschrieb, ob nicht jede Residenz das Land im verjüngten Maßstabe [94] sey, allein ich habe mich geirrt; es gibt so viel Ausnahmen, so viel ungerathene Söhne bei dieser Regel, daß die Regel selbst den Mutternamen Regel nicht verdient. – Unter dem Alltäglichen, was auf der Reise vorkommt, fielen mir die armen Menschen auf, die an Hecken sitzen und sie den Reisenden öffnen. In Wahrheit, dachte ich, das können nicht alles Leute von niedriger Geburt seyn. Ich sah einen alten Mann in einem dergleichen Diogeneshäuschen an der Hecke, der einen so vortrefflichen Kopf hatte. – Das war wenigstens ein Literatus! und wo anders sah ich ein armes krankes Weib, das in der größten Behendigkeit aus ihrer Behausung kam und Hand ans Werk legen wollte, allein krämpfige Zufälle lähmten ihr stehenden Fußes die Hand. – Es war rührend anzusehen. Die Preußen wollten ihr keinen Schilling geben, weil sie ein altes Weib war und der Krämpfe wegen die Hecke nicht öffnen konnte; ich entschädigte sie zwar, allein ich mußte die Entschädigung auf Gottes Acker, auf die Erde, werfen. – Nicht Geld konnte sie halten. Dafür ward ich im Wagen ausgelacht – und wer weiß, was noch der Kritikus thut?

In Wahrheit, wenn sich jemand finden sollte, die Lebensläufe aller dieser Unglücklichen in Diogeneshäuschen zu schreiben, auf einer Reise, die freilich nicht durch die Welt seyn dürfte, wie ohnedem noch niemand gereiset ist, gewiß, er wäre ein vortrefflicher Schriftsteller und würde gelesen werden bis an den lieben jüngsten Tag.

Ich hatte, um mir eine Bewegung zu machen, den Wagen verlassen, und hiezu kam noch dankbare Empfindung gegen mein freies Vaterland, die ich unmöglich sitzend aushalten konnte. Ich sah die Gränzscheidung, und da ich eben einen grünen Platz fand, beredete ich meinen Gefährten, Curland zu umarmen. Wir legten uns hin, so lang wir waren. – Der Wagen fuhr langsam weiter, so unvermerkt, wie aus einer Monarchie Despotismus wird, wenn [95] sie es nicht schon an sich ist, worüber die Gelehrten noch uneins sind.

Lebe denn wohl, herzlich geliebtes Vaterland! Ich danke dem Himmel, daß dein freier Boden das erste war, was mein Fuß betrat. Das fühlte ich noch! noch! daß er frei war, und ich wünschte, meine Leser möchten es auch, wo nicht überall, so doch wenigstens an einigen Stellen gefühlt haben. Natur und freier Staat sind Geschwisterkind und vertragen sich wie Kinder. – Etwas reine klare Natur muß bei jedem Werke der Kunst seyn, und dieß Etwas eignet sich Seelenwürde zu; es ist Seele, es ist göttlicher Hauch, lebendiger Odem in die Nase. Die Kunst, die Verschönerung, ist Leib. – Man kann in Wahrheit auch die Menschenseele durch den Menschenkörper verschönern. – Nun leider heut zu Tage wird der Körper nicht verschönert, sondern geschwächt. Ich läugne es nicht, daß dadurch, daß der auswendige Mensch gelitten, der inwendige Mensch zum Theil zugenommen, wir haben mehr Seele und weniger Körper bekommen; es frägt sich aber, ob wir gewonnen oder verloren haben? Wir haben aufgehört zu genießen und haben angefangen zu denken!

Wer lacht, macht zu lachen, wer weint, macht zu weinen. Denn es gibt kein gefährlicheres Thier, den Affen selbst nicht ausgenommen, als den Menschen; allein wer darstellt, wer handelt und handeln läßt, bereitet ein Lachen von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen Kräften, und auch solch ein Weinen. – Wer im gemeinen Leben keinen Blick hervorlacht, sondern nur durch sein Handeln mit Fleiß zum Lachen Gelegenheit gibt, ist komisch im hohen Grade. Und in Wahrheit, ein verstohlenes Ach gilt mehr, wenn man darauf vorbereitet ist, das ist, wenn man leiden gesehen und es nicht bloß gehört, als eine Sündfluth von Thränen. Prüft nach diesen Angaben die Dichter alter und neuer Zeit. Ich für meinen Theil wollte hier nur sagen, so wie Darsteller [96] vom Selbstlacher und Selbstweiner unterschieden ist, so wie Werk vom Wort, so monarchischer Staat vom freien. Wer es fassen kann, der fass' es.

Ich merk' es, daß ich meinem grünen Platz entlaufen bin, und will mich gleich wieder, so lang ich bin, hinstrecken, um mein Vaterland zu Ende zu segnen. – Der Mensch ist zum Scheiden geboren. Sterben lernen und philosophiren ist von jeher für einerlei gehalten worden; denn in Wahrheit, diese Welt ist entweder ein Vorbereitungsort, oder wir sind die elendesten unter allen Geschöpfen! Drum nehme ich so gern Abschied auf die Art, wie vom Vaterlande, wenn ich schon weg bin. – Ich empfand wahrlich mehr, als ich sagen kann, und was noch mehr als sagen ist: schreiben kann. – Noch wo ich grün sehe, kommt mir vor, als sähe ich Freiheit. Seht, was ich diesem Scheidewändchen zwischen Curland und Preußen und dem grünen Fleck, auf dem Herr v. G., der ältere, uns belehrte, daß wir Curländer wären, zu verdanken habe!

Ich wünsche allen König'schen, weß Standes und Geburt sie seyn mögen, sonder Arglist und Gefährde, etwas Grünes, damit sie wenigstens einigermaßen wissen, was Freiheit sey. Monarchischer Staat ist wie eine Lanze, oben klingt es, unten ist Holz, wie ein Kegelspiel, das die Kugel nicht trifft. – Was Se. Majestät nicht allerhöchst eigenhändig fällt, das thun die fallenden Kegel, einer wirft den andern mit. – So wie gesteiftes und ungesteiftes Kleid, so Monarchie und freier Staat. Hier stammen wir in gerader Linie von der Mutter Natur ab, dort höchstens von der Seitenlinie. Im monarchischen Staate wächst, was noch in die Höhe schießt, wie eine Bohne an der Stange. Im freien Staate, sagt man, sind die Menschen wild, das heißt mit andern Worten: im monarchischen Staat sind die Menschen Menschen. Warum denn alles nach der Regel de tri? Ein König'scher, ein Unterthan, ist ein [97] zahmes Thier, das aus der Hand frißt und nicht weiß, was es erst thun soll, ob fressen? oder die Hand küssen? Er sitzt beständig auf den Tod und wartet nur auf den Appetit seines Allergnädigsten. Ruft nicht Pensionärs! Im freien Staat ist wenigstens ebenso viel Sklaverei als Freiheit. Dieß hat mich Herr v. G. besser gelehrt, der meines Wissens keine Pension zog. Wo Weizen wächst, wächst Unkraut, und je besser der Boden, desto besser schießt beides hervor. – Die ganze Natur ist für und wider sich; alles kreuzt sich in der Welt, Vögel und Aeste. Was sich neckt, das liebt sich. – Seht da wieder Natur im freien Staat, Homer'sche, Shakespeare'sche Natur! Das Lobopfer, das ihr der Monarchie bringt, ihr Professores Poeseos! was ist's? Erbauliche Gedanken neben einer Hecke, die eben geköpft ist, auf die Melodie: Nun sich der Tag geendet hat und keine Sonn' mehr scheint.

Lebe wohl, herzlich geliebtes Vaterland! Du hast mich gelehrt, die Freiheit schätzen, obgleich du selbst bei weitem noch nicht frei bist, sondern dich zu Polen verhältst, wie ein Aufschlag zum Kleide. – Frevelhafte Beschuldigung ist es, daß man in deinem Schooß wie eine Flinte sey, die nicht mehr, nicht weniger knallt, es fall' ein Sperling oder ein Mensch, nach Gottes Bilde gemacht. Es gibt monarchische Staaten, wo man sich über den Kopf eines Mörders wenigstens zwölf Monate bedenkt, so, daß das Publikum die Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe vergißt, und der Pastor loci recht gemächlich Gelegenheit nehmen kann, den Geist und die Kraft der Religion an diesem Bösewicht ad oculum zu demonstriren. Alle Mörder sterben alsdann wie der Schächer am Kreuze! Dagegen fließt in diesen Staaten das Blut von tausend Edlen im Kriege. Niemand löthet die Wunden der Redlichen. – Es gibt Thiere, sagte mein Vater, die im Marmor, aber nicht im Leben gefallen, und so wie der Bienenschwarm, so der freie Staat. [98] – Nicht also, mein Vater; ich glaube, daß das Denken im monarchischen Staat und das Reden im freien zu Hause gehöre, oft auch das Thun – so wie ein Sklave nur eigentlich unverschämt seyn kann; im freien Staat kennt man dieß Wort nicht.

Meine Leser werden ohne Fingerzeig einsehen, daß ich dieses nicht auf dem grünen Platz schreibe, sondern in einem Staat. – Bald hätte ich zu viel gesagt. Ich empfand auf diesem grünen Platz, und zwischen Empfinden und Denken ist oft so ein Unterschied, wie zwischen Wachen und Träumen. Ein schöner Traum! ich gäb' einen Tag drum unbesehens.

Meine Empfindungen wurden den Preußen, dem Fuhrmann und seinem Untergebenen, zu lange – Ichschlief ihnen zu viel. Sie schrien mich heraus und gaben mir zu verstehen, daß hier guter Weg sey, wo der Wagen ohne Noth aufgehalten würde, und daß schon Stellen vorfallen würden, wo ich Gelegenheit haben würde, mich zur Ruhe zu begeben (eigentlich zu empfinden).

So gründlich gleich diese Aufforderung war, so verdroß mich doch dieses Commando, und ich konnte nicht umhin, ich weiß selbst nicht, wie ich darauf fiel, zu fragen, warum sie denn nicht Soldaten wären? Ich hätte doch gehört, daß alles, was einen stattlichen Schritt in Preußen hätte, gerade ausseh' und sich wohlbefände, Soldat wäre, daher auch zärtliche Mütter Gott auf Knien danken sollten, sobald sie aus dem Wochenbette auf die Füße kämen, wenn er sie einen Krüppel auf die Welt zu bringen gewürdigt, weil dieser allein das Recht hätte, eine Stütze der Familie zu werden. – Herr! sagten die Preußen, wer Ihnen das gesagt hat, ist ein H-t. Beim höchstseligen Herrn gings zuweilen in diesem Stück bunt über Eck – und da konnte man manches nicht spitz kriegen. Gott laß ihn höchstselig ruhen! Unser jetziger Herr, sie zogen ihre abgekrempten Hüte ab, braucht Fuhrleute und Generale, und es thut in Preußen nichts, ob man einen Orden oder eine Peitsche [99] umgehangen hat. (Sie hatten die Peitschen wirklich auf Ordensart.) Ich lasse keinem Menschen die Mittelsteine, wenn ich nicht will. Ein General oder Corporal geht mich mit keiner Ader an. – Ich für mich, sie für sich. – Wer dem Herrn die Abgaben gibt, ist ihm angenehm, so wie dem lieben Gott, wer recht thut, und wenn die Soldaten zur Revue sind, verstehen Sie mich (der Alte sprach), junger Herr Curländer, so bin ich während der Zeit Major von der Cavallerie, und dieser, mein Schwestersohn, ist Junker, und ich versichere den Herrn, daß wir unsern Säbel führen (er machte Luftstreiche und der Junker gleichfalls) wie Einer.

Es fiel mir eben, da die preußische Glänze anfing, eine große Eich' ins Auge, die sich nicht um das, was unter ihr war, bekümmerte. Sie hatte sogar gegen unten keine Schattenäste für ihre Unterthanen. – Stolz wuchs sie gen Himmel, und selbst ich hatte Mühe, ihren Gipfel zu erreichen – Sieh da einen Monarchen, sagte ich zum jungen Herrn v. G., und er verstand die Eiche und mich auf ein Haar.

Ich wünschte, daß mein Vater diese königlichen Fuhrleute gesehen hätte – denn ich selbst war so begeistert, daß ich gern Luftstreiche mit diesen tapfern Preußen um die Wette gewagt hätte, wenn mir nicht mein Reisegefährte heimlich auf den Fuß getreten und eben so heimlich die rechte Hand gedrückt hätte, als wollt' er treten und drücken – Bruder, laß den Major und Junker, den Fuhrmann und seinen Untergebenen.

Es war gleich alles wie abgeschnitten. – Unsere Heerführer waren so sehr von allem Eifer zurückgebracht, daß sie uns herzlich versicherten, wie die Fuhrleute und Studenten in Königsberg Schwäger und Freunde wären! Trotz dem grünen Platz und dem kleinen Streit, der zuweilen vorfiel. – Sie bewiesen uns ihre aufrichtige schwägerliche Verwandtschaft, daß sie den folgenden Tag schon um drei Uhr Halt machten, um uns oder eigentlich mir, [100] Zeit und Raum zu lassen, eine Leichenbeerdigung zu hören und zu sehen.

Wir waren eben im Begriff, in – – Mittag zu machen, da die Glocke gezogen ward. – Ich verstand auf den ersten Anschlag, daß es Trauertöne werden sollten.

Wer ist todt? fragte ich den Hauswirth. Fragen Sie, antwortete er, wer wird begraben? Auch das, erwiederte ich, und wer?

Schön, fuhr er fort, nun werd' ich Sie fragen, wer wird begraben?

Ich sah den unwitzigen Mann ernsthaft an, und wenn nicht eben eine Sturmglocke für mein Herz zu hören gewesen wäre, es wäre schwerlich beim Anblick geblieben. – Der Hauswirth war indessen so gefällig, mir sogleich auf meinen ersten Augenschlag (der Herr v. G. trat und drückte mich wieder) aus dem Traume zu helfen. Mein Herr, setzte der Hauswirth im Geschichtsstyl hinzu, es ist ein Fremder, ein Unbekannter. Niemand weiß, wo er her ist. Unfehlbar hat er nicht nach Hause reichen können, denn man sieht ihm sein hohes Alter an. – Er hat ein sehr gutes Aussehen – weil man einige Gulden und eine Schreibtafel (beides hat der Pfarrer gleich an sich genommen) bei ihm gefunden, so wird er mit einer Leichenpredigt begraben.

Gott, schrie ich, das ist der Alte! Alt ist er, sagte der kupfernasige Hauswirth ganz gelassen.

Ich konnte nicht mehr – ich will hin, ich will hin – und seine kalte starre Hand angreifen. – Noch ist Segen Gottes darin. – Da die Gebeine jenes Mannes, den man in Elisa's Grab warf, die Gebeine des Propheten berührten, wurden sie lebendig – und es trat der Mann auf seine Füße.

Ich will hin, ich will hin – und wenn ich seinen einen Handschuh erben könnte! – O welch eine Erbschaft hätt' ich gethan!

[101] Der Hauswirth nahm, während dieser heiligen Entschlüsse, Tabak und zog ihn sehr hoch in die Höhe.

Jetzt erst wandt' ich mich zu unsern Fuhrleuten, um sie zu überreden, den Mittag und Abend in einem weg zu halten.

Abgemacht,

Der Herr v. G. erkundigte sich nach Wild – und ich ging spornstreichs in die Kirche.

Eben hatte der Pfarrer den Text, den er zu der Leichenpredigt ausgesondert hatte, verlesen. Den Spruch fand der Leichenprediger in der Schreibtafel des Seligen aufgeschrieben und dreimal unterstrichen. Er steht in der zweiten Epistel an die Corinther im sechsten Capitel, vom vierten bis zehnten Vers:

»Sondern in allen Dingen lasset uns beweisen als die Diener Gottes, in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöthen, in Aengsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhren, in Arbeit, in Wachen, in Fasten, in Keuschheit, in Erkenntniß, in Langmuth, in Freundlichkeit, in dem heiligen Geiste, in ungefärbter Liebe, in dem Worte der Wahrheit, in der Kraft Gottes, durch Waffen der Gerechtigkeit, zur Rechten und zur Linken, durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte, als die Verführer und doch wahrhaftig, als die unbekannten und doch bekannt, als die Sterbenden und siehe wir leben, als die Gezüchtigten und doch nicht getödtet, als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viel reich machen, als die nichts inne haben und doch alles haben.«

Ein Thema pflegt bei den Geistlichen ein leeres Haus zu seyn, wo man mancherlei und manches anschlagen kann, ein Nagel, an den man viel hängt; ich weiß nicht, ob man nicht auch in diesem Sinn sehr richtig sagen würde: man muß nicht zu viel an einen Nagel hängen.

Das Ziel, nach dem der Pastor loci anlegte, war der Schein [102] und das Seyn des Christen! Meine Mutter hätte, wenn sie selbst diese Leichenpredigt gehalten, kein gereimteres Thema gefunden; ich für mein Theil hatte alle Fassung nöthig, um mich zurückzuhalten. – Ich brannte vor Begierde, den Sarg dieses Seligen aufzusprengen und mir einen Segen abzufordern. Es war sehr zu merken, daß ich dem Pfarrer ein Meteor war und ein unverhoffter Gast – er haspelte seine Predigt in höchster Eile herab; indessen verzählt' er alle Augenblicke die Fäden, und dieß zwang ihn, von neuem zu zählen. – Endlich die Nutzanwendung zumSchein und Seyn.

Meine Geliebte! der selig Verstorbene schien uns anfänglich ein Mann nach der Weise Melchisedech. Ich fragt' ihn nach dem Namen, Geburtsort, Vaterland; ob er noch in dieser Welt etwas zu berichtigen hätte? Auf alle diese Fragen nicht eins zur Antwort.

(Ich ward über und über roth, und nun erschien mir der Pfarrer als ein Meteor und ein ungebetener Gast, und das Aergste bei dieser Verlegenheit war, daß ich nicht haspeln konnte. Nichts ist einem Verlegenen heilsamer, als wenn er reden kann; er fällt zwar immer tiefer darein, indessen ist es ihm Labsal, reden zu können, wenn er auch nur stammeln und stottern sollte. Er ist wenigstens vor einer Seelenlähmung sicher, die eben so, wie eine körperliche, oft zeitlebens auf die Seele einen Einfluß hat. Die Zunge ist in solchen Fällen Ventilator in einem stockigen Zimmer. – Sie bringt frische Luft herein.)

Da ich einsah, fuhr der Leichenprediger fort, daß unser Seliger Ursachen zur Zurückhaltung hatte, wandt' ich schnell um und klopft' an eine andere Thür, die zum Seelenheil führt. Hier blieb er mir kein Wort schuldig. – Nach seinem seligen Hintritt klärte sich alles auf. Er fand nicht für gut, zu erzählen, was seine Schreibtafel enthielt, er wollte sich nicht die Augenblicke entwenden, [103] die er himmlisch anwenden konnte. Sein Wandel war nicht von hier, sondern von droben. – Das erste, was ich öffnete, war seine Schreibtafel, die wie ein Communionbuch gebunden war. Seinen Geldbeutel, worinnen vierzig Gulden waren, öffnete ich nachher.

(Ich war im preußischen Gelde ganz unerfahren, und ich muß mich noch hüten, um ja hiebei nicht wider das Costüm zu sündigen.)

In seinem Communionbuch von Schreibtafel fand ich mehr als ich gefragt hatte. Man pflegt oft in Schreibtafeln das Geheimste, das man oft seinem geheimsten Rathe nicht entdeckt, zu finden. Es ist der Männer Schooßhündchen.

Unser Seliger heißt – – – – – –

Ha! kunstrichterlicher Leser! da hattest du schon deine Bleifeber zum Strich gespitzt. – Wieder einerohne Namen, eine unbenannte Geschichte! Stecke dein Schwert in die Scheide; denn wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen, und damit ich bei dieser Gelegenheit auch an eine andere Thür anklopfe, die zum Seelenheil führt, bet' ich ein Vater unser für dich! – damit du nicht vielleicht ohne Namen dahin fährst in deinen Sünden. – Halt den Hut vor!


Ne nos inducas in tentationem,
Sed libera nos a malo. Amen.

Unser Seliger heißt – – – – – – wie er seinen Namen ganz mit allen Punkten und Clauseln ausgeschrieben.

Er fährt fort:

Ich war reich – ich hatte so viel, daß meine großstädtische Freunde zuweilen zu mir kamen und sich ländlich vergnügen konnten.

Ich ward arm, fährt er fort, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sey gelobt! Wie er um das Seinige gekommen, meine Lieben, ist nicht angeführt. [104] In seinem Wohlstande hatt' er zum Aufbau eines Lusthauses und Lustgartens für eben diese Freunde, wenn sie ihr stockendes Blut wieder in Fluß bringen wollten, zweitausend Gulden angeliehen, schwer Geld.

Da er arm geworden, erließen sie ihm die Schuld und gaben ihm seinen Schuldbrief zurück. Sie bedachten vielleicht, daß er nur ihretwegen diesen Bau unternommen. – »Was dankt' ich Gott,« schreibt der Selige, »daß ich unter meinen Freunden Menschen fand. So in der Nähe, dacht' ich. – Gott schlägt, Gott heilt, Halleluja!« Unser Seliger hatte zwar nicht das Glück des Hiobs, der zwiefältig so viel bekam, als er gehabt hatte, und außer dem schönen Groschen und dem güldenen Stirnband, so ihm seine Brüder und Schwestern und Bekannten verehrten, noch vierzehntausend Schafe und sechstausend Kameele, und tausend Jochrinder und tausend Esel – wie er denn auch nach seinem gehabten Unfall einhundert vierzig Jahre lebte und Kinder und Kindeskinder sah, bis in das vierte Glied. Unser Seliger konnte zwar nicht seine Freunde zum ländlichen Vergnügen mehr einladen, sein Gärtchen und sein Lusthäuschen waren in fremden Händen; allein er hatte doch Nahrung und Kleider! – Seine Freunde hatten auch nach der Zeit sichbitter und sauer Brunnen angewöhnt, welchen sie die nämliche Kraft, als guter frischer Milch und einem Gartenhäuschen und einem Lustgarten, beilegten. – Der Selige hatte sich indeß so weit herausgewunden, daß er viertausend und siebenzig Gulden nach Königsberg nehmen konnte, um seinen Verkehr durch einige neue Waaren zu verstärken. Bei viertausend und siebenzig Gulden baar Geld konnt' ein so ehrlicher Mann, als er, auf noch einmal so viel Credit rechnen. – Seine Anverwandten hörten von den viertausend siebenzig Gulden und nahmen ihn allein.

Sie fragten nach der Handschrift. Hier, sagte er, und zog sie aus der Schreibtafel. Solang ich lebe, soll auch diese Handschrift [105] leben; ich könnte vielleicht aufhören dankbar zu seyn, wie viele Menschen, wenn sie zu satt werden, Gottes vergessen. – Hier, sagt' er, ohne Flecken, ohne Runzel, oder deß etwas, so wie ich sie gestellt hatte und zurück erhielt.

Der Senior Familiae, ein alter herzloser Mann, nahm sie entgegen, und es ward dem Dankbaren angedeutet, daß, da man von den viertausend Gulden, ohne an die siebenzig zu denken, gehört, er wohl ihre zweitausend Gulden, zusammt den Verzögerungszinsen, entrichten könnte.

Freunde, fing er an; allein man droht' ihm mit dembreiten Wege Rechtens, der zur Verdammniß führt, und viele sind, die darauf wandeln.

Freunde, fing der Selige wieder an; allein (und dieß kränkt' am meisten) sie machten ihm Vorwürfe, daß er noch dazu die zweitausend Gulden zu Lusthaus und Garten verwendet hätte.

Aber – fing er wieder an, und der Senior Familiae fiel ihm ins Wort: Freilich hatte Sie Gott damals reichlich gesegnet und Sie konnten an Lust denken, jetzt aber bei viertausend siebenzig Gulden müssen Sie an Zahlung denken. – Denkt, sagte der Selige.Zahlt, sagten die Verwandten, die Unseligen. Sie hatten ohne Flecken, ohne Runzel oder deß etwas, das Document und er hatte keinen Beweis der Schenkung, und wenn ich auch, schreibt er, Beweis der Schenkung gehabt hätte – und wenn auch –

Er bezahlte.

»Nur die Zinsen!« es macht' auf jeden der Herren eine Kleinigkeit.

Keinen Dreier! sagte Senior Familiae. Es sind dieusurae morae (die Verzögerungszinsen); er hatte diesen Bissen Latein von einem Rechtsgelehrten erhandelt!

Der Selige mußte von Heller zu Pfennig Capital und Zinsen [106] berichtigen, und da einige andere von seinen unbeträchtlicheren Gläubigern, die ihm aber nichts erlassen, sondern theils auf seine Verbesserung wegen der alten Schuld gewartet, theils ihn mit neuem Flickvorschuß unterstützt hatten, dieses hörten, verlangten auch sie Geld und reservirten sich quaevis juris competentia contra quem vel quos, wenn der Arme nicht noch so viel übrig behalten hätte, daß ihr neuer Vorschuß hinreichend berichtigt werden könnte. Es fehlten ihm dreihundert Gulden; der Arme ging zum Senior Familiae, und dieser? Er hatte nur eben Zeit zu einem Vorschlage, der dem Seligen bis in die Seele ging. Er schlug ihm vor, seinen Wagen und vier Pferde zu verkaufen, um auszulangen.

Vierzig Gulden war alles, was unser Selige erübrigte, und ein paar Füße, die seine schwermüthige Seele mit genauer Noth tragen konnten. Sein Leib wog nicht vier Pfunde.

»Vierzig Gulden,« sagt' er zu sich selbst und sah seinen ledig gewordenen Geldbeutel an. Er hob ihn und fühlt' es, daß auch er noch zu schwer für seine Füße war. – Wenn sich doch Gott erbarmen wollte! rief er; hier in der Welt ist's mit der Erbarmung aus! Wenn doch Gott sich erbarmen wollte! – Wenn er doch meine Thränen so zählen wollte, wie die Schlucker mein Geld! Er hatt' auf diesen sauern Tag eine angenehme Nacht; es träumte ihm, daß das Lusthäuschen und das Gärtchen, welches, wie er verarmte, subhastirt ward, ihm wieder zufielen, und alles so grün, so schön, daß es ihm dünkte, als hör' er die Stimme: Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenig getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude.

Was das für eine Freud' im Traum war, schreibt er, ist unaussprechlich! So was kann man nicht leben, so was muß man träumen. Er ging zu Fuß aus Königsberg, und es sey, daß die [107] Ungewohnheit, ein Fußgänger zu seyn, oder daß der gerechte Schmerz über dergleichen Verfahren ihn noch tiefer als sein hohes Alter angriff, unser Seliger ward in – – krank. Ich fühlte, schrieb er, beim ersten Stich in der linken Seite, daß mein Stündlein vorhanden sey und die Erfüllung des Traumes: Geh' ein zu deines Herrn Freude.

Diese Worte wiederholte der Sterbende unzähligemal, und allemal mit einer Freude, die wie Kraft der zukünftigen Welt aussah.

Er hatte in Rücksicht seiner Wohnung nichts weiter auf seinem Herzen, als die Bitte, seinen Tod in – –, wo er zu Hause gehörte, zu melden und alle, die sich seiner erinnern sollten, grüßen zu lassen.

Er hatte nicht Frau, nicht Kind. Gehabt zwar beides, allein beides war vorausgegangen, um ihm dort entgegenzukommen. Gott ruft mich, schreibt er, zu rechter Zeit. Ich habe meine Schulden bezahlt und bin keinem weiter als dem lieben Gott schuldig, der mit mir wahrlich, das hoff' ich, anders rechnen wird, als meine Verwandten. – Die mir zu tragen schwergewordenen vierzig Gulden bleiben zu meinem Begräbniß und für

Und für waren seine letzten Worte.

Ich hätte diesen Bruch, fuhr der Pfarrer fort, heben und es so erklären können: und für den Pastorem loci; denn ich hab' ihn zweimal mit Gottes Wort besucht und den glimmenden Docht der Hoffnung, die in ihm war, so wenig ausgelöscht, daß ich ihn vielmehr vollends anfachte; – allein ich hab' Euch auch all' an diesem und für Theil nehmen lassen wollen. Den Organisten und die Leichenbegleiter – und an uns allen verdient der Selige einen Gotteslohn!

Mir fiel eine natürliche Erklärung des und für ein. Da schon des Begräbnisses erwähnt war, so hat der Selige, dacht' ich, [108] mit seinem und für die Dorfarmen gemeint; denn in Wahrheit, das waren bei seinen Umständen seine nächsten Anverwandten. – Es gehen freilich verschiedene Sterbende, die noch viel Unrecht auf ihrem Herzen und Gewissen haben, zur Beichte, um am Himmel nicht aufgenommen zu werden; sie lassen sich hier plombiren, um dort bei der Himmelspforte sich keiner Revision auszusetzen, und da trägt es sich freilich wohl zu, daß dem Geistlichen, dem Besucher, etwas in die Hand gedrückt wird. – Unser Todter, das wett' ich, nicht also!

Wohl dem! rief unser Pfarrer aus, wohl dem, der, solang er mit seinem Bruder auf dem Weg ist, das heißt, so lange sie beide die Straße dieses Lebens gehen, ihm ersetzt, was er ihm Unrecht gethan, dem abbittet, den er beleidigt, den in integrum restituirt, den er beschädigt hat. Wohl dem, der alles mit warmer Hand abträgt! denn wie leicht kann der Gläubiger sterben? und die Ersetzung ist alsdann nicht möglich; wie leicht kann der Lebens' lauf des Schuldners gehemmt werden und wie leicht kann es kommen, daß sie aufhören, einen und denselben Weg zu wandeln? Weh' alsdann dem Schuldner! Alles ist aus! – Er kann nicht mehr bezahlen, so gern er auch wollte. Seine Münze galt nur in dieser Welt, mit einem ewigen Vorwurf geht er in die Ewigkeit über. Diese Stelle überwog die ganze Predigt. Wer sie liest, der merke drauf, solang er eine warme Hand hat, solang er noch auf dem Wege mit seinem Gläubiger ist und mit ihm lebensläuft!

Es starb der Selige (meine Leser hören wieder denPastorem loci), seines Lebens müd' und satt, mit der dringenden Bitte, ihm auf unserm Gottesacker ein Räumlein zu gönnen, bei frommer Christen Grab. So wie Abraham zu den Kindern Heth, nach dem ersten Buch Mose im dreiundzwanzigsten Capitel, im vierten Vers sprach:

[109] Ich bin ein Fremder bei euch, gebet mir Begräbniß; so sprach auch unser Seliger, und obgleich er nicht vierhundert Sekel Silbers, das im Kauf gang und gebe war, wie Abraham zu bezahlen im Stande war, so war unser Alter doch auch nicht der Abraham und wir nicht die Kinder Heth. – Das Plätzchen, das wir ihm verstattet, ist kein Erbbegräbniß, wer wollt' auch seine Anverwandten mit den zweitausend Gulden Capital und den Verzögerungszinsen zur Nachbarschaft haben! Man erzählt, daß Hände, die ihre Eltern geschlagen, nicht verwesen, sondern aus dem Grabe herauswachsen, obgleich ich viele ungerathene Kinder, bisher aber, leider! noch keine herausgewachsene Hand gesehen habe. – Wahrlich, wir würden alle die Hände der Anverwandten unseres Seligen sehen, wenn diese Sage wahr wäre – und die Hand des Senioris Familiae, hager und ungestaltet, mit langen, unabgeschnittenen Nägeln. – Wie schrecklich! – Nein – nicht für hundert Sekel Silbers, das im Kaufe gang und gebe ist, nicht für tausend! – Für dich aber, Seliger, machet die Thür unseres Kirchhofs weit und die Thore hoch, damit er bei uns einziehe! – Wenn der Fall nicht so, wie er wirklich ist, gewesen wäre, wir hätten keinen Dreier für dieses Plätzchen genommen. – Die Kirche dankt dir, lieber Seliger, für das, was sie durch meine Hand erhalten hat, und ich danke dir für das, so uns allen zugewendet worden, bis auf den letzten Träger. Judas verrieth wegen dreißig Silberlingen seinen Meister. – Hier sind freilich nur vierzig Kupferlinge, und es ist allerdings mehr Schein als Seyn dran, indessen, wie bald wird sein abgetragener Leib in einer Hand Raum haben. – Diese Handvoll ehrliche Erde gibt er uns ohnehin als Agio von den vierzig Gulden.

Uns allen lehre der Herr unseres Lebens bei dieser Gelegenheit unser Schein und Seyn, das heißt, er lehr' uns wohl bedenken, [110] daß wir nicht wissen, wann der Herr kommt. – Darum wachet! So gesund wir scheinen, so ist doch nichts gewisser, als daß es ein Ende mit uns haben müsse, daß unser Leben ein Ziel habe und wir davon müssen. Das ist unser Seyn!

Ihr Gebeugten im Volke, freuet euch in dem Herrn, und abermals sag' ich euch: freuet euch, denn ihr werdet sterben! und eben dann, wenn ihr nicht aus noch ein wißt, wird euch der Herr gen Himmel zeigen – da werdet ihr Friede haben und nicht hören die Stimme des Steuereinnehmers, da werden getrocknet werden die Thränen von den Wangen der Wittwen, da werden die Gottlosen aufhören mit Toben, und sanft ruhen die des Lebens Last und Hitze getragen haben. – Fasset eure Seelen in Geduld, und wenn euch eine Krankheit anficht, denkt, daß sich eure Erlösung naht. Seht an den Feigenbaum und alle Bäume, wenn sie jetzt ausschlagen, so seht ihr's und merkt, daß jetzt der Sommer nahe sey, – Bei Menschenkindern ist es umgekehrt. – Wenn der auswendige Mensch stirbt, fängt der inwendige zu leben an. Gern hätt' ich diese Lebensumstände, die mir, so wie sie da sind, gewiß nicht wenig Mühe gemacht, da sehr viele Worte halb verwischt und viel unleserlich geschrieben war; gern hätt' ich, weil mir wohl bekannt ist, daß ihr lieber einen Lebenslauf als eine Predigt höret; gern hätt' ich diese Lebensumstände verstärkt, wenn ich mehr im Taschenbuche gefunden hätte. Zum Beschluß wollen wir vom einunddreißigsten Vers bis zum sechsundvierzigsten des fünfundzwanzigsten Kapitels des Evangelii Matthäi verlesen hören und verlesen:

Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heilige Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit. Und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie von einander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet. Und wird die [111] Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird denn der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeiset. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränket. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackend gewesen und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besuchet. Ich bin gefangen gewesen und ihr seyd zu mir kommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeiset, oder durstig und haben dich getränket? Wann haben wir dich einen Gast gesehen und beherbergt? oder nackend und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir kommen? Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich, ich sag' euch, was ihr gethan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich nicht gespeiset. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich nicht getränket. Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich nicht beherberget. Ich bin nackend gewesen und ihr habt mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen und ihr habt mich nicht besuchet. Da werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich gesehen hungrig oder durstig, oder einen Gast, oder nackend, oder krank, oder gefangen, und haben dir nicht gedienet? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sag' euch, was ihr nicht gethan habt Einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht gethan. Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben! – –

[112] Ins ewige Leben verhelf' uns alle zusammen der Herr des Lebens, Amen!

Nach der Predigt ließ der gute Pfarrer singen:Lieber Gott, wann werd' ich sterben, und seine werthen Zuhörer, welche bis auf mich lauter Bauern und Fischer waren, sangen dieß Lied mit einem so himmlisch-sehnsuchtsvollen, der Welt abgestorbenen Herzen, daß ich sehr gerührt ward. Man hörte es ihnen genau an, daß niemand unter ihnen vierzig Kupferlinge im Vermögen hatte, und daß sie alle des Tages Last und Hitze dieses Lebens trügen. – Der Pfarrer sang ebenso herzlich, nur mit dem Unterschiede, daß er mit seiner Stimme die ganze Gemeinde commandirte.

Meinen Lesern zu Gefallen, die kein Gesangbuch haben, will ich die Stelle, die mir der Pfarrer vorzüglich ins Ohr und Herz sang, abschreiben:


Lieber Gott, wann werd' ich sterben?

Meine Zeit läuft schnell dahin,

Und des alten Adams Erben

(Wo ich auch ein Erbe bin)

Haben dieß zum Vatertheil,

Daß sie eine kleine Weil'

Arm und elend sind auf Erden,

Und am Ende Erde werden.


Ich mit allen meinen Brüdern

Lebe eine kleine Zeit,

Trag' ich nicht in allen Gliedern

Samen zu der Sterblichkeit?

Geht nicht immer da und dort

Einer nach dem andern fort?

Und wie mancher liegt im Grabe,

Den ich hoch geehret habe.


[113]

Aber, Gott, was werd' ich denken,

Wenn es wird zum Sterben gehn!

Wo wird man den Leib versenken?

Wie wird's um die Seele stehn?

Ach, ein Kummer fällt mir ein:

Wessen wird mein Vorrath seyn?


Man hätte glauben sollen, das Gewissen hätte beim guten Pfarrer wegen seiner Erklärung der Worte und für diese Reihe mitgesungen; allein ich versichere auf Ehre, das Gewissen gab seine Stimme nicht dazu. – Beinahe möcht' ich das Gewissen auf ein Haar kennen, wenn es mitsingt. – Es hält selten Melodie, singt lahm und so, als dürft' es nicht.

Schriebe meine Mutter dieß Buch, sie hätte von diesem Liede seinen Buchstaben ausgelassen; indessen will ich einigen meiner Leser diesen Gefallen thun.

Die ganze Gemeinde, o Gott! wie inbrünstig sang sie diese Zeilen:


Lieber heute noch als morgen,

Denn ich werd' einst auferstehn!

Ich verzeih' es gern der Welt,

Daß sie alles hier behält,

Und bescheide meinen Erben

Einen Gott'. – der wird nicht sterben!


Vorzüglich fiel mir ein alter Mann bei dieser Stelle auf, der unfehlbar nicht mehr Träger wegen seiner sehr hohen Jahre sehn konnte, und sich in einem etwas finstern Kirchenwinkel aufgestützt hatte. – Ich hätte mich nicht enthalten können, diesem Aufgestützten etwas aus meinem ἀνέχου καὶ ἀπέχου zu geben, wenn ich es bei mir gehabt. – Diesem alten Manne gehörte, das merkte [114] man, noch ein Haufen Kinder an, der um Brod schrie. Es war recht, als wenn alle diese Kleinen mitleierten.

Zwinge dich nicht, schreibt meine Mutter,ohne Geld auszugehen, das heißt:aus einem guten ein schechter Mensch werden wollen. – Dießmal freut' ich mich aber, ohne dieses versiegelte Schatzpäckchen gewesen zu seyn, da ich zu Hause kam; denn ich hätte mich in Wahrheit nicht gehalten und meines Vaters Auflage geradezu entgegengehandelt! »In der größten Noth!« Dieß brachte mich zum Gelübde bei mir selbst, dieß Schatzpäckchen nie bei mir zu tragen. Ohne Geld aber, liebe Mutter, werd' ich nicht ausgehen.

Bei der letzten Strophe, die ich meinen Lesern auch nicht entziehen will, war der Ton ganz anders:


Herrscher über Tod und Leben,

Mach' einmal mein Ende gut!

Lehre mich den Geist aufgeben

Mit recht wohlgefaßtem Muth!

Hilf, daß ich ein ehrlich Grab

Neben frommen Christen hab',

Und auch selber in der Erde

Nicht zu Spott und Schande werde!


Ob nun gleich der Alte, den ich bis oben zu begraben gesehen, nicht der mit dem einen Handschuh war, als welchen Handschuh ich mithin ebenso wenig als den Segen dieses Himmlischen aus seiner Hand erben konnte, so war ich doch sehr belohnt, daß Mittag und Abend in einemweg gehalten ward. – Ich dacht' anMine, wie beim Schloß in Mitau und bei aller Gelegenheit, und wie hätte wohl ein Vorfall, der mich zum Stehen, zum Denken bringen konnte, nicht zugleich Mine und ihn in einem Paar darstellen sollen? Wenn man liebt, ist überall schöne Natur für den Liebenden.

[115] Mein Reisegefährte kam eben von der Jagd und hatte drei Vögel erlegt, die wir uns braten ließen. Ich hatte noch nichts gegessen und er hatte sich weidmännlich ermüdet.

Indem wir uns niedersetzten und ich ihm von meinem Todten, er mir von seinen drei Vögeln erzählte, siehe da, der Pastor loci! und mit ihm ein Melotenpflastergeruch, so daß der Pastor die ganze Stube würzte.

Er konnte nicht unterlassen, denjenigen, der heut ihm die Ehre gethan, sein Zuhörer zu seyn, näher kennen zu lernen, und da wir aus seiner Art sich zu führen uns überzeugten, daß er nicht abschlagen würde, mit uns vor'n Willen zu nehmen, so baten wir ihn, seine Kapuse abzulegen. Der Herr v. G. erzählte, eben drei Vögel geschossen zu haben. Eben drei? sagte der Pastor und fand hiebei was Besonderes. Der Mann einen Vogel! beschloß ich, und der Pastor konnte nicht aufhören zu wiederholen: eben drei! Der arme Pfarrer entdeckt' uns gelegentlich seine recht schlechte Verfassung. – In Curland, sagt' er, sind meine Herren Amtsbrüder Edelleute! Mögen sie doch. – Wenn ich nur einen bessern Fang wie vor'm Jahr hätte!

Diesen Wunsch klärt' er uns durch die Erzählung auf, daß er auf den Drosselfang gewiesen wäre und dieses ein Hauptaccidenz bei der Pfarre sey. – Unfehlbar war dies die Ursache, warum er: eben drei! so oft sagte. Wir öffneten dem armen Pastor noch unsern Eßkorb, den uns die Frau v. G. reichlich gefüllt hatte. Unser Wein war ihm Labsal. – Ich konnte mich kaum des Lachens enthalten, da er den heut Begrabenen einen Zugvogel nannte. Da ich die Verfassung dieses ehrlichen Drosselpfarrers hörte, fand ich die Erklärung, die er von den letzten Worten:

und für

gemacht hatte, der Sache so vollkommen angemessen, daß ich überzeugt war, das Geld hätte nicht besser angelegt werden können, [116] wenn es ins Hospital gekommen wäre. Die sogenannte Pastoralklugheit ist, in einer guten Uebersetzung, eine wohlehrwürdige Bemühung, auf anderer Leute Kosten zu leben; bei unserm Drosselpastor nicht also.

Ich erkundigte mich noch nach verschiedenen Umständen des zur Ruhe Gebrachten; allein außer dem, was der gute Pfarrer in der Kirche angebracht, wußt' er kein Wort.

Ich gab dem Pastor loci für den Alten, der sich in einem finstern Kirchenwinkel aufgestützt hatte und die Worte:


Und bescheide meinen Erben

Einen Gott, der wird nicht sterben!


überlaut sang, eine Kleinigkeit, um sie ihm morgen abzugeben. So hat er, sagt' ich, zwei frohe Tage – denn wenn er gleich Alters wegen nicht getragen hat –

Allerdings, fiel der Pfarrer ein, ich habe die Anordnung gemacht, daß sie alle was zu essen und zu trinken haben. Der Alte ein Theil mehr, weil er noch außer den großen Kindern drei kleine Kinder zu Hause hat.

Da der Pastor hörte, daß wir auf die Akademie gingen, wünscht' er uns tausend Glück. Mit einer besondern Freude, die ihn wohl kleidete, erzählt' er von seinen akademischen Jahren, wo er sich alles ganz genau zu besinnen wußte, wie alle von gewissen Jahren, die nach Art von Leuten, welche trefflich in die Ferne sehen, schlecht aber in der Nähe sehen können, alles haarklein wissen, was in ihrer Jugend geschah, wenig aber oder gar nichts von dem, was gestern und ehegestern vorfiel. – Das ist die beste, beste Zeit, sagt' er, sobald man ein lastbares Geschäftsvieh wird, ist's aus. Ich pflüge zwar Gottes Acker, indessen fallen doch all' Augenblicke Menschensatzungen vor. Wohl dem, mein Herr v. G., dem die Geburt das Recht gegeben – ein Mensch zu seyn für ein Amt zu halten. »Wenn Jagden dabei sind,« fiel ihm Herr v. G. ein.

[117] Der ehrliche Pfarrer ließ sich merken, daß er herzlich gern einen Adjunctus hätte, und wenn es auch nur der Gesellschaft und der Maulbeerbäume wegen wäre, welche das ehrwürdige Consistorium ihm zu pflanzen ausgegeben hätte. Endlich kam seine Tochter Marthe hinter dem Berge hervor, und man sah wohl, daß der Adjunctus nicht bloß seiner Gesellschaft und der Maulbeerbäume halber gewünscht ward. Noch hat er keinen gefunden, der einen so überwiegenden Drosselgeschmack gehabt, daß er ihm andere Vortheile aufzuopfern kein Bedenken getragen hatte. – Man sagt, setzte er hinzu, daß man darum nicht gern ein Testament mache, damit den Erben nicht die Zeit zu lang würde; allein ich versichere auf Ehre, daß ich bei der Anfrage meines Schwiegersohns, wie ich geruhet und wie ich mich befände? keine Falschheit vermuthen würde.

Die Gegend war wüst und öde. Ich habe keine Biene gehört, und ich wollte was drum geben, daß hier kein Bienengewächs im ganzen Bezirk aufzutreiben gewesen.

Nachdem der Pastor drei bis vier Gläser Wein getrunken hatte, sang er das Studentenliedchen:


Vivat Academia!


Nach dem Liede (dacht' ich mit einem Verwunderungszeichen), nach dem Liede:
Lieber Gott, wann werd' ich sterben?

Indessen, wenn gleich ein solcher Zugvogel nicht tagtäglich kommt, so wird ein Prediger doch mit der Zeit mit dem Tode so bekannt, wie eine geübte Wöchnerin mit einer Entbindung. Muth, das bin ich vollkommen überzeugt, ist nicht Stärke der Seele, sondern Bekanntschaft mit dem Gegenstande.

Unser alter Pfarrer war nicht ohne Empfindung; er ward sehr leicht roth, wenn man ihn nur mit einem Blick etwas zu [118] hart anfühlte. Gleich roth – ist ein so sicheres Zeichen von einem empfindlichen als empfindsamen Menschen, von einem Menschen, der sich fühlt, und der auch fühlt, was um und neben ihm ist; so wie es was Sanftes, was Weibisches verräth, wenn man Musik liebt! – Der gute Pastor! in Wahrheit, er brauchte keinen andern Beweis von seiner Frömmigkeit, als sein heiteres, Gott ergebenes Auge, in dem Ruhe und Zufriedenheit lag. Ich will nicht, sagt' er, wie Israel über die Wachteln murren, und wär' es auch der vierzig Wüstenjahre, der vierzig Festungsjahre wegen – ich bin schon, fügt' er seufzend hinzu, zehn Jahre bei dieser Wachtelstelle.

Es wußt' unser Gast nicht viel von dem Zustande der Königsberger Universität, außer, daß er uns einenCatalogum lectionum aus den Intelligenzzetteln vorwies und uns versicherte, daß es noch bis jetzo nicht friedlich herginge; er war ein Inpietist, denn einen Orthodoxen kann ich ihn nicht nennen, falls nämlich die Orthodoxie, wie ich fast vermuthe, eine Strenge der Observanz ist, sich und andere an angenommene Regeln zu binden. – Ihm schien der Pietismus so sehr nicht zu Herzen zu gehen, obgleich er nicht umhin konnte zu bemerken, daß die Pietisten viel sähen, was kein Inpietist sähe, und viel empfänden, was sie nicht ausdrücken könnten. Es blieb dabei, ohne die inpietistische Partei unsers guten Pastors zu nehmen, daß Gedanken, die man nicht ausdrücken könnte, unreifes Obst wären. Bald, sagte der Pastor, hätt' ich gesagt, daß ein Wort ein verdauter Gedanke sey. – Er ward roth dabei.

So wie Gärtner ihre Blumen oft so pflanzen, daß die Farbe einer in die andere spielt, und dadurch jede einzelne verdirbt, so ist's auch auf Universitäten.

Bei dem zweiten Vers des:


Vivat Academia!


[119] ward die Frage aufgeworfen, warum man beim Trunk so gern Lärmen mache und vorzüglich Fenster einwürfe; welches auch solche Jünglinge thäten, die bei spätern Jahren einen stillen, innerlichen Rausch bekämen?

Unser Pastor nahm Abschied. Sein letztes Wort war vivat Academia! Wir verpfändeten uns schließlich, so oft wir diese Straße zögen, uns ihm aufzudringen. Dieß Wort bitt' ich zu streichen, fiel er ein; vielleicht gibt mir Gott bald ein Stück Brod anstatt der Drosseln, und alsdann bitt' ich zu mir – alles andere: Gott sey mit Euch, lebt wohl, faßt' er zusammen in das vielbedeutende vivat Academia!

Kaum hatten wir uns niedergelegt, so hörten wir einen schrecklichen Streit, den unsere Fuhrleute, die von Mittag bis Abend in einem Zuge gezecht hatten, erregten.

Ich wollte Mittler seyn, allein mein Reisegefährte verbat es dringend.

Warum, Bruder, willst du gerad oder ungerad spielen? Deine Worte werden nichts gegen diese Rosse und Mäuler verfangen. – Glaub' mir, ich zittere vor einem Lande, wo ein Fuhrmann Major, sein Schwestersohn Junker und ein Pastor ein Drosselfänger ist.

Das Ungewitter legte sich und stieg wieder auf – ich schlief vielleicht beim härtesten Schlag ein.

Habt Ihr je in einer Gesellschaft, in der alles überlaut war, auf Euerm Stuhl geschlafen? Wie süß! – Mein Reisegefährte versicherte mich des folgenden Tages, daß er noch nach meinem Einschlaf zwei Stunden gewacht hätte.

Ich. Aus Furcht, Bruder?

Er. Ich kann es nicht läugnen –

Ich. Entschließe dich, Bruder, meinem Beispiele zu folgen. Ich fürchte mich nur vor der Furcht; das scheint ein Wortspiel, [120] allein es ist ein richtiges, wahres Wort. – – Auf mein Wort gehe hin und thue desgleichen!

Unser Major und Junker waren mit den Wirthsleuten des Hauses an diesem guten Morgen so einig, daß man nichts anderes hört' als Bitten: bald, bald wieder zuzusprechen, und Versprechungen: bald! bald!

Wie schön es sich, sagte Herr v. G., nach dem gestrigen Gewitter abgekühlt hat! – Da siehst du, Bruder, erwiedert' ich. – Der Teufel traue den Preußen, beschloß er. – –


* * *


Und nun in Königsberg! Ein großer, weitläufiger Ort. – Ich fragte meine Fuhrleute, wo dieser und jener Professor wohne, die mir dem Namen nach bekannt waren. Das weiß Gott am besten, sagten sie.

Im Kneiphof gehört die Akademie in die Kirche; und vor diesem kam der Magnificus mit einem Purpurmäntelchen, es war spannenlang und mit einer goldenen Borte bebrämt, alle Michaelis und alle Ostern in diese Kirche.

Nun nicht mehr?

Nein, nun nicht mehr. Man erzählt, daß ein grober Kerl von Bauer, der von ungefähr zu dieser Ceremonie zu Maß gekommen, überlaut (der Püffel! doch was versteht ein Bauer von Safran) gesagt haben soll:

»Wie sich doch so ein alt und wohlbetagter Herr noch zum Narren macht!«

Nach der Zeit geht der Magnificus ohne spannenlanges Mäntelchen in die Kirche.

Die Kneiphofsche Kirche ist der Dom und auch die akademische Kirche. Die zur Akademie gehörigen Gebäude sind in [121] einer so vertrauten Nachbarschaft mit dieser Kirche, daß alles wie Eins aussieht. – Dieß ist eine Erklärung zur Fuhrmannserzählung.

Wir stiegen bei dem Major ab, der uns zwei Zimmer mit der Versicherung aufräumte, daß wir sie so lange gebrauchen könnten, bis wir ein gutes Quartier bekommen würden. Er für sein Theil schlüg' uns die Magistergasse im Kneiphofe vor, wo die meisten Studenten logiren – und der Name selbst schien ihm sehr angemessen. Es währte nicht drei Stunden, so waren drei Landsleute bei uns, welche die Sorge über sich nahmen, uns ein Quartier zum Küssen, wie sie's nannten, anzuangeln. Dieß Wort war damals, so wie das Wort fidel, Universitätsparole.

Diese Nacht blieben wir bei unserm Fuhrmann. Den Morgen um neun Uhr kamen schon unsere fidele Landsleute, verstärkt mit drei andern: das Quartier zum Küssen war angeangelt – und wir Burschen (um ganz akademisch zu sprechen) zogen vom Pferdephilister aus.

Ist es Hecht oder Barsch? fragt' ich, was Sie uns angeangelt haben, und sie lachten herzlich über eine so unakademische Frage.

Wir gingen unser Quartier besehen, das uns über alle Maßen gefiel. Es hatt' es ein Curländer bewohnt, der heim reiste, um nachher in französische Dienste zu gehen.

Warum in französische? sagt' ich.

Zum größten Theil der Sprache wegen. Auch gut! Ehemals verliebte man sich, um Französisch und das Feine der Sprache, das je ne sais quoi des Herrn v. W., zu lernen.

Es ward verabredet, daß die Landsmannschaft von dem Abziehenden und den Anziehenden bewirthet werden sollte. Jeder, sagten die Aeltesten und Vorsteher, gibt sein Theil, und zwar der [122] Abziehende allein so viel, als Ihr Anziehende beide – denn er kommt bald nach Canaan.

Um indessen diesen Schmaus mit Ehren zu geben, ward beschlossen, daß wir zuvor immatriculirt werden sollten.

Einer der Landsleute begleitete uns zu Sr. Spectabilität, wie man den Decanus der Facultäten nennt, zum Examen.

Curländer? fanden Se. Spectabilität, der Decanus der philosophischen Facultät für gut zu fragen, als wollten Sie zugleich andeuten, daß das Examen darnach eingerichtet werden würde. Man hat überhaupt die Gewohnheit, Fremde entweder ganz und gar nicht, oder höchstens nur sehr wenig zu examiniren. – Es sind, wie sich unser ehrlicher Pastor in – – ausgedrückt haben würde, Zugvögel.

Se. Spectabilität schienen ohnedem überschwenglich lustig, und, wie wir nach der Zeit erfuhren, waren Sie die Nacht vorher Großvater geworden. – Sie kamen uns mit einem Mund voll Latein entgegen und erkundigten sich in dieser Sprache nach unserm Namen, Geburtsort und Alter. Ich antwortete sehr behende, und da das lateinische Gespräch bloß zum Spaß angehoben, von mir aber im Ernste fortgeführt wurde, so wollten Se. Spectabilität es durchaus nicht glauben, daß ich ein Curländer wäre. – Nachdem ich ihm dieses in lateinischer, nachher aber, um es desto kräftiger zu machen, auch in deutscher Sprache versicherte, fand er für gut, mich zu fragen: ob mein Vater ein Curländer wäre? Dieß setzte mich aus aller Fassung, besonders da er diesen Ausfall in reinem Deutsch that, und meinem Reisegefährten diese verfängliche Frage zu Ohren gekommen war. Ich ward blutroth – und nach einer Weile (dergleichen Empfindung ist immer wie ein kaltes Fieber) fühlte ich, daß ich wie eine bleich gewordene Rose ausgesehen haben müßte. – Der Professor (das merkte ich auch) sah mich so an, wie man eine bleich gewordene Rose anzusehen gewohnt ist – mit [123] einer großen Theilnehmung. Er trieb diese Frage nicht weiter; allein ich war bestimmt, bei Sr. Spectabilität aus dem Regen in die Traufe zu kommen.

Erst einige Fragen nach Art meiner Großmutter mütterlicher Seits, z.B. wie sich latinum von latinitas unterschiede?

Was der Magister Saliorum für eine Würde bekleidet? Was für ein unlauteres, unorthodoxes Wort dem Tiberius Gewissensbisse gemacht, da er Neujahrsgeschenke verbeten und darüber ein Edict erlassen?

Wie Attejus Capito, dem er darüber gebeichtet, ihn absolvirt?

Was Marcus Pomponius Marcellus, als der zweite Hofprediger, ihm im Beichtstuhl gesagt?

(Jener meinte, das Wort könnte wohl dem Kaiser zu Gefallen auf- und angenommen werden, dieser aber war so stockorthodox, daß er dem Kaiser geradezu sagte, er könne zwar den Menschen das Bürgerrecht ertheilen, allein den Worten nicht.)

Was den Virgilius bewogen, wie er selbst gesagt,aurum ex Ennii stercoribus legere, und warum er nicht, da doch Ennius ingenio maximus, arte rudis gewesen, lieber geradezu, zur Natur oder zumHomer, gegangen, der für uns Adam der Natur ist, ob es gleich in diesem Stück Präadamiten gegeben?

Bei jedem großen Werk müssen zwei Köpfe arbeiten, wenn auch der eine nur den Kalk löschen, oder einen Grundstein legen oder abmessen sollte. Moses und Aaron sind gemeinhin nöthig. Einer erfindet, der andere sagt. Einer schafft den Leib, der andere die Seele. Einer weiset den Weg, der andere geht. Niemand, der sterblich ist, kann ein selbstständiges Genie seyn!

Hier ein Wort von der Natur des Dichters und von dem Lande, wo er sie pflückt.

[124] Er pflückt seine Natur, denn der Ort, wo er sie nahm, ist, wenn man die Natur wieder sucht, die der Dichter beherzigte, wie abgemäht, man sieht höchstens die Stätte; das, was der Dichter sah, ist es wohl mehr ersichtlich?

Des Dichters Natur ist unsterblich. Sie macht die Seele, die Monaden in seinem Werke.

Man sagt, und in Wahrheit, kluge Leute sind unter diesem Man sagt inbegriffen: Ergiebiger Boden zieht nicht Genies, sondern schwieriger. – Nicht also! Reiset nach Holland, um nur eine einzige Reise vorzuschlagen, hier hat der Fleiß alles gethan. Wie das Land, so die Köpfe. Ein schwieriger Boden zieht Kritik, ein ergiebiger Genies.

Wieder eine Frage.

Was den Casimirus, den vierten König in Polen, zum Befehl bewogen, die lateinische Sprache in Polen zu treiben?

In wie viel Tagen Josephus Justus Scaliger, des Jul. Cäs. Scaliger Sohn, den ganzen Homer, und also 63,000 griechische Verse, durchgelesen und zwar so, daß die Frage wegfiel: verstehst du auch, was du liesest? Es waren, glaub' ich, einundzwanzig. Elias, setzten Se. Spectabilität hinzu, oder, wie er sich schreibt, Helias Putschius, der, sobald er auf die Welt kam, herzlich zu lachen anfing, bis in sein vierzehntes Jahr kein Latein konnte und eben drum als Grammaticus und Criticus es so weit brachte wie Einer, nennt den Joseph in seiner Epistola dedicatoria vor den zweiunddreißig Grammatiken, die er kommandirt,


illustrem et incomparabilem virum.


(Wir sollten, bemerkten Se. Spectabilität, alle später die Wissenschaften anfangen, alle wie Putschius sein Latein. Wir wären auf Ehre weiter! – Frühzeitige Unterrichte sind seine Ketten, die uns binden, oft so sein wie Seidenfäden. – Bei spätern Anfängen [125] würde der Schüler, wo nicht selbst was erfinden, so doch den Lehrer drauf bringen.)

Die Scaliger bildeten sich ein, aus dem Geschlecht der Fürsten de la Scala abzustammen, sagten Ge. Spectabilität. Jammer und Schade, fuhren Sie fort, Putschius vergaß sein Latein bald, denn er starb im sechsundzwanzigsten Jahre, so, daß er also nur etwas über zehn Jahre Latein gekonnt hat. – Se. Spectabilität kamen wieder auf Ihre Räthselaufgaben und wandten sich zur Auflösung Notarum und vorzüglich juridicarum, und so wie unser Großvater sich herzlich aufhielt, daß man Aut verkürzt durch A. Ante durch AN. Auctor durch AVCT. Est durch E., so gab er mir vielerlei Abbreviaturknoten zu entziffern und zu lösen. – Ich ließ mich mit einer Bemerkung hören, wie man ein Volk aus der Sprache kennen lernen und beurtheilen kann; so sind, sagt' ich, in der Sprache vorzüglich diese Abbreviaturen, sobald sie ins Allgemeine gehen, eine Findgrube. Sie sind das Volk in compendio. Jeder Mensch hat indessen seine eigenen Abbreviaturen, und dieß ist ein Grundriß eines jeden Menschen. – Bei dem Abbreviaturknoten bewies ich mich als Alexander, und da das meiste, so bis dahin verhandelt war, lateinisch zwischen uns vorfiel, so konnte mein Reisegefährte und Begleiter nicht wissen, wo ich ging und wo ich stand – mithin wußten sie nicht, was aus dem Kindlein werden würde.

Kann was Aehnlicheres zwischen meiner Großmutter mütterlicher Seits und diesem seit der vorigen Nacht gewordenen Großvater seyn? Meine Großmutter ist mir seit der Zeit eben so spectabilis (sichtbar) als ein Decanus. Seltene Fragen sind seltene Fragen. Räthsel sind Räthsel. Knoten sind Knoten. Die Sprache thut hiebei nichts.

Ich rechne nicht bloß auf Leser, sondern auf Leserinnen, und diese guten Kinder haben nicht nöthig, mit fremden Kälbern [126] zu pflügen und ihre Liebhaber wegen einer Uebersetzung, die ohnehin stutzerfrei ausfallen dürfte, in Anspruch zu nehmen; denn was der Magister Saliorum für eine Würde bekleidet, heißt mit andern Worten, was der Engel Gabriel für Federn in seinen Flügeln gehabt? und alles, was sie von Tiberius, Ennius, Attejus Capito und Marcus Pomponius Marcellus gelesen, betrifft den Nabel des Adams, die Farbe Rahels, die Frage: ob David ein Adagio oder ein Allegro vor Saul gespielt? Ob Pilatus sich mit Seife gewaschen, und wie viel Selas in der heiligen Schrift vorkommen?

Durch die Auflösung der Abbreviaturen, wo ich – meine Leser wissen warum? ging und nicht amBerge stand, wetzt' ich alle gemachte Scharten aus, und Se. Spectabilität beliebten mich wirklich auch für ein sichtbares Geschöpf zu halten, wofür ich Sr. Spectabilität noch jetzt dienstergebenst verbunden bin.

Nun ließen mich Se. Spectabilität einige Stellen aus den Carminibus saliariis ins Latein künsteln, und sodann dieses Kunststück mit einigen Stellen aus denzwölf Tafeln machen.

Meinem Reisegefährten bot er auch einen lateinischen Rapier an; allein er erhielt eine abschlägige Antwort, und ich nahm das Wort für ihn.


Ὡς αἰεὶ τὸν ὁμοῖον ἄγει ϑεὸς ὡς τὸν ὁμοῖον,


sagten Se. Spectabilität, und ich weiß nicht, ob diese Stelle, oder ein Hund, der auf der Straße sich hören ließ, und eben dadurch den Herrn v. G. aufsprengte und ans Fenster zog, Se. Spectabilität auf die Frage brachte: Ob auch im Griechischen?

Der ehrliche Noster holte seinen Homer – nicht aus einem rußigen Bücherschrank. Homer war so wenig wie die Bibel, die neben ihm lag, bestäubt. Ich dachte, wenn ja ein Mann Großvater zu werden verdient, ist er's. Er ließ mich eine der Lieblingsstellen meines Vaters, die ein adliches Thier anging, übersetzen, [127] ich wußte sie, eben weil es eine väterliche Lieblingsstelle war, fast auswendig. Sie fängt an:


Ὡς οἱ μὲν τοιαῦτα πρὸς ἀλλήλους ἀγόρευον,
Ἂν δὲ κύων κεφαλήν τε καὶ οὔατα κείμενος ἔσχεν,
Ἄργος, Ὀδυσσῆος ταλασίφρονος, ὅν ῥά ποτ᾽ αὐτὸς
Θρέψε μέν, οὐδ᾽ ἀπόνητο πάρος δ᾽ εἰς Ἴλιον ἱρὴν
Ωἴχετο. τὸν δὲ πάροιϑεν ἀγίνεσκον νέοι ἄνδρες
Αἶγας ἐπ᾽ ἀγροτέρας, ἠδὲ πρόκας, ἠδὲ λαγωούς. – –

Mein Vater hatte die Gewohnheit nicht angenommen, die häufig grassirt, das Griechische zu verlateinen, ich mußt' es verdeutschen, und diese Gewohnheit behielt ich bei, und mein Reisegefährte lernte den Hund Argos kennen, der nach zwanzig Jahren seinen Herrn Ulysses erkannte, sich von seinem Sterbelager aufrichtete, mit dem Schwanze wedelte, indessen nicht mehr das Vermögen hatte mit seiner Zunge seinen Herrn zu berühren, um ihm Dank zu lecken. – Dieser weinte.

Argos aber, der seine starren Augen noch angestrengt hatte seinen Herrn zu sehen, starb, nachdem er ihn gesehen hatte, in Frieden. – Gott hab' ihn selig, sagte Herr v. G., und eine Thräne blinkte in seinen Augen – denn es war ein Hund, von dem geredet war. – Herr v. G., Sie haben mich etwas sehen lassen, sagte der Großvater, was eben so gut ist, als griechisch verstehen. – Wollte Gott, antwortete Herr v. G., ich könnte griechisch, des Argos wegen. – Es sind mehr schöne Stellen im Homer, fuhr der Großvater fort. – Herr v. G. wiederholte: Des Argos wegen.

Endlich singen Se. Spectabilität (auch dieß, weit Sie Großvater geworden waren) etwas aus der lieben Weltweisheit an. Es sah so aus, als wenn wir einen Ritt dran wagen wollten.

Quid est –

Wenn Ew. Spectabilität es im Deutschen erlauben?

[128] Der gute Mann stimmte bei, und aus unserm Examen ward ein Gespräch, ein Piknik, wo jeder sein Schüsselchen gibt.


* * *


Die Philosophie und die deutsche Sprache – wollte Gott, dies; könnt' ein Paar werden für und für! – Wollte Gott, unsere Philosophen möchten solche Gewissenskoliken haben, als Tiberius über jenes Wort im Edict, und über daß Wort Monopolium, von welchem mir bekannt ist, daß er es mit salva venia verbrämt, und über das Wort ἔμβλημα, welches er, wie Se. Spectabilität beiläufig anzumerken beliebten, aus einem Edict ausradiren lassen.

Es gibt Naturphilosophie und Kunstphilosophie. Leben! Leben! Leben! und Schulweisheit. Philosophie, die bloß weiß, und Philosophie, die weiß und thut, gelehrten Wust und Weisheit. Aristoteles war ein Künstler, Epikur, Diogenes (mit Fleiß zusammen) waren Naturalisten und Sokrates deßgleichen. – Die künstliche wird ganz und gar gelehrt, bei der natürlichen ist nur eine gewisse Methode, die gezeigt wird. Das Faß des Diogenes, der Brei des Epikur, wie verehrungswerth! – Die Fenster im Auditorio, wo natürliche Weisheit gelehrt wird, gehen all' ins gemeine Leben. – Die natürliche lehrt die Zeit gebrauchen, die künstliche sie vertreiben. Die Naturphilosophie ist fließend Wasser, Springwasser, die künstliche ist Wasser, welches steht. Die Kunstphilosophie treibt Commissionshandel, die Naturphilosophie hat bloß eigenes Product. Das Leben der Naturphilosophie ist eine Copia vidimata ihrer Grundsätze, und zu ihren Angaben ein solch erklärender nachhelfender Beleg, daß ohne Beilage sub Vide ihre ganze Lehre wie gar nichts ist. Wohl dem, der von diesem Wasser des Lebens getrunken hat! Die Idee der Weisheit liegt der Naturphilosophie zum Grunde, die nicht gleichgültig, sondern gleichmüthig macht. – Ist wohl ein passenderes Motto zur künstlichen Philosophie, als »die Herren werden [129] doch wohl Spaß verstehen?« Will man ein Emblem, so ist's ein optischer Kasten.

Vom natürlichen Philosophen sagt man, er philosophirt. Ein künstlicher Philosoph hat Philosophie. Er hat sie für Geld und gute Worte zum Verkauf und zur Pacht. – Man muß es bei der Philosophie nicht anlegen, ein Buch, den beliebten Autor, sondern die Sache zu verstehen. Man will sich vorzüglich selbst verstehen und das Buch Gottes, die Welt – Diese Philosophie kann nicht auswendig gelernt werden; es ist was Inwendiges, ein Philosoph zu seyn. Denken und leben heißt: philosophiren. Wenn man die Wissenschaften in die der Gelahrtheit und die der Einsicht eintheilt, so würd' ich die künstliche Philosophie zur Gelahrtheit rechnen, und so wie man z.B. von einem Historikus sagen kann: er sey ein Gelahrter, er habe viel gelernt, so auch von einem Kunstphilosophen. Die natürliche Philosophie besteht nicht in Nachricht, sondern in Einsicht. Man kann nicht vom natürlichen Philosophen sagen: er habe viel gelernt, allein er kann viel lehren. Alle Vernunfterkenntniß aus Begriffen gehört zwar zur Philosophie, allein der Philosoph ist eigentlich ein Führer der Vernunft, und bringt den Menschen an Ort und Stelle. Der Mensch ist nicht bei sich, heißt oder sollte heißen: er habe diesen eigentlichen philosophischen Weg verfehlt. Die Bestimmung des Menschen, und die Mittel, dahin zu gelangen, das ist das Ziel, wo alle philosophische Erkenntniß zusammentrifft. Es ist die Probe der Philosophie. Der gemeine Mann meint undwünscht, und selbst dazu ist er ex speciali gratia privilegirt; der Weise denkt und will. Verstand und Wille zusammen ist eine Seele. Wer kann die Seele halbiren? Der Mann hat Geist und Leben, das heißt: der Mann ist ein Philosoph natürlicher Art. Zwar sagt man auch, dieß Buch hat Geist und Leben, allein alsdann denkt man, der Verfasser, ein Philosoph her besagten Art, hat es geschrieben und es sich so ähnlich[130] gemacht, daß er ihm etwas Geist und Leben abgegeben. Er hat es angehaucht – wie Gott den bis auf die Seele fertigen Adam. Der Mann ist im Buche getroffen! – – – Oft hab' ich gehört, wenn man den Mann sieht und sein Buch, sollte man sie wohl für Vater und Sohn halten? Ja – und wenn ihr sie nicht dafür haltet, liegt es an euch. Wie der Autor, so das Buch,per omnia saecula saeculorum. Jeder Physiognomist muß den Autor aus dem Buche abziehen und zum Reden treffen. Das Buch hat Hand und Fuß, der Mann hat Hand und Fuß, heißt ein Mann mit Winkelmaß und Wage, der alles mißt und paßt, und ein Buch von der nämlichen, richtigen, abgemessenen Weise, wo weder Mangel noch Ueberfluß ist, sondern just die erforderlichen Gelenke. – Die Naturphilosophie ist keine Feindin von reinen Vernunftsbegriffen, allein sie bestätigt sie, wenn ich so sagen soll, auf der Stelle. – Sie schafft sich gleich einen Abdruck – wie Gott die Welt. – Die Religion fängt heut zu Tage mit dem Katechismus, und die Philosophie mit einem Compendio an. – Allein in Wahrheit, man sollt' auf ein lebendiges Erkenntniß dringen, dann würde man doch einmal einen Philosophen zu sehen bekommen.

Rousseau, damit ich eine Bemerkung mache, die in unsern Tagen zu Hause gehört, Rousseau (Schade, daß er todt ist!) war wirklich eine Spectabilität unter den Philosophen. – Der bloße philosophische Künstler weiß nichts Rechtes, nicht daß ein Gott ist; der arme Schelm! Man könnte die natürliche: Philosophie και᾽ ἐξοχὴν die künstliche: Vernünftelei nennen. Die Vernünftelei und die Zweifelsucht sind Grenznachbaren. Ein Zweifler und ein Abergläubischer sind Schwester und Bruder. – Ein Zweifler macht sich sein Leben nicht gemächlich. – Nein, er hat sich mehr aufgelegt. Er hat Ja und Nein zu tragen, wenn er denkt. Im Fall er aber bloß spaßt, ist er nur ein Scheinzweifler, und ein Mann, [131] der alles der Nachfrage wegen hat. Man glaubt gemeinhin, ein Zweifler sey kein Vielwisser, allein er ist es im eigentlichsten Verstande, und es kann gemeinhin von ihm heißen:das Wissen bläset auf. Wer Dinge, die gäng und gäbe sind, beprüft, und keinen Stein auf dem andern läßt, ist kein Zweifler, sondern ein Prüfer, im Fall er nämlich aus pro und contra, aus links und rechts, sich etwas auspunktirt, was Stich hält. Solch ein Mann ist nicht aufgeblasen, sondern bescheiden. Seine Zweifel leiteten ihn auf den rechten Weg zur Ueberzeugung, zur Wahrheit und zum Leben. – Ein Lehrer der Naturphilosophie kann von sich und seinen Jüngern sagen: Ich leb' und ihr sollt auch leben. Wer hat je mit dem Pietisten über die Wahrheit der christlichen Religion gestritten? Wer so lebt als er lehrt, darf nur bitten, ihm die Ehre zu thun, bei ihm einzusprechen. Man ist heut zu Tage von der Naturphilosophie so abgekommen, daß man den, der so lebt als er lehrt oder glaubt, einen Schwärmer nennt. – Sehr unrichtig!

Meine Leser werden, hoff' ich, nicht vergessen haben, daß sie zu einem Piknik geladen sind, wo nur Se. Spectabilität und ich (meinen Vater kann ich immer mit einrechnen) ihr Schüsselchen austrugen. Wenn ein Koch diese Schmauserei angeordnet hätte, wär' es freilich abgemessener gewesen – ob schmackhafter, weiß ich nicht.

Ich bemühe mich auch hier, Lebensläufer zu seyn, und diese Abschrift ist dem Original ähnlich. – Wir fielen von einem aufs andere. Wir scheitelten die Haare nicht. Würd' ich nicht einen Roman schreiben, wenn ich nicht auch von einem aufs andere fallen und die Haare scheiteln sollte? Ein Roman! fern sey er von mir!

Die Eintheilung der Philosophie in die natürliche und künstliche ist die Haupteintheilung, die philosophische Eintheilung der [132] Philosophie. Sonst gibt es Eintheilungen Gott weiß wie viel! – In Absicht der Kräfte des Menschen, in Absicht der Principien, in Absicht der Objekte, der Erkenntnisse.

Ein Philosoph muß das Allgemeine in concreto und das Einzelne in abstracto erwägen, und wenn man gleich gern zugibt, daß bei jeder Wissenschaft die Idee des Ganzen die Avantgarde macht, und daß aus der Eintheilung des Ganzen die Theile entstehen, und daß, um die Theile zu wissen, man erst das Ganze von Personen zu kennen die Ehre haben müsse, so ist doch nicht gut, wenn ein erschrecklicher Eingang präludirt und prologirt wird, ehe man zum Thema schreitet, auch wenn die Präludia, wie die des Hermanns, noch so ausstudirt sind. Wozu die Prolegomena und das erschreckliche Geschrei: da werden Sie sehen! da werden Sie sehen! Gleich das Lied ist am besten! Wenn ich heißhungrig bin, und der Wirth, der mich geladen hat, zeigt mir erst seine drei Porcellanservice und sodann sein Silberzeug, und endlich seine Fayence, bis ich mich überhungert und keine ordentliche Mahlzeit thun kann, wie wenig Ursache hab' ich, den Wunsch einer gesegneten Mahlzeit anzunehmen und mich ergebenst zu bedanken; ich wollt' anbeißen und nicht mit der Gabel anspießen. Warum nicht kurz präsentirt:Herr Gott, dich loben mir. Befiehl du deine Wege. Philosophie! Verstandes- und Willensphilosophie, theoretische und praktische, wenn es ja nach der alten Leier gehen soll. Vernunft-und Erfahrungsphilosophie. Empirische und rationale, und damit die Eintheilung in Rücksicht des Objekts nicht vernachlässigt werde – Philosophie der engelreinen Vernunft und der menschlichen Sinne. Die Philosophie der Sinne heißt die Naturlehre. Die Sinne sind zweifach, innerlich und äußerlich. Was ich mit dem innerlichen Sinn gewahr werde, ist einzig und allein meine Seele. Also gibt's Seelennaturlehre und Körpernaturlehre. – Empirisch und rational kann jene und diese seyn, und [133] was kann nicht alles so seyn? – – Ich kann zwar nur mit mir selbst Seelenbetrachtungen anstellen, allein ich kann nach dem Kennzeichen der Uebereinstimmung auf andere schließen. Welch ein großes Wort: Lerne dich selbst kennen! – Mancher Philosoph, der sich auf die Seelennaturlehre legt und viel darin philosophirt. kommt endlich zu einer Art nota bene, zu einer Art von Geisterseherei, von Anschauung vom Platonismus und mystischem Wesen. Es wird entzückt, und wenn man gleich mit dem Verstande nicht sehen, sondern nur denken kann, so ist er doch in einer Verfassung, wo es heißen könnte: Es hat kein Auge gesehen, kein Ohr gehört, es ist in keines Menschen Herz kommen, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben. Oft versehen sich diese guten Leute so, daß sie an ihren Ort gestellt werden, der nicht der angenehmste ist. – Biegen oder brechen ist die Losung dieser Seher. Jammer und Schade, daß es gemeinhin bricht!

Ist denn in den äußern Sinnen Wahrheit, ihr Sinnengläubige? Gehet die Sonne an, geht oder steht sie? Selbst wenn unser Urtheil mit der Erscheinung übereinstimmt, und wenn man sagen kann, die Sache ist wahrscheinlich, ist sie darum so und nicht anders?

Gott allein kann die Gegenstände mit dem Verstand anschauen, denn sie sind durch ihn und in ihm. – Er hat alles in originali, wir uns selbst nur so. – Was heißt: Gott schauen und in Gott alle Dinge? – – Durch eine einzelne Vorstellung erkennen, könnte man anschauen nennen, durch allgemeine Begriffe erkennen, würde denken heißen. Man kann physisch und mystisch schauen, durch Körper- und Seelenaugen. Die Seele hat, nach der Mystiker mystischem Dafürhalten, wie die Cyclopen nur ein Auge.

Die Logik ist Verstandesgrammatik. Die lehrt uns von keinem Gegenstande etwas – selbst vom Verstande nichts; allein sie lehrt uns von Dingen, die wir gar nicht kennen, viel, und was noch [134] mehr ist, gelehrt – reden. Von Dingen, die man weiß, von denen man überzeugt ist, spricht man nur wenig. Man handelt wie oben gezeigt worden. Dingen aber, von denen man nicht überzeugt ist, legt man durch eine gewisse Hitze einen Grund bei. Man legt es recht dazu an, sich dadurch, daß man den andern überzeugt, auch selbst zu überzeugen, und oft ist man hiebei glücklich, so daß man in der That auch hier durchs Lehren lernt. Es kann eine allgemeine Grammatik aller Sprachen geben, so auch eine des Denkens, die nämlich allgemeine Regeln des Denkens enthalten müßte. Was thun Wörter zur Grammatik! Allgemeine Regeln der Sprachen würde eine allgemeine Grammatik seyn. Vielleicht hätte die lateinische dazu alle Anlage. Die Dialektik ist die Logik des Scheins. Wahrheit ist der Inhalt der Erkenntnisse, mithin kann sie durch die Dialektik nicht erkannt werden. Die Dialektik trägt die Livree des Verstandes, sie ist die Kunst des Scheins, die Wissenschaft der Sachwalter und der Skeptiker. – Die Römer waren nicht speculativisch in der Philosophie, sondern gesund. Sie waren nicht Aristoteliker, sondern Menschen. Den Cicero machten die Wissenschaften ruhig, denn er sprach wenigstens, wie Sokrates lebte, und schon diese von der Naturphilosophie entzündeten Worte wehten ihm Ruhe zu. – Durch die Scholastiker ist dem Summus Aristoteles ein Ehrengedächtniß gestiftet. Der Ausleger weiß immer ein Drittel mehr, als sein Autor; so geht es immer, und so ging es auch hier. Man findet von diesem Greuel der Verwüstung noch Ueberbleibsel und vorzüglich sind diese Antiquitäten noch in der Logik zu sehen. – Da gibt es Alterthümer die Menge. (Einen Winckelmann bei den Antiquitäten der Logik wünschte ich bloß der Seltenheit wegen; dieses ist ein Wunsch, der ohne Fingerzeig weit jünger als mein Examen ist.)

Des Aristoteles, Gott verzeih' mir meine Sünden! oder vielmehr seiner Ausleger wegen – denn wahrlich, er für seine [135] Person war ein Mann, der sich gewaschen hatte – sollte man eine Feindschaft wider alle undeutsche Namen in der Philosophie haben. – Die Ausleger! was sind sie meistentheils und was sind sie in casu besonders? Kanäle in die Kreuz und Quer, die dem Lande die feuchte Kraft nehmen und den Reisenden hindern.

Viele behaupten, daß wir mit Erkenntnissen auf die Welt kommen, die man allmählig herausspinnt, wie Garn aus Flachs, Diese halten die Seele für eine beschriebene, andere halten sie für eine unbeschriebene Tafel. Beide für Tafeln von Wachs, und nicht von Stein wie die Tafeln Mosis. Alle Sünden aus der Erbsünde herleiten, heißt: eben dadurch eine wirkliche Sünde mehr begehen. Es waren schon Weise des Alterthums, die der Meinung waren, daß alles noch Ueberbleibsel von unserer vorigen Gemeinschaft mit Gott wäre, daß alles, damit ich mich deutlich und christlich ausdrücke, aus dem Paradiese herkäme. Was mein Vater von angebornen Begriffen dachte, konnte ich nicht anbringen, Se. Spectabilität überkreischten mich, und was Se. Spectabilität davon dachten, ergibt sich ziemlich deutlich aus dem Vorigen. Sie glaubten, der Tisch sey nicht mit Essen und Trinken besetzt; allein auf dem Tisch stände ein Beutel mit Ducaten und Thalern, groß und klein Geld, je nachdem die Fähigkeiten sind, Essen und Trinken anzuschaffen. Die Erkenntnisse mögen nun aus den Sinnen geschöpft werden, oder die Sinne mögen bloß Gelegenheitsmacher seyn; dieß sey der Weg zur Erkenntniß.

Es ist die Frage, ob wir alle gut, alle böse, oder bald gut, bald böse auf die Welt kommen?

Wenn wir in die Höhe wollen, müssen wir steigen. – Wenn der Mensch alles aus dem lieben Gott beweiset, so will er ohne Leiter auf den Kirchthurm; glückliche Reise! So philosophiren, nenne ich einen leichtsinnigen Eid schwören. Man muß sich nicht anders auf Gott berufen, als bis Noth am Mann ist. Du sollst [136] den Namen deines Gottes nicht unnützlich führen! – Eure Rebe sey ja, ja, nein, nein, was drüber ist, ist vom Uebel. So wie sich Gott durch die Werke offenbart hat, und der Mensch von allen Geschöpfen, die wir die Ehre haben zu kennen, sein Meisterstück ist, so will er auch keinen Sprung zu ihm hinauf, sondern will, daß es sein in dem Geleise der Natur bleibe, die nicht springt. Die Instanzen, die Gott angeordnet hat, müssen nicht übergangen werden. Schein ist ein Urtheil, das aus der falschen Anleitung des Verstandes entspringt, Wahrheit ist die Uebereinstimmung der Erkenntniß mit dem Gegenstande. Wenn also gefragt wird, was ist Wahrheit? reine gediegene Wahrheit? so kann man nicht besser drauf antworten, als Wahrheit ist Wahrheit. Wenn mir nicht ein Gegenstand gegeben wird, so kann ja auch keine Probe der Uebereinstimmung gezogen werden. Eine Erklärung der Wahrheit in der Art zu geben, daß sie auf alle Objecte ohne Unterschied paßt, ist unmöglich. Jeder hat seine Uhr, jeder seine Brille, jeder sein Pferd – und jeder seinen Hund, seinen Argos, setzte Herr v. G. hinzu. Ein allgemeines Wahrheitsmerkzeichen, wo ist es? Eine Regel, die alle Objecte umfaßt und sie herzt und küßt, wo ist sie? Ich muß vergleichen Erkenntniß und Gegenstand; wenn ich aber keinen Gegenstand habe, wie kann ichs? Vielleicht könnte sie die Uebereinstimmung der Erkenntniß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft heißen, und der Irrthum, der Widerstreit der Erkenntniß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft – vielleicht!

Die Seele in jeder Sache, oder dasjenige in der Erkenntniß von ihr, was in allen Vorstellungen, die wir von der Sache haben können, gilt, ist daß Wahre darin.

In so weit sich eine Sache nicht widerspricht, in so weit ist eine Seitenwand zum Wahrheitsgebäude fertig, in so weit ist eine Bedingung da, unter der etwas wahr ist. Wer kann und will aber sagen: Alles, was sich nicht widerspricht, ist wahr? Es [137] kann wahr werden. Es ist in Gott wahr, jeder Gedanke bei ihm steht da. Das Principium des Widerspruchs ist immer ein negatives Wahrheitskennzeichen. Es ist nur eine Laterne in der Hand, allein es gehört mehr dazu, als meiner Mutter Handlaternchen, wenn man hier sicher und unangefallen an Stelle und Ort kommen soll.

Die Sinne lehren das Formale eines Dinges, der Verstand das Materiale. Das, wodurch das Mannigfaltige auf gleiche Art gedacht werden kann, heißt Regel. Der Verstand ist das Vermögen der Vorstellungen nach Regeln. Wir haben viele Vorstellungen, die wir nicht wahrnehmen, deren wir uns nicht bewußt sind. Man kann mit einem Menschen sprechen, ohne daß man weiß, was er für ein Kleid hat, und man kann denken, ohne daß man es wahrnimmt. Ein abstrakter Kopf ist, der so denkt, daß er nur immer auf das sieht, was den Begriffen gemein ist. Das Vermögen, sich Dinge durch Begriffe vorzustellen, heißt denken. Einen Begriff analysiren, ihn klar machen, ist ein Hauptstück der Philosophie. Sie macht Gold; denn wenn es aus der Erde kommt, ist es Erde, durch Läuterungen wird es Gold. – Ein Moralphilosoph kann keinen Buchstaben mehr als dieß. Läge der Begriff der Tugend nicht in uns, wie könnten wir von ihm überzeugt werden? Wie? – Begriff, Urtheil, Schluß,major, minor, conclusio! Ein Uebergang von einem Urtheil zum andern heißt Schluß. Major enthält mehr in sich, als das Subject quaestionis. Es ist der Vater vieler Kinder, Söhne und Töchter. Ehe man sein Zimmer bezieht, steht man den ganzen Palast. – Das Prädicat ist größer als das Subject. – Es behaupten einige: Empfindung wäre die größte Wahrheit; allein sie gibt nur Stoff zum Urtheil. Die Sinne urtheilen nicht, die Vernunft urtheilt. Die Sinne sind Stahl, Feuerstein und Zunder. Zum Irrthum (Heil mir und meinem Buche!) gehört so gut als zur Wahrheit Verstand. Die Unwissenheit [138] allein kann sich ohne ihn behelfen. Der Verstand wird beim Irrthum anders gewendet. Beim Irrthum ist Illusion des Verstandes. Sinne und Verstand sind Wasser und Wein. Wer hat Wein ohne Wasser getrunken? Schon in der Traube ist Wasser.

Jedes muß sein Maß und Gewicht haben. Die Schranken des Verstandes bringen nicht Irrthümer hervor, sondern nur weniger Erkenntnisse. Ein engbegrenzter Verstand irrt weniger als ein großer! Bei Gelehrten sind mehr Irrthümer, bei gemeinen Leuten aber mehr Vorurtheile. – Wenn man den Menschen bindet, so läuft er nicht davon. – Man sagt von großen Genies, ihre Irrthümer, ihre Fehler wären schön. – Schmeichelei!

Ein Kleid hebt das Gesicht. Ein kleines Männchen kann so richtig gebaut seyn, als der größte; es kommt nur auf das Verhältniß unter den kleinen Theilchen an. Irrthum, wenn ihn ein Kluger begeht, ist Taschenspielerei; es gehört ein Auge dazu, den Trug zu entdecken, und dieß Auge hat nicht jeder. Irrthum liegt oft in Sätzen, oft in der Anwendung dieser Sätze. Ein Fehler in Absicht der Sätze heißt wirkliche, in Absicht der Anwendung Schwachheitssünde.

Erst buchstabiren, dann lesen, sagten unsere lieben Alten. – Erst ein Urtheil über Bausch und Bogen, dann ein richtiges. Erst der Läufer, dann der Herr. Wer in seinen vorläufigen Urtheilen das rechte trifft, heißt: ein Glückskind, oder sollte es eher heißen, als der, in dessen Familie viele alte Tanten sind. Es wäre wohl werth, ein Buchstabirbuch in diesem Verstande, in diesem Sinn, herauszugeben, und über die vorläufigen Urtheile eine Anleitung zu ertheilen. Die Franzosen sind vorläufige Urtheiler. – Der erste Gedanke ist oft der beste, und in Wahrheit, es gibt vorläufige Urtheile, die werth sind in Rahmen gefaßt zu werden.

Vorurtheile sind Urtheile aus der bloßen Sinnlichkeit, die man für Urtheile aus dem Verstande hält. Die Sinnlichkeit läuft dem [139] Verstande vor. Den Grund, den wir haben, von einer Sache zu urtheilen, der aber nicht aus den Gesetzen des Verstandes genommen ist, heißt ein Vorurtheil. Die Eltern haben Vorliebe zu ihren Kindern, hieraus entsteht eine Vorsprache, welches die Redekunst des Vorurtheils ist.

Ein Vorurtheil ist eine Lüge, nur daß sie nicht immer vom Vater, dem Teufel, ist.

Große Köpfe stiften viel Gutes, allein auch wahrlich viel Unheil, denn sie werden verehrt, und niemand untersteht sich, weiter zu gehen. Sie sind ein Wall, den kein Remus zu ersteigen sich unterfängt. Jeder Mensch hat seinen Hang, seine Meinungen andern mitzutheilen, und der Gelehrteste ist nicht gleichgültig gegen das Urtheil seiner Wäscherin und seines Ofenheizers. Die Methode ist dogmatisch über apodiktische Wahrheiten, und dieß ist die Methode der Unterweisung und Behauptung. Die Methode ist aber skeptisch, polemisch, wo man erst untersucht, ob etwas apodiktisch heißen kann. Dieß ist die Methode der Untersuchung, Beprüfung oder Kritik. Die polemische Methode ist die Läuterung, das Sterben, die Verwesung in der Kenntniß, ehe wir zum Licht und Leben kommen. Die skeptische Philosophie ist hievon unterschieden, von welcher wir oben loco congruo schon ein Wörtchen gewechselt. Zweifeln und sein Urtheil aufschieben ist so unterschieden, als vorurtheilen und nachurtheilen.

Hier eine schöne Predigt über die Worte: der Glaube kommt durch die Predigt, viva vox docet.

Ein mündlicher Vortrag verräth die Art zu denken. Sie zeigt den Lehrer unangekleidet. Beim Hören denkt man immer mehr als beim Lesen. Hören ist auch natürlicher als Lesen. Zwar können auch Bücher erbauen, allein es ist hier das nämlich Verhältniß wie zwischen Kirchen- und Hausandacht.

Man muß beim Lesen die Seele des Buches suchen und der [140] Idee nachspüren, welche der Autor gehabt hat, alsdann hat man das Buch ganz. Zuweilen ist freilich die Seele schwer zu finden, wie bei manchem Menschen sie wahrlich auch schwer zu finden ist. Der Verfasser selbst würde Mühe haben die Seele aus seinem Buche herauszurechnen – indessen hat jedes Buch eine Seele, etwas Hervorstehendes wenigstens, und gemeinhin pflegt sich hiernach das übrige zu bequemen.

Es scheint in der Welt bei allen Sachen eine Fibel nöthig zu seyn, überall ein gewisser Mechanismus, überall eine Schule, eine Akademie. – Wer nur ein Buch liest, vergißt, daß das Jahr vier Jahreszeiten und daß jeder Tag vier Tageszeiten habe. Man lese vier Bücher auf einmal, und man wird finden, daß dieß dem Gemüthe Erholung sey. Ein einziges Buch lesen heißt im Seelenverstande den Pflug führen oder dreschen. – Neue Beschäftigung ist wahrlich Erholung. Warum ist die Gesellschaft Erholung? Weil ein kluger Mann hier mehr als ein Buch liest. Der hat es weit gebracht, der Menschen lesen kann!

(Gott weiß, dieß ist ein großes Studium! Die schönste Gegend, was ist sie gegen einen Menschen? Und wer die Gesellschaft aus diesem Gesichtspunkt nimmt, kann gelehrt werden ohne ein gedrucktes Buch, das ohnehin selten Leben hat.)

Es gibt einen gewissen Lesegeiz, alles, was man liest, in seinen Nutzen zu verwenden. – Einen Lesevielfraß, alles zu verschlingen – und da ereignen sich oft Kopfdrücken und Verschleimungen. Sich in einem Buche betrinken heißt: darüber Sehen und Hören vergessen und es so vorzüglich finden, daß nichts drüber ist. – Wenig und gut lesen ist großen Köpfen eigen. Es ist schwerer so schreiben als so reden, daß es einen interessirt. Das beste ist, sich selbst herausdenken, nicht bei Hand- und Lehrbüchern, sondern bei seinem Genie in die Schule gehen und ihm Folge leisten, und die Logik dem natürlichen Gange seines selbsteignen Geistes, sowie [141] die Moral seinem Gewissen zu verdanken zu haben. Wohl dem, der sich von allem entkleiden kann, was nicht er selbst (das letzte Hemde nicht ausgenommen) ist! Wohl dem, der seine Willkür dem Gesetz der Wahrheit und der Tugend unterwirft; wohl dem, der Wesen vom Schein, Schatten vom Licht absondert; Menschenfurcht, Menschenehre und den ganzen unwürdigen Troß von Vorurtheilen, sie mögen gleich die höchste Stufe des menschlichen Lebens und ihre Achtzig erreicht haben und mit dem regierenden Hause in Einverständniß leben, vom Hauptpastor canonisirt und vom Professore Philosophiae ordinario als ein Anhang vom Catechismus der Vernunft beigebunden seyn, für das hält, was sie sind – Menschensatzungen und Tand! – – Wohl –

Alles Rationale zusammengenommen heißt Metaphysik. Sie ist die Seele der Philosophie. Die Metaphysik enthält Urtheil des Verstandes, abgesondert von aller Erfahrung und von allen Verhältnissen der Sinne, wenn z.B. von der Möglichkeit, Zufälligkeit u.s.w. gehandelt wird. Hier reden, wir nicht vom Schein, sondern vom Seyn, um dem Drosselpastor nachzuahmen. Die Metaphysik hat kein Verhältniß zu den Sinnen. Es will hier alles geistig gerichtet seyn. Sie ist ein Lexikon der reinen Vernunft, ein Versuch, die Sätze des reinen Denkens in eine Tabelle zu bringen. Was in der Logik Urtheile sind, sind in der Ontologie Begriffe, unter die wir die Dinge setzen, Titel des Verstandes, Inhalt der Vernunft. Die Metaphysik muß kritisiren. Ihr Gebrauch ist negativ, wenn –

Wir waren im Begriff, uns recht viel Metaphysik ins Auge zu streuen, allein, siehe da! die Hausmütze Sr. Spectabilität, die Großmutter, würgte die Thür auf und blickte durch ein Ritzchen. Man sah, daß die alte Frau noch einen Brand im Auge hatte. Sie schlug einen Strahl ins Zimmer. Dieser Wink sollte ihren lieben Ehegatten zum Schluß bringen, weil sie unfehlbar beim [142] Großsohn den Abend versprochen waren. Man sah es Sr. Spectabilität an, daß Sie wußten, was man einem Blick durchs Ritzchen schuldig wäre. Es ging über und über. – Ich weiß nicht, ob ich dieß über und über schriftlich werde nachmachen können.

Die moralischen Maximen, singen Se. Spectabilität nach diesem Blick durchs Ritzchen (ich weiß nicht warum?) an, zeigen, wie ich der Glückseligkeit würdig werden könne, die pragmatischen zeigen, ihrer theilhaftig zu werden. Die Moral lehrt, der Glückseligkeit würdig zu seyn; ihrer theilhaftig zu werden, ist eine Lehre der Geschicklichkeit. Es ist nicht möglich, die Regeln der Klugheit und der Sittlichkeit zu trennen. Es ist kein natürlicher Zusammenhang zwischen dem Wohlverhalten und der Glückseligkeit; um es zu verbinden, muß man ein göttliches Wesen annehmen. Ohne dieß kann ich keine Zwecke in der Welt finden, keine Einheit. – Ich spiele in der Welt blinde Kuh. – Ohne Gott hab' ich keinen Punkt, wo ich anfangen soll, nichts, was mich leitet. Gott ist groß und unaussprechlich! – – Die Menschen bedienen sich ihrer Vernunft a priori zum Nachtheil des praktischen Gebrauchs, wenn sie nicht durch künstliche Schranken zurückgehalten werden. Dieses ist auch die Pflicht der Metaphysik.

(Zehnmal singen Se. Spectabilität quid est? an, und zehnmal macht' ich eine Verbeugung, um ihn vom Fragen abzubringen.)

Das erste, was ich bei mir gewahr werde, ist das Bewußtseyn, dieß ist kein besonderes Denken, sondern die Bedingung und die Form, unter der wir denkende Wesen sind. Wie schön bauen und wirken nicht manche Thiere, wie nah' kommen sie uns nicht auf die Seele; allein eins, was nicht ersetzt werden kann, das Bewußtseyn, fehlt, und wahrlich, es fehlt wenig, und es fehlt viel! [143] Mein Reisegefährte wollte wegen der Hunde einwenden, indessen konnt' er nichts mehr als husten.

Alles, was da ist, ist im Raum und der Zeit. Raum und Zeit sind Formen der Anschaunngen, sie gehen den Erscheinungen vor, wie das Formale dem Wesentlichen. Ich muß Zeit und Raum haben, damit, wenn Erscheinungen vorfallen, ich sie hinstellen und beherbergen könne. Die Objecte der äußern Sinne werden im Raum, die der innern Sinne in der Zeit angeschaut. Hier ein ganz kleiner Commentarius über den theologischen terminum technicum Zeit und Raum zur Buße, der, wie Se. Spectabilität sich ausdrückten, nicht außerm Wurf läge. Wie vielen Dingen mußten wir auf der Stelle, des Blicks durch die Ritze wegen, einen Scheidebrief geben. Wir nannten bloß ihre Namen und behalfen uns damit, daß wir diese Namen nannten und uns einander zulächelten. – Ein wahres Examen!

Bei reinen Verstandesbegriffen haben wir keine Begriffe von Sachen, sondern nur Titel, worunter wie uns eine Sache denken können. Durch diese Titel können wir nichts ausrichten, außer wenn wir sie auf Gegenstände der Erfahrung und Anschauung anwenden. Wer kann aber, ohne die Titel des Verstandes vorauszusetzen, wer kann Erfahrungen anstellen? wer Fische ohne Netz oder Hamen fangen? Die Metaphysik enthält alles und enthält nichts. Sie macht nichts von den Gegenständen aus, allein ohne sie kann man nichts von Gegenständen ausmachen. Sie ist das Zollhaus, die öffentliche Wage der philosophischen Erkenntniß. Sie enthält Titel des Denkens, allein keine Prädicata der Dinge. Nur die Erscheinungen verleihen Begriffe von den Dingen.

Vernünftelei (Se. Spectabilität wurden von einer Mücke verfolgt, die um sie herumsauste und sich nicht haschen ließ) ist das, was kein Object hat. Was eine Bedingung der Vorstellung und des Begriffs vom Gegenstande ist, machen wir oft zur Bedingung [144] des Gegenstandes selbst, die subjective Bedingung zur objectiven. – Die Mücke verhinderte Se. Spectabilität, dieses Thema weiter auszuführen. Im Ernst, die Mücke hätte nicht besser ihre Sache machen können, wenn sie von der Frau Gemahlin Sr. Spectabilität wär' auf den Hals geschickt worden.

Der analytische Theil der Metaphysik enthält Definitionen meiner Begriffe, der synthetische Bereicherung von Erkenntnissen. Der Begriff von den Monaden muß billig nur auf denkende Wesen gedeutet werden, singen Se. Spectabilität mit einem frischen Athemzuge nach einer geendigten Cadenz an, und schienen noch sehr viel Metaphysik auf Ihrem Gewissen zu haben, allein die Thüre ging auf. – – Wir sahen ein Großmütterchen in Sterbensgröße, denn sie war so zusammengefallen, daß man Kegel mit ihr schieben können, wie Hr. v. G. bemerkte. Was für Feuer im rechten Auge! Damit hatte sie durch die Ritze geblitzt; das linke Auge war schon aus der Welt gegangen, es war stumpf und todt, als wenn eine Blatter darauf gefallen wäre, allein das war es nicht. Die Zeit hatte es so abgefeilt. – Die Tochter, fing sie an, und ohne sie auszuhören, schrie die überfallene Spectabilität – gleich, gleich! – Nur das Signum depositionis. Er schrieb uns einen Passirzettel, einen Freibrief, womit wir uns noch bei Sr. Magnificenz zu melden hätten.

Während der Ausfüllung dieses gedruckten Zettels wandt' er sich zu mir:

Sie, fing er an, werden sich wohl der Universität widmen?

Ich? fragte ich etwas einfältig.

Der Herr v. G. nicht, erwiedert' er.

Ich auch nicht!

Alles, was geschieht, hat seine Ursache, fuhr er fort, und warum?

[145] Es war sogar, mit Ew. Spectabilität Erlaubniß Streit, ob ich gar auf eine Universität gehen sollte?

Dieser Streit war wohl gewiß generis feminini, und die Frau Mutter?

Ich. Wenn sie daran Theil nahm, so geschah es bloß, um den Akademien Ruhm, Preis und Ehre zu geben und Stärke und Kraft, denn sie behauptete, daß das Paradies die erste Universität gewesen, weil die ersten Eltern relegirt worden.

Der neue Großvater lachte herzlich über diesen Einfall und – machte mir viele Complimente auf Rechnung meiner lieben Landsleute.

Der eine der Landsleute, der uns zu Sr. Spectabilität begleitet hatte, war die ganze Zeit über in Seelennoth gewesen. – Es waren ihm alles böhmische Wälder, bis aus Casimirus IV., König von Polen, welcher vom König in Schweben, Carolo Canuto, in Danzig examinirt ward, und mit seinem ganzen Hofstaat kein Latein verstand. Diesen König kannte er par renommée, alles übrige war ihm dicke Finsterniß. Er erzählte mir beim Weggehen, daß er gefürchtet hätte, der Professor würd' ihn aus Höflichkeit ein Wörtchen mitfragen.

Und wenn? sagt' sich.

Bruder, erwiederte er, Deutsch, Latein und Griechisch – alles war mir gleich unverständlich.

Wegen der zwölf Tafeln fragt' er mich im Vertrauen, wie der gute Professor auf zwölf Tafeln gefallen wäre, da ihm doch nur zwei steinerne Tafeln bekannt wären? – und mußt' ich ihm erklären, daß Se. Spectabilität nicht von den Tafeln Mosis geredet hätten.

Ich erinnere mich an ein Versprechen zurück. Den Regen kennen meine Leser, allein die Traufe bin ich ihnen noch schuldig.

Nachdem das Signum depositionis unterschrieben und besiegelt [146] war, und wir uns der Gewogenheit Sr. Spectabilität, als unseres Vorgesetzten, empfohlen hatten, sagten Se. Spectabilität lächelnd zu mir:

So wünsch' ich Ihnen denn ein Secessum, Secretum, Angulum das ist ein Pastorat in Ihrem Vaterlande, damit Sie bald Ihre zurückgelassene Schöne heirathen können.

Das war die Traufe. Ich weiß nicht, was ich geantwortet, nur das weiß ich, daß es nicht griechisch, nicht latein, nicht deutsch war, und daß ich mich gern noch einmal lieber examiren lassen wollen, als –. Se. Spectabilität beschlossen den ganzen Actum mit einer güldenen ABCregel: Minus est actionem habere, quam rem.

Unser Begleiter begegnete mir mit einer ganz vorzüglichen Achtung. Beim Schmause sagt' er der ganzen Landsmannschaft, was ich für ein Kerl wäre, und daß ich von zehn Tafeln mehr wüßte, als er bis heute gewußt hätte. Man versicherte mich, daß kein Curländer bei Menschengedenken durch so viel Trübsal des Examens in das akademische Reich eingegangen wäre, und daß besonders Se. Spectabilität gar kein beißiger Hund wären.

Wer Henker, setzt er hinzu, konnt' es wissen, daß er eben die Nacht vorher Großvater geworden. – Ich dachte bei dieser Gelegenheit an den Backofen, der bei meiner Geburt, – wie der Tempel zu Ephesus, als Alexander geboren ward – abbrannte, und hatt' in Verbindung mit diesem Examenvorfall, nach meiner Mutter Anweisung, recht erbauliche Gedanken. Das Testimonium unseres Begleiters setzte mich in eine solche Achtung bei meinen Landsleuten, daß ich dux, fax et tuba war, und kein Duell konnte vorfallen, keine Fackel angezündet, keine Musik gebracht werden, wo mir nicht, der zwölf Tafeln wegen, ein votum decisivum wär' eingeräumt worden.

Bald hätt' ich Se. Magnificenz vergessen, wohin uns Se. [147] Spectabilität sandten. Gott verzeih' mir meine Sünd', ich dachte, von Pilatus zu Herodes.

Se. Magnificenz sahen den weißen Stein, den wir aus den Händen Sr. Spectabilität mit hatten, und wollten uns anfänglich auf den Stein und Bein des Albrechts, Stifters dieser hohen Schule, schwören lassen, allein sie besannen sich eines andern, eines Bessern, und verwandelten den Eid in einen Handschlag – worauf wir die akademischen Gesetze erhielten und mit großen Siegeln zu den lieben Unsrigen nach Hause kehrten, wo uns die Landsmannschaft mit einem curischen Liedchen bewillkommte. Jede Strophe ward mit einem Lihgo oder Frohlocken beschlossen. Es war mir, als wär' ich mit dem Ritter Jachins und seinen Leuten zusammen.

Unsere Landsleute besahen die großen Siegel und die Schriften; als wenn sie ihnen was neues wären, und bliesen den Sand von unsern Taufscheinen. – – Kinder, hieß es am Ende, ihr kriegt darauf nicht einen Dreier geborgt.

Ich muß noch einen Vorfall nachholen, der in dem Hause Sr. Magnificenz auf mich zukam.

Der Edelmann, sagten Sie, zahlt doppelt, und hat die Ehre, einen Degen zu tragen, der in preußischen Staaten dem bürgerlichen Studenten wegen vieler vorgefallenen Schlägereien verboten ist. – Die auswärtigen Familien sind uns indessen nicht so bekannt (mit einem Fragzeichen), also beide Edelleute? Mein Reisegefährte nahm hier das Wort, wie ich beim Latein. Beide, sagt' er. – Verzeihung, Bruder, erwiedert' ich –

Es verdroß mich, daß ich in einem fremden Lande, wo ich mein Geld und, im Fall der Noth, mein ἀνέχου καὶ ἀπέχου auszugeben Willens war, und wo es keinen was anging, ob ich als Edelmann oder als Bürger äß' und tränke, durchaus Adel oder Unadel documentiren sollte – und wie? dacht ich, hat man [148] hier zur Ruhe des Degens, wenn ihn der Edelmann trägt, ein besseres Zutrauen, als wenn ihn ein Bürgerlicher angelegt hat?

Ich bezahlte wie ein Edelmann, allein ich bat sehr, mich als Bürgerlicher in Album Studiosorum einzuführen. Dieß fiel Sr. Magnificenz nicht wenig auf. Da aber dieselben die vorige Nacht nicht Großvater geworden waren, so gaben dieselben weiter nichts darauf, sondern nahmen, was Ihnen gebührte, und wünschten wohl zu leben.

Ich konnte nicht umhin, von diesem Umstande gegen meine bürgerlichen Landsleute Gebrauch zu machen; allein diese lachten herzlich über meine Einfalt. – »Den Edelmann dir so nah zu legen und ihn nicht zu nehmen!« – Und eine Lüge? »Sie wird ja bezahlt.« – Und wenn ich heim komme? »Ja, dann müssen wir freilich Ew. Hochwohlgeboren oder mein Gönner sagen, indessen sind wir doch Literati.« – Daß euch Gott helfe, dacht' ich, Literati, ohne von keinen Tafeln mehr als von den zweien des Moses zu wissen!

Der Abend ward mit Essen und Trinken und Musik zugebracht. – Einige gaben dem Abreisenden das Geleite, und da in der ganzen Straße, so weit nur das Gesicht reichte, die ganze Nacht hindurch Licht brannte, so brachte mich dieses auf die Frage: was diese Erleuchtung und nachbarliche Aufmerksamkeit zu bedeuten hätte? Die Antwort unseres Vorfahrs war: Seht da, Kinder! so viel Lichter, so viel Mädels, die ich euch unentgeldlich lasse; indessen will ich wohlmeinend anräthig seyn, daß sich jeder eins oder zwei aussondere und die andern fahren lasse. Sonst geht es euch wie mir! Diese, jene, dort, hier, die, da, diesseits, jenseits, links, rechts, kurz, in all' den Häusern, die ihr seht, sind Mädchen, die den ganzen ausgeschlagenen Tag, von früh bis in die sinkende Nacht, im Fenster liegen und liebäugeln, die guten Dinger! Man sieht ihnen den Verdruß an, daß sie nicht Mittag [149] und Abend am Fenster halten können. – Ihr könnt es nicht glauben, wie die Mädchen unserer Landsmannschaft treu, hold und gewärtig sind. Ein Präsentchen, und ihr habt das ganze Spiel gewonnen. – Glaubt mir, die all' zusammen, wo ihr Licht seht, waren mein! Sie sahen mich so steif und fest an, als ob sie mich mit den Augen fassen wollten. Die guten Dinger! Und ich sah sie all' zusammen so (der Himmel weiß, wie mein Aug' auf diese Art ausfiel), daß jede glaubte, ich sähe nur sie an. Ich regierte hier wie ein Sultan, hol' mich der Teufel! nur daß jedes Fenster glaubte, es hätte mein Schnupftuch. – Die guten Dinger! Die eine da, ein Aug' in Himmelsblau getaucht – der, den sie mit diesem Aug' ansieht, glaubt, er sähe den Himmel in Miniatur. – Wenn ich sie zuweilen (denn sie verdient' es) ganz allein ansah, dann, dann! fragte mich ihr Auge so, daß es mein Innerstes hören konnte: ist's auch wahr? und wenn ihr mein Auge vorlog: ja, es ist wahr! o wie zitterte dann süße Verwirrung in ihrem Auge, recht als ob wir zur Trau gehen sollten und noch weiter. – Das ist ein Mädchen, so ich dir gönne (er wandte sich zu mir). Ihr Athem göttlich, Bruder! Wen sie anhaucht, von dem könnt' es heißen: Also ward der Mensch eine lebendige Seele! Sie spielt eine Laute, Bruder! Des Abends im Sommer, wenn sie am Fenster diesem Instrumente die Zunge löst – Zephyrs, die eben der Hitze halber Mittagsruhe gehalten – denn es ist im Sommer hier sehr heiß – flatterten ganz frisch und munter herum und brachten mir alles, bis auf die geheimste Bebung zu. Auf Ehre, in jedem Finger hat sie eine Seele! und wenn alle diese Seelen eine Ton herausbrächten – Bruder, da ist die Nachtigall ein Kind! – Leb' wohl,Amalia! leb' wohl! Ich laß dir einen braven Jungen zurück, der auch Bebungen versteht. Schau, wie sie die Laute hält und wie sie das Ordensband sich so leicht umhängt, als flöss' es, Bruder! – Die Laute ist an sich ein so [150] gutherziges Instrument. Amalia trauerte jüngst, und da kam die Weiße ihres Arms aus der Dunkelheit so abstechend hervor, daß ich sitzen blieb wie vom Schlage gerührt. Hast du bemerkt, wenn das Hemd auf dem Busen eines Dorfmädchens sich einen Finger breit verschiebt, und bei dem sonnenschwarzen Busen den weißen Fleck verräth? – Das, sagte Herr v. G., hab' ich bemerkt; meine Leser wissen, wo?

Die, sagte unser Maler zum Herrn v. G., die in diesem Hause, Bruder! schwarzes Haar, wie Ebenholz! Ein Auge, das immer drei Schritt weiter ging als meines, so stark auch meines zudrang. – Ein Busen, zehntausend Liebesgötter tanzten darauf. – Pfui, sagte Herr v. G., was muß das für ein Busen seyn! Unser Reisender hatte Mühe, ihn mit dem Busen und den Liebesgöttern auszusöhnen, die er auf zehn reducirte, wobei sich am Ende Herr v. G. zufrieden gab. Bei deiner lebt man, bei des – – (auf mich) stirbt man. Bei deiner hält man sich gerade, denn sie ist eine Göttin. Man sieht gen Himmel. – Bei deiner (wieder auf mich) legt man den Kopf von einer zur andern Seite, denn sie ist eine Schäferin! O die schönen Schäferstunden! Ich hab' noch vergessen, fuhr er zu mir fort, ihr Busen wallt so wie eine Laute, er bebt nur herauf, und, Bruder! ihre Stimme, wenn sie singt – sie thut es selten; sie hat eine blonde Stimme, du wirst mich verstehen; sie stiehlt das Herz, deine Brünette (zum Herrn v. O.) nimmt es mit Gewalt! sie raubt! – Sie kommt nicht mit vollen Segeln! Sie ist stolz und scheint sich wenig aus einem Siege zu machen, denn sie ist sich bewußt, daß sie Herzen wie Fliegen zu fangen im Stande ist. Jene streichelt, diese schlägt; allein wenn sich diese Königin herabläßt, ist's auch so, als wenn die Sonne aufgeht. Man hat sich besoffen, wenn man sie liebt, und einen Jesuiterrausch, wenn es die mit der blonden Stimme gilt. – Diese spielt kein Instrument. Die Orgel würde sie spielen, allein [151] wenn sie singt – das thut sie oft, Bruder, so prächtig wie ein Donnerwetter! – Diese beiden Auserwählten empfehl' ich euch zu Gemahlinnen, die andern – zur linken Hand und so neben an, zum Spiel. – Noch eine Warnungsanzeige, eh' ich von hinnen gehe. – Die beiden waren freilich die Hauptpersonen und meine Gemahlinnen, allein auch unter den andern gibt's Dingerchen zum Rasendwerden! Sie waren gleich in den ersten acht Tagen alle mein. Ich meine mit den Augen; und nun hielt da unten zu – ein Kaufmann Hochzeit, der die ganze Gegend und mich mit bat. Ich kam zum erstenmal mit all' diesen angeangelten Mädchen zusammen; jedes Auge forderte Rechenschaft. Da ward ich, wie Cäsar, mit dreiundzwanzig Wunden erstochen. – Sah ich eine an, so waren die andern wie Tiger auf mich und forderten Antwort über meine Untreue. O, wer da mehr Augen gehabt hätte als zwei! Ich mußte nicht aus noch ein – bis ich endlich Muth zum Entschluß faßte und mich zu vieren bekannte, und in Rücksicht der andern dieAugenehen aufhob und dieß Band trennte. Diese vier halfen mir selbst die andern abfertigen – und diesen vieren bin ich auch so treu geblieben als möglich. Sie haben sich bis an mein End' in meinem Gewahrsam befunden. Seht, da ist es am hellsten! Es blieb nicht bei den Augen in Rücksicht dieser vier, indessen dürft ihr nichts von mir fürchten.

Mich müßte der Teufel plagen, setzte der Abschiedsredner fort, ein Mädchen in Königsberg zu heirathen, wo Curländer gerad' über logirt haben! – Ihr werdet Wunder sehen und glauben! – Schaut die andern selbst, von denen ich mich, nach dem fatalen Gefechte, scheiden mußte; auch die noch Licht! – Wenn es angeht, schränke sich jeder auf zwei ein, damit kann man bestehen und bei Ehren bleiben; einer das rechte, der andere das linke Auge!

Wie wenig ich von dieser Uebergabe Gebrauch gemacht, darf ich nicht bemerken. – Herr v. G. vergaß zwar seine Dorfdirne, [152] seine schmucke Trine, nicht; indessen legt' er sich dennoch, wenn er nicht zu jagdmüde war, in's Fenster, und dann hatt' er sie, nach seinem etwas jagdfreien Ausdruck, wie am Rosenkranz. – Ich habe mich nie in Liebeshändel anderer Leute gemischt, nur das konnte mir nicht verborgen bleiben, daß er seine übrige Zeit (er hatt' indessen nicht viel übrig) den beiden von unserem Vorgänger beschriebenen Mädchen schenkte, mit denen er, wie er zu sagen pflegte, so ziemlich bekannt wäre. – Sie sind, sagt' er, meine Dorfdirne in mangelhafter Copie; allein mich soll der Teufel beim ersten Kuß, den ich ihnen zudrücke, holen, wenn ich nicht mein Dorfmädchen viel höher schätze als sie! – Ehrlicher, und das heißt genau genommen, auch schöner. Meine Trine, ausgewachsen wie eine Göttin, kein Mißglied an ihr, keins verkrümmt und verkratzt. – Alles reif, herausgegangen wie die Natur!

Redet dein Vater aus dir? fiel ich ihm ein. – Getroffen, erwiedert' er, aber meine Empfindung bestätigt seine Rede.

Mein akademischer Wandel – ich kam nicht mit Denksucht, sondern mit Lernsucht in die Hörsäle, nicht verwöhnt, sondern hungrig und durstig. Ich dachte nicht meinen Lebenslauf zu schreiben, welcher Einfall mich nur seit kurzem überfiel, sondern ich wollte leben lernen. Ich durfte nicht meine Hengste der Einbildungskraft ausspannen, die mich zu tausend Zeitungslorbeeren führen sollten; denn ich hatte sie nie angespannt. Ich flog nicht, ich ging und wußte, wie es wächsernen Flügeln, wenn sie der Sonne nahe kommen, zu gehen pflegt. Höchstens lief ich – um aus einer Stunde zeitig genug in die andere zu stürzen. Im Hörsal dacht' ich: Er hat's gesagt; zu Hause frug ich mich: Was hat er gesagt?

Ich schreibe (meine Leser werden es, wie ich nach der Liebe hoffe, wissen) Leben, nicht Schule, und was kann ich also von meinem akademischen Laufe sagen, was ein großer Theil meiner [153] Leser nicht schon selbst, wie ihren Haus- und Wirthschaftskalender, aus- und inwendig wüßte? Die Lehrer lasen, ich hörte. Ich lernte von allem was ich schon wußte, die Grammatik, auf der Reitschule, auf dem Tanzboden, in der Philosophie, in – allem. Ich lernte meinen Lehrern den kürzesten Weg zum Ziel ab und war aufmerksam auf die Straße die zu gehen, und auf die Straße die zu meiden war. Sollte man nicht überhaupt auf Universitäten mehr Polemik als Thetik in allen menschmöglichen Wissenschaften lehren? Und sollte nicht Kritik, in einem besondern Sinne, der Gegenstand der akademischen Beschäftigungen seyn? Der ist in meinen Augen der beste Professor, der am gründlichsten seinen Schülern zu sagen weiß, was nicht verlohnt gelernt zu werden, und die Titel von dem, was lernenswerth ist. Meine Hauptbemühung in Rücksicht der Gelehrsamkeit auf der Universität war, ein Lexikon zusammenzutragen, wo ich die Gelehrsamkeit weiter nachschlagen könnte, wenn ich, wie Felix, gelegenere Zeit haben würde. Gottlob! diese gelegene Zeit ist gekommen. Die Sprachen, die ich angefangen, setzt' ich fort, in so weit es von ihnen und mir heißen konnte: Der Schmied hat mehr als eine Zange. Ich wünsche, daß Sie Ihre Zeit gut anwenden mögen, war damals in dem Munde eines Professors, wenn er mit einem Studenten sprach, so viel als guten Morgen, guten Abend und gute Nacht! – Die Pietisten setzten hinzu: Gott segne ihre Studia! und mehr als dieß weiß ich von diesen Leuten nicht zu sagen.

Se. Spectabilität nannten mich, wo Sie mich reichen konnten, den curischen Philosophen und empfahlen mich Ihren Herren Collegen, wo ich nicht viel Großväter fand; indessen wünschten alle, daß ich meine Zeit gut anwenden und daß Gott meine Studia segnen möchte. Wenn sie zum Inpietismus gehörten, blieb der eingliedrige Segen weg.

Froh denk' ich noch heut (es ist eben Michaelstag) an diese [154] akademische Zeit, und rufe mit dem guten Drosselpastor: vivat Academia! Mir fehlte nichts als Mine, der Kirchhof, das Wäldchen und die andern heiligen Orte, wozu noch die gründicke Laube des Bekannten gekommen war; indessen ersetzte mir die Einbildungskraft alles. Ich las Minens Briefe, beschäftigte mich mit den von ihr eingeweihten Sachen und kam mir wie ein Wittwer vor, der seine Frau in seinen von ihr zurückgelassenen Kindern sucht. Seine schönste Zeit ist, wenn er mit ihnen spielen kann. – Meine Spaziergänge waren Kirchhöfe, Wäldchen und überhaupt Orte, die mich desto deutlicher an Minen erinnern konnten. Sie sah ich überall. Ich studirt' an ihrer Hand. – Sie beseelte mich mit Muth und war mir sans comparaison das, was jedem Ritter seine Schöne ist.

Mein lieber v. G. blieb keinem Professor einen Dreier schuldig, das ist alles, was ihm zum Ruhm im Testimonio behauptet werden können, wenn er ein dergleichen Ding nöthig gehabt hätte. Ich studirt' in seiner Seele als sein Sachwalter und erzählt' ihm des Abends im Zeitungston, was ich den Tag über im eigenen Namen und vi specialis mandati gehört hatte, worüber er, wenn er jagdmüde war, sanft einschlief. – Ich indessen setzte meine Wiederholung fort und hatte dadurch den Vortheil, mit dem gehörten Worte bekannter zu werden. Die Digestion der Wissenschaften wird eben hiedurch unendlich befördert, wenn man erzählt, was man weiß. Man lernt auf diese Art mit der Wissenschaft conversiren und sie auf einen freundschaftlichen Fuß nehmen, der Hörer sey übrigens jagdmüde oder nicht. – Was konnte Herr v. G. dafür, daß es um Königsberg solche schöne Jagdplätze gab und daß ihm davon viele Feldmarken, die durch zwei besondere Thore lagen, als plus licitanti zugeschlagen wurden? – Herr v. G. hatte sich vortreffliche Jagdbücher angelegt und war jetzo so sattelfest in der Jagdterminologie, daß er nicht allein Hochselbst für [155] Fund zeitlebens sicher war, sondern er war noch obenein im Stande, andern Fund zuzuwenden, die ihre Zeit auf der Akademie nicht so, gut wie er angewendet hatten. Mir versprach er, wenn es nöthig seyn sollte, aus Noth zu helfen; du hilfst mir wieder, setzt' er hinzu, wenn etwas vom Argos vorfällt. – Am Ende, fuhr er fort, dünkt mich, daß überall bei Eurer weltgepriesenen Gelehrsamkeit Jagdterminologie ist. – – Den mangelhaften Copien seiner Dorfdirne entging oft zu viel durch diese Jagdneigung, und gern hätten sie ihn davon abgebracht – allein so sehr hatten sie ihn nichtgetroffen, wie er sehr jagdmäßig sich gegen mich erklärte. – Die eine ließ ihre blonde Stimme hören, die andere donnerwetterte; allein es gehörte mehr dazu als Orgel und Laute, den Herrn v. G. auf mehr Sprünge zu bringen. Bei alledem war er Sieger und die beiden Schönen geschlagen. Die andern Schönen in der Straße sah er an, wie solche Feldmarken, die ihm nicht als plus licitanti zugeschlagen waren. Bruder, sagt' er zu mir, in Rücksicht der beiden, sie sind abgerichtet, sie sind dressirt, sie verstehen alles auf ein Haar. – Die werthen Eltern dieser beiden setzten die Freundschaft mit uns fort, wobei ich freilich in der Hauptsache sehr leer ausging. Diese Freundschaft war also nicht an die Personen, die hier logirten, sondern an die Zimmer gebunden, nicht eine Personal, sondern eine Realbekanntschaft, wie es jede nachbarliche Bekanntschaft ist. Freilich trug es sich zuweilen zu, daß die Dirnen den Herrn v. G. in die Enge brachten; allein er pflegte sehr richtig mir in's Ohr zu bemerken, daß die Stadtschönen, wenn gleich sie mit Witz ausziehen, doch ohne Witz in die Flucht geschlagen werden könnten, wenn nur – – Herr v. G. besaß von diesem wenn nur gerade so viel, um seinen Posten zu behaupten. – Der Schweiß Abels, hatt' er im Jagdeifer gesagt, schrie zu Gott um Rache, und unsere Stadtnymphen wollten ihm hart fallen. – Ich war Augen- und Ohrenzeuge von [156] ihrem witzigen Ausfall – er sah sie nur an, und sie, gleich in die Flucht.

Unsere Bekanntschaften waren, außer den beiden Nachbarn, das Haus eines Kreisrichters, auf dessen Haus unser Vorfahr gleichfalls seine Assignation zurückgelassen. Dieser Kreisrichter, der eine alte Frau des Geldes wegen geheirathet, hatte keine Kinder. Er braucht' ein paar junge Leute zu seinen häufigen Gesellschaften als Hausofficiere, und obgleich diese Stellen besetzt waren, so honorirt' er doch die Assignation unseres Vorfahren, dessen Andenken überhaupt im Segen war. Ich nahm selten an diesen Zeitverkürzungen Antheil; indessen lernten wir einen königlichen Rath bei dem Kreisrichter kennen, der an Leib und Seel' auffiel, und sich auch bei jedermann zu erhalten im Stande war. Er schien gegen Vierzig und hatte sehr seine Kenntnisse. Er las die Alten und kannte die Neuern. Er legt' es nicht dazu an, daß man ihm dieß anhören und ansehen möchte; allein wo er stand und ging, streut' er Funken. Er verdrängte keinen. Er vernichtete nicht Sprößlinge vom Witz der Jünglinge, die mit ihm zu Tische saßen, um den Saft den bejahrten Zweigen zuzuleiten. Witz und Verstand war ihm Witz und Verstand – es mochte hervorsprossen, wo es wollte. – Er wußte wohl, daß alles Obst nicht reif sey, das der Wind herabwirft. – Es war nicht abgezogener Geist, nicht Lebenstinktur – was er sprach. Beim Kreisrichter sprach er wie der Kreisrichter, der über nichts als Schlägereien, neue Brautschaften, Todesfälle oder dergleichen Dinge mehr, sich verlauten ließ; indessen wußt' unser Rath über die gemeinsten Dinge besonders zu seyn. Ost war er ganz still, und alsdann sah man es ihm an, daß er wohlbedächtig mit den falschen Spielern in der Gesellschaft nicht mitspielen wollte. – Ich fand, wenn er sprach, so viel Eigenes, daß ich tausendmal wünschte, wenn er doch schreiben möchte, oder wenn er doch wenigstens mehr spräche. Er verbesserte nie ein Urtheil, [157] das er in Gesellschaft hörte, und legte sich nie das Ansehen einer Appellations- und Revisionsinstanz bei. Wenn ich eine Rechtssache gehabt hätte, wäre mir sein Gutachten Entscheidung gewesen. Viele hatten dieß Zutrauen zu seinem Herzen und Verstande, und sein Laudum (sein Schiedsspruch) galt ihnen mehr als ein für Geld und gute Worte in bester Form genommenes Urtheil. – Er war unverheirathet. Man sagt', er wär' in der Liebe unglücklich gewesen. Schade! Es haben Curländer vielleicht, bemerkte Herr v. G., seiner Schönen grad' über logirt. – Mag wohl seyn! – Dieser würdige Mann war im Stande, Menschen zu lesen, und dieß schien sein Hauptgeschäft in Gesellschaft zu seyn. Durch vereinte Kraft eins seyn, ist der Zweck der großen Staatsgesellschaften, sagt' er zu mir. So im Großen, so im Kleinen! Instinkt und Vernunft lehren uns, daß ein großer Theil unserer Glückseligkeit von Menschen abhängt, und darum seh' ich Menschen, darum geh' ich nach ihnen aus und freue mich herzlich, wenn ich was Unerwartetes vorfinde. Im Collegio ist alles auf einen gewissen bestimmten Horizont calculirt.

Noch seh' ich den Mann mit seiner offenen, weit offenen Stirn, schwarzem Haar, einem Auge, in dem man ihn im Kleinen – allein doch ganz sah. Zuweilen hatt' er kleine Abendgesellschaften, woran er mich Theil nehmen ließ. Dieses Collegium versäumt' ich nie. Ich fand einen Officier, einen königlichen Rath, seinen Collegen, einen Prediger und einen Professor; allein alle waren große Lehrer in ihrer Art für mich. – Da war er zuweilen ausgelassen. – Er warf Münzen aus, und ich muß aufrichtig bekennen, daß, wenn ich je in meinem Leben mit Leib und Seele zugleich gegessen und getrunken, so war es hier; ich wundere mich noch jetzt, daß es mir so gut bekam. Wenn er es nicht länger aussetzen konnte, gab er eine große Mahlzeit. Da that er wenig mehr als vorlegen, und hiezu braucht' er auch alsdann den [158] Officier, den königlichen Rath, den Prediger, den Professor und mich.

Ich habe schon bemerkt, daß ich das votum decisivum bei der Landsmannschaft hatte, und so lang' ich den Präsidentenstuhl bekleidete, ist kein Stein von einer curischen Hand gehoben, um ehrlichen Leuten die Fenster zu verwüsten. – Mit der Zeit wär' ich weiter, bis zum Kopf meiner Landsleute gekommen. – Fürs erste hatt' ich Ursache, mir Glück zu wünschen, daß ich über ihre Hände disponiren konnte.

Wenn ein Landsmann kam oder ging, ward ein Mahl gegeben, wozu ich zwar meine Stimme, allein nicht meinen Magen gab.

Herr v. E. war, unter vielen andern, König eines solchen Mahls. Er war von seiner Mutter, die Wittwe geworden, aus Frankreich nach Curland gerufen. Seine Geschäfte indessen hatten ihn noch ein halbes Jahr in und um Königsberg zurückgehalten, ohne daß wir uns zusammen getroffen. Kein Wunder! Er ging nicht in die Hörsäle und ging nicht auf die Jagd. Seine Geschäfte waren – wie man sich leicht vorstellen wird – Liebesangelegenheiten. Freilich hatten die Königsbergischen Schönen Ursache, einem Manne Complimente zu machen, der von Paris kam und sie nicht verschmähte. – Endlich schlug seine Stunde. – Ich war, ohne selbst zu wissen wie's zuging, bei diesem Mahl, und lernt' einen Menschen ohne Kopf und Herz kennen, der auf den preußischen Adel loszog, weil ihm niemand (die Sache ohne Allegorie vorzutragen), obgleich er angeklopft, aufgethan. – Wahrlich, dieß brachte mir eine sehr gute Meinung vom preußischen Adel bei, die ich auch nie aufzugeben Ursache gefunden. Ich brachte die Nacht, da Herr v. E. mit Extrapost abging, wider Gewohnheit schlaflos zu, und selten hab' ich einen Menschen gefunden, in dem jeder Zug mir so entgegenarbeitete. – Dem Herrn v. G. war er auch unausstehlich. [159] Er sollt' ihn bis Schacken begleiten, allein er konnte nicht. Herr v. E. kroch und war stolz; er war Franzos und Curländer. Für und wider sich – und gewiß auch Freund und Feind eines jeden, der es mit ihm anbinden wollte. – Sein Gesicht und er schienen zweierlei, und waren es auch immer. – Er fragte uns, ob wir nicht an unsere Mädchen was zu bestellen hätten? Da fuhr es mir so durch die Seele, daß ich außer mir war! – Herr v. G. sagte, daß er ihn am wenigsten zum Liebespostillon brauchen würde, weil er aus Frankreich käme; und Sie? fuhr er fort, indem er sich zu mir wandte. – Ich habe, sagt' ich, nur eben Briefe von ihr. – Er nahm es als Scherz, und ich fand dießmal, und hab' es oft gefunden, daß selbst bei dergleichen Verlegenheiten die Wahrheit am besten aushilft Ich hatte wirklich Briefe von Minen.

Sie erfüllte redlich ihr Versprechen, sie hielt ein Tagebuch, und alle Vierteljahre erhielt ich es durch den bezeichneten Weg. Das erste Päckchen kam nach Manatsfrist; ich hoffe, niemand werde fragen, warum? Er an Sie ging vor sich, sobald ich an Ort und Stelle war. Ich fühlte jeden Kuß in ihren Briefen, so warm so sonnenwarm, obgleich er seine fünfzig Meilen gereiset war. In Wahrheit, hätt' ich Minchen nicht gehabt, ich hätte nicht die Hälfte von dem auf der Universität gethan, was ich jetzt that, nicht die Hälfte vor mich gebracht.


* * *


Da bin ich an einer schweren Stelle meines Lebens, wo ich noch zittre und bebe! Der Himmel helfe mir auch in diesem Buch über! Er, der sie mir leben geholfen, helfe sie mir auch schreiben! – Ein bitterer Kelch! – Gottes Wille gescheh' auf Erden wie im Himmel!

Ich will ihm nicht fluchen, dem Vater meiner Mine, denn diese Holdselige verbietet es mir. – Ich will ihm nicht fluchen.

[160] Sie schrieb mir ehemals:

»Ich will meinen Vater nie unsern Vater nennen. Der meinige ist er, weil's Gott hat haben wollen, warum sollst du dich aber mit ihm beschweren?«

O Mine, warum warst aber du mit ihm beschwert? warum? du Dulderin, du Märtyrin! du Heilige! mit diesem Peiniger, mit diesem Tyrannen, mit diesem Unheiligen – mit diesem –

Ich will abbrechen, bis ich besser gefaßt bin, sonst würd' ich dein heiliges Gebot übertreten, du heiliger Engel! und ihm doch – fluchen.

Auf heute, morgen und übermorgen nehm' ich von meinen Lesern Abschied. – Ich will mir ordentlich Zeit nehmen, mich zu fassen – und wenn ich es in drei Tagen nicht bin, noch einen und noch einen – zugeben und bis acht Tage zu dieser Fassung aussetzen. In dieser stillen Woche soll meine Seele gen Himmel sich aufrichten, und mit meiner Mutter will ich beten:


Herr, wie du willst, so schick's mit mir,

Im Leben und im Sterben.


Rede, Herr! dein Knecht höret. – Thu mit mir, wie's dir wohlgefällt. In deine Hände befehl' ich meinen Geist.


An einem schwarz bezogenen Tage, da es Vormittags donnerte.


Ich habe meine Leser nur drei Tage allein gelassen. – Je mehr ich mir Zeit nehme mich zu fassen, desto mehr verlier' ich das Gleichgewicht. – Fast glaub' ich, daß die Fassung so schnell komme als der Schreck, die Hülfe wie die Krankheit, und wenn alle Fassung nur Betäubung wäre?

Der Gedanke hat mich am meisten in diesen drei heiligen Tagen erfrischt, daß es Tugenden gäbe, die es nicht geben würde, wenn nicht böse Menschen in der Welt wären. Wahrlich, die größten Tugenden werden hierdurch an Tageslicht gebracht. – Durch Schatten wird das Bild erhöht. Es ist, ich gesteh' es gern, [161] dieses eben nicht einer von den Gedanken, die einer göttlichen Eingebung nahe kommen; allein wenn Noth am Mann ist, schmeckt Hausmannskost am besten und bekommt auch so. – Der Unglückliche, der Furchtsame glaubt alles, wenn es nur Trost enthält.

Fluchen will ich dem Hermann nicht, allein ich will treu befunden werden.

Von dem ersten Tag an, da meine Leser den alten Herrn kennen lernten, fanden sie einen Mann (kaum kann das Wort Mann von jemanden gebraucht werden, der sich nicht nach seiner Decke zu strecken versteht. – Doch Minchens –), einen Mann, der allem, was man Belang heißen kann, gerade entgegen war. Sie fanden eine geschwächte, eine zu Fall gekommene Person, einen Hofnarren, Kammerherrn, Forst- und Jägermeister, einen Witzdiener, Positivschläger. – Einen, von dem man nicht behaupten, kann, daß er seinen Namen, wie mein Vater sein Vaterland geflissentlich verschloß (wie einer meiner Splitterrichter des ersten Bandes der Meinung gewesen), sondern den man den alten Herrn zu nennen für gut fand, und der, weil mit dem Wort Alt das WortHerr verschwägert war (womit man wahrlich in Curland nicht verschwenderisch ist), nichts mehr erwarten konnte, und mit dieser Ehre sehr zufrieden schien; und wie hatte wohl dieser Schneider, Schuster, Töpfer, Ton- und Tausendkünstler, und wär's auch nur des Podagra's wegen, welches keine gemeine Krankheit ist, wider den Ehrennamen, Nicolaus Hermann, eine Sylbe einwenden und den Kopf schütteln können? Der alte Herr war kriechend und stolz, wie die Stolzen immer zu seyn pflegen. – Obgleich er seinen Abschied als Witzdiener in höchsten Gnaden erhalten, so sprudelte doch ein schwarzes Blut in seiner satyrischen Ader auf, sobald es Gelegenheit gab. Die Ader war recht schwarz und fürchterlich aufgequollen zu sehen. – Seine ganze Geberde verstellte sich, sobald diese Ader auflief. Er pflegte [162] sich selbst einen Invaliden des Apoll zu nennen, und Dank sey meiner Mutter, die ihn, wie ich mich eben erinnere, bei dieser Gelegenheit einmal fragte: wie's mit seiner Wunde am Kopfe stünde? Die Zeiten, sagte Hermann selbst, sind gottlob vorbei, und dieß waren Zeiten, da er Gräber schändete; allein kann auch ein Mohr seine Haut bleichen und ein Parder ein Fleckkügelchen benutzen? Erst mehr Fechter, jetzt mehr Tänzer!

Ich bin der Meinung, daß sich die Physiognomisten nie eher, als in der Miene eines Pasquillanten (wär' es auch ein Recensent) und Mörders irren können. Da muß ein sehr seiner Unterschied seyn! Sie sind eines Handwerks: beide schlagen aus Gewinnst todt – und es kommt nur auf Umstände an. Beide legen Händ' an uns, und so wie es bloß von der Kürze der Jahre kommt, daß nicht jeder, dem der Strick in den Lineamenten liegt, gehangen wird, so –

Wenn ich in einer großen Gesellschaft einen Witzling sehe, der nach Landesmanier wie der dritte Mann zum Spiel gebeten wird, und der über Tisch und Stühle schreit, ist mir nichts anders, als wär' ich mit dem verstockten Schächer zusammen. Wer in einer Gesellschaft von zwölf Personen witzig seyn und sich hören und sehen lassen kann, ist ein schrecklicher Mensch. – Wo zwei und drei versammelt sind, da ist Witz an Ort und Stelle. Niemand ist geiziger, als ein wirklich Witziger. Er wirst seine Perlen nicht weg. Ein Witziger ohne Urtheil ist ein Witzling – und wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt! Vorrede genug.

Hermann hatte, nach dem Tode der Mutter meiner Mine und der meinigen, noch Lust, sich ein Hochzeitsbett anzulegen. Der Tischler, den er darüber besprach, glaubte, es sey ein Sarg, da er sich in der Stille an ihn wandte. Der Tischler wandte sich mit einem Warum? auch in der Stille an Hermann zurück. – Ich[163] hab' es von meiner Mutter, daß eben dieser Tischler in seiner Gewerksstube herzlich geweint habe, wenn er einen Sarg für einen Redlichen im Land' erbaute. Meine Mutter nannt' ihn oft des Todes Zimmermann, und gratulirte Curland und der dortigen Gegend, wohölzerne Häuser etwas Gewöhnliches sind, weil sie schon im Leben mit ihrem letzten Hause sich bekannt gemacht. – Wir sind schon im Leben im Sarge, pflegte sie zu sagen. Wir sterben täglich; Heil uns! Der eigentliche Sarg wird uns kein so wildfremdes Gemach seyn.

»Lieber Freund,« fing Herr Hermann wieder in der Stille an, und der liebe Freund ließ ihn nicht zum Worte, wenigstens nicht zum Ende kommen.

Sie sind ja, unterbrach er ihn, munter und gesund – frisch und gesund hab' ich Sie nie gekannt.

»Eben darum, weil ich munter und gesund bin.«

Recht! Es sieht uns nicht vor der Stirn geschrieben.

»Vor der Stirn?«

Sie fochten lang' in die Luft, bemerkte mein Waffenträger Benjamin, von dem ich dieß alles hab', ehe sie zusammentrafen.

»Ein Himmelbett,« sagte Hermann; allein da man einen Sarg eben so gut, wo nicht besser als ein Brautbett, ein Himmelbette nennen kann, so erwiederte der Tischler: »Schöner Ausdruck!« Der gute Tischler konnte den Sarg nicht aus dem Sinn und Gedanken bringen, und selbst, da ihm Hermann ziemlich laut (er war hitzig geworden) gesagt hatte: »Ein Brautbette,« schüttelte der Tischler noch den Kopf – und dieß Schütteln war dem Hermann widriger, als das vorige Mißverständniß vom Himmelbett und von derStirn, und von munter und gesund.

In Rücksicht der Jahre hätte freilich Hermann eher an Sarg als an Braut, oder, wie man es gewöhnlich in Curland nennt, an ein Himmelbette denken können; wenigstens hätte Hermann, der [164] ein Weib wie unsere Mutter gehabt, eine andere, der Seligen – und ihm anständigere Wahl treffen sollen. Ich will, um aller Parteilichkeit auszuweichen, an seine Tochter nicht denken, obgleich auch Töchter, wenn sie wie Mine sind, hiebei einen Blick verdienen.

Seine Schöne war eine Person, die sich in der Nachbarschaft, Gott weiß, wie? ein kleines Vermögen erworben hatte. Der Unterricht der Kinder ward dem Hermann in der Länge zu beschwerlich, und es ist freilich eine andere Sache, Kinderlehrer, und eine andere, Hofnarr zu seyn. Dieß war die Ursache, warum er zuweilen zu sehr für die körperlichen Uebungen war, und die Kinder ohne Unterricht ganze Wochen hinschleudern ließ. Hiedurch litt sein guter Ruf. Seine Selige wußte alles zum Besten zu kehren. Nach ihrem Tode war er sich ganz und gar allein überlassen, und das hieß an der Hand eines schlechten Führers seyn. – Die Schuljugend trieb sich um und der Lehrer deßgleichen. Kurz, Hermann war wieder auf der schlimmen Seite und lebendig todt, ja wohl! lebendig todt!

Ich will mir, sagte Hermann, einen ruhigen, guten Tag machen; eigentlich wollte er sich diesen ruhigen, guten Tag für baar Geld kaufen, ohne zu bedenken, daß Ruhe nicht feil sey. Immer noch überzeugt, daß es besser sey ein Schneider als ein Hofnarr zu seyn, blieb des Hermanns Losung zwar:

Gottlob! die Zeiten sind vorbei; indessen war er doch fest entschlossen, aus einem Hofnarren ein Stocknarr zu werden. Der Unterschied ist ungefähr wie zwischen Postbote und Nachtwächter.

Magdalene (so hieß die Schöne quaestionis) war nicht abgeneigt, mit diesem Manne zu ziehen. Sie hatte nicht ermangelt, weit und breit herumzublicken und ihr Augennetz auszuwerfen, allein sie hatte nichts gefangen; sie hatte, um die Sache deutlicher [165] zu machen, nicht abgesehen, daß sich ein anderer mit ihr in diesem Leben einspannen würde. – Magdalene weinte herzlich, so oft sie an den seligen gnädigen Herrn dachte, dessen gnädige, zurückgebliebene Wittwe so herzlich nicht über diesen Verlust weinte. Dieß machte Aufsehen in der ganzen Gegend, die nur eine solche Kleinigkeit von Anlaß brauchte, um laut zu sagen, was jeder längst und schon bei Lebzeiten des seligen gnädigen Herrn, da Magdalene noch nicht so herzlich weinen durfte, gedacht hatte. Man machte über diese Thränen der Magdalene bittere Anmerkungen, so daß, da der größte Theil davon an die beiden Weinenden kam, Wohlstandes wegen Magdalene weniger als die nachgebliebene Frau Wittwe zu weinen anfing. Der wunderbare Wohlstand!

Es hatte der Herr Gemahl der Frau v. E. in seinem letzten Willen die feierliche Verfügung gemacht, daß seine Gemahlin und Mamsell Dene (so ward Magdalene im ganzen Hause und überall genannt) sich nicht von einander trennen, sondern beisammen bleiben sollten, bis sie der Tod schiede. Das war ein neuer Gegenstand zu Anmerkungen, welche die ganze Gegend machte, sobald das Testament eröffnet war. Die Frau Wittwe, die vor der Eröffnung des Testaments, und vorzüglich bei Gelegenheit der Thränen, den Plan gemacht hatte, Denen in allen Gnaden zu verabschieden, war jetzo, wie sie sich ausdrückte, gezwungen diese Klette am Kleide zu leiden. Sie sah es also im Herzen sehr gern, daß Herr HermannDenen die Aufwartung machte. Zwar hatte sie sich so fest an den Willen ihres verstorbenen Gemahls gebunden daß sie keine Trennung von Denen möglich glaubte; indessen glaubte sie, durch Denens Umgang mit Hermann wenigstens die Scene zu verändern und der Nachrede eine andere Wendung zu geben. Einen Rechtsgelehrten hatte sie nicht das Herz darüber zu Rathe zu ziehen. – Es gibt Krankheiten, die man nicht gern entdeckt. Dene fand von dieser Seite nicht die mindeste Schwierigkeit, wohl aber war [166] ihr bedenklich, daß sie die Ehescheidungsstrafen, wenn sie den Aufstand anheben sollte, zu tragen würde angewiesen werden. Wenn aber die Frau v. E. anfinge, dachte Dene, was könntest du nicht für Bedingungen vorschreiben! – Dene sah wohl, wie überlästig sie der Wittwe war, sie mochte mehr oder weniger weinen als sie. Wenn Dene also nach dieser ihrer Verbindung mit dem Herrn Hermann gefragt ward, war ihre Antwort: Sie belieben zu scherzen, oder: ich bitte tausendmal um Verzeihung, oder: mir fehlt ohne den Herrn Hermann nichts auf der Welt. Roth zu werden hatte sie entweder schon längst verlernt, oder hatte es nie gekonnt. Es blieb also ihre Verbindung mit dem Herrn Hermann problematisch. Die Nachbarschaft pflegte die gnädige Frau und Denen zu nennen: Sara und Hagar. – Sowohl Sara als Hagar ärgerten sich über diese Beinamen, ohne gegen einander sich diese Aergerniß merken zu lassen.

Magdalene hatte, seit ihrer vieljährigen Praxis, alle Kniffe auf einem Schnürchen, wodurch unser in Liebesangelegenheiten abergläubisches Geschlecht gefesselt gehalten werden kann, so daß es noch diese Fesseln als Ordensketten verehrt. – Sie hatte den alten Herrn erst äußerst verliebt gemacht und war ihm in allem – wenigstens ein Viertelmeilchen (ich rede von deutschen Meilen) – zuvorgekommen. Auf einmal eine andere Dekoration. Wer A sagt, muß auch B sagen, war bei Denen keine Regel, und alle ausgelernte Coquetten denken so. Der alte Herr hatte durch eine überaus gefällige Aufnahme in dem Hause der Sara sich das Wohlleben so angewöhnt, daß, wenn auch nicht die körperlichen Uebungen seine Schuljugend, die wie Schafe in der Irre ging, zerstreut hätten, diese guten Tage sich mit den Schulstunden nicht länger vertragen haben würden. Was sollte der alte Herr anfangen? Der Unterhalt, den ihm seine verstorbenen Witzprincipale zugestanden hatten, war klein und zum Theil ungewiß. Dene hatte, [167] nach der Meinung des alten Herrn, mit Herzen, Mund und Händen A gesagt; allein nun war sie nicht aus der Stelle und bei weitem nicht zum B zu bringen, vielmehr schien sie zuweilen gar das A zurückgehen zu wollen, wenigstens ward aus dem großen A ein so kleines, daß man es beinahe dafür nicht ansehen konnte. – Ich habe, dachte der alte Herr, das unreine Wasser ausgegossen, ohne reines aufgefangen zu haben – obgleich er wirklich reines Wasser ausgegossen hatte, um unreines zu schöpfen. – – Dieß machte ihn äußerst verlegen; allein diese Scharten wetzte er zu Hause aus, und Mine, die arme Mine, hätte nicht in Aegypten mehr ausstehen können, als bei diesem wetzenden Vater, der reines Wasser ausgegossen hatte und keinen Tropfen unreines auffangen konnte, seine Zunge zu kühlen; denn es ging ihm wie dem reichen Mann in seinem Präludio. Der Frau Sara Gnaden, welche sich auf dergleichen Wendungen (meine Mutter würde Ränke und Schwänke geschrieben haben) wohl verstand, suchte dem alten Herrn Trost zuzuneigen und ihn wenigstens durch guten Fraß und Suff zu stärken und zu festigen, seine Last zu tragen. – Dene blieb indessen halsstarrig beim kleinen, ganz kleinen a, und so wie kein Unglück allein, sondern paarweise kommt, so mußte es auch dem Amtmann S. einfallen, um Denen in einem Brief, ehe ihr Trauerjahr noch um war, förmlich anzuhalten. – Diesen Amtmann, der ohnehin in den nämlichen Jahren des Hermanns sich befand, obgleich ihn kein Zipperlein plagte, würde Dene um alles nicht einem Literatus (unerachtet dieser Literatus den kalten Brand hatte) vorgezogen haben, indessen konnte ihr nichts erwünschter kommen, um den Herrn Hermann völlig aufs Haupt zu schlagen. – Hermann litt zusehends, denn er war in das Geld der Dene sterblich verliebt. – So wenig Herz auch der alte Herr hatte, so würde er doch mit diesem Amtmann eins versucht haben (nämlich in Briefen), wenn nicht die gnädige Wittwe den glimmenden Docht [168] der Hoffnung in dem Herzen des alten Herrn angefacht hätte. – Zwar brannte es sehr schwach, indessen brannte es doch. – Zu keiner kleinen Freude des alten Herrn veranstaltete die Wittwe einen Besuch beim Herrn Hermann. So viel Ehre ihm dieser Besuch war, so wußte er doch nicht, wie er seine Gäste aufnehmen würde. – Der Frau Sara Gnaden wollten mit; wie hätte auch dieviel Ehre und Tugend belobte Jungfrau Magdalene, ohne eine solche Bedeckung, zu einer los und ledigen Mannsperson kommen können? Die Frau Sara war jetzt ihre feste Burg, in welche sie sich zu werfen Willens war, wenn die böse Nachrede sie verfolgen würde. – Im Herzen konnte ihr nichts willkommener als dieser Vorschlag seyn, denn sie wollte gar zu gern ihr künftiges Bleibchen kennen lernen, und auch ihre Stieftochter, von der so viel Gutes gesagt ward. Uebermorgen also! – Der alte Herr beurlaubte sich sogleich und reiste mit Freuden und mit Kummer zu seiner Wohnung.

Mine! Mine! Mine! das arme von einem Briefe an mich verscheuchte Mädchen, kam und erfuhr die große Neuigkeit von dem Heil, das diesem Hause widerfahren sollte. Der Stolz machte ihren Vater verdrießlich; denn es war nicht nach Herzenslust in seinem Hause eingerichtet – überall blickte Dürftigkeit hervor. – Würde nicht die Hoffnung auf Denen dieser Leidenschaft Zaum und Gebiß angelegt haben; die arme Mine, was hätte sie nicht noch mehr ausgestanden, als sie ausstand! – Das arme Mädchen, das viel zu edel war, um ein einziges Wort von ihren häuslichen Verfassungen gegen mich auch nur fallen zu lassen, das sich in alles schicken konnte, das selbst auch ihren Bruder Benjamin, obgleich er das Schneiderhandwerk lernte, zu dieser Denkungsart hinauf gestimmt, der um alles in der Welt willen nichts von meinem ἀνέχου καὶ ἀπέχου angenommen hätte; dieß arme Mädchen sollte zu meinen Eltern gehen – und borgen, damit die hohen Gäste, [169] wie Hermann sie nannte, übermorgen, wie es sich eigne und gebühre, aufgenommen werden könnten. Verzeihung, Vater, das kann ich nicht! sagte Mine sehr gefaßt. Hermann stampfte, wüthete und tobte, bis ihm Mine endlich einen Plan vorlegte, der, ohne daß geborgt werden dürfte, zu bestreiten wäre. – Mag es – antwortete er, wiewohl noch unwillig – mag es – denn er konnte es Minen nicht verzeihen, daß sie zu meinen Eltern zu gehen verweigert hatte. Er gab ihr, wiewohl unter Hieroglyphen, zu verstehen, daß sie meinetwegen dieses Schrittes wegen die Peinlichkeit eben so nöthig nicht hätte. – Mine verstand nicht bloß, was er sagte, sondern auch, was er dachte; indessen verschwiegHermann meinen Namen vorsichtig, und da Mine ihren Plan gut einzukleiden wußte, überwand ihn die Hoffnung, Magdalenens Reichthum zu überzählen, endlich ganz. – Die Freude nahm Oberhand, und diese verführte ihn, Minen seine Heirath rund aus zu entdecken. Das gute Mädchen hörte keine Neuigkeit, allein sie konnte nicht umhin, ihm im Hintergrunde des Gemäldes, das so schön in seiner Erzählung aussah, die Fehler zu zeigen. Die Sache war indessen nach ihrer Meinung zu weit gekommen, als daß sie sich lange bei diesen Fehlern im Hintergrunde verweilte.

Mine hatte durch ihrer Hände Arbeit sich schon seit der Zeit, daß ihr Vater Denens wegen die Schulanstalten aufgehoben, beinahe allein erhalten. – Jetzt brachte sie von diesem ihrem kümmerlich ernähten Verdienst von freien Stücken etwas in den Plan zur Aufnahme, ohne sich einst darüber ein Verdienst zuzueignen und es dem Vater zu entdecken. Das gute Kind! – Der feierliche Tag erschien, den Sara und Hagar zum Besuch bestimmt hatten. Der alte Herr konnte diesen Mittag nicht essen, nicht trinken; er blies selbst den Staub ab, wo er noch Staub in dem Zimmer entdeckte, und vergaß so sehr, daß er Literatus war, daß er Holz gespalten haben würde, wenn es auf diesen Umstand bei [170] Minens Plan angekommen wäre. – Er trug nicht tagtäglich Manschetten, allein er legte sie, wie die Pastoren den Kragen, in die große Bibel, um die Manschetten in Züchten und Ehren zu erhalten. Dießmal nahm er ein ganz neues Paar, allein dem unerachtet mußte Mine sie ihm noch aufbügeln, und da sie's ihm nicht zu Dank machte, vollendete er dieses Werk selbst. So lang wie des Himmelsbürgers waren die Manschetten Hermanns nicht; allein Hermann war auch in Wahrheit nicht werth, meines Vaters Landsmann in dem allerentferntesten Sinne zu seyn.

Mine hatte Tannenreiser und Kalmus in die Zimmer gestreut und mit Wachholder geräuchert, da Hermann eben mit den Augen seinen Gästen entgegengelaufen war. Dieß mußte alles, bis auf das letzte Wölkchen Rauch, das sich im Zimmer herumzog – heraus, sobald Hermann wieder kam, weil es, wie er sagte, in großen Häusern nicht mehr Sitte sey, Tannen, Kalmus und Wachholderrauch zu riechen. Man spritzt, fuhr er fort, die Zimmer mit wohlriechendem Wasser aus, um den Staub eben hiedurch niederzuschlagen. Die Nase des alten Herrn fand, nachdem schon alles aus dem Zimmer war, noch so einen gemeinen und, wie er ihn nannte, Coriandergeruch, daß er durchaus Modeweihwasser verlangte, um es auszusprengen. Mine konnte ihm damit nicht dienen – sie hätte gern das Grüne im Zimmer beibehalten.

Es schlug die Stunde, da er seine Gäste erwartete, und da man nach Ortsumständen sie mit Grund erwarten konnte, allein vergebens. – Hermann, obschon er einen Boten ausgesandt hatte, um ja den hohen Gästen weit genug entgegenkommen zu können, konnte sich nicht entbrechen, auf die Zinne des Tempels zu steigen. Es konnte bei dieser Gelegenheit nicht fehlen, daß seine Unter- und Oberkleider, obgleich er die letzten durch einen Mantel von Glanzleinwand in Obhut genommen, vom Staub angegriffen wurden. – Er hatte nichts von seinen Gästen entdeckt, und das war sehr [171] natürlich. Wenn der gute Mann sein höchst unzulängliches Gesicht zuvor übermessen, so hätte er diese Mühe sparen und den Mantel von Glanzleinwand in sanfter Ruhe lassen können. – Er war von unten bis oben zu beschäftiget sich wieder zu reinigen und zu läutern, und zitterte an Händen und Füßen und über Leib und Leben, wenn er was rauschen hörte. Da sind sie! schrie er, und lief und kam wieder, und lief noch einmal und kam noch einmal wieder. ObgleichMine, die heute wohl Martha hätte heißen können, ihm eben so oft als er lief und wieder kam,»der Bote« nachschrie, so war er doch in einem solchen Gedankenconcurs, daß er nicht aus noch ein wußte. – Endlich (nachdem er schon eine halbe Stunde rein und sauber, wie aus einem Schreinchen gezogen, dastand) der Bote! – Wie ein Blitz war er fort. »Noch eine halbe Viertelmeile;« auch die halbe Viertelmeile hielt ihn nicht. – Er flog. – Regine, das Hausmädchen, schrie ihn dießmal bei aller seiner Eile zurück; unfehlbar glaubte er, daß Mine ihm noch eine Frage zu thun hätte.

Wollen Sie, sagte sie auf lettisch, nicht den Glanzleinwandsmantel überziehen? – Keine Furie kann wüthender werden, als unser alter Herr ward, und nun hätte ihn nichts zurückgebracht, nichts –

Sie kamen. – Mine war höflich, ohne sich wegzuschleudern. Sie hatte mich vor Augen und im Herzen – und der alte Herr konnte nicht aufhören, mit Geberden ihr zu verstehen zu geben, daß sie zu wenig, viel zu wenig thäte. – Er, das wissen ja meine Leser, war ein Regenwurm.

Die gnädige Sara hatte so viel mitgebracht, daß Minchens wohlgemeinter Plan völlig vereitelt ward. Die hohen Gäste hätten, dünkt mich, wenn es auch nur der guten, wohlmeinenden Hand Minchens wegen gewesen wäre, sich zu demjenigen bequemen können, was dieses gute arme Mädchen des Hausfriedens halber zum Theil [172] von ihrem Nähgelde angerichtet hatte; allein Sara und Hagar waren viel zu stolz, um sich so tief herabzulassen.

Minchen hatte den Einfall, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und nichts von dem Mitgebrachten anzunehmen; allein konnte sie's ihres Vaters wegen? Er winkte so lange, bis sie nahm und aß. – Nun hätte er zu winken aufhören können und sollen, allein er setzte es fort, und wollte durchaus, daß Mine sich den Magen verderben sollte. Das that sie nicht. – Es war ein unbeschreiblicher Stolz, womit diese Antiken, Sara und Hagar, über Minen herfuhren. Daß sie nicht von den natürlichen, wohlgemeinten Speisen nahmen, würde den beiden Damen endlich zu verzeihen gewesen seyn; allein es war unverzeihlich, daß sie sich über Gottes Gaben herüberbogen und die Nase rümpften. – Sie maßen Minen hundertmal mit ihren Augen, und hier und da hielt sich der Blick auf, als ob er ein Plätzchen gefunden hätte, das werth wäre ein wenig anzuhalten. Dieß alles war Minen unerträglich. Sie durfte nicht hundertmal auf- und abblicken, um dieses Paar völlig zu übersehen und ihre Ueberlegenheit zu fühlen. – Die Wittwe Sara that einige Fragen an sie. Womit sie sich die Zeit vertreibe? Ob sie einen Liebhaber hätte? Ob sie auch die Küche verstünde? Anzusehen, setzte sie hinzu, ist es nicht. – Ihre Hände sind so küchenrein als einer Dame von Stande. – Nicht wahr, liebe Dene?Dene enthielt sich aller Fragen, allein man konnte es deutlich bemerken, daß sie sich solche in bester Form Rechtens vorbehielt. Ihre Stunde hatte noch nicht geschlagen.

Das abgebohnte Clavier brachte die hohen Gäste auf die Musik und die gnädige Sara auf die Frage: ob Minchen musikalisch wäre? Mine beantwortete diese Frage mit der ihr eigenen Bescheidenheit. – Obgleich die hohen Gäste keinen Beweis, in wie weit sie musikalisch sey, begehrten, so bestand doch der alte Herr darauf, »Mine sollte singen und spielen,« da er es seinen hohen Gästen so nahe [173] legte, bestanden sie auch darauf, denn eine Bitte war es noch lange nicht. – Etwas Bekanntes, sagte er; denn er wußte wohl, daß ein Präludium, wenn es Hand und Fuß haben sollte, bei ihm vierzehn Tage zuvor bestellt werden mußte. – Mine sang und spielte, weil sie singen und spielen mußte. – Es war indessen keine Dedication an die hohen Anwesenden. Wenn diese Damen Gefühl gehabt, hätten sie wohl den Vogel im Bauer gehört. Indessen hatten die hohen Gäste weder so seine Ohren, noch so seine Herzen.

Dene hatte ein Paar Strahlen der Hoffnung auf den alten Herrn fallen lassen, die ihn entzückten.

Uebermorgen erwarte ich meinen Sohn, sagte die gnädige Sara zum Hermann, Sie werden doch so gut seyn und zu uns kommen? Minen fuhr es in alle Glieder. Mir war es, wie sie schreibt, als ob Sara hinzusetzen würde: Bringen Sie Ihre Tochter mit. – Ihre Befürchtung war vergebens. Der Stolz ließ diese Bitte nicht zu.

Noch ein paar Blicke von oben bis unten, und dann wieder von unten bis oben, ohne daß der Blick Minen die Ehre that, irgendwo zu weilen, und nun – Gott bewahre Sie, mein Kind! – Ein gewöhnliches Compliment. Mine schreibt: »Mir war es als hätte ich gesagt: Vor solchen Leuten – ich erschrak, allein ich hatte es nur herzlich und von ganzer Seele gedacht.« So ward hier, und so wird jederzeit das Gesetz erfüllt: Unrecht straft seinen eigenen Herrn.

Der alte Herr war in Seelenangst, auf welche Art, ohne sich zu viel herauszunehmen, er die gnädige Wittwe in den Wagen bringen sollte. – Endlich legte er Hand aus Werk. – Mit Denen ward er geschwinder fertig. Sie hatt' ihm Muth und Leben eingeflößt. – Er wollte durchaus zu Pferd' und den hohen Gästen vorreiten, allein sie verbaten es, der üblen Nachrede wegen, [174] und also begnügt' er sich, sie wieder bis auf die Stelle zu begleiten, wo er sie entgegengenommen.

Froh kam er zu Mine, allein dieß konnte die Strafpredigt nicht abwenden, die er ihr hielt, viel zu wenig, viel zu wenig sich gebückt, gesungen, gespielt und gegessen zu haben.

»Und wie gefällt dir (diese Frage außer allem Zusammenhang), wie gefällt dir Dene?«

Wie sie mir gefällt?

»Wie sie dir gefällt?«

Da sie meine Mutter werden soll – »Das ist sie schon!« unterbrach er Mine, wegen der paar Strahlen von Hoffnung, die sie auf ihn geworfen hatte – so ist es Pflicht – »diese Antwort erwart' ich von Minen.«

Es ist schwer, schreibt Mine, sehr schwer, wenn man eine so gute Mutter gehabt, einer Dene als Mutter zu huldigen, und wäre das vierte Gebot nicht –

Der alte Herr verfehlte nicht, der Einladung der gnädigen Sara gemäß sich zu rechter Tageszeit einzufinden, und wer hätte das gedacht? Der Herr Sohn der Madame Sara war kein anderer als der Herr v. E., der französische Curländer, welcher kriechend und stolz, für und wider sich, und gewiß auch Freund und Feind eines jeden Menschen war, je nachdem es die Umstände gaben. – Der Affe mit den Halbstiefeln! Der alte Herr fand ihn schon, da er ankam, und machte tausend Umstände, daß er ihm nicht entgegengekommen.

Der Teufel, Herr! wo haben Sie wissen können, daß ich kommen würde?

Die gnädige Mama!

Wir waren beim Herrn Hermann, ich undDene, fing die gnädige Mama an. Dank, Herr Hermann, für alle erzeigte Höflichkeiten! – Für den schönen Sang Ihrer Tochter! Das ist [175] wahr, Herr Hermann, Sie können sich was auf solch eine Tochter einbilden. Ist es Ihre rechte Tochter? Ein hübsches Mädchen! Nur scheint sie mir die Finger nicht in kaltes, nicht in warmes Wasser zu stecken. – Ihre Hand faßt sich wie Atlaß an.

Da war unser Ankömmling wie ein Geier auf die Taube.

Ich liebe schöne Hände, gnädige Mama, die nicht kalt und warm vertragen, die sich wie Atlaß anfassen lassen; wann sind Sie zu Hause, Herr Hermann?

Wenn Ew. Hochwohlgeboren befehlen.

Ich will meiner Mutter nicht die Ehre allein lassen, Sie besucht zu haben; denn in Wahrheit, es kann kein Mensch ein größerer Liebhaber von einer schönen Hand oder von der Musik seyn, das ist beinahe einerlei, als ich.

Die Wittwe v. E. (ich habe sie lange genug und bis zum Ueberdruß meiner Leser Sara genannt) machte ihrem Sohne Vorwürfe, daß er sie so lang' auf sich hatte warten lassen. Dein Brief aus Königsberg –

Schönste Mutter (Frau v. E. hörte dieß gern), ich fand in Königsberg noch dieß und das, und Sie wissen wohl, wenn man dieß und das findet, so kann man so geschwind nicht. – Wir wissen das dieß und das, wobei Herr v. E. um und in Königsberg, vor seiner Rückkunft nach Curland, noch zum Ritter zu werden den Beruf hatte: nicht zum irrenden, denn hiezu hat er keinen Ansatz.

Deine Mutter aber hättest du über dein dieß unddas nicht vergessen sollen, sagte die Frau v. E.

Vergessen? Schönste! vergessen? – Noch unterwegs traf ich ein hübsches, liebes Kind, und sagen Sie selbst, wie kann man eine schöne Gegend sehen und nicht wenigstens darauf athmen, und sich freuen, daß man athmen kann? Die gnädige Wittwe holte sehr tief Athem und ward durch diese und dergleichen Unterredungen, [176] die alle ergaben, daß Herr V.E. ein großer Verehrer von schönen Gegenden war, zur eigentlichen Materie gebracht. Du weißt, mein Kind, fing sie an, was dein seliger Vater wegen des Fräuleins S. noch bei seinen Lebtagen berichtigt. – Du weißt, daß dein Herz und deine Hand vergeben sind, und wenn du diese Gegend, die dir bald eigenthümlich zugehören soll, mehr in Erwägung gezogen, ich wette, du hättest deine Mutter nicht so lange warten lassen. – Im Testament denkt er an diese deine Verlobte, welche dich mehr liebt, als du dir vorstellen kannst. Sein letzter Wille setzt fest – hier nahm sie ihren Sohn, um sich mit ihm dieses Testamentswegen zur vertraulichen Unterredung einzuschließen.

Hermann hatte Gelegenheit, mit seiner Dene eine gleiche vertrauliche Unterredung anzustellen, bei der es beinahe bis zum B gekommen wäre. Es war dieses im eigentlichen Sinn für Hermann ein Schäferstündchen – denn er liebte, er liebte brennend – nichtDenen, sondern das liebe Ihrige, und davon sollt' in dem gegenwärtigen Stündchen gehandelt werden. – Es fiel sehr auf, daß die Frau v. E. sich mit ihrem Sohne, nicht seiner Heirath wegen, eingeschlossen. Diese diente nur zum Vorwand und Ueberrock;Dene war die Hauptrolle. Hermann empfand den glücklichen Vorfall, daß sich die Frau v. E. und ihr Sohn paarten; denn wo ein vertrautes Paar sich sondert, da gibt's mehr.

Sehen Sie nur, Herr Hermann, fing Dene an, es ist bei alle dem eine eigene Sache mit dem Testament, ich bin mit der gnädigen Frau wie getraut, wir können es nicht, der Tod soll uns scheiden.

Das dächt' ich, sagte Hermann, hätte nichts zu sagen.

Ein Testament!

Eine Ehescheidung!

Recht, lieber Hermann!


[177] (Hermanns Herz sing diesen Ball und freute sich, wie sich ein Kind freut, wenn es den Ball gefangen hat.)


Nun, meine Englische?

Aber die Scheidungsstrafen?

Das ist zu machen.

Und wie?

Und wie? Sie gibt Ihnen ein Jährliches, so lange Sie leben.

Wenn sie will.

Sie muß wollen.

Wenn ich zur Scheidung Anlaß gebe?

Wenn auch! – Im Herzen, glaub' ich, steht sie nicht ungern –

Daß ich gehe? – Dieß ist auch meine Hoffnung.

Zu der meinigen gehört mehr.

Was mehr?

Sie, meine Englische.

Lieber Hermann, ich dacht' eben dran.

O wie glücklich bin ich!

Ich dacht' eben, wenn die Frau v. E. diese Pension nur auf meine Lebenszeit beschränkt, so würden meine künftigen Erben –


(Hierbei hätte dem Hermann angst und bange werden können; indessen deutet' er diese Erben, wie es auch wohl gemeint zu seyn den Anschein hatte, auf sich.)


O Englische, o Gütigste! Sie denken auch nach Ihrem Tode – (Er weinte, denn das ward ihm nicht schwer. Ein Mensch wie er hätte beim Worte Tod heulen und zähnklappen sollen; allein es waren diese Thränen wie alles an ihm war. Seine Empfindungen waren Kunst. Sie ergossen sich nie, sie wurden nur durchs Druckwerk getrieben. Er hatte beides, Lachen und Weinen, in einem Behältniß – wie man wollte, wollte er mit.)

[178] O, den werd' ich, den werd' ich nicht überleben!

Dene, welcher unfehlbar der selige gnädige Herr beim Ueberleben einfiel, fing auch bitterlich zu weinen an. Hermann deutete dieses auf sich und umfaßte ihre Knie, und – da hörten diese Turteltauben die zurückkommende Frau v. E. und ihren Sohn, das Testament in der Hand.

Jedes, Dene und Hermann, gingen an ein ander Fenster. Es hatte sich schon jedes etwas kalt gewordenes Theewasser aufs Schnupftuch gegossen, um desto gründlicher alles zu verwischen.

Herr v. E. wandte sich, da er zurückkam, das Testament noch in der Hand, zu Denen. – Da find' ich, liebe Dene, fing er an, eine närrische Clausel. – Hat der Teufel je so was gehört, zwei Frauenzimmer sollen sich verheirathen! – Sie haben mir nie was Böses gethan, liebe Dene, und noch bei meines Vaters Leben, wo Sie im Hause was galten, habe ich alles Liebe und Gute, es versteht sich in allen Ehren, von Ihnen genossen; – allein so weit geht die Erkenntlichkeit nicht, und so nah sind wir, mit Ihrer Erlaubniß, nicht verwandt, daß meine Mutter eine Person im Hause ertragen sollte, die ihretwegen gar nicht ins Haus kommen sollen. Sie verstehen mich doch, Dene?

O ja, sagte Dene.

Sie haben also Ihren Abschied.

Frau v. E. Ohne daß Sie sich eben übereilen dürfen.

Herr v. E. Heute, morgen, übermorgen.

Dene. Und wegen meiner treu geleisteten Dienste?

Frau v. E. sah ihren Sohn an, als ob sie sagen wollte: Hab' ich es nicht gedacht?

Herr v. E. Es wird sich finden –

Frau v. E., die herzlich froh war, daß sie Dene so auf gute Manier, ohne einst einem Rechtsgelehrten deßfalls zu beichten, los [179] war, fiel ihrem Sohne ins Wort; Dene soll nicht drunter leiden! – Wir werden darüber eins werden!

Dene küßte der Frau v. E. die Hand und dem Herrn v. E. deßgleichen, und so war also Herr v. E. ein trefflicher Executor testamenti.

Hermann erzählte diese Geschichte, da er heim kam, seiner Tochter Minen. – Denn er war außer sich. – Kein Stein des Anstoßes mehr auf dem Wege zu Denens Herzen – aber ein großes Aber blieb ihm im Herzen stecken, weil es noch nicht berichtigt war, was Dene zum Abtrag haben sollte. Minen ergriff eine große Angst. Sie hatte beständig Ahnungen. – In dem Augenblick, schreibt sie, da mein Vater den v. E. aussprach, noch eh' er ihn aussprach, wußt' ich, daß Herr v. E. zu uns kommen würde; nur wer er war, wußt' ich nicht halb, nicht ein Viertel.

Den achten Tag, so lange hatte sich Hermann wegen kleiner podagraischer Anfälle, die ihm sehr ungelegen kamen, zu Hause gehalten, langte Herr v. E., wie er schwor, der Musik wegen, an, und nebenher zu sehen, wie Hermann sich befände. Mine that einen heftigen Schrei, da sie den Herrn v. E. sah. Er aber, nachdem er sie durch's Glas betrachtet, fand sie allerallerliebst – und das sagt' er ihr so ohne Rückhalt, als ob sie zum Kauf stände, wo jedem Vorbeigehenden frei stehet, ohne Umstände allerliebst zu sagen.

Es blieb bei diesem Allerliebst nicht. Sie war im Negligé, und da fand er das Band am Busen so sehr der Jahreszeit angemessen, daß man es nicht besser in Paris hätte wählen können. – Er packte seine drei Gläser (durch alle drei hatt' er sie gesehen) ein und schien es dazu anzulegen, Minen mit seinen leiblichen Augen zu erreichen. Er war fertig, sie in nähern Augenschein zu nehmen. Da nahm Mine ihre ganze Gewalt im Auge zusammen, [180] um ihn zur Erde zu sehen. – Er fühlte diesen Blick, obgleich er ein ganzes rundes Jahr in Paris gewesen war, und er kam wieder zurück zu seinen drei Gläsern und zum Allerliebst. Von dieser Stelle hätt' ihm das Auge der Tugend selbst nicht wegblitzen können. – Mine hatte nichts mehr nöthig, als diesen Zwitter von Franzos und Curländer zu sehen, um ihn unausstehlich zu finden. – Sie würd' über den ersten Sterblichen mich nicht vergessen haben. Sie war ganz mein. Sobald sie diesen Gecken gesehen hatte, sah sie, was sie oft gesehen, daß ihre Ahnungen nicht immer träfen. – Ein Geck dieser Art kann nicht schwer zu entfernen seyn, dachte sie, und in Wahrheit, sie dachte sehr richtig, denn mich dünkt, nichts ist einem jeden gutdenkenden Mädchen leichter, als einen Stutzer, der ein Jahr in Paris gewesen, auf seine Grenze und zu seinen drei Gläsern zu bringen – ich weiß wohl, wer unverschämter ist.

Es ist mir unbekannt, ob meine Leser schon einen curischen Franzosen gesehen haben. Werth zu sehen ist er! Franzos und Curländer reimen sich, als Chapeaubashütchen und Stallmeisterstiefel, als Sonnenschirm und Jagdtasche.

Ich habe schon die Ehre, gehabt, den Herrn v. E. als meinen Nebenbuhler zu präsentiren, und jetzt kennen ihn meine Leser noch obenein.

Herr v. E. konnte nicht ein Auge, oder eigentlich ein Glas, von Minen lassen. – Er war außer sich, steckte die drei Gläser an ihren Ort, und kam wieder an das der Jahrszeit so angemessene Band am Busen, das man in Paris nicht besser wählen können. – Mine warf ihn auch wieder mit einem Blick zu Gottes Erdboden – den Elenden! der nicht werth war, daß ihn die Sonne beschien. – Dem Kuß zum Abschiede ward ihr schwer zu entgehen; sie entging ihm zwar, indessen singen ihre Ahnungen wieder ihr Recht zu behaupten an. – Hermann selbst schien die Freiheiten, [181] die sich Herr v. E. herausgenommen, zu mißbilligen. Diesen Schein dedicirt' er indessen bloß Minen hinter des Herrn v. E. Rücken. – Uebrigens verstattete das Podagra dem Hermann nicht, so hart er sich gleich stellte, den Herrn v. E. so weit zu begleiten, als seine Geburt es mit sich brachte, und wegen dieses Umstandes konnt' er nicht aufhören um Verzeihung zu bitten.

Schon den folgenden Tag ward Hermann zur Frau v. E. gebeten; allein er konnte von diesem Ruf erst den dritten Tag Gebrauch machen. – Hermann war noch nie so bitterbös aufs Podagra gewesen als dießmal.

Herr v. E. hätte beinahe, wie er sich ausdrückte, den Verstand über Minen verloren! – Dazu, glaub' ich zwar, würde wenig erforderlich gewesen seyn, weil er gewiß keine große Summe zu verlieren hatte; indessen sah man aus allem, daß, so bereist er gleich war, er selten eine so schöne Gegend als Minchen gefunden, obgleich er ein ganzes rundes Jahr in Paris gewesen.

Da er ohne und mit den drei Gläsern gesehen, daß Minchen kein bonum vacans (erbloses, lediges Gut), wobei der Dieb galgenfrei stehlen kann, sondern zu tugendhaft wäre, um sein Allerallerliebst zu beherzigen, so fand er nöthig, einen andern Weg einzuschlagen und diese Festung, nach seinem Ausdruck, die nicht im Sturm überging, durch List einzunehmen.

Nachdem ich das Testament, fing er an, genau erwogen, find' ich Ihre Scheidung von Denen so leicht nicht, gnädige Mutter, als zuvor.


(Hermann und Dene gegenwärtig.)


Das dacht' ich wohl, erwiederte Frau v. E. in ihrer Unschuld. Ein Testament ist ein Testament. – Es ist der Wille eines Vaters! eines Gemahls! der letzte Wille – und ich glaube nicht, daß Sie sich von Denen so leicht zu trennen im Stande sind.

Die Frau v. E. würde mehr gesagt haben, wenn nicht der [182] Herr Sohn dieses Drama in Gegenwart Denens und Hermanns aufgeführt. Die Mutter schrieb diesen Umstand auf die Rechnung seines Leichtsinns, allein er gehört' auf ein unwürdigeres Blatt, auf die Rechnung einer niedrigen List. Es war dieses Drama Ausdünstung eines bösen Herzens. Die Mutter blinzte bald mit dem rechten, bald mit dem linken Auge, allein der Sohn ließ den Vorhang nicht fallen, das Glück hatte seine fünf Aufzüge – Dene und Hermann hörten wie natürlich auf. Er machte dem Hermann, auf den es bei dieser List angelegt war, so bange, daß er stehenden Fußes Minen verrathen und verkauft hätte, wenn er damit dem Testament eine günstige Wendung geben können. Dieß war das Ziel, nach welchem Herrn v. E's Rede gerichtet war.

Je mehr seine Mutter bei dieser Sache abbrach, desto weitschweifiger ward er. Sein Auge lag auf der Erde und konnt' also dem Winken der Frau v. E. nicht begegnen. – Die Mutter nahm ihn endlich bei der Hand – er küßte die Hand und fuhr fort. – Wollen wir nicht allein? sagte sie. – Warum, schönste Mutter? antwortet' er; es sind ja unsere Freunde.

Seht! was ist Recht und Unrecht? Wachs in einer warmen Hand; du aber, gerechter Gott, siehst auf alle, die auf Erden wohnen.

Nach einem sehr ausstudirten Vortrage aller der Schwierigkeiten, warum Dene nicht das mütterliche Haus verlassen könnte, sucht' er mit Fleiß eine Gelegenheit, den Hermann allein zu sprechen, um ihn vollende in sein Netz zu ziehen. Herr v. E. that, da er diese Gelegenheit hatte, als ob sie ganz von ungefähr gekommen oder, wie man sagt, vom Himmel gefallen wäre.

Nöthig hat er nicht, den Hermann über Denen auszufragen, denn alles war gegendkundig; indessen fing er an, von Denen als von einer Sache zu sprechen, bei der man wenig oder nichts verlöre. Dieß wirkte. – Er brachte den Hermann immer weiter, [183] bis er ihn endlich so weit hatte, daß er zu allem Ja zu sagen warm war; nur Dene mußte von diesem Ja abhängen. Was meinen Sie, sagte Herr v. E., würd' Ihre Tochter wohl Denens Platz vertreten? – Kurz, Mine sollte Dene werden. – Ein Engel ein Teufel. Hermann nahm nicht nur den Apfel vom verbotenen Baum und aß, sondern riß noch einen ganzen Ast mit. Er dankt' in tiefster Unterthänigkeit für die gnädige Versorgung, und es ward auf Treu' und Glauben verabredet und abgeschlossen, daß Mine die erledigte Stelle der Dene einnehmen sollte.

Bösewichter! warum starrte nicht euer Kopf, da ihr diese Verrätherei, diesen Mord dachtet, und eure Zunge, da ihr ihn ausspracht! Hermann, deine Tochter, die Gerechte, kannst du verrathen und verkaufen? Minen, die dir nicht mehr zugehört, sondern mir? Minen?

Herr v. E. brachte den Hermann krumm und gebückt zu seiner Mutter. Er trug die Sache öffentlich vor, das heißt, in Gegenwart seiner Mutter undDenens, die nun wohl einsahen, warum? Sie lächelten beide, allein sie fanden die Sache an sich sehr überdacht. – Die Frau v. E. hatte nur noch die eine Bedenklichkeit, daß, ehe Mine Dene würde, ihr Sohn sich mit dem Fräulein S. verheirathen sollte. Es ist nicht darum, sondern darum, sagte die gnädige Mutter. – Sie behauptete dergleichen Dinge zu verstehen, und endlich, nach vielen Zweifeln und Auflösungen, blieb es dabei, daß er sich, ehe Mine zur Frau v. E. zöge, wenigstens öffentlich verlobt haben müßte. Wer die Beistimmung des Hermanns zu diesem Morde für Uebertäubung gehalten, wird jetzt auf diese Entschuldigung Verzicht thun und – was vom Hermann denken? Zu Anfange sollte Hermann, dem unter dieser Bedingung sein Ja gegeben war, Minens Ja abholen. – Dene mußt' unter dieser Bedingung B sagen; allein dieser Plan ward abgeändert. Herr v. E. entschloß sich selbst in hoher [184] Person Minens Ja abzuholen. – Wenn gleich Minchen nicht eher Dene wird, sagt' er, als bis ich verlobt bin, so kann ich doch mit ihr den Contract vollziehen und ihn, um eine feste Bindung zu haben, verkitten. Warum nicht? fragte Hermann; alles fragte ihm nach. Das Strategem, dachte Herr v. E., kann nicht fehlschlagen, und du Hast das süße Vergnügen, Minen Ja sagen zu hören – »und wenn ich's auch nur durch's Glas hören soll. – Wer hört nicht gern Mädchen-Ja's! – Ich will hin!«

Herr v. E. machte jetzt einen ganz andern Auftritt als im ersten Akt. Der Knoten war geschürzt. Wer den Vogel im Käfig hat, bedarf keines Vogelleims. Ohne ihr Band am Busen der Jahreszeit angemessen zu finden, ohne die Exclamation: aller-, allerliebst! trug er Minen, die auf diesen Antrag nicht im mindesten vorbereitet war, das bewußte Brodstellchen an. – Vielleicht würd' ein weniger kluges Mädchen als Mine drei Schritte zurückgetreten und Bedenkzeit nachgesucht, oder wohl gar Ja gesagt haben, obgleich es an sich immer ein falscher, ein Pariser Zug war, diese Anwerbung selbst, und nicht durch gute Männer auf deutsche Weise zu thun. – Mine sagte Nein! – Ein so offenes Nein, ein so kurzes und gutes Nein, daß Herr v. E. nicht weiter das Herz hatte, auf ein Ja bei diesem hartschäligen Mädchen (wie er es zu nennen pflegte) zu bestehen. Hermann war bei dieser Anwerbung nicht gegenwärtig. – Herr v. E., der von Minen Ja (dieß Wortspiel von Ja, denn sie sollte den Worten nach Ausgeberin, Gesellschafterin werden) hören wollte, fand sie auch schön beim Nein. Er küßte ihr die Hand – brennend.

Ich beklage, sagt' er und wußte nicht von sich selbst, ich beklage meine Mutter, meine liebe, liebe Mutter, meine schöne Mutter, die schönste, die ich kenne. Es fährt mir durch Mark und Bein, wenn mein Finger noch so leise den ihrigen tippt. Eine aller-, aller-, allerliebste Mutter. Der Saum ihres Kleides[185] macht mich schon glücklich! – Sein Auge redete weiter. – Es war so unverschämt, so ungezogen als möglich. Viele Leute glauben zwar, daß man mit dem Auge nicht ungezogen seyn könnte. – Die Pariser!

Hermann reiste mit und kam, sobald Herr v. E. zu seiner S. abging, wieder heim. Er that Minen eine Frage, die ihr durch die Seele ging. Wie gefällt dir der Herr v. E., fing er an – allein Mine, die das vierte Gebot wußte und auf die Frage: wie ihr Dene gefiel? – »als Mutter« antworten konnte, besaß keine Fassung auf diese außer dem Gebiete des vierten Gebots liegende Frage: wie ihr Herr v. E. gefiel, zu antworten. Sie vergaß hiebei den Vater im Kuppler und sprach so gewaltiglich, so zudringlich, daß sie den Hermann aus aller Fassung setzte. – »Solch einen Antrag«, fing Mine an, ihre Zunge war feurig, »solch einen Antrag mir! War ich denn auch nicht einmal eines gefirnißten, eines verkleideten werth? Mußte mir denn dieser Entwurf ganz wie er war und nicht einmal gekrümmelt dargelegt werden? Mir! – Zwar wäre mir die Bosheit auch in ihrer Larve nicht entgangen, ich hätte das Gift auch im Wein erkannt, und wenn ich zu schwach gewesen, wahrlich! Gottes Engel hätten mir den Vorhang aufgezogen, wenn er noch so künstlich wäre gewebt worden! aber diese Dummdreistigkeit im Laster! – Gott!« – – Sie reckte ihre Hand weit gen Himmel, um sich durch diese Vollmacht zu der guten Sache zu berechtigen; sie sprach im Namen der Tugend, als ihre Machthaberin, und Hermann rang die Hände, schlug an seine Brust und versprach, sie nicht zu verrathen und zu verkaufen: sie nicht zu vertauschen, auch selbst – was konnt' er mehr versprechen? auch selbst – »wenn ich drüberDenen verlieren soll!«

Diese Bußandacht bewegte Minen, sie fiel ihm um den Hals, sie weinte, sie betete, sie versprach ihn mit ihrer Hände Arbeit zu [186] ernähren, und ihren Bruder, der bald aus der Lehre treten würde, zur Beisteuer zu bequemen, um ohne Denen leben zu können. »Diese Hände,« sie faltete sie und sprach so feierlich als wenn sie einen Eid ablegte, »diese Hände sollen Tag und Nacht arbeiten!« – Hermann war wirklich bewegt. »Ist Ihnen der Unterricht der Kinder schwer, Sie können ja nicht bloß ein Mundwerk, sondern mehr als ein Handwerk.« – Pfui, sagte der alte Herr, so gerührt er auch war. Mine wollte das Handwerk dieses Pfui's wegen verreden, allein Hermann ließ sie nicht vom Fleck. Handwerk fuhr er fort. Wie kannst du mir ein Handwerk vorrücken? Was hab' ich denn für eins getrieben? Die Schneiderei an ihren Ort gestellt, wo ich doch auch kein Kleid, keinen Ueberrock, sondern Sachen verfertigte, die nicht ins Auge fielen. Brusttücher und so was. – Von Stiefeln Schuhe, von Schuhen Pantoffeln künsteln, heißt das Schustern? Und etwas aus Thon drechseln, heißt das Töpfer seyn? Ich war, damit du's einmal für allemal weißt,Freischneider, Freischuster, Freitöpfer, so wie viele von unsern hochwohlgebornen Herren, wenn sie von Reisen kommen, Freimaurer sind. Mine gab sich alle nur ersinnliche Mühe, ihren Vater zu beruhigen, allein vergebens. Er konnt' ihr das Handwerk nicht verzeihen. Und die Schule? fuhr Mine fort. Auch nicht! erwiederte Hermann, der nicht Commißbrod essen wollte, wenn er magenverderbendes Gebackenes haben konnte. Du weißt, sagt' er ihr, daß wir die letzte Zeit jährlich eingeschustert haben – (gern hätt' er dieses Wort zurückgehabt) – Du weißt – – Mine weinte. – Sie leitet' ihren Vater auf Gott, den Brunnquell aller Gnaden. Wie ein Vater sich erbarmt über seine Kinder, so wird sich Gott erbarmen über uns, wenn wir ihn fürchten – wenn wir auf seinem Wege wandeln, seine Rechte halten und darnach thun. Ich will Nacht und Tag zu Gott empor rufen! Ich will eine Nähschule halten; ich will beten und arbeiten bei Brod [187] und Wasser. – Ich will alles, alles versuchen, was ehrlich und recht ist, vor Gott und Menschen. – – Aller Augen warten auf den Herrn! Er gibt Speise zu seiner Zeit, er thut seine milden Hände auf, sättigt alles was lebt, bis auf die himmelschreienden Raben. Sind wir denn nicht so gut als sie? – Mine sagte dieß mit solcher Zuversicht, daß Hermann ihr nicht weiter den Vorschlag von Mund-und Handwerk nachtrug.

Hermann wiederholte sein Versprechen langsam, bedächtig, als schwör' er einen Eid, Minen zu behalten, auch wenn er Denen drüber einbüßen möchte.

»Wie hätt' ich,« schreibt Mine, »ihm Glauben verweigern können? – Das Blut, das mir bei dieser Scene zu Herzen schoß, redete für ihn.« – – So weit konnt' es Mine nicht bringen, daß er nicht mehr nach – – zur Frau v. E. reiste.

Wer hingeht, sagte Hermann, muß zurückgehen; indessen wiederholte er mit einem feierlichen, Gott anrufenden Blick sein Versprechen. Es war gleich den folgenden Tag nach seinen Brustschlägen, nach seinem Blick, oder, welches einerlei ist, nach seinen Schwüren, daß er zur Frau v. E. dringend geladen ward. Mine nahm Gelegenheit, da sie ihren Vater auf dem rechten Wege hatte, ihm unsere Verbindung so deutlich zu machen, daß nur noch die Worte fehlten:Ich bin mit Alexander verlobt, wir sind Eins. – Mit Fleiß öffnete sie ihm Aussichten, wodurch er Denens wegen entschädigt werden sollte, und glaubte sie (wie sie schreibt) ihn im Geistlichen und im Leiblichen gewonnen zu haben. So unbescheiden Hermann in dergleichen Fällen war, so hascht' er doch nach keiner Sylbe mehr von mir als ihm Mine gab. Diese Bescheidenheit leistete Minen Bürgschaft für alles. – Vergessen Sie Ihre Tochter nicht, sagte Mine, da er von ihr Abschied nahm, Gott, wird Sie auch nicht vergessen, wenn Ihnen Hülfe, Trost, [188] Rath – noth ist. Es bleibt, erwiederte Hermann, und schwur wieder mit einem Blick.

Um also zurückzugehen, ging Hermann nach – und Mine war voll guter Hoffnungen, und diese gab sie, so sehr sie gleich das lange Ausbleiben des Vaters befremdete, doch noch den ganzen Tag, den Abend, die Nacht, den folgenden Mittag nicht auf.

Da aber Hermann auch den Mittag drauf noch nicht nach Hause kam, stiegen wieder Wolken oder Ahnungen auf. Sie wartete noch bis Mittag des folgenden Tages, und nun war es Minen mittagsklar, daß ihr Vater so viel Zeit nicht bedürfe, um zurückzugehen. Gegen Abend ein Brief von Hermann! – Mine wußte schon, ehe sie ihn öffnete, was drin war, und meine Leser werden es auch wissen.

»Ich bin krank, komm, deinen Vater zu sehen, denn vielleicht stirbt er, damit er dich segne.«

Das war der abscheuliche Inhalt eines Briefes, den ein Mann schreiben konnte, in dessen Mark Gichtgift verborgen lag, das oft, eh' er sich's versah, aufgährte; der mit feierlichen, Gott anrufenden Blicken geschworen hatte. – O Hermann, konntest du so mit dem väterlichen Segen spotten? und so mit dem Tode? und so mit Eiden?

Mit diesem Brief kam ein sehr gemeines Fuhrwerk, um alles desto glaubwürdiger zu belegen – und die Sache desto klüglicher zu machen. Man wollte durch diesen Einfall den vorigen zu plumpen Plan ausputzen und in einem elenden Zimmer Schildereien aufschlagen.

Mine schrieb sehr kalt an ihren Vater, bedauerte seine Zufälle, kommen würde sie nicht, die Ursachen müßten ihm erinnerlich seyn; sie hoff', er würde sein Versprechen erfüllen, und hiemit: leben Sie wohl!

Dieser Brief machte dem Hermann natürlich sehr viele Mühe, [189] um sich herauszuwinden; denn er hatt', aller seiner Betheuerungen unerachtet, auf den ersten gegenseitigen Angriff alles, alles aufgeopfert, alles – Das Wort von der Hoffnung, daß Hermann sein Versprechen erfüllen würde, das Mine eingestreut hatte, machte seiner Hermeneutik die meiste Mühe. Herr v. E. sowohl als Dene wollten daraus herleiten, daß er zweien Herren diene. Dieser saure Schweiß bei der Auslegung brachte den Hermann wider Minen auf eine höchst ungerechte und unnatürliche Art auf. Nun hatt' er mit genauer Noth diese Briefstelle gerettet und die hohen Anwesenden überzeugt, daß er nur einem Herrn diene, und nun war ihm auch nichts heilig. Der Satan fuhr in ihn. Er wollte Gift mischen und wußt' es nur nicht anzufangen. – Er entdeckte meine Verlobung mit Minen als den einzigen Grund ihres Neins. – Die Sache ward im ganzen Zusammenhang genommen, und nachdem er meine Mutter, meinen Vater und mich (Herr v. E. erinnerte sich meiner haarklein) in Lebensgröße dargestellt, so ward beschlossen, meiner Mutter Minens Liebesverständniß mit mir zu entdecken, ihr einen von meinen Briefen in der Urschrift beizulegen und Minen alle Auswege abzuschneiden, den Stricken so vieler Teufel zu entkommen.

Arme, arme Mine!

Hermann kam, um seine Krankheit desto wahrscheinlicher zu machen und Minen desto sicherer ins Verderben zu stürzen, erst nach drei Tagen nach diesem unglücklichen Brief an gerechnet, nach Hause. Was Mine während dieser Zeit ausgehalten, ist unbeschreiblich. Die erste Beschäftigung Hermanns nach seiner Rückkehr war, einen von meinen Briefen an Minen zu entwenden. Dieser Vorposten macht' ihm keine Mühe, weil Mine von dieser Seite nichts befürchtete. Vielleicht kühlt' ihn dieser Umstand, oder vielmehr die Vorstellung, daß Zorn die gute Sache verderben könne. Seine Maske war Güte und Freundlichkeit. Eine leichte Rolle für [190] einen Bösewicht. Der entwandte Brief ward sogleich an die Behörde, nämlich an meine Mutter, und zwar in Begleitung eines anonymen Briefes versandt.

Ich weiß nicht, ob meinen Lesern mit einem Theile des anonymen Uriasbriefes gedient seyn werde, womit diese Rotte Minen bei meiner Mutter anschwärzte, um ihr die letzte Trostquelle zu stopfen. Hermann war dabei der Fähnchenführer; denn obenein rächt' er sich so an meiner Mutter, ohne daß sie wußte, von wannen es kam.


* * *


»Da lesen Sie selbst, hochzuehrende Frau Pastorin. Sie kennen Bild und Ueberschrift – wahrlich, ein unwürdiger Sohn einer so würdigen, gottesfürchtigen Mutter, die genug für ihn gebetet und gesungen hat! So viel ist indessen gewiß, daß er nicht der Verführer, sondern der Verführte ist. Retten Sie seine Seele, die im Argen liegt, und machen Sie, daß er sie aus dem Argen ziehe und in seinen Händen trage. – Die ganze Gegend, und vorzüglich die in derselben, so seine Predigt angehört, ziehen über ihn die Achseln. Man glaubt, er habe Wilhelminen ein lebendiges Andenken zurückgelassen. Das wolle der Himmel nicht! Indessen war' aus den Worten: Mann und Weib, du und du, auf ein dergleichen im Verborgenen gebildetes Andenken, dem Sie, hochzuehrende Frau Pastorin, gewiß den Namen Großkind entziehen würden, nicht unsicher zu schließen. – Das beste ist, Wilhelminen – den Kauf aufzukündigen und ihr bei Hängen und Würgen alles Einverständniß mit dem Herrn Sohn zu untersagen, der in Königsberg nichts thut als Wilhelminen schriftlich lieben. Man weiß aus sicherer Hand –« Genug, ich kann nichts mehr abschreiben.

Mein Brief an Minen, den Hermann entwendet hatte und her diesem Schleichhandel den Schein des Rechts beilegte, war wie gewöhnlich treu und herzlich. – Die Stelle:

[191] »O Mine, o Weib! du bist mir wie gegenwärtig, und alles, alles ist mir gegenwärtig. Denkst du auch dran, wenn wir uns die Augen küßten, als tränken wir sie aus, wenn ich deine Hand so fest an mein Herz hielt, daß du jeden und den allergeheimsten Schlag drin fühlen konntest, den Puls der Liebe –«

Diese Stelle klammerte meine Mutter ein und nahm sie in frommen Beschlag. Zur Seite schrieb sie: »Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Uebertretungen, gedenke aber mein nach deiner großen Barmherzigkeit!« – Ueberall, wo Weib stand, zog sie einen Strich, als zöge sie einen Vorhang.

Mine konnt' es nicht über ihr Herz bringen, sich nach dem Befinden ihres Vaters zu erkundigen. Er dagegen hatt' auch kein Herz, an seine Krankheit zu denken. Hermanns Gesicht war bei aller angenommenen Freundlichkeit so durchsichtig, daß Mine wörtlich ihr Schicksal daraus abnehmen konnte.

Er fing die Lobrebe auf Herrn v. E. mit dem Eingang an: Wir haben uns geirrt, Mine. Irren ist menschlich. Wir haben uns geirrt. Herr v. E. ist nicht der Herr v. E., den wir glaubten, sondern ein ganz anderer Herr v. E. Der Text der Lobrede betraf seine Verlobung mit dem Fräulein S., und seine erd-, wand-, band-, niet- und nagelfeste Liebe zu ihr.

Ost kam die Verlobungserzählung so unzeitig, daß Mine mehr als zu deutlich sehen konnte, was diese Wiederholung sagen wollte. – Nach einer Weile fing er an: Du kannst nicht glauben, mein Kind, wie du dich durch deine Tugend dem Herrn v. E. empfohlen hast; er hat zum ersten- und zum zweitenmal ein Geschenk für dich in der Hand gehabt; allein du hast ihm so viel Achtung eingeflößt, daß er es nicht wagen dürfen –

Ein Geschenk, warum das?

Beim Geschenk, liebes Kind, fragt niemand warum?

[192] Mine konnt' und wollte nicht ihren Vater an seine Schwüre erinnern. Sie zitterte.

Wenn sich zu seiner Zeit ein Candidat fände, der dich heirathen wollte, fuhr Hermann fort, er sollte gewiß nicht lange auf ein Pastorat warten dürfen. – Hat der Herr v. E. Pastorate zu vergeben? fragte Mine bitter. – Das nicht, allein die Connexion der Edelleute unter einander –

Wieder nach einer Weile: Magdalene wird meine Frau! Das war nicht der erste Blitz, der Minen durchs Herz ging. – Meine Frank! wiederholte Hermann; ob du aber ihre Tochter werden willst, hängt von dir ab – die alte gnädige Frau will dich – du sollst nichts mit der jungen Herrschaft zu thun haben. Herr v. E. heirathet, das weißt du doch?

Ja, sagte Mine, ich weiß –

Wieder nach einer Weile: Er will, wenn du's verlangst, noch herkommen und sich wegen seines Antrages bei dir entschuldigen, den er dir sehr unzeitig gethan. Seiner Mutter kam dieser Antrag zu.

Ich sollte denken, sagte Mine –

Und dann wieder nach einer Weile: Er sieht seinen Fehler ein.

Mit oder ohne Glas? erwiederte Mine so bitter, so todesbitter, daß das weise Hofmännchen ganz aus dem Concept kam.

Mine war in einer schrecklichen Situation. – Sie sagt', ihr Plan wäre, ihre künftige Stiefmutter zu ehren, nie ginge sie in den Hof. Mein Leben, setzte sie sehr lebhaft hinzu, und meine Ehre ist eins!

»So?« sagte Hermann. Ja, Vater, sagte Mine.

»Und weißt du auch –«. Er wollte zu drohen anfangen; allein eben zu rechter Zeit fiel ihm seine Maske ein, er begnügte [193] sich daher großmüthigst, Minen den Bettelstab, Elend und Verachtung zu prophezeien.

Arme Mine, edles, unglückliches Mädchen! ich empfinde, was du empfandest – und dürft' ich doch nicht erzählen, was Mine sehr natürlich noch weit unglücklicher, noch bedauernswürdiger machen mußte.

Dieß verfolgte, unglückselige Mädchen entschloß sich, in den Armen meiner Mutter eine Freistatt zu suchen. Sie war aufs Aeußerste gebracht. Sie schrieb an sie. Den Brief hat Mine mir nie gezeigt. Es ist deine Mutter! schrieb die Holdselige und machte einen –

Ehe sie aber diesen Brief abschicken konnte, stehe da! ein Brief von meiner Mutter an Mine. Die Wirkung des Uriasbriefes und seiner Beilage. Dieser Brief fing sich an:

»Es will verlauten, daß Sie meinen Sohn verführt hätten und noch verführen –« und schon dieser Anfang lehrt, daß meine Mutter dem Uriasbriefe seine Schliche abgemerkt und den Verfasser für das, was er war – einen Schwarzkünstler, gehalten. Sie glaubte sein Hokuspokus vom lebendigen Andenken nicht, allein anstatt daß sie der verfolgten Mine, ihrer so wohlgerathenen Schwiegertochter, die Hand geben und sie in Schutz nehmen sollen, was that sie? Sie verschwieg diesen ganzen Vorgang meinem Vater, und wenn ich ihren Brief ganz meinen Lesern mittheilen sollte, würd' ich der Achtung zu nahe treten, die ich meiner Mutter schuldig bin. Sie ließ Mine aus besonderer Milde Vorzüge, nur den konnte sie ihr nicht zugestehen, die Frau eines Pastors und die Schwiegertochter einer so ahnenreichen Pastorin zu werden. Es wäre nicht das erstemal, schreibt sie, daß ein Cavalier ein armes Mädchen geheirathet hätte; sie wünschte, daß aus Scherz Ernst und Mine die Frau v. E. würde; denn unverhofft, setzte sie hinzu, kommt oft.

[194] Ein paar Stellen muß ich ungekürzt geben:

»Es wäre Stank für Dank, wenn Sie die Nachbarsrechte so gewissenlos aus den Augen setzen und meine grauen Haare so mit Schimpf und Schande hinab ins Grab bringen wollten. Ich habe etwas in originali gelesen, auf dessen Rechnung eine grau gewordene Stelle meines Hauptes gehört. Ich weiß die Minute, da sie grau ward. Gott verzeih' dem Urheberdieses Etwas in originali die graue Stelle auf meinem Haupte. – Lasset alles ehrlich und ordentlich zugehen, das, dächt' ich, hieße wohl ziemlich klar und deutlich, die Tochter eines noch zu bezweifelnden Literati könne meine Schnur nicht werden. – Ich habe schwarz auf weiß und verbitt' alle Sprünge durch einen Reif, alle Kunststücke der Entschuldigung, und kurz und gut, alles und jedes zur Antwort, die ich so warm, als ich sie erhalte, zurücksenden werde. Ihren Zuspruch muß ich noch aus einer andern Ursache mehr verbitten; auch selbst wenn Sie an der Hand meines Sohnes kämen, würd' ich für beide über Feld gegangen und nicht zu Hause seyn. So was kann nicht geschlichtet, sondern muß gerichtet werden. Ungern hab' ich an Sie geschrieben; allein um nicht Oel zum Feuer zu gießen und das allgemeine Gerede noch gemeiner zu machen, das ohnehin schon in fliegende Blätter ausartet, wie eine Raupe in einen Schmetterling – bloß darum dieser Brief, der erste und der letzte.


Sing', bet' und geh' auf Gottes Wegen,

Verricht' das Deine nur getreu!

Vertrau' des Himmels reichem Segen,

Und er wird jeden Morgen neu!

Denn wer nur seine Zuversicht

Auf ihn setzt, den verläßt er nicht.«


Da war nun Mine von aller Welt verlassen, diese Gerechte! Das Schwarz und Weiß und dasallgemeine Gerede, und [195] das Etwas in originali, auf dessen Rechnung eine grau gewordene Stelle gehörte, die Gott dem Urheber verzeihen sollte, waren Mine unbegreifliche Dinge, – allein die Hauptsache war desto begreiflicher. – Mine that ihren Mund nicht auf. – Zu meinem Vater sich zu wenden hatte sie kein Herz. – Es fiel ihr der Ueberfall im Wäldchen ein. – Dieser hatte bei Mine etwas zurückgelassen, was sie hielt. – Sie wollte schon, allein sie konnt' es nicht vollenden. O liebe, liebe Mine, warum nicht?

Als ich einem meiner Freunde aus freier Faust meinen Lebenslauf erzählte und an diese Stelle kam, bei der ich ihn fragte: Haben Sie das von meiner Mutter gedacht? antwortete er: Ja, Freund, denn sie konnte buchstabiren, sie setzte ihren Casum und war fromm.

Ob mein Freund recht gerichtet, mögen meine Leser nicht hier, sondern über ein Kleines beurtheilen.

Herr v. E. kam jeden Sonntag in unsere Kirche. Mine sah ihn nicht an; allein er sah sie, und wie er sah, das wissen wir schon. Er verlobte sich wirklich mit dem Testamentsfräulein; den Sonntag darauf war er in unserer Kirche mit ihr und trieb die Sache so weit mit Mine, daß alle das Kirchengestühl, wo Herr v. E. saß, und Mine in einer Reihe ansahen, so daß mein Vater selbst ein paarmal ein Wort zweimal sagen und ein anderes lang ziehen mußte, um sich auf das folgende zu besinnen, so sehr ward er gestört! Mine hörte, indem sie aus der Kirche ging: »Der Braut im Gestühl drückt er' die Hand und von Jungfer Minchen ließ er kein Auge. Was ist besser, Hand oder Auge?«

Hermann ward in dieser Verlobungszeit mit keiner Ladung beehrt, allein daß er mit dem Herrn v. E. in Verbindung war, ergab sich unter anderm daraus, weil sie häufig Briefe wechselten, weil Verschiedenes in die Küche kam, wovon aber Mine keinen Bissen aß, und weil Hermann so gefällig gegen Mine that, daß sie sich vollständig überzeugte: es ging etwas vor.

[196] Sie hatte schon oft an ihren Bruder in diesen Herzensnöthen geschrieben; jetzt schrieb sie dringender und Benjamin kam. Seine Ankunft konnte bei Hermann um so weniger Verdacht erwecken, da er selbst verlangt hatte, daß sein Sohn zur Schicht und Theilung kommen sollte. Es ist unaussprechlich, wie sich Mine freute, ihres Geliebten Bevollmächtigten, ihrer Liebe Zeugen, ihren Benjamin zu sehen. – Sie konnte sich nicht zurückhalten, diese Freude vor den Augen des Vates aufflammen zu lassen – schön, wie ein Opferfeuer!

Mine entdeckte ihrem Bruder mehr, als sie zu schreiben im Stande gewesen, und Benjamin kannte sie kaum wieder, so sehr hatte sie sich verändert. Arme, arme Mine! rief er und sah sich um, ob es auch Hermann gehört hätte. – Die ungewöhnlich starke Correspondenz ihres Vaters mit dem v. E. fiel beiden zu deutlich auf. Zwar gingen alle Briefe:

An die

Hochedelgeborne ehr- und tugendbelobte Jungfer

Magdalene –

dienstfreundlichst

in –


indessen schien sie nur überhaupt das Feigenblatt zu seyn. Bald, schreibt Mine, hatt' ich Hoffnung, es würd' ein End' gewinnen, daß ichs könnt' ertragen, bald verlor ich den letzten warmen Tropfen Muth – und ich zitterte über Leib und Leben. – So ging es auch dem Benjamin. – Ohne daß dieser seiner Schwester etwas davon sagte (wer weiß, ob sie's zugegeben hätte?), entschloß er sich, da Hermann einen guten Nachbar besuchte – (noch ward er nicht zum Herrn v. E. beschieden) – das Pult zu öffnen und eine Hand voll Briefe zu nehmen. Er rief seine Schwester, »Lies!« sagt' er. Sie konnte nicht weit kommen; es überfiel sie eine Ohnmacht nach wenigen Reihen. Meine Leser sollen einen Brief ganz lesen und eine Antwort ganz.


[197] Brief des v. E.an Hermann.


Herr, Sie sollen nicht Denen haben und wenn ich Denen selbst heirathen sollte! ich selbst! Hört der Herr? wenn ich sie selbst sollte! Ihr krummer Buckel und Ihr Händedruck macht es nicht. Für was ist das? Ich bin Sohn und will das väterliche Testament aufrecht erhalten. Das will ich! ich will das! Der Herr schreibt nicht hin, nicht her! nicht gehauen, nicht gestochen. Ich muß wissen, woran ich bin, denn ich liebe Ihre bildschöne Tochter zum Entsetzen. Unter uns gesagt, ich denk' auch nicht, daß Sie ihr Vater sind. Minchens Mutter wird sonder Zweifel so bildschön gewesen seyn, wie die Tochter noch ist, und dessen Gebeine mögen sanft ruhen, der den Weg mit der Mutter ging, den ich, wenn ich lebe und gesund bleibe, mit der Tochter gehen will. Das Mädchen hat Verstand wie ein Engel, oder besser wie ein Teufel. Gegen mich ist sie ein Teufel. Damit Sie, lieber Hermann, sich alles zurückerinnern, worauf es bei der Sache ankommt, so bitt' ich, ja nicht zu vergessen und zu versäumen, Minchen alle zwölf Stunden, und wenn es auch öfter wäre, zu sagen, daß ich heirathe, und zwar aus lichterloher Liebe. Sie wissen es anders, lieber Freund, allein Mine braucht es nicht anders zu wissen, wenn ich nicht müßte. – Es ist wenigstens ein zehnfaches Muß, das eilfte sag' ich keinem, als Ihnen, meinem vertrautesten Freunde! Ich habe Reiseschulden, und in kurzem werden ein halbes Dutzend a Datos eintreffen. Sehen Sie nur, lieber Hermann, um Sie recht von meiner ehrlichen und redlichen Absicht zu überzeugen, ich will das Testamentsfräulein und Minchen zu gleicher Zeit, mit einer Klatsche zwei Fliegen. – Sagen Sie selbst, wie mir bei der Trauung zu Muthe seyn müßte, wenn ich nicht auf den Trost Ihres Engels rechnen könnte. Ihr gutes Herz wird mich nicht verwahrlosen. Alle Welt hat Holz zu diesem Brande gelegt, und nun [198] verbrenn' ich in dieser Flamme. Ich weiß alle Fehler bei dieser Sache, denn sonst wäre Mine schon mein – ihrer stoischen Tugend ungeachtet, die eben so wenig wie heut zu Tage irgend eine Festung Stich hält. – Wir leben in überwindlichen Zeiten. – Ich knirsche mit den Zähnen vor Liebe und vor Wuth, daß ich so schlecht gespielt habe. Wenn meine Mutter Minen den Antrag gethan, hätt' ich gewonnen Spiel gehabt; allein alsdann könnten Sie, Freund, Ihre Kunst nicht zeigen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Kurz, Herr, so wahr ein Teufel in der Hölle und ich ein Cavalier in Curland bin, das ist viel gesagt, Dene ist nicht die Ihrige, wenn Minchen nicht die meinige ist! Eine Hand wäscht die andere. Wird aber Mine Dene – Sie verstehen doch deutsch? – so sollen Sie von meiner Mutter, nämlich von ihrem Wittwengehalt, von Testaments wegen, so lange Dene lebt, und wenn Dene eher als Sie stirbt, noch so lange Sie leben, achtzig Thaler Albertus haben. Gelt, das schmeckt? Außerdem geb' ich Ihnen ein- für allemal noch zweihundert Thaler Albertus, sobald Minchen sich zum Ziele legt. Die Kinder sollen als deutsche Leute erzogen werden, wie mein seliger Vater Denens Kinder erzogen hat. Um die Sache Ihnen ganz auf ein Haar deutlich zu machen: ich verlange Minen nur her, und Sie haben die Wette zum größten Theil gewonnen. Es müßte mit dem feuerspeienden Drachen zugehen, wenn ich nicht Minchen bewegen sollte. – Nur her, Herr Magister, und das übrige wird sich finden, wie eine auswendig gelernte Predigt. Wenn Minchen sich weigert, wie sich ein Ast weigert, wenn man Kirschen pflücken will: einhundert fünfzig Thaler Albertus; wenn sie nichts hören und wissen will und doch herkommt: hundert Thaler Albertus und bald vergessen. Muß man doch dem Herrn alles zu Häcksel schneiden! – – Die Kruste kann der Herr Bräutigam nicht vertragen, darum Krume, wo nicht gar Pappe. – Genug, wenn Sie sich alle Mühe, es versteht sich [199] alle erdenkliche, geben, Mine zu bequemen, und man dennoch Nein schreit und weint und klagt, ist noch ein Mittel. Ich denke doch, Sie wissen, was ein Cavalier in Curland vermag, und daß er, wie Könige, lange Hände hat? Drei verschwiegene Kerls zu Hand- und Spanndiensten sind auf einen Wink hier, und dort und da. – Das Beste wäre, Sie brächten Minchen her. – Schlagen Sie vor, was Sie für gut finden, sparen Sie keinen Fleiß. Auch auf den Fall der drei handfesten Kerls fünfzig Thaler Albertus, und in allen Fällen, wo nur Mine ist, auch Dene. Sonst aber, hol' mich der Teufel, nicht – ewig nicht! – Der Herr soll wieder seine Klippschule halten und seine Knackwurst essen und Kofent dazu trinken. So was von Minchen trifft man nicht so leicht. Ich bin nicht etwa in sie verliebt, ich bin in sie verrückt, und das kommt wohl zum größten Theil, weil ich eben Bräutigam bin und den Verliebten spielen soll (eine verdammte Rolle!) bei einer Braut, die mir so unerträglich ist, und die mir noch unerträglicher wäre, wenn ich nicht eine Mine hätte, bei der ich mich erholen könnte. Mine gehört alles, was ich der Testamentsbraut sage, und wahrlich, ich würd' ihr nichts sagen können, ich würde vergessen, was verliebt seyn und verliebt thun hieße, wenn ich Mine nicht zur Uebung hätte. Wer Minens Tugend? – Ist so etwas Tugend, so ist wenig auf der Welt – hol' mich der Teufel – wenig! – Ich schwöre nur für Eva, weil niemand als Adam da war. – In Paris und an andern Orten essen die Schäfchen aus der Hand. Nur ganz zuletzt in Königsberg hab' ich Ihnen ein Mädchen – Mündlich mehr! Einen so langen Brief hab' ich, seit dem ich schreiben kann, nicht geschrieben. Wäre Minchen nicht der Inhalt, so müßte mich der Teufel plagen, so viel zu schreiben. Das Testamentsfräulein soll, bei meiner Seele! keinen über sechs Reihen besitzen. Haben Sie nicht was Gutes von Liebesbriefsteller, damit ich daraus ein paar Briefe für die S. abschreiben kann? Ich hab' [200] aus vielen Gründen, und auch darum an sie geschrieben, weil ich dich kenne,du verzagter, argwöhnischer Hund! Nun hast du doch was Schriftliches in der Hand und kannst mich vor allen Gerichten knebeln. Neu ist's bei alledem, daß meine Testamentsbraut die Courtage für Minchen bezahlt. Glaubt mir, Hermann, ich mein' es ehrlich mit Mine. Man wird von Tag zu Tag älter und muß solid denken. – Wenn der Pastor uns, S. und mich, traut, laß Mine dabei stehen. Dem Testamentsfräulein geb' ich zwar die Hand, denn das bringt die Ceremonie so mit, aber Mine will ich ein ganzes Auge voll Ja's schenken, und hol' mich der Teufel, ich will sie selbst ansehen, wenn ich Ja zur S. sage, und dieß Ja soll so leise seyn, daß es der liebe Gott selbst kaum hören soll. Mehr, glaub' ich, kann Minchen nicht zur Gewissensberuhigung fordern, wenn sie Superintendentin wäre, und mehr kann sie nicht fordern, wenn sie zehn Jahre Jura studirt hätte. – Dieser Brief muß zerrissen werden, sobald er gelesen ist, oder ich stecke dem Herrn Hermann das Haus an. Hat Magdalene nicht öfter Wochen gehalten als meine Mutter? Und einen Mund voll Zähne abgerechnet, was fehlt ihr zur Ehre, die Frau eines Literatus zu werden? Reinen Wein, ober ich heiße nicht

– – v. E.


Wenn meine Leser die saubere Antwort auf diesen curisch-französischen Brief lesen wollen, hier ist sie:


Hochwohlgeborner Herr und Gönner!

Gnädiger Herr Baron und Gönner!


Ew. Hochwohlgeboren werden gnädigst zu verzeihen geruhen, daß ich gleich anfänglich in aller Ehrfurcht bemerke, wie ich mich wohl zu bescheiden weiß, an Briefe von gnädigen Händen nicht gewaltthätige Hand zu legen; indessen ist dieser hohe Brief für Minen wie verbrannt, und noch ärger wie verbrannt, da sie nicht einmal die übrig gebliebene Asche sehen soll. Es wird Ew. Hochwohlgeboren [201] par renommée bekannt seyn, daß es mir nicht an Witz und Fähigkeit gebricht; indessen steht mir jetzo alles still, und ich muß aufrichtigst bekennen, daß ich bei dieser Sache keinen Einfall anzubeißen weiß, wenn's mir das Leben kosten sollte. Die Ochsen stehen, mit Ew. Hochwohlgeboren Erlaubniß, am Berge. – Der Auftrag, womit Ew. Hochwohlgeboren mich zu beehren geruht, zeugt von so vielem gnädigem Zutrauen, daß ich beschämt bekennen muß, nie auf so viel Gnade gerechnet zu haben. Minen (verzeihen Ew. Hochwohlgeboren, daß ich mit dem Namen meiner Tochter den Punkt anhebe; es geschieht bloß in Aussicht der Ehre, die ihr vorsteht) hab' ich alles gesagt, was ein redlich gesinnter Vater seiner ins Verderben laufenden Tochter nur bei dieser Gelegenheit sagen kann. Sie bleibt indessen bei dem, was Ew. Hochwohlgeboren schon wissen. Ich habe leise und laut geredet, sauer und süß, Böses und Gutes gezeigt, Finsterniß und Licht; was hat's geholfen? Was die Tugend ohne Brod ist, weiß ich leider aus eigner Erfahrung, und da Ew. Hochwohlgeboren entschlossen sind sich zu verheirathen, so fällt ja alle Gelegenheit zum Verdacht weg, welches in Absicht eines Mädchens, nach meiner wiewohl unmaßgeblichen Meinung, die ganze Mädchentugend ist. Meidet den Schein, kommt mir als die ganze Mädchenordnung des Heils vor. Es ist nichts versäumt, sie ist gebeten, sie ist bedroht, sie ist gesegnet, ihr ist geflucht; allein sie bleibt bei ihrem Eigensinn. Ich sag' es ohne Ende und Ziel: Herr v. E. sind Bräutigam, und da ich es ihr schon so oft gesagt habe, thu' ich, als sagte ich's zu mir selbst: »Der Herr von E. Bräutigam! wie's ihm doch lassen wird?« u.s.w. Es wär' als mein Rath, über drei Wochen, so lange geruhen Ew. Hochwohlgeboren sich gnädigst zu behelfen, zu uns zu kommen und noch Hochselbst einen Besuch zu künsteln. Wie würd' ich mich freuen, wenn er einschlüge! Sollt' auch dieser Vorschlag vergebens seyn, so muß ich schon auf die drei verschwiegenen [202] Kerls votiren, und werd' ich alsdann mündlich Zeit und Ort zu bestimmen die Gnade haben; indessen bitt' ich, ihr diese Widerspenstigkeit nicht nachzutragen, sondern ihr sogleich zur bewußten Brodstelle zu verhelfen, und mit der Zeit sie ihrem Seelenhirten als Pastorin zu überliefern. Ew. Hochwohlgeboren können sich ganz sicher darauf verlassen, daß ich nicht zum erstenmal bei einer solchen Gelegenheit, wo drei verschwiegene Kerls dabei sind, in Dienst gewesen; nur bei einer Tochter, ich muß es zu meiner Schande bekennen, dürft' es mir schwer werden, falsch zu weinen und die Hände zu reiben. Vielleicht kann ich indessen so glücklich seyn und mir die einhundert fünfzig Thaler Albertus verdienen, daher wiederhol' ich ganz unterthänigst meine Bitte, mir und ihr annoch drei Wochen huldreichst nachzusehen. Für die Nachricht von Magdalenens glücklichen Niederkünften bin Ew. Hochwohlgeboren ich ganz dienstlich verbunden; indessen wünscht' ich doch ungefähr zu wissen, wie oft sie Dero seliger Herr Vater begnadigt, um sie desto höher schätzen zu können. Wiewohl ich ohne Stolz glaube, daß es ihr nicht gleichgültig seyn könne, daß sie einem Literatus zu Theil werde. Ew. Hochwohlgeboren Bedienter hat sich sehr schön bei diesem Briefe benommen. Er verdient das Geschenk, wozu Ew. Hochwohlgeboren ihm bedingliche Hoffnung gegeben. – Meine Tochter ist auf keinen Schatten von Verdacht gefallen, und da ich, wie ihr bekannt ist, mit der Jungfer Dene in einem Liebesverständniß stehe, so kann es sie nicht befremden, daß ich in dieser kritischen Zeit mehr schreibe, als ich sonst zu schreiben gewohnt gewesen. Wenn Mine an Ort und Stelle und (was ich unter Ort und Stelle einbegreife) zu sich selbst zurückgekommen seyn wird, so wird sie's einsehen, wie redlich gut es Ew. Hochwohlgeboren mit ihr gemeint. Ich weiß nicht, was sie bei der heftigsten Gewissenskolik (anders kann ich die Stiche nicht nennen, welche die Mädchen über dergleichen Dinge zuweilen, wenn ein Ungewitter aufsteigt, befallen) [203] mehr beruhigen könnte, als wenn sie erwägt, daß sie die Ehre gehabt, in gewisser Art selbst mit Ew. Hochwohlgeboren getraut zu werden. Das Auge ist doch wohl mehr an Menschen, als die Hand? obgleich mir noch wohl bekannt ist, daß. Ew. Hochwohlgeboren eine weiße Hand nicht verachten, wie es denn auch wohl zu seiner Zeit ein Leckerbissen seyn kann. Uebrigens rechnet Ew. Hochwohlgeboren ganz unterthäniger Diener es sich zur vorzüglichsten Ehre, daß Ew. Hochwohlgeboren ihn mit einem so langen Briefe zu beehren geruht. Von Liebesbriefen im neuen Geschmack ist mir wohl außer dem bewährten Talander nichts bekannt; indessen wenn es Ew. Hochwohlgeboren gar zu viel Mühe machen sollte, so steh' ich sehr zu Befehl, und leg' auch zu diesem Ende ein Pröbchen nach eigener Weise bei. Wenn Ew. Hochwohlgeboren so viel Zutrauen zu mir hätten, die Uebergabe der Jungfer Dene an mich gnädigst zu bewilligen, ehe Minchen übergeben wird, und ohne daß es eben Zug um Zug ginge, so könnten Sie ja Denen noch obenein den Eid abnehmen, daß Mine Ihnen allenfalls gegen einen Solawechsel, Contrakt, Revers, oder wie es in den Rechten am besten und schnellsten gilt, abgeliefert werde. Dene würde hiebei mehr als vier Kerls verschlagen; indessen ist dieses nur ein unvorgreiflicher Vorschlag, über den ich nicht entrüstet zu werden ganz unterthänigst bitte.

Ich ersterbe, nachdem ich die Hand des Gebers mit den aufrichtigsten Wünschen, daß es ihm reichlich wiedervergolten werde, geküßt, mit der tiefsten Ehrfurcht


Ew. Hochwohlgeboren,

meines gnädigen Herrn Barons und hohen Gönners,

ganz unterthänigster Knecht und Diener


Wörtlich abgeschrieben von –

abgeschickt den –


[204] Es fanden sich auch ein paar kurze Briefe, worin Montags der Termin zur Sühne angesetzt war. Hermann wollt' alsdann mitfahren und wiederkommen, und dann sollte der Ueberfall verabredet und Mine mit Gewalt fortgeschleppt werden. Der alte Herr wünschte nichts sehnlicher, als daß er die hundert fünfzig Thaler Albertus verdienen möchte. Bei diesen väterlichen Wünschen blieb es, bis auf den letzten Brief. Hier schreibt er: Ich thue jetzt auf alles Geld Verzicht, wenn Ew. Hochwohlgeboren Minen gutwillig bereden können. Ich habe sie ehegestern durchs Schlüsselloch beten gesehen und gehört. O! gnädiger Herr, ich würd' ein unglücklicher Mensch zeitlebens seyn, wenn diese Entführung übel für Minen ablaufen sollte. Um alles wünscht' ich, daß Mine nicht so kräftig, so mächtig, als ich sie durchs Schlüsselloch sah und hörte, wider mich beten möchte. Da muß Donner und Blitz wüthen, wowider sie betet. – O, gnädigster Herr, Sie werden sie wohl gutwillig an Ort und Stelle bringen!

Daß der Herr v. E. des Hermanns Vorschlag verworfen, ihm Denen zuvor zu geben, und sie auf die Entehrung Minchens in Eidespflicht zu nehmen, darf ich kaum bemerken. Herr v. E. müßte nicht in – – in – – und – – gewesen seyn, wenn er einem Eide hätte trauen sollen – und du, Bösewicht, kannst du so was auf einen Eid aussetzen? – Kannst du deine Tochter durchs Schlüsselloch behorchen, wenn sie mit Gott allein ist, wenn sie betet? – – Gerechter Gott!

Nach diesem allen, was konnte für ein anderer Entschluß gefaßt werden, als – zu fliehen? – Ohne Geld, ohne Beistand? Schrecklich! Was hilft's aber dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nehme Schaden an seiner Seele, oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse? – Mine war entschlossen und Benjamin war Alexander. – Mine, dieß war das Resultat, sollte zu Fuß nach – gehen. Da würde Benjamin [205] Wagen und Pferde besorgen, und sie käm' alsdann zu ihm, nicht zu seinem Meister, sondern – – und von da nach Mitau, zu einem Anverwandten ihrer seligen, seligen Mutter. Um alles desto geheimer zu machen, sollte Mine allein bis –. Bon – wollte Benjamin sie bis Mitau begleiten – von Mitau Mine wieder allein mit einem Fuhrmann nach Königsberg, nicht zu mir – – Ach, Mine! Mine! warum nicht zu mir? sondern nach L. – wieder zu einem Verwandten ihrer seligen Mutter. Von da aus einen Brief zu seiner Zeit an mich, daß ich käme und sie im Schooß ihrer Freunde spräche. – Dieser Plan ward bebetet und besungen. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke. Arme Mine! ich hätte wissen sollen! Arme –

Und wann? fragte Mine. – Dienstags, Schwester; Sonntags kannst du noch Gott in seinem Hause anflehen, daß er mit uns sey, und vor uns her eine Wolken-und Feuersäule ziehen lasse. – Gott! sagte Mine und rang ihre Hände, aus denen ein kalter Angstschweiß drang – Gott, du weißt! – Leite mich! führe mich! verlaß mich nicht! – Ich gehe deinen Weg, den Weg der Tugend! ich hoff' auf dich! – Vater und Mutter haben mich verlassen, aber der Herr nimmt mich an. Hier bin ich, mach' es mit mir, wie's dir wohl gefällt. Laß meine Seele, wenn sie schwach wird, empfinden, was geschrieben steht: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott, ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit! Amen.

Hermann war in Gedanken weggegangen und kam in Gedanken zurück. In Wahrheit, er hatte Ursache zu denken!

Mine war nachgebend gegen ihren Vater, ohne eine Lüge, auch nur mit dem Auge, zu begehen; dieß brachte ihn zu Ruhepunkten – zu Hoffnungen, hundert und fünfzig Thaler Albertus in der Lotterie zu gewinnen.

[206] Benjamin drang auf die Berechnung, weil er nicht Zeit hätte, sich länger aufzuhalten. Es war dieß Donnerstags Abends. – Morgen, sagte Hermann. – Sie berechneten sich Freitags, und diese Berechnung währte keine Stunde. Sein Erbtheil war auf den Fingern abzuzählen: es war nicht viel. Da Benjamin sehr bat, weil er der Gewerkslade Geld zu zahlen hätte, ihm den wenigen Muttertheil baar auszuzahlen, so zeigt' ihm Hermann die Unmöglichkeit. – Ich will, wenn du es durchaus und durchall nöthig hast, an den Herrn v. E. schreiben, mir dieses Anlehen auf Abschlag Denens zu geben. – Mine stieß ihren Bruder an, der es sogleich ausschlug. Mit solchem Gelde, sagten sie, da sie wieder allein waren, würden wir nicht weit kommen. – Benjamin hatte vor, dieses Geld seiner Schwester mitzugeben. Jetzt mußte der letzte Weg eingeschlagen und Minens Kleider und viel von ihren Sachen, welche ohne Aufsehen weggenommen werden konnten, verkauft werden. Benjamin besorgte dieß mit einer unbeschreiblichen Behutsamkeit. Er brachte zehn Thaler Albertus zusammen. Mine bat ihren Bruder herzlich zu bleiben und ihr noch Montags beim Termin zur Sühne beizustehen; allein er konnte nicht – sondern befahl sie dem Schutze Gottes – Dein Mann, sagte er, ist Gottes Liebling, und du bist es auch; ihr seyd beide fromm! Wie kann euch Gott verlassen? Euch, seine Kinder! – Sie weinten, da sie schieden. Zum letztenmal im väterlichen Hause, lieber Benjamin – wo ich die erste Thräne weinte, wo – sie konnte vor Thränen nicht mehr. – Auch Benjamin weinte. – – O Schwester, fing er an, du warst von jeher weit – weit besser als ich! Alexander und du haben mich zum Menschen gemacht. – Du warst nie böse, Benjamin, sagte Mine, jetzt bist du gut! gut! – Und dann wieder: Du warst nie böse! – O Gott! fing Benjamin an, wenn ich denke, wie du dich nicht bloß des Viehes, sondern der Pflanze, der Blumen auf dem Felde erbarmtest; wenn ich denke, wie du dich [207] nicht satt sehen konntest an dem grünen Grase und an den gelben Blümchen; wenn ich denke, wie du mich batest, die Rinnen zu öffnen, wenn sie verstopft waren, damit das arme Wasser, wie du sagtest, nicht aufgehalten würde; wenn ich bedenke, daß ich dir oft dergleichen Bitten abschlug und dir den Rücken kehrte, wenn du mir so was Uebermenschliches, so was Himmlischgütiges batest; wenn ich denke – Laß dieß, fiel ihm Mine ein; du warst nie böse, denke vielmehr, wo wir oft unschuldig saßen und Salat für unsere fromme selige Mutter lasen, und wo wir mit Alexandern herzlich froh waren, mit Alexandern! Denk, wo wir rothe und weiße Johannisbeeren pflückten, und ich euch den Saft mit Zucker zubereitete und wir uns einander sagten, wenn es uns herzlich schmeckte:zweierlei Wein, rother und weißer! Denk an meine Liebe zu Alexandern, und an seine zu mir! Du bleibst hier, Bruder. Laß mich jetzt Uebergabe halten, ich will alles in deine Hände geben.

Komm, da liegt unsere Mutter begraben! Ost habe ich hier gebetet, oft Gott gedankt; denn hier hat er mich manche seelenfrohe Stunde leben lassen! Sie knieten beide aufs Grab und weinten bitterlich.

Ich nehme Abschied von dir, o du mir liebes Grab! – Sie bog ihr Haupt auf selbiges, als ob sie's küßte. O möchte ich wie die Selige ruhen, die du bedeckest, liebe sanfte Erde! O möchte ich – sie konnten beide nicht mehr.

Bruder, ich beschwöre dich bei der heiligen Asche unserer Mutter, die auferstehen wird am jüngsten Tage, daß du dieß Grab ehrest. Pflege es, warte sein. – Gott erhöre dich, wenn du hier betest. – Gehe oft hin, und wenn der Vater Hochzeit hält, vergiß nicht, auf diesem Grabe zu weinen. – Wenn dich Gott aus Curland ruft, es ist möglich – gib dieß Grab in die Hände deines Vertrautesten, beschwöre ihn, wie ich dich beschworen habe, daß er [208] sein pflege und warte. O liebe, liebe Mutter! bald, bald werde ich dich wiedersehen! Ja, Benjamin, bald werde ich sie sehen und sie von dir herzlich grüßen. Du bist ihr gut, unserer Mutter. – Hier wieder eine Thränenscene.

Lebe wohl, liebes Grab, lebe wohl bis an den lieben jüngsten Tag!

Ich übergebe dir diesen heiligen Ort, wo ich mit Alexandern getraut bin, mit deinem Freunde! Gott gab uns zusammen, Menschen wollen uns scheiden; – allein sie sollen es nicht! – sie sollen es nicht! – Was meinst du, Benjamin? Benjamin schluchzte: »Sie sollen nicht!«

Hier ist der Ort, wo er mich zum erstenmal küßte! Sieh, wie die Natur ihn geschmückt hat. – Es sind mir heilige Oerter gewesen. Du weißt, wie mich Alexander liebte. – Ich weiß, sagte Benjamin. – So, so lag ich in seinem Arm, wenn er mich küßte. O seine Küsse! Wahrheit und Leben waren in ihnen! Ich sein, er mein! Wenn ich was Liebliches gegessen oder getrunken hatte, wovon der Nachgeschmack noch auf meinen Lippen war, fand er meinen Kuß nicht halb so. O der liebe, lieb Junge! Ich will dich, so natürlich, wie du bist, sagte er, und ich wollte ihn auch so natürlich, wie er war. Wir liebten beide die Natur, und wahrlich, die Natur liebte uns wieder. Sie hat viel an uns gethan! Der Bach spricht nicht, Benjamin, allein wenn wir zusammen gingen, hörten und verstanden wir ihn aufs genaueste. Die ganze liebe, gütige Natur sprach mit uns, und alles so zuthätig, so freundlich – O Benjamin, alle diese heiligen Orte befehle ich dir!

Hier, Benjamin, falte deine Hände, denn die Stätte ist heilig! Hier sah Alexander mein Gesicht, er sah mich im Mondenglanz, wie er mich nach der Auferstehung sehen wird in alle Ewigkeit. – Dort sah ich ein Gesicht, ich sah Alexandern im Sonnenglanz – ich sah uns beide im Himmel, ihn in Sonne, mich in Mond gekleidet [209] – und meine Mutter zog mir das Sterbehemde ab und kleidete mich ein zur ewigen Seligkeit. – Diese Stätte, Bruder, ist heilig und jene Stätte ist heilig! – Amen. Sie ist heilig, sie ist Gottes Haus, die Pforte des Himmels! Amen.

Die Orte, wo wir in unserer Jugend froh waren, da wir noch keinen v. E. und keine Dene kannten, laß sie dir empfohlen seyn, vergiß sie nicht! Wir haben hier den besten Theil gelebt, glaube mir, den besten Theil! – Komm! – Paulus war der jüngste unter den Aposteln, und doch ein auserwähltes Rüstzeug. – Sieh hier meinen Paulus! dieß ist der letzte Ort, den ich in deine Hände befehle, ich bin zuletzt mit ihm vertraut worden, der – (unser Bekannter) pflanzte diese Laube, seine Charlotte begoß sie. – Hier bejammerte er sie, da ihm seine Augen aufgingen, hieher wallfahrtete er täglich; du weißt seinen Lebenslauf – seinen stummen, seinen bohrenden Gram. – Gott hat seines Leidens ein Ende gemacht. – Diese Laube, Bruder, sey der Ort, wo du deine Schwester beweinen kannst. – O, hier sind schon viele, viele Thränen vergossen worden! – Gott laß es dir wohlgehen, lieber Benjamin, wenn du heirathest. Lehre hier in dieser Laube deinem Weib ihre Schwester kennen und sage ihr, daß sie unglücklich war. Lehre deine Kinder hierweinen. Es ist eine schwere Sache, Gott gefällig zu weinen. – Schreibe dir, Benjamin, alle diese Orte tief ins Herz, und Gott setz mit dir – mit meinem Alexander und mir!

So schieden Benjamin und Mine aus dem väterlichen Hause. – Er reiste Freitags gegen die Nacht.

Wörtlich von Minen:

»Sonnabends – den – –«

»Wie gerührt, lieber Mann meiner Seele, wie gerührt ich gestern war, weißt du besser, als ich es dir heute sagen könnte. O Gott, wie sehr anders bin ich heute! Felsenhart ist mein Herz, [210] gallenbitter meine Zunge! Weißt du, von wann an? Vom Abschied an, den mein Vater von Benjamin nahm. Nach einer so warm empfundenen Sonne, ein kaltes: Glückliche Reise! an Benjamin, und dann hinterher: Wenn du den Augenblick Geld zur Gewerkslade nöthig hast, will ich dem Herrn v. E. drüber schreiben. – Da fuhr all das unausstehliche Wesen, das Unwesen, was ich noch diesen Augenblick an mir habe, fuhr in mich.«

Liebe Mine, kalt und warm bekommt dem Herzen so wenig, als dem Magen. In den Worten: Glückliche Reise! sahst du deinen Vater ganz. Alle Briefe des v. E., alle Briefe deines Vaters – und nicht bloß die ersten wenigen Reihen, die du gelesen hast – bis auf die letzten, letzten Hefen, dachtest du diese Briefe, alle Briefe, den ganzen höllischen Plan, alles, alles dachtest du dir, und dir ekelte vor dieser losen Speise.

Mine befand sich den ganzen Sonnabend in einer schrecklichen Lage. Ihr Vater hätte ihr das sturmlaufende Herz ansehen müssen, wenn er ein Auge für seine Tochter gehabt hätte. Sie war mehr als unruhig; ein Aufruhr in jeder Aber, das Blut schien alle Aderdämme brechen zu wollen. Doch sie selbst:

»Gott sey gelobt und gebenedeit! ich habe überwunden! ich bin wieder ruhig und wieder gut! – O lieber Mann, man hat mir erzählt, daß, ehe die letzte Todesangst eintritt, jeder Sterbende entsetzlich unruhig sey; da er nichts weiter kann, soll er das Deckbett reißen – unsere Mutter riß es nicht. – So, lieber Mann, war ich gestern; ich riß das Deckbett und warf mich gräßlich, bald zur Rechten, bald zur Linken. – Allein nach dieser Unruhe folgt bei Sterbenden was – der Name des Herrn sey gelobt! Bei mir folgte – sanfte, sanfte Ergebung. – Ich ging noch mit einem aufgewiegelten Herzen, mit siedendem Blut. – Alle Adern schienen mir den Dienst aufzusagen und wollten springen – so ging ich in die Kirche – zum letztenmal, dachte ich! Gewiß ein rührender [211] Gedanke; mir war er's nicht. – Ich fing an zu beten, ich drückte die Augen dicht zum Gebet zu; allein konnte ich? – Die Augen rissen sich los; sie hielten nicht zusammen, und ich mußte das Kirchengestühl ansehen, wo der Verführer mich zur allgemeinen Störung buhlerisch angesehen! – Ich mußte, ich mochte wollen oder nicht, ich sah diesen Ort, und wenn Teufel drin gewesen wären, er hätte mir nicht fürchterlicher seyn können! Ich denke. Mein Liebster, ein Unschuldiger, den falsche Zeugen vom Leben zum Tode gebracht, sieht so den Richtplatz, wie ich diesen Ort – ich sah deiner Mutter Stuhl. Verzeihe, lieber Mann, zwar sah ich keinen Teufel drin; allein ich dachte doch Arges in meinem Herzen. Das eine fromme Frau! das eine heilige Sängerin! dachte ich – da kam deine Mutter. – Sie grüßte mich, allein so verstohlen, als ob sie diesen Gruß vor der Gemeinde bergen und ja nicht merken lassen wollte. Das konnte wohl freilich meine Hitze nicht niederschlagen! Gottlob, der Bösewicht blieb diesen Sonntag aus. Es verzeih mir der allbarmherzigste Gott mein steinernes Herz, das ich in sein Haus mitnahm, das sich noch mehr versteinerte, verfelsete!«

Schon beim Liede vor der Predigt:


Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt etc.


fing dieß Herz an fleischern zu werden; und die Predigt! o Gott, welch eine Arznei für mein Herz! Es war recht, als ob dein Vater von meinem Entschluß wußte, als wenn er mich, mich predigte. – Bis dahin war jede Nerve gespannt; kein Schlaf hatte die letzten zwei Nächte mein Auge gebrochen, kein Gebet brach es – es war starr. – Mein Blut schlug Wellen. O lieber Junge, diese Predigt bedrohte den Wind und das Meer, und es ward ganz stille – ich sah dich, da ich deinen Vater, den Boten Gottes, sah. Er kam herein, der Gesegnete des Herrn, er stand nicht draußen; der Name des Herrn sey gelobt! O Mein Einziger! ich wünschte [212] nicht, noch solch einen Abend, solch eine Nacht, solch einen Tag und solch eine Nacht, und noch solch einen Morgen zu leben, als vom Freitag Abend bis zur Predigt. – Eine Hitze, und keinen Tropfen Wasser in dieser Hitze, wo mir die Zunge an dem Gaumen klebte. Warum bat ich nicht Gott in dieser Dürre um Thau und Erquickung? Warum suchte ich nicht durch seine heilige Religion mich abzukühlen und in die selige Fassung zu setzen, in der ich jetzt bin, wo es, wie im Frühling, weder zu kalt noch zu warm ist? Gott ist nahe allen, die ihn anrufen, warum nannte ich ihn nicht, im Geist und in der Wahrheit. Vater, da der leibliche es ganz und gar aufgehört hatte zu seyn? Warum betete ich nicht um Thränen? Warum sang ich nicht mit Inbrunst:


Gott, gib einen milden Regen;

Denn mein Herz ist dürr, wie Sand!

Vater, gib vom Himmel Segen.

Tränke du dein durstig Land!


Warum? Ei, können! Ich mache mir jetzt Vorwürfe; allein es ist, als hörte ich eine Stimme zu meiner Lossprechung. Das Gebet ist auch eine Gabe Gottes, und Thränen sind ein unaussprechliches Geschenk! Habe denn Dank, Allgütiger, daß ich jetzt beten, daß ich jetzt weinen kann! Habe Dank für diese Gabe, für dieß Geschenk! Es ist das Schrecklichste, mein Lieber, das habe ich erfahren, wenn ein Vater zum Sohn:glückliche Reise! sagt, und wenn er seine Tochter verhandelt! Habe Mitleiden mit deiner Mine, wenn du dieß liesest, und Gott wird es mit dir haben, und dich nie solch eine Herzensdürre erleben lassen!

Gleich die erste Strophe:


Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt!

Er mach's mit mir, wie's ihm gefällt!

wie empfing sie mein Herz! Sie zogen sich ein, diese Trostworte, wie Thau auf einer welken Pflanze.
[213] Bei der dritten Strophe regnete es schon:

Es ist allhier ein Jammerthal,

Angst, Noth und Trübsal überall;

Des Bleibens ist eine kleine Zeit,

Voll Mühseligkeit!


Was ist der Mensch! Ein Erdenkloß,

Vom Mutterleibe nackt und bloß;

Bringt nichts mit sich auf diese Welt,

Kein Gut noch Geld,

Nimmt nichts mit sich, wenn er hinfällt.


Ich hab' hier wenig guter Tag',

Mein täglich Brod ist Müh' und Klag';

Wenn mein Gott will, so will ich mit

Hinfahren in Fried'!


O lieber Junge singe, wenn du dieses liesest! – Gott weiß, wenn du es lesen wirst – singe dieses schöne Regenlied!

Deines Vaters Predigt war Vollendung für mich, wie auf mich gemacht, Wort für Wort auf mich. O lieber Junge, wie glücklich ist man, wenn man todt ist – wie namenlos glücklich!

Er kam ohne Gebet mit den Worten auf die Kanzel:

»Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft, und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.«

Ich zeichnete mir diese Stelle, sie steht im ersten Buch Mosis, im zwölften Kapitel, im ersten Vers; ich zeichnete sie aber heimlich. Ein öffentliches Zeichen, dachte ich, würde mich verrathen – ich konnte in einigen Minuten nicht aufblicken. – Wahrlich, Gott redete mit mir durch deinen Vater! Wie er die Worte anfing:Gehe aus deinem Vaterlande, von deiner Freundschaft [214] und aus deines Vaters Hause, war's mir, als ob es die ganze Gemeinde nun wüßte, daß ich weggehen würde. Der erste Aufblick, den ich wagte, war nach dem Stuhle meines Vaters. Er war leer; kurz vor dem Geläute war ihm was vorgefallen. – Dieß stärkte mich; ich sah mich rund um. – O lieber Junge, laß mich noch mehr von der Predigt deines Vaters predigen, die mich so erquickt hat. Gott lindere dafür seine Todesangst, und so wie er mich gestärkt und getröstet hat, so stärke und tröste ihn der Herr, wenn er heimfährt aus diesem Elend; und so wie er die Bande lösete, die mein Herz und meine Augen hielten, so löse auch der Herr seine Bande und mache ihm alles leicht, wenn seine Stunde kommt! Die Glimme Gottes an Abraham war mir ein sicheres Geleit, ein Paß auf meiner Reise, ich war gefaßt, getrost – und so heiter, als wäre ich schon angelangt, und wo? Ich ging in meinen Gedanken nirgend anders, als in die selige Ewigkeit, aus meines Vaters Hause – aus meinem Vaterland und aus meiner Freundschaft! – Gern hätte ich communicirt, wenn es so angegangen wäre – ich war recht dazu vorbereitet, recht –

Der Text zur Predigt war Ebräer im dreizehnten Kapitel der vierzehnte Vers: Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir!

Alles auf mich! – Du kannst dir deinen Vater vorstellen, der auch nicht in Curland zu Hause ist. Er redete mitten durch's Herz. So hat er noch nie gepredigt. Es war Seelenspeise auf den Weg. – Er predigte, als wenn er auch schon den Abend von hinnen ziehen sollte.

Dein Vater führte in seiner Predigt die Geschichte vom Sohne der Wittwe zu Nain an, er erhob seine Stimme, und diese nahm sich so heraus, daß jedes aufmerkte. Als er aber nah' an das Stadtthor kam, siehe, da trug man einen [215] Todten heraus, der ein einziger Sohn war seiner Mutter. – Lukas im siebenten Kapitel, im eilften Vers.

So wenig diese Worte eine Deutung auf mich zu haben schienen, so fielen doch auch diese Worte schwer auf mich, und es war mir als sagte jemand: »Das bist du – du bist die Person des Todes!«

Wie kommt das, mein Lieber, wenn es einem so ist, als hörte man eine Stimme: Das bist du!

Nach der Predigt ward gesungen aus: Befiehl du deine Wege, die letzten Verse.

Der Anfang war:


Auf, auf, gib deinen Schmerzen

Und Sorgen gute Nacht!

Laß fahren, was im Herzen

Dir bangen Kummer macht!


Der letzte Vers ist schon längst mein Liebling gewesen, und nach dieser Leichenpredigt auf mich war er's noch weit mehr.


Mach' End', o Herr, mach' Ende

Mit aller meiner Noth –

Stärk' meine Füß' und Hände,

Und laß, bis in den Tod,

Mich allzeit deiner Pflege

Und Treu' befohlen seyn;

So gehen meine Wege

Gewiß zum Himmel ein!


O Lieber, das Amen, welches dein Vater sagte, war ein Amen für alle, allein für mich besonders – für mich! Es war ein Wink für mich, in diesem Gotteshause Abschied zu nehmen, wo wir unser Glaubensbekenntniß vor dem Altar ablegten, und [216] auch oft zu Gott in der Höhe schwuren: Wir werden uns lieben, bis vor deinen Thron! – O Gott, dieser Abschied war mir rührend, und wie rührend aus Nro. 5 zu gehen, wo ich so oft gesessen, wo ich so oft einen überzeugten Mann Gottes Wort reden gehört, wo ich so oft inbrünstig gesungen und gebetet und erhöret worden, wo ich dich predigen gehört, mein Lieber! – Gott sey für alles gelobet und gebenedeiet, Halleluia! er sey mit seinem Hause! Amen. Ich betete für dich und für mich – und riß mich endlich von Nro. 5 los. Sanft faßte ich diese Bank noch an, recht, als wenn ich ihr die Hand drückte, und nun raffte ich mich auf, um nach Hause zu gehen, da mir deine Mutter in's Auge kam. Was weiß ich, ob sie's mir ansehen können, daß ich geweint hatte, oder ob etwas anderes die Ursache war: sie grüßte mich liebreich. Zum letztenmal, dachte ich, und eine Thräne stürzte aus meinen Augen! – Deines Vaters Hand, oder die deinige, war auch das Letzte, was ich ansah, und hiermit fielen mir die Worte ein: Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!

Da ich zu Hause war und die Predigt deines Vaters, und den liebreichen letzten Gruß deiner Mutter mir wiederholte, überfiel mich der Gedanke, deinen Eltern lieber alles zu entdecken. Wer steht dir, dachte ich, für den Erfolg? Für deinen Vater war mir zwar seine Predigt Bürge geworden, seine Hand war mir Bürge, du warst mir Bürge; indessen schlug der Eifer deiner Mutter für den Stamm Levi diesen Gedanken nieder. Die feste Verabredung mit Benjamin, die Gewalt, die sich ein curischer Cavalier beilegt – und endlich das Wäldchen, waren Beiträge zur Entkräftung meines Muthes. – »Ich kämpfte lange, endlich siegte der Zweifel.« – –

Mine packte noch das Uebrige zusammen, berichtigte jeden Dreier, wo sie etwa für Milch oder für Früchte etwas schuldig [217] war, schenkte ihren Pathen im Dorfe viele Sächelchen, die ihr auf der Reise nichts helfen konnten.

Nichts, schreibt sie, Montags frühe, nichts ist, mein Einziger, von den gesegneten Sachen zurückgeblieben! Alles, alles, was ich von dir habe, alles, was dein Mund, deine Hand eingeweiht hat, geht mit mir Regine bat mich, da sie sah, daß ich im Austheilen begriffen war, um das Band, das dir so sehr gefallen hatte; du hattest es oft in deiner Hand. – Nein, Regine, das nicht. – Ich gab ihr ein anderes Band, und da ich kein schlechtes hatte, eins, das zehnmal höher im Weltwerth war.

Du packst ja, Mine, sagte Hermann, indem er sich Sonntags an den Tisch, der mit Schöpfenfleisch und weißem Kohl besetzt war, hinsetzte. – Mine muß es sehr merklich gemacht haben.

Ich räume auf, antwortete sie.

Schön, mein Kind; es ahnt dir vielleicht ein Besuch.

Ein Besuch?

Es könnte sich zutragen, daß Herr v. E. käme. Wenn es sich zutrüge, liebe Mine, wenn – Folge deinem Vater und sey gefällig.

Sie hatte kein Wort im Vermögen; allein sie war so ruhig, daß Hermann diese Ruhe fühlte und sie zu seinem Vortheil entgegennahm. Er klopfte ihr auf die Wange und sagte: Du bist doch ein hübsches, gutes Mädchen, und wirst eine Pastorin werden zum Küssen. Auch darüber entrüstete sich Mine nicht. – Sie blieb ruhig. Hermann zählte schon die hundert fünfzig Judasthaler in Gedanken.

Montag Nachmittag kam Herr v. E., alles, wie es geschrieben stand. Die Sühne ward eröffnet. Hermann entfernte sich, nachdem er, wie er glaubte, die Sache in Gang gebracht. Sobald die Hauptparteien allein waren, fing Herr v. E. ohne Glas [218] seine Rebe mit vielem Bitten um Verzeihung an, und machte sich als Bräutigam mit Fräulein S. bekannt. Mine gab darauf nichts als das Alltägliche. Es hatte wieder das Ansehen, daß Herr v. E. ein Geschenk in der Nähe hätte. Er wollte wagen es zum Vorschein zu bringen; allein es schien, als dürfte er's nicht. Nun nahm er einen andern Weg und bemerkte, daß er mich kenne. Zwar hätte er nur einen Abend in meiner Gesellschaft zugebracht; indessen wäre ein Abend hinreichend, wenn man Leute, wie mich, träfe. – Mine hatte sich so sehr in ihrer Gewalt, daß sie Fragen nach mir that, die Herr v. E. zu meinem Vortheil beantwortete. Mine ward dadurch aufgeräumt, und Herr v. E. ergriff diesen Zeitpunkt, im Namen seiner Mutter seine Anwerbung zu thun. So, setzte er hinzu, hätte diese Sache gleich gefaßt werden können und gefaßt werden sollen. Verzeihen Sie diesen, verzeihen Sie alle und jede Fehler – ich bin jung; allein merken Sie es nicht selbst, fügte er hinzu, bin ich nicht älter geworden, seitdem ich mich verlobt habe? Meine Mutter darf also hoffen?

Mine sagte ihm mit einem Anstande, der nicht seines Gleichen hatte, daß sie nie gewohnt gewesen, Hoffnungen zu geben, die sie zu erfüllen außer Stande wäre; sie müßte es abschlagen. – Und warum? fiel Herr v. E. hitzig ein.

Sie und mich zu schonen – und, wollen Sie noch mehr, Ihre künftige Gemahlin.

Er widerlegte sie Schritt vor Schritt mit vielem künstlichen Zubehör. Da Mine aber fest in ihrer Gottseligkeit blieb, und das segne Gott und stirb des Herrn v. E. mit englischer Geduld trug, lief Herr v. E. über und stand da, ganz wie er war. Mine erschrak, da sie die plötzliche Verwandlung der Schlange in einen Tiger sah; indessen kam sie nicht aus der Fassung.

Es scheint, Sie haben Ihrem Adonis zugeschworen, keine Mannsperson anzusehen, fing Herr v. E. nach einigen Erholungsblicken [219] spitzig und hohnlächelnd an Seine Zähne blieben unbedeckt.

Eben würde ich das Gegentheil bewiesen haben, wenn ich einen Adonis hätte, erwiederte Mine.

Du sollst nicht andere Götter haben neben mir, ist zwar, fuhr Herr v. E. fort, das erste Gebot im Katechismus; allein die Liebe hat keinen Katechismus.

Die meinige hat einen.

Herr v. E. war in Anordnung gekommen und hatte tief vergessen, was in seiner Rolle stand; er extemporirte, ward zudringlich grob, und Mine gab ihm auf eine Art seinen Abschied, daß er mitten im Wort blieb. – Ihre Hände riß er an seine Lippen, eine nach der andern, und brannt' ihnen Küsse auf. Mine fühlte in jedem Handkuß das Siegel, das er auf seinen teuflischen Plan drückte, und ein Schreckschauer ergriff sie über den andern. – Seine Handküsse brannten wie höllisch Feuer. Auf einmal faßte sich Mine zusammen und entriß ihm beide Hände. – Er zum Hermann, mit dem er heftig sprach. – Im Plane folgte, daß Hermann mitfahren sollte; allein dieß unterblieb – und Herr v. E. fuhr allein.

Hermann schien nicht zu wissen, wie er gegen Minen seyn sollte. – Er wollt' und konnte nicht. – Mine sank in eine entsetzliche Angst, denn es fiel ihr ein, daß v. E. vielleicht seinen Plan abgeändert, und der Ueberfall noch diesen Abend erfolgen könnte. – Zwar sagte ihr Hermann, daß er morgen nach – reisen würde. Er hätte mich heute schon mitgenommen, indessen sind zu viel Gäste. – Minchens Befürchtungen wurden hiedurch nicht im mindesten widerlegt. Die Art, wie Hermann sich gegen Minen betrug, bestätigte vielmehr ihre Furcht. – Masken über Masken! dachte sie und rang die Hände, betete und war in einem unaussprechlichen Zustande. Wende dich, Herr, zu mir nach deiner [220] großen Barmherzigkeit, und verbirg dein Angesicht nicht vor mir, denn mir ist angst; erhöre mich! Ich vergeh' in meinem Elende! – Wahrlich, sie verging.

Was konnte sie anfangen? Wahr oder nicht wahr, ein Entschluß mußte gefaßt werden. – Sie schloß kein Auge, blieb in Kleidern, und nach einem Gebet um Rettung, um Hülfe, frug sie bei dem Herrn ihres Lebens, bei Gott, um die Erlaubniß an (ich schaudere, da ich es schreibe), sich das Leben zu nehmen. – Sie las Todtenlieder, singen konnte sie nicht, und fand in dem Liede: Ich bin ja, Herr, in deiner Macht, Ruhe.


Ich bin ja, Herr, in deiner Macht,

(betete sie dreimal nach einander.)

Denn du hast mich an's Licht gebracht;

Du unterhältst mir Leib und Leben,

Du kennest meiner Monden Zahl

Und weißt, wann diesem Jammerthal

Ich wieder, gute Nacht soll geben

Wo, wie und wann ich sterben soll,

Das weißt du, Lebensvater, wohl!


Und nun war sie entschlossen.

O Gott, wohin kann die Tugend kommen! Mine war entschlossen, sich das Leben zu nehmen, wenn man Gewalt brauchen sollte. Freilich würd' ein Casuist feiner distinguirt und die Gränze richtiger abgemessen haben, wann und zu welcher Zeit – allein Gott, der Herr, läßt nicht durch Casuisten Recht sprechen und – sein Richter ist das Gewissen, sein Urtheil nicht: in Sachen – – entgegen erken nen und sprechen wir, sondern: kommt und geht! Ich will in Gottes Hände fallen; er ist gerecht, er ist barmherzig! Sie warf sich zur Erde und betete an, den, der gemacht hat Himmel und Erde; sie bat um Hoffnung der Seligkeit, wenn sie eine Selbstmörderin würde, um Verzeihung, wenn sie in [221] der Art fehle. Sie betete: So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer kann, wer wird bestehen? Bei dir ist die Vergebung! – Und nach einer Weile: Erforsche mich, Herr, und prüfe, wie ich's meine, wie ich's meine! Sieh, ob ich auf falschem Wege bin, und leite mich, führe mich zurecht auf den Weg zum Leben! Laß, wenn ich irre, Gnade für Recht ergehen, Gnade! Gnade! Wenn diese Hand Mörder an diesem Herzen wird und es durchbohrt – o Gott, Gnade! Gnade! – Allbarmherziger, nimm mich an zu Gnaden und laß mich selig sterben.

Denkt, empfindsame Leser, wie Minen zu Muthe gewesen! Sie suchte ein Messer, und mußte lange suchen. – Find ich es nicht, dachte sie, kann es Gottes Wille nicht seyn. Sie fand! sie fand! – schärfte das Messer, hielt es gen Himmel, flehte noch einmal zu Gott, versuchte wieder zu fingen, konnte nicht, legte das Messer, das zugeschlagen war, vor sich zur Erde und warf sich auf's Bett. Die Unruhe ihres Herzens war groß. Sie sprang schnell auf, nahm ihre Bibel, riß das Messer auf, und legte es auf die Spruchstelle im ersten Buch der Chronik, im zweiundzwanzigsten Kapitel, im dreizehnten Vers:

»Mir ist fast angst, doch ich will in die Hand des Herrn fallen, denn seine Barmherzigkeit ist sehr groß, und will nicht in Menschenhände fallen.«

Nach einem namenlosen Seelenschmerz, nach einer wahren Todesnoth, legte sich Mine wieder auf ihr Bett in Kleidern, wie sie war.


Soll diese Nacht die letzte seyn

betete sie

In diesem Jammerthal,

So führ' mich, Herr, im Himmel ein

Zur auserwählten Zahl!

[222]

Und also leb' und sterb' ich dir,

Du starker Zebaoth,

Im Tod und Leben hilfst du mir

Aus aller Angst und Noth!


Sie legt' es nicht an zu schlafen, denn daran war nicht zu denken – sie wollte nur ruhen – auch das konnte sie nicht. Alle Augenblicke sprang sie auf, dieß Isaaksopfer! je näher aber zum Morgen, desto ruhiger. Sie fing an einzusehen, daß sie sich vergebens gefürchtet hatte. – Sie war indessen so sehr an Furcht und Zittern gewöhnt, daß auch der helle, lichte Morgen sie nicht völlig beruhigen konnte.

Da kamen Pferde und Wagen nach ihrem Vater, und diese brachten ihr die verlorene Ruhe mit. Mine dankte Gott, der Großes an ihr gethan, der bisher geholfen und alles, alles wohl gemacht hatte. – Sie konnte weder die aufgeschlagene Bibel, noch das aufgeschlagene Messer ansehen. – Mit Entsetzen wandte sie ihr Gesicht weg und machte beides zu. Es kam ihr vor, als sähe sie Menschenblut auf dem Messer. Der Ort, wo sie dieß Messer gewetzt, machte sie schwindlig, da er ihr in's Auge fiel. – Das Messer warf sie unter Dank und Gebet fort. Gott, sagte sie, laß es nie Einen finden, der es brauchen will, als ich wollte. Sie glaubte hiedurch diesen schrecklichen Vorsatz aus ihren Gedanken geworfen zu haben; allein hierin fand sie sich getäuscht. – Durch Stilleseyn und Hoffen, heißt es, werdet ihr stark seyn! Wer kann aber, o Gott, wer kann immer stille seyn und hoffen?

Während der Zeit war Hermann reisefertig.

Hermann. Leb wohl, Mine.

Mine. Leben Sie wohl, mein Vater – leben Sie wohl, mein Vater, leben Sie wohl!

Hermann. Was fehlt dir? du weinst ja?

[223] Mine. Ach Gott!

Hermann. Mine, überdenk alles, überleg! du bist klug! Du jammerst mich! Mine überleg! – Leb wohl!

Mine. Leben Sie wohl!

Mörder, wo willst du hin? Fürchtest du dich denn nicht, daß die Erde ihren Mund öffne und dich verschlinge, und die Wolken sich trennen und Feuer und Schwefel auf dich regnen lassen? – Du kennst Minen, wie Judas seinen Meister. Der Abend, da du mir die Geschichte vom Judenknaben und von den Hühnereiern erzähltest, wird wider dich zeugen, Frevler! Kuppler! Bösewicht!

Mine nahm von ihrer Zelle Abschied, und konnte nicht umhin, noch einmal nach ihrer Mutter Grab zu blicken. Hierbei ließ sie es bewenden. Sie befahl Reginen das Haus und sagte ihr, sie dürfe nicht warten, sondern könne nur immerhin zeitig zu Bette gehen, womit Reginen sehr gedient war. Ich, fuhr Mine fort, werde diese Nacht nicht zu Hause kommen; und nun ging Mine mit dem Gesang:


So gehen meine Wege

Gewiß zum Himmel ein!


aus ihrem Vaterlande, und aus ihrer Freundschaft, und aus ihres Vaters Hause, in ein Land, das ihr der Herr, wie sie glaubte, zeigen würde. – Ihre Füße und Hände zitterten; indessen fand sie sich durch die Gedanken gestärkt, daß sie den Anschlägen der Bosheit entginge. Sie fand an dem bestimmten Orte ein Wägelchen und zwei Pferde. Ohne zu fragen, wie und wohin? setzte sie sich auf. Alles verstand sich einander. Der Fuhrmann hatte selbst nicht nöthig, die Pferde zu ihrer Schuldigkeit aufzuschreien. Es ging alles seinen Gang. Bis hierher hat der Herr geholfen, sagte sie, und fing an freier zu athmen. Sie hätte schlafen können, so ruhig war sie; allein die Dankempfindungen gegen Gott verwiesen [224] den Schlaf aus ihren Augen. Arme Mine! du weißt nicht, was auf dich wartet – arme Mine! Sie kam in den Flecken, wo Benjamin war. Vortrefflich! dachte sie, und noch ein Vortrefflich dachte sie hinzu, da der Wagen nicht bei der Thüre des Meisters ihres Bruders hielt. – Alles plangemäß – nur ihr Bruder Benjamin fehlte. Zwar fand sie eine willige Frau, die sie herzlich bewillkommte; allein ihren Bruder Benjamin fand sie nicht. Anfangs fing sie an zu zweifeln, ob sie Benjamin nach der Verabredung vorfinden sollte oder nicht? Ihr Kopf, das heißt ihr Gedächtniß, hatte sehr gelitten; sie fragte sich, ob Ja oder Nein? und da sie noch mit Ja und Nein kämpfte, fing die gute Frau an: Sie werden sich doch nicht erschrecken? – Die gewisseste Art, uns einen Schreck beizubringen. – Sie werden doch nicht? – Gott! rief Mine und glaubte, sie sey verrathen und verkauft.

Nach vielen unerträglichen: Sie werden doch nicht, erfuhr die Unglückliche erst, daß ihr Bruder in den letzten Zügen wäre. Noch ehe Benjamin sich legte, hatte er in diesem Hause von seiner Schwester geredet, allein bloß vorläufig. Ist es möglich! fing Mine an. Es ist erschrecklich zu lesen, was Mine hierbei ausgestanden. – – Sie zitterte zu ihm hin, ohne an die Gefahr zu denken, der sie sich bloß gab, und da sie an sein Bette trat und seine Hand nahm – schlug er mit Heftigkeit auf sie zu. – Was Gewalt? Dene – wie, Gewalt? Bluthund! ich werde dir Gewalt lehren! Gegen Minen Gewalt, du Aftermutter? Er sprang aus dem Bett, und da er sich weder im Guten noch im Bösen beruhigen ließ, so mußt' er gebunden werden und – Mine davon Augenzeuge seyn!

»Der Meister, der mich ohne Bedenken bei meinem Namen nannte, und sich einbildete, daß ich, bloß weil ich von Benjamins Krankheit gehört hätte, da wäre, erzählte mir, daß Benjamin gleich Freitags, als er zurückgekommen, über Kopfweh geklagt. – In [225] der Nacht hätt' er eine grausame Hitze bekommen, und diese hätte Sonntag Abend seinen Verstand völlig zerrüttet. – In seiner Phantasie hätt' er: Rett' sie! rett' sie, die arme Schwester! gerufen. Seht ihr nicht Räuber? Diebe? Rett' sie! rett' sie! und dann alle Augenblicke: Spannt an! spannt an! sie kommt! spannt an! – Und dann wieder hätt' er die Hausfrau bei der Hand genommen: – Ach liebe, liebe Frau, was ich auf meinem Gewissen habe. – Sind wir auch allein? Ihnen will ich's wohl entdecken! – Ich kann keine Vergebung der Sünden haben – ich bin ein Höllenbrand! Und wissen Sie, warum? Ich hab' meinen Vater nicht todt geschlagen, und das hätt' ich sollen! – Es sind lauter Flicken, liebe Jungfer, sagte der Meister, es kann kein Mensch ein Kleid daraus machen. Sie sehen doch, wie er, leider! ist. Er kennt seine eheleibliche Jungfer Schwester nicht.«

Mine, die wohl einsah, wie alles dieses zusammenhing, und die noch überdem sehr leicht herausbringen konnte, daß ihr unglückliches Schicksal ihren Bruder so sehr angegriffen, daß er in die entsetzliche Krankheit, die einen Menschen auf eine Zeit lang aus dem Buche der Menschen streicht, gefallen – machte sich bittere Vorwürfe. Ich bin schuld an seinem Tode! schrie sie mal auf mal. Ich legt' ihm mehr auf, als er tragen konnte! Mine war so von Mitleiden und Kummer durchdrungen, daß sie nichts mehr als ein: Erbarm dich, Gott! über das andere ausrufen konnte. – Sie fiel sich indessen selbst zur rechten Zeit ein. Stirbt er, sagte sie zu den bewegten Leuten, die ihren Lehrling mit Thränen in den Augen gebunden hatten, stirbt er, werd' ich ihn finden, wo man nicht: rett' sie! rett' sie, mehr rufen darf – in den Wohnungen der Gerechten! – Bald, bald werd' ich ihm folgen! – Hilft ihm wie ich hoff und bete, so bitt' ich ihm zu sagen, daß ein Frauenzimmer bei ihm gewesen, die ihre Hände zu Gott aufgehoben, da man die seinigen gebunden hätte, die Kyrie Eleison gerufen. [226] – – Sie konnte nicht ausreden – so bewegt war sie. – Sie ging und kam wieder, saßte ihn an und sagte: Benjamin! – Er sah sie mit starrem Blick an, wollte sich losreißen – konnte nicht, und sie ging, betrübt bis in den Tod!

Benjamin hatte die Reise nach Mitau nicht bestellt. Mine dacht' aus dem: Spannt an! spannt an! sie kommt! Ja, »allein sie fand Nein,« und sah sich genöthigt alles selbst zu berichtigen. – Wer beten kann, pflegte mein Vater selbst auf der Kanzel zu sagen, kann auch mit Vornehmen und Geringen umgehen – und dieß fiel ihr ein, wie sie schreibt. – Sie fand die Bestätigung zu derselben Stunde, traf Anordnungen, schloß Contract und reiste nach Mitau. – Kurz vor der Stadt hatte Mine einen neuen Schreck, gegen den alles, was sie am Krankenbett ihres Bruders erlitten, nach ihrem Ausdruck wie gar nichts war. Sie war abgestiegen, weil der üble Weg diese Wagenerleichterung nothwendig gemacht. Sie suchte sich grüne, schöne Stellen aus, wo sie ging und wo sie mit den Vögeln des Himmels den Schöpfer lobte, in dessen heilige Hände sie sich befahl. »Wenn auch hier und da schwere Stellen auf dem Wege des Lebens sind, es gibt doch, dacht' ich, links ober rechts grüne, blumenreiche Stellen, aus denen uns die schöne Natur willkommen heißt. Gott, segne meinen Mann, hilf meinem Bruder! – So dacht' ich, oder so betete, so dankt' ich Gott,« schreibt Mine, und schnell sprengte ein Reiter auf sie zu, der sie steif ansah, und wen sollte man wohl weniger vermuthen, als den Herrn v. E.? Er war es selbst! er selbst! – Kein Erdbeben kann so erschüttern, als dieser Anblick Minen. – »Ich verlor,« schreibt sie, »gleich auf der Stelle alle Kraft, Stärke und Macht. Gott, wie unergründlich sind deine Gerichte, wie unerforschlich deine Wege! Das Messer, das ich, auf den Fall mich Räuber, Bösewichter überfallen sollten, für meinen Busen geschärft hatte, war der Dankbarkeit gegen Gott, der Liebe [227] zum Leben und dem Zutrauen, daß der, welcher bisher geholfen, auch weiter helfen würde – geopfert. Da war ich also ohne Rettung in des Mörders Händen!«

Er war es! er, v. E. selbst!

»Schon wollt' ich niederknien und von dem Bösewicht den Tod als die einzige Gnade erbetteln; Mörder dieser Art sind aber so menschlich nicht, umzubringen. Sie morden Seelen, Gewissen! Mir fielen die Worte unseres Herrn und Meisters ein: Hebe dich weg, Satan! – Schon wollt' ich knien und Abgötterei begehen, als ein Wagen kam.«

In diesem Wagen saß seine Verlobte und Frauenzimmer ihrer Verwandtschaft. Herr v. E. halte also keine Zeit, Minen näher kennen zu lernen. Allerliebste Augen, sagte er in den Wagen! Ich kenne nur noch ein Paar der Art! Unfehlbar eignete sich die Braut dieses Compliment zu, das aber Minen gehörte. Alles lachte ohne End' und Ziel im Wagen über dieses Abenteuer, und Herr v. E. mußte Schande halber sich beim Wagen, der sich zur Linken wandte, halten; indessen sandt' er unvermerkt einen seiner Getreuen Minen nach, sie zu examiniren: wohin? und woher? Mine, welche zwar in diesem Vorfall, daß Herr v. E. mit Blindheit geschlagen war und sie verließ, aufs neue gesehen hatte, daß sie auf Gottes Wegen wäre, konnte sich doch von diesem Umstande nicht erholen. – Es kam alles Schlag auf Schlag. – Da sie den Abgesandten des Satans sah, that sie einen Schrei, der diesen Inquirenten mit erschreckte. Sie wußte nicht seinen Auftrag, und stellte sich nichts anderes vor, als daß er sie fortschleppen würde. Der Abgesandte hielt Minen für keinen Bissen, der einer Jagd werth wäre. Es war dieser Helfershelfer nie bei Hermann gewesen – noch in der Kirche zu – –, und wie konnte man alles Wild fangen, was Herr v. E. aufjagen ließ? Ermüdet von dergleichen Aufträgen, begnügte der Abgesandte sich, als er von [228] Minen:»Nach Mitau, zu meiner Muhme,« heraus hatte, kehrte zurück und log seinem Befehlshaber das übrige zu, um diesen Roman sein säuberlich zu endigen. Durch diesen Vorfall war Mine so außer Fassung gebracht, daß sie nicht einmal Gott danken konnte. – Es war ihr alles wie im Traum. Groß ist, Herr, deine Güte! fing sie zuweilen an, und dann rief sie wieder: Herr! hilf, ich verderbe! Wenn sie sich recht gesammelt hatte, erschrak sie vor sich selbst. – Fast kannte sie sich nicht, so sehr hatte sie sich verändert. – Kurz vor Mitau fand sie sich wieder und rang ihre Hände zu Gott. Der dich behütet, schläft und schlummert nicht, dachte sie; in Finsterniß ist er dein Licht! Die dir nachstellen, erschrecken sehr und werden zu Schanden plötzlich. – So dachte Mine und freute sich, daß Bibel und Gesangbuch seit einiger Zeit ihre Hauptbücher, ihre einzigen Bücher gewesen. Dein Wort, rief sie, ist meiner Füße Leuchte und Licht auf meinen Wegen!

Mine kam nach Mitau. Ihre Anverwandten, die sie bald ausfragte, waren in der traurigsten Verfassung. Sie hatten in der Nachbarschaft einem Cavalier ein Stück Land abgepachtet, und da an den Schaden nicht ausdrücklich im Contract gedacht war, so mußten sie von Heller zu Pfennig bezahlen und den Schaden ersetzen, obgleich er vom Himmel kam.

»Der liebe Gott hat's gethan,« sagten die armen Leute vor Gericht; allein die Richter behauptetenW.R.I.V.R.W. daß dieser Contract ohne den lieben Gott gemacht wäre. – Die Armen! In der Welt habt ihr Angst, sagt Christus zu seinen Jüngern, und das konnte man von diesen Armen mit Wahrheit behaupten. Alles, was sie an und um sich hatten, ward ihnen genommen. Sie behielten sich nur allein übrig und die Erinnerung an einen Contract, der ohne den lieben Gott gemacht war.W.R.I.V.R.W. Anstatt, daß Mine also von diesen Armen [229] Beistand erwartete, ließ sie ihnen etwas von ihren Sachen. Sie wollt' ihnen auch durchaus von ihrem wenigen Vorrath an Geld die Hälfte abgeben; allein diese Armen erklärten dieß für den größten Diebstahl. Mine mußt' ihnen den Sterbenslauf ihrer Mutter (die Verwandtschaft kam von Mutter Seite her) erzählen, und die guten Leute freuten sich über ihre Versorgung. Wer einmal oben ist, o! der ist wohl versorgt! sagten sie beide. Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, setzten sie hinzu; auch Mine sagte: Wer weiß! und alle drei freuten sich.

Die unglücklichen Leute hatten einen Sohn, der Pastor an der Gränze war, wie sie sich ausdrückten. Wenn er lieber was anderes wäre, wünschten sie, dann würden wir eher Hülfe von ihm erwarten können. Mine befragte sie, ob sie denn schon Proben von seiner Härte hätten? Härte können wir es nicht nennen, erwiederten sie. Er hat sich das Beten statt des Gebens so angewöhnt, und freilich kommt man dabei am wohlfeilsten ab. Hol' doch, sagte er, liebe Mutter, hol' doch den Brief vom neuen Jahr, da ist ein Gebet drin, das ein Kirchengebet werden könnte!

Unser Nachbar, sagte die liebe Mutter, anstatt daß sie den Brief mit dem Gebet holte, welches ein Kirchengebet werden könnte, unser Nachbar hatte eben so ein Pachtunglück; aber wie weit glücklicher ist der! Er hat einen Schneider zum Sohne, der schon alles reichlich mit Zinsen ersetzt hat, was der Vater verloren. – Sag nicht, Mutter, beschloß der Alte – du weißt noch nicht, was unsrer thun wird! – Geben ist gut – Beten ist auch gut. – Nicht wahr, Jungfer Mühmchen? fragte der Alte.

Minchens ehrliche Anverwandten halfen die Sache mit einem preußischen Fuhrmann berichtigen, und da Mine ihren Freunden von ihrer Geschichte so viel, als ihnen zu wissen nöthig war, entdeckt hatte, blieb die Hauptsache eine geschwinde Abreise.

Minens Verwandte gab ihr einen Brief nach L. in Preußen, [230] neun Meilen hinter Königsberg, mit, wo eine leibliche Schwester des ehrlichen verunglückten Pächters wohnte, und wohin auch Minchen gleich anfangs hindachte. Es sind reiche Leute, sagte er; vielleicht thaten sie an uns etwas. – Gott wird es ihnen bezahlen, hier zeitlich und dort ewiglich.

Und Minens Vater? –

Er hatte einen harten Kampf mit dem Herrn v. E., daß er Minen nicht weichherziger, wie er sich auszudrücken beliebte, gemacht. – Dieser Kampf hatte schon, wie sich meine Leser erinnern werden, in Hermanns Hause angefangen, und ward noch hitziger fortgesetzt, da Hermann zum Herrn v. E. kam.

Was will die Närrin? schrie er. Nach einer Viertelstunde raunte er dieß: Was will sie? dem Hermann ins Ohr.

Um aus der Noth eine Tugend zu machen, war Hermann es ganz unterthänigst zufrieden, daß Gewalt für Recht gehen und Mine dem Herrn v. E. als ein Schlachtopfer gebunden zu Füßen gelegt würde. Ich hoffe doch, sagte Hermann, daß es alles ehrlich und ordentlich mit Minen zugehen werde? – denn wahrlich, hochwohlgeborner und gnädiger Herr Baron, es ist ein Mädchen, das sterben könnte, ehe man sich es versähe, und ei, dann Vater seyn! – Versteht sich, sagte Herr v. E., ehrlich und ordentlich – ich werde doch, Herr! zum Teufel! wissen, mit einem Mädel eine Comödie zu spielen! Hat der Herr schon gehört, daß die Personen im letzten Akt des Lustspiels sterben? Und ein Lustspiel, hört der Herr? ein Lustspiel soll es werden! Dieses Lustspiel wäre, Dienstags vollendet worden; allein Herr v. E. mußte nolens volens seine Braut zu einem ihrer Anverwandten, der bei Mitau wohnte, begleiten. Hermann blieb, auf Geheiß des Herrn v. E., so lange bei der Frau v. E. Gnaden und bei der Jungfer Dene Hochedelgeboren.

In zwei bis drei Tagen bin ich hier, schrie noch Herr v. E. [231] dem Hermann vom Pferde zu, und dann ohne Verzug! – Sie hatten sich in die Hände geschlagen: wenn alles gut ginge, soll es nicht bei vierzig Thaler Albertus bleiben. – Gott gebe, daß es gut geht, sagte Hermann; das übrige werden meine Leser an seinen Ort zu stellen und einzuschalten wissen. Würde Herr v. E. Minen nahe bei Mitau vermuthet haben, und hätte sein Abgesandter ihm hiervon auch nur die entferntesten Spuren zurückgebracht, das Gelächter im Wagen würde ihn eben so wenig von ihren Augen abgebracht haben, als Gottes Wort in der Kirche. Sein Herz hing an Minen, und eben weil es an ihr hing, verfolgte er das Mädchen nicht weiter, das nach seiner Einsicht bloß Minens Augen hätte, obgleich sie es, gottlob! selbst war.

Herr v. E. traf nach drei Tagen ein, fand den Hermann fröhlich und guter Dinge, und es ward der Mord ganz pünktlich verabredet. Hermann reiste nach Hause, um alles zu dieser Gewaltthätigkeit vorzubereiten. Regine halte von Minens Entfernung dem Hermann keine Nachricht ertheilet. Zwar hatte Mine ihr nur bloß gesagt, daß sie die Nacht nicht heimkommen würde; indessen dachte Regine: wer weiß, was für ein Zufall sie bindet! – Hermann kam betrübt nach Hause. – Ich glaube, es ist es jeder Nachrichter, wenn er den Streich vollführen soll, wenn er sich bewußt ist: unschuldig Menschenblut. Hermann fand die unbesorgte Regine und statt Minen fol gende Schrift:

Sie wissen selbst, mein Vater – Vater werde ich Sie nennen, es gehe wie es gehe – Sie wissen selbst, daß ich nicht aus Tücke des Herzens aus meinem Vaterlande, und aus meiner Freundschaft, und aus meines Vaters Hause gegangen, in ein Land, das Gott mir gezeigt hat! – Sie wissen alles! Ich bin Ihre Tochter! Mehr als dieß: Sie wissen alles, darf ich mich nicht unterstehen, zu schreiben, und sollten oder wollten Sie nicht alles wissen, so wäre es ein sehr unzeitiges Geschäft, mehr zu schreiben. [232] Gott verzeihe es mir, wenn ich jetzt oder jemals die Achtung aus dem Auge verloren, die ich Ihnen schuldig bin. – Mein Weg geht, wie ich fühle, zum Himmel ein. Ich habe zu viel Angst, zu viel Kummer erlitten, um hoffen zu können, eher als vor Gottes Thron bei meiner seligen, ja wohl seligen Mutter glücklich zu seyn! Dann, dann wird, o wie freue ich mich dessen! das Grab in Absicht meines hinfälligen Theils meine Behausung, Finsterniß mein Bette, die Verwesung mein Vater und die Würmer die Meinigen seyn – allein mein Geist! – dort, dort werden abgewischt werden die Thränen von meinen Augen! – Im Himmel ist mein Theil und Erbe! – Ich bitte Gott, daß ich Sie einst auch da finden möge, mein Vater, da, wo Ruhe ist! Sie haben mir auf volle acht Tage Ausgabegeld gegeben; die Rechnung vom Sonntag und Montag liegt auf Ihrem Schreibtische. Reginen habe ich Geld auf zwei bis drei Tage zurückgelassen, hier ist das übrige vom Wochengelde. – Ich habe nichts von dem Ihrigen mir zugeeignet, ich habe Ihnen nichts entwendet. Sie berechneten sich mit meinem Bruder Benjamin, und wie mir es vorkam, legten Sie auch mein Theil ab. Diesen schenke ich meinem Bruder. Ich wünschte wohl, daß Dene nichts trüge, was meine theure Mutter getragen hat, wenn es ihr, wie ich vermuthe, nicht schon an sich zu schlecht ist. – – Sollten Sie, mein Vater wider all mein Vermuthen, etwas missen, so muß Regine davon Anzeige thun können, die indessen, wie Sie wissen, die Ehrlichkeit selbst ist. Ich gehe, und das können Sie sich leicht vorstellen, mit schwerem Herzen, o Gott! mit schwerem Herzen von hier. An diesem Briefe habe ich drei Tage geschrieben. Thränen beziehen mir so die Augen, daß ich auch jetzt nicht sehe, was ich schreibe. – Gott sey mir gnädig! Ich bete auch für Sie! und werde es nie aufhören zu thun. Haben Sie tausend Dank für alles Gute, so Sie meiner Mutter, und so Sie mir gethan! Meine Mutter läßt sich noch durch mich bedanken. Gott vergelte es [233] Ihnen! – Ihr Grab war mein Labsal, sonst wäre ich vergangen in meinem Elende. Verzeihen Sie alle meine Fehler, wodurch ich Sie in meiner Jugend betrübt habe. Seit vielen Jahren, dünkt mich, habe ich Ihnen nicht Gelegenheit zur Unzufriedenheit gegeben. Man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen. – Meine Entfernung rechnen Sie nicht unter Fehler, die ich Ihnen abzubitten schuldig wäre – ich bitte sie Ihnen dennoch ab, weil ich weiß, daß sie Ihnen einigen Verdruß machen wird. Der Himmel gebe, daß er so klein sey, als nur möglich, nur möglich. – Wenn Sie nicht glauben wollen, daß mich Gott zu gehen geheißen hat, so lassen Sie sich von dem Herrn Pastor die Predigt vom vorigen Sonntag geben. Diese Predigt ließ Gott durch ihn an mich halten – das können Sie mir glauben, weil ich es empfunden habe, und wenn Sie die Predigt lesen, werden Sie es auch empfinden, und mir wenigstens eine glückliche Reise wünschen, wie Sie meinem Bruder wünschten. – Die Frau Pastorin haben Leute, das weiß ich, wider mich aufgebracht.

Ich bitte Sie, meine liebe Frau Pastorin, um Gottes willen, um Gottes willen, nicht zu denken, daß ich Ihren Sohn verführt habe, und noch verführe. Eben so wenig, als er mich verführt hat und verführen wird, eben so wenig ich ihn. – Sie sind eine gute, verehrungswürdige Frau, meine geistliche Mutter, die mich über die Taufe gehalten hat – ach! – – Gott, der Herr, segne Sie! Ich küsse Ihnen und dem Herrn Pastor, dem Boten Gottes, die Hand. Gott wird ihn so in seinem Letzten erquicken, als er mich vorigen Sonntag in meinem Letzten in – erquicket hat.

Lieber Vater, sagen Sie diese Stellen der Frau Pastorin vor, und danken Sie dem Herrn Pastor tausendmal, tausendmal! Lieber Herr Pastor! Engel Gottes! ich danke Ihnen tausendmal, tausendmal! –

Ich wünschte sehr, mein Vater, daß diese frommen Leute gut [234] von mir dächten, des Gebets dieser Frommen wegen, dem ich mich empfehle. Setzen Sie mich, mein Vater, in die Güte, in das fromme Andenken der Frau Pastorin zurück. Schlagen Sie mir, lieber Vater, diese letzte Bitte nicht ab, und dann noch eine nicht: – das Grab meiner Mutter in Ehren zu halten! Wenn die Erde nachläßt und das Grab sinkt, lassen Sie, lassen Sie doch Erde, gute schwarze Erde nachschütten, damit es nicht das Ansehen, das edle Ansehen eines Grabes, eines Hügels verliere. Meine Mutter ist ja die Handvoll schwarzer Erde werth! – Nun leben Sie wohl! – Wenn Sie Denen heirathen, lassen Sie sie nicht verächtlich von meiner Mutter reden; es ist eine selige Mutter. Verdoppeln Sie Ihre Liebe gegen meinen Bruder Benjamin. Er ist jetzt das einzige Kind, das von einer Mutter stammt, die im Himmel ist. – Grüßen Sie ihn von mir tausendmal; so oft er zu Ihnen kommt, grüßen Sie ihn tausendmal! – Grüßen Sie alle, die sich meiner zu erinnern die Güte haben. Verfolgen Sie mich nicht, denn ich gehe auf Gottes Wegen. Regine ist so unschuldig an meiner Entfernung, als die Sonne am Himmel. Grüßen Sie auch Reginen von mir. Ich bitte Reginen ab, daß ich Sie wegen meiner Flucht getäuscht habe. – Gott lasse es Ihnen allen, allen, allen wohl gehen zeitlich, geistlich und ewig wohl! wohl! Wenn Herr v. E. seine Gemahlin treu lieben wird, nur dann wird er glücklich seyn. Gott sieht das Herz an und alle guten Leute, die Gottes Bild an sich tragen, deßgleichen. Ich wünsche auch ihm alles, alles Gute! Hiermit leben Sie wohl, alle! alle! Leben Sie wohl!


* * *


Hermann war gerührt – weinen konnte er nicht. Schon wollte er den ganzen Handel mit Denen wieder aufgeben und zu meinem Vater gehen, und seine Sünde in den Schooß seines Beichtvaters bekennen. Er konnte sich nicht entbrechen, vor sich zu [235] sagen, als ob er sich auf das Compliment zu meinem Vater besönne: Vater, ich habe gesündiget im Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht werth, daß ich dein Beichtsohn heiße.

Diese Bußgedanken wurden aber bald zerstreut. Nimmt Herr v. E. Denen von mir, was hebe ich an? Graben mag ich nicht; doch schäme ich mich zu betteln. Dieß setzte er seinen Bußgedanken entgegen, und wenn sie gleich nicht völlig in Flucht geschlagen wurden, so waren sie doch wenigstens wankend ge macht. Je weiter er dem Vorfall nachdachte, desto mehr befestigte sich sein Entschluß, sich unter die gewaltige Hand des Herrn v. E. zu demüthigen. Sein letzter Vorsatz war, dem Herrn v. E, der, wenn er wollte, ihn ganz und gar an den Bettelstab bringen könnte, alles zu entdecken – und sich ihm auf Gnade und Ungnade, auf Tod und Leben zu ergeben. Er nahm den Brief mit (die Hand zitterte ihm, da er ihn angriff) und ritt nach – zum Herrn v. E.

Nun, Teufel! war der Willkommen.

Hochwohlgeborner, gnädiger Herr! hier!

Was? (Herr v. G. nahm und las.) Blitz! Donner! Zeter! Wetter! wo ist die Bestie?

Gnädiger Herr, verzeihen Sie –

Er ist toll!

Wie Ew. Hochwohlgeboren befehlen.

Die Bestie, wo ist sie?

Das ist Gott bekannt!

Nach einem langen Mißverständnis; kam es heraus, daß der Abgesandte Jakob die Bestie war. Ich bin ihr begegnet! – Gewiß und wahrhaftig, sie war es! schrie Herr v. E.

Ketten! – Jakob! wo ist die Bestie? Jakob kam, und nach den entsetzlichsten Flüchen wurde Jakob in Eisen geschmiedet. Dieser Kerl, mit dem ein kurzer Proceß gemacht ward, schien der Ableiter der Wuth des Herrn v. E. zu seyn. – v. E. erholte sich. –

[236] So lange als ich sie nicht habe, sollst du so liegen, Bestie! das war das Urtheil.

Es wurden Steckbriefe und Boten zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen ausgesandt – allein Mine kam glücklich nach – Königsberg. – Sie erschrak über diesen Ort. So groß! sagte sie zu den Fuhrleuten. Es war der nämliche Major und der nämliche Junker, die mich nach Königsberg gebracht hatten. – Mine schlief in Königsberg auf der nämlichen Stelle, wo ich geschlafen hatte, und es sey, daß Ahnung es ihr eingab, oder, was weiß ich, wie sie empfand, daß ich da gewesen. Bis dahin hatte sie hiervon keinen Gedanken gehabt. – Jetzt kam es ihr schnell ein, wie alles kommt, was gut ist. – Mine lenkte das Gespräch auf die hohe Schule, und immer weiter und weiter, bis die Majorin selbst von mir anfing. Der Major hatte mich längst vergessen. Ueberhaupt schwächt nichts so sehr das Gedächtniß, als Reisen. Die Majorin gab so viele Umstände an, daß Mine mich vor sich sah. Hätte Kummer und Elend, und vorzüglich der Ueberfall des Bösewichts, da Mine zu Fuß ging, und die peinlichen Fragen des Abgesandten, der jetzt in Eisen geschmiedet war, diese Arme nicht so sehr zurückgesetzt, ich glaube, die Liebe hätte ihre Gründe, mich nicht zu sehen, überwunden. Jetzt überwanden die Gründe. Wer sieht gern Leute, die man recht zärtlich liebt, wenn man so kümmerlich ist, wie Mine war? Ihre Gründe:

»Die Pastorin nennt mich eine Verführerin! Könnte ich es nicht werden? Und unter welchem Namen sollte ich? unter wessen Schutz? Was würden seine Bekannten von mir denken, von ihm sagen? Wie und wo soll er mich sehen?« Mine, die überall auf Gottes Wegen ging, hatte schon der Majorin gesagt, daß sie keinen Verwandten in Königsberg hätte, und daß sie nach L. wollte. Es war schon unterwegs abgemacht, daß man sie dorthin senden würde. Eine gewisse fräuliche Delikatesse, die, wenn sie Schwäche wäre, [237] selbst unserm Geschlecht angenehmer als Stärke ist, gab jedem Gedanken Nachdruck.

»Könnte man nicht denken, ich wäre seinetwegen? – Er kann und wird mich sehen, im Schooße meiner Verwandten – und sterbe ich – in der seligen Ewigkeit!«

Kurz, es ward beschlossen, nach L –. Der Herr Major sagte: Frau, solch ein Frauenzimmer hast du noch nicht gesehen, und die Frau Majorin that mir die Ehre, Notabene, nachdem mein Andenken bei ihr aufgefrischt war, bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß sie solch einen jungen Herrn, als mich, so leicht nicht gesehen hätte. Mitte schrieb: »Dieß kam mir so unerwartet, daß ich feuerroth wurde. – Ich freute mich, mein Lieber, so sehr sich Mine freuen konnte!« – Da Mine eine Lust bezeigte, die Stadt zu besehen, so ward den Morgen eine Kutsche angespannt. Die Majorin machte Umstände, mit Minen zusammenzusitzen. Sie wollte gerade über sitzen. Endlich – – Alle Augenblicke, wenn Mine einen jungen Menschen sah, fiel sie zurück. Sie glaubte mich –

Den nämlichen Tag nach Tische.

Herr v. G. Ich.


Er. Endlich.

Ich. Ich bin auch heut noch zu beklommen, ich habe noch kein empfängliches Herz für die Natur – keinen Hunger und Durst – nach ihrer Milch und Honig. Sie nimmt es übel, Bruder, wenn man zu ihr kommt und sauer sieht.

Er. Sie wird dich aufmuntern.

Ich. Das thut sie nicht.

Er. Ihren Lieblingen wohl, und du sitzest ihr im Schooß.

Ich. Wohin denn?

Er. Das laß mir über. Unser ehrlicher Major hat, das [238] weißt du, Ursache, es übel zu nehmen, daß wir nicht schon die Parole von ihm abgeholt. – Ein paar Pferde –

Ich. Meinetwegen! Wen senden wir?

Er. Uns selbst.

Ich. Desto besser.

Er. Zum Major!

Ich. Zum Major!

Wir gingen, nachdem wir uns umgezogen. Schon sahen wir sein roth abgeputztes Haus, freuten uns, unsere Kriegskameraden zu sehen, und fragten einander. – Da begegneten uns ein paar Landleute im Wagen, die uns hineinwinkten. – Wir nahmen diesen Wink entgegen – und fuhren ihren Weg nach Hollstein (einem Lustorte bei Königsberg). Warum konnten wir nicht zum Major, obschon wir das roth abgeputzte Haus sahen? Große Frage! warum? O Gott, warum? Eine kurze Freude für meine Leser!

Der Weg nach Hollstein ist einer der schönsten, den man fahren kann. Auf der einen Seite Wasser, wo Schiffe sich kreuzen, auf der andern die anmuthigsten Wiesen. – Man könnte, sagte einer in unserm Wagen, um den Wiesen ein Compliment zu machen,Billard darauf spielen!

Ich war blind und taub. Wie konnte es anders? Schon sechs Wochen über das Vierteljahr und kein Brief von Minen!

Mine reiste den andern Tag nach L – zu ihren Verwandten. – Wie sie zum Thor hinaus fuhr, fielen ihr wieder die Worte ein: Man trug einen Todten aus der Stadt, der war der einzige Sohn seiner Mutter. Sie konnte diese Worte nicht los werden.

Mine schreibt: »Mein Weg, mein Lieber, wie du schon weißt, wie ich dir schon tausendmal geschrieben habe, ging himmelan, überall himmelan.«

Sie fand ihren Verwandten auf dem Brette. Seine Frau war [239] schon längst gestorben. Müde und matt fiel Mine bei dem Anblick ihres Verwandten in Ohnmacht. Nachdem sie sich erholt hatte und den Todten ansah, fand sie eine Aehnlichkeit von ihrer Mutter in allen seinen Zügen. Sie konnte ihr Auge nicht von ihm lassen. Sie selbst:

»Es sey, mein Lieber, daß alle Todten eine Aehnlichkeit haben, die im Herrn sterben, ober der Selige hatte, der Verwandtschaft wegen, wirklich ähnliche Züge von meiner Mutter. Mir war es Zug an Zug! – Lieber Gott, dachte ich, indem ich ihn starr ansah, nun habe ich auch einen Brief in den Himmel. Du weißt doch, mein Lieber, den Brief aus Mitau. – Gott, dein heiliger Wille geschehe! – Nur daß du mich nicht verlässest, wenn ich diesen seligen Weg gehe – und die letzte, letzte Reise thue.«


»Laß mich, wenn ich sterbe,

Mit der Schaar der Frommen

Aus Sturm und Wellen kommen

An den erwünschten Ort.«


»Wieder ein Wegweiser himmelan, himmelan, mein Lieber! Ich glaube nicht, daß ich noch weit zum Ziele habe. – Es kann, es kann nicht mehr weit seyn!«

»Ich wollte in Königsberg mich mit dem Fuhrmann und seiner Frau abfinden, die Leute hatten mir viel, sehr viel Gutes gethan; allein weder er, noch sie, waren zu einem Dreier zu bequemen. Ich schenkte der kleinen Tochter, die nicht von mir ließ, einen Kopfputz, und mehr war den Leuten nicht aufzubringen. – Sie hatten mir gar zu essen und zu trinken auf den Weg gegeben, ohne daß ichs wußte. – Mein Gott, was gibt es doch für gute Menschen in der Welt! Diese Güte bewegte mich bis zu Thränen, die, Gott sey gepriesen, sogleich da sind, und mir sehr treue und gute Dienste thun.«

Der Prediger in L –, wahrlich ein Mann, der nicht bloß [240] betete, sondern auch arbeitete, der nicht bloß lehrte, sondern auch gab, kam eben von der Erfüllung des letzten Willens des Seligen. Es hatte der Verstorbene verordnet, da er keine Erben hatte, daß sein ganzer Nachlaß an das Hospital und die Hausarmen gegeben werden sollte. Der gute Prediger hatte alle die frohen Züge der Armen in seinem Gesicht, die er veranlaßt hatte, und so kam er ins Trauerhaus. – Einen Tag eher, und Mine hätte für die bewußten Armen in Mitau Anspruch auf diesen letzten Willen machen können. Es war seit undenklichen Jahren keine Nachricht von ihnen in L – eingelaufen, und der Selige glaubte sie schon alle da zu finden, wo er hinging.

»Auch die Hospitalitin,« schrieb Mine, »hätt' ein Recht an dieser Austheilung gehabt. Ich prüfte mich vor Gott, ob ich es einem beneidete, auch der es weniger, wie ich, nöthig hätte; allein ich bestand in der Wahrheit. – Mein Lieber, ich bin verlassen; allein Gott weiß, dieser Gedanke kostet mir keinen bittern Augenblick. – Keinen einzigen ist der verlassen, der auf Gottes Wegen geht! Wenn mir einfällt: wo Brod in der Wüste? bild' ich mir ein: wenn ich kein Brod habe, werd' ich auch keinen Hunger haben, und das ist jetzt mein unaufhörliches Denken, solang ich bei der Leiche bin – und dann noch ein großer, über alle Maßen wichtiger Gedanke ist mein: bald wird mich gar nicht mehr hungern und dürsten – und nicht mehr auf mich fallen Fröste des Schrecks, und keine Flamme der Anfechtung mich mehr ergreifen. Ich fühl' es, Geliebter, innerlich, obgleich mir äußerlich nichts anzusehen ist, es werde bald Amen mit mir seyn. – Glaub mir, ich bin mehr dort, wie hier; ich sehne mich nach meiner rechten Behausung! denn kann ich nicht mit Wahrheit sagen: Ich habe hier keine bleibende Statt gefunden, sondern die zukünftige such' ich? – Bald, bald wird man einen Todten heraustragen! – Was sollt' ich mich also grämen und wider Gott murren, der den Himmel ausbreitete [241] und die Erde gründete, und so groß er ist, doch auch meinen Schmerz wog? Warum sollt' ich murren und über die klagen, die den Nachlaß meiner Verwandten in Empfang genommen? Da ich den Herrn suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht. – Er ließ mein Angesicht nicht zu Schanden werden, da mich v. E. und sein Botschafter sahen. Ich Elende rief, und es hörte mich der Herr und half mir aus allen meinen Nöthen. Der Engel des Herrn lagerte sich um mich her und schlug mit Blindheit, die mich greifen wollten. – Du kannst nicht glauben, Geliebter, wie froh ich bin, froh bei einem Todten! – Er ist entgangen, ich werd' auch entgehen. – Von ganzer Seele empfind' ich die Worte: Der Mensch lebt nicht vom Brod allein. – Ich habe so wenig Hunger, daß ich noch drei Tage ohne Essen und Trinken bleiben könnte. Ich schmecke und sehe, wie freundlich der Herr ist; wohl dem, der auf ihn trauet!«

Der Pfarrer in L – fand Minen verehrungswürdig. Er sah ihr an, was sie war. Er war mit einem gestärkten Auge zu ihr gekommen. Mit einem Anstande, frei wie die Tugend, erzählte ihm dieß liebenswürdige, frische und muntere Mädchen einen Theil der Geschichte ihrer Reise. Sie blüht wie eine Rose; allein sie fiel auch so hin, wie diese. Indem sie mit dem Prediger sprach, sank sie zur Erde. – – Vielleicht daß sie der Theil der Geschichte, den sie zurückbehielt, so angriff, vielleicht daß die Krankheit, wie es öfters geschieht, den Ruhepunkt, den sie abgewartet hatte, eben jetzt erreicht, um auszubrechen.

Mine bemerkte zwar, daß die Erscheinung des Herrn v. E. und seines Gesandten ihr ganzes Wesen bebend gemacht, und daß dieser Schreck sie mehr angegriffen, als alles – indessen half sie sich wieder aus. Jetzt aber war ihr Stündlein vorhanden. – Sie konnte nicht mehr. Sie sank: – o Gott, sie sank! – Es ist, glaubt mir, lieben Freunde, mit Leben und Tod eine besondere [242] Sache. Der Mensch bringt zwar die Ursache seines Todes mit auf die Welt – er stirbt an seiner Geburt – allein man könnte behaupten, daß der Tod immer, wie ein Dieb in der Nacht, immer wie ein Blitz komme, und daß man in gewisser Art jederzeit, und auch alsdann noch plötzlich sterbe, wenn man gleich an einer Lungenkrankheit stirbt. Der Eintritt dieser Krankheit ist alsdann der plötzliche Tod, und sobald diese Sterbenskrankheit eingetreten, sagt, leben wir wohl noch? – Wir hoffen doch? – Wir zweifeln, willst du sagen, und das ist wahrlich kein so glücklicher Zustand! Ein Hektikus, der in der Lebenshoffnung, wie man sagt, am stärksten seyn soll, ist er nicht schon immer todt? wenn gleich er dem Arzt entgegen hustet: »Heut befind' ich mich so leidlich!« – Was er nicht weiß, ist der Augenblick, da ihn die Welt todt nennt. – Eigentlich ist er schon verschieden. – Was dünkt dich, frischer Jüngling, dich, blühendes Mädchen, was dünkt euch, die ihr dieses leset? Wenn euch beim Wort: sie sank, ein Schauder durchs Herz fuhr, denkt daran: so wird auch euer Tod kommen, so wird er eintreten. – Darum wachet, wachet! Jeder, so dieses Blatt liest, alt und jung! Ich beschwör' euch alle bei dem Gott, der an den Tag bringen wird, was im Dunkeln geschah, und der den Rath der Herzen offenbaren kann; ich beschwöre jeden, so dieses Blatt liest, heute, heute – heute – eine gute Handlung im Stillen zu thun; diese Handlung, wenn es möglich ist, vor sich selbst zu verbergen – damit sie im Sterben euch Lust zuwehe. Heute, Freunde, heute! folget mir – heute noch!

Der Selige war ein großer Liebhaber vom Vögelsang. Da er nicht mehr ausgehen und ihn im Freien hören konnte, hatte er verschiedene von diesen Sängern im Zimmer. – Ihr Gesang soll mich auch im Sterben nicht stören, pflegte er zu sagen. Es ist der Ausbruch der Freude und der Unschuld, es sind glückliche Geschöpfchen. Seine letzte Verfügung war: seine Vögel nach seinem [243] Tode ins Freie zu lassen. Zuweilen wünscht' ich, hatte er hinzugefügt, daß ich ihnen etwas im Testament legiren könnte – allein was würd' ihnen ein Legat gegen die weite und breite Welt seyn, die ihnen eignet und gebührt. Mine war bei der Erfüllung dieses letzten Willens, den der gute Pfarrer mit sehr vieler Empfindung befolgte. Nach den ersten Begrüßungen an Minen war dieß sein Geschäft. Sie brauchen kein Legat, sagte der Prediger, diese Weltbürger. Auf jedem Aestchen ist ihr Bette gemacht. Gott sey mit euch, fügte er hinzu, und ließ die Vögel fliegen.

Mine sank – der gute Prediger ermunterte sie; allein er ah, daß ihr das Herz gebrochen war – sie war nicht mehr. – Sie haben mich sterben gesehen, sagte sie zum Pfarrer. – Das hab' ich, erwiederte er. Der Bote des Friedens ließ sie nicht von seiner Hand und bat sie, mit ihm zu kommen. – Dieses nahm sie als Gottes Einladung an und dankte ihm herzlich für das Aestchen, das er ihr anbot. Mine war so schwach, daß sie sich gleich ins Bette legen mußte, sobald sie zum Prediger kam.

Laßt mich kurz seyn, lieben Leser, ihr könnt fühlen, nicht wahr? Ihr könnt es – wie mir ist; wenigstens hier und dort und da. Laßt mich abbrechen, und leset mehr als da steht.

Die Dulderin konnte selbst ihren Verwandten nur durchs Fenster begraben sehen. Da man ihn einsenkte, sank sie ohnmächtig hin, und mußte ms Bett getragen werden. – Sie sagte, da sie wieder zu sich selber kam, es wär' ihr im sanften Schlummer so vorgekommen, als trüge man sie selbst ins Grab. – Sie war zuweilen sehr unruhig, und blieb es so lange, bis sie dem rechtschaffenen Geistlichen ihren ganzen Lebenslauf gebeichtet und ihr schwer beladenes Herz gelichtet hatte. – Der redliche Mann stärkte und tröstete sie. Er billigte diese so engelreine Liebe, die lilienkeusche Liebe, wie er sie zu nennen die Güte hatte – und was man Minen an ihren gebrochenen Augen ansehen konnte, war da.

[244] Die Absolution des guten Predigers machte Minen munter. Dieß kann man auch bei einer großen Krankheit seyn. Man sah, daß ihr Geist heiter war und nicht zu seyn aufhören würde, wenn gleich der Körper dahin fiel. – Er war so sehr dem Körper überlegen, daß der Prediger mich versicherte, hieß wäre sein Beweis von der Unsterblichkeit. Ost, sagte er, hab' ich dieß gefunden, und noch öfter hätt' ich's finden können, wenn nicht die meisten Seelen im Concurs stürben und von so vielen Schuldnern überlaufen würden, die sie nicht befriedigt, so lange sie mit ihnen aus dem Wege dieser Welt waren.

Mine wollte die Communion, und zwar in der Gemeinde, empfangen. – Ich werde, sagte sie, darin schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist, und wie wohl denen auch dort seyn wird, die auf ihn trauen, ich werd' einen Vorschmack drin von dem himmlischen Manna finden. – Der Prediger setzte hierzu einen Tag an, und sie empfing die Communion mit zwölf Personen in ihrem Zimmer. – Diese Zahl kam ganz von ungefähr; indessen fiel sie Minen sehr auf. – »Gott, laß doch keinen Verräther unter diesen Zwölfen seyn!« Mine gab jedem von ihrer geistlichen Tischgesellschaft die Hand. – Wir sehen uns wieder, sagte sie. Die Danksagung, welche der Prediger aus der Agende nach der Communion las, sprach Mine laut und mit Seelenwonne mit. Die Tochter des Predigers, ein Mädchen von neunzehn Jahren, wollte durchaus sterben, da sie Minen so sterben sah. – Sie war immer um und bei ihr. Mine bat den Prediger nicht, mit ihr zu beten. – Dazu hatte sie keinen Geistlichen nöthig, obgleich sie den Prediger sehr gern um sich hatte. Sie sprach beständig mit ihm von Sterbenden, die er zum Tode vorbereitet hatte, und freute sich, wenn sie von Leuten hörte, die freudig aus dieser Welt gegangen, und deren Seelen so stark gewesen, daß man ihnen die Vollendung angesehen. – So was, sagte der Prediger, überzeugt. Man sieht in gewisser[245] Art Geister – und so, wie sie sich aus dem Körper herausschlauben, so werden sie sich auch zu seiner Zeit beim Weltgericht aus dem Staube machen. – Wenn Minchen allein war, ging sie im besondern Sinne mit Gott um. – Von langen Gebeten hielt sie nichts – auch in gesunden Tagen nicht. – Sie war, das sah man, das hörte man, ihrer Sache gewiß. Sie war im Himmel bekannt. Ich habe dort eine Mutter, die mir gewiß entgegenkommen wird, pflegte sie zu sagen, und dann wieder: Ich behalte denselben Gott in Curland, in Preußen, im Himmel! Ich verändere nicht den Beherrscher, sondern nur den Ort. Ich zieh' aus einer Provinz Gottes in die andere. Hier wohn' ich zur Miethe und dort werd' ich Eigenthümer seyn. – Es war rührend, sie sterben zu hören, sie sterben zu sehen.

(»O Gott, lehre mich bedenken, daß ich sterben werde, daß mein Leben ein Ziel habe, daß ich davon müsse! Lehre es jeden, der dich liest!«)

Auf einmal fiel es Minchen ein, mich noch zu sehen. – Da sie gewiß zu sterben gedachte, sprach sie von unserer Verbindung mit so wenigem Rückhalt, daß sie mich gegen den Prediger ihren Mann hieß. Der Prediger sprach auch von uns wie von Verlobten. Gretchen, die Tochter des Predigers, wußte einen großen Theil von meiner Geschichte; nur gegen die Predigerin war man zurückhaltend. – Man ließ sie selbst selten zu Minen, obgleich sie sich recht nach ihr sehnte. Sie neigte sich sehr zur Schwermuth, und man mußte alles entfernen, was diesem Temperamente Nahrung gab. Bei ihren letzten Wochen war einer von den drei Lindenbäumen, die vor dem Pastorhause standen, ausgegangen; dieß hatte sie sich so zu Gemüthe gezogen, daß vorzüglich jeder Lindenbaum sie gleich zum Tiefsinn brachte. Wenn die Linden blühten, war sie immer in Thränen. Die gemeinen Leute nannten es eine Lindenkrankheit. – Sie fand indessen auch in andern Vorfällen [246] Anlässe zur Traurigkeit und Nahrung für ihre Schwermuth. Die gute Pastorin hatte sich eingebildet, daß der Lindenbaum vor dem Pastorat, da er in ihrem Geburtsjahre gepflanzt worden, jetzo ihren Tod ankündige und ihr Vorläufer, ihr Johannes, seyn würde. Gewiß hat dieser Baum ihr Leben mitgenommen. – Sie weinte oft am heitersten Tage. – Der arme Prediger, welcher anfangs alle Mittel angewendet hatte diese Krankheit zu heilen, sah wohl ein, daß sie nicht heilbar wäre.

Oft mußte er ihr sogar die Bibel wegnehmen. Sie war nicht aus den Klageliedern Jeremiä, den sieben Bußpsalmen und der Offenbarung Johannis herauszubringen – und im Gesangbuche waren die Todten-und die Abendlieder ihre Sache. »So komm' doch auf einen grünen Fleck!« sagte der kreuztragende Prediger; allein sie blieb wo sie war. – Sie sah in jedem Grün die Linde vor ihrem Hause. Es war diesem Baum sein Taufattest, sein Pflanzjahr eingeschnitten, und also wußte sie gewiß, daß sie eines Jahres Kinder waren. – Zuweilen kam die Schwermuth der Frau Predigerin bis zu Ausbrüchen. Dann waren ihre Begriffe alle durcheinander.

Was meinen Sie, lieber Pastor, sagte Mine, soll ich ihn noch sehen? Ihre Gründe hatte sie jetzt alle aufgegeben. Der Prediger war für, der Arzt wider. Es war betrübt anzusehen. Sie wollte mit ihrem Arzt darüber sprechen; allein das konnte sie nicht. Sie hatte kein Wort unmittelbar mit ihm gewechselt. Er war sehr harthörig – und eines der Hauptübel, die sich bei Minen äußerten, war kurzer Athem und Brustschwachheit. Da man dem Arzt Minens Wünsche ins Ohr schrie, widerrieth er. Nichts, setzte er hinzu, was sie angreift! Der erste Blick ihres Freundes würde ihr letzter seyn. – Die geringste Spannung würde ihre Nerven in Stücke reißen.

Mine war es zufrieden, oder mußte es zufrieden seyn, da der [247] Prediger dem Arzt beitrat. Sie erholte sich, allein nicht zum Leben, sondern zum Tode, wie sie selbst bemerkte; indessen danke sie ihrem Arzt mit einem Händedruck. Zuweilen stand sie auf, sah nach dem Grabe ihres letzten Verwandten, ließ sich von fern die Gräber der Frau dieses frisch Begrabenen und ihrer Kinder zeigen. Sie waren alle mit einer kleinen, in die Höhe stehenden Tafel bezeichnet, worauf ein Spruch stand. Die Tochter des Predigers mußte sie lesen gehen und sie Minen erzählen – das Auge reichte nicht so weit.

Auf seiner Tafel standen die Worte, Daniel 12. V. 13: Du aber, Daniel, gehe hin, bis das Ende kommt, und ruhe, daß du aufstehest in deinem Theil, am Ende der Tage. – Er hieß Daniel.

Auf der Tafel seiner Frau, Hiob 7. V. 2, 3: Wie der Knecht sich sehnet nach dem Schatten, und ein Tagelöhner, daß seine Arbeit aus sey, also sind mir elender Nächte viel worden.

Auf dem Grabe der Tochter, Buch der Weisheit 3. V. 1: Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rühret sie an.

Auf dem Grabe des Sohnes, 2 Samuelis 12. V. 23:Ich werde wohl zu ihm fahren. Er kommt aber nicht zu mir.

Mine eignete sich diese Denksprüche zu. Es war ihr Stammbuch, und jedes Grab brachte sie auf das Grab ihrer Mutter. Ost machte sie die Augen dicht zu, um, wie sie sagte, mit ihrer Seele in nähere Bekanntschaft zu treten und zu versuchen, wie es ihr nach dem Tode seyn würde. Zuweilen saß ich schon, so fuhr sie fort, wie ich noch lebte, wenn ich mich sehen wollte; ich machte eine Schlafende, um desto besser über die Fragen: Wo kommst du her? Wo willst du hin? Auskunft zu finden. Ich kehrte mein[248] Auge in mich, und ab von der Welt und von dem, was in der Welt ist. Da ließ ich mich denn nicht aus den Augen; ich konnte mir selbst nicht entlaufen, und welche selige Stunden habe ich auf diese Art zugebracht! Jetzt übe ich mich, auf gleiche Weise zu sterben. – Sie pflegte zu Gretchen, des Pfarrers Tochter, zu sagen: Da war ich über drei Stunden zur Probe todt.

Es war den – –, ein Tag, da sie sehr munter war, und da sie zu Gretchen sich ausließ: Mich dünkt, liebe Freundin, es geht mir, wie dem Könige Hiskias. Ich hörte die Stimme: Beschicke dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben bleiben, und nun geht der Schatten hinter sich zurück, zehn Stufen am Zeiger Ahas, die er war niederwärts gegangen. – Mine wollte nicht für sich, sondern für mich leben. Mine und Grete waren diesen Morgen froh mit einander; allein wahrlich eine kurze Freude! denn Mine und das ganze Haus hatten einen Schreck, der Minen auch den letzten Herzensrest gab.

Um die Sache in ihrem Zusammenhange zu zeigen, müssen wir aus diesen Vorhöfen des Himmels in die arge, böse Welt zurück.

Alle Boten zu Wagen, zu Pferde und zu Fuß, die Herr v. E. ausgesandt hatte, kamen ohne Minen zurück; allein nicht ohne Spuren, welchen Weg sie genommen. Es war völlig klar und deutlich ausgemittelt, daß sie in L – bei ihren Verwandten sich aufhielt. Hermann, wie es sich von selbst versteht, hatte zu dieser Klarheit und Deutlichkeit einen Familienbeitrag geliefert. Er stand als ein Gefängnißwärter, der eine Staatsverbrecherin entfliehen lassen; indessen begegnete ihm Herr v. E., der zu seinen Absichten noch auf Hermann mehr als einen Anschlag in petto hatte, leidlich – das heißt, er schlug ihm nicht vor'n Hals, er spie ihm nicht in's Gesicht, hob seinen Fuß nicht auf wider ihn.

Was ist zu thun? frug Herr v. E. Das ganze Haus, und [249] niemand wußte, was zu thun wäre. Endlich fiel es ihm ein, ein Gutachten von ein Paar Rechtsgelehrten, die ihren Schnitt verstanden, für Geld und gute Worte einzuziehen. Diesen zweien ward noch einer zugesellt, um die Sache von allen Enden zu fassen. Herr v. E. dirigirte. Die preußischen Staaten hat uns der Teufel zur Nachbarschaft zugemessen, sagte Herr v. E. Aus der Hölle ist keine Erlösung, setzte einer von den dreien hinzu.

Das consilium juridicum eröffnete seine Session. Hermann war Beisitzer. – Die Sache mußte in höchster Eile getrieben werden. Einer der Rechtsgelehrten, der, wie er selbst zu bemerken die Ehre hatte, sich in allen Fällen am Kopf zu halten gewohnt sey, schlug vor, an den König selbst zu schreiben. Er ist das in Preußen, was Ew. Hochwohlgeboren auf Ihren Gütern sind, setzte Hermann hinzu. Herr v. E. war, für dieses Compliment in höchsten Gnaden dem Hermann wohl beigethan. Die andern zwei Rechtsgelehrten, die sich nicht so sehr am Kopf zu halten gewohnt waren, brachten ein Anschreiben an die Landesregierung in Königsberg in Vorschlag, mit welcher die curische Regierung in freundnachbarlichem Vernehmen, wie sie nach der Liebe hofften, stünde. Dieses Votum ging durch. Der Thron bleibt uns – sagten sie alle, bis auf den Kopfhalter. – Wenn Ew. Hochwohlgeboren, fing derselbe, oder Herr α (ich will die drei Rechtsgelehrten mit ihrer Erlaubniß α, β, γ nennen), nach einer Weile an, nur innerhalb vierundzwanzig Stunden von ihrer Flucht Nachricht eingezogen –

Wenn, sagte Herr β.

Und wenn, Herr γ.

Der Edelmann hat in Curland das Recht, wenn ihm sein Unterthan entlauft, ihn innerhalb vierundzwanzig Stunden zu nehmen, wo er ihn findet, und Hand an ihn zu legen auf jeglichem Boden. Nach der Zeit wird der Unterthan gerichtlich gefordert, [250] doch wird stehenden Fußes obtorto collo verfahren, und geht's hiebei eins, zwei, drei; wie denn das Recht der Wiederforderung, obschon der Menschen Leben siebzig und, wenn's hoch kommt, achtzig währt, allererst in hundert Jahren verjährt.

Das hochweise Consilium sah Minen als eine Unterthanin des Herrn v. E. an, und niemand fiel ein Wort zum Widerspruch ein. Der Literatus Hermann,pro tempore Assessor, wollte – allein konnt' er? Man disputirte in die Kreuz und die Quere. Herr α, der sich gewöhnlich am Kopfe hielt und der sich das Ansehen gab, als säße er unter einem Baldachin, und einer von seinen Kollegen ihm zur Rechten, und der andere ihm zur Linken, schüttete so viel Gelehrsamkeit über die Rückforderung der Unterthanin aus, daß die Städte bei dieser Gelegenheit übel wegkamen, wie gewöhnlich in Curland.

Herr β nahm sich der Städte an; indessen sah man nach vielen Streifereien in andere, wiewohl mit den gegenwärtigen verschwägerte Materien, wie Herr α sich ausdrückte, ein, daß die Städte in Curland gar nicht zum Gutachten gehörten, indem von Preußen die Rede sey.

Ich besitze eine Abschrift des bei diesem Blutgerichte geführten Protokolls. Herr α brachte, des Kopfes wegen, in Vorschlag, daß das Pro und Contra bei dieser Sache genau verzeichnet werden möchte, und eben dieser Vorschlag des Herrn α würde mich in Stand setzen, eben so ganz, als ich diese Verhandlung empfangen habe, sie meinen Lesern mitzutheilen, wenn das meiste in diesem Protokolle nicht Dinge wären, die ganz und gar keine Beziehung auf den gegenwärtigen Fall haben. Juristische Hobelspäne. – Wozu die kunsterfahrnen Einschaltungen: wie es mit dem Großherzogthum Litthauen und mit Liefland ehemals in dergleichen Angelegenheiten gehalten worden und jetzt gehalten werde? welches der Protokollist alles getreulich und sonder Gefährde mit einverzeichnet. [251] Der gelehrte α hatte ihm befohlen, nichts auf die Erde fallen zu lassen, was sie quirlen und nach Beschaffenheit kochen würden, und dieß war die Ursache, warum der Protokollist ganz fremden, zur Sache nicht zweckenden Materien das Gastrecht in seinem Protokoll angedeihen ließ. Herr – (so hieß der Protokollist) war damals ein junger Mensch, der durch diese Proben wie Gold geläutert und bewährt werden sollte, und ist jetzt – mein Rechtsfreund. – Außer den Protokollen hab' ich viel von ihm mündlich. – Aus allem nur ein Extract.

Es ward ein Gesuch beliebt, kraft dessen Mine als eine Unterthanin vindicirt werden sollte. Auf einmal fiel es dem ganzen Concilio, wie es sagte, zum Glück ein, daß die Sache, ob und in wie weit Mine wirklich Unterthanin sey, sehr leicht zur nähern Untersuchung in Preußen fortgesetzt werden könnte, wenn man sie (und was ist gewisser?) in Preußen über ihren Statum befragen würde. Ei dann, sagte Herr α, ei dann β, ei dann γ, und ei dann der Beisitzer dieses Conciliums, der sich herzlich freute, daß seine Tochter ohne sein Zuthun emancipirt war.

Herr α wünschte, seinen Gedanken, denen er ob periculum in mora Zaum und Gebiß anlegen mußte, freien Lauf lassen zu können. In obscuro libertas praevalet, l. 5. ff. de fideic. libert. und Favor libertatis saepe benigniores sententias exprimit, lib. 32. in f. ff. ad L. Falcid. Er war im Begriff, noch mehr für die Ehre der Freiheit anzuführen, wovon ein rechtskräftiges oder rechtsgestärktes Auge auch selbst im monarchischen und seinem Gränznachbar, im despotischen Staat schöne Ruinen finden würde; allein Herr v. E., als Präsident dieses Collegiums, bat, weil es ein agonisirender Fall wäre, um ein geschwindes Recept – welches Herr β und Herr γ, die dem gelehrten Herrn α nicht gleich thun konnten, auch sehr nothwendig fanden. Der völlige [252] Abschluß war folgendes Gesuch, das in pleno bis auf die letzten Kleinigkeiten ins Unreine und ins Reine gebracht ward:


Durchlauchtigster Herzog!
Gnädigster Fürst und Herr!

Das Ableben meines Vaters legte meiner Mutter, der – v. E., gebornen v. R., die Verbindlichkeit auf, die Sorge für seine beträchtlichen Güter eine geraume Zeit zu übernehmen, denn meine auswärtigen Verbindungen ließen mich nicht eher als jetzt den Wünschen meines Herzens genügen, um mein Vaterland wieder zu sehen, das ich auch selbst auf allen meinen Reisen nicht verlassen hatte. Wie glücklich dünkte ich mich zu erfahren, daß Curland als frei und gerecht weit und breit bekannt ist. Diese großen Eigenschaften meines Vaterlandes nehm' ich bei einem Vorfall in Anspruch, der, so klein er beim ersten Ueberblick erscheint, ins Große übergehen könnte. Meine Mutter, ich muß es ohne Rückhalt gestehen, hatte durch ihre Gelindigkeit die den Gütern Angehörigen von genauer Erfüllung ihrer Pflichten abgebracht, anstatt daß diese meiner Mutter eigene Denkungsart ihr die Herzen aller Unterthanen zuziehen sollte. Besonders gab eine gewisse Wilhelmine – – durch unerträglichen Stolz und Ungehorsam ein so schlechtes Beispiel, daß, da meine Ermahnungen nichts bewirkten, ich ihr drohen mußte. Diese wohlgemeinte Bedrohung, die in den Gränzen der Worte blieb, und gewiß nicht anders als im höchsten Nothfall weiter herausgerückt seyn würde, brachte die besagte Person so sehr aus allen Schranken des Gehorsams und der Verbindlichkeit, daß sie es für gut fand, flüchtigen Fuß zu setzen und ein höchst nachtheiliges Exempel zurückzulassen. Hierbei blieb es nicht, sondern es lehrt die Anlage, daß besagte Wilhelmine noch mehr Pflichten durch eben diesen Austritt verletzt, indem sie diebischer Weise verschiedene Sachen an sich gebracht, welche sie theils verkauft, theils leibhaftig oder in natura mitgenommen.

[253] Das Corpus delicti bei diesem Diebstahl ist wohl ganz unstreitig bewiesen, da wegen der geschehenen Entwendung und der dabei beabsichtigten Gewinnsucht alles entschieden ist; die künftige mit der Läuflingin zu haltende Untersuchung wird die Größe des Diebstahls noch genauer begränzen, indem vorderhand nur ohne alle Nebenrücksichten die Frage seyn kann, ob Wilhelmine – eine Diebin sey? Die Flucht der besagten Person würde dem angeschlossenen Protokoll noch einen Grad der Gewißheit ertheilen, wenn noch mehr Gewißheit erforderlich wäre und die Sache nicht schon an sich da und offen läge. Denn was ist auffallender, als daß Wilhelmine – –, welche wenige Tage, nachdem sie die Sachen verkauft, entsprungen, bloß aus Furcht vor der Strafe sich entfernt, zu diesem Behuf abgelegene Straßen gesucht und den Weg nach Preußen genommen? Der Umstand, daß ihr Begleiter sogar den Martin Jakob Kegler mörderischer Weise ums Leben bringen wollen, erschwert ihr Verbrechen so ungemein, daß man die Tücke des Herzens dieser Unglücklichen im ganzen häßlichen Umfang erblickt. Ein wohlgeführtes Leben ist für die Unschuld ein alles überredender Vertheidigungsgrund, und wenn selbst nach einem viele Jahre her geführten guten Lebenswandel jemand wegen eines Verbrechens in Anspruch genommen wird, ist und bleibt der vorige gute Lebenswandel ein unbezweifelter Linderungsgrund.

Ludovici de praesumt. bonitat.

Wenn aber der Lebenslauf des Bezichtigten wider ihn das Wort nimmt und eine Kette von schlechten Aeußerungen ist, kann da ein An- und Sachwalt eine Vertheidigung, ich will nicht sagen unternehmen, sondern auch selbst wagen? Wilhelmine – – ist eine so boshafte Person, daß sie mit der Besserungsaussicht präcludirt zu seyn scheint. Es sind selbst schwerlich, wenn ich mich hier dieses Ausdruckes bedienen darf, gute Stunden, heitere Abwechslungen, dilucida intervalla, von ihr zu erwarten. Damit [254] ich indessen Ew. Durchlaucht nicht zu beschwerlich werde, so sey es mir erlaubt, meinem eigentlichen Gesuch näher zu treten. Es ist die mehr besagte Wilhelmine – – nach Preußen geflüchtet und hält sich in L – im – schen bei ihren Anverwandten, Namens – –, auf. Ich ersuche also Ew. hochfürstliche Durchlaucht unterthänigst gehorsamst, die preußische Landesregierung zur Noth-und Rechtshülfe zu ersuchen: besagte Wilhelmine – – nach Sicht dieses nachbarlichen Requisitorialausschreibens dingfest zu machen und unter Bedeckung bis an die Gränzstadt Memel gefälligst auszuliefern, wo ich sie entgegenzunehmen und wegen des Gewahrsams die erforderlichen Einrichtungen zu treffen nicht ermangeln werde.

Dieses Gesuch bedarf keiner Unterstützung in Rücksicht der preußischen Regierung, denn obgleich, wie es die Archive nachweisen, in altern Zeiten Bauernforderungen zwischen Preußen und Curland vorgefallen, so ist doch nach der Zeit keine Nachfrage weiter deßhalb vorgefallen. Der curische Landtagsabschied von 1624 setzt im §. 23 fest: »Wir wollen auch alle fremden Bauern ausantworten, welches eine edle Ritter- und Landschaft ebenmäßig zu thun verbunden, ausgenommen welche über dreißig Jahre nicht abgefordert und verjähret worden,« und so wie ich Ew. Durchlaucht tiefunterthänigst anflehe, diese Stelle mit der Urschrift gegeneinanderhalten und als stimmig vergewissern und attestiren zu lassen, so werden Ew. Durchlaucht auch der königlichen Landesregierung in Königsberg die Versicherung, wenn sie erforderlich wäre, ertheilen, daß nach diesem Abschiede verfahren und vorzüglich die preußischen Läufer ohne Anstand ausgeliefert worden, wovon sowohl der Stadt Memel als dem königlichen Amte Althof-Memel Beispiele bekannt seyn werden. Die Seltenheit der Fälle entscheidet nichts zu meinem und zu Curlands Nachtheil, denn die preußischen Gränzen sind besetzt und so geschlossen, daß selten ein Läufling sich durchzudringen Gelegenheit findet.

[255] Wenn diese Auslieferung indessen schon bei Bauern von curischer Seite beobachtet wird, so werd' ich um so mehr bei einer Diebin, Störerin allgemeinen Ruhe, ja selbst einer Mordanführerin auf diese Rechtshülfe Anspruch machen können.

Es ist eine Sache der Menschheit, dergleichen Verbrechen zu strafen, und ohne mich in einen Streit einzulassen, was für ein forum das vorzüglichste sey, ob das des delicti, des domicilii oder deprehensionis, so ist wohl offenbar, daß Preußen keines von allen dreien ist, sondern allererst durch das Angesuch Ew. Durchlaucht bewogen wird, die Wilhelmine – – dingfest zu machen, so daß also diese Deprehension Namens Ew. Durchlaucht geschieht; und was ist wohl angemessener, als da das Verbrechen zu untersuchen, wo es vollbracht worden? Hier bieten alle Umstände dem Inquirenten die Hand, und würde man nicht selbst dem Endzweck der Strafe entgegenhandeln, wenn man an einem mit dem Verbrechen unbekannten Orte die Strafe vollziehen wollte? Bei diesen sehr auffallenden und in gesitteten Staaten allgemein beliebten Grundsätzen bin ich der Erhörung meines Gesuchs gewiß und könnte mit der vollkommensten Zuversicht schließen, wenn ich nicht noch unterthänigst gehorsamst bemerken müßte, wie außer den bezeichneten Lastern, die der Wilhelmine – – natürlich geworden, die Liebe zu Unrichtigkeiten mit gehört, welche ohnehin beständig, sowie mit allen Lastern, so vorzüglich mit der Dieberei in Gesellschaft zu treten pflegt. Wenn also ein Verhör mit ihr veranlaßt werden sollte, so würde ihre Verschlagenheit, die alle Gestalten sich zuzueignen versteht, der Sache ganz andere Wendungen beilegen. Dieses zwingt mich zu einer Beischrift meines unterthänigen Gesuchs: die königlich preußische Landesregierung zu requiriren, die Wilhelmine – – ohne alle Weitläufigkeiten einzuziehen und zu transportiren.

Der Einfluß, den dieser ins Publikum dringende Vorfall auf [256] meine Güter hat, ist unaussprechlich, und kann nur dadurch den Fremden, die unsere Landesart nicht kennen, begreiflich gemacht werden, daß die Letten, so wie alle begränzte, eingeschränkte Menschen, mehr nach Exempeln als nach Grundsätzen leben.

Damit allendlich wegen der Person der Wilhelmine – – keine Irrung entstehe, ist selbige in Absicht ihres Körpers das Gegentheil von dem, was man gewöhnlich nennt, ihr Wuchs selbst ist zwei Finger breit über das Gewöhnliche, den gang und gäben Weiberwuchs. Sie hat nichts Kleinigliches und nichts Kindisches, sondern gränzt aus Männliche, allein es ist demungeachtet nichts männlich an ihr. – Sie ist schlank, sehr gesund, roth und weiß, hat schwarzes Tint-, allein nicht Zigeunerhaar, große, stimmige, schwarze Augen, wo aber nichts Gutes wohnt. In der Mundgegend, die Zähne nicht ausgenommen, liegt Spott und Hohn. Ihre Sprache ist klingend, ihr Gang kräftig und entschieden. Sie sieht mehrentheils aus, als ob sie Kreuz trüge; allein sie ist eine Heuchlerin und Spitzbübin von Haus aus.

Die mir durch die Willfahrung meines auf Gleich und Recht sich gründenden Gesuchs zu erzeigende landesväterliche Huld, Gnade und Gerechtigkeit werd' ich lebenslang verehren, und niemals aufhören, mit so viel Ehrfurcht als Treue zu seyn

Ew. hochfürstlichen Durchlaucht

unterthänigst gehorsamster

v. E.

Actum – – den – –

Des Herrn v. E. auf – – Hochwohlgeboren erklären, wie sehr entfernt Sie wären, gleich bei dem Antritt der väterlichen Erbgüter auch nur durch eine anscheinende Härte sich die Zuneigung und Liebe Ihrer Unterthanen zu entziehen, und stellen den leiblichen Vater der entlaufenen Wilhelmine – – vor Gericht, um wegen ihrer strafbaren Aufführung gewissenhafte Anzeige zu thun.

[257] Es wird bemerkt, daß man den Vater, der Gewohnheit gemäß, zu seiner Anfrage rechtlich vorbereiten und mit einem Eide belegen wollen. Der Herr v. E. indessen bittet bei dieser Gelegenheit, den so betrübten Vater, insoweit es rechtlich bestehen könnte, zu schonen. Soviel fällt sehr auf, daß ein leiblicher Vater das Verbrechen der Tochter nicht vergrößern werde, und würde also nur bloß zu besorgen seyn, daß er aus väterlicher Neigung vielleicht zu wenig anbringen und der Sache einen Anstrich zuwenden dürfte. In dieser Rücksicht wird dem Publiko sein Recht bei der künftigen nähern, hier mit der Wilhelmine – – anzustellenden Untersuchung ausdrücklich vorbehalten und der höchst betrübte Vater vorgelassen.

Er heißt – – –, ist achtundfünfzig Jahre alt, lutherischer Religion. Der gegenwärtige Fall drückt ihn so schwer, daß er nicht aus noch ein weiß. Seine Tochter Wilhelmine – – hat von Jugend an einen Trieb zur Widerspenstigkeit geäußert, und sowohl ihm als seiner verstorbenen Ehegattin viele betrübte Tage zugezogen. Ihr Wortauffang, ihre Spitzfindigkeit, ihre Griffe und Hinterhalte konnten einem gutgesinnten Vater freilich keine Freude machen, wozu die Ungerathene es auch nie anlegte. Nach dem Tode seiner Ehegattin äußerte sie den Trieb zur Unregelmäßigkeit noch näher, vorzüglich empörte sie sich wider eine Heirath, die er zu unternehmen mit Hülfe Gottes entschlossen. Diese und andere Umstände hatten den Comparenten nothgedrungen sie im Hofe zu – – anzubringen, wo sie, anstatt sich die gnädige Zuneigung der hochwohlgeborenen Herrschaft zu erwerben, sich auf eine strafbare Art führte. Ich habe nicht verfehlt, sie väterlich zu ermahnen, so vielen unverdienten gnädigen Gesinnungen nicht entgegen zu seyn, bemerkte der Vater (um seine eigenen Worte beizubehalten), allein diese Zusprache wollte nicht Platz greifen. Güte wiegelte sie noch mehr auf, bis sie, dem zurechtbeständigen Contract zuwider, der mit [258] der hochwohlgeborenen Gutsherrschaft verabredet, getroffen und geschlossen ist, das Weite suchte, nachdem sie vorher ihre Hände nach unrechtem Gute ausgestreckt und verschiedene Sachen und Baarschaft, Geld und Geldeswerth diebischer Weise mitgenommen.

Comparent zeigt ein Verzeichniß vor und verbindet sich, solches bei der künftig wider seine Tochter zu eröffnenden Untersuchung zu den Akten zu legen.


* * *


Es wird dem Comparenten aufgegeben abzutreten, allein vo dem Abschluß des gegenwärtigen Verhörs sich nicht zu entfernen.

Das Verzeichniß der entwandten Sachen bleibt in richterlichen Händen, um davon bei diesem Verhör Gebrauch zu machen.


* * *


Ob es gleich aus dieser väterlichen Anzeige schon vollständig erhellt, daß mehr besagte Wilhelmine

a) als eine Dienstpflichtige, sich selbst zur wohlverdienten Strafe und andern zum schreckenden Beispiel, dingfest zu machen, nicht minder, daß Wilhelmine

b) unstreitig als eine Diebin zu nehmen, die nicht als eine ausgetretene Person etwa bloß der Dieberei bezichtigt worden, sondern deren Diebstahl völlig am Tage ist, so sind doch, um die Sache noch mehr zu ergründen, einige Zeugen wegen der Dienstflicht der Wilhelmine – – und ihrer Dieberei vernommen.

Des Herrn v. E. Hochwohlgeboren benahmen eine lange Reihe von dergleichen Zeugen, wovon aber nur einige zum Verhör vorgelassen werden. Der erste unter diesen Ausgewählten ist: Johann Peter Beifuß, von welchem, nachdem er wohl ermahnt worden, die reine Wahrheit zu sagen, folgendes vorschriftsmäßig zum voraus bemerkt wird: Er heißt Johann Peter Beifuß, ist ein Deutscher, und steht in Diensten Sr. Hochwohlgeboren des [259] Herrn v. E. Sein Alter ist siebenunddreißig Jahre und seine Religion die lutherische. Zur Sache.

Wilhelmine – – hat ihrer Geburt nach nichts Solideres erwarten können, als die Lage, in welche sie ihr Vater gebracht; indessen war ihr störrisches Betragen so unausstehlich, daß wohl sonst schwerlich jemand anders, als eine so gut denkende gnädige Herrschaft so nachgebend seyn könne. Man gab, so vieler Hintergehung unerachtet, nicht alle Hoffnung auf, sie auf den rechten Weg zurückzulenken, dem aber die Läuferin bei aller Gelegenheit auswich. Von ihren ersten Lebensjahren ist dem Zeugen zwar nichts Genaues bewußt, indessen war Wilhelmine – – als eine dem Stolz und Eigensinn ergebene Person jederzeit bekannt, die Flitterstaat und Frechheit liebte; wie denn bei dem unerwarteten Tode ihrer Mutter die Rede gefallen, daß sie selbige ins Grab geärgert. Comparent besinnt sich sehr genau, wie Wilhelmine – – bei dem Begräbniß ihrer Mutter so leichtsinnig gewesen, daß sie, anstatt ihre Augen auf den Sarg zu heften, mit selbigen herumgeschweift und flankirt, auch solche zum allgemeinen Aergerniß einem jungen Menschen zugebracht, mit dem sie einen unanständigen Verkehr getrieben. Comparent steht an, diesen jungen Menschen zu nennen, obgleich die Sache an sich jedermann, Jung und Alt bekannt seyn soll. Die Steine würden schreien, fügte er hinzu, wenn nicht jedermann, Jung und Alt, in – –, wo die Läuflingin zu Hause gehört, reden sollte. Ich selbst, fährt er fort, bin ein Augen-und Ohrenzeuge gewesen, wie Wilhelmine – – den gnädigen Ermahnungen des Herrn v. E. Hochwohlgeboren widerstand, die doch nichts als ihr wahres Heil bezweckten.

Mit ihrem leiblichen Vater lebte diese heillose Wilhelmine – – in einer ärgerlichen Feindschaft. Der ehrliche Mann, der auch am besten weiß, wo ihn der Schuh drückt, wollte zur zweiten Heirath schreiten, allein Mine vertrat ihm den Weg; das machte [260] in der ganzen Gemeinde gwaltiges Aufsehen, indessen ging es ihr vor genossen aus, und sie kam jetzt und immer ungeschlagen davon.

So viel weiß Zeuge gewiß, daß die Ermahnungen des Herrn v. E. Hochwohlgeboren an die Entwichene von keiner Härte begleitet gewesen, und daß der Zwang sie vielleicht weit eher in das Verhältniß gebracht haben würde. Sie hätt' einem jeden als eine solche geschienen, die fühlen müßte, weil sie nicht hören wollte. Ihr Beispiel hat sogar viele von ihrem Gelichter zu einem gleichen Aufruhr gegen die Wohlmeinung des Herrn v. E. Hochwohlgeboren gelenkt, der nur eben die Güter angetreten und die Liebe selbst wäre.

Sonst sey die Flüchtlingin nicht uneben, wende aber sowohl Geistes- als Leibesgaben nicht zum Nutzen des Nächsten an, wie aus dem Obigen sich ergeben würde.

Nichts sey zuverlässiger, als der Diebstahl, oder die Diebstähle, denn schwerlich könnte die Läuflingin aus einmal so viel entwendet haben. Wer weiß es nicht, fährt Comparent fort, daß sie im Dorfe viele gestohlene Sachen versilbert und daß sie eine Menge Sachen in Päcken mitgenommen? Den eigentlichen Werth des Diebstahls kann Comparent zwar nicht abwiegen, indessen glaubt er, daß, ohne viele Stücke nach dem Lieblingswerth zu würdigen, der Diebstahl wohl einhundert Reichsthaler Albertus wiegen und betragen könnte. Comparent bedient sich des Ausdrucks, da er die Verschlagenheit der Wilhelmine – – und ihre Verkleisterungs- und Verflechtungskunst beschreiben will, sie sey verstandflink und versichert, daß sie sich in einen Engel des Lichts lügen und ausstaffiren könnte, welches zur Steuer der Wahrheit mit verzeichnet wird. Auf die Frage: ob und in wie weit Comparent Leute namhaft zu machen wüßte, denen Wilhelmine – – Sachen verkauft? erwiederte er: Ich kann viele nennen.

Die Amtmännin – – und die Schwester dieser Amtmännin, [261] ein noch unverheirathetes Mädchen, fallen ihm urplötzlich ein. Es ist so gewiß, als irgend etwas seyn kann und als meine Aussage ist, sagt Comparent, daß Wilhelmine – – längstens Handel und Wandel getrieben; wo war' auch ihr Prunk hergekommen, wenn es nicht unrichtig zugegangen wäre? Es wird dem Comparenten wörtlich seine Aussage vorgehalten, welche er in allen Punkten sich zueignet. Von den Umständen der Flucht weiß Beifuß nichts Zuverlässiges; indessen gibt er an, wie Kegler hiervon vollständig unterrichtet sey, indem er ihr auf Hochwohlgebornen Befehl nachgesetzt, und überläßt es der Erkenntniß, ob und in wie weit dieser Martin Jakob Kegler noch zum Verhör zu ziehen seyn werde?

Martin Jakob Kegler wird vorgefordert, wohl ermahnt, die reine, klare Wahrheit auszusagen und solche nicht zu lassen, um Liebe ober Leid, um Freundschaft oder Feindschaft, um Geschenk oder Gabe und um keinerlei Ursache willen. Vorläufig wird bemerkt, daß Comparent Martin Jakob Kegler heiße, im Hofe wird er Jakob genannt. Er ist im Dienste Gr. Hochwohlgeboren des Herrn v. E. Seine Religion ist die lutherische. Alt ist er fünfundzwanzig Jahre. In Rücksicht der Sache selbst stimmt er in seinen Aussagen mit dem Beifuß pünktlich, außer daß er wegen der Flucht der Wilhelmine – – noch folgende Umstände nachträgt:

Es ward ihm aufgegeben, die Flüchtlingin einzuholen, nachdem ihre Flucht und ihr großer Diebstahl zu jedermanns Wissenschaft drang. Nach einigen fruchtlosen Bemühungen war er wirklich so glücklich, sie auf der Flucht zu erspüren und zu bezirken, da indessen sein Auftrag sich nicht weiter erstreckte, als die Läuflingin gütlich zur Rückkehr zu bequemen, blieb er bei der Verfolgung dieser Läuflingin unbewaffnet. Sobald er sie traf, machte sie einen Schrei, welcher ihm zwar sehr auffiel, indessen hätt' er sich eher den Tod, wie er bemerkt, als die Folge vorgestellt, welche dieser Schrei wirklich gehabt; denn es war ein Hülfs-und Nothzeichen, und sogleich [262] stürzte eine starke Mannsperson auf ihn zu, mit einem Messer, mit welchem er den Comparenten nicht etwa bedrohte, sondern er stürmte los auf ihn, und würd' ihm auch wirklich auf der Stelle das Leben genommen haben, wenn er sich nicht zu retten gesucht hätte. Wilhelmine – – forderte diesen Mörder mit Geberden und Worten auf, setzte Comparent hinzu, mich zu verfolgen, indessen war mein Pferd aller dieser Bemühung überlegen. Dieser unglückliche Vorfall brachte den Comparenten nicht ab, der Flüchtlingin nachzusetzen, vielmehr sprengte er ins nächste Dorf, um sich zu verstärken. Er hatte Mühe, wegen der Feldarbeit, ein paar Männer für Geld und gute Worte zu Stande zu bringen. Er ritt mit zwei herzhaften Begleitern – wir alle drei, wie die Bären, sagte er, allein Wilhelmine und der Mörder (anders kann ich ihn nicht nennen) waren nicht aufzufinden – ihre Stätte war nicht mehr. – Wir ritten in die Kreuz und Quere, bis in die sinkende Nacht hinein. Auf die Frage: in welchem Verhältniß Comparent den Mörder gegen Wilhelminen gefunden, und was sich eins gegen das andere angemaßt? erwiederte er, um seine eigenen Worte beizubehalten: Ich halte diesen Kerl für nichts weniger als ihren Liebhaber, wohl aber für einen, den der Liebhaber gedungen haben könne, ihr sicher Geleit zu geben. Unfehlbar schlief Mine, da ich sie entdeckte, und schon die Entfernung des Mörders bei dieser Gelegenheit beweist meine Meinung.

Ob Wilhelmine zu Wagen, zu Pferde oder zu Fuße gewesen, weiß Comparent nicht anzugeben, der sehr bedauert, daß Se. Hochwohlgeboren ihm, dieses Vorfalls wegen, einen großen Theil des vorigen gnädigen Zutrauens entzogen, so daß ihm, wenn selbst er ein Schuldgenosse, Mitgehülfe und Theilhaber von dieser Läuflingin gewesen, nicht ungnädiger begegnet werden könnte, indem Güte und Wohlwollen die Hauptzüge an Sr. Hochwohlgeboren waren. Seine, des Comparenten, Wünsche, die er mit gefalteten [263] Händen thut, gehen dahin, daß Wilhelmine – – als eine Landstreicherin, Diebin und Mordbefehlshaberin dingfest gemacht und zur Bestrafung eingeliefert werden möchte, und daß alsdann nicht Gnade für Recht ginge, wie er aber, nach der Milde Gr. Hochwohlgeboren, nach vielen belebten Datis, befürchten müßte.

Nachdem dem Comparenten seine Aussage wörtlich vorgelesen worden und er ihr in alle Wege beigestimmt, ward er abgelassen.

Bei der kleinsten Nachfrage findet sich vor, daß Wilhelmine – – weit und breit gestohlene Sachen verkauft. Um die Akten nicht ohne Noch zu häufen, schränkt man sich auf die laudirte Amtmännin und ihre Schwester ein, welche bei allen Anstrichen und Bemäntelungen, die sie der Sache zuwenden, jedoch so viel unverdreht eingestehen, daß sie Wäsche und Kleider wenige Tage vorher, da Wilhelmine entsprungen, gekauft. Sie versichern, daß sie auf keinen bösen Gedanken verfallen, da Wilhelmine – – schon sonst Kopfputz und andere Stücke ihnen käuflich überlassen. Dießmal, sagt die Amtmännin, war das erstemal, daß sie nicht unmittelbar mit uns handelte, sonst geschah es nie durch die dritte Hand, sondern vor aller Welt, Augen und Ohren und allen andern Sinnen. – Dießmal war das erstemal, daß die Sachen unter der Vorspiegelung zu uns gebracht wurden, die Person, welcher diese Stücke als Eigenthümerin zustünden, sey in Geldverlegenheit und nothgedrungen, hieß und das auszustoßen. Beide, sowohl die Amtmännin als ihre Schwester, bekennen, aus vielen Umständen bemerkt zu haben, daß Wilhelmine – – bei diesem Verkauf unter der Decke spiele, gewiß aber, fügen sie hinzu, wußten wir's nicht. Sie bitten inständigst es zu vergünstigen, daß sie diese Sachen, da sie solche nicht unter dem Werth berichtigt, behalten und nicht auszuantworten mögen angewiesen werden.

Nebenumstände findet man nicht nöthig diesem Protokoll einzuverleiben, [264] welche diese beiden letzten Personen, nämlich die Amtmännin und ihre Schwester, eingestreut.

Alle Brödlinge des Herrn v. E. Hochwohlgeboren treten den Aussagen des leiblichen Vaters der Läuflingin bei und bekunden, daß diese Wilhelmine – – ein verhärtetes, verdorbenes Herz besitze, und sich durch die gnädigsten Verheißungen der hochwohlgebornen Gutsherrschaft, sie auszustatten und den Kranz zu bezahlen, nicht auf andere Wege lenken lassen; wie sie denn geflissentlich, vorsätzlich und arglistig Zwistigkeiten, Irrungen und Verschiedenheiten erregt, die klarsten Dinge verflochten und verdreht. Mit diesen Gesinnungen vereinbarte sie auch obenein die verteufelte Schadenfreude, so daß um die Sache kurz zu fassen, diese Person, welche schnöde zu handeln sich zur Gewohnheit gemacht und, ihres Blendwerks von Gesicht unerachtet, den Satan im Herzen gehabt, Untersuchung und Bestrafung verdient Es strahlt aus vielen Umständen hervor, wenn es gleich nicht durch äußere Kundgebung an den Tag gelegt worden, daß Wilhelmine – –, falls sie nicht anders ihre Absichten erreichen können, sich aus einemMordmesser kein Gewissen gemacht haben würde.

Der Vater der Unglücklichen ward noch vor dem Abschluß dieses Protokolls vorgelassen, welcher vor Wehmuth sich nicht zu bergen weiß. Da ihm indessen von Sr. Hochwohlgeboren, seinem gnädigen Gönner, ein Wort des Trostes verehrt wird, so beruhigt er sich in der Hoffnung, daß, da er sehr leicht selbst in seinem guten Ruf durch diesen Vorfall leiden könnte, allererst die künftige auszuübende Strafe an seiner entlaufenen Wilhelmine Vater und Tochter unterscheiden, und ihn in die Achtung des hochwohlgebornen Publikums zurücksetzen würde, die von jeher der Gesichtspunkt seiner Handlungen gewesen. Um diesen bedrängten Vater nicht noch mehr in die Enge zu bringen, hat man ihm viele Stellen aus diesem Verhör verschwiegen, und dieses Protokoll, in so weit es seine Aussage [265] enthält, von ihm in fidem unterzeichnen lassen. Actum ut supra.


Namen des Justizbeamten –
Namen des Herrn v. E.
Namen des Hermann –

Ist's möglich! – Mehr als diesen Ausruf kann ich nicht. Ist's möglich!

Nichts ist mir von jeher herzzerschneidender gewesen, als wenn die Bosheit ihre Lügen mit ein wenig Wahrheit salzt und würzt und sie dann auftischt, und wie war euch zu Muthe, ihr edlen Leserinnen, da Johann Peter Beifuß Minen einen Muttermord, eine Grabesschänderei anrügt? – Und wie, da er unsere engelreine Liebe schändet und lästert, wie, edle Seelen? Eine Lüge ist schändlich, allein sie ist es um die Hälfte weniger, wenn nichts von Wahrheit eingemischt ist. – Das ist ein ehrlicher Lügner, der so lügt! Und fast wollt' ich behaupten, daß solch ein rechtschaffener Lügner nicht vom Vater, dem Teufel, in gerader Linie abstamme! Allein der Teufel selbst, der ein Schild der Wahrheit aushängt, um desto besser Mord und Todtschlag im Hinterhalt zu verstecken – solch ein Giftmischer, solch ein Hostienverfälscher von Lügner, welch ein Scheusal!

Verzeiht, Leser, ich bin ein Mensch und Mine ist ein Engel! – Die Regierung in Mitau fand nichts unbilliges in dem Gesuch des Herrn v. E., das von den Herren α, β, γ mit einem gerichtlichen Verhör ausgestattet ward, und das Requisitorialschreiben an die preußische Landesregierung ward ohne Anstand bewilligt. Ich könnt' es wörtlich mittheilen, allein warum? Hier ist die treffende Stelle:

Ew. Ew. Excellenzen werden sich aus diesen Umständen überzeugen, aus was für Gründen wir das unterthänigst gehorsamste Gesuch des hochwohlgebornen v. E. verstattet, und da der ausführliche [266] Vortrag der Sache, welcher durch gerichtliche Verhöre bestärkt worden, uns der Pflicht überhebt, noch nähere Aufschlüsse beizufügen, so begnügen wir uns, die ausdrückliche Versicherung zu ertheilen, daß von Seiten dieser Herzogtümer in gleichen Fällen eine gleiche Gerechtigkeit bewiesen werden soll. Der Verlust dieser an sich unbedeutenden Person kann den hochwohlgebornen v. E. freilich nicht bestimmen, die nach Preußen verlaufene Wilhelmine – – wieder zurückzusuchen, allein die Folgen sind zu bedeutend, die dieser Vorfall, wenn er nicht eingelenkt würde, dem hochwohlgebornen v. E. und der ganzen Gegend zuziehen dürfte. So wie aus dem gleichmäßig in der Anlage bis zur Vollständigkeit gebrachten Gründen sich ergeben wird, warum der hochwohlgeborne v. E. alle Untersuchung in Preußen verbeten, so treten wir des Endes, so wie in allem, so auch in Rücksicht dieses Theils seines Gesuchs, ihm bei, und sehen überhaupt der geneigtesten Erfüllung dieser unserer Wünsche um so zuversichtlicher entgegen, als Ew. Ew. Excellenzen uns jederzeit von einer so großen Gerechtigkeitsliebe, als nachbarlichen Gefälligkeit, beweisende Proben gegeben. Wir verharren mit vollkommener Hochachtung

Ew. Ew. Excellenzen
ergebenste Diener
Mitau, den – – ergebenste Oberburggraf.
17 – ergebenste Canzler.
ergebenste Landhofmeister.
ergebenste Landmarschall.

Die Antwort der preußischen Regierung:

Hochwohlgeborne,

insonders hochgeehrte Herren!


E. Hochfürstl. Herzogl. Curländischen Regierung erwiedern wir auf das gefällige Anschreiben vom – – 17 –, wie wir sogleich den erforderlichen Auftrag an die Behörde erlassen, die aus Curland [267] entlaufene Wilhelmine – – über die im Angesuch des Curischen von Adel v. E. enthaltene Umstände, durch welche ein gerichtliches Protokoll bekräftigt worden, vorschriftsmäßig zu vernehmen und nach diesem Verhör wegen ihres Arrestes die nöthigen Verfügungen, die wir ihm auf alle Fälle zugemessen, werkthätig zu machen, weil wir, ohne ein mit dieser Person gehaltenes Verhör, uns in der Sache entscheidend zu erklären außer Stand sind. Wir haben die Ehre mit vollkommener Hochachtung zu seyn

E. Löblichen Herzogl. Curländischen Regierung

freund- und dienstwillige
N.N.N.

Zu gleicher Zeit ein Auftrag an das – – Collegium, Minen durch einen Deputatus zu vernehmen und, wenn sich die Umstände protokollgemäß und nach dem curischen Anschreiben verhielten, sie sogleich dingfest zu machen, und zu dem Ende dem zu ernennenden Commissarius zugleich ein Gesuch an die nächste Garnison mitzugeben, um davon, wenn die Läuflingin gefänglich eingezogen werden sollte, einen augenblicklichen Gebrauch machen zu können. Sollt' indessen Mine Milderungs- oder gar Aufhebungsumstände für sich anführen, oder auch nur die wider sie angebrachte Klage zu entkräften vermögend seyn, so könnte sie zwar nicht in feste Hand genommen und in engere Verwahrung gebracht werden, indessen schienen so viel Umstände wider sie einzutreten, daß, wenn gleich dieser Kummer nicht nachgeblich wäre, dennoch eine genaue Aufsicht ihrer Person, oder wenigstens eine hinreichende Kaution anzuordnen seyn würde. Von allen diesen Vorgängen sollt' ein so schleuniger als genauer Bericht erstattet werden.

Das Rückschreiben der preußischen Regierung fand in Mitau keinen, am wenigsten den vollwichtigen Beifall, und da es dem Hochwohlgebornen v. E. in Abschrift zugefertigt ward, ließ er sogleich, wiePharao, da er von den sieben fetten und sieben [268] magern Jahren geträumt, den hohen Rath der Träume-und Zeichendeuter α, β, γ, zu sich kommen, und anstatt der ersten Frage:

Was ist zu thun?

fragten Se. Hochwohlgeboren:

Was nun?

und schienen nicht undeutlich zu verstehen zu geben, daß bei allen bewiesenen Merkzeichen der Einsicht und Geschicklichkeit die Herren α, β, γ kein Glück hätten. Jeder der Herren α, β, γ behauptete, daß er von Glück sagen könnte, und schrieb alles flugs auf die Rechnung der preußischen Staaten, die der Teufel ihnen zur Nachbarschaft zugewiesen hätte. Hab' ich nicht gesagt, fing Herr β an: aus der Hölle ist keine Erlösung! Mit Ihrer Erlaubniß, Herr College, erwiederte Herr α, aus der Hölle nicht, wohl aber aus dem Fegfeuer. Wenn man, fuhr dieser Kopfhalter fort, auf meine unvorgreifliche Meinung, an den König selbst zu gehen, stimmige Rücksicht genommen, die Sache wär' in einer andern Lage. Ich lasse meinen Kopf in einer andern – vielleicht in einer gefährlicheren, bemerkte Herr v. E. und jeder, selbst Herr α, trat ihm bei mit einem Vielleicht!

Wenn ein Bollwerk erklettert werden soll, muß eins da seyn, und dieß suchten die Herren α, β, γ, in der größten Geschwindigkeit zu schütten und zu häufen.

Man that, ohne auf die gegebene Frage! Was nun? das Auge zu richten, wie gewöhnlich verschiedene Ausfälle, und hatte dagegen Einfälle, bis der Herr v. E. die in der Irre gehenden Rechtsgelehrten zusammenrief und festhielt. Was nun? fragte jeder. Herr v. E. wollt' an der Abschrift des königsbergischen Rückschreibens ein Exempel statuiren und sich daran vergreifen; indessen ließ er sich bedeuten und sah zu rechter Zeit ein, daß es nur Papier und, was noch mehr war, eine curische Abschrift sey. – Endlich und endlich war noch ein erneuertes und geschärftes[269] Anschreiben nach Königsberg verabredet, geschlossen und getroffen. Hier und da bitter und hier und da wieder süß. Ländlich, sittlich, sagte Herr β. Es ist nicht so ganz ohne, daß man Wilhelmine – zuvor verhört. Audiatur et altera pars, und wenn, setzte er hinzu, und wenn Preußen alle seine Unterthanen reklamiren sollte, was meinen Sie, meine Gönner und meine Herren, wer würde mehr verlieren, Curland an Wilhelminen, oder wir an so vielen würdigen Präpositis, Pastoren, Aerzten und Rechtsgelehrten? Bei dem letzten Worte ließ er die Stimme fallen, und man besann sich, daß Herr Collega β aus Preußen wäre – welches so ganz dreist heraus zu behaupten, er unfehlbar außerhalb der Jahreszeit hielt, da Herr v. E. so sehr gerüstet schien, sich an allem, was preußisch war, zu vergreifen und ein Exempel zu statuiren. Herrα nannte diese Zurückhaltung, um zu zeigen, daß er durch das preußische Rückschreiben nicht kopfscheu geworden wäre: wie eine Katze um den heißen Brei gehen. Er sah den Herrn β steif und fest an, und man merkte, daß er seinen Einwand aus dem Grunde widerlegen wollte. Schon recht, sagte Herr α, allein Preußen hat noch keinen Präpositus, Pastor, Arzt und Rechtsgelehrten, unter denen ich einen guten Freund habe, den wir alle kennen, gefordert; wir aber fordern Wilhelminen. – Was das Fordern anbetrifft, wollte Herr β fortfahren, indessen schlug Herr α vor, das Wiederholungsschreiben noch einmal vorzulesen und punktatim zu beprüfen. Es ward also eine Zugabe festgesetzt, daß es nach drei Wochen allererst abgelassen und, falls in dieser Zeit eine Definitivantwort aus Preußen käme, nach Bewandtniß derselben mit diesem Entwurf verfahren werden sollte.

Diese Erzählung ist wieder ein Auszug aus genau geführten Protokollen und den mündlichen Zusätzen des Herrn – –, der eben jetzo bei mir ist, und nie, wie er sagt, an diese Erstlinge seiner rechtlichen Arbeiten zurückdenken kann, ohne daß ihn ein [270] Herzensfieber, Kälte und Hitze ergreift; es ist ein guter Mann und kein α, β und γ, obgleich er beim α das Handwerk erlernt hat.

Eine Einschaltung, die freilich zu diesem Rechtskram wunderlich abstechen wird. – Eine Eule unter den Krähen.

Herr v. E., das zeigt freilich sein Krieg und Kriegsgeschrei – fand für gut, Minen zu lieben, und alles, was ich thue, wie er es dem Vater Hermann (bald hätt' ich: dem Vater, dem Teufel geschrieben) sagte, geschieht aus lichterloher Liebe. Dieser Bösewicht sprach das Wort Liebe, so wie die Teufel den lieben Gott aus, und fand für gut, Minen zu lieben – ein Teufel einen Engel!

Sie, nur sie! Alles, was ich bisher geliebt habe, ist Staub, Erde und Asche! schrie er. Ich vergaß alles, was ich je von Mutterleib an geliebt habe, seitdem ich sie sah, sie hörte und ihre Hand drückte; so sehr liebt' ich sie, so rein! – Sie schwebt mir vor Seel' und Sinn! Sie, nur sie! nur sie! rief er einmal über das andere und küßte den Hermann, der nicht wußte, wie geschwind er die hochwohlgeborne Hand erhaschen sollte, um ihr diesen Kuß ganz warm wieder abzuge ben – bald jagte er den Hermann zu allen Teufeln und sah ihn als den Räuber dieses Kleinods an.

Dann wieder wie in Gedanken, wie vor sich. Wenn ich denke: sie in Preußen, im Soldatenlande! o dann ist mir, als wenn ich Gift eingenommen hätte, und hab' ich's nicht? Es wüthet in meinem Eingeweide, es schneidet in mir! Ist denn kein Gegengift? Da lieg' ich, ein abgerissener Ast, der von seinem Baum getrennt ist und welkt; wahrlich, ich welke! Herr, schrie er auf zu Herrmann, nicht wahr, ich welke?

Hermann, jubelfroh, daß er auf keine kategorische Antwort bestand, bückte sich bis auf die Erde.

Sie hätte was aus mir gemacht! Sie hätte gemacht, daß ich den Testamentsnickel geliebt hätte. Minen zu Gefallen hätt' ich [271] es, und was hätt' ich nicht alles, ihr zu Gefallen – ihrer Liebe zu Gefallen! Hin ist sie – hin! hin! und Satanas weiß, welch ein Glücklicher auf mein Fundament baut. (Ich fiel dem Herrn v. E. ein.) Ich bin eifersüchtig, schrie er wieder, zum Rasendwerden! Die blaue Farbe, wo ich sie sehe, martert mich, denn – – war blau gekleidet. – Auf die Art, Hut und Haarlocken und Stiefel zu tragen, und auf alles, was sein war, bin ich gallenbitterböse!

Was ich geschrieben habe, das hab' ich geschrieben, was ich habe schreiben lassen, das hab' ich schreiben lassen. – Bin ich nicht mehr, viel mehr gefangen, wie sie? Ich, ich sitz' im Käfig! – laßt mir die Freude, in die Stangen des Käfigs zu beißen. – Wenn jedwede ein und einzige Liebe, Adam- und Evasliebe, solche Leiden macht, so sind es Einfälle von Milzsüchtigen, eine einzige Liebe. Wer kann so lieben und leben?

Sonst war mein Stolz, in der Liebe wetterwendisch zu seyn. Diese Grundsätze haben sich verlaufen, und das erschreckliche Gericht der Beständigkeit ist über mich eröffnet. Weh' mir, daß ich beständig bin! weh', weh' mir, daß ich es bin! – Vergib mir dieseWeh's, liebe Mine, vergib sie mir; wohl mir, daß ich beständig bin, wohl! – Wahrlich, eine ganz nagelneue Empfindung für mich! – Hätt' ich ihr nur einen Kuß gegeben, so wüßt' ich doch wie's wäre wenn man einen Engel küßt. – Ihren Odem hab' ich von fern geschmeckt und wie Veilchen und Rosenduft eingesogen. – Meint ihr denn, lieben Freunde, daß ich sie hasse, ihr aus Wuth mit Rüge und Bezichtigung nachsetze, meint ihr? Ich kann nicht Oh's und Ach's rufen, allein hier liegen sie fingerdick im Herzen. Ich liebe sie. – Ich hasse sie, weil ich sie liebe; ich liebe sie unendlich. – Ein Schwanenbett soll ihr Gefängniß seyn, Liebe, die liebste Liebe, ihre Ketten, sobald die Nachricht eingeht: Mine ist eingeschlossen. – Entzückt will ich schon über diese unbetagte Schuld[272] seyn, entzückt, noch ehe der Verfalltag kommt – all ihr Leiden sey wie abgeschnitten! Bis Memel soll sie zwar zum Schein leiden – der Teufel trau' den preußischen Staaten – aber dann im Triumph. – Mine, du bist mein, meine Gemahlin bist du; dir gehört mein Herz! Mit deinem Auge will ich getraut werden, mit dir Hochzeit halten, dir will ich das Ja zusagen und es halten so lange ein Stück von mir ist. – Wenn gleich nicht vor der großen Welt, so doch im Stillen. – Im Stillen, wo sich's am besten liebt. – Mine, Liebe gehört in die Stille zu Hause. – Mine, die verbotene Frucht schmeckt am süßesten. Wär' alles Gebot und kein Verbot, so möchte der Teufel ein Mensch seyn! – Nur einen Versuch, Mine. Komm, Mine! komm – komm! komm doch! Wird sie kommen?

Was meinen Sie, rechtsgelehrter lieber Achselträger? (zum Protokollisten, den Herr v. E. nicht von sich ließ, um ohne Aufhören zu fragen:) Wird sie? wird sie?

Dieser junge Mann, der den Herrn v. E. von Universitäten her kannte, war über dieß und jenes bei der Sache im Irrgarten, aus dem er sich endlich herausgefunden haben würde (obschon v. E. auf die Art noch nie geliebt hatte, oder eigentlicher, verliebt gewesen war), wenn nicht Minens leiblicher Vater eine Rolle in diesem Stücke gehabt.

Herr v. E. litt wirklich, allein so wie jeder Sünder leidet. – Kann man so etwas leiden nennen? Zuweilen war er stummtoll. – Man hatte Ursache, seinetwegen zu fürchten. – Der Protokollist hatte wirklich Mitleiden mit ihm; so nahe wußt' er's ihm zu legen. Könnt' ich doch weinen, sagte er eines Abends zu ihm, Herzensfreund, weinen! Wer kann es aber in der Hölle? Hätt' es der reiche Mann gekonnt, würd' er nicht nöthig gehabt haben, einen Tropfen Wasser zu betteln. – Und dann wieder: »Freund, wenn die Hölle ärger seyn kann, ist kein Gott im Himmel!« [273] – Würde Mine auch nur in Mitteldingen (wenn es dergleichen gibt) ergiebiger gewesen seyn, Herr v. E. würde sie geliebt haben, wie er sonst zu lieben gewohnt war. – Ihr edler Rückhalt, ihre heroische Flucht bracht' ihn mit zu diesem, ihm sonst wildfremden Schwung.

Der Justizrath – – (wir sind wieder in Preußen) ward vom Direktor, als das A und O im Collegio, zu diesem Geschäft ausersehen, und eben weil er ausersehen war, wollt' er ein Meisterstück liefern. Er lernte fast das Gesuch des Herrn v. E. an die curische Regierung und das Protokoll auswendig, um ja keine Sylbe ungetroffen zu lassen. Folgender Entwurf zu den Fragen an die engelreine, unschuldige Mine kann von seinem Diensteifer ein Pröbchen abgeben. Es konnte sich der Deputatus nichts Gewisseres denken, als daß Mine alles und jedes wäre, wozu sie das seine curische Protokoll und dessen Ueberrock, das verkleisterte, gekünstelte Gesuch des Herrn v. E., machen woll te. Dieses blinde Zutrauen zu einem gerichtlichen Protokoll bestimmte ihn, den Requisitorialbrief an die Garnison noch eher abzusenden, als er Minen gesehen und gehört hatte. Eine Meile vor L– sandte er, nachdem er nochmals alles überlesen und das Vollwort des Protokolls ihn überschienen hatte, den Requisitorialbrief ab. Den Erfolg dieser Absendung wollt' er eben hier und eine Meile vor L– abwarten. Es kann seyn, daß auch etwas Furcht vor dem starken Kerl, der dem Martin Jakob Kegler so schwer gefallen, zu den Ingredienzen dieser Eilfertigkeit und dieses Vorlauts gehört. – Zwar erfolgte keine schriftliche Antwort; allein es erfolgten ein Unterofficier und zwei Mann, die sich Verhaltungsanordnungen ausbaten. Einen Augenblick, sagte unser Scharfrichter, denn er übersah noch seine Fragstücke, und fand sie hie und da nicht bandfest. Einen einzigen Augenblick, sagte unser Justizrath; allein es währte eine Stunde.

Ein Pröbchen von unserm Justizrath.


[274] Promemoria


in Untersuchungssachen wider die aus Curland entlaufene Dienstbotin und Diebin, Wilhelmi ne – –, ihre vorläufige Abhörung und Haft betreffend.

Nach den gewöhnlichen Fragen:

Namen?

Geburtsort?

Vaterland?

Eltern?

Wer ihr Vater sey? (Es ergibt sich nicht aus den Akten unterthänig ist sie nicht.)

Bei der Mutter ein Wort zu seiner Zeit.

Wie alt?

Religion?

Wozu noch außerhalb der Linie kommen könnte: ob sie vom vierten Gebot unterrichtet und mit den Pflichten bekannt sey, die sie allen denen, die Gottes Bild an sich tragen, welches im gegenwärtigen Fall Herr v. E. wäre, schuldig?

Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser.

Stoff zur dreifachen Ermahnung. –

Bleib im Lande und nähre dich redlich.

Ob sie das siebente Gebot Gottes wisse?

Geschärfte Ermahnung.

Ob das fünfte Gebot Gottes?

Wer lügt, stiehlt auch, und wer stiehlt, mordet. –

Eine Erschütterung!!!!

Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden.

Ob sie nicht alle zehn Gebote Gottes übertreten und ob, wenn noch mehr als zehn wären, sie nicht auch die mehreren mit Füßen gestoßen?

[275] Es gibt nur ein Laster, nur eine Tugend. Einmal eins ist eins.

Das gegebene böse Exempel ist wie eine Brandstiftung; wenn man auch gern die Flamme hemmen wollte, kann man?

Donner und Blitz! –

Vogel friß oder stirb!

Nach diesen Vorbereitungsfragen:

Ihr stehet vor Gott und der Obrigkeit, die von ihm geordnet ist, prüft Euch, ob Ihr mit dem Vorsatz hergekommen, Gott die Ehre zu geben und die reine, ungeschminkte Wahrheit zu bekennen? Ist es nicht Euer Vorsatz gewesen, sondern habt Ihr geflissentlich Sünden mit Sünden häufen wollen, so verstockt wenigstens auf dieß Wort Euer Felsenherz nicht.

Das Wenigste, was Ihr thun könnt, ist Bekenntniß und eine geduldige Unterwerfung in Rücksicht der zeitlichen Strafe, die gegen die ewige leicht ist. Antwortet ohne Gleißnerei und Kunststück, aus dem Innersten Eures Herzens und so, wie Ihr es einst vor dem letzten strengen Richterstuhl Gottes zu verantworten gedenkt, wohin, so jung Ihr seyd, Ihr über ein Kleines citirt werden könnt. Wollt Ihr? –

Ehe noch Mund und Hand ans Werk gelegt wird, die Recognition der Person, nach denen, wiewohl im besondern Styl, übersandten Angaben:

Wuchs.

Sie gränzt ans Männliche.

Schlank.

Gesund.

Roth und weiß.

Wann? (Ungewißheit.)

Wen sie bestohlen? (Finsterniß.)

[276] Ob sie noch von den gestohlnen Sachen etwas bei sich hätte? Wo sie die andern Sachen angebracht?

Das Geld?

Wider die Amtmännin und ihre Schwester ist aller Verdacht der Mitwissenschaft. Das Verhör mit ihnen ist voller Mängel. Da Inculpatin erst geraden Weges mit diesen beiden feinen Zeisigen gehandelt, hätte der Nebenweg, den Inculpatin jetzt einschlug, sie zum Nachdenken bringen sollen, wenn sie anders nachdenken können.

Es frägt sich:

Ob Inculpatin der Amtmännin und ihrer Schwester angezeigt, daß es gestohlene Sachen?

Ob der Kopfputz, den Inculpatin der Amtmännin und ihrer Schwester verkauft, auch gestohlen Gut?

Was es für andere Stücke gewesen, welche Inculpatin der Amtmännin und ihrer Schwester verhandelt?

(Andere Stücke, wie unbestimmt!)

Sie hat flüchtigen Fuß gesetzt.

Wer ihr behülflich gewesen?

Wer der junge Mensch sey, mit dem sie im unregelmäßigen Verkehr gestanden?

(Ein tiefes Schweigen im Protokoll.)

Wie sie geflohen, ob zu Fuß oder wie sonst?

Sie hat zum Morde aufgefordert.

Gott sey ihrer Seele gnädig!

(Beim ersten Ueberblick nahm ich schon die Sache der Inculpatin; allein, alles genau genommen, ist sie nicht zu retten, um alles nicht.)

Die starke Mannsperson.

Schwarzes Haar.

Große Augen von der nämlichen Farbe.

[277] Spott und Hohn.

Kräftiger Gang.

Heuchlerin und Spitzbübin von Hause aus.


Hauptpunkte:


Sie hat ihre Mutter ins Grab gebracht.

Ungehorsam, verstockt gegen ihren Vater.

Sie hat sich wider seine Heirath empört.

Warum?

Kinder müssen auch wunderlichen Eltern gehorchen; ihr Vater hat zu ihrem wahren Heil an eine zweite Heirath gedacht. Vielleicht weniger um eine Frau für sich, als eine Mutter für sie zu haben. Er ist achtundfünfzig Jahre. Ein schönes Alter!

Der Vater hat sie im Hofe angebracht; sie ist aus dem Contrakt gelaufen.

In welcher Qualität und Gestalt sie im Hofe angebracht worden.


(Es ist hiervon in der Schrift mit keinem Jota gedacht, und sollte doch. Ohne Zweifel als Kammerjungfer, Ausgeberin oder so etwas.)


Warum sie diese guten Absichten vereitelt und dem Herrn v. E. in seiner Wohlmeinung widerstanden, der doch die Liebe selbst sey und der, wenn sie ausgedient, sie gewiß zu seiner Zeit unter die Haube gebracht haben würde?

Sie hat andere aufgewiegelt? (Dunkelheit.)

Sie hat Verschiedenheiten und Zwist im Hause erregt. (Auch dunkel. Die Brödlinge sagen es zwar aus, Gott weiß aber, wer und warum?)

Sie hat gestohlen?

Was sie gestohlen? (Unzulänglichkeit.)

Der Schrei, als ein Nothzeichen.

Warum Inculpatin sogar diesen Bösewicht, obgleich Martin [278] Jakob Kegler sie bleiben lassen mußte, welches sie sah, aufgefordert, diesen Kegler (im Hofe Jakob genannt) zu verfolgen?

Ob dieser starke Kerl allein sie begleitet?

Ob noch sonst jemand?

Wer ihn zu diesem Mordgeschäft gedungen?

Noch vor dem Verhör das Haus besetzen.

Den Wirth des Hauses an seinen des Königs Majestät geleisteten theueren Eid erinnern.

Alles im Hause zu erinnern, ohne Erlaubniß mit der Inculpatin keine Gemeinschaft zu haben.

Die Inculpatin mit einer kurzen Anrede der Wache zu überliefern:

Da seht Ihr nun die traurigen Folgen Eures Ungehorsams! Diese königlichen Soldaten, nicht wie die Engel bereit, zum Dienst derer, die ererben sollen die Seligkeit, sondern fertig, Bosheit zu bestrafen und Frevler zu bewachen, sollen Euch vorerst an Händen und Füßen geschlossen in feste Hand nehmen und in engere Verwahrung bringen, damit Ihr, nach eingezogenen nähern Verhaltungsbefehlen, nach Memel gebracht und von dort aus den Abgeschickten Eures so gnädigen Brodherrn, des v. E., überreicht werden könnet. Wollte der Himmel, daß Euch Eure so groben Verbrechen das Herz durchbohren und Ihr, noch ehe Ihr dort, dort Eure Mutter vor Gottes Richterstuhl erblickt, Euch mit ihrem Schatten aussöhnen möchtet! Wollte der Himmel, daß Eure verfälschte, unlautere Seele noch gerettet und Ihr wenigstens die Hoffnungen auf die andere Welt nicht aufgeben dürftet, da in dieser für Euch kein Ort abzusehen, wo Ihr vor Vorwürfen Eures Gewissens und anderer ehrlichen Leute werdet sicher seyn können. Eure Flucht nach Preußen ist Euch geglückt; allein Euch selbst und den Augen der Rechtschaffenen könnet Ihr nicht entfliehen! –[279] Geht hin zu Eurem gnädigen Herrn, werfet Euch vor ihm auf die Knie. Ein gutes Wort findet ein gutes Herz! Vielleicht, daß er Euch seine gnädige, alles verzeihende Hand zureicht und Eure Strafe nicht ganz genau mit Eurem Frevel abmißt. Geht zu Eurem leiblichen Vater. Ob verlorner Sohn oder verlorne Tochter, gleich viel! Wenn Ihr von ganzem Herzen sagt: Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Kind und des Herrn v. E. Magd heiße! so wird er vielleicht so sehr durch Reue, durch Eure ganze Buß- und Beichtandacht erweicht, als ihn testantibus actis Eure Bosheit und Gottesvergessenheit erweicht hat. Sein Fürwort wird den Herrn v. E., der die Liebe selbst seyn soll, völlig aussöhnen. Eure Jugend redet Euch das Wort, und wenn Euch Gott, nach ausgestandener Strafe, noch Leben und Gesundheit fristet, habt Ihr noch Zeit und Raum, Gutes zu thun, die Leute, die ihr bestohlen habt, zu entschädigen und da Friede und Ruhe zu stiften, wo Ihr Zank und Zwist verbreitet habt. Seht, wie nahe liegt der Mord, das letzte schrecklichste Cainsverbrechen in dieser Welt, dem ersten Schritt vom rechten Wege! wie nahe! – Wir werden uns schwerlich in dieser Welt mehr sehen, wie sehr aber würde ich mich freuen, wenn wir uns da zusammenfinden würden, wo wir beide Parteien sind und wo ich auch mein Richteramt dem, der mich damit belehnt hat, abzugeben verbunden bin. Thut eure Pflicht, brave, tapfere Soldaten! nehmt diese Frevlerin hin. – Vorderhand kann sie nach – – ins Gefängniß abgeliefert werden, bis ihres weitern Transports wegen von höherem Ort Verhaltungsbefehl erfolgt.


Gott bekehre die Frevlerin!

Salvis omnibus.


Dieses Promemoria's wegen mußten der Unterofficier und die zwei Mann eine Meile vor L– einen sogenannten Augenblick, der [280] aber eine Stunde war, verziehen, indem der Deputatus noch hier und da ein Wort nahm und gab; und nun nach L–.

Das erste, was Deputatus vornahm, war die Belagerung des – – Hauses des verstorbenen – –, und da er damit fertig war, ging er geradezu ins Haus und redete den Wirth, ohne ihn zu sehen, an:

»Er möchte wohl bedenken, was er nächst Gott Sr. Majestät schuldig wäre, nämlich treu, hold und gewärtig zu seyn, das Beste Sr. Majestät überall zu befördern, Schaden und Nachtheil aber zu verhindern,« und nachdem er ziemlich weit in dieser Anrede gediehen, ward er erst gewahr, daß niemand als ein altes Weib vor ihm gestanden. Sie war, außer einer Katze, welche ihr selbst zugehörte, die einzige lebendige Seele im ganzen Hause. Er war also, nachdem er sich mit diesem Phänomen bekannter gemacht, verbunden, sein Protokoll wie folgt anzuheben:

Actum L– 17–.

Dem höchsten Befehl der königlichen Regierung von – – zur unterthänigsten Folge, begibt sich Endesunterschriebener, nachdem er die ihm zugefertigten Akten genau gelesen, beprüft und sich den erforderlichen Plan entworfen, nach L– in die Behausung des – –, wo der Angabe nach Inculpatin, Wilhelmine – –, sich aufhalten soll. Das Haus ist indessen völlig wüst und bis auf eine alte Person leer, welche sogleich vernommen wird.

Sie heißt Catharina – – ist achtundsiebzig Jahr alt, lutherischer Religion, nährt sich von Kinder- und Krankenwartungen, und ist nicht eher, als nach dem seligen Ableben des – – in dieses Haus gekommen. Der Pfarrer des Orts hat sie dazu berufen, damit, so lange das Haus nicht verkauft sey, welches nicht anders als nach öffentlicher Feilbietung und mittelst gewöhnlichen Anschlages geschehen könnte, es nicht ledig stehen und am Werth einbüßen möchte. Der selige Mann ist seit fünf Wochen, wie es [281] ihr dünkt, begraben, und zwar kinder- und erbenlos. Sein Hab und Gut ist, nach seinem letzten Willen, den Ortsarmen zu Theil geworden. Die Comparentin sagt: Ich selbst hatte Ursache, seine kalte Hand zu küssen. Der Prediger ist Testamentswärter und Vollstrecker gewesen, und, um ihren eigenen Ausdruck beizubehalten, »es ist viel davon zu sagen.« Zur Sache führt sie an, daß ein Frauenzimmer, wohlgebildet wie Milch und Blut, gleich nach dem Ableben des – – angelangt. Sie kam ohne alle Begleitung und ganz allein an, sagt Comparentin, und wie ich nicht anders weiß, in einem gemeinen Wagen mit vier Pferden bespannt. Ihr Besuch, der auf diese Art zu spät gekommen, hat, wie's der Comparentin dünkt, keine andere Absicht gehabt, als ihren Verwandten zu besuchen und ihn vielleicht, wenn es Gottes heiliger Wille so genehmigt, zu beerben.

Auf die Frage: ob sich keine starke Mannsperson zu dieser Zeit, oder vor und hernach, blicken lassen? erwiederte sie: ja, es hätte einige Tage vorher sich jemand blicken lassen. Nachdem aber diesem Umstande genauer nachgespürt wird, so kommt endlich heraus, daß dieses ein Luftspringer sey, der sich im Dorfe zur Schau gestellt. In wie weit dieser Luftspringer mit der Inculpatin in Verbindung gewesen sey, noch sey und seyn werde? ist der Catharine – – ganz und gar unbekannt.

Damit alle Gerechtigkeit erfüllt und bei dieser Gelegenheit der Umstand eingetrieben und eingemahnt werde:

ob dieser Gaukler die starke Mannsperson mit dem gezogenen Messer sey? und

in wie weit dieser Gaukler ein allerhöchst privilegirter sey, wird dem Amtswachtmeister aufgegeben, diesen Luftspringer vorzubescheiden. Dieser stellt sich mit seiner Bestallung, die allerhöchst eigenhändig vollzogen ist, dar und will durch einige Proben dem Deputatus ad oculum seine Geschicklichkeit demonstriren, [282] welches verbeten wird. Außer dieser Nothdurft bringt er bei, wie der Prediger die Kirchspielskinder von ihm abgepredigt und ganz offenbar zu verstehen gegeben, daß sie besser thäten, wenn sie was anderes machten, als einen allerhöchst privilegirten Gaukler sähen, und daß ein Gaukler ein Gaukler bleibe, wenn er auch ein königliches Patent hätte, und daß dergleichen Gaukler mit königlichen Patenten viel wären, obgleich sie nicht alle sprängen – und daß – Deputatus kann und mag diese Sache nicht angreifen und begnügt sich zu bemerken, daß der Gaukler auch nicht den mindesten Verdacht abschatte, daß er die starke Mannsperson sey, daher er abgelassen wird. Es ist aller Mühe unerachtet nichts, rein nichts von der starken Mannsperson mit dem gezogenen Messer herauszubringen, und behält Deputatus wider ihn dem preußischen, curischen und dem Weltpublico seine Rechte vor. Ob (um wieder auf Inculpatin einzulenken) die fehlgeschlagene Hoffnung, ihren Verwandten zu beerben, oder der Umstand, daß der verstorbene Verwandte ihren Besuch nicht mehr annehmen können, oder sonst was anderes Schuld daran gewesen, weiß Comparentin nicht anzugeben, wohl aber, daß Inculpatin, nachdem sie frisch und gesund angekommen, in Gegenwart des Pfarrers, der als Testamentsvollstrecker (wie der Selige es angeordnet) einige Vögel ins Freie gelassen, in Ohnmacht gesunken. Der Pfarrer erschrak nicht wenig, sie erholte sich aber wieder und der Pfarrer nahm sie zu sich. Nach der Zeit hörte und sah man nichts von ihr. Es hieß: »sie ist krank, sie ist immer krank,« aber zuweilen sieht man sie am Fenster, nach der Kirche zu, stehen oder sitzen. Wer sie zurück haben will, darf nur stehen bleiben, weg ist sie. Es kommt zwar ein Doktor zum Pfarrer, aber man weiß nicht, ob zu ihr oder zu jemand anders? Seitdem sie ins Haus gekommen, ist alles beim Prediger wie umgekehrt. Man sagt sogar, es sey eine Verlobung zwischen dieser Unbekannten und Gottbekannten und noch jemandem [283] vorgefallen – wenigstens sind zwölf Personen beim Pfarrer eingeschlossen gewesen, und heißt es, Gott verzeih mir meine Sünden, sie hätten alle communicirt! Auf die Frage: ob der Pfarrer verheiratet sey? erfolgte die Antwort: er ist verheirathet, er ist auch nicht verheirathet – seine Frau ist melancholisch, Gott weiß, wovon; er lebt nicht so recht zusammen mit ihr. Jetzt soll alles über und über seyn. Es ist viel zu sagen. Melancholisch ist die Pfarrerin zwar schon zum Theil vorher gewesen, aber, aber –

Deputatus trägt Bedenken, aus diesen, dem exemplarischen Lebenswandel des Pfarrers sehr entgegen arbeitenden Umständen Schlüsse zu ziehen und der Comparentin ihren Seelsorger durch einige nähere Fragstücke über die Aufnahme der Inculpatin Wilhelmine – –, deren Verlobung und die Schwermuth der Pfarrerin verdächtig zu machen, oder falls Comparentin schon von selbst, wie es fast das Ansehen hat, auf diesen Verdacht gefallen, ihn nicht zu bestärken und diesen Funken anzufachen. In der Hauptsache ist kein anderer Weg, als Inculpatin beim Pfarrer aufzusuchen, dieß Protokoll dort fortzusetzen und vorschriftsmäßig überall zu verfahren v.s.

N.N.


Während der Zeit, daß Deputatus sein Verhör schloß und seinen Muthmaßungen freien Lauf ließ, ging Catharine – – spornstreichs zum Pfarrer, drängte sich bei Minen vor und sagte der Aufgestandenen geradezu unter die Augen, daß ein Herr mit Soldaten da wäre, um sie zur Haft zu ziehen.

Wie wußte dieß Catharine?

Und wie wußte der Deputatus, daß die Pfarrerin, die doch die Lindenkrankheit hatte, Minchens wegen noch tiefer in Schwermuth gesunken? Sorget nicht für den andern Morgen, ein jeder Tag wird für das Seine [284] sorgen, und es ist genug, daß ein jeglicher seine eigene Plage habe, findet auf den Verdacht und das Mißtrauen Anwendung, zu dem die Rechtsgelehrten oft aus Amtspflicht verbunden sind, obgleich sie den Grundsatz debitiren: Jeder ist gut, bis das Gegentheil erprobt und W.R.J. erwiesen ist. Es ist kein mißtrauischer Volk, als das rechtsgelehrte. – Tausendmal hab' ich gefunden, daß sich die Menschen überhaupt hierdurch geflissentlich ihr Leben trüben und sich vor dem Teufel und seinen Engeln fürchten, wenn gleich keine da sind.

Ob Catharine die Gabe der Feinheit gehabt, weiß ich nicht; allein das weiß ich, daß Mine nur einen Hauch nöthig hatte, um, o Gott! wieder – zu sinken. Eine geknickte Lilie kann ein Zephyr niederwerfen. Ein Hauch ist Sieger über sie. – Catharinens Zudringlichkeit und der Vorfall, daß Mine eben am Fenster stand, da die Soldaten anrückten, schlug sie ganz und gar nieder, und nie hat sie sich weiter aufgerichtet – nie! – – Für sie war keine Quelle mehr, die den müden, abgetragenen Wanderer am schwülen Tag ergötzt. Kein Trunk mehr kühlte sie! – Sie hatte ausgelebt! Den letzten Lebenstropfen kostete ihr dieser Vorfall. Gott, rief sie, in deine Hände, in deine Hände! nicht, Herr, in die Hände meiner, deiner Feinde! – Dir, dir, Herr! leb' ich, dir, dir sterb' ich! – Der Pfarrer hatte genug mit dem Justizrath – zu thun und konnte nach der kränklichen Pflanze nicht sehen, die er bisher mit so vieler Sorgfalt jedem Sturm, jedem sengenden Sonnenstrahl entzogen, die er gepflegt, wie ein Vater eine kranke Tochter pflegt, die seinem seligen Weibe ähnlich ist.

Das Pastorat, oder, wie man in Preußen spricht, die Widdem, war von Soldaten umzingelt. – Mine war ohne Trost, ohne Leben. Das ganze Haus war in Aufruhr und die arme Predigerin über diesen Vorfall so weg, daß sie völlig aus ihrem Geleise trat und Zeter rief, Zeter! rettet – und Hülfe! [285] Hülfe! Der Wachtmeister, dessen Stimme ins Haus einschlug, hatte sie völlig erschüttert. – Ihre Nerven waren sein, das Gewebe einer Spinne, würd' ich sagen, wenn Spinnen gut wären. Kein Wunder, daß sie aller Fassung und Besinnung entwich. – Erbarmung! Erbarmung!Weh! weh! kreischte sie und flog wie Espenlaub. Jedes Glied war in Bewegung. –Sie hauen die Linden! schrie sie, die letzten!Meine Kinder geraubt –! meine Tochter! Bete doch, bete doch, Gretchen! – Ha! wie er sie entführt, der Bösewicht! Mein Mann in Ketten und Banden! was hat er gethan? – Die arme Tochter, wenn sie nur gewußt hätte, wonach sie greifen wollte, wäre sie glücklich gewesen. Es lag ihr hart an, ob sie Mutter oder Minen trösten, stärken und in die Arme schließen sollte. – Catharine, wenn sie zu ihrem Beichtvater gegangen wäre, würd' all diesem Jammer vorgebeugt haben; allein jetzt alles, alles aus! Der gute Prediger war der letzte, der dieses Erdbeben merkte, und da sah er auch schon den Schlund weit, weit offen. Herr, hilf! schrie er, es lag zu viel auf ihm, wir verderben! Er wollte sich dagegen bäumen, allein konnt' er? Ueberall Jammer. – Der Justizrath hielt alles dieß für Gewissensaufgährung und wollt' eben thun, was seines Amtes war, da ihn der Prediger bat, so viel Menschlichkeit zu haben und ihm nur eine Viertelstunde Fassungszeit zu bewilligen, und ehe diese abgelaufen, keine Gewaltthätigkeit in einem Kirchenhause zu beginnen. Der Justizrath fand Bedenklichkeiten. – Gott, sagte der Prediger, wird Ihnen die Viertelstunde in Ihrem Letzten, in Ihrem Letzten vergelten – ich bin ein geschlagener, ein unglückseliger Mann!

Der Justizrath gab ihm dieses Sterbviertelstündchen mit dem Beding nach, daß der Wachtmeister vor Minens Thür sich lagern könnte. Es war ein erschrecklicher Kerl. Wenn er nur nicht donnert, sagte der Prediger. Das soll er nicht, erwiederte der [286] Deputatus; allein er bedachte nicht, daß ein Segen in dem Munde dieses Menschen Fluch wäre. Es konnte dieser Henkerhandlanger nichts als Zeter rufen und Stäbe brechen, und Mörder schließen und Leitern zum Galgen ansetzen.

Ein Märtyrer würde hier die Standhaftigkeit verloren haben. Seine Geduld würd' ausgerissen seyn. – Da stand der Wachtmeister, wie eine Katze vor'm Käficht, und die Soldaten, als wenn hungrige Tiger vor der Thüre witterten. Des Justizraths Augen glänzten vor Wonne, als hätt' er Gott einen Dienst gethan. Er ging auf und nieder, in Erwartung der Dinge, die kommen sollten.

Der Prediger blieb eine kleine Weile im Lehnstuhl, schlug die Hände in einander, sprang auf und wandte sich zu seiner Frau. Gretchen, seine Tochter, hatte ihm diese Sorge anheimgestellt. Fasse dich, Seele! beruhige dich, willst du mit Gott rechten? sagte der arme Prediger. Harr' auf den Herrn. Die Linden sollen bleiben und deine Tochter soll grünen, wie die Weiden am Kirchengraben. Ich bin nicht in Ketten und Banden. Gretchen ist nicht entführt, sie soll nicht einen Bösewicht, sondern, wenn Zeit und Rath kommt, ihren Hansen haben. Hör' auf mit Zeter und Weh. – Man sucht hier jemanden, der nicht hier ist.

Diese herzlichen Trostworte hätten den Justizrath freilich auf andere Gedanken bringen können und sollen; allein er ließ nicht von Catharinens Hand, die ihn leitete und führte auf unebener Bahn, und von der er jedes Wort als baar annahm. Die Sprache des Herzens ist nicht jedermanns Ding. Sie findet sich nicht, wie das Griechische, nach einem bewährten Sprichwort, und wenn ich mich recht besinne, kann ich nur diese Herzlichkeit den Verliebten zugestehen – wie käme sie an einen königlich preußischen Justizrath, der gemeinhin ein rechtlicher Dominikaner von Haus aus ist? Der gute Mann hatte Mühe, die verstattete Frist unverletzt und unbefleckt zu halten. Welche Frechheit, dacht' er, [287] man sucht hier jemanden, der nicht hier ist! Er dacht' es, bei allem treufleißigen Rückhalt, doch so laut, so laut, eben so überlaut, als es sein marktschreiender Wachtmeister gesagt haben würde. Wie konnt' er bei diesem Gedanken sitzen bleiben? Diese Worte: Man sucht jemanden, der nicht hier ist – brachten ihn auf die Füße, nachdem er bis dahin Platz genommen. »Armes, armes Weib, du sollst glauben! Solch einen Glauben hab' ich in Israel nicht funden. Glauben, was sie anders mit ihren sichtlichen Augen gesehen hat! – Ein feiner Glaube!« Die Ungeduld des Justizraths war unbeschreiblich, sie hatte nicht in der Widdem Raum, er ging in Gottes weite Welt mit den Vorstellungen: Mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt's gemacht zu einer Mördergrube! Es war das Beste, daß er ging – indessen ließ er die Widdem nicht aus den Augen, um zu bemerken, wer zu ihrer Thür aus- oder einging. – Der plötzliche Aufbruch des Justizraths beruhigte die arme Predigerin mehr, als der Zuspruch ihres Mannes. Sinnlichkeit gegen Sinnlichkeit. – Sie ward still, das war ein gutes Zeichen; der Prediger benutzte diese Stille und ließ seine Tochter rufen, die das Werk vollenden mußte. Er löste sie bei Minen ab, die er stärker fand, als er glaubte. O Mann Gottes, fing sie an, ich soll? oder soll ich nicht in die Hände der Menschen? Nein, Sie sollen nicht! antwortete der Prediger; allein sie blieb bei ihrem entsetzlichen: ich soll, und konnte sich davon nicht abgewöhnen. – Es ging dem Prediger durch die Seele, sie so leiden, ohne Hoffnung, ohne Zutrauen leiden zu sehen. Er kniete nieder und betete kurz, stark, himmelstürmend. Und nun auf dieß Gebet versprech' ich Ihnen, sagte er zu Minen, Sie sollen nicht. – Sie blieb still. – Nach der Zeit gestand sie, daß es ihr wieder eingefallen sey, sich selbst das Leben zu nehmen, um nicht ein schreckliches Schauspiel der Bosheit zu werden. – Ihre starke Einbildungskraft hatte ihr den v. E. in der [288] Nähe gezeigt, frohlockend über seine geglückte Rache – alle seine Helfer und Helfershelfer, die ihr nach der Seele standen, waren ihr erschienen, und diese Erscheinungen waren ihr schwer zu ertragen. – Mine litt gewaltig; indessen ließ Gott sie nicht versucht werden über Vermögen. Er, der sie aus sechs Trübsalen erlöst, ließ sie auch jetzt nicht verzweifeln. Sie unterdrückte die aufsteigenden Selbstmordgedanken beim ersten Anfang. – Das weggeworfene Messer und auf ihm die Tropfen Menschenblut fielen ihr ein. – (Sie sah alles, was ihr einfiel.) Das Gebet des Predigers hatte eine Nachwirkung – sie fand sich – sie schmeckte Trost in dem Kelche der Leiden, und diese Prüfungsstunde kühlte sie etwas ab; indessen blieb sie noch ängstlich wegen der Dinge, die kommen sollten.

Der Prediger ging zum Justizrath.

Eben recht, fing dieser an.

Der Prediger. Und wenn ich jetzt fragen darf?

Deputatus. An mir ist zu fragen.

Prediger. So erbitte ich mir die Erlaubnis zu antworten.

Deput. Schrecklich, wenn ein Prediger selbst –

Pred. Unglückliche aufnimmt?

Deput. Und eben dadurch Unglückliche macht. Herr Prediger – ich wünschte, ich wäre zu diesem Auftrage nicht –

Pred. Und dieser Auftrag?

Deput. Nicht mehr und nicht weniger, als die Diebin, die Läuferin, ja, ich kann Mörderin hinzusetzen, das kann ich, der Sie in Ihrem Hause Obdach gegeben, zur gefänglichen Haft zu bringen, damit sie an Ort und Stelle leide, was ihre Thaten werth sind.

Pred. Ach Gott, vor dir ist kein Lebendiger gerecht! Du weißt es –

Deput. Er weiß, allein, leider! auch Menschen wissen –

Pred. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten [289] und die Seele nicht tödten mögen, spricht mein Herr und Meister, der mit Zöllnern und Sündern umging.

Deput. Aber es nicht selbst ward.

Pred. Das hoffe ich auch nicht –

Deput. Er war Herr und Meister, und Sie Prediger in L–. Von ihm, dem Heiligen, konnte es nicht heißen: gleich und gleich –

Pred. Wenn Sie selbst wüßten –

Deput. Ich weiß alles.

Pred. Desto besser!

Deput. Und vorzüglich, daß Sie den Namen der Communion entweihen, daß Sie den Ihren Herrn und Meister nennen –

Pred. Der es in seinem Leben, Leiden und Sterben ist.

Deput. Das können Sie sagen?

Pred. Das kann ich!

Deput. Mir?

Pred. Und dem ganzen Justizcollegio.

Deput. Und Ihrer Frau: man sucht hier jemanden, der nicht hier ist?

Pred. Sie ist zuweilen nicht bei Troste.

Deput. Und wer hat sie trostlos gemacht? wer ihr den Kopf verdreht? wer?

Pred. Der Lindenbaum, der so alt wie sie war und in ihren letzten Wochen ausging.

Deput. Herr, meinen Kopf sollen Sie nicht verdrehen. Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten, und ich auch nicht. Meine Geduld ist wie die viertelstündige Frist zum Ende. – Kurz und gut, der königliche allerhöchste Auftrag ans Collegium:

»Wir Friedrich von Gottes Gnaden, König in Preußen, Markgraf zu Brandenburg, des heiligen römischen Reichs Erzkämmerer [290] und Kurfürst etc. Unsern gnädigen Gruß zuvor. Edle, hochgelahrte Räthe –«

Pred. Daß sich Gott erbarme!

Deput. »Liebe Getreue, aus der Anlage werdet Ihr ersehen, was die curländische Regierung wegen einer aus dem Dienst entlaufenen Diebin, Wilhelmine – –, bei Uns angesucht und zu verfügen gebeten.«

Pred. Und ich bitte um Gotteswillen –

Deput. »Ob nun gleich so viel Umstände wider sie aus dem gerichtlich abgehaltenen Protokoll und der, in Curland von dem v. E. –«

Pred. Gott, erbarme dich und bekehre, was zu bekehren ist!

Deput. – »eingereichten Vorstellung hervorgehen, daß die besagte Person nicht allen Rügen zu entwachsen im Stande ist, so befehlen Wir Euch jedoch, diese Wilhelmine – – zuerst durch einen zu ernennenden Deputatum abhören zu lassen. Finden sich bei diesem Verhör Umstände, welche die curischen Angaben entkräften, und als Milderungs- oder wohl gar Aufhebungsumstände in den Rechten geltend zu machen wären, so ist es des Deputati Pflicht, die ihm hiermit auferlegt wird, wegen ihrer Person eine leidliche, doch genaue Aufsicht anzuordnen, oder die etwa einzulegende rechtsgültige Caution anzunehmen und in Rechtsform einzulenken.«

Pred. Ich cavire mit Leib und Seele, mit Leib und Leben!

Deput. Das glaube ich. »Im Fall sich aber alles den eingesandten Schriften gemäß verhält und angerügte Wilhelmine – – nicht das mindeste von sich abzulehnen in den Umständen ist, was als Rechtfertigung, Entschuldigung, Vertheidigung vor den Ding-und Rechtsstühlen zu gebrauchen wäre, so muß Wilhelmine – – sogleich dingfest gemacht werden. Zu dem Ende habt Ihr die nächste Garnison von L– zu ersuchen, Euch hinlängliche Mannschaft zu bewilligen, und dieses Requisitorialschreiben Eurem Deputato[291] anzuvertrauen, um davon beim Befinden der Sache, ohne aufhaltende Rückschrift an Euch, augenblicklichen Gebrauch machen zu können. In allen Fällen liegt dem von Euch zu bestimmenden Deputato ob, so genau als schleunig an Uns Bericht zu erstatten, damit in dieser Sache, entweder den Wünschen der curländischen Regierung gemäß, oder anders wie, in alle Wege aber rechtlich, die Verfahrungsart eröffnet werden könne. Das ist unser eigentlicher Wille. Sind Euch mit Gnaden gewogen. Gegeben Königsberg, den – – 17–.«

Pred. Tausend Dank für diese Eröffnung! Und nun?

Deput. Und nun werde ich Wilhelminen verhören, sie dingfest machen und nach – – ins Gefängniß bringen lassen.

Pred. Wenn sie aber unschuldig ist? wenn ich Caution einlege? wenn –

Deput. Kein Wenn weiter – Sie verdienen nicht, daß man ein einziges von Ihnen hört, damit ich Ihnen gerade aus mein Herz ausschütte und alle Wenns auf einmal benehme.

Pred. Wenn Sie aber erlauben wollen –

Deput. Wieder Wenn?

Pred. Die königliche Landesregierung (um geradezu und ohne Wenn meinem Herzen Luft zu machen) hat nur bedingungsweise die gefängliche Haft verfügt, und dem Collegio nicht überhaupt nachgelassen, die Garnison um Beihülfe anzutreten. Ich weiß also nicht, warum mein Haus belagert ist und ich, wie Jerusalem, an allen Orten geängstiget werde, ehe noch Minchen verhört worden. Sie ist die Ehre ihres Geschlechts.

Deput. Und Sie, Herr Prediger, nicht wahr, die Ehre Ihres Standes?

Hier lösten sich die Räthsel, denn der gute Prediger konnte die wohlgemeinten Grobheiten des Deputatus länger nicht tragen. Er duldete, da ihm die Grenzen des Auftrages dieses feuerspeienden [292] Rechtsgelehrten und seiner Spießgesellen unbekannt waren. Jetzt sah er keine Verbindlichkeit ein, den Deputatus im verkehrten Sinn reden zu lassen, was nicht taugt; und da ihm der Justizrath seine Zweifel entdeckt und der redliche Prediger ihm den Unsinn von diesem Vorurtheil gewiesen hatte, ging Deputatus in sich und hatte nichts weiter in petto. – – Wenn man sich eine geraume Zeit im Cirkel herumgedreht, scheinen die äußern Gegenstände eben dergleichen Bewegung zu bekommen; auch wenn man aufgehört hat, sich herum zu drehen, bleiben die Objecte noch immer in einer cirkelrunden Bewegung in unserm Auge. – So ging es dem Justizrath, bis ihm das Verständniß ganz geöffnet war; und nun? Heftige Leute, Leute über Hals und Kopf, kennen nicht die Mittelstraße, und unser Deputatus war nun wieder so auf das Haupt geschlagen, daß er nicht aus noch ein wußte. Der Prediger gab seiner Gewissensregung, Minen mit eigenen Augen zu sehen, nach. Sie sollen, sagte der Prediger, wie Thomas, alles handgreiflich haben, und ging hin, Minen zu diesem Besuch vorzubereiten. Da der Deputatus sie sah, fiel er zurück. – So hatte er sie sich nicht vorgestellt.

Gott sey mir Sünder gnädig! fing er aus dem Innersten an, sah die abgezehrten Hände, die eingefallenen Augen und die langsam und selig Sterbende. – Mit einem Blick hatte er alles. Er konnte nach diesem Blick seine Augen nicht mehr aufthun. Das erste war, daß er die Soldaten abgehen hieß, die nicht sehr mit dieser Commission zufrieden waren; auch der Amtswachtmeister mußte mit Schanden unten an sitzen und im Wirthshause seine Diäten verzehren. Dieß geschah gleichfalls nicht ohne Kopfschütteln. Man sah es dem Peiniger an, daß er gern Ketten und Bande angelegt hätte.

Da stand der Justizrath, wie von Gott verlassen.

Mine wünschte, nachdem er lange vor ihr als Inculpatus gestanden, [293] allein zu seyn; er schwur, er könne nicht von dannen, bis sie ihm verziehen hätte. Mein Gott, was ist der Mensch? Ein trotzig und verzagt Ding. Wer kann ihn ergründen?

Der Deputatus weinte bitterlich.

Mine hob ihre halb abgestorbenen Hände auf und blickte den Bußfertigen sanft lächelnd an. Ihr Blick sagte: Sie wußten nicht, was Sie thaten.

Er hatte sich vorgenommen, ihr einige Fragen, wiewohl außerhalb der Grenzen seines Promemoria's, zu thun, allein er konnte nicht.

Kommen Sie, sagte der Prediger, damit wir uns nach langem Mißverständniß mit Herz und Seele verstehen. Der Prediger erzählte ihm den letzten Theil von Minens Lebenslauf, um dem Deputatus die curischen Papiere in einem andern Lichte und überall verborgene Schlangen zu zeigen. Der gute Rechtsgelehrte konnte sich nicht beruhigen, und wenn der Prediger ihm nicht großmüthigst die Folgen verschwiegen hätte, welche dieser Vorfall auf Minens Gesundheitsverfassung gehabt, er wäre nicht gesund aus dem Kirchenhause gekommen, welches schon ohnehin in aller Form ein Lazareth war. Er aß den Mittag beim Prediger. Gretchen wollte nicht mitessen; der Prediger mußte es verlangen. Sie kam, allein sie konnte den Deputatus nicht ansehen. – Die Predigerin hatte sich über alle Erwartung ziemlich erholt. Der arme Rechtsgelehrte konnte nicht essen, nicht trinken. Er war unlängst an das Collegium wegen seines bekanntenDiensteifers, der ein anderes Ding alsDienstverstand ist, gekommen, um die Schwachen und Kranken und zum Theil entschlafenen Mitglieder dieses Collegiums wieder herzustellen. – Seine Unbekanntschaft mit seinem Kreise trug viel zu dieser Uebereilung bei. Bei Tische überfiel den Bußfertigen und Zerschlagenen der Gedanke, sein Amt in die Hände der Obern zu [294] legen. Er hatte zu leben. Aus Noth durfte er nicht ein Zelote seyn und sich vom Diensteifer fressen lassen.

Nachdem ich so übel gerichtet, kann ich, frug er, kann ich wohl hinfort mehr Haushalter seyn? Bei dem Blicke der Unschuld: Sie wußten nicht, was Sie thaten, wie ward mir, Gott, kalt unter den Füßen.

Der Prediger suchte ihn von diesem Gedanken zu entfernen, allein er blieb. Wie kann ein Mensch, fing er an, seines Bruders Richter seyn? – Bin ich darum gerecht, wenn ich nicht über Dinge strauchle und falle, über die andere straucheln und fallen? Jeder Mensch hat seine besondere Welt, seine besondere Klippe, sein ihm eigenes Fleisch und Blut. – Ja und Nein sey mir genug. Ich will nicht richten, damit ich nicht auch gerichtet werde!

Gott, schrie er, stand auf und brach die Hände, der du aller Welt Richter bist, dir stehen wir, dir fallen wir! – Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, vor dir ist kein Lebendiger gerecht! Wer kann vor dir bestehen? wer?

Der Prediger versicherte ihn, nachdem er ihn ganz um und um kennen gelernt, daß, wenn je ein Mann den Namen Nathanael verdiente, er es wäre. Der heutige Fall sey in gewisser Art Nathanaels Geschichte. Er sagte in Beziehung auf meinen Herrn und Meister, fügte der Prediger hinzu, wie kann aus Nazareth etwas Gutes kommen? Allein Christus nennt ihn demunerachtet einen Israeliten, in dem kein Falsch ist.

Dieß richtete den armen Rechtsgelehrten ziemlich auf, wozu der Umstand einen beträchtlichen Beitrag lieferte, daß Nathanael einer seiner Vornamen war.

Seine Heiterkeit war indessen nicht dauerhaft. Er konnte nicht aufhören, sich Zweifel vorzuwerfen. Wenn ich schwiege, fuhr er fort, würden die Steine schreien. Mine's Geschichte gieng ihm gerade durch die Seele, und doch bat er ohne End' und Ziel, sie [295] ihm zu erzählen und das Erzählte zu wiederholen. Mein tägliches Gebet soll seyn, sagte der Bußfertige: Schaff' in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist.

Er ersuchte den Prediger so oft und viel, sein Freund zu bleiben, daß der gute Prediger herzlich bewegt war. Wahrlich, wer immer mit schand- und lasterhaften Menschen im Gemenge ist, bekommt am Ende ein Inquirentengesicht. Er findet überall arme Sünder und Sünderinnen, Diebe, Räuber und Mörder. – So unser Nathanael, der den Menschenblick eingebüßt und nur bloß diesen Blick übrig behalten hatte, den man den Richterblick nennen kann. Dieser Fahnenschwung ist eine defensio ex officio, die ich dem Nathanael schuldig bin. – Der Prediger (von dem ich dieses alles haarklein habe) und Nathanael sprachen viel von Menschenkenntniß. Ihr Endurtheil war, der Mensch soll offen seyn; allein er ist unzugangbar. Wer die Menschen leicht findet, hat nicht sie, sondern sich gesucht und gefunden; wer andere richtet, bestraft seine Unart in andern, und glaubt sich eben dadurch weißgebrannt zu haben, wie die liebe Unschuld. – Wer hinter dem Fenster in seinem einsamen Zimmer steht, kann alles ganz deutlich wahrnehmen, was auf der Straße vorgeht, unerachtet er von den Leuten auf der Straße entweder gar nicht, oder doch nicht deutlich gesehen wird. Es kommt mehr Licht aus der Straße ins Zimmer, als aus dem Zimmer in die Straße.

Alle diese Vorstellungen lösten sich jetzt beim Nathanael auf (und damit ich mit der Erlaubniß meiner Leser vorgreife), er legte wirklich sein Amt über ein Kleines nieder und ist nicht mehr Richter im Volke. Dieß Geschäft war sein letztes. – Ich muß eine Stelle aus dem Briefe des Nathanael an den Prediger in L-, in dem er ihm seinen Erlaß eröffnete, pränumerationsweise hersetzen, ich mag wollen oder nicht.

»Ich lege mein Amt nieder, um dem Herrn zu dienen und [296] auf ebner Bahn zu wandeln. Es muß eine Zeit der Heiligung seyn, eine Reinigungsperiode – ein Fegfeuer – ein Selbstgericht, ehe wir vor Gottes Richterstuhl treten. Diese meine Stunde ist gekommen – ich will mich selbst richten und den Krieg Rechtens mit mir selbst anstellen. Ein schön Stück Arbeit! – Nur bloß auf diese Weise sollen fortan meine Vermuthungen, wenn sie nicht zu Gunsten meines Herzens ausfallen, zu Tagefahrten und Protokollen Gelegenheit geben.«

»In diesem einzigen Fall kann niemand zu streng seyn; allein um andere zu richten wahrlich niemand gelind genug. – Ich besitze nicht Richterkälte, nicht Entscheidungsfähigkeit.«

Wenn ihn der Prediger nicht an den Bericht und an den Amtswachtmeister erinnert hätte, er hätte weder Bericht erstattet, noch den Amtswachtmeister mitgenommen, der schon über seine Diäten getrunken hatte und den Nathanael ins Geheim, doch wegen seiner durchfahrenden Stimme so, daß es jedermann hören konnte, um Lösegeld ansprach. – Nathanael ließ dem Prediger alle Acten, und bat, zur Probe seiner Vergebung und zum Siegel der ihm zugestandenen Freundschaft, diesen Bericht aufzusetzen. Das Promemoria konnt' er so wenig ansehen als Gretchen ihn. Die Predigerin lief noch vor ihm.

Hier ist der Bericht oder vielmehr sein Inhalt, denn meine Leser haben, wie ich selbst zu befürchten anfange, schon zu viel Curialien gelesen.

Es wird die schlechte Denkungsart des Herrn v. E. und Hermanns aufgedeckt und der Gesichtspunkt eröffnet, aus dem dieser ganze Vorgang zu nehmen ist.

»Die letzten Worte der Sterbenden entfernen schon den Begriff des unterlaufenden Betrugs und der Falschheit, und was sollte diese Sterbende, die vielleicht nur noch sehr wenige Stunden in dieser jammervollen Welt zu leben und keinen Transport nach [297] Curland oder sonst eine üble Begegnung zu befürchten hat, was sollte diese Sterbende, welche der Tod gegen alles in Schutz genommen, was sollte sie wohl bewegen, mit Gewissensbissen sich auf der Reise zur Ewigkeit zu beladen und sich eben dadurch ihre Sterbestunde zu erschweren? Dagegen decken die angegebenen Mängel des Protokolls und der Vorstellung, die v. E. eingebracht, überall und besonders an den unterthänigst bezeichneten Stellen eine schlechte Absicht auf. Ew. Königliche Majestät kann ich auf meinen Amtseid und bei meinem Seelenheil versichern, daß ich den Eindruck, den der Anblick dieser Sterben den auf mich gemacht, nie verlieren werde, und wie kann eine Person, die mit so erhabener Fassung und der Seelenruhe einer Märtyrerin diese Welt verläßt, sich solcher Laster, als ihr angedichtet worden, schuldig wissen? Der Prediger – hat sich verbindlich gemacht, sogleich, wenn diese Unschuldige im Herrn entschläft, ihren Tod Ew. Königlichen Majestät einzuberichten.«


»Ich ersterbe in tiefster Treue

Ew. Königlichen Majestät

allerunterthänigster Knecht

Nathanael –.«


Meine Leser wissen schon, daß Mine diesen Vorfall zu überleben außer Stande war. Vielleicht wäre sie mit der Zeit so stark geworden, mich noch in dieser Welt zu sehen; o wäre sie's doch! Gott, wäre sie's doch! Jetzt war hierzu keine Aussicht. – Sie selbst sagte zum Prediger, ehe dieser Vorfall sie vollends zu Grunde richtete: Was meinen Sie, werd' ich nicht bald stark genug seyn, Alexander zu sehen, nur ihn zu sehen – in dieser Welt – und dann, dann laß mich in Frieden fahren, ich habe genug! Nimm, Herr, meine Seele! – Der Prediger trug Bedenken, ihr die ganze Anlage des Herrn v. E. zu entdecken, und besonders war er bemüht, einen Vorhang über den Antheil, den Mine's Vater an [298] dieser Mordgeschichte genommen, zu ziehen. – Sie drang nicht weiter – sie war zu schwach, um ihre Bitte zu wiederholen. Wiederholungen derselben Sache kosten allen schwächlichen Personen unglaublich viel. Sie sah des Predigers Bedenklichkeit und that ihren Mund nicht auf. – Ihr ganzes, ganzes Leben war Duldung. Sie war nur ein Zögling für eine andere Welt. Dieß empfand sie, wie mir der Prediger auf das heiligste versichert hat, so sehr, daß sie diese Welt nur wie die erste Erde ansah, aus der sie versetzt würde. »Sie war froh in Gott« – des Predigers eigene Worte – »und sich selbst bis auf Fälle von der Art, wie der Tod ihres letzten Verwandten und die Veranstaltung zur Haft, immer gleich – das heißt, Gott ergeben. Solche außerordentliche Fälle schienen ihren Geist in der Hoffnung der Künftigkeit zu verstärken, allein ihren schwachen Körper führten sie im Triumph. Ihr Geist war willig, das Fleisch schwach. Die Gottesfreude ist von Dauer, sie ist sich gleich, sie jauchzt, sie lärmt und kreischt nicht, wie die Weltfreude, die mit aller ihrer Lust oft nach vierundzwanzig Stunden vergeht. Wer den Willen Gottes thut, bleibt in Ewigkeit. – Fast möcht' ich sagen, daß die Gottesfreude niemals im Gesicht läge, sie liegt tiefer und im Herzen. Zuweilen erhebt sie sich bis zum Auge, und das sieht dann erst gen Himmel, eh' es um sich herumsieht. So eine Gottesfrohe war Ihre Mine. Sie dankte dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich. – Freuen und fröhlich müssen seyn in Gott, die nach ihm fragen, und die sein Heil lieben, immer sagen: Hochgelobt sey Gott!«

Der Prediger setzte zu diesem allem etwas hinzu, worauf ihn Mine gebracht hatte: »Die viel beten, sind nicht froh, sie verklagen den lieben Gott bei ihm selbst. Sie sind schwach. Allein Freude am Herrn ist unsere Stärke. Nehemia im achten Kapitel, im zehnten Vers

[299] »Mine betete wenig, ihr ganzes Herz war Gottes.«

Nach einiger Erholung, die Minen sogar erlaubte wieder aufzustehen, erschlich sie den Ort, welcher der Catharine mit zum Verdacht Gelegenheit gegeben, um nach den Gebeinen ihrer Verwandten zu sehen. Es war ihr eine Aussicht zum Himmel. Eben kam der Prediger, da sie so voll guter Zuversicht, so voll Seelenwonne hinsah, und freute sich über ihren heitern Blick. – Sollt' ich nicht? sagte Mine und erzählte dem Prediger das, was er ihr verschweigen wollte und die ganze Absicht des Nathanaels – mit sammt dem Einfluß, den ihr Vater dabei gehabt – fast wörtlich wie er da stand.

Sterbende, sagt der Pastor, indem er mir dieses erzählte, haben den Geist der Weissagung. Ich habe in meiner lieben Gemeinde Vorfälle gehabt. – Mine schien schon lange die Gabe der Ahnungen zu besitzen, fuhr der Prediger fort, und sie hatte wirklich diese Salbung, die nicht jedermanns Ding ist.

Hier ein Auszug eines weitläufigen Gesprächs, das zwischen dem Prediger und mir bei dieser Gelegenheit vorfiel. Valeat, in quantum valere potest.

Ein großer Bösewicht ist allemal ein tüchtiger, starker, gesunder Mensch – ein Himmels- und Höllenstürmer. – Es gibt auch schwächliche, feige, hinterlistige Buben; allein diese erreichen nie den Grad der Bosheitsstärke, zu dem jene fähig sind. Diese morden von hinten, jene von vorn. Den Beelzebub würde ich so fest benervt, bruststark, als den Herkules malen, nur –

Wenn aber tüchtige, starke, gesunde Leute Menschen Gottes werden, welch ein Vergnügen, diese starken Geister, diese Engel (die auch stark sind) zu sehen! Die Tugend und ihre Tochter, die Religion, braucht auch in ihrem Dienste Leute für den Riß und Feldherrn. Einen Petrus mit dem Schwert, einen Luther mit dem Dintenfaß – solchen Leuten ahnt wenig oder gar nichts; und [300] wenn die Welt voll Teufel wäre und wollten sie verschlingen, wenn tausend zu ihrer Rechten fallen und zehntausend zu ihrer Linken, sind sie gefaßt; sie gehen auf Löwen und Ottern und treten auf junge Löwen und Drachen. Sie glauben nicht an Träume und fühlen kein Ungewitter, wenn es gleich schwer in der Luft liegt. Wer das Ungewitter vorempfindet, kommt schon in die Klasse dieser frommen Riesen nicht. – Diese Unbesorgte sind stark genug, allem, was ihnen entgegen will, auf der Stelle stattlichen Widerstand zu thun und überall das Feld zu behaupten. Den frommen, guten Seelen aber, welche ein plötzlicher Ueberfall gleich zu Boden reißen würde, ist eine Warnung vor einem kommenden Unglück nothwendig. Die Ahnungen sind ihnen Wecker zur Fassung, zur Geduld, zur Gottergebung; sie sind Sturmglöckchen, die sie zum Oelkruge bringen, ihr verlöschendes Lämpchen aufzufrischen. – Diese Seelen sind fast zu schwächlich für diese Welt, wo so viel Streit, Jammer und Elend ist. – Ich bin schon in dergleichen Fällen gewiegt, sagte der Prediger, der selbst die Ahnungsgabe zu besitzen glaubte; ich konnte mich, fuhr er fort, in diese pünktlich treffende Erzählung Minchens finden; da sie alles wußte, warum sollte ich länger zurückhalten? Dergleichen Ahnungsbegabte pflegen sich die Sachen nicht leichter zu machen, und selbst der Zweifel, der sie, sie mögen noch so weit in der Selbstweissagung, in der Ahnung gediehen seyn, bekämpft, ist ein Kampf, und Kämpfen macht Mühe.


Kurz, der Prediger las Minen alles und jedes und auch das vor, was ich meinen Lesern verkürzt habe. – Gott Lob und Dank, sagte Mine, daß ich sterbe! Bei der Aussage des Kegler, daß sie zum Mord angeführt, und den Worten: daß sie sich aus einem Mordmesser kein Gewissen gemacht haben würde, sagte sie:


[301]

Soll's ja so seyn,

Daß Straf' und Pein

Auf Sünden folgen müssen,

Herr, fahr' hier fort,

Nur schone dort!


Ich muß Ihnen gestehen, lieber Beichtvater, fuhr sie zum Prediger fort, daß der Vorsatz, mir selbst das Leben zu nehmen, der wieder, wie ich die Gewaffneten sah und Catharinen hörte, in mir Feuer faßte – daß dieser Vorsatz mir oft, oft als etwas vorgekommen, das mir meine letzte Stunde erschweren könnte. – Nun sind diese Stiche hin – ich habe nichts, nichts mehr, was mich drückt, und ich fühle es: ich werde selig und ruhig sterben und, wie Alexanders Mutter singt, wenn mir die Gedanken, wie ein Licht, das hin und her wankt, bis ihm die Flamme gebricht, vergehen, werde ich sanft und still einschlafen – ich werde ausgehen wie ein Licht. Sagt man nicht: Er ist ausgegangen wie ein Licht?

Gott, so war ihr Ende auch wirklich! Ihre Ahnung ließ sie nicht zu Schanden werden, pünktlich traf sie ein. – Allein Mine blieb nicht fest bei diesen beruhigenden Vermuthungen. Zuweilen schien es ihr schrecklich – zu sterben; sie nannte dieß Leben einen hellen Tag zwischen zwei dunkeln Nächten. Nur des Leibes wegen, setzte sie hinzu, nenne ich es so, meines Lebens besserer Theil, mein eigentliches Leben, geht nicht aus, stirbt nicht. – Wenn diese Anfechtungen Minen überfielen, wie es der Prediger nannte, kam es Minen vor, daß ihr letztes, letztes Ende vielleicht schreckhaft werden könnte, vielleicht ein Märtyrertod, so wie ihr Leben ein Märtyrerleben war.


Herr, fahr' hier fort,

Nur schone dort!


[302] rief sie dann zu Gott empor, und ihr Busen hob die Decke, so schlug ihr das Herz.

Geschieht das am grünen Holz, was will am dürren werden? sagte der Prediger bei dieser Erzählung und bemerkte, daß er Minen auf diese Strophe aus dem Liebe gebracht, die er in einer Unterredung mit ihr verloren, im eigentlichen Verstande, fügte er hinzu, verloren; denn sie, das weiß Gott, hatte nur mein Trostamt nöthig. Ich durfte nicht zu ihr sagen: wache auf, die du schläfst, und stehe auf, um noch so viel in dieser Welt gut zu machen, als du kannst. – – Sie war die Unschuld selbst.

Minens Trost bei dem Gedanken, daß ihr Ende nicht sanft seyn und daß sie nicht wie ein Licht ausgehen würde, war, daß auch dieß sein Gutes haben könnte. Das Sterbebette ist weit mehr, als das Grab, die Schule der Weisheit, bemerkte der Prediger. Man erlangt ein anschauendes Erkenntniß, wenn man den Todten da sieht. Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch.

Sie nahm ein feierliches Versprechen vom Prediger, mir ihren Tod auf das aller-, aller genaueste zu erzählen. Ist er schrecklich, ist er sanft, wie er war. Alles, alles ihm! Er braucht Lebenslehren; wenn ich sie ihm zurücklasse, so werden sie ihm, das weiß ich, desto werther seyn.

Eines Morgens – die Sonne ging unbewölkt auf – war Mine schwächer als je. Alle Fäserchen verloren ihre zusammenziehende Kraft. Mine empfand diese Schwäche, und dieß bewog sie, Gretchen sehr zeitig zu sich bitten zu lassen. Sie bat sie um Licht, damit sie ihre Briefe zusiegeln könnte. Es war das Tagebuch. Sie befahl Gretchen Gott und seiner Huld und Gnade und bat, mich tausendmal zu grüßen – tausendmal, und mir dieses Pack (sie gab es ihr) und noch andere Sachen zu behändigen. In seine eigenen Hände! sagte sie, und eine Zähre floß sanft ihre Wangen herab. – Minens Auge und Herz brach zu gleicher Zeit. [303] Grete konnte nie an diesen Herz-, an diesen Augenbruch denken, ohne bitterlich zu weinen. – Mine erholte sich indessen mit dem Tage, der sich auch er holte. Was sie nach der Zeit schrieb, konnte sie nicht mehr versiegeln. Sie nahm die Verabredung mit Gretchen, diese Postscripte gleich nach ihrem letzten Hauch an sich zu nehmen und sie mir zu geben.

Von ihrem Begräbnisse sprach sie wenig oder nichts. Zuweilen äußerte sie den Wunsch, und auch dieß nur beiläufig, unter ihren Verwandten begraben zu werden. Mitten unter ihnen – da hat man doch gleich Bekannte bei der Auferstehung um sich herum, sagte sie.

Ich, das bat sie sehr, und es ward ihr heilig versprochen, sollte bei ihrem Begräbniß seyn. Vielleicht wünschte er mich noch zu sehen. Der Arme! trösten Sie ihn; ich sterbe dem Herrn, unserm Gott, ich sterbe als Alexanders Freundin. Er hat mir geschrieben, daß er gern eine Haarlocke von mir hätte. Wenn er nicht vor dem Haar einer Todten zurückbebt, kann er sie nehmen. Gott sey ihm gnädig!

Der Tod grub jede Stunde näher, um Minen ans Herz zu kommen. Sie lebte zwar nach dem dunkeln Morgen noch einige Tage, allein es waren nur noch wenige Tropfen im Kelch. – Sie klagte wenig über Schmerzen: Was ich dulde, dulde ich Gott. Kopfweh, Brustschmerz und ein schleichendes Fieber waren die Zerstörer ihres Lebens.

An einem sehr schönen Morgen kam der Prediger zu ihr. Gretchen war schon da. Sie nahm den Prediger und Gretchen bei der Hand. Dank, Dank für alles Gute! Gott lohne Sie, sprach sie sehr leise – für alles, für alles! – Sie sprach noch schwächer, stammelte, schwieg, blickte sehr schnell auf, sah Gretchen, [304] sah den Prediger an, hob ihr Haupt, fiel zurück, schloß ihre Augen und (Gott, mein Ende sey wie ihr Ende!) starb. – –


* * *


So war die Ahnung der Seligen erfüllt, daß sie desMorgens sterben würde. Der Tag, der letzte Tag für Minen unter der Sonne ging schön auf, und blieb wie er anfing. Gretchen war außer sich, sie war nicht von der Seligen zu bringen. O, der letzte Tropfen Todesschweiß, schrie sie, wie er da starr steht! Und der Prediger: Gott hat abgewaschen die Thränen von ihren Augen; sie ist eingegangen zu ihres Herrn Freude! – Mir fielen, sagte er, da er mir diesen Sterbenslauf und den Umstand, daß sie ihr Haupt gehoben, erzählte, die Worte ein:

Wenn dieses anfäht zu geschehen, so seht auf und hebt eure Häupter auf, darum, daß sich eure Erlösung naht. Die Predigerin, als ob es ihr jemand gesagt hätte, empfand, daß ein Todter in ihrem Hause wäre, und ward so unruhig, daß der gute Prediger Mühe hatte, ihr alles auf eine für sie erträgliche Art beizubringen. Er und seine Tochter konnten nicht von der Leiche kommen.

Gretchen nahm, um den letzten Willen der Seligen zu erfüllen, ihre Briefe an sich, die sie neben ihr fand. Sie küßte sie und bat ihren Vater, sie zu versiegeln. – Sie lasen beide keine Sylbe.

Der Prediger schrieb an seinen Bruder in Königsberg, mich zu erfragen und mich zu allem vorzubereiten. Er bat ihn, Sorge zu tragen, daß ich wohlbehalten nach L– käme. Wagen, Pferde und Vorlegpferde, alles war von dem Testamentsvollstrecker besorgt. Den Bruder bat er nur halb, mitzukommen; denn er wußte nicht, daß ich ihn kannte und daß er in Königsberg mein Beichtvater wäre, so wie er es in L–von Minen gewesen.

[305] Ich darf, nach diesem Umstande, es meinen Lesern nicht näher legen, daß dieser Bruder eben der königliche Rath, der Menschenleser, war, mit einer offenen, weit offenen Stirn, schwarzem Haar und einem Auge, in dem man ihn zwar im Kleinen, allein doch ganz sah, und dessen Abendgesellschaften aus einem Officier, einem Collegen, einem Prediger, einem Professor und mir bestanden.

Der königliche Rath hat nicht nöthig, mich zu erfragen. Er ließ mir sagen, daß er gern den Abend mit mir theilen möchte. Ich kam und fand nicht den Collegen, den Prediger und Professor, sondern bloß ihn. – Mit einer Klugheit, die ihres Gleichen nicht hat, bracht' er mich auf meine Liebe, wovon sein Bruder ihm wiewohl nur gerade so viel, als ihm höchst nöthig zu seinem Auftrage war, entdeckt hatte. Ich wußte, wo ich war. – Deutlich vermuthete ich aus einigen Stellen unseres Gesprächs, daß der königliche Rath von meiner Geschichte unterrichtet war. Das Vierteljahr, und noch viele Wochen darüber, waren längst überschritten, ohne daß ich das Tagebuch erhalten. Da ich auf alle meine Erinnerungen und Briefe keine Sylbe erhielt, schlug die Ahnung wie ein Blitz bei mir ein, ohne daß ich mir diese Ahnungsgabe je zugeeignet habe, noch jetzt zueignen darf: »Mine ist – – – hier!« Wo ist sie, theuerster Herr Rath, fragte ich, wo? Das Feuer, womit ich sprach und womit ich ihm mein Herz völlig aufschloß, erlaubte diesem feinen, sehr feinen Menschenkenner und eben so großen Menschenfreunde nicht, mir alles zu entdecken. Ich erfuhr nur, daß Mine in L– bei seinem Bruder wäre, daß sie krank gewesen, und daß sie sehr krank gewesen. Ich würde mit – obgleich mein Bruder mich nur so, als wollt' er mich nicht, gebeten – sagte der Rath – allein der königliche Dienst –

Wie mir war, kann ich nicht schreiben, ich hab' es selbst nie aussprechen können. – Gleich so, wie ich stand und ging, wollt' ich in den Wagen. – Er versicherte mich, daß ich nicht nöthig [306] hätte, mich zu übereilen, und daß es schon besser mit ihr wäre. Tausendmal wollt' es mir einfallen sie ist todt; allein es wollte nur, ich ließ es nicht dazu. Ich stieß diesen Einfall mit allen Kräften fort und bäumte mich so dagegen, daß ich auch wirklich nur kurz vor L– mich davon überzeugte. Wenn ich auf die Gegenstände Acht gehabt, welche mein Lehrer abhandelte, würd' ich freilich nicht bis kurz vor L– ungewiß geblieben seyn – ich hatte, die Wahrheit zu sagen, nicht das Herz, auf diese Gegenstände Acht zu haben. Es waren alles Trostgründe unter fremden Namen; unter ihrem eigenen taugen Trostgründe ohnedem nichts, sie müssen alle incognito kommen. – Ich hatte nicht das Herz, den Fuhrmann eher als kurz vor L– nach Minen zu fragen. Hundertmal wollt' ich und hundertmal konnt' ich nicht. Da griff ich Herz, und der gute Fuhrmann, dem freilich verboten war mit der Thür ins Haus zu stürzen, sagte mir eben alles, da er mir nichts sagte, oder nichts sagen wollte.

Gott! mehr konnt' ich nicht. Der Fuhrmann bot mir ein Glas Wasser an, um die Sache gut zu machen, allein ich hatt' es nicht nöthig. – Ist's Betäubung, oder was ist eine solche Stärke?

Auf dem Kirchhofe, kurz vor dem Pastorat, ergriffen mich Schauer auf Schauer, und ich fing an zu zittern und zu zagen.

Der Pfarrer und seine Tochter kamen mir entgegen. Ich hatte kein Wort, ich glaub', auch keinen Ausdruck im Vermögen, wenn es mir das Leben gekostet hätte. Der Pfarrer, der, wie er mich versicherte, selten einen so an Seel' und Leib gesunden Jüngling gesehen hatte, sah mir alles, alles an. – Gretchen wußte nicht, was sie denken sollte. Todt! fing ich nach einer schrecklichen, stummen Scene an, und todt! war alles, was ich konnte. – Der Pfarrer wußte auch nicht, nachdem er mich sah, womit er anfangen sollte. Alles, worauf er sich vorbereitet hatte, [307] war nicht anwendbar. Er hatte sich ein anderes Bild, wie er mir nachher entdeckte, von mir gemacht.

Todt, alles todt! sagte ich und hielt mir den Kopf mit der rechten Hand. Der Pfarrer ergriff meine linke. Fassung! sagte er so furchtsam, als wenn er zu fehlen glaubte, als wenn er selbst nicht wüßte, was er sagen sollte, als wenn er selbst nicht gefaßt wäre. Er war es wirklich nicht, der gute Mann, Gott, der dieser Zeit Leiden so einrichtet, daß wir's können ertragen, ließ mich nicht lange in dieser schrecklichen, erschrecklichen Lage, in diesem: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Sie ließ Sie tausendmal grüßen, sagte Gretchen, und dieß Wort wirkte auf meine Empfindung, die Spannung ließ nach. – Mein Auge bezog sich. – O Mine! sagt' ich mit einem Ton, der Gretchen durch Mark und Bein ging; auch den Prediger traf er. Sie weinten beide – auch ich fing an zu weinen, allein heftig. Das Donnerwetter hatte sich noch nicht völlig verzogen; es donnerte und blitzte während dem heftigen Regen.

Oft hab' ich darüber gedacht, wie es zugegangen, daß ich nicht sogleich gerungen, sie zu sehen. – Nun fiel es mir auf einmal ein: Wo ist sie? wo? fing ich an, und da war sie auch schon in meinen Armen, an meinen Lippen.

Gott, welche Scene! – – O Mine! Mine! Mine! Mine! Mehr konnt' ich nicht, ich fiel zurück – eine Seelenohnmacht ergriff mich. – Der gute Prediger und seine Tochter sagten abwechselnd: Sie ist bei Gott! mehr konnten sie auch nicht. Wir waren alle drei so lebensmüde und satt, daß wir gern, gern all' zusammen da gestorben wären: gern, um in Minens Gesellschaft zu seyn. Gott, ist sie denn nicht werth, daß man ihretwegen stirbt? Sie war mir alles, fing ich an und weinte; Welt, Leben, alles! sagt' ich und weinte bitterlich.

[308] Geliebten Leser und Leserinnen, habt Mitleiden mit mir; auch jetzt, da ich dieses schreibe, weint' ich und weine bitterlich.

Nach einer langen Weile, da ich mit starrem Blick sie angesehen, sprang ich auf und schrie: Sie lebt! Noch diese Minute weiß ich nicht, wie ich zu diesem: Sie lebt! kam. – Ich drückte sie fest an mich, und stehe da – – ich fühlt einen warmen Odem. – Der Prediger kam, Gretchen kam, alles mir nach: Sie lebt! – Minchen, rief ich, du lebst! du lebst! Steh auf von den Todten! Erwach! erwach! du schläfst nur! Mine, Weib meiner Seele! sieh auf! sieh nur noch einmal auf! Nur noch ein Wort, Mine, nur ein einziges! Der Prediger machte Proben mit dem Odem, wie es schien, und das nicht ohne die Fassung, die eine jede Probe erfordert. – Sie lebt! schrie er mit einer erprüften Gewißheit, daß ich vor Freude außer mir war. Es ging so weit, daß wir lebendiges Blut in ihrem Gesicht bemerkten und froh und fröhlich waren. Wir haben einen Gott, sagte der Prediger, der da hilft, und einen Herrn, der vom Tode errettet.


* * *


Sie lebt nicht! hin ist hin! – Wir haben einen Gott, der da hilft, und einen Herrn, der vom Tode errettet. Dort lebt sie, dort wird sie leben, dort! Ich werde sie eher nicht wiederfinden, als unter den Vollendeten Gottes, die zu seinem Reiche gekommen sind. – Heil denen, die gekommen sind aus großem Trübsal und die dort rühmen können, daß der Zeit Leiden nicht werth sind der Herrlichkeit, die an ihnen offenbar werde.

O Gott, dieser Lebensstunde, wie viel bin ich ihr nicht schuldig? Dieß war der Engel, der mich stärkte. Es war so, als ob die Selige mir Trost eingehaucht und einen himmlischen Odem verliehen hätte. Ich fühlte mich kräftig. Bald, bald werd' ich seyn, wo sie ist, bald bei ihr seyn!

Durch das eingebildete Leben ward ich lebendig. Sind wir [309] Menschen nicht besondere Geschöpfe? Oft tröstet uns, was uns mehr niederschlagen sollte.

Wir blieben ein paar Stunden bei der Leiche. Der Prediger machte nun wieder Entgegenproben. – Nachdem wir die Leiche verließen und der Prediger mich, nach seinem selbsteigenen Ausdruck, wie umgekehrt fand, nahm er mir ein Versprechen ab, ihre Hülle, ihr Erdenkleid nicht mehr als noch einmal zu sehen. – Er machte dieß zur Sache Gottes, und ich versprach – undhielt. Gott weiß, wie schwer es mir ward.

Ich aß wenig, trank noch weniger. Der Prediger glaubte, daß ich nach so entsetzlichen, sprachlosen Stunden Ruhe nöthig hätte. Gott schenke sie Ihnen! setzt' er hinzu. – Wir gingen ein jeglicher in sein Kämmerlein, wie über ein Kleines jeglicher in sein Grab gehen wird am Ende seiner Tage – allein welch eine Nacht! – Mein Herz schlug ein anderes Kapitel auf. – Die Verklärte hätte mich ihres Ablebens wegen zuvor mit verklärt; allein jetzt fiel es mir ein: wie kam Mine nach Preußen? Ich Unglücklicher! so nahe bei ihr. Diese Sandkörner wurden mir zu Bergen, ich drückte die Augen zu, um diese Vorstellungen zu erdrücken, allein dieß war eben der Weg, noch mehr zu sehen. – Ich sah im eigentlichen Sinne Gespenster. Anfangs fuhr ich auf und nachher wimmert' ich – ich wußte von nichts, was ich that. Im Bette hatt' ich nicht Raum mit allen diesen Dingen.

Der redliche Prediger hatte sein Kämmerlein neben mir genommen. Anstatt schlafen zu gehen, zog er also eigentlich auf die Wache, um, wenn es nöthig wäre, bei der Hand zu seyn. – Der Schlaf floh auch ihn, und es war mir besonders, daß wir alle im Hause nicht eher eine ruhige Schlafstunde hatten, so müd' und matt wir auch waren, als bis Mine begraben war. Der Prediger meinte, daß es ein unempfindliches Herz verrathen würde, in einem [310] Hause schlafen zu können, wo ein noch uneingesargter Mensch läge. Er wenigstens hätt' es, wie er sagte, nie können.

Man bildet sich ein, dünkt mich, zu sterben, wenn man so nahe bei einem Todten einschlafen sollte, und fürchtet sich vor dem Schlafe – daher die Leichenwachen; oder aus einem andern Gesichtspunkte: man sieht sich selbst todt, wenn ich so sagen soll, bei einem mit Händen zu greifenden Leichnam. Die Aegyptier würden nicht bei einer Leiche haben essen und trinken können, dafür steh' ich.

Wir blieben zusammen. Der Prediger hielt für's dienlichste, mir die ganze Sache so, wie sie war, darzustellen, und in Wahrheit, das ist das einzige Mittel zur Beruhigung. Wenn ein Unglücklicher die Grenzen seines Unglücks wissen will, meßt sie ihm gleich ganz und gar zu – keinen Strich weniger, ihr macht ihn sonst bei jedem neuen Zuge unglücklicher – ihr laßt ihn einen so vielfachen Tod sterben, als ihr Absätze, Rückhalte und Punkte macht; ich selbst kann zum Belege in Rücksicht dieser Bemerkung dienen. Was der lebendige Odem Minens gestern Abends war, das war die Geschichte des Predigers heute Morgens. – Gretchen kam, hörte was vorging, und holte mir das Depositum. Da hatt' ich nun Minens Geist in allen Händen. Ewig werth sind mir diese Papiere; wenn ich sterbe, sollen sie mein Kopfkissen im Sarge seyn. – Das, so der Prediger besiegelt hatte, war das erste, welches ich las. Aus dem versiegelten Pack wissen meine Leser schon, was mir schien, als könnt' es ihnen wissenswürdig seyn. Vielleicht ist ihnen vieles nicht also? Verzeihung in diesem Fall geneigter Leser. Ich hab' es oft, nie aber so sehr als hier gefühlt, wie schwer es sey, mit ich anzufangen. Pilatus und Herr v. E. sagen: Was ich geschrieben habe, das hab' ich geschrieben. Schade, sonst würd' ich's auch auf mich anwenden.


[311] Minchens letzte Schrift

aus Gretens Händen.


Das letzte, was ich in dieser Welt schreibe, sey dein. Gott, der Herr, der Herr! sey mit dir! Wenn ich sagen würde, ich ging' ohne Wunsch aus der Welt, noch länger hier zu seyn, würd' ich einen falschen Eid vor Gottes Gericht zu verantworten haben. Eng ist die Pforte, durch die ich mich dränge – allein wenn ich durchgebrochen – ich fühl's, was für Erquickung mir entgegenwehen wird. Meine Seele sehnt sich nach Ruhe, nach dem Sabbath! – Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rührt sie an. Ich liebe dich, ich liebe dich! Gern' hätt' ich dich noch in der Welt gesehen und gesprochen – geküßt – jetzt nicht mehr, so gern ich dich sonst geküßt habe. – Deine Hand hättest du mir aber reichen müssen. Ich war immer stark an ihr – und nun hätt' ich die Stärke aus ihr herausgenommen. – Ich sterbe darum getrost, weil ich unserer Liebe wegen Gott geopfert werde und ihm und seinem Gebot sterbe. Ich sterb' einen Märtyrertod und fühl' es, wie weit leichter es seyn muß, so und nicht anders zu sterben. Zwischen Tod und Tod muß ein großer Unterschied seyn, das kann ich besser wissen, wie du. – Wir werden uns wieder sehen, Lieber! Lieber! Lieber! Mit diesen Augen werd' ich dich sehen, mit diesem Herzen dich lieben, mit diesem Herzen – wie schwach ist's, sehr schwach! Ich will die letzte Kraft abwarten, das letzte Aufflackern meiner Seele. – Ich habe meinen Geist in die Hände Gottes befohlen; so lange ich mich noch ganz besaß. Jetzt sterb' ich allmählig! Bald vollbracht! Ihm, dem Vater aller Barmherzigkeit und alles Trostes, sey Lob und Preis für alles, für alles! Er schlägt und heilt, er verwundet und läßt genesen. Oft dacht' ich, er hätte sich von mir gewendet; ich rief und er antwortete nicht, allein er erlöste mich gewaltiglich aus aller Noth. Bald vollbracht, bald! Ich dachte schon nicht mehr in dieser Welt zu schreiben, denn es überfiel mich sehr plötzlich, allein ich habe noch viel zu schreiben; würde [312] mich der Tod übereilt haben, hätt' ich's mündlich zurücklassen müssen. Wie oft ich gewünscht und mich gesehnt habe dich noch zu sehen, weiß Gott, der Herr! Der Arzt widerrieth es, und der liebe Prediger auch. Gottes heiliger Wille ist geschehen. Ich hatte mich schon ziemlich erholt – nicht zum Leben – nein, dich zu sehen, und diese Hoffnung, eben diese, diese Hoffnung frischte mich zusehends auf. – Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken, seine Wege sind nicht unsere. Bald hätt' ich dir wieder erzählt, was du schon weißt – mein Kopf ist schwach, sehr schwach. – Daß es keine Sünde ist, dich zu lieben, kann ich am besten jetzt entscheiden – jetzt, wo über das ganze Leben entschieden wird. Es entgeht mir nicht das mindeste von allem, allem! allem! was ich von Jugend an gedacht und gethan – über alles hält das Gewissen Gericht! – Verzeihe mir, Herr, alle meine Fehler, dein harret meine Seele, meine müde Seele! Du allein, Herr, schenkst den Beladenen Ruhe, Seelenruhe. Dein Joch ist sanft, deine Last ist leicht, schon hier sanft und leicht, allein noch mehr sanft und leicht, wenn man auf die Zukunft sieht. Vor Gott ist kein Lebendiger gerecht; allein glaub' mir, mein Lieber, ich bin ruhig – und ich bin der festen, festen Zuversicht, daß, der hier in mir angefangen hat das gute Werk, es bestätigen und vollführen werde bis an den letzten Gerichtstag. Ich liebe dich, mein Lieber, Gott weiß es; er weiß auch wie. Es ist eine andere Liebe, wie in – – auf dem Kirchhofe, mit der ich dich jetzt sterbend liebe. Ueber all' unsere Liebe hat mich das Gewissen gleich losgesprochen, gleich ohne Umstände. – Das kann ich dir zum Trost schreiben. O Gott, wär' doch dieß zureichend, dich zu trösten! Wenn ich wüßt' und glauben könnte, daß es dir zum größern Trost gereicht, wenn du mich gesehen und mich gesprochen, was würd' ich mir für Vorwürfe machen! Wahrlich, dann hätt' ich mich sehr an dir versündigt. – Ich glaube nicht, daß es dir [313] tröstlicher gewesen wäre – ich glaub' es nicht – und dieser Gedanke beruhigt mich.

Ich will, ich werd' an dich denken, mein Geliebter, auch in meinem Letzten, Allerletzten! – Verlaß dich drauf und sey nicht unruhig, daß du mich und ich dich nicht noch gesehen. – Wir werden uns doch kennen, wie ich hoffe, daß Leib und Seele, wenn sie gleich lange durch den Tod und Grab getrennt worden, sich gleich wieder kennen werden. Das wird eine Freude seyn! All' diese Freuden stehen mir vor und auch dir. O, selig sind die Todten, die im Herrn sterben! – Deinen Namen, mein Geliebter, will ich tausendmal aussprechen und dir die kalte Hand zureichen, wenn du auch nicht da bist. Deinen Namen will ich mir auch beim Scheiden vorstammeln, so daß ich noch mit der letzten Sylbe bis in den Himmel, bis in die andere Welt lange. Ich werd', ich kann ihn nicht vergessen, auch wenn ich deinen himmlischen Namen erfahre, will ich deinen irdischen nicht vergessen! Ich habe dich sehr, sehr geliebt! mehr als du gedacht, mehr als ich dir gesagt habe und sagen konnte. Meine Mutter will ich dort von dir grüßen und ihr sagen, welch ein guter, edler Junge du gewesen bist bis in meinen Tod. – Gott sey mit seiner Gnade, mit seinem Segen über dir, hier zeitlich und dort ewiglich. Das fühl' ich im Sterben, im Sterben! bei der letzten Probe von dem, was gut ist und was es nicht ist. Das fühl' ich, daß eine Liebe, wie die unsrige, eine himmlische Liebe sey. Sie war nicht für diese Welt, sie war nicht von dieser Welt. – Ich empfehle dich Gott und seiner Gnade, der walte über dich. – Wieder schwach – ich lege die Feder noch nicht weg – ich hoffe Stärke. Nein – schwach noch immer, sehr, sehr schwach!


* * *


Noch schwach, allein so sehr nicht, wie gestern. – Gegen Abend bin ich immer matter, so geht's allen Kranken. Der Prediger [314] sagt, daß die meisten mit dem Tage sterben, sie gehen des Abends zur Ruhe. Mir ahnet, daß ich des Morgens sterben und zu meiner Ruhe eingehen werde. – Wie Gott es beschlossen hat. Nicht was ich will, sondern was Gott will. Die Stunde des Todes ist Gottes Sache – ihm sey alles anheimgestellt! Laß mich nur selig sterben! Gott, meine Zuversicht, laß mich vor dir Barmherzigkeit finden, im Tode! So wie das Leben ist, so ist das Sterben – bald schwach, bald etwas besser. Ganz gut ist's doch nicht hier, sondern dort. Der liebe Pastor, seine Frau und Gretchen sind gute Seelen. O lieber Gott, wie wird's in deinem Himmel seyn, wo dir alles nachmacht und so gut seyn will, wie du's bist! Da kommt Gretchen mit ihrer Mutter – ich soll zu Bette gehen. – Gott sey mit dir! – Ich denk' immer, wenn ich zu Bette gehe: wie wird's seyn, wenn ich begraben werde? wie? Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rührt sie an – das tröstet mich. Dieser Trost bleibt auch im Tod unüberwunden. Ich lebe dem Herrn, ich sterbe dem Herrn, im Leben und Sterben bin ich des Herrn!


* * *


Ich habe lange mit mir gestritten, ob ich dir das letzte Stück von meinem Tagebuch, das mit einemgroßen Kreuze bezeichnet ist, zurücklassen, oder ob ich's mit ins Grab nehmen sollte? Du weißt's, daß ich dir bis an das große Kreuz keine Klage über meinen Vater geführt habe, ich wollt's auch jetzo nicht. – Ich stritt lange mit mir, endlich und endlich hielt ich mich verbunden, dir, für den ich kein Geheimniß gehabt und haben kann, Rechenschaft von meinem Tode zu geben. Im Himmel hätt' ich dir ohnedem so was nicht erzählen können, und niemand weiß es, was ich weiß und was dir dieses Tagebuch sagen kann, außer Benjamin, und den hoff' ich auch dort zu finden. – Lies und fluche meinem Vater nicht, ich hab' ihm nächst Gott mein Leben zu danken. Würd' ich[315] nicht in dieser Prüfung gelebt haben, könnt' ich nicht Gottes Angesicht sehen und ewig genesen. Dort ist mein unbeflecktes Erbe mir aufbehalten im Himmel! Fluch ihm nicht, meinem Vater. Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Grausamkeit ist meine Beförderung zur ewigen Ruhe. Mein Leib stirbt je länger, je mehr, und der Geist, sein Freund, nimmt oft mehr hieran Theil, als ich's gern sehe. Doch gibt's Stunden, wo ich fühle, daß meine Seele unsterblich sey, wo ich nicht sehe auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare; denn was sichtbar ist, ist zeitlich, was aber unsichtbar ist (o Gott, hilf mir!), ist ewig, ist ewig! Es ist meiner Seele oft so, als wenn man den Kirchthurm von dem Orte sieht, wo man hin will. Man denkt, man sey schon da. Ich habe heute mit meinem lieben Pastor wegen des Tagebuchs mit dem Zeichen des Kreuzes noch einmal gesprochen. Er nimmt es auf sich, dich zu allem vorzubereiten. – Fluche meinem Vater nicht, fluch' ihm nicht!


Darf ich hier eine Einschaltung machen? Dieß Kreuztagebuch lag im großen Pack. Nach einem großen Kreuze fängt es an:



Ob du je dieß Blatt und die Folge dieser Geschichte lesen wirst, weiß Gott, der alles weiß. Ich zittere, daß meine Ahnungen so haarklein eingetroffen sind. Wenn noch eine andere eintrifft, sehen wir uns nicht eher, als in der ewigen Freud' und Seligkeit. Wärst [316] du nicht, lieber Junge, in dieser kummervollen Welt, wie gern, wie herzlich gern! – Im Leben und im Sterben bin ich dein, und ewig dein! dein! dein!


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Wieder Minchens Schrift aus Gretchens Händen:

Ein Testament, lieber Junge, ist mir von jeher was Feierliches, eine Herzenslust, eine Seelenwonne gewesen. Schon längst hab' ich darauf gedacht, dir eins zurückzulassen. Wo ich nur dazu kommen konnte, las ich Testamente, und wie sehr freut' ich mich, wenn ich eins gelesen hatte, daß die Leute oft in ganz gesunden Tagen bedenken, daß ihr Leben ein Ziel hat und daß sie davon müssen. Heute will ich mein Testament machen. Ein Testament in meinem neunzehnten Jahre! – So winkt Gott manchem am trüben Abend seines Lebens, manchem am heitern Morgen. – Komm, Herr, ich bin bereit!


Im Namen Gottes.


In deine Hände befehl' ich meinen Geist, treuer Gott und Herr! Wenn mein Haupt sich neigt, wenn mich nichts mehr erwärmt, wenn die Hände saftlos dahinsinken und der Puls, statt zu schlagen, zittert, als ob er selbst vor dem Tod erschrecke, sey nicht fern von mir, Gott, meine Hülfe! Sey mir nicht schrecklich, mein Gott, in meiner letzten Noth! Ich harre dein. Längst hab' ich den Tod kennen gelernt, denn ich bin schon viel und oft gestorben, wenn ich aber zum letztenmal sterbe, o Gott, hilf mir! Wenn ich heimfahre aus diesem Elend, sey mein Herr und mein Gott. Amen! Amen!

Dich, herzlich Geliebter, bekenn' ich sterbend als den meinigen! – Ich beschwöre dich, daß du über meinen Tod nicht trauerst, wie die, so nicht glauben eine Zusammenkunft der Auserwählten zu Gottes Rechten, und dann Freud' und Wonne in Ewigkeit vor dem Angesicht des Herrn aller Welt! – Ich setze dich zum Erben [317] ein alles dessen, was ich habe. Es sind Sachen, die du in deinen Händen gehabt; eben hierdurch hast du sie für mich geweiht. Nach unserer Trennung hab' ich auf nichts neues gedacht. Mache mit diesen Sachen, was dich gut dünkt. Ein Stück gib meinem Vater zum Andenken, wenn er's will; ich glaub', er wird wollen, und ein Stück behalte deiner Mine zum Andenken. Wenn eine Thräne auf dieß, dein Lieblingsgewand hinfällt (Gott laß sie sanft wie Thau fallen!), hast du genug Leid getragen um deinen Todten – und hiermit nehm' ich von dir, als meinem Mann, Abschied. – Ich danke dir für deine eheliche Treue, du hast mich herzlich geliebt. – Habe Dank, mein Seelenmann, für alles Gute, das du an mir gethan; für deinen treuen Unterricht, für dein Beispiel, für alle, alle Proben deiner Liebe! – Gott lohne dir für alles zeitlich, geistlich und ewig! Meine Sinne sind ausgetrocknet. Fast hab' ich keine Thränen mehr, um diese Wünsche zu begleiten. – Da quillt eine empor! sie sey dir zum Segen geweint, Amen! Nun meine feierlichste Bitte, mein Beschwur. – Ich bitte dich vor Gott und nach Gott, ich beschwöre dich bei allem, was heilig ist im Himmel und auf Erden, und nach diesem hohen Schwur – bei meinem letzten, letzten Seufzer, bei meinem letzten Todesstoß, bei meinem letzten warmen Hauch – dich zu seiner Zeit ehelich zu verbinden! Gott segne dein Weib und die Kinder, die sie dir schenken wird! Wir sind geschieden, Gott hat uns verbunden und geschieden, der Tod bringt uns den Scheidebrief. Von diesem Augenblick an, da ich dieses schreibe, bist du nicht mehr mein Mann. Das letztemal nenn' ich dich meinen Mann, o Gott, das letztemal! – Und von diesem Letztenmal bist du nicht der meinige, sondern der Mann deines künftigen Weibes. Wenn dir ein Sohn stirbt, schreckliche Ahnung! sey er mein in der andern Welt – ich will mich mit ihm verbinden, wie sich Engel Gottes verbinden, und deine himmlische Schwiegertochter werden. Da kommen dir dann und deinem [318] künftigen Weibe entgegen ich, meine Mutter, dein Sohn – und lehren dich in der Stadt Gottes die Häuser kennen. Halleluja! Halleluja! Amen!

Ich bat Gott um einen Engel mit Stärkung aus seiner Höhe; er sandte mir seinen Knecht auf Erden, die auch des Herrn ist. Er ließ mich essen aus seiner Hand und trinken aus seinem Becher. Es ist bei weitem nicht dein Vater, allein er ist auch ein treuer Diener seines Herrn, nach der Gabe, die er empfangen hat. Seine Tochter Gretchen drückte mir den Kopf zusammen, wenn er auseinander fallen wollte, eh' es Zeit war – und seine Frau, man sagt, sie sey schwermüthig, allein ich sage, sie ist entzückt, sie hört und sagt Worte, die übermenschlich sind. – Sie war mir als eine Gereisete, die zu erzählen wußte, wie's dort zugeht. – Der Mann sanft, wie Johannes, den der Herr lieb hatte – sie eine Hanna.

Er hat mich getröstet, da nichts mehr Mark und Bein erquickte, da kein Trunk mich labte, und das Wasser selbst, wie's der liebe Gott gibt, mir schal schmeckte – ich durstete nach dem Wasser des Lebens. Bald, bald! – Zehn- und mehrmal war mir der Puls abgelaufen, sein Trost zog ihn, so daß ich's recht merken konnte, auf – freilich nur auf wenige Stunden; allein glaub mir, je näher am Tode, desto köstlicher die Zeit. Wenn du dich diesem Priesterhause verbinden kannst, thu' es. – Es sind all' zusammen gute, genügsame Leute, die nicht aufs Sichtbare sehen, sondern auf die Erscheinung des Herrn warten.

Schon oft hab' ich gebeten, und ich wiederhol' es noch einmal in diesem meinem letzten Willen, meinem Vater nichts zuzurechnen. Vergib ihm, o Lieber, vergib ihm! so wie du willst, daß mir und dir Gott vergebe. Kannst du ihm helfen, hilf ihm. Meine Flucht kann ihn vielleicht in noch schlechtere Verfassung bringen, als er [319] schon war, da er die Schule aufgegeben hatte. – Vergib ihm und dem v. E. – – so wie ich beiden vergebe. – O es ist eine schöne Sache, zu vergeben. Vergib ihnen alle Leiden, die sie mir gemacht und auch dir. – Du kannst in deiner eigenen Sache nicht Richter seyn. Mein Leiden und Tod trifft dich zu nahe; vergib allen alles – den Essig und Galle am Kreuze – sie wissen nicht, was sie thun! Oft denk' ich an den Tod des größten Todten, der uns ein Vorbild ließ, nachzufolgen seinen Fußstapfen, und dann bin ich froh über die Kriegsknechte, welche die Widdem besetzten, und über so manchen Pilatus, der nur den Leib tödten kann und die Seele nicht, worunter ich aber den ehrlichen Nathanael nicht rechne; denn wahrlich, er that mehr, als sich die Hände waschen. – Sag ihm, wenn du ihn in dieser Welt sprichst, daß ich ihm von Herzen vergeben habe. Seit der Zeit, da er mich schreckte, war es vollbracht, alles vollbracht! Wenn mein Bruder lebt, gib ihm den Brief, den ich deinem großen, von mir versiegelten Pack beigelegt. Meinem Vater gib auch den seinigen. Kannst du meinen Verwandten in Mitau förderlich und dienstlich seyn, sey es. – Gott wird dich lohnen; er segne dich mit reichlichem Segen, mit mehr als einem Segen. Amen! Ueber ein Kleines werden wir uns nicht sehen, und über ein Kleines werden wir uns sehen; ich gehe zum Vater. Diese Worte hat mir der liebe Pastor in L. so eindrücklich gemacht, daß sie mich stärken für und für. Grüße deinen Vater und Mutter – ich küsse beiden die Hände. Gott laß es ihnen wohl gehen, ewig, ewig wohl! – Ich bin matt, sehr matt! – Wenn mein Bruder mir im Himmel zuvorgekommen ist, denk an das Grab meiner Mutter, damit es nicht verfalle, sondern ein Grab bleibe; denk an alle heiligen Orte, von denen ich meinem Bruder geschrieben habe. Ich bin – –, nahe am Kirchhofe, in die Welt gekommen, in L. nah' am Kirchhofe geh' ich aus der Welt. Ich verbiete dir nicht, an mich zu denken, [320] allein thu es nie, wenn du allein bist, sondern im Beiseyn der Deinigen, damit du stark bleibest. Amen!

Dieß ist mein letzter Wille, den du in allen Stücken und besonders wegen meiner feierlichsten Bitte vor Gott und nach Gott erfüllen mußt, so wahr dir mein Andenken lieb ist. Nun zum letztenmal Amen! Angefangen früh Morgens, geendigt um sieben Abends den – – 17 –.


* * *


Nach diesem Testament, das sie den Tag vor ihrem Tode gemacht hatte, schrieb sie nur noch folgende Zeilen:

Sey gut – ich kann nicht mehr. – Nach diesem Elend ist uns bereitet ein Leben in Ewigkeit, – Heilig, heilig, heilig, ist Gott, der Herr! – Hinauf! hinauf! ich kann nicht mehr! – aber denken, beten, segnen noch – noch – noch! – Lebe wohl, wohl! wohl!

Noch sehr unleserlich und immer in die Höhe standen die Worte: Ich bin bereit – komm, Herr! – Schmerz – Angst, keine – im Himmel – Lieber.

Wie sehr mich diese Zugabe gerührt hat, ist unaussprechlich – alles himmelan! Sie ist entgangen! Gott helfe auch mir und allen, die seine Erscheinung lieb haben, kämpfen den guten Kampf des Glaubens und den Lebenslauf vollenden. Ihm sey Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit!


* * *

Den Brief an ihren Vater, dessen sie erwähnt:

Mein Vater!

Wenn Sie diesen Brief lesen, hat Ihre Tochter alles geendigt, alles! – Sie hat ausgerungen, ausgekämpft – überwunden. Ihr ist wohl, ewig wohl! Sie ist bei ihrer Mutter in der ewigen Freude und Seligkeit, verklärt und herrlich! Halleluja! – Ich mache dem Herrn v. E. keine Vorwürfe, und habe meinen Geliebten [321] gebeten, auch keine zu machen, sondern ihm alles zu verzeihen, so wie ich alles dem Herrn v. E. verziehen habe und jetzt mit sterbender Hand verzeihe. Wenn ihn mein Tod auf den Gedanken bringt, daß die verfolgte, unterdrückte Tugend den großen Vorzug habe, sterben zu können (wahrlich, ein großer Vorzug!), so wird er einsehen, daß sie über alle Gewalt erhaben sey, und sie eben darum vielleicht hochschätzen lernen. Möchte er es doch!

Ihnen, mein Vater, wünsche ich Gottes Gnade und Segen. Es gehe Ihnen wohl, sehr wohl! Unser Leben ist kurz; Sie sind älter als ich. – Was ist doch die ganze, ganze Welt, wenn's zum Sterben geht? – Sollte es Ihnen in dieser Welt noch fehlen, sehen Sie meinen Geliebten als Ihren Freund an, der Sie nicht verlassen, noch versäumen wird. Ich empfehle mich Ihrem Andenken. Meine Mutter werde ich von Ihnen grüßen, und wie froh werde ich seyn, Sie, mein Vater, einst dort wieder zu finden und meiner Mutter diese feste Hoffnung zu geben. Es wird ihr, das weiß ich, eine große Freude seyn. Leben Sie wohl, leben Sie wohl! – – ewig wohl!

Der Brief an ihren Bruder Benjamin ist eine Wiederholung ihres von ihm genommenen Abschieds, da sie in – – sich schieden, und der Uebergabe und Einweisung in Rücksicht aller heiligen Orte, unter denen das Grab ihrer Mutter das vornehmste war. Sodann die Eröffnung, daß sie mich auf seinen Todesfall in dieser Aufsicht substituirt hätte; und auch im Leben, schreibt sie, wird er dich unterstützen. Er liest diesen Brief, den ich ihm offen lasse.

Ich lernte die Predigerin den Tag nach meiner Ankunft kennen; ihn, glaube ich, kennen meine Leser ohne meine Nachhülfe. Er war ein ehrlicher Mann und wollte nichts mehr, allein auch nicht weniger, als ein Prediger seyn. Seine Stelle war nicht die vorzüglichste, indessen warf sie so viel ab, daß er leben konnte. Mehr, sagte er, bedarf ich nicht. Er hatte zwei Söhne, welche der [322] königliche Rath als die seinigen in Königsberg erzog. Gretchens Brüder gingen in eine der besten Schulen, sie sollten beide Geistliche werden. Unser Prediger war kein Kipper und Wipper. Er verfälschte und beschnitt nichts, sondern ließ alles, wie es war, unumgeschmolzen beim alten Schrot und Korn. – Die Bibel, sagte er, ist an sich schon eine lautere und vernünftige Milch. Wer die Bibel anders, als aus der Bibel erklärt, ist ein Miethling. – Schon seit fünf Jahren hat er an einem Werke über die Sünde wider den heiligen Geist gearbeitet, woran er mich nach Minens Begräbniß nähern Theil nehmen ließ. Er wollte seinem Bruder eine unvermuthete Freude machen und ihm diese Schrift zueignen. So weit ich den Bruder kenne, konnte ihm mit einer Zuschrift über ein Werk von der Sünde wider den heiligen Geist nicht sonderlich gedient seyn.

Seine Frau? Bei ihrer Einbildungskraft war der Zaun gebrochen, sagte der Prediger, und traf sie vollständig. Sie hatte viel Gutes, viel Herzliches an sich. Sie sah jeden starr an und kam dem, mit welchem sie sprach, ungewöhnlich nahe; sie griff ihn mit ihren großen, etwas verwilderten Augen. Es ließ die Prophetin gleich beim erstenmale so viel Zutrauen gegen mich aus ihren Augen schießen, daß sich der Prediger und alle, die sie kannten, darüber wunderten. Sie blieb sich die ganze Zeit über gleich, ohne tiefer in ihre Lindenkrankheit zu fallen, die sie indessen nie ganz verließ. Sie hatte eine schleichende Lindenkrankheit, sagte Gretchen, wie man dergleichen Fieber hat, das auch zuweilen in Heftigkeit ausbricht und nicht immer schleicht.

Gretchen, ein rein und unschuldiges Mädchen, das aus Liebe zu Minen mit dem Deputatus nicht essen wollte. Sie hatte Verstand, allein ihr Verstand lag in ihrem Herzen, oder wenigstens nicht weit davon. Alles, was Gretchen sagte und that, sagte und that sie von ganzem Herzen.

[323] Ich habe mit Fleiß meine Leser und mich von Minchens Leiche abgezogen; allein konnte ich sie lassen? Wenn meine Leser scheel über diesen Abzug gesehen, dann, dann erst könnte ich von Glück sagen!

Mine hatte sich mit Gretchen am meisten unterhalten und Gedanken mit ihr gewechselt. Gretchen nahm Stunden bei Minen. Ich weiß nicht, ob ich meinen Lesern einen Gefallen erweise, wenn ich ihnen etwas aus einem Aufsatz ausziehe, den Gretchen, wie sie sagte, Minen nachgeschrieben. Nur etwas:

»Ich habe mich sehr mit mir selbst gestritten, ob ich das Leben verliere; allein in Wahrheit, ich verliere nichts, nichts, wenn ich auch einen Strich zwischen dieser und jener Welt ziehe. Denn hatte ich dieß Leben? Höchstens hätte ich es haben können. Hatte ich Alexandern, den Pastor? war ich Frau Alexander, die Pastorin? Ich habe nur Hoffnung, nicht Leben eingebüßt – und (wenn ich den Strich wieder lösche) diese Hoffnung mit jener Hoffnung abgewogen: Sterben ist mein Gewinn und schadet mir nicht.«

Wie wahr in jedem Munde, und wie rührend wahr in einem sterbenden! – Wer neunzig Jahre gelebt hat, ist im siebenten gestorben und hat sich hin- und zurückgelebt. Wer sich nicht mit Leben überhäuft und zu viel auf einmal gelebt hat, ist im sechzigsten Jahr stark, wie ein Jüngling, und kann selbst noch Vater werden, wie es oft geschehen ist. Im siebenzigsten Jahre ist man Kind, oder fängt es an zu werden. Niemand sagt daher sein Alter gern, wenn er in diese Jahre kommt, auch wenn er, in keiner einzigen Rücksicht, Nachtheile davon für sich absieht. Der Mensch will durchaus und durchall nicht gern ein Kind seyn. Alles, was um ihn lebt und schwebt, kommt so schnell zur Reise, nur er allein ist der Spätling; er ist ohne Ende und Ziel auf Tertia, dann rückt er freilich schnell fort, allein bald sind die Classen aus. Wer zwanzig Jahre gelebt hat, ist hundert alt worden; das künftige [324] Jahrhundert, sagt man. Thor! wie viel sind nicht schon gewesen, was brachte das neue Neues, recht Neues vom Gott deiner Seele und der andern Welt?

»Es muß doch bei den Menschen größere Uebel geben, als der Tod, weil sich viele den Tod wünschen, um diesem und jenem Uebel zu entkommen. Die Menschen wünschen selbst ihren Lieblingen den Tod, und freuen sich, daß sie durch ihn oft einer kleinen Schmach und Schande entkommen: ›Gottlob, daß er, daß sie todt ist und daß er und daß sie nicht dieses, nicht jenes erlebt haben!‹ Ist wohl eine Frage, was Alexander lieber gewünscht hätte, mich todt oder mich in buhlerischen Armen? Wie der Arbeiter am schwülen Tag sich sehnt nach Schatten und ein Taglöhner, daß seine Arbeit aus sey (Hiob das siebente Kapitel, der zweite und dritte Vers), so habe ich mich auch gesehnt Tag und Nacht, um zu kommen aus großem Trübsal. In dieser Rücksicht, in dieser Aussicht, wie gut ist der Tod – und was ist er? Ein Weg über Feld.« – – – Dieß Leben ist wahrlich ein Jammerthal. – Vielleicht wickelt sich diese Welt noch anders aus, wenn sie älter wird. Vielleicht kommt noch Gottes Reich in diesem Leben! Vielleicht daß die Menschen durch so viel Thorheit kommen werden zur Wahrheit, durch so viel Abweichungen zum Gesetz des Herrn. Ein Mensch beherrscht den andern. Schrecklich –

»Der Haupttitel, den man der Seele beilegt, istarm; alle Welt spricht, die arme Seele! und woher? Ist sie nicht reicher als der Leib? Der Leib ist, ohne sie, eine Handvoll Staub, und sie ist, ohne Leib, eben das, was sie mit ihm ist.«

Arme Seele! warum arm? Weil man nicht weiß, wo sie ist? wie sie ist? Doch dieses steht mit der Armuth in keinem Verhältniß; genug, daß sie ist. – Sie ist ungefähr das im Körper, was Gott, der Herr, im All ist – ungefähr – sie ist Gottes Bild. Sie ist in allem, und durch alles und mit allem, und in [325] ihr leben, weben und sind wir. Vorzüglich nennen wir sie arm, wenn der Mensch stirbt und die Seele den Leib verloren hat. Leute, die sich einmal an Körpern die Augen verdorben, halten sie für arm, für bettelarm, wie man in der Welt aus dem Kleide Armuth und Reichthum beurtheilt. Man gibt der Seele ein Körperchen mit, damit sie nur nicht ganz und gar nackt und bloß erscheine. Dann ist sie doch, denkt man, wenigstens im Hemde; allein warum diese Umstände? Bleibt die Seele nicht in Gottes Welt, in Gottes Hand, wo nichts arm ist, als was sich dafür hält?

»Gott, der Herr, arbeitet ins Große und ins Kleine. In ihm lebt, webt und ist alles! Wer nicht in seinem Leben einen Zusammenhang findet, auch selbst, wenn er es nicht dazu anlegt, hat nicht an Gott und nicht an sich gedacht. – – Wir können nicht den Vorhang vor der Zukunft zerreißen. Bei unserm Tode zerreißt er, wie beim Tode Christi der Vorhang vor dem Allerheiligsten. Wahrlich, die Zukunft ist das Allerheiligste! Wer kann das Triebwerk der Schöpfung leiten? Auf Gott aber können wir uns verlassen.«

Eine selige Empfindung! – Der Meister drückt seinem Werke seinen Namen ein, nicht ohne Schamröthe, wenn er ein ehrlicher Kerl ist, und wenn er auf die kleineren Gelegenheiten zurückdenkt, die ihn zu dem Meisterstücke brachten. Darum, und nicht aus Affektation, sollten große Künstler auch ihren Namen nur so hin – werfen und Gott die Ehre geben, ihrem Obermeister ihre Arbeit weihen und zueignen. Wer gab ihnen Handwerkzeug und Materie? wer Zeit, Ort und Umstände? Selbst das Formale gehört dem Obermeister. Ist es denn Wunder, wenn das Werk so sehr über den Stand des Künstlers ist, daß es länger lebt, wie er, und daß jeder eher darnach greift, als nach ihm? Des Künstlers Verdienst in dieser Welt ist ein Kunstgriff, ein Griff nach gutem Stoff zu seiner Arbeit, nach einem guten Reißbrett in der Werkstube[326] Gottes, nach guten Zeichnungen, die ihm die Natur darreicht. – – Doch, wo gerathe ich hin? Ich sollte mich begnügen zu sagen: Gesegnet ist der Mann, der sich auf den Herrn verläßt!

Eben habe ich einem Freunde im Ganzen Minchens Gedanken, in Gretchens Abschrift, vorgelesen. Seine Aufforderung, diesen Aufsatz entweder ganz oder gar nicht mitzutheilen, hemmt Text und Noten. Es ist ein besonderer Gedankengang in diesem Aufsatz. Die Stellen, die ich herausnahm, sind nicht genommen, weil sie charakteristisch waren, sondern weil sie eben meinen Empfindungen, da ich dieses schrieb, accompagnirten.

Zur Beilage A. habe ich meinen Lesern diejenigen Stücke bestimmt, die mein Engel in einer ziemlich angewachsenen Sammlung gezeichnet hatte. Diese Sammlung war entstanden, wie alle Sammlungen entstehen sollten, ohne daß man zu sammeln dachte. Je nachdem Minen dieses oder jenes Stück gefiel, schrieb ich es ihr auf – ihr. – Viele Stücke sind aus der lettischen Garbe meines Vaters, die aus lauter curischen zärtlichen Liedlein besteht, die ich halb und halb öffentlich mitzutheilen verheißen habe. Viele sind Uebersetzungen aus andern nordischen Zungen und Sprachen. Mein Vater, der gewiß Naturkenner war, pflegte zu sagen, daß die meisten dieser Stücke (er hat sie alle gelesen) erneuert und geheiliget wären. Zwar gab er sich viele Mühe, alles roh, unerneuert und ungeheiliget zu haben, allein dahin war es nicht zu bringen. Manche Stücke sind offenbar Kinder neuerer Zeit; alles und jedes aber ist Uebersetzung. Mein Vater (dieß trifft die Stücke aus der Garbe) war, wie wir alle wissen, vor dem Brande nicht musikalisch. Die Uebersetzung seiner bäurisch zärtlichen Liederchen ist, wie ich schon im ersten Theil angemerkt, nach meines Vaters Manier. Eine freie Uebersetzung, pflegte er zu sagen, ist nicht hin, nicht her, ist Wein und Wasser, wo oft das Wasser die Kraft des Weins ersäuft; und doch, setzte [327] er hinzu, muß die Uebersetzung frei seyn, in Absicht der Sprache, in die man überträgt. – Ueberhaupt sind alle Uebersetzungen, die ich hier überliefere, mit Haut und Haar deutsch und ehrlich, oder, wie ich mich an einem andern Orte heilsamer ausgedrückt, κατὰ πόδα. Wer mir aber des Inhalts selbst wegen etwas anhaben will und sich geberdet, als thue er derKunst einen Dienst daran, mag wohl bedenken, daß Gott die Menschen aufrichtig gemacht; allein sie suchen, wie es heißt, viele Künste. Sie vergessen, daß die Lerche früh aufstehe und die Nachtigall lange aufsitze (schon wollte ich lucubrire schreiben): daß die See brause und sause, wie meine Mutter sich ausdrücken würde, und der Bach sparsam und wohl gar geizig wandle und handle; daß der Nord, so wie die helle Sonne, das Gesicht roth mache, als wäre es feurig, und ein Abendlüftchen sich bloß mit den ungebundenen Haaren necke. – – Da verschlage ich wieder in das Feld der Anmerkungen. Mit den lieben Anmerkungen! Macht sie nur, so viel ihr wollt, Schriftsteller! auch selbst ihr vom göttlichen Geschlecht, vom heiligen Volke, vom königlichen Priesterthum, vom Volke des Eigenthums; darum seyd ihr nicht geborgen. Der Kunstrichter findet doch seinen Zaun, von dem er brechen kann, das weiß ich aus sicherer Hand, und wenn es auch nur eine Anmerkung über eure Anmerkung wäre.


Gern würde meine Wenigkeit Anmerker dieser Art beim Brode lassen; allein euch, die ihr nicht im Vorgemach bleibet, sondern weiter dringt, euch, Pfeifer und Geiger, die ihr diese unschuldigeHaut- und Haargesängchen mit eurem Accompagnement haben und groß- und kleinmeistern wollt – wie gern, wie herzlich gern hätte ich euch mit sammt euren gestimmten Instrumenten aus meinem Philomelenwäldchen, so wie ihr damals heraus mußtet, als Jairi Töchterlein zu sich selbst [328] kommen sollte. Gerade seyd ihr in meiner Schrift, was ehemals die Käufer und Verkäufer im Tempel waren.

Da eben ein Brief von einem Redlichen im Lande! Er schreibt mir (er schreibe es auch meinen Lesern), daß man sich an vielen Orten den Kopf zerbreche, um die Namen in diesem Buche zu ergänzen. Dieser Redliche befürchtet, man würde sich an noch mehr als vielen Orten die Beine brechen, weil man dem Lebensläufer spornstreichs nachliefe, um ihn einzuholen. – Ich für mein Theil bedaure vorzüglich die Beine der Steckbriefträger oder Nachläufer; an den Köpfen der andern, die sie sich meinetwegen zu brechen belieben, wird hoffentlich weniger gelegen seyn. Warum lauft ihr, ehe ihr gejagt werdet, und ihr Kopfbrecher, warum brecht ihr? Doch wollt ihr nicht hören, so mögt ihr fühlen; wollt ihr nicht den dritten Theil abwarten, in dem ich ganz klar und deutlich sagen werde, wo?

Wie werde ich wieder auf Beilage A. kommen? Ich habe bemerkt, daß Minchen die folgenden Stücke in einer Sammlung gezeichnet hatte, viele selbst in ihrer Krankheit. – Gretchen versicherte, diese Stücke hätten Minchen auf ihrem Lager abgekühlt, wie Früchte, wenn es heiß ist. Die nämliche Freude, die mich bei denSchriftstellen überfiel, welche in meines Vaters Hand- und Hausbibel gezeichnet waren, die nämliche Freude belebte mich hier. Auch bin ich der guten Zuversicht, daß diese gezeichneten Stücke meinen Lesern nicht mißfallen werden, wäre es auch nur Minchens Zeichen wegen.

[329][331]
Beilage A.
[331][333]

Du bist mir treu, Hans, treu bist du mir! Ich weiß es, du bist mir treu, aber ach! das arme Kornblümchen, das mir diese gute Zeitung brachte, wie schlecht belohnt! Ich legte mir an ein Kornblümchen, so blau als deine Adern, wenn du das Hemd an deinem nervigten Arm aufgeschoben hast, so blau als der Himmel, wenn der liebe Gott freundlich aussieht. – Was mich das freut, daß ich's noch an der Wurzel ließ, das arme Kornblümchen! Ich wollt' es abreißen und da wär' es noch ärger. Sieh, Hans, ich muß es nur beichten: ich riß ein Blättchen und sagte: »er ist mir treu,« und das andere: »er ist mir nicht treu,« und wieder eins: »treu« und das andere: »nicht treu.« Das letzte war: »treu, treu!« Du bist mir treu, das hat mir das Kornblümchen zugeschworen. Jammer und Schade, daß die Blätter abgerissen sind! Schade, daß es da im bloßen Kopfe steht! Schön, daß der Stengel noch an der Wurzel blieb! Schön, über alles schön, daß Hans mir treu ist!


* * *


Gottlob, der Junker hat gefreit und Grete ist mein! Gottlob, der Herzog ist über Land gezogen!Grete ist mein! O Herzog, o Junker! o Junker! o Herzog! Herzog fahr' wohl und Junker fahr' wohl! Du im fremden Land und du im Brautbett. Nun möcht' ich sehen, wer mich überprunken kann, den Hans bei [333] Greten! Hört's weit und breit, den möcht' ich sehen, wer dieses kann, wer denken kann: »Ich könnt' es wohl;« auch den möcht' ich sehen, auch den noch, dem es nur geträumt hat: »er könnt' es.« Wie Gras will ich sie all' zusammen wegmähen, und wenn's Bäume sind, will ich einhauen, bis sie fallen. Grete ist mein! Gottlob der Junker hat gefreit! Grete ist mein! Gottlob, der Herzog ist über Land gezogen.


* * *

Ach, daß sich Gott erbarm'!
Nun bin, nun bin ich bettelarm!

Nicht, wie mich im ersten festen Schlaf ein Blitzstrahl erweckte; er schoß mir dicht vorbei, als wenn er sich bei mir, dem Hausvater, melden wollte. Schnell sprang ich auf, und siehe da! mein Strohdach in Flammen! Ich armer, alter Mann! was konnt' ich, was mehr, als meine Freunde und Bekannte aufschreien, die so fest schliefen als ich geschlafen hatte. Ich that Schrei auf Schrei, und seht! nicht bloß meine Freunde und Bekannten, nein


Jedes, jung und alt,

Von Ehren mannigfalt,


sprangen so schnell auf, als wenn sie der Blitz erweckt hätte, so als wenn es ihnen überm Kopf brennte, und kamen und löschten das brennende Strohdach meines Hauses. Der Blitz war so gut, zu bedenken, daß ich alt sey und nicht Dächer mehr steigen könne. Er ließ sich gern löschen, das dank' ich ihm und noch mehr dem lieben Gott, der den Faden in seiner Hand behält, wenn er den Blitzknäuel auf seinen Erdboden schießen läßt. Der liebe Gott kennt den alten Peter und wollte von seinem Hause nicht mehr als eine Handvoll Stroh treffen lassen. Das folgende Jahr war das Gras mannhoch. – War es nicht recht anzusehen, daß der liebe Gott es gut mit dem Peter meinte?


[334]

Ach, daß sich Gott erbarm!

Nun bin, nun bin ich bettelarm!


nicht, wie die Hagelkugeln mein schönes Korn niederschossen, das aller meiner Nachbarn Felder übersah. Die Leute waren neidisch auf mich, und mancher mag mir den Tod gewünscht haben dieses schönen Korns halber; und der Tod, dacht' ich zu der Frist, wird von selbst kommen, ungewünscht. Jetzt komme der Tod, wann er will; damals hatt' ich noch Lust zu leben, damals hatt' ich noch Weib und Kind, und das ist Lust zu leben. Erst beneidete jedes mein wohlgewachsenes Korn, und nun beklagte mich jedes an Ort und Stelle des vorigen Neides. Jedes wünschte mir langes Leben, und das so rechtschaffen, daß mir hundertmal Thränen das Auge überschwemmten. Man schüttelte mir so ehrlich die Hand, daß sie mir altem Manne wehe that. Am Ende fand ich, daß ich so viel behalten, als die, so der Hagel nicht betroffen hatte.


Ach, daß sich Gott erbarm!

Nun bin, nun bin ich bettelarm!


nicht, wie mir mein Weib starb, die hart an der Kirche liegt, wo ich Weihnachten, Ostern, Pfingsten feiere, indem ich auf ihrem Grabe den ersten heiligen Tag kniee und bete. Es wird mir schwer, mir altem Manne! Zum Glück ist das Grab hoch, und je älter ich werde, desto höher wird das Grab. Sie starb, und ich dachte, ich wäre mitten entzwei geschnitten; doch waren noch da Tochter, Schwiegersohn und mein und ihr Lieschen. Noch schlaf' ich in dem großen Bette, wo ich mit der Seligen schlief, und wenn ich nicht alle Wochen dreimal von ihr träume, denk' ich, ich sey undankbar und bitte Gott und ihr ab. Ich dacht' ewig zu weinen. Dumm war es von mir, daß ich's dachte, wie bald muß ich bei Maschen seyn! Drei Jahre älter als sie, wie bald muß ich bei ihr seyn! O, wär' ich gestorben vor dir, liebe Masche – vor dir! O wär' ich vor dir gestorben und du gleich nach mir; denn wenn[335] ich wünschen sollte, daß du erlebt hättest, was ich er lebe, würd' ich ein Bösewicht seyn und nie zu dir in den Himmel kommen.


Ach, daß sich Gott erbarm'!

Nun bin, nun bin ich bettelarm!


nicht, wie mir meine Tochter starb, die einzige, die mir mein Weib gleich das erste Jahr nach der Hochzeit schenkte. Das nenn' ich ein Heirathsgut! Masche brachte nicht Geld, nicht Gut; allein sie brachte mir mehr als Geld und Gut, mehr als ein Herzogthum:reines Herz und reinen Mund, und nach weniger als einem Jahre ein Töchterlein – das nenn' ich Heirathsgut! So was kann nur der liebe Gott mitgeben. Es war ein hübsches Kind, ihr Töchterlein, mein Töchterlein, unser Töchterlein! Wahrlich, unser Töchterlein! Man durfte sie nur sehen, halb meine Seele, halb Maschens, halb mein Leib, halb Maschens. Es war ein Drittes von uns Zweien. Als dieß Mädchen geboren ward, war sie weiß wie Schnee und hatte Aederchen wie Vergißmeinnicht; aber sie scheute nicht Gottes Wetter, so strich es sie braun an. Weiße Scherung und brauner Einschlag, allerliebst! Geschwind wie der Wind lief Lottchen bei Sonne und Mond; nicht Hitze, nicht Kälte scheute sie. Am liebsten brachte sie den Leuten Essen aufs Feld, und die Leute, so hungrig sie waren, wußten nicht, ob sie essen oder das Kind ansehen sollten. Sie aßen ohne Augen, die Augen brauchten sie, Lottchen anzusehen. Es lag nicht anMaschen und mir, daß wir nicht mehr Kinder hatten; am lieben Gott lag es, der am besten weiß, was jedem dient. O du lieber Gott! Lotte starb im ersten Kindbett. Alles weinte, nur ich konnte nicht weinen; so ging's mir ans Herz. Lotte starb, doch zum Trost ließ sie mir ein anderes Lottchen, ihr Wesen.


Ach, daß sich Gott erbarm'!

Nun bin, nun bin ich bettelarm!


[336] nicht, wie mein Schwiegersohn starb, der brave Junge! Er ward mit Lottchen erzogen, und sie waren im fünften Jahre schon Mann und Weib. Gern sah ich's, daß sie Greger nahm, obschon er nichts hatte. Er war gut, und das ist mehr als alles, wenn man bei allem nicht gut ist. Schön war es zu sehen, wie sich die jungen Leute liebten. Hätten sie sich nicht so abgezehrt, würd' ich sie so bald noch nicht haben Hochzeit machen lassen. So was Gieriges im Auge, als die Leutchen zeigten, hab' ich noch nie gesehen – man bekam Appetit, wenn man ihren Hunger und Durst nach einander sah. Er starb vier Wochen nach ihr. Wer ihn kannte, weinte über seinen Tod; ich aber freute mich, da er starb, und lobte Gott; denn er starb zu seinem Glück. Ohne sie hätt' er nur gethan, als lebte er. Er konnte nichts mehr anfassen; seine Hände zitterten und über seine Füße fiel er; drum tröstete ich mich darob und sagte wie der Pastor: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sey gelobet! Sie schlafen zusammen in einem Grabe, und es kostete mir was, es dahin zu bringen, daß sie in seinen Sarg gelegt ward. Es war ein Bett auf zwei Personen. Die Leute, die sie handhabten, sagten alle, sie hätte gelächelt und ihre Hand wär' um ihn herumgefallen, als wenn sie gelebt hätte. – Schlaft gesund, liebe Kinderchen, und liebt euch im Himmel!«


Ach, daß sich Gott erbarm'!

Nun bin, nun bin ich bettelarm!


Das Töchterlein meiner Kinder, das sie mir ließen, mein Lottchen, ist todt, ist todt! lieber Gott, ist todt! O ich Bettler! Lottchen ist todt und ich bin es bei lebendigem Leibe; das ist mehr als todt. Alles todt – alles todt – nur ich nicht todt! Sie ist bei ihrer Mutter, sie ist bei ihrem Vater, sie ist bei meinem Weibe; allein die hatten an einander genug. Was hab' denn ich? was? Seit Lottchen todt ist, oder seit sie begraben ist (bis dahin dacht' ich noch [337] immer, ich hätte sie), seitdem sie begraben und ganz todt ist, ist alles todt für mich, alles bis auf mich! Ich, leider, lebe! O ich armer Mann! Ich, wie Brod ohne Kruste so weich, so kraftlos, so, recht so bin ich – ich armer, alter Mann! Es stirbt nur, wer leben will. Habt Mitleiden mit mir im Himmel, ihr Seligen, und bittet den lieben Gott, daß er mich zu sich nehme. Mein Haus und Hof kommt doch in fremde Hände, ich will es jemanden vermachen, der Lottchen ähnlich sieht; denn wo soll ich's sonst lassen? Oft freut' ich mich darauf,euch, meine Seligen, von Lotten neue Zeitung zu bringen, wenn ich zu euch käme, zu euch, ihr mir verwandte Seligen! Sie ist mir vorgelaufen. O! wie gut ist's, wie sehr gut, einen von den Seinen auf dieser Welt zu haben! Ist es denn nicht auch Gottes Welt? Diese Welt der Leib, der Himmel die Seele; beides gut. Wer wird nun vor Tisch, wer wird beten, damit mir das Essen gedeihe, da Lotte todt ist? Wer wird mir so schön, so laut vorbeten? wer? wer? Wer wird mir Weib, Tochter, Schwiegersohn, wer Lotte selbst seyn? Lotte selbst? Wer wird mir die Augen zudrücken? O ich armer Mann! o ich blutarmer Mann! ich Bettler, ich!


* * *


Komm, Schwesterchen, komm auf den grünen Kirchhof, da liegt mein Mutterchen, dein Mutterchen; wir wollen sie besuchen beim Mondenlicht, wenn gute Geister nachtwandeln und wenn sie in den Mond sehen, in des lieben Gottes Nachtlämpchen. Vielleicht erscheint sie uns – o möchte sie! – vielleicht frägt sie: Was wollt ihr, mein Pärchen, was hier? Dich, ach dich, dich wollen wir! Dann kommt sie wohl mit – und wenn sie nicht vom Kirchhof kann, wenn sie nicht vom grasgrünen Kirchhof will, laß uns bei ihr bleiben, Schwesterchen, bei ihr! Hier? O, wenn wir nur bei dir sind, liebes Mutterchen! »Was werdet ihr essen?« Grünes Kraut, das steht auf dem Kirchhof über [338] und über. »Was trinken? seht, kein Wasser des Lebens ist hier!« Den Thau des Morgens, den Thau des Abends wollen wir trinken, und wenn der Thau sich des Morgens verspätet, wollen wir unsere Thränen trinken, die wir so lange weinen werden, bis das Auge uns bricht, wie das deine brach. O, wenn wir nur bei dir sind, nur bei dir, liebes Mutterchen, wir, dein Pärchen, deine zwei kleine Töchterchen, die Treuen!


* * *


Ha! du, du, die Baumschänderin! Sprich, nein, schrei, schrei, damit der harthörige Wiederhall es vernehme und der Gegend ausposaune; schrei: Warum ziehest du stellenweis den Bäumen die Kleider, das Hemd aus und die Haut ab? Die Haut! Weißt du nicht, daß die Bäume dann in drei Jahren (wenn's hoch kommt) aus gehen an der Schwindsucht – und so langsam sterben, so langsam, als die Leute an der stillen Aergerniß? Sieh her, du hast den Baum geärgert, zu Tode geärgert! Und warum die Haut? Zur Farbe! Zur Farbe? Schäme dich, Baummörderin! schäme dich von unten bis an den Hals, und dann ganz voll; schäme dich so, daß du von Stund' an verstummest! Solch eine Entschuldigung! ist die werth, daß sie die Gegend durch's wahrhaft ehrliche Echo erfahre? Trägt dein Vater, du Ungerathene, trägt er nicht einenweißen Schafpelz? Der unschuldige Mann, der jeden Baum bei Haut und Hemd und Kleid läßt, wenn er ihn nicht in Züchten und Ehren braucht zum Bau oder Brand. Er weiß, was dem Stamm gebührt, der himmelan mit seinem Wuchse stürmt und größer ist, als ein Mensch es werden kann. Schäme dich, du Baummörderin, schäme dich, Färberin! die Natur versteht das Färberhandwerk besser als du; sie weiß, was angemalt werden muß, die liebe Malerin! Zu Handschuhen? Sind denn deine Hände nicht weiß? Warum deine Handschuhe anders? Streich die Butter im Sommer weiß [339] und im Winter gelb an. Schäme dich, du Naturbeschämerin, schäme dich bis in deinen Hals! – Bitte den Vater, daß er diesen Baum bald erlöse von all seinem Elende, und dann bleib beim weißen Schaf. Laß dem Wacker die sprenglichten und dem Amtmann die schwarzen. Es sind viele Felle von Böcken sprenglicht und schwarz. Bleib, wie dein Vater, beim weißen ehrlichen Schaf, und das gnädige Volk laß tragen Marder, Wölfe, Bären, den Herzog Löwen, so trägt alles sein eigenes Haar. 1

Fritzchen, mein Bruder, starb. O wenn er noch lebte! o wenn! o wenn! wenn! Welch Lieschen hat nicht ein Fritzchen nöthig, ein Bruder Fritzchen? Für ein anderes Fritzchen dank' ich. Seliges Fritzchen, warum nahmst du mich nicht mit? Warum die Nachtigall? warum? – Das Vögelchen verschied in Fritzens Hand. Sie hatten sich sehr lieb – das Vögelchen und Fritzchen. Ich sah sie beide sterben. Der Vogel lauerte recht auf Fritzens Seelchen, um sich ihm anzudrängen, wie das Vögelchen sich hier an ihn anschloß. Sie ließen nicht von einander. Fritz sieht mich an. Was siehst du, Fritzchen? Was – ich weinte – sollte ich nicht? »Still, Lieschen,« – ich höre es ihn noch sagen – »still, Lieschen, bleib bei Vater und Mutterchen, ich finde dort auch ein Lieschen, unser Schwesterchen, dort, wo der liebe Gott seinen Himmel hat, der besser als seine Erde ist, auch wenn Felder und Wiesen voll sind. Hilf ihn bitten, sehr bitten, den lieben Gott, daß er mich in den Himmel nimmt, und auch mein Vögelchen hinein läßt – uns beide für einen. Du bist ein gutes Mädchen, der liebe Gott thut dir's gewiß zu Gefallen.«

[340] Fritz sah gen Himmel, das Nachtigallchen auch; Fritz seufzte, das Vögelchen sang noch auf, und jedes neigte sein Köpfchen auf die Brust und jedes starb. O wenn sie noch lebten! wenn Bruder Fritzchen noch lebte! Dort leben sie beide, Fritzchen und sein Nachtigallchen. Was kommt's dem lieben Gott auf ein Plätzchen für ein Nachtigallchen an?


* * *


In das kleine Gesträuch jenseits des Flusses kam ein Sturmwind aus dem Flusse. Der Fluß erschrak und lief was er konnte. Der Sturmwind fuhr durch's Gesträuch rasselnd, wie ein vornehmer Prinz, und riß mir meinen Blumenkranz vom geflochtenen Haarthürmchen; ich griff – weg war das Kränzchen! ich lief nach – weg, weg! – Wer ist so geschwind, wie der Wind? Da kam Hans, mein Herzlieber, und Peter, der was beim Junker gilt – bei mir gilt Peter nichts. Sie sahen mich im Bloßen und liefen suchen alle beide. Findet Hänschen den Blumenkranz, gern nehme ich ihn und setze ihn auf und trage ihn, solange noch ein Blumenblättchen lebt, und freue mich, daß mich der Wind im Bloßen gelassen. Wenn er doch fände. AusPeters Hand nichts, rein nichts, auch nicht einen Kranz, der mir gehört und den ich mir zusammengepflückt; nichts, nichts, wenn er auch gleich beim Junker gilt, und viel gilt.


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Da bin ich über'm Wasser und Mutterchen ist jenseits. Es ging schwer ab, wie wir Abschied nahmen, und nun ist's mir noch schwerer, da du jenseits des Wassers bist, am schwersten wird's seyn, wenn ich dich nicht mehr sehen kann, o du liebe, liebe Mutter! – Noch – noch – noch – stehe doch – stehe doch nur noch einen Augenblick. Weg ist sie! und ich? – O [341] gutes Mutterchen, ich in der weiten, lang und breiten Welt, erst bei dir, nun in der weiten, pfadlosen Welt. – Es muß geschieden seyn. – – Nun höre ich dich nicht mehr beten, nun sehe ich dich nicht mehr weinen; nun rufst du nicht mehr: Lieschen! wenn der Tisch raucht, Lieschen! wenn du reife Beeren findest, Lieschen! wenn du eine Quelle am schwülen Mittag entdecktest, die von der Sonne nicht gefunden war. Ich armes Lieschen! Dieß Wellchen kommt von mir, liebes Mutterchen, und bringt ein Thränchen mit von mir – von mir. Siehe es an, es wallt zu dir; sey ihm gut, dem Wellchen, es kommt von mir. Da bin ich, arme Waise, allein, ganz allein! Mutterchen weg, alles weg, alles! – Das Sternchen dort oben – wie es mich anblitzt! Willkommen! dich habe ich auch in unserm Dörfchen gesehen, du sollst Muttersternchen heißen. Es war das erste, was ich wieder aus unserm Dorfe sah. Ewig sollst du, ewig Mutterchen heißen, solange ich sehen kann, soll es Mutterchen heißen – dieß Sternchen, eine Spanne lang vom Monde. Nenne auch du ein Sternchen: Lieschen, nenne es Töchterchen, o du gute Mutter jenseits des Flusses! – Gottlob, wieder ein Bekannter, der Kukuk, und eine gute Freundin, die Nachtigall. Mutterchen, lebe wohl jenseits des Wassers! Dich habe ich nicht, kein Mutterchen habe ich, doch bin ich nicht mehr in der Fremde. Ich habe ein Sternchen dort oben, den Nachbar Kukuk und die liebe Freundin, die allerliebste Nachtigall.


* * *


Schilt nicht, strenger Vater, daß ich bei Hannchen gewesen; schilt nicht, Vaterchen, ich bitte dich. Sieh in den Stall, deinen Liebling, den Schwarzen, habe ich gefüttert. Sieh, das habe ich schon so viele Jahre gethan und das werde ich auch so viele Jahre thun, als dich Gott leben läßt und den Schwarzen. Ich streue[342] mit glücklicher Hand die Saat und schlage das Getreide wie ein Gewappneter. Warum schiltst du? Du hast vergessen, was lieben heißt, sonst würdest du wissen, wie mir wäre, wenn ich zu Hause bliebe. Immer wünsche ich, wenn ich hinreite und wenn ich wieder komme: Wenn es doch Nebel wäre, daß er nicht sähe, der strenge Vater; und wenn auch Nebel ist und wenn ich's auch noch so leise mache, was kann ich dafür, daß der Braune wiehert und sich laut freut, wenn er geht und wenn er kommt? Alterchen, nur Sonntags reite ich. Gehört denn der Sonntag dir, Vaterchen? Nur Sonntags reite ich zu meinem Mädchen, nicht mit deinem Schwarzen, den schone ich, wie mein Auge im Kopfe. Ich reite geschwind zu Hannchen, und du willst, dein Liebling, der Schwarze, soll so gehen wie du, Alterchen, ob er gleich nur sechsjährig ist. Laß mich reiten und schilt nicht, ich reite nur Sonntags, ich reite zum lieben Gott, und auf diesem Wege treffe ich Hannchen und ihre Mutter.


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Mein Vaterchen, mein Trostchen, bist du vor'm Thore gewesen? Da ist's glatt und schlüpfrig; wer da geht, fällt schneller, als auf dem blanken Spiegeleise. So ist's den ganzen Sommer auch, wenn die Erde ringsumher brennt, wie ein Backofen. Immer glatt und schlüpfrig, wie Lehm, wenn er zum Haus angeknetet wird. Weißt du auch, wie es glatt und schlüpfrig ward, Vaterchen, mein Vaterchen? Eben da, da, wo es jetzt glatt und schlüpfrig ist, gab mir Peter den Silberring bei Mondenschein – so schön Silber, wie der Mond; ich hielt beide zusammen und prahlte mich gegen den Mond. Silber ist Silber. Da, eben da verlor ich mich selbst, meine Unschuld, mein Leben, es ist alles eins. – Der Bösewicht schwur und fluchte, als er verführte, Phylax, nimm kein Brod von ihm, und wenn er mit frischer [343] Maibutter es auch salbt, nimm nichts vom Bösewicht, der spotten konnte nach der That. Du weißt, er spottete auch dein, Vater, und deiner gesprenkelten Haare. Den Ring hab' ich an der schlüpfrigen Stelle vor'm Thore verworfen, verworfen vor'm Thore, wo es jetzt glatt und schlüpfrig ist. Alles war da schön, grün und gelb, wie der Bösewicht mich verführte; aber ich weinte, Vater, ich weinte, und weinte von Herzen sehr, ach, sehr! – Gleich, Vater, ist das grüne Plätzchen morastig worden, seitdem ich die erste Thräne darauf fallen ließ, und so glatt und schlüpfrig, daß alles fällt, was drauf geht.


* * *


Wo bleibst du, mein Liebchen? wo? Schreien darf ich nicht, sonst möcht' es meine Mutter hören, die mich zu Greten zwingen will, weil ihre Eltern Acker haben und du nur gesunde Hände. Nur? das sey Gott geklagt, nur zu sagen, wenn man von gesunden Händen spricht. Schreien darf ich nicht – allein ich rufe: Liebchen! Liebchen! so wie ein Zeisig: Liebchen, Liebchen! wo bleibst du, mein Liebchen? wo bleibst du? wo? Schreien darf ich nicht, aber der schöne Abend, lispelt er's dir nicht ins Ohr, daß ich warte, daß ich nach dir seh' und nach dir laufe? – Ha! da kommt sie! Nein, ein Stieglitzchen, leicht – leicht wie du, mein Liebchen. – Wo bleibst du? wo bleibst du, Hannchen? Hast du ihn abgeschickt? Vögelchen – weg ist er. – Er kam nicht von dir, wär' er nicht sonst geblieben? Schreien darf ich nicht, aber – hörst du nicht, hörst du nicht, Liebchen, hörst du nicht die Nachtigall? sie ruft ihr Siechen und ruft dich mit. Die Nachtigall kann lauter seyn als ich, denn sie hat keineMutter zu fürchten und keine Grete. Ich darf nicht schreien, aber du wirst doch wohl so eine deutliche Ausrede, als die nachtigallische, verstehen? Wo bleibst du, mein Hannchen? wo? Alle Augenblicke denk' ich, da, da [344] ist sie! und immer ist's ein Vögelchen, eines schöner als das andere – keins so schön wie du. Wenn du nicht mich, nicht den Abend, nicht die Nachtigall hören kannst, o, wenn du taub über taub bist, höre den lieben Gott; du hast mir versprochen zu kommen und kommst nicht. Weißt du auch, daß wir auf die Nacht Ungewitter haben? Wo bleibst du? wo? Hanne, wo?


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Warum weinst du, Schwägerin? Du hast einen Mann verloren, allein er hat dir drei zurückgelassen; drei Söhne, drei gesunde, starke Jungen, die dich auf ihren Händen tragen, drei brave Jungen, die was tragen können. Gönn' ihm die Ruhe, seine Krankheit ließ ihn nicht viel schlafen, da er älter war, und in der Jugend ließ es die Arbeit nicht. Er hat in dieser Welt nicht viel geschlafen. Gönn' ihm den tiefen, süßen Schlaf; du hast drei Söhne, laß ihn schlafen, Schwägerin, weine nicht.

Was weint ihr, Kinder? ihr habt nur einen Theil verloren, und einen Theil habt ihr noch: eine gute Mutter – wischt ihr die Thränen; pflegt sie, damit sie nicht auch krank werde, wie er war, und ihr es nicht am Ende selbst von Gott bitten müßt: Ach, wenn sie doch nur stürbe! wer kann sie ringen sehen? wer? wer kann sie wimmern hören? Ach, wenn sie doch nur stürbe! Dann müßtet ihr weinen, wenn ihr daran Schuld hättet, daß ihr so beten müßtet; jetzt weint nicht.

Mich, mich laßt weinen, lieben Leutlein! laßt mich, mich laßt weinen! Ich hab' meinen Bruder verloren, den einzigen, den ich hatte; und was hab' ich von ihm behalten? Zwar auch was, aber was? Einen Baum am väterlichen Hause, den unser guter Vater an dem Tage pflanzte, da unsere Mutter zu ihm sagte: Es geht unter meinem Herzen auf. Der Vater pflanzte den Baum, und Caspar und der Baum waren Jahreskinder. Der Vater nannte sie beide Caspar, den Sohn Caspar, den Baum Caspar. Der [345] Baum steht und blüht und ist immer kerngesund. Sein Milchbruder todt! das ist nicht tröstlich, ärgerlich ist's. Der Baum Caspar steht, der Bruder Caspar stirbt; aber auch ich finde mich drein, und sollt' ich nicht? Der Baum lebte nur im Sommer, und Bruder Caspar lebte auch im Winter. Zwar schläft der Mensch, doch lebt er drum nicht? Ich möcht' einen Traum nicht um drei Tage hingeben, und der Baum, schläft er nicht auch? läßt er seine Flügel nicht fallen? Seine Blätter genießen die süße, sanfte Ruhe und werden durch den Sonnenstrahl erweckt früher wie wir. Wären die Bäume im Winter, wo die Störche sind, würden sie inwärts ausschlagen und blühen; o, dann wär' es was anderes! Ist aber im Winter der Wald nicht eine Einöde bis auf die Tannen, die nicht aus den Kleidern kommen? Da stehen sie, wie Trabanten, in voller Pracht und Herrlichkeit, wie eine grüne russische Wache um den Regenten, so stehen die Tannen um die Eiche herum – und Bruder Caspar, war er nicht ein Mensch? Das ist viel mehr, als ein ganzer Wald voll Eichen und Tannen. Der Baum ist Baum und bleibt Baum. Bruder Caspar ist ein Engel worden, Baum Caspar ist Baum und bleibt Baum. Sey ruhig, lieber Baum, ich werde dich nicht tödten. Ihr, die ihr die Hand nach ihm ausreckt, laßt ihn, wenn er auch noch so alt und wohlbetagt ist, oben eine Glatze bekommt und blätterlos wird – laßt ihn, er ist mit mir verwandt; er heißt Caspar. Und wenn ich mit dem rechten Caspar im Himmel zusammenkomme, will ich es seinem Milchbruder erzählen, daß der Baum noch vor dem väterlichen Hause stehe. Ich weine nicht mehr. 2


[346] * * *


Der Krieger ist gefallen, doch fiel er? Nein, er sank. Wer fällt, hat das Herz verloren, und man braucht das Herz bis auf den letzten Lebenshauch. Er sank, allmählig kam er zur Erde. Hört es, Krieger, die ihr mit ihm lebtet und nach ihm leben werdet: nicht der Feind, nicht der Feind, sondern der Tod hat ihn übermannt. Unser Held hatte den letzten Schlag; den Krieger schlug er, der ihm den Todesschlag gab, und der fiel, aber unser Held nicht, unser – – sank. Die Sonne geht allmählig unter; seht ihn, wie langsam er sich zum Staube neigt, zum Staube, ein Held. Kommt, kommt, laßt uns unter sein schwindelndes Haupt einen bemoosten Stein legen; solch ein Kopfkissen geziemt ihm. Kommt, laßt uns seinen Leib auf eine schöne Wiese tragen und den Blutstropfen nicht auswaschen, der auf unser Kleid fällt. Es ist edles Blut; der Staub soll sich nicht drin betrinken. Du, grasreiche Wiese, Lager für Helden, du verstehst diesen Trank, du trägst Blumen für Helden, womit sie bekränzt werden, wenn sie den Frieden auf schwarz gewordenen Händen heimtragen. – Er richtet sich auf – kein Ach, das kann kein Held aussprechen. Was ist's denn, was? Seine Zunge ist gelähmt, er kann nicht mehr, er wollte – – Sieg; Krieger, die Deinen haben gesiegt! Ha, wie er lächelt! Seht ihn, denGroßen! eh' euch Engel verdrängen, denn die müssen zu solch einem Anblick herabstürzen; sie haben solcher nicht viel. Sieg, Held, Sieg! Gott, so ein leichtes Wort kann er nicht mehr aussprechen; gern wollt' er's. Aber hören kann er's; schreit, Brüder: Sieg! Sieg! Er lächelt wieder und – stirbt. O glücklicher Halm! o glücklichster, auf den der letzte Tropfen fiel, auf den er noch warmes Blut thaute! Wie schnell wirst du wachsen und alles übersehen, was rings um dich steht und größer zu werden droht! – O glückliche Männer, auf die noch der letzte Strahl aus seinen Augen schoß! wir hätten die Altarlichter dran anzünden können, so feurig. Er stirbt – ich [347] wollte weiter singen; kann ich? kann ich mehr? Er stirbt, er stirbt! ist alles, was ich sagen werde, bis auch ich sterbe. Das erste und letzte vom Menschen ist das beste. Ich habe viel gesehen, sah ihn, wie er geboren ward, sah, wie er starb; ich hab' ihn ganz! Er lächelte, wie er zur Welt kam; allein er lag so schön nicht, als jetzt, da er starb. Wie schön er da todt ist! So todt sind nur wenige; denn sonst würde es nicht schwer seyn, zu sterben.

Du hast gesiegt, Held, du hast den Feind überwunden, und zwei Tode, zwei Tode starbst du, ohne zu sterben, dem dritten mußtest du nachgeben. Du warst matt. – Ist's Wunder?

Gönnt der heiligen Stelle die Ehre, daß er noch länger darauf liege. Sie ist warm durch ihn worden, laßt sie auch kalt durch ihn werden. Der warme Tag ist schön, der kühle Abend auch. Und dann scharrt ihn nicht ins Thal; auf jenen steilen Berg, wo wenige hinauf können, keiner, der einen kurzen Odem hat, da scharrt ihn auf die Spitze, damit er den Berg noch größer mache. Er war Berg im Leben und nicht Thal, und muß bei seines Gleichen im Tode.

Wie, du willst ihm die Augen zudrücken? Laß sie starr, wie sie sind, laß sie, Freund. Die Sonne bleibt Sonne, wenn sie gleich verfinstert ist, und auch ein Viertel vom Mond ist Mond. Laß sie so starr, wie sie da sind. Ihre Seele ist weg, allein sie haben noch was, das viele Augen mit Seelen nicht haben. Es wohnte eine große Seele in ihnen, und das sieht man jedem Hause an, wenn schon der, welcher es baute, lange todt ist. Aendere nichts – was die Natur will, sey auch dein Wille. Willst du was thun, setze oben über sein Grab ein Kreuz, das ist das größte Zeichen, was mir bekannt ist; ein Krone hat auch ein Pfau. Mache dieß Kreuz groß, damit es in der See gesehen werde, und Schiffe, die sich verirren, dieß Kreuz als Wegweiser ehren und sich freuen, wenn sie es sehen.

[348] Lebe wohl, Streiter! Erzähle den Geistern des Himmels, die nie gestorben sind, daß es auch gut sey zu sterben, damit sie den Sterblichen nicht verachten, weil er sterblich ist. Die Engel, die dich todt gesehen haben, kannst du auf mein Wort zu Zeugen rufen. Erhabener Todter, man achtet das Leben nicht, wenn man dich sieht! O möchtest du nicht verwesen! du solltest ewig dazu dienen, den Furchtsamen zu steifen und jeden zu lehren, daß nicht jeder auf gleiche Weise todt sey. Dir sieht man es an, daß du nicht aufhören kannst, daß du nicht aufgehört hast. Es stirbt nicht jeder auf gleiche Weise, es lebt nicht jeder auf gleiche Art. Stiller Mond, dieß große Grab empfehle ich dir; du siehst viel, was die Sonne nicht sieht, du bist ein Sonntagskind und kannst Gesichter sehen, die sonst niemand zu sehen versteht. Du siehst fromme Geister, wenn sie um die Gräber der Ihrigen wanken, die sie noch nicht in dem weiten Himmel aufgefunden haben; du siehst, wenn sie sich von ungefähr treffen und wenn sie den himmlischen Bund machen: »Wir lassen uns nicht in Ewigkeit.« – Du siehst erkenntliche Geister, die ihren Ueberrest, ihren verwesenden Körper, besuchen, die Stück vor Stück von ihm Abschied nehmen und ihn bedauern, daß er Körper war und daß er gestorben ist. Rührend muß es dir seyn, lieber Mond, rührend, so was zu sehen, wenn Geist und Leib sich zusammen finden und sich nicht mit einander besprechen können; wenn die Seele erkenntlich seyn will gegen ihren guten Freund, den Leib, und es nicht seyn kann. Oft habe ich einen Freund auf dem Brette gesehen, mit dem es mir fast so ging, als dem Geist mit dem Erde werdenden Körper, – Da wankt der Betrüger, der der armen Wittwe den Acker abgränzte. Gern möchte er sie mit einem dreimal größern Stück entschädigen; kann er? will sie? Noch haben sie sich nicht begegnet, allein wenn auch; hat sie denn jetzt nicht mehr als er?

Hier wankt ein Geist, der als roher Jüngling ein warmblütiges, [349] zu leichtgläubiges Mädchen ins Verderben zog. Bald war ihr Jammer vollendet; sie starb, ohne dem Verräther Vorwürfe zu machen, die Abgezehrte! Ihr Auge durfte nicht zugedrückt werden, es war so tief gesunken, daß man es nicht mehr sehen konnte; es war ein eingefallenes Grab. Sterbend rang sie ihre verwelkten Hände und bat um Gnade bei Gott und den Menschen. Die Menschen erhörten sie nicht. Mit Spott und Schande ward sie begraben; aber jetzt hat sie ausgerungen, ihre Leiden sind geendigt. – Wann werden die deinigen geendigt seyn, Unglückseliger? wann? – Im Traume sieht man alles größer und näher, und so sehen Geister auch. Desto besser für den Guten, desto schlechter für den Bösen und für dich, Mörder! Unglückseliger!

Das alles, Mond, Seelenfreund, das alles siehst du als Sonntagskind; und was siehst du nicht unter den Lebendigen? Doch du bist verschwiegen, ich will es auch seyn.

Wenn der von seinen ungerathenen Kindern verstoßene Greis die Hände gen Himmel über sein Haupt zusammenschlägt und sich nach einem seligen Ende sehnt, wenn er laut betet: »Es ist genug, Herr, laß mich ruhen, ich kann nicht mehr!« dann bestrahle das Kreuz auf diesem Grabe, mache es ringsumher hell und klar, denn in des Greises Augen ist Abend worden. Es war nicht Raum in der Herberge für mich Unterdrückten in der Welt. Gott, nimm mich in den Himmel, wo für mich Raum ist. So bete er, wenn er dieß Kreuz sieht, und sanft und selig gehe er dann zur Ruhe. Mond, den frommen Pilger, der nicht mehr die Kirchenthürme der benachbarten Stadt erreichen kann, den der Tod auf dem Felde überrascht, Mond, diesem Pilger leuchte nach Hause, diesem Pilger sey dieß Kreuz ein Kirchthurm des Himmels. Mond, laß es dieß jedem Kreuzträger seyn und jedem Bösewicht ein Schreckbild, damit er an seine Brust stark klopfe und umkehre und gut werde, und endlich, Mond, wenn unser Land Helden braucht, [350] laß sie von diesem Grabe ausziehen, und wenn blutdürstige Feinde wie Heuschrecken uns überfallen, dann verhülle dein Haupt und dreimal blitze es um dieß Grab. Da sage dann ein Ehrenmann im Volke: So wie dieser Blitz, so blinkte mit dem Schwerte, der da oben begraben liegt, da oben, nahe am Himmel; und wie ein kaltes Fieber im Frühling in die Glieder fährt, ehe man es merkt, so fahre Furcht und Schrecken in die Feinde, wenn sie das Grab und das Kreuz darüber im Blitze sehen! Das ist anders als ein Mondschein! Du bist derselbe, wo man steht und geht, weit aussehender Mond! Sey den Freunden des Helden, uns, den edlen Todtengräbern, sey ein Spiegel, in dem wir das Grab und das Ehrenzeichen darüber immer sehen, wir mögen stehen und gehen, wo wir wollen, und auch in deinem letzten Viertel. – Bitte ich zu viel, so denke, wie nahe wir diesem Grabe verwandt sind. – Auch in deinem letzten Viertel sey dieß Grab bis zur Hälfte zu sehen, bis zur Hälfte! – Genug, Freunde; Mond, Kreuz, Grab! das sey unsere Losung, bis auch wir begraben werden im stillen Thal, wie es uns geziemet. Ein kleines Gräblein, das sich nichts über das Thal herausnehmen und kein Hügel seyn darf, sey unser Haus. Ein Orden, ein Kreuz gebühret nur Helden. Wenn der Geisterseher, der seelenvertraute Mond, wenn er mit den Gräbern der Helden fertig ist und noch einen Blick übrig hat, er wird ungebeten mit ein paar holden Strahlen unsere Gräber beehren, damit ein Minnesänger unser Ruhethal bemerke und, auf unser Grab durch heilige Ahnung gebracht, ein Grablied auf seine Geliebte singe und auf sich selbst eins, weil jene ihm starb.

Dank sey euch, ihr Treuen, ihr Lieben des Helden, die er beschützt hat! Wir haben eine heilige Pflicht erfüllet und Ehre gegeben, dem Ehre gebühret, und einen Helden und einen Berg verbunden. – Gleich mit gleich. – Laßt uns froh heimkehren; denn es läßt nicht, wenn Helden weinen, und wer kann einen [351] Berg mit Thränen im Auge ansehen? wer? Er hat überwunden und ist mit Ehren vom dritten Tod überwunden. Noch eine Pflicht liegt uns ob, dieß Grab zu verhehlen seiner Vielgetreuen. Was wir können, kann sie nicht. Sie ist so sehr ein Weib, als er ein Mann war. Kommt, Freunde, sie könnte uns überraschen; kommt! Warum seht ihr euch um, Freunde? Kein Held sieht sich um; kommt! Wir nehmen den Mond mit.

Weh! weh! Ist es nicht ihr Silberton? Versteckt euch – doch nein, es ist eine Nachtigall, die auch den Geliebten verloren hat. Solch ein paar Stimmen,Luisens und der Nachtigall, sind leicht zu verwechseln. Schluchze nicht, kleine Betrübte, dein Geliebter ist nicht im Felde gewesen, da fällt nur, was vortrefflich und ehrlich unter den Menschen ist; du wirst ihn wiederfinden, allein Luise nicht ihren Geliebten.

Was für ein Geschrei? Ist es eine Taube, die nach ihrem Gatten girrt? Ist es ein Käuzlein, das erbärmlich sich hören läßt? Ist es beides? Ist es keines? Ha, Freunde, sie ist es, es ist Luise! Gott, wie verändert! Aus einer Nachtigall, was ist sie worden? Kommt, laßt uns fliehen – fliehen – fliehen! – Unsern Freund haben wir sterben sehen, Luisen werden wir nicht leben hören können. Kommt, Freunde! Auch du,Alter! Nimm dich zusammen, gib deinem Sohn die Hand, damit er ein Stück von dir übertrage. Kommt, kommt alle! Du starrst, Geliebter, du starrst! du vor allen Getreuer! Was ist mein Gesang gegen dein Gesicht? Laß es mich abschreiben, ich bitte dich, laß! Dann haben Kinder und Kindeskinder ein Muster von edlem Schmerz. Doch seht, es bricht sich Tod und Leben auf deinem Gesicht, mein Geliebter, mein Freund! Gottlob, die Herzensblutschleuße ist nicht mehr gehemmt, sie ist wieder aufgezogen und es fließt Blut in dein Gesicht. – Ach, Geliebter, soll ich, soll ich weiter singen? Es ist Luise, Freund, sie ist es! Kann ich? soll ich? Flieht, [352] Freunde, sie ist uns nahe! Verbergt euch in das Gesträuch tief – tiefer! – Freunde eines Helden fliehen? verbergen? Doch, einem Weibe zum Besten, dem Weibe eines Helden zum Besten? Solch ein Weib können nur Memmen aushalten, Männer nicht. Wir sind Helden, Freunde, weil wir fliehen, weil wir uns verbergen tief im Gesträuch. Je tiefer, desto heldenmüthiger!

Ist Luise nicht eine Heldin, weil sie betrübt ist bis in den Tod, weil sie ihre Stimme verloren hat? Und was weiß sie? Weiß sie mehr, als daß ihr Geliebter im Felde ist? Weiß sie seinen Tod? Weiß sie die Losung: Kreuz, Grab, Tod!

Luise! sie ist es, Freunde. O wäre es ihr Geist, dann wären Franz und Luise doch bei einander! Wie hat ihr Gesang sich verändert! Hätte ich sie nicht gesehen, durch das Gehör hätte sie niemand gekannt, der singen kann, niemand, der nur singen hören kann. Luise! Luise! Seufzt ihren Namen, Freunde, seufzt inwärts; so wie der Seufzer aus dem Herzen kommt, stoßt ihn ins Herz – sie könnte uns sonst merken und wir wären verloren. – Auf unserer Stirn würde sie lesen, was sie nicht wissen soll. Wir wären ihre Mörder. Die geheimen Worte: Kreuz, Grab, Tod sind uns angeschrieben an der Stirn einmal, zweimal, dreimal, überall. – Stecket die Köpfe ins Gebüsch!Jüngling, du hast noch zu wenig Kreuz gehabt, du verstehst nicht Seufzer zu dämpfen, lerne es von uns, du wirst es benutzen. Freunde, wenn euch die Hände zittern und die Füße auch, schlagt sie ins Kreuz, damit einer den andern halte und Luise nichts merke! – Ins Kreuz, Freunde!

Wo bist du, Franz? Wo bist du hin, Falscher? Du liebst den Krieg mehr als mich, den Tod mehr als das Leben! Wo bist du? – Du hast deine Geliebte verlassen, die nach dir zielte, wie ein Jäger nach Wild – nach dir sang, wie die Vögel im Frühling nach einander singen, bis sie sich gefunden haben. Wo sind deine [353] Schwüre, deine Verwünschungen, Unglücklicher? Was hat der Krieg, das dich reizen konnte, da du mich hattest? Dein Leben gehört Gott, dir und mir, oder besser, Gott, mir und dir, und keinem von uns dreien gibst du es; du bringst es dem Vaterland! Kennst du dieß Ungeheuer? Ich kenne es nicht, ich mag es nicht, ich will es nicht kennen, dieses blutdürstige Thier, das seinen Weg mit Menschenleichen pflastert, um weich zu treten, und an verwüsteten Feldern und an ausgebrannten Wäldern seine Luft sieht, das jedes Grab haßt, weil es lebt. – Vaterland, wie häßlich bist du! – Auch meinen Geliebten hast du auf deiner Seele, wenn du eine Seele hast. Vaterland, du wohnst in einer Mördergrube! Franz, wie konntest du dich verleiten lassen? Ehre? Was ist Ehre? Weißt du es? Ich weiß es nicht. – – Wer uns in die Augen ehrt, ehrt uns der? Und wer's thut, wenn wir nicht dabei sind, ehrt uns der? Weiß dieser Fels, wenn ich sage: ein schöner Fels, und richtet sich die abgehauene Tanne in die Höhe, wenn ich sage: ein trefflicher Baum? Hören wir, wenn wir gestorben sind? Und was ist die Ehre, wenn wir nicht hören können? Du hast falsch Geld eingewechselt, Franz; schäme dich, daß du gestorben bist! Doch bist du todt, Franz? Rede doch, ich ringe meine Hände, ich halte sie gen Himmel, ich – was weiß ich, was ich thue. – So rede doch, Franz, bist du todt? lebst du? Verzeihe einem Weibe, daß sie nicht männlich denkt. Du hattest zwei Hände, eine für mich, eine für deine Pflicht. Es war Pflicht, daß du in den Krieg gingst; du hattest dein Wort eher der Fahne als mir gegeben. Verzeihe mir, Franz. Ich sah dein linkes Auge in Thränen, da du Abschied nahmst; im rechten war Muth. Eine Hand war stark, die andere sank. O Franz, Franz! wenn wir uns doch eher gekannt hätten! – Vielleicht hättest du dich mit keiner andern Pflicht vermählt, als mit der, mich zu lieben. – Die schöne Pflicht! – Ist sie nicht schön? Traurig schön! O wenn du [354] leben möchtest, doch – du lebst nicht, du bist todt! todt! todt! Ich sah dich kämpfen, du edler Kämpfer, ich sah dich mit vielen zugleich anbinden. Ich sah dich kriegen, edler Krieger, ich sah dich den ganz treffen, der dich halb traf, den stürzen, der nach dir schlug – ich sah Blut und Schweiß, beides edel zusammenrinnen und vor deiner Stirn stehen, und da der Zufluß zu stark war, es von deinen Wangen herabthauen – ich sah, o Gott! ich sah dich die Knie steifen, die schon zu sinken anfingen! Wie bleich, welche Blutdürre auf deinen Wangen! wie welk! Tod, da liegt er! Das dachte ich wohl, ich dachte es, Geliebter, daß du sterben würdest. – Schreckliche Ahnung! doch war es bloß Ahnung? Es war ein Zeichen vom Himmel; denn es starb ein Edler! Wenn ein solcher stirbt, macht man im Himmel Platz. O ein Trefflicher ist gefallen! Klagt, ihr Jungfrauen, der edelste unter allen Jünglingen ist gestorben, ohne seinen Stamm fortzupflanzen und ohne einen Sohn zurückzulassen, der seinem Bilde ähnlich. Klagt, ihr Feigen, ein Held ist todt. Klagt, ihr Helden, euer Bruder ist dahin. Es sterben tausend und abermal tausend mit ihm, mich ungerechnet. – Ich kühlte jeden Herzensstich, den er ausstand, den er überwand, und den letzten, letzten Todesstich, der ihm das Leben nahm. Ach, noch dehnt sich dieser Stich in meinem Busen – Franz ist todt! todt! todt! todt! Rufe laut, überlaut, alles, was rufen kann: todt! – und was nicht Sprache hat, halle nach: todt! – Für mich alles todt, die ganze Welt todt – mein Geliebter hin, alles hin! – Leben hin, Tod hin, ach selbst der Tod hin. Luise soll nicht in Franzens Arm sterben – o des schönen Todes in seinem Arm! So trefflich soll Luise nicht sterben, so lebendig nicht gen Himmel kommen! Ha, schreckliche Nacht, die ich überstand! Ich fühle es, keine werde ich mehr überstehen – ich träumte, was ich sang. Ahnungsvoll sprang ich auf im Traum, und Ahnung bestätigt diesen Todestraum: Franz ist todt! – Ich rief im [355] Walde, wo das Echo so oft Franz nachgerufen, ich rief in den Wald: Franz! – Keine Antwort; nichts auf mein Franz, auf mein wiederholtes Franz! Echo, bist du verstummt? Du rufst alles, nur Franz nicht – kannst du den süßen, leichten Namen Franz nicht mehr nachsprechen, oder liegt es an mir, daß ich mir nicht getraue, ihn laut vorzusprechen? Ich könnte Franzen, dünkt mich, im Sterben stören – ihn stören, wenn ich schrie: Franz! und nun endlich wie aus einer Kluft hohl: Franz! Schnell lief ein Schauder mir durch alle Glieder, durch das geheimste Mark. Der schönste Name in der Welt, wie schrecklich ward er mir! Wie ist's, Echo? Ich weiß alles! Heult nicht, Hunde! rufe nicht, Eule! laßt mich rufen, laßt mich heulen! ich weiß alles! Schrecklich! Wie traurig das Licht brannte, als auf einer Leichenwache; vergebens munterte ich's durch eine Nadel auf, womit mein Busen befestigt war, vergebens sachte ich es an, es wollte nicht, es konnte nicht. Franz, auch du hast ausgebrannt! Umsonst wälzen dich Freunde, umsonst schütteln sie deine Hände, umsonst – du bist todt! todt! todt! Doch sind es Freunde, die dich umgeben. Vielleicht Feinde – deine Mörder – Mörder, die deinen Heldenwerth verkennen und sich nicht einmal rühmen ihrer Mordthat. – Vielleicht rinnt dein Blut, dein edles Blut in eine Pfütze voll unreinen, dicken Bluts der gemeinsten Krieger. – O Franz, wüßte ich, daß du wie ein Held begraben wärst, wie du gelebt hast und wie du gewiß gestorben bist, ich würde mich beruhigen; denn bald, bald werde ich bei dir seyn. Wenn aber dein Leib als Scheusal aufgestellt ist, dein schöner Leib, das Meisterstück der Natur, Franz, was hebe ich an? Engel, Menschen, wen rühren meine Klagen zuerst? Wer ist am menschlichsten unter allen Geschöpfen? wer? Franz ist tobt, todt! Wer zeigt mir den Weg zu dem einzigen Trost, daß ich weiß, daß ich sehe, wie er todt ist, wo seine matten Hände ruhen und seine kühne Brust? Wer ist der Holde, der [356] mir den Schlüssel zu seinem Grabe gibt? O wäre sein Kämmerlein verschlossen, wäre seine Gruft heilig, wie ruhig!!

Auf, Freunde, tretet hervor, folgt mir, verdoppelt euren Schritt, damit wir Luisen das Grab des Helden zeigen! – Luise, wenn du hältst, was du versprochen hast, wenn du ruhig seyn willst, wenn du es kannst! Sie that einen Schwur mit ihren Augen, die sie gen Himmel anstrengte. – Diese Hände trugen ihn in die Höhe, sagte der Aelteste, sie trugen ihn in den Vorhof des Himmels, wo Lohn nach Arbeit auf ihn wartet! Mache dein Auge groß, Luise, du sollst sein Grab sehen und ein Ehrenzeichen oben drauf. Gönne ihm die Ruhe, gönne sie dir selbst. – Sein Andenken sey uns ewig heilig! – Bist du vorbereitet? Hast du den letzten Tropfen Thränen in deinem Auge verwischt? Hast du Stärke hinauf zu blicken? Wohlan, dort oben schläft Franz!

Sie sah mit einem umfassenden Blick. Ach! seufzte Luise, schlug ein Kreuz vor ihrer Brust und sank todt zur Erde.


* * *


Heute habe ich einen Leichenschmaus, alle meine Kinder sind bei mir; komm auch, Nachbar. – Damit alles paarweise gehe, habe ich die Wittwe Marthe eingeladen. Du wirst Gelegenheit haben, an deine selige Frau zu denken, wenn du die Wittwe Marthe, deiner Seligen leibliche Schwester, siehst, und wenn du auf meinem Leichenschmause bist. – Ich habe einen Enkel verloren, einen Kernjungen. Der Tod hatte lange mit ihm zu thun, ehe er ihn zu Boden riß; Jakob wehrte sich, so klein er war, mit Jünglingsstärke. Jakob, der Erstgeborne meines Aeltesten, der im väterlichen Hause bleiben wird, weil er der Aelteste ist, Jakob führte meinen Namen und war mir so augengreiflich ähnlich, als mir keiner von allen meinen Kindern und Großkindern ist, die mir alle ähnlicher sind, als jene. Alle Leute nannten den Seligen: Großvater, und der kleine Junge freute sich drüber und that so alt, als [357] wenn er's wäre. Er ist ein Theil von mir, ein Ast vom Stamm, und soll da begraben werden, wo ich einst begraben zu werden den Meinigen anbefohlen habe. Nachbar, wir wollen betrübt und froh seyn, so wie man in der Abenddämmerung sieht und nicht steht. – O Greger, es ist ein köstlich Ding, wie unser Pastor sagt, zu sterben, ehe man stirbt! Was meinst du, wenn man sich begraben sieht? Du bist gestorben, Greger, ehe du starbst, du hast dich begraben sehen und lebst, denn dein Weib, Wittwer, warst du selbst! Sieh, ich habe noch alle die Meinigen, nur Jakob, den Hauptenkel, habe ich verloren, den begrabe ich heute. Da liegt er schon auf einem weißen Laken; du wirst ihm folgen mit deiner seligen Frau Schwester in einem Paar. Ich werde mir selbst folgen mit meinem Weibe Hand in Hand. Gott gebe, ich stürbe mit ihr paarweise. Zwar hat mich Gott gesegnet mit Kindern und Kindeskindern, die noch grünen und blühen und Früchte ansetzen werden zu seiner Zeit. Hast du aber nicht bemerkt, Greger, die Blätter sträuben sich lange und trotzen dem Herbste, fällt aber das erste gelbe Blatt, fallen ihm mehrere nach, bis der Baum nackt und bloß steht. – Ich bin bereit, mein Weib ist bereit. O wären wir die ersten, die nach diesem gelben Blatte fielen! Ruhe wohl, Jakob, du bist, so klein du warest, eines christlichen Begräbnisses werth und eines Leichenschmauses. Fromm wollen wir reden, Nachbar, und das letzte Glas wollen wir trinken auf ein seliges Ende.


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Tanne, warum so stolz unter deines Gleichen? Warum Meuterei wider die königliche Familie der Eiche? Ich, dein Landsmann, aus Norden gebürtig, wie du, finde keine Hoheit an dir von Fuß bis zur Scheitel. Wenn sanfte Winde dich und alles, was um dich ist, mit einer verstehbaren Sprache beleben, rausche mir zu, was dein Vorzug ist, damit ich's durch den Wiederhall deinen Nachbaren, wer sie auch sind, verkündige, auf daß sie dich [358] ehren, wie die königliche Eiche geehrt wird, und wenn du es verdienst, noch mehr. Sieh an die majestätische, dreihundertjährige Eiche, die die Geschichte des ganzen Waldes weiß, da steht sie unerschüttert, trotzt den Stürmen aller Weltgegenden, trotzt allem – nur Gottes Donner nicht; wenn du dich vor jedem Winde bückest und dich windest, kriechst und wie ein Hofmann schmeichelst, damit jeder Wind dich nicht aushebe und deine Wurzel aufdecke allen, die vorübergehen. Grün bist du im Winter, wenn die Eiche, von ihrem königlichen Schmuck entkleidet, nach Art wahrer Größe sich nichts vor ihren Unterthanen herausnimmt. Ist aber das Kleid wahre Hoheit? Wo ist dein Werth, wenn auf einem einzigen Eichenblatte sich ganze Geschlechter niederlassen, und du Nadeln statt Blätter zählest? Sieh nicht verächtlich, Tanne, auf die tief unten grünende Waldblume, die, wenn sie im Frühling aufgeht und ringsumher im nackten Walde alles öde und leer findet, sich erst im Thau badet, um desto Heller und klarer zu dir hinauf zu blicken und das erste Baumgrün zu sehen. Neige dich zu dieser aufgehenden Waldblume, Tanne, die du dich vor jedem nur rauschenden Winde so tief beugest, blicke her auf die Eiche, die keinem Unterthan, der zu ihr flieht, Schutz und Schirm versagt, und wenn der in die Höhe strebende Baum von Buben gebrochen wird und sich zu ihr wendet, ihm einen Ast reicht, damit er den Streich verwachse, den der Bube an ihm vollführte.


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Schmetterling, Schmetterling, setze dich! – Sieh den Sperling, der auf dich lauert und seinen Schnabel wetzt, um dich als einen Braten zu essen und Salat von dem Blättchen, wo du sitzest, dazu zu picken. Schmetterling, Schmetterling, setze dich! Ich will dir nicht einen Flügel ausreißen oder einen Fuß, oder dich ängstigen, Närrchen; nein, du bist klein wie ich.Gerg, mein größerer Bruder, fängt sich größere Vögel, und er geht nicht mit ihnen um, [359] wie ich mit dir umgehen werde. – Weißt du, was ich will? Ich will dich ein wenig ansehen, schönes Jungferchen, nicht lange. – Ich weiß, du lebst nur kurz, armes Vögelchen, künftigen Sommer bist du nicht mehr, und ich bin schon sieben Sommer alt. – Ich will dich nicht vom Leben aufhalten, armes Vögelchen, aber besehen will ich dich, dein niedliches Köpfchen und dem schlankes Leibchen, und deine Spitzenflügelchen, das will ich besehen, und damit du keine Zeit verlierst, werde ich dir ein Blättchen vorhalten, damit du während der Zeit essen kannst. Schmetterling, Schmetterling, setze dich! Närrchen, ich meine es gut mit dir! Schmetterling, Schmetterling, setze dich!


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Es war einmal ein Edelmann, der ritt stets einen Fuchs; der Edelmann war so falsch wie der Fuchs, und der Fuchs wie der Edelmann. Ein schändlich Paar! Zwar war der Fuchs ein schönes Thier, der Edelmann nicht minder, doch einer schlug so aus wie der andere, und beide waren beschlagen, der eine mit Bosheit, der andere mit Eisen; beide schlugen und trafen Menschen. Der Fuchs hatte einen seltenen Kopf, einen Hals zum Malen, und einen Fuß, gewiß einen niedlichen Fuß! Sein Schweif hing herrlich herab, zum Schrecken aller Bremsen und Fliegen, die er nicht verjagte, sondern auf der Stelle todtschlug. Auf seinem Rücken war ein Bremsenkirchhof. O des prächtigen Schweifs! Der Edelmann, gewachsen wie eine Birke, hoch und gerade, sein Gesicht braun wie eine Eichel, wenn sie rein und reif ist, und seine Hand noch brauner; nichts an ihm verunglückt, kein Fleck, nichts Schiefes an ihm, wie ein ausgewachsener Halm im Kleinen, war er im Großen gerad bis auf sein Seitenhaar, das kraus lag in natürlichen Locken. Man glaubte, die liebe Natur hätt' es mit ihnen zu einem Knoten angelegt und sie wären im Zuziehen gestört worden.


[360]

Sein Auge meld'te jedem an,

Es sey der Mann ein Edelmann.


Nur die Augenbraunen waren wild gewachsen, sehr wild! Da lag das Böse vom Edelmann; denn wenn er gleich schön von außen war, so hatte er doch einen innerlichen Schaden. Sein Herz war eine Mördergrube, und von außen stand ein schöner, adelicher Hof. O hört, ihr tugendsamen Jungfrauen, was sich zutrug im Jahr nach Christi Geburt eintausend siebenhundert und sieben; hört es und weint um eure Schwester! Es war einmal ein ehrlicher Bürgersmann, der hatte eine schöne Tochter. Der Pastor sah sie an, wenn er die Schönheit des Engels beschrieb, der auf Gottes Geheiß einen menschlichen Leib auf eine kurze Zeit angezogen. Er sah nicht seine Frau an, denn die war alt, obgleich sie sich beide nichts vorzurücken hatten und er auch alt war. Annens Leib war ein Engelskleid, so passend gemacht, daß der Engel nichts abschneiden durfte, wenn er ein Menschengewand auf Gottes Befehl nöthig gehabt. Freilich sah sie so schwindsüchtig nicht aus, wie das vornehme Ding in unserer Nachbarschaft, von der alles sagt, sie sey die schönste im Lande. Daß sich Gott erbarm'! wer Annen sah, wußte sicher, was Schönheit sey; wer sie nicht gesehen hatte, war zweifelhaft. Man verglich die andern Gesichter nicht mehr mit der Natur, sondern mit Annen, nicht mit der weißen Lilie den Busen, nicht mit dem Himmelsblau das Auge, nicht mit einer aufbrechenden Rose das Frische im Gesicht – man verglich es mit Annen. Sie hat das von Annen und jenes von Annen, so sprach jeder, wer Annen gesehen. Man hatte nicht nöthig, sich herumzuthun und hier und da was in der Natur zusammenzusuchen – Anne war alles zusammen. – Sie war weiß, allein wer auch eine Braune liebte, blieb stehen, wenn er sie sah, und sagte laut: schön! Sie hatte so was Gesundweißes im Gesicht, daß man das Blut rinnen sehen konnte. O ein schönes Blut! Der ganze Himmel [361] lag auf ihrem Gesicht, weiß, roth, blau. Wenn man ihn im Kleinen wollte, sah man Annen an – und ihre Seele? wer eine Seele sehen wollte, sah ihr ins Auge, da hatte sie sich einquartiert. Wen sie damit ansah, hatte Gottes Bild gesehen, und ein Strahl von diesem Bilde ließ so viel Ehrfurcht zurück, daß man Annen liebte und ehrte. Ihr Auge war die Sonne am Himmel. Man dankte Gott, daß er so schöne Menschen auf seiner Welt gemacht – und wär' es erlaubt, daß ein Engel, wenn er auf Gottes Extrapost fährt und der Erdenluft wegen ein Menschengewand angezogen hat, wär' es erlaubt, daß ein Engel ohne Gottes Trauschein sich verheirathen könnte, er nähme sie. – Sie wäre Fleisch von seinem Fleisch, Geist von seinem Geist. – O ihr Jungfrauen, hört, was sich mit Annen zutrug und mit dem Edelmann, der stets einen Fuchs ritt. Er stellte sich, als liebte er sie; allein er liebte sie nicht, denn die Liebe macht tugendhaft, wenn man einen Engel wie Annen liebt. Er liebte sie, doch war seine Liebe Leckerei. – Der Bösewicht meinte nicht sie, sondern sich. – Hast du ihr nicht ins Auge gesehen – und recht ins Gesicht, oder fürchtest du dich nicht vor Gott und vor dem Himmel, Bösewicht! vor was fürchtest du dich denn? Sie waren beide schön – schön! allein welch ein Unterschied in der Schönheit! Sie schön wie ein Engel,er schön wie ein Teufel, wenn er sich in einen Engel des Lichts verkleidet hat. Er schwur, Annen zu lieben bis in den Tod, und wie leicht können wir betrogen werden, wenn es jemand zum Betrug anlegt, der so schön ist wie der Edelmann? Wer sieht immer auf die Augenbraunen? Anne sagte auf sein Zudringen: Ich will, wenn meine Mutter will. – Ihr Vater war während der Zeit gestorben, und der Edelmann, der ihn zur Gruft begleitete, hatte sich so betrübt gestellt, daß Anne ihres Vaters und ihres Liebhabers wegen gleich betrübt war. Die arme Unglückliche! Bis jetzt hatte er noch nicht das väterliche Haus betreten. Sein [362] erster Schritt war ins Trauerhaus. Eine schreckliche Vorbedeutung! – Nun kam er, wenn er wollte, und Anne blieb zwar bei ihrem: Ich will, wenn meine Mutter will; allein sie sprach es immer schwächer. Der Bösewicht grüßte die Mutter nicht mit den süßen Worten: Gib mir deine Tochter. – Er suchte die Tochter ihrer Mutter allmählig zu entwöhnen. Die Mutter merkte. – Wie ist's, fragte sie den Edelmann, Ernst oder Scherz, Spiel oder Ehe? – O Anne, warum sahst du ihm nicht in sein verruchtes Gesicht bei dieser mütterlichen Frage – recht ins Gesicht? du hättest den Bösewicht entdeckt in Lebensgröße. Er raffte sich bald zusammen. Ernst, sprach er, Ehe. Wie, sagte die Tochter, da der Bösewicht diesen Abend das Haus der Unschuld verließ, wie wär' es anders zu denken? Die Mutter ward ruhig nach diesem Abend. Mehr hatte dem Edelmann nicht gefehlt, seiner Gottlosigkeit vollen Lauf zu lassen und die Unschuld zu vergiften, als diese Ruhe der Mutter. – – O ihr Jungfrauen, weint um eure Schwester, die durch einen Bösewicht von der strengen Bahn der Unschuld und Tugend verführt ward. Nur Mutter und Tochter und drei aus ihrer Verwandtschaft wußten ihren Fall. Der Tod entriß ihn dem Ottergift der Stadtlippen. Ihre Mutter rang die Hände, Anne konnte sie nicht ringen – der Tod war ihr Leben. – Sie konnte, sie wollte nichts weiter, als sterben; kniend bat sie ihre Mutter, für sie zu beten. Ja, Tochter, ich will für dich beten, ich will beten, daß dich Gott beruhige. – Nein, Mutter, daß ich sterbe, daß ich sterbe, daß ich sterbe, alles andere Gebet widerruf' ich – der Tod, das ist mein Alles!

Anne sprach dieß gelassener als ich, so gelassen, daß man wohl sah, der Tod sey ihr Alles. – Sie knieten beide, Mutter und Tochter, dicht zusammen und hielten die Hände gen Himmel, als wär' es nur eine. – Sehnlichst beteten sie um den Tod, und das ist eine große Gabe Gottes, die der liebe Gott nicht erst jemandem [363] gibt, sondern nur denen er gut ist. Wir sterben zwar alle, allein es kommt beim Tod aufs Wann an, auf eine erwünschte, das ist, auf eine selige Stunde. Da nimmt man nicht zehn Leben um einen Tod. – Die Tochter starb so ruhig, daß man ihr die ewige Seligkeit ansehen konnte. Die Mutter mußte noch acht Tage jammern; sie hatte keinen Schmerz, allein sie jammerte: – Mein Mann todt – meine Tochter todt – und ich, ich hab' ein heimtückisches, hartes Leben! Schon lange bei Lebenszeit ihres Mannes war sie siech; der Tod ihrer Tochter hatte ihr vollends das Herz gebrochen. Nun ging es gegen den achten Tag, daß die Leiche ihrer Tochter auf sie wartete, unbegraben. Auf einen Tag, sagte die Mutter zu ihrer sterbenden Tochter, auf einen Tag, sagte die Tochter. Auf einen Tag, sagten sie sich hundertmal, und auf einen Tag waren auch ihre letzten Worte. Sie starb – o Gott! fast wie ihre Tochter. Fast, ganz nicht, denn die Tochter starb noch leichter. Die Mutter war älter, das Leben hatte sich mehr angeklammert und der Tod mußte reißen; eh' er seinen Zweck erriß. Der Mutter Sarg stand schon längst bei dem Sarge ihrer Tochter, noch eh' die Mutter selbst drin war. Was das für ein Leichenzug war! Sie wollten still begraben seyn, allein alles im Städtchen, was gehen konnte, ging den Särgen nach. Sie waren allen und jeden Wegweiser zur ewigen Ruhe. Die Taglöhner verdungen sich nur auf den halben Tag, um dieses Begräbniß zu sehen. Der Pastor weinte, er war außer den dreien der vierte, der Annens Fall wußte. Die Engel fielen und wurden Teufel; allein Anne blieb, was sie war, im priesterlichen Auge. Der Pastor weinte, denn er hatte kein Engelsbild mehr in seiner Gemeinde; er wußte nicht, wie er die Engelsgestalt deutlich machen würde, da er Annen nicht mehr sehen konnte. – Ich werde sie bald sehen, fing er prophetisch an mit entzücktem Muthe, drückte sich den Hut in die Augen und ging so, als ob er den Tod ausfordern wollte. Der gute [364] Pastor! Er wollte ein Erbauungswort bei dem Grabe dieser beiden Seligen verbreiten, doch das konnt' er nicht. Annens Gesicht, das ihm noch zu lebhaft vor den Augen schwebte, störte ihn; er verstummte selbst in der Collecte und schluchzte laut. Der Schuster Veit, der so gut singt als einer, half ihm aus, ohne daß es viel zu merken war. Dieser war bekannt, daß er Melodie hielt und nicht weinen konnte. Sie hatten eben die Todten begraben und wollten heimgehen, da kam der Edelmann auf sie zugesprengt: er ritt keinen Fuchs, sondern einen Schwarzen.

Ha! dachte der Pastor, da er den Edelmann, den er wohl kannte, auf einem Rappen und nicht mehr auf dem Fuchs sah – ha, das Gewissen! das Gewissen! Es war ihm Vergnügen, den Judas hängen zu sehen, und wahrlich, wenn ein Bösewicht von der Welt Verzeihung haben will, muß er unstät und flüchtig – verzweifelnd aussehen.

Der Bösewicht hätte ungefragt wissen können, was und wie und wer? denn unsere Todten kamen in eine Reihe mit Mann, mit Vater. An dieser Stelle, Bösewicht, hast du geweint. Er fragte aber ein bloßes kaltblütiges Wer?

Anne, sagte der Pastor und zog seinen Hut ab, und die Thränen stürzten herunter, als gösse er seine Augen aus – Anne, sagte er, und die ganze Versammlung wimmerte Anne, und lange hernach sagte alles: »Ihre Mutter auch.« Da hätte man doch denken sollen, würde er sich an die Brust schlagen und verzweifeln. Eins sagte dem andern: Das ist er, und mancher, der Herz hatte, setzte, wiewohl ins Ohr, hinzu: der Mörder! Alles wußte von seiner Falschheit gegen Annen, allein nur drei, außer dem Pastor, von ihrer Leichtgläubigkeit. Der Bösewicht schien mir nichts, dir nichts. Sie hat Ihnen – ver – ziehen, gnädiger Herr, sagte der Pastor, und konnte das Wort verziehen lange nicht herausbringen. Der alte Mann war zu bewegt. – Sie hat [365] Ihnen verziehen, wiederholte er mit bloßem Haupte. Und ich, versetzte der Frevler trotzig, verzeih' ihr auch, daß sie gestorben ist! O Jungfrauen, denkt ans Jahr nach Christi Geburt eintausend siebenhundert und sieben und an die Verzeihung, daß sie gestorben ist. Traut nicht den gnädigen Herren, wenn sie gleich bei den Gräbern eurer Väter weinen.

Es ward dem Pastor und seiner Gemeinde, als ob die Erde bebte, da der Mörder siegprankte und trotzte. Der Pastor setzte seinen Hut auf und die Begleiter und Begleiterinnen falteten die Hände. Der Edelmann mir nichts, dir nichts, sprengte davon; denn er hatte seit vielen Wochen ein anderes Annchen, drum verzieh er unserem, daß es gestorben war.

Diese schrecklichen Worte hatten dem Pastor schnell die Thränen gestauet. Beim heftigen Ungewitter regnet es nicht. – Da, fing der Pastor an, da habt ihr, meine Lieben, den Teufel gesehen! – Sie war ein Engel, er ein Teufel, und alle, die solche Augenbraunen sahen, fürchteten sich nach der Zeit, als sähen sie den bösen Geist. – Einige von den Stadtfrauen, welche das selige, gute, unschuldige Annchen gekannt hatten und unter denen die bewußten drei am meisten, wunderten sich und sprachen: Warum erscheint nicht Annchens Geist dem Bösewicht? Warum fährt nicht ihre kalte Hand über sein Gesicht, bis Todesschweiß vor seiner Stirn steht? Warum heulen nicht des Abends zwischen eilf und zwölf Hunde, damit ihm die Ohren gellen? Warum kreiselt nicht ein Sturmwind sich um ihn herum, damit ihm Hören und Sehen vergehe? Warum pfeift ihm nicht der Nord zu: Du bist der Mann des Todes? Warum rasseln nicht, wenn er mit seiner Buhlerin ins Bett steigt, unter seinem Bette Ketten? Warum fahren nicht kalte Schauer kreuzweis durch seine Seele? Warum schreien nicht Eulen, wenn er des Abends nach frischer Luft schnappt? Und warum verscheucht sich nicht sein Pferd vor einer Erscheinung [366] und wirst ihn herab auf ebenem Wege? Warum schlägt es nicht an sein Fenster mit Fäusten an, damit, wenn er: wer da? ruft, er nichts als einen Schatten von der Seite sich wegziehen sähe? Warum klirrt und knarrt, knistert und knastert es nicht in seinem Zimmer, obgleich alles ringsherum altes, reif ausgetrocknetes Holz ist, als wollte es in die Worte ausbrechen: Mörder, Mörder! – Wundert euch dessen nicht, meine Lieben, sagte der Pastor gar eben, daß das alles nicht geschieht; Anne hat ihm verziehen, eben weil sie ein Engel ist. – Wenn sich die Menschen dem Teufel ergeben, läßt der Teufel sie seine Knechtsjahre ungestört. – Des Teufels Knechte sind fast immer vornehme Herren – allein wenn die Contractsjahre aus sind –

Die Gemeinde schlug sich ein Kreuz und alles betete:


»Für dem Teufel uns bewahr'!«


* * *


Zwar eine Aehrenleserin, und doch reich! Wie ich noch arbeiten konnte, band ich Garben und beschämte oft junge Mädchen in der Schnelligkeit. Man sagte von mir, ich griff Glück, wenn ich unter der blinkenden Sichel Getreide griff. Im Alter lese ich Aehren und freue mich, daß ich's kann. Lieber würde ich's sehen, wenn ich mich nicht bücken dürfte. Doch bückt man sich nicht auch, wenn man stirbt? Und mir ist immer so wohl, wenn ich eine Aehre finde, als fände ich meinen seligen Tod. – Auch der wird kommen, wenn Zeit und Stunde seyn wird, so wie der liebreiche Gott mir meine Schürze voll Aehren beschert, wenn es Zeit ist. – Da sagen mir oft Leute, die jung sind und Aehren lesen kommen: Mutter, dort steht das Korn, was leset Ihr? Schneidet mit einem Messer Aehren, so habt Ihr in einer halben Stunde mehr, als Ihr tragen könnt. Seht, wie wir es machen. Schämt euch, Kinder, antworte ich, daß ihr euch mit Aehrenlesen abgebt, und schämt euch doppelt, daß ihr Gott und Menschen mit dem Messer [367] betrügt. Der liebe Gott, der unser Haar zählt, zählt auch jedes Erdenhaar, jeden Halm. – Glaubt mir, jede Aehre, die ihr abgeschnitten habt, wird euch über kurz oder lang im Gewissen schneiden. – Wie kann euch Brod anschlagen, das ihr stehlt? – Brod stehlen, daß heißt so viel, wenn es nicht noch mehr heißt, als vom Altar Gottes nehmen, ungeachtet die liebe Sonne hell brennt. Ehe Hungers gestorben, als solch gestohlenes Brod gegessen! Seht, wenn ein Halm dem Stahl des Schnitters entkommen und wie verwaist allein unter Stoppeln da steht – ich nehme ihn nicht. Stehe, sage ich zu ihm, bis dich der Nord knickt, wie mich das Alter. – Wenn ihr ehrlich Aehren lesen würdet, ihr Aehrendiebe, wäre es Schande und Sünde; denn könnt ihr nicht noch arbeiten und Glück greifen, wie ich's gegriffen habe, ohne Aehren zu lesen oder bei Gottes Thüre zu betteln? Ich werde euch nicht lange mehr im Wege seyn. Alle Jahre finde ich weniger Aehren, und immer habe ich denn auch weniger nöthig. – Je älter, desto weniger Hunger, je weniger Zähne, desto weniger Magen. – Dieß Jahr nur wenige Hände voll Aehren; so wenig hab' ich noch kein Jahr gehabt. – Ich glaube, ich habe dieß Jahr zum letztenmal gelesen. O wie gern, wie gern möchte ich aus dieser argen, bösen, bösen Welt herausscheiden, wo man sogar Gottes Altar beim hellbrennenden Lichte bestiehlt. Lebt wohl, wenn ich euch nicht mehr wiedersehen soll, gütige Felder! Tragt siebenfältig und mehrfältig, so vielfältig, als es eurem Eigenthümer nützlich und selig ist. – Gott vergelte jedem die Aehren, die mir sein Acker verliehen hat! Lebt wohl, alle ihr mitleidigen Oerter, wo ich mich ausruhte, wenn ich mich nicht mehr bücken konnte, und du vor allen, gütigster Ort, wo mir ein sanfter, spannenbreiter Bach Kühlung gab und mich in süßen Schlaf rauschte, lebe wohl! Da sah ich, wie das neugierige Feldblümchen, welches am Ufer blühte, sich recht mühsam herüberbog, als wollte es das Ohr ans kleine Wellchen [368] legen und es behorchen. Da sah ich – bis ich sanft einschlief – sanft. O so sanft komme mir auch der Tod, so sanft! – Dann bin ich reicher, als wenn mir alle diese Felder gehörten und der spannenbreite Bach, den die neugierige Feldblume belauschte, und die mitleidigen Oerter, wo ich mich so sanft ausruhte – so sanft! –


(Ende der Beilage A.)


Daß mir Minens Nachlaß kostbar gewesen, darf ich nicht bemerken. Ich bat Gretchen, durch geschworne Leute die Sachen würdigen zu lassen, um dem Hermann nicht zu entziehen, was ihm die Rechte als Erbe seiner Tochter zuwendeten. Ich konnte bei dieser Würdigung nicht gegenwärtig seyn.

Gretchen und ich theilten uns diesen unschätzbaren Nachlaß. Sie lehnte meinen Antrag nicht im mindesten, auch nicht durch eine Verbeugung ab; sie dankte auch nicht, sondern eignete sich ihren Theil zu, als etwas, das ihr eignete und gebührte. Für den Hermann ward auf alle Fälle, oder eigentlicher auf den Fall, ein Stück abgelegt, wenn er wollen würde, und für den ehrlichen Benjamin unter dem einen Beding – wenn er noch lebte. – An die Theilung ward nicht eher als den siebenten Tag nach Minens Beerdigung gedacht.

Ueber Minens Begräbniß werde ich kurz seyn. Den ganzen Tag vor dem Begräbnißtage brachten wir in Gesellschaft der Leiche zu. Nur bis dahin war ich an mein Versprechen, Minen nicht zu sehen, gebunden. Jetzt ging das noch einmal an, das ich mir vorbehalten hatte, und dieß noch einmal währte einen ganzen Tag. – Gretchen hatte mir den mündlichen Bescheid abgegeben: »Wenn er nicht vor dem Haar einer Todten zurückbebt, kann er eine Haarlocke nehmen.« Die Empfindung, mit der ich mir dieß [369] Geschenk nahm, ist unbeschreiblich. – O du mir theures und werthes Geschenk, wie noch angenehmer wärst du mir aus Minchens Hand gewesen, die kalt ist und kalt bleibt, obgleich sie dein Freund, dein Mann an brennenden Lippen anzünden will. Alle ihre Sachen nannte ich mittelbar, diese Haarlocke war wasUnmittelbares; sie war ein Stück von Minen selbst, das einzige, was Menschen unmittelbar mit Anstand von einander nehmen können. – Dieß war mit ein Hauptstück für mich, ins Grab – –

Der Tag, den wir mit Minen, eigentlich mit ihrer Hälfte, mit weniger als ihrer Hälfte, zusammen waren, wie kurz war er! Eh' er sich neigte, schien es mit meiner Fassung auch zum Ende zu gehen; bis dahin hatt' ich mich gut gehalten, wie der Prediger sagte. Er legte es nach verschiedenen Methoden mit mir an, allein keine einzige hielt Stich. – Wir hatten ein Tiefes und ein Hohes über die Gleichmüthigkeit gesprochen. – Der gute Pastor sagte mir als etwas ganz Neues, daß die Gleichmüthigkeit zum Charakter gehöre, die Gleichmüthigkeit zum Temperament. – Ich wußte so gut und besser wie der Prediger, daß, wenn die Gleichmüthigkeit aus der Selbstbeherrschung entsteht, sie bei allen Vorfällen des Lebens das Kleid des Weisen und so sehr von der Fühllosigkeit unterschieden sey, als lieben und verliebt seyn. – Was helfen aber alle diese Vortrefflichkeiten, die nicht zum Herzen gehen? Minchens Leichnam machte alle Kunst zu Schanden. Mit Freuden thaten wir alle auf das Kleid des Weisen Verzicht, und suchten eine Wonne darin, bloß Menschen zu seyn, wie die liebe Mutter Natur sie am liebsten hat. Und am Ende, Freunde, geht's der abgehärteten Seele und dem abgehärteten Körper wie dem Stahl – dieß und das springt. Ihr, die ihr den Menschen an Leib und Seele verhärten wollt, bedenkt, was wir sind. Ich bin ein Mensch, heißt das nicht, ich bin schwach?

Der letzte Abschied, den wir von Minens zurückgelassenem [370] Theil nahmen, war rührend. Wir sprachen mit ihm, als könnt' er hören; wir verstummten, da er nicht antwortete. Wie sehr es mir zur Beruhigung gereichte, daß alles meinen Schmerz mit empfand, kann ich nicht aussprechen. Er vertheilte sich, doch blieb für mich so viel zurück, daß mir das Leben wie gar nichts war. Diese Empfindung hätt' ich um alles nicht weggegeben.

Da wir hinausgingen und ich Minen noch zum letztenmal ansehen wollte, konnt' ich es nicht. – Ich war mit Blindheit geschlagen; allein mein Ohr und Herz hörten die Worte, welche der Prediger, der sich an den Sarg stellte, mit gerührter Seele aussprach: Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang, von nun an bis in Ewigkeit! Und nun kamen zwei Leute, die den Sarg fest zusammendrückten und nach diesem schrecklichen Zusammendrucke sich zu uns mit den Worten wendeten: Gott bescher' uns allen eine selige Nachfahrt! Sie hielten ihre Mützen vor und beteten, und wir beteten alle.

Minens Sarg war sehr einfach, ohne alle Verzierung. Sie hatte es nicht ausdrücklich so angeordnet; allein sie bezeugte ihr Mißfallen, daß der Sarg ihres Verwandten zu gekünstelt gewesen. – Schon lange zuvor ward ich vom guten Prediger befragt, ob Mine nach curischer oder preußischer Art begraben werden sollte? Sie selbst hatte weder im Testament, noch im Codicill, weder schriftlich, noch mündlich darüber Verfügungen getroffen, außer daß sie gern bei ihren Verwandten begraben werden wollte, um sie am lieben jüngsten Tage gleich bei der Hand zu haben. Ich bat ihn sehr, es, wie es Sitte im Lande wäre, zu halten; und nun noch ein Umstand.

Zu den ausgezeichneten Eingepfarrten gehörte der Graf v. – –, ein besonderer Mann. Seine Hauptbeschäftigung war, Leute sterben zu sehen. Er nahm, wo er von Kranken hörte, sie bei sich auf, und wenigstens waren sieben, die bei ihm starben, man mochte zu[371] ihm kommen, wenn man wollte. Oft waren mehr. Unter den Kranken zog er Verlassene und solche Leute vor, deren Schicksal ungemein war, und die meiste Zeit war die Zahl außerordentlich und über sieben. Seine Sterbezimmer waren immer besetzt. Der Graf hatte sehr traurige Schicksale überlebt. Seine sieben Kinder, alle in voller Blüthe, unter denen zwei Töchter als Bräute und ein Sohn als Bräutigam, starben in Zeit von drei Jahren. Die Bräutigame der Töchter, die Braut des Sohnes folgten und seine Gemahlin auch. Ein einziger Bedienter war von seiner Jugend, oder, wie er sich ausdrückte, von seiner Frühlingsbekanntschaft übrig, alle übrigen hatten ihn im Stich gelassen. Mit diesem alten Bedienten hielt er Haus, das hieß in seiner Sprache, bestellte er sein Haus, in dem biblischen Sinn: bestelle dein Haus, denn du wirst sterben. Der Graf ging mit diesem alten Bedienten als Freund, als Mensch um. Nicht war es Herablassung; denn wahrlich, die ist oft ärgerlicher als Stolz und Hoffart, sondern Menschengefühl war es. Spötter nannten sein Schloß ein Gebeinhaus; allein er setzte sich über dieses und mehr hinaus. Ich lerne sterben, sagte er, und laß es mir von andern vormachen; ich lasse mir vorsterben – und bin mit allen letzten Dingen in genaue Bekanntschaft getreten. Seine Gedanken, die er mir bei der Leichenfolge weitläuftiger eröffnete, sind im Kurzen: Ein Arzt und Prediger sehen sterben; allein außerdem, daß sie selten zu Maße kommen, so haben sie zu wenig Zeit, den Tod abzuwarten. Der eine sieht auf den Leib und der andere auf die Seele; keiner von beiden steht auf den Menschen. So befremdend es scheint, so hat es mir doch die Erfahrung bestätigt, daß der Arzt, wenn er gleich das Pulver erfunden hat, das er eingibt, doch eben so selten, wo nicht seltener, den Leib des Kranken treffe, als der Prediger die Seele. Beide gehen aus ihrem Compendio und nicht aus der Sterbestube aus – und so und nicht [372] anders werden sie auch von Seelen- und Leibespatienten behandelt. – Ich habe nicht sagen gelernt: der Tod mag mir so oder so kommen, ich will ihm die Spitze bieten, wohl aber: ich sterbe täglich. – Wahrlich, man macht zu wenig Erfahrungen über den Eingang des Menschen in und den Ausgang des Menschen aus der Welt. – Wir lernen den Menschen kennen, wenn er nicht mehr zu kennen ist, wenn Leib und Seele sich nolens volens so in einander geworfen, daß man in die Schule gehen und sich beglaubigen lassen muß, daß man eine Seele und auch einen Leib habe. – Freund, wer zehn Menschen sterben gesehen, weiß, was ein Mensch ist. Ein anderer weiß es gar nicht, oder hat es Mühe zu wissen.

Dieser Graf, dieser besondere Mann ward zur Leichenfolge gebeten. Es ist das einzige Mittel, sagte der Prediger, um mich mit ihm auszusöhnen; denn in Wahrheit, er würd' es für eine Todsünde halten, daß ich ihm Minchen entzogen, wenn ich nicht die Sache auf diese Art wenigstens einigermaßen in's Reine bringen sollte. – Er kommt gewiß, fuhr der Prediger fort, ohne daß ihm jemand darüber Zweifel entgegensetzte. Er kommt gewiß, wenn ihn nicht was Sterbendes abhält, um, nach seiner Sprache, der Entseelten das Bette machen zu helfen.

Ich war sehr entfernt, mich dem Prediger in den Weg zu legen. Ein Mann, wie dieser Graf, stört nicht, wenn man auch eine Mine begraben läßt, und eben so wenig hatt' ich dagegen, da der gute Prediger mir seine Absicht eröffnete, Minen einen Leichensermon zu halten, wie er, nach seinem Ausdruck, in dem Herrn entschlossen wäre. Auch dieser gehörte vorzüglich auf die Rechnung des Grafen. Die Einladung beantwortete der Graf wirklich mit Ja, weil er eben nichts versäume. Auf alle Fälle wird mein Bruder (der alte Bediente) die nöthige Sorgfalt übernehmen, schrieb er zurück. Seit sechs Wochen haben sich drei [373] von meinen Sterbenden gebessert, oder soll ich nicht lieber verschlimmert sagen? Sie sind gesund geworden.

Minens Begräbnißtag war so schön wie ihr Sterbetag, als wenn sich diese Tage beredet hätten, gleich schön zu seyn und sich einander nichts nachzugeben. Schon des Morgens ward geläutet, Nachmittags gegen fünf Uhr wieder; und dieß war ein Wink, daß sich ein großer Theil aus dem Dorfe, Weiber und Männer, versammelten. Die meisten, nicht alle, waren schwarz gekleidet. Unter diesen zu Hauf Geläuteten war auch der Organist und einige wenige Kinder.

Diese letzten stellten sich paarweise vor's Haus und fingen das Lied an:


Was Gott thut, das ist wohlgethan,

welches die versammelte Gemeinde inbrünstig mitsang.
Die Knaben und ihr Lehrer gingen darauf voraus mit dem Liede:

Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt.


In der Kirche fanden sich alle Mädchen um Minchens Sarg zusammen, nicht mit Blumenkränzen, daran dachte niemand, der Fall war zu rührend, um ihn mit Blumen zu verderben. Sie sangen aus der Tiefe ihres Herzens; so beteten sie auch. Es hatten sich von freien Stücken zwölf Mädchen gemeldet, Minchens Leiche zu tragen und zu versenken; allein der Prediger liebte keine Neuerungen, und es blieb bei der Sitte in diesem Kirchspiel, daß die Aeltesten im Dorfe sie trugen. An andern Orten, bemerkte der Pfarrer, sind die Jüngsten Träger. Ich will es so lassen, wie ich es gefunden habe. Diese verließen den Sarg, nachdem sie ihn vor den Altar gesetzt hatten, und mehr als zwanzig junge Mädchen traten in ihre Stelle.

Während der letzten Strophe des Liedes:


[374]

Amen, mein lieber frommer Gott,

Bescher' uns all'n ein'n sel'gen Tod.

Hilf, daß wir mögen allzugleich

Bald in dein Reich

Kommen und bleiben ewiglich


trat der Prediger auf den Altar. Er hielt nach diesem Gesang eine Rede über die Worte aus der Offenbarung Johannis des dritten Kapitels eilften Vers: »Siehe, ich komme bald; halt was du hast, daß niemand deine Krone nehme.«

Die herzliche Art, mit welcher der Prediger den Text behandelte, war alles, was ich von dieser Rede hörte oder eigentlich behielt. Ich war an Minens offenem Grabe.

»Schwer und leer,« pflegte meine Mutter zu sagen, »was schwer ist, ist mehrentheils leer. In den alten Liedern ist immer die ganze weit und breite Brust, und in den Melodien die ganze Lunge. Wenn auch hier und da ein paar Sylben überlaufen – was mehr? Wenn du dazu weinst, Sänger, Sängerin, so läufst du auch über.« Wer, wenn er singt, Triller schlagen und Cadenzen springen kann, bringt dem lieben Gott ein Ständchen, ehret ihn mit seiner Zunge und naht sich zu ihm mit seinen Lippen; allein sein Herz ist fern von ihm. – Dieß Lieblingslied Minens, das sie sang, da sie aus ihres Vaters Hause und aus ihrer Freundschaft ausging in ein Land, das Gott ihr zeigte, dieß Lied, das sie mir so herzlich empfahl, kann keinen bessern Vertheidiger, als meine Mutter haben. Es konnte kein angemesseneres bei dieser Leiche gesungen werden, und wie das Lied, so die Rede. Der Prediger hatte wenig oder nichts aufsetzen können. Dieß hätte ich, wie es mir eben einfällt, nicht nöthig gehabt, zu bemerken, nicht wahr? Es versteht sich.

Der Pastor wußte meiner Mutter Grundsätze, zu denen mein Vater den zweiten Discant sang. Mine hatte diese Grundsätze [375] auf- und angenommen; schon in den Tagen, von denen es hieß: Sie gefielen ihr, noch mehr aber in den Tagen, von denen es hieß: Sie gefielen ihr nicht. Einem Leidenden scheint die Prosa zu hart, zu angreifend; er sehnt sich nach etwas Milderem, sagte meine Mutter, wenn sie von dem Drucke sprach, in dem sie lebte.

In dieser Rücksicht hatte der gute Prediger mehrere Liederstellen in seinem Sermon angebracht, den er mit einer Strophe aus einem alten Kirchenliede schloß:


Darum, du milde Erd',

Halt' dieses Pfand in Werth.

Was Gott zu Ehr'n erbaut,

Das wird dir jetzt vertraut.

Gott wird sein schön Bild in Lenzen

Des jüngsten Tags ergänzen;

Mit Ehren wird es glänzen!


Es war ziemlich dunkel in der Kirche geworden, und dieß war ein freiwilliger Beitrag zur Feierlichkeit. Dieses heilige Dunkel, noch liegt es vor meinen Augen und vor meiner Seele! – –

Nach der Rede ward eine Stille. Dieß wirkte fast mehr auf mich, als alles. – Zu selten bedient man sich dieses Rührungsmittels.

Auf einmal fing ein Mädchen, das ganz weiß gekleidet war und das ich noch nicht gesehen hatte, allein zu singen an. Sie stand dicht am Sarge:


Gehabt euch wohl, ihr meine Freund',

Die ihr aus Liebe um mich weint. – –

Die ganze Gemeinde antwortete mit dem Liede:

Nun laßt uns den Leib begraben.


und so ging es durchs ganze Lied hindurch. Es waren zwei Gehabt euch wohl Sänger und zweiGehabt euch wohl Sängerinnen in der L – Gemeinde, die bei dieser Ceremonie [376] weiß gekleidet waren, ein Alter, eine Alte, ein Jüngling, ein Mädchen.

Ich will sehr gern zugeben, daß nicht alle, sagte mir der Prediger, nachdem wir Minen in ihre Schlafkammer begleitet hatten, die Art billigen werden, einen Todten redend einzuführen und ihm Abschiedsworte in den Mund zu legen; wenn wir aber hoffen, daß die Seele in Gottes Hand sey und lebe, warum nicht?

So viel weiß ich, daß mich dieser Ueberfall anfangs erschüttert, nachher sanft bewegt hat.

Die Strophe:


Mein Elend, wie auch mein Beschwerd',

Wird nun verscharrt mit kühler Erd'.

was für Thränen hat sie mir gekostet! – Am meisten rührten mich folgende Stellen:

In dieser Welt war Angst und Noth,

Bekümmerniß, zuletzt der Tod.

Nun aber schwindet alles Leid,

Und folget drauf die Ewigkeit.


So lasset mich in stolzer Ruh',

Und geht nach eurer Wohnung zu.

Bedenkt, wie bald euch Gottes Hand

Versetzen kann in diesen Stand.

Und dann die letzten Worte:

Ich scheide, lebet alle wohl,

Seyd hoffnungs-, liebe-, glaubensvoll;

Ein jeder sterb' der Sünden ab,

So kommt er selig in das Grab.


Was mich, versunken in Empfindungen, bei der Hand nahm und herauszog, war das Lied: Nun danket alle Gott! das gleich darauf angestimmt ward.

[377] Es war die Gewohnheit in L –, daß die Kirche nie anders als nach einem Lobgesang geschlossen wurde. Haben wir nicht Ursache, sagte der Prediger, da ich ihn darüber in seinem Hause befragte, haben wir nicht Ursache, Gott für alles zu danken? Können wir aber? würde mein Vater entgegen gefragt haben. Die zweite Strophe, die meines Vaters Lieblingsstrophe und mehr Gebet als Dank enthält, sey uns allen heilig:


Der ewig reiche Gott

Woll' nun bei unserm Leben

Ein immer fröhlich Herz

Und edlen Frieden geben,

Und uns in seiner Gnad'

Erhalten fort und fort,

Und uns aus aller Noth

Erlösen hier und dort. Amen! Amen!


Die Leiche ward ohne Gesang von den Alten hinausgetragen und versenkt. – Die erste Schaufel Erde, die auf den Sarg fiel – noch überfällt mich ein Schauer, wenn ich mir diesen dumpfen Ton zurückdenke! wenn ich ihn zurückhöre! Mensch, du bist Erde und wirst zu Erde werden! Das lag darin.

Der Pastor sprach die Kollekte nach der ersten Schaufel Erde, und den Beschluß machte das Lied:


O wie selig seyd ihr doch, ihr Frommen,

Die ihr durch den Tod zu Gott gekommen.

Ihr seyd entgangen

Aller Noth, die uns noch hält gefangen.


Und nach diesem Liede gingen wir unserer Wohnung zu. Der Graf und ich waren beim Hingang ein Paar, beim Rückwege schloß sich der Prediger uns an. Ich bückte mich tief gegen den Haufen Begleiter und Begleiterinnen. – Jedes, das mich ansahe, bedauerte meinen Verlust und schien es zu empfinden, was ich [378] verloren hatte, ohne daß es jemand, außer dem Pfarrhause, eigentlich wußte.

Der Graf wollte mir seine Einrichtung (wie er bemerkte, mich zu zerstreuen) noch näher eröffnen, und fing schon an, daß sein Bette wie ein Gewölbe gestaltet und daß in den Zimmern, die er selbst unmittelbar inne hätte, Urnen und Särge der Zierrath wären; allein ich weiß selbst nicht, wie er auf einmal auf die unverbrennliche Lampe, das ewigeGrabesfeuer, fiel. Er versicherte mich, daß er schon sehr lange auf diese Art Lampen gedacht hätte, welche man zuweilen in den alten Gräbern angetroffen haben will, die ohne Oelzuguß eine so lange Zeit gebrannt hätten. Der gute Graf hatte noch manches von diesem ewigen Grabesfeuer, wie er es nannte, zu sagen. Wie es mir vorkam, hatte der Graf Lust, die Sache zu Künsten zu rechnen, die durch die Zeit verloren gegangen (si fabula vera). – Und siehe da! ein keuchender Bote mit einem Briefe von seinem Bruder. Der Brief hatte einen breiten schwarzen Rand. Nach meiner Meinung war es ein Eröffnungsschreiben eines Todesfalls aus der gräflichen Familie – oder wenigstens unter den Sieben; allein es ward nicht anders als auf dergleichen Papier im gräflichen Hause geschrieben. Die Sache kam dem Grafen eilig vor. Eine Sterbende aus Curland, von ihrem Manne verlassen, ward angemeldet, und da sie, nach der Bemerkung des Herrn Bruders, sehr viel auf ihrem Herzen und Gewissen hätte, bat er den Grafen, keine Zeit zu versäumen, sie abzuhören.

Ich kann es nicht läugnen, daß mir der Umstandaus Curland sehr auffiel. Der Graf nahm von diesem Umstande bloß Gelegenheit, seine Bitte zu wiederholen, daß ich ja nicht von hinnen ziehen möchte, ohne seinen Kirchhof, wie er es nannte, mit allen Anhängen und Beistöcken zu besuchen. Ich habe, setzte er hinzu, noch über mancherlei von Seiten Ihrer Seligen Sie zum Verhör [379] zu ziehen. Er stieg mit den Worten in seinen Wagen: Heute mir, morgen dir.

Nach unserm Hingange hatte der Organist eine Rede aus dem Hute gelesen; ich habe nichts verloren, daß ich sie nicht aus seinem Munde empfangen, denn ich war an diesem Tage nicht zum Hören aufgelegt. So wie ich sie meinen Lesern mittheile, erhielt ich sie vom Verfasser noch den nämlichen Abend. Er aß den Abend mit uns beim Prediger, und wir wurden, der bittern Stellen unerachtet, wie er selbst sagte, Herzensfreunde. Aus Erkenntlichkeit will ich diese Abdankung zur Beilage B. erheben.

[380]
Beilage B.
[381][383]
Abdankung des Organisten in L –.

Ich möchte was drum geben,

So wenig es auch ist,

Denn daß ich blutwenig habe, ist euch bekannt.


Allerseits nach Tugend und Alter lieb

und werthe Nachbaren!


Und wenn man mir noch obenein die Leichenabdankungen entzieht, wie es heute (unter uns gesagt) schier den Anfang genommen, so werd' ich wohl am Ende gar nichts drum geben können.

Und doch möcht' ich was drum geben, wenn ich fein der Erste gewesen, welcher das menschliche Leben mit einer Mahlzeit verglichen hätte.

Gelt, es ist ein schmackhafter Vergleich?

[383] Indessen haben außer mir schon andere kluge Leute diesen gesunden Einfall gehabt und wohl gewußt, was gut schmecke; denn in Wahrheit, es ist der natürlichste Gedanke, den ein Mensch, wenn er nämlich einen gesunden Magen im Leibe hat, nur haben kann. Wir essen und trinken, das heißt: wir leben, und wir leben, das heißt: wir essen und trinken. – Die liebe Seele ist beim Leben nur, so zu sagen, zu Gaste – in der andern, oder in der Seelenwelt – soll der Leib der Seele Kostgänger werden; denn wie man liest, so wird unser Leib was Extrafeines seyn. So ein Unterschied, wie zwischen Hirt's Lise und der Gräfin Friederikchen – ihr kennt beide, meine Lieben. Mir ist bange, wenn ich die Gräfin Friederikchen ansehe, daß mein Blick ihr einen Fleck machen wird, so fein ist sie; man hat nicht das Herz sie anzusehen.

Wenn wir auf diese Welt kommen, heißt es, wie vor Tische:

»Aller Augen warten auf dich, Herr, du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit, du thust deine milde Hand auf und sättigest alles, was lebet, mit Wohlgefallen.«

Die jungen Raben sperren den Mund gen Himmel auf, als hochgähnten sie, und schreien den lieben Gott an, wie unverschämte Bettler uns. Kleine Kinder, das hab' ich an meinem Caspar gesehen, der sich wieder erholt hat und dick und fett ist – ja, ich wollte von kleinen Kindern sagen – die sehen nicht gen Himmel – ich dachte schon, das käme wegen der Erbsünde und weil wir uns dem lieben Gott entwöhnt haben; allein ich besinne mich wieder – denn nicht wahr? alles was saugt, sieht auf die Mutter, und sein Blick kommt erst durch Umwege zum lieben Gott. – Wer in die Höhe steht, ist gleich ein paar Zoll größer. Das wissen die Werber wohl, die uns Angst und Furcht genug einjagen. – Ist aber je ein Rabe, wenn ihn gleich seine Eltern nach Rabenart behandeln, Hungers gestorben? Habt ihr je so was von der [384] kleinsten Mücke gehört? Ich nicht. Und doch sagt man von Menschen, daß sie im eigentlichen Brodverstande Hungers gestorben sind. Daß sich Gott über solche Bengel erbarme, die nicht werth waren junge Raben zu seyn! – Seyd ihr nicht mehr, denn sie? hätte man auf das Grab dieser Verhungerten schreiben und ein Nest voll junger Raben, eben im Gebet begriffen, aushauen sollen. Sterben wir, liebegetreue Nachbaren und desgleichen, sterben wir, so heißt es, als wenn wir vom Tisch aufstehen und das Tischtuch, bald hätt' ich Leichentuch gesagt, zusammenlegen:


Wir danken Gott für seine Gaben,

Die wir von ihm empfangen haben,

Und bitten Gott, unsern lieben Herrn,

Er woll' uns allzeit mehr bescher'n.

Er speis' uns stets mit seinem Wort,

Damit wir satt werden hier und dort.

Ach lieber Gott, du wollst uns geben

Nach dieser Welt das ewige Leben.


Kann ein besseres Todten- oder Begräbnißlied seyn?

Aber zur Sache zu kommen. Der Student der im er sten Paar mit dem hochgebornen Herrn ging, mag wohl wissen, wie's in Curland bei Begräbnissen gehalten wird; von unserer Manier weiß er keinen Theelöffel aufzuwaschen, das ist ein Löffelchen wie mein kleiner Finger. – Der Jüngling würde mich sonst ersucht haben, ein Wort aufs Grab zu sprechen, das mir immer zusteht, wenn die Leiche nicht ins Gewölbe kommt, sondern in die Kirchhofserde. – – Ich sag' es nicht des Gewinnstes wegen, denn seine Schöne (Ende gut, alles gut, sonst wäre noch mancherlei und manches davon zu sagen, daß er sich ihr und sie sich ihm verpfändet hatten; mein Sohn sollt' es nicht versuchen! doch sie ist todt), [385] seine Schöne, seine verstorbene Wilhelmine ist eines Geistlichen Tochter und er Predigers Sohn; wie ich, wiewohl alles nur durchs Schlüsselloch, gehört habe. Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus. Ich hätte keinen Dreier genommen, ob ich gleich es eben jetzt zum Fuder Holz nöthig habe. – Doch wenn ihr Nahrung und Kleider habt (an Holz ist nicht gedacht, wie es denn auch unser Glaubensvater Luther bei der vierten Bitte, Gott weiß, warum, ausgelassen hat), so lasset euch begnügen.

Was ich also heute rede, das red' ich von Herzen; denn ich hab' es oft und viel bemerkt, daß meine Grabreden oder Leichenabdankungen nicht ohne Segen geblieben.

Gott verzeih' mir die Sünde! Manchmal dacht' ich, wenn ihr alle aufs Grab weintet, so, daß die Thränen ordentlich drauf zu kennen waren, der selige Mensch werde bald aufgehen – und ich hätte die Ehre gehabt, diese Pflanze Gottes auf seinem (nämlich Gottes) Acker zu begrüßen.

Wenn man recht herzlich weint, hat man nicht Zeit, an einen Schwamm zu denken; und es ist wahrlich ein schöner Anblick, so natürlich weg weinen zu sehen. – Aber wieder auf das Leben und die Mahlzeit zu kommen.

Kennt ihr, lieben getreuen Nachbaren und deßgleichen, kennt ihr was Angenehmeres als eine gute Mahlzeit? – Ich glaube, es thut den Engelchen leid, wenn sie uns essen sehen, daß sie es nicht auch können. – Der liebe Gott hat uns alle, nach dieser Welt, mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tisch bitten lassen – das wird schmecken! Freilich werden nur bloß geistliche Gerichte aufgetragen werden, aber man sieht doch daraus, daß der liebe Gott selbst an Essen und Trinken denkt und wohl weiß, daß uns der Mund alsdann eher nach dem Himmel wässern werde, als wenn er gesagt hätte, wir sollten mit Abraham, Isaak und Jakob dort eine lange Predigt anhören. Wenn ihr so mit euern gesunden [386] Kinderchen um den Tisch euch lagert und bei Sommerszeit Milch und bei Winterszeit Erbsen und Speck eßt: o Nachbarn, mich hungert, wenn ich daran denke, und ich würde mich bei einem von euch gleich heut Abend auf frischer That zu Gast bitten, um meinen heutigen Vortrag recht lebhaft zu machen, wenn ich nicht bei dem Herrn Pfarrer gebeten wäre. Der Herr Pfarrer weiß schon, was einem Handlanger am göttlichen Wort zukommt, und ich versichere euch, daß ich dem Studenten begegnen werde wie meinem eigenen Kinde, obgleich er die Landesmanier nicht weiß und mir nicht die Ehre angethan hat, eine Leichenabdankung bei mir zu bestellen.

Seht, liebe Nachbaren, wie die Mahlzeit, so das Leben. Es ist, unter uns gesagt, recht gut zu leben. – Wenn ihr nicht arbeiten möchtet, würd' es euch wohl schmecken? Die wenigsten Vornehmen essen und trinken, sie thun nur so, als äßen und tränken sie; und dann am Sonntage – denkt nur noch an jenen Sonntag, wo wir des Morgens um vier Uhr ein Werk der Liebe und der Noth verrichteten und dem Herrn Pfarrer sein Getreide wegen des bezogenen Himmels in die Scheuer sammelten, und hernach, wiewohl nach der Predigt, unterm Schauer saßen und regnen sahen, und unser guter Seelenhirte mitten unter uns. Das ging: Prosit, Gevatter! und ich glaube, solcher Prosittage habt ihr viel gehabt.

Niemand ist schläfrig zum Todesschlaf. Jedes hat noch Luft ein Stündchen aufzubleiben. Alles will gern leben. Die lahme Trine im Hospital hätte gern noch einige Jahre gehinkt, und es ist gewiß und wahrhaftig so viel Hübsches, besonders im Sommer, in der Welt zu sehen und zu hören, daß man recht gern lebt. – Ich liebe darum vorzüglich den Sommer, weil so viel Leben drin ist. – Alles lebt im Sommer. Die ausgewachsenen Bäume sind für Vögel und Gewürme große Städte, so wie das Gras schlechte [387] Dörfer und Gesträuch Kirchdörfer sind. – Manche Eiche könnte man wohl ein Schloß nennen; alles, wie man es nehmen will. – Mir hat noch keine Fliege einen Gedanken weggesummt, und es ist mir gleich nicht recht, wenn nicht ein paar in meiner Stube sind. Kann sie ein so großer Herr, als der liebe Gott ist, in seiner Welt leiden, so können sie doch wohl in meiner Stube seyn? Ich hab' es von einem sehr vornehmen Herrn, der bei einem Feste auch für seine Fliegen und Mücken Wein eingießen läßt, um alles, was um ihn lebt und schwebt, zu sättigen und zu tränken mit Wohlgefallen. Seine Hausthiere müssen alle ein Spitzgläschen Wein haben; allein das halt' ich, unter uns gesagt, unrecht, wenn man die Thiere zu menschlich macht. – Man wird schon einen Lazarus finden, warum also Fliegen und Mücken? Der GevatterBriese sprach mir gestern von der Größe des lieben Gottes, und ich hatte den Einfall, daß der liebe Gott jeden Sperling, jeden Stieglitz, jeden Hänfling, jede Milbe, jede Mücke mit Namen zu nennen wüßte, so wie ihr die Leute im Dorfe: Schmied's Greger, Brisen's Peter, Heifried's Hans – Denkt nur, wenn der liebe Gott so jede Mücke ruft, die sich einander so ähnlich sehen, daß man schwören sollte, sie wären alle Schwestern und Brüder; denkt nur!

Kurz, lieben Freunde, der liebe Gott ist ein guter Herr, bei dem ihr dient, und seyd ihr gleich auf Taglohn bei ihm, und ist die Welt gleich nicht verdungen Werk, hat gleich jeder Tag das Seine, und wird gleich nicht fürs Leben im ganzen Stück, sondern für jede Tagesabtheilung Rechenschaft gegeben, was schadet es? Je kürzer die Rechnung, desto leichter alles übersehen. Wir sind wahrlich nicht in Egypten, wenn wir dem lieben Gott dienen. – Seyd ehrlich. – Habt ihr wohl über eure weltliche Herrschaft zu klagen, ob es gleich oft adeliche Egyptier gibt und unter den königlichen Beamten manchen pharaonischen Frohnvogt? – Der liebe [388] Gott läßt jedem, was er hat. – Er nimmt nicht Zoll und Accise, nicht Hufenschoß und Vorspann, er will nur das Herz, das heißt, daß ihr das Eurige gut anwendet und euch all' zusammen für Schwester und Bruder haltet. Er gönnt uns Würden und Ehren und läßt den beim Schulzenamt, den einen Landgeschwornen, den einen Hausvater seyn und mich einen Mitdiener amgöttlichen Worte. Er will nur das Herz, das heißt: daß wir uns einander Gevatter nennen und nicht einer über den andern erheben und alle einander die Hand geben und wohl bedenken, daß nicht wir, sondern er durch uns regiert; daher werden auch die Schulzen und Landgeschwornen, wie die liebe Obrigkeit all' zusammen, Götter der Erde genannt. – Der liebe Gott hat's nicht verboten, in den Krug zu gehen und ein Gläschen zu trinken und Hannchen herumzudrehen, wenn es nur des Sonntags ist, nichts dabei versäumt wird und alles in Züchten und Ehren bleibt. Pfui, wer wollte sich betrinken, um vergnügt zu seyn, wer sich die Augen verbinden, um desto besser zu sehen!

Seht, lieben Freunde, so ist das Leben eine Mahlzeit.

Es gibt aber auch bei jeder Mahlzeit mancherlei und manches, was unangenehm ist. Wo Weizen ist, da schleicht sich auch Unkraut herein, wie in unseres Herrn Pfarrers Weizenland. Gott wolle geben, daß in seiner Gemeinde weniger Unkraut sey, als dieß Jahr auf seinem Acker. – Sonst würden die lieben Engelein zu jäten kriegen, und es würden nicht viele in Frieden und Jauchzen eingeführt werden in die Scheuern – das ist auf den Kirchhof, den ich für des lieben Gottes Scheuer ansehe.

Wir essen im Schweiße des Angesichts, wir essen, was wir sauer verdient haben. – Ich kann zuweilen das Brod nicht ansehen, ohne daß mir der Angstschweiß ausbricht; denn ich weiß, was es mir gekostet hat. Wenn man nur bedenkt, was der liebe Gott erst mit dem Brode für Wege geht, eh' es Brod wird. Wer[389] kann es ohne Sorgen essen? Und mit dem Hemde, eh' es ein Hemd wird. Wer kann es ohne Seufzer anziehen? Gott weiß, wie es kommt, man sorgt am liebsten am Tische und sieht auf die Erde, obgleich man dankvoll gen Himmel sehen sollte. – Man sieht alle um sich herum, die Nahrung und Kleider haben wollen, und das bringt uns in einen Gedankenwald. – Oder man glaubt vielleicht, sich das Sorgen leichter zu machen, wenn man bei Tische sorgt; allein man macht es sich schwerer, denn man wird dadurch unthätig, und anstatt daß man die verlorenen Kräfte ersetzen sollte, verliert man ihrer noch mehr. – Es ist so, wie ein unruhiger Schlaf, der mehr schadet als nützt, man ist nach ihm noch schläfriger. – Wenn man einmal ins Sorgen hinein kommt, findet man sobald nicht heraus. – Mein College in B-, der in seiner Jugend Barbier gewesen, ist bis zur Verzweiflung betrübt, daß er nicht so viel Bücher hat, als sein Pfarrer. Und ich sag' oft und viel zu meiner Frau, daß ich Gott für dreierlei besonders danke, nämlich, daß sie ein treues, fleißiges Weib ist, die ihre Finger ins Kalte und ins Warme steckt, wie ihr sie alle kennt; daß mein Acker nicht der schlechteste ist und seinen Organisten schon nährt, und daß ich nicht viel Bücher habe; denn wahrlich, Bücher stehlen einem das Leben unter den Händen weg. Freilich muß man der Bibel Gesellschaft machen, außer dem Gesangbuch, das in Absicht der Bibel wie Mann und Frau, Bein von der Bibel Bein, Fleisch von der Bibel Fleisch ist, von dem man sagen kann: Man wird es Männin heißen, weil es vom Mann genommen ist. – Außer der Bibel und dem Gesangbuch hab' ich acht bis neun Bücher. Was will aber der liebe Herr Amtsbruder mit mehr? Mit Bibel, Gesangbuch und Luthers Katechismus kann man schon haushalten. – Wenn ich lese, dann leb' ich nicht, sondern der, so das Buch geschrieben, lebet in mir. – So ist es aber mit dem verdammten Neide. Da lob' ich mir doch noch Sünden, bei denen man [390] seine Lust hat und die man mit lachendem Munde thut, denn da ist doch noch etwas dabei. Aber der Neid, der Zorn und deßgleichen sind so traurige, so milzige Laster, daß man gar nicht begreifen kann, wie man zornig und neidisch und dergleichen ist. Bei jenen ist man auf der Hochzeit und Kindtaufe, bei diesen auf Begräbnissen. Man nennt daher diese letzten schwarze Laster, und das von Rechtswegen, wie's in den Urtheilen steht, daß Gott erbarme!

Für solche Sorgen, wie mein College, der gewesene Barbier, sich aufbindet, bin ich zwar sicher; allein ich hab' andere – und meine neun Kinder alle mit Magen wie Kornsäcke. – So was will gefüllt seyn. – Ich mag mein Aemtchen berechnen, wie ich will, über zweihundert Gulden dresch' ich nicht heraus. Wenn noch so eine gute Ernte gewesen und ich noch so viel Leichenabdankungen gehalten, ist doch am Ende nicht ein Bund Stroh mehr, als zweihundert Gulden. Was das kostet, einen Sohn auf der Universität zu haben, das könnt ihr nicht glauben, liebe Nachbaren; indessen ist auch Waare dafür, und wenn Gott uns leben laßt, wird er künftige Pfingsten seine erste Predigt auf unserer Kanzel thun, wozu ich Jung und Alt hiermit zum voraus dienstlich eingeladen haben will. – Da wird man doch sehen, ob er weiß, wo er zu Hause gehört. Da ich an diesen hoffnungsvollen Jüngling denke, werd' ich Mühe haben, die Mahlzeit dieses Lebens unschmackhaft zu finden. – Findet ihr nicht etwas Aehnliches zwischen ihm und dem tiefgebeugten Curländer? Ich glaube, am Ende sehen sich die Studenten alle gleich, und doch –

Herzlich geliebte Nachbarn! wenn man auch einen hoffnungsvollen Jüngling zum Sohn hat, der auf Pfingsten predigen wird, ist's doch ein elend jämmerlich Ding um aller Menschen Leben. Auch die Vornehmen haben nicht alle Tage Rebhühner. Ich aß ehegestern ein halbes beim gnädigen Herrn v. – – auf dem Gebetsverhör; [391] allein, unter uns gesagt, es war ein wenig alt. So ist's mit dem Leben, wenn auch Rebhühner aufgetragen werden. Wer eine Wittwe mit Geld heirathet, ißt ein altes Rebhuhn, und wer zu Ehren kommt, ißt ein altes Rebhuhn, und gesetzt, die Rebhühner sind frisch, und gesetzt, sie wären auch ein Alltagsgericht, was hilft's? Die Kinder Israel wurden des Manna's überdrüssig, wie es Leute gibt, die des preußischen Manna's, der Schwadengrütze, müde werden können. Das Manna, es sey das israelitische oder das preußische, in Ehren – allein wer es dazu hat, daß er alle Tage Haselhühner essen kann, dem müssen sie wie unser einem die grauen Erbsen werden.

Man sagt, wenn es am besten schmeckt, soll man aufhören, und wahrlich, so ist's mit dem Leben. Beim Leibgericht verdirbt man sich am ersten den Magen. – Die Leibgerichte der Vornehmen könnte man am füglichsten nennen: der Tod in Töpfen, und von den ausgewachsenen Bäuchen der Landpfleger heißt es: übertünchte Gräber. Habt ihr schon, meine Lieben, einen dicken Bauer, einen dicken Organisten und einen dicken Schneider gesehen? In unserm und den drei uns benachbarten Kirchspielen ist keiner aufzutreiben, und überhaupt ist so was ein seltener Vogel – allein bei uns, die zu Pharaonis magern Kühen gehören, sitzt das Uebel wo anders. – Wo sitzt es immer bei Reichen oder Armen, Vornehmen oder Geringen? – Wir füttern alle durch die Bank den Tod, wenn wir essen und trinken – wir mögen dick oder dünn seyn. – Wie oft kommt uns was in die Quere bei Tische und wär' es auch nur eine Gräte. Da verbrennt sich der Kleine den Mund und Trinchen kriegt's in die unrechte Kehle.

Selten ist eine Hochzeit, wo nicht was Trauriges sich zuträgt; ihr wißt es wohl, wie es des Hiobs Kindern ging, da sie recht fröhlich und guter Dinge waren. Wenn man lustig ist, hat der Teufel immer sein Spiel; er streicht die Violine beim Tanz. Wo [392] getrunken wird, werden Gläser zerbrochen, und man kann ordentlich zu viel auf einmal leben, wie man zu viel auf einmal essen und trinken kann. Wie viele überleben sich daher selbst? – Und dieß alles zusammengenommen, was meint ihr? Das Leben ist zwar eine Mahlzeit, allein es ist darauf nicht eben einzuladen. So für's Haus, so aus der Hand in den Mund.

Wenn es nicht schmeckt, sieht man gern ein Viertelstündchen früher auf und sieht sich im Freien um, wenn es Mittag, und in den lieben Mond, wenn es Abend ist. Man hat alsdann dem lieben Gott eben soviel Ursache zu danken, daß man aufgestanden ist, als daß man sich niedergesetzt hat. Das heißt mit andern Worten: im Fall wir uns nicht das Leben gar zu süß gemacht, sterben wir gern und danken dem lieben Gott für den Tod so wie für's Leben. Wahrlich, es kann nicht schlimm mit dem Tode seyn; frische Luft und ein Blick in den Mond ist das wenigste. – Wer recht müd' ist, liebe Nachbarn, legt sich lieber, als daß er essen und trinken sollte. Der hört die Kugel nicht, den sie trifft, der sieht den Blitz nicht, den er erschießt. Ich glaube, es hat noch kein Mensch recht gewußt, wenn er stürbe. – Weg sind wir! Der Tod ist, die Sache beim Licht genommen, eben so ein Werk der lieben, gütigen Natur, als das Leben, und der Schlaf eben so gut als das Essen. – Wer nicht schlafen kann, kann auch nicht essen; allein wenn es möglich wäre, daß jemand immer schlafen könnte, so würd' er nicht essen dürfen.

Wollt ihr die Sache ins Feine haben, denkt euch die Jugend als Frühstück, die Jünglingsjahre als Mittags-, bis männlichen als Vesperkost, das Alter als Abendbrod. – Da ließe sich viel, besonders beim Mittag, anbringen; allein denkt der Sache selber nach – und fasse jeder in seinen Busen, allwo ich das meiste, was ich gesagt, herausgenommen.

Laßt uns, lieben Freunde, nicht zu viel essen, damit wir sanft [393] schlafen können. Man sitzt höchstens eine Stunde am Tische; wer schläft aber nicht gern seine sieben Stunden?

Manche Blüthe, die schon angesetzt hat, fällt ab, weil ein böser Junge, indem er nach einem Vogel wirft, die kernfrische Blüthe trifft. Viele vergeuden ihre Jugendkräfte und sind Lebensdurchbringer. – – Wie der Baum fällt, so bleibt er auch liegen. Sorgt nicht für den andern Morgen, sonst verliert ihr den heutigen und den folgenden Tag, und wer weiß, ist nicht der Tag, da ihr am meisten für den folgenden sorgtet, euer jüngster, euer letzter Tag!

Hiermit verlassen wir dieses Grab. Gewiß, Freunde, ein denkwürdiges Grab! – Fliege vorbei, du Geier und Habicht, und wenn du in diese kalte Gegend (wo der Dr. Luther gewiß an Holz in der vierten Bitte gedacht hätte, wenn er in L – Organist gewesen), wenn, sag' ich, du in diese kalte Gegend dich verirren solltest, auch du, Adler – und all' ihr unheiligen Vögel – allein ihr heiligen, Nachtigall, Lerche und Schwalbe, setzt euch auf dieß Grab, wär's auch nur, weil Christenleute Minen das Geleit gegeben und an ihre Brust geschlagen und gebetet:


Was ich gelebt hab', decke zu,

Was ich noch leben soll, regiere du.


Man fängt die Grabschriften mit Wanderer an, warum aber nicht mit Reiter? – Reiter so gut als Wanderer, und auch du selbst, der du mit Sechsen fährst – hier ruht ein Mädchen aus fremden Landen, sie fand hier den Tod, auch du wirst ihm nicht entwandern, entreiten, entfahren. – Ihr habt alleeinen Weg – alle zum Grabe!

Genug auf heute, liebe Nachbarn. Da ich dieß Wesen (eine Abdankung kann ich's nicht mit gutem Gewissen nennen) bis beinahe ans Ende fertig hatte, fiel es mir ein, daß ich auch das Leben mit einerReise hätte vergleichen können, weil unsere Seligtodte nicht von hier war und ein reisendes Mädchen [394] was Seltenes ist; allein da ich eben zu Hause war und den nämlichen Abend, als ich dieß Wesen aufsetzte, eine sehr mäßige Mahlzeit that, schien mir das erste besser, und so wünsch' ich euch denn, und die Selige, wenn sie reden könnte, würd' außer dem herzlichen Dank, daß ihr ihr auf eurem Kirchhof ein Plätzchen gegönnt und sie dahin fein sauber angezogen in Communionskleidern begleitet habt, und die Selige, sag' ich, würd' euch außer diesem Dank ein Gleiches wünschen, das ist:

eine gesegnete Mahlzeit.

Schließlich laßt uns allerseits auf unsere Knie fallen, um ein gläubiges und andächtiges Vater unser zu beten. Ihr wißt wohl, wie ich mich ärgre, wenn ihr Leutchen erst eure Beine anseht, ehe ihr hinkniet, als wenn ihr von ihnen Erlaubniß bätet. – Wozu die Umstände? Ich habe doch auch ein Ehrenröckchen an, aber ich falle mir nichts, dir nichts nieder wie ein Stück Holz, und meine Marthe auch so, wenn auch am Kleid oder Schürze ein Fleck bleibt. – Kinderchen, ist's doch kein Fettfleck. Er bleibe, dieses Grabeszeichen. Eine schöne Erinnerung: Mensch, du bist Erde, bedenke das Ende! Betet also, als betet ihr zum letztenmale:

Vater unser etc.


(Ende der Beilage B.)


Der Prediger erinnerte sich an seine Pflicht, der Regierung nach Königsberg von dem erfolgten Tode unserer Seligen Nachricht zu ertheilen. Ich schrieb an meine Mutter und an meinen Vater, an Benjamin und an Hermann. Ich läugne es nicht, daß der Brief an meine Mutter mit Bitterkeit gewürzt war; der an Hermann war gewissensrührig. Ich bestätigte alles, was [395] Mine in meinem Namen versprochen hatte; ich forderte nicht ihr Blut von seinen und des v. E. Händen, allein ich forderte den Hermann auf, zu bedenken zu dieser seiner Zeit, was zu seinem Frieden diene. Bald würd' es vor seinen Augen verborgen seyn, wenn der Richter der Lebendigen und der Todten sein Gericht eröffnen würde.

Um Minens Grab ward ein viereckiges Bollwerk geschlagen, welches man in L – einen Kranz nannte. Es war nichts weiter darauf geschrieben, als:


Wilhelmine – –,

geboren zu – in Curland,

gestorben zu L – in Preußen.

Wer so stirbt, der stirbt wohl!


Acht Tage blieben wir so versammelt, so einmüthig, so bei verschlossenen Thüren, wie die Jünger, da ihr Herr und Meister sich ihren sichtlichen Augen entzogen hatte. Wir sprachen von Minen und gingen Hand in Hand zu ihrem Grabe. Mine war der Mittelpunkt aller unserer Unterredungen, bis auf die Abhandlung von der Sünde wider den heiligen Geist, worin sich weder Gretchen noch ihre Mutter mischte. So oft ich allein zu Minens Grab wallfahrtete, begegnete ich Gretchen, die mir nie im Wege war.

Fußnoten

1 Bei dieser Stelle finde ich angemerkt: unwörtlich. Die Feinheit des Originals kann nicht erreicht werden.

2 Dieses Stück war Gretchens, des Predigers Tochter in L–, Liebling. Sie besaß es, wie sie sich zu mir ausdrückte, schriftlich und mündlich; sie hatte es abgeschrieben und wußte es auswendig. – Das gute Mädchen fand etwas Aehnliches von der mütterlichen Linde darin.

Dritter Theil

[1] Erster Band

Wir sprachen kein lebendiges Wort; – als ob'stodte gebe? nach der Weise von todten und lebendigen Sprachen? – Wenn man lebendige Worte thätige, mit Handlungen verbundene nennen wollte, würden freilich auch todte Worte seyn. O den Todten! Gott ehre mir Leute, die Hand und Mund zugleich bewegen, pflegte mein Vater zu sagen. Freilich deutete er diesen Ausspruch auf Güte des Herzens und Mildthätigkeit; allein er ehrte auch das Symbol und hatte die Gewohnheit, die Hand mitsprechen zu lassen.

Seufzer, halb erdrückte Achs nennt nicht todte Worte, ihr Wortkrämer! denn die gelten mir mehr als eure Klagelieder und Condolenzen. Wenn es auf Achs kommt, löst der Geist den verstummten Leib ab, drängt sich vor, vertritt ihn und läßt sich allein hören. Es gibt unaussprechliche Achs! – Abba, mein Vater! – die Carthäuserparole: bedenke das Ende! war gewöhnlich unsere ganze Unterhaltung. Gretchen und ich hatten das meiste eingebüßt; war es Wunder, daß unser Schmerz zuweilen bis aufs memento mori die Sprache verlor? daß der Geist das Wort nehmen mußte? In wenigen Tagen sahen wir etwas Grünes auf Minens Grabe das Haupt emporheben, und das war uns so willkommen, als wenn Minens Leib, diese Gottessaat, schon aufginge. Gretchen küßte dieß erste Grün und bethaute es [1] mit ihren Thränen. Sie war neidisch auf Thau und Regen, und wollte diese Erstlinge durchaus nur mit Thränen auferziehen. – – Mich hatte die Empfindung beim Anblick dieses ersten Grüns gelähmt. Es war mir, als säh' ich ein Stück von Minen. Am Kopfende schoß dieses erste Grün hervor. Den Noah konnte der Oelzweig nicht so entzücken, als uns dieser Aufschlag aus einem Gebeinhause. Entweder war der gute Prediger so voll von seiner Abhandlung, oder er legt' es geflissentlich dazu an, mich zu zerstreuen; denn eh' ich's mich versah, ließ sich der Schriftsteller hören. Ja wohl, er ließ sich hören.

Vor dem Begräbnisse war dem guten Prediger selbst Minens Andenken, ebenso wie uns, Ein und Alles. Nach der Beerdigung trat er zwar auch die meiste Zeit unsern Empfindungen bei; indessen konnt' er zuweilen nicht umhin eine Störung zu machen, wenn wir uns Minens letzte Lebenstage ins Herz hineinmalten, einbildhauten. Da galt es denn den Stuhl, auf dem Mine am liebsten gesessen; jeden Ort, wo sie an mich gedacht, wo sie voll Hoffnung, mich zu sprechen, gewesen – wo ihr diese Hoffnung den Dienst aufgesagt, wo sie die Schwäche empfunden, mit dem rechten Arm ihren Kopf gestützt, und sich Gott ergeben, wo –

Eben öffneten mir diese Erinnerungen Thür und Thor. – Nur ein Wort, nur ein Sterbenswort von Minen, fing ich an, wie glücklich hätt' es mich gemacht! und der Prediger, »was den Druck betrifft,« er that, als ob es eine Antwort auf unser Seelenringen wäre; »was den Druck betrifft: er sey nicht kostbar, allein rein, so wie jeder Anzug. Eine gute Wäsche ist bei mir mehr als Gold- und Silberbesatz. In dem Stück bin ich sehr für die Engländer und Holländer. Fast scheint es, saubere Wäsche und gut Papier wären nicht so weit auseinander. Beide Nationen, saubere Wäsche und sauber Papier. Ist das Papier gut, ist viel gut.«

[2] Dergleichen Eingriffe waren was Gewöhnliches, und damit meine Leser den Haupteingriff überstehen und einmal wissen, woran sie sind: der Eingang des Werks war ein Sündenverzeichniß von Saul und David. Dieser raubte dem Urias das Leben, weil er eine schöne Frau hatte; jener war gegen die Feinde Israels mehr schonend, als er sollte. Heutzutage würde man sagen, er war menschlicher – und Saul empfand den Bind-, David den Löseschlüssel. –

Meine Leser werden den Uebergang zum Thema ohne meine Handleitung finden. Die Sünde in oder wider den heiligen Geist ward wie gewöhnlich in der Art behandelt, daß der erste Theil die unrechten Begriffe enthielt, welche man sich gewöhnlich von der Sünde wider den heiligen Geist mache. Unter diesen unrechten Begriffen kamen freilich einige vor, auf die kein Mensch eher als unser guter Schriftsteller gekommen. Er brachte darauf, weil er recht auf Irrwege studirt hatte. Der zweite Theil war der rechte Weg, oder eigentlich der, der ihm gefiel. Ueberall auf Weg' und Abwegen eine Belesenheit, die sich nicht bloß auf die rußigen Bücherschränke der Gegend erstreckte, wie der gute Prediger sagte – sie ging weiter. – Ich würde zwar (Gott wend' es aber in Gnaden ab) nicht die Sünde quaestionis, allein doch eine wirkliche Sünde begehen, wenn ich meinen Lesern von diesem gewiß bewanderten Werke eine weitläufige Erzählung auslieferte. So viel ist gewiß, daß ich den guten Prediger mit seiner Ausarbeitung ziemlich zweifelhaft machte, indem ich ihm, in beliebter Kürze und Einfalt, meines Vaters Meinung über diesen heiligen Gegenstand eröffnete, der die Sünde wider den heiligen Geist eine Bemühung nannte, das ins Herz geschriebene natürliche Gesetz, die Regel, das göttliche Alphabet auszulöschen. Das Kind mit dem Bade ausgießen, sagte der Prediger, und legte die drei Finger seiner rechten Hand an seine Stirn und sodann ans Herz, als ob [3] er an beiden Orten anklopfen wollte. Endlich ward ihm aufgethan. Ich würde, fing er an, meine citationseisenschwer beschlagene Abhandlung gern Ihrem Herrn Vater auf eine freundschaftliche Bleifeder übersenden; allein ich fürchte, daß nach diesen Grundsätzen wenig von diesem gelehrten Stück zurückkommen möchte. Ich versicherte den guten Prediger, ohne, wie ich bemerkte, ihm ein Compliment zu machen, daß mein Vater keine Bleifeder hätte.

Selten, pflegt' er zu sagen, ist das beständig, was durch ihre Vermittlung an Tageslicht kommt. Schwarze Wäsche und Tafelgedecke verzeichnete meine liebe Mutter mit der Bleifeder, wie es sich eignet und gebührt. Wenn schwarze Wäsche (meine Mutter nannte es schwarzes Zeug) und Tafelgedecke wieder durch Wasser gereinigt waren, weg waren auch die Bleifederworte. Das mit Bleifeder beschriebene Papier reibt sich an allem, was ihm nahe kommt, sagte meine Mutter, und sehnt sich recht geflissentlich, von einer solchen Unzierde befreit zu werden, wie ein stolzes Pferd von einem schwachen Reiter. Nennt es Bleistift und nicht Feder – Feder ist zu schade, fuhr sie fort. – Da also mein Vater, sagt' ich, keine Bleifeder hat, und schwerlich eine von meiner Mutter leihen wird, so bin ich fest überzeugt, daß er Ihre Schrift von der Sünde wider den heiligen Geist ohne Bleifeder lesen werde. Vortrefflich, sagte der gute Schriftsteller; wollte Gott! es wären keine Bleifedern in der Welt, und unsere Kritikaster bedächten: wer die Bleifeder nimmt, wird durch die Bleifeder umkommen; richtet nicht, so wer det ihr nicht gerichtet. Kommt denn, fragte der Prediger, kommt denn alles bei Ihrem lieben Vater ungeschlagen davon, was er hört und liest? Seine Art ist, erwiederte ich, ohne Bleifederstrich, ohne Beziehung auf es sey gehörtes oder gelesenes Wort, ein Wort zu seiner Zeit nicht schriftlich, auch nicht einst mündlich, anzubringen, sondern mündlich, zu verlieren. Zuweilen scheint es, fuhr ich fort, daß das, was er sagt, so passe, [4] wie die Faust aufs Auge; indessen war mir oft ein solch verlornes Wort ein Wort des Lebens zum Leben. – Dem Prediger gab das verlorne Wort Gelegenheit, von der verlornen Schildwache zu reden, und da ließ ich ihn sobald nicht los. – Er war ein kleiner Politikus, las die Zeitungen, wußte alle preußische Regimenter namentlich und ihre Uniform; das war aber auch alles! An mir fand er einen andern Mann; ich sprach vom großen und kleinen Dienst, und hielt den Ehrenmann fest. Was eine vorlorne Schildwache nicht machen kann! Hier fand mich der Prediger gewiegter als bei seiner Abhandlung. Er wollte heim; ich war in meinem Element. Endlich jammerte mich sein, ich löste die Schildwache ab.

Anlangend den Druck, fing der Prediger, sobald er Luft hatte, an, und dankte dem Himmel, daß er aus den Händen des Kriegsknechts war, der ihm Werbegeld aufdringen wollen, anlangend den Druck, wiederholte er, ohne weiter eine Begierde zu äußern, die Bleifeder meines Vaters auszufordern, so sey er nicht kostbar, allein rein. – Ein gutes Wort muß eine gute Stätte finden. – Der gute Prediger, der sich aus so manchem von mir verlornen Wort überzeugt hatte, daß mein Vater mit seiner Abhandlung nicht zufrieden seyn würde, ging ganz betrübt von meinem Vater, wie der Jüngling von Christo, der alles gehalten hatte von seiner Jugend an; denn wahrlich! der Prediger war so wenig entschlossen seine Noten zu streichen und den gelehrten Wust, wie dieser Jüngling sein Hab und Gut zu verkaufen und es den Armen preiszugeben. So wirst du einen Schatz im Himmel haben, sagte Christus zum Jüngling. Wer opfert ihm aber eisenschwere Gelehrsamkeit, welche doch Motten und Rost fressen, darnach Diebe graben und sie stehlen?

Vom Kriegsdienst ist vorderhand zwischen uns beiden, nach diesem Ritt, keine Sylbe weiter vorgefallen.

[5] Wir fingen nach einer geraumen Zeit sehr regelmäßig, weil die Sünde wider den heiligen Geist uns darauf gebracht hatte im Gespräch, von der heiligen Regel an, die man in Ehren halten müßte, wenn sonst gleich alles über und über ginge.

Alles in der Natur sucht sich an etwas zu halten. Der Verstand an der Regel, die er als Gottes Bild ehrt, und wahrlich sie ist Gottes Bild. Sie ist nicht Buchstab, sie ist Geist von Geist. Meine Mutter würde sagen: Diese Regel streichen, heißt: wider besser Wissen und Gewissen handeln und wandeln. Wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß wider diesen heiligen Geist kommt! es wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist. Dieß ist das eigentliche Verbrechen der beleidigten göttlichen Majestät, nicht aber das, was Stadt-, Land- und Kaiserrecht so nennt.

Wollte Gott! setzt' ich hinzu, Ihr Werk würde diesem Aergerniß steuern und wehren! Man kann nicht wissen, antwortete der Prediger.

Was würd' aus uns werden ohne Regel? Da würd' all' Augenblick einer seinen Zauberstock aufheben, und das Volk würd' ihm dienen. Warum überzeugen wir uns jetzt nicht von Zaubereien? Weil wir der Regel den Boden ausstoßen würden, da würde sie denn liegen in ihren Ruinen. Regeln sind das Salzder Erden, wenn aber das Salz dumm wird, womit will man salzen? Erzähl' ein Wunder von heut und gestern oder ehegestern, wo findest du Glauben, und warum dieser Unglaube? Hat denn Treu' und Glauben aufgehört auf Erden? Nicht also, wohlmeinender Zeterrufer! Die Natur nahm ihren Anfang durch ein Wunder. Wunder genug! Jetzt ist alles ohne Sprung. Die Sphärenmusik ist ein einfaches Lied und keine Ode. Es geht natürlich zu, heißt: es versteht sich alles von selbst, die allerorthodoxesten, wundervollsten Geistlichen selbst haben den Wundern Ziel [6] und Maß setzen müssen. Bis dahin, und weiter nicht, sollten die Ausnahmen von der Regel stattfinden und die Wundergaben im Schwange gehen. – Die alten Propheten sind todt; die neueren haben kein Creditiv vorzeigen können; obgleich meine Mutter jederzeit über die wenige Aufmunterung für die jungen Propheten die Achseln zog. Wenn wir keine jungen Propheten leiden, werden wir auch keine alten ziehen. Jung gewohnt, setzt sie hinzu, alt gethan.

Sie verstand indessen durch einen Propheten nur einen Superintendenten, der ein paar Zoll höher wäre (im Kunstwort; mehr hatte), als der regierende Herr in Curland.

Wie kommt's aber, daß alles die Ohren spitzt, wenn vom Wunderbaren die Red' ist? Das kommt, weil der Verstand steif und fest auf seine Regel hält und den Feind kennen lernen will, der diese seine Beste einzunehmen droht. Das kommt, weil der Verstand sein Richteramt beweisen und Urtel und Recht eröffnen will wider den, der die Grenzen zu verletzen droht. Das kommt auch, würde meine Mutter sagen, »durch Adams Fall und Missethat.« Wahrlich! der Mensch ist sehr zum Fall geneigt; wer steht, mag wohl zusehen, daß er nicht falle. Wir nähren all' eine paradiesische Schlange im Busen. Der Mensch hat zuweilen einen schrecklichen Hang zum Aufruhr.

Alles dieß, und noch mehr von der nämlichen Manier, brachte den Prediger nicht weiter auf meines Vaters Bleifeder, wiewohl er noch öfter als zuvor an reinen Druck und an weißes Papier dachte. Kostbar sey er nicht, nur rein.

So viel weiß ich, daß ich meine Zeit in L – nach den akademischen Wünschen gut angewendet habe. Gott segnete auch meine Studia, Theorie und Praxis! Ich habe viel, viel an dem Grabe meiner Mine gelernt, wo am Kopfende Grün hervorschoß. Wir werden wiederkommen, rief ich zuweilen aus, und Gretchen faltete die Hände, wir werden wieder kommen gen Zion mit Jauchzen, [7] ewige Freude wird über unserm Haupte seyn, Freude und Wonne wird uns ergreifen und Seufzen wird weg müssen! Gott wird uns wiedergeboren werden lassen zu einem unvergänglichen, unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das im Himmel ist.

Das erste Grün war uns eine Hieroglyphe ihrer Auferstehung. Es kam uns vor, als richtete Mine sich auf, und nie ist das erste Grün so bewillkommt worden als dieses! – Es kam von Minen! – Sie war handgreiflich – so kam es uns vor. Wir hatten ihre Grabeserde so gelockert und bearbeitet, daß sie wie ein Gartenacker aussah. Sie lebt, rief ich eben so entzückt, als wie ich sie fest an mein Herz drückte und ein war mer, lebendiger Odem sich aus ihren Lippen drängte. Sie lebt! rief ich, und Gretchen rief auch: Sie lebt! – Wahrlich, lieben Leser! dieß alles war mehr als arkadische Gärtnerei. – Es lag ein Sinn in dieser Hieroglyphe.

Wenn man sich acht Tage so auf dem Dach ist, als ich dem guten Prediger, hat man sich weg. – Die Bücher sind Lexika, nach Beschaffenheit der Umstände Real oder Verbal. Mehr kann ich ihnen nicht zugestehen. Mensch, lerne dich! Welch ein großes Wort, sagten wir beide, der Dekanus, der die vorige Nacht Großvater geworden war, und ich, der ich nicht viel weniger – Student werden sollte. Wahrlich! ein großes Wort! – allein, welch ein schweres Wort zugleich! Der Vater lernt sich erst in seinem Sohne kennen. Niemand will in sich hinein; außer sich herumzuschweifen, hat der Mensch eine so eingefleischte Lust, daß er gern unstät und flüchtig ist. Sein eignes Haus brennt dem Menschen überm Kopf, er fürchtet, in sich hineinzublicken, wie Kinder, in einem Zimmer allein zu schlafen. Darum die Geselligkeit. – Wenn ich an diese güldene Regel komme: Mensch, lerne dich, bin ich in meiner Heimath. Die Theologen nennen das Selbstverläugnung, was wirklich ein großer Theil von Selbstkenntniß ist. [8] Man muß sich absterben, um sich aus den Todten hervorgehen zu sehen, und solch ein Erstandener, das bist du, Selbstkenner!

Es kam zwar in unsern Lektionen der Herr Graf sehr oft und viel vor; indessen dachten wir nicht anders an ihn, als exempli gratia (zum Beispiel). Freilich hätten wir auch auf einen Besuch, den wir ihm schuldig waren, fallen sollen, und des Predigers Pflicht wär' es vorzüglich gewesen, sich und mich daran zu erinnern, da der Graf ein Stück von seinem Kirchenpatron und sein Wohlthäter war. Auf einmal ein Brief mit Pleureusen vom Hochgebornen Nachbar. Eine Einladung auf morgen, sagt' ich. – Das nicht, erwiederte der Pastor und bemerkte zugleich, daß der Graf niemals jemanden auf einen gewissen bestimmten Tag zu sich bäte. Er lebt in diesem Stück, setzte der Prediger hinzu, wie man stirbt. Es muß ihm alles unvermuthet kommen. Wer kann, soll er sagen, einen über zwei, drei Tage, auch wohl mehr, zur Mahlzeit einladen? Diese Nacht kann man deinen Appetit von dir fordern! Sehet zu, wachet, denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist. Wer sterben lernt, muß so und nicht anders leben, sey des Grafen Losung, die er übte, wo es sich nur irgend üben ließe.

Wie gesagt, der Brief war nur eine Erinnerung an unser Versprechen. Wenn bewirthen so viel heißt, als den Gast zu dieser Aufnahme durch eine Einladung vorbereiten, so hat der Graf noch in seinem Leben keinen aufgenommen und bewirthet. Es ward beschlossen, den folgenden Tag dem Grafen zu widmen, und damit mir alles desto unerwarteter seyn möchte, ließ mich der Prediger in Absicht der Einrichtung des gräflichen Gebeinhauses in wohlgemeinter Unwissenheit. – Die Predigerin wollte mit, es gefiel ihr dort unaussprechlich, und gern hätte sie es in ihrem Hause ins Kleine gebracht, was dort im Großen war. Der Prediger und Gretchen konnten nicht aufhören zu steuern und zu wehren, damit dieses Miniaturstück unausgeführt bliebe. – Der Prediger schlug [9] seiner Frau eben darum auch ab mitzufahren. Der Prediger und ich fuhren früh aus, um zeitig in – – zu seyn. Gretchen blieb bei ihrer Mutter. – Wie sehr freu' ich mich, diesen Grafen besucht zu haben! – Der Prediger aus L-, der schon im gräflichen Hause bekannt war, führte mich sogleich in ein Zimmer, wo Särge gearbeitet wurden. Es war das Bedientenzimmer; denn niemand als ein Sargtischler, wie der Graf mich selbst nachher versicherte, wurde in seinen Dienst auf- und angenommen. Es wurden beständig Särge gearbeitet. Der Graf diente armen Leuten aus seiner Sargfabrik. Jetzt war kein Provisionssarg in Arbeit. Der Sargtischler hatte Thränen in den Augen, wie der in Curland, den meine Mutter des Todes Zimmermann nannte, und der in seiner Gewerksstube herzlich weinte, wenn er einen Sarg für einen Redlichen im Lande erbaute. Gott, sagte der Weinende und wandte sich zu seinem Beichtvater, meinem Reisegefährten: Ach Gott! lieber Herr Pfarrer, der künftige Einwohner dieses Hauses hatte ein schönes Ende! Das letztemal, daß ich für jemand einen Sarg mache, den ich sterben gesehen! Mag es thun, wer's kann – ich nicht – ich hoble mir das Herz ab.

Dieser Ausdruck, der ihm, wie man deutlich sah – entfuhr, schlug ihn nieder. Er verlor Spannung und Kraft. Das Handwerkzeug entfiel ihm. – Das Rührendste war immer, daß er sein Gesicht in ein Stück seiner Schürze verhüllte. Dieß ist ein wohlhergebrachtes Zeichen der Traurigkeit. Wir verhüllen uns, als ob wir der Welt entsagen und uns auf uns selbst einschränken wollten, als ob der Fall zu schwer wäre, um ihn fassen – selbst um ihn sehen zu können. Wahrlich dieser Vorgang hobelte nicht nur dem Sargtischler das Herz ab – ich war, wie er, hin! Er schluchzte unter der Schürze! – Freund! fing der Prediger an, man sieht und hört es ihm an, daß er beim Herrn Grafen das Sarghandwerk noch nicht ausgelernt. – Es wird sich geben – ist er denn [10] nicht auch sterblich? – Seine Mitarbeiter, die sich bis dahin nicht einen Augenblick abhalten lassen, kamen jetzt zusammen, als kämen sie zur Kirche. Einer nahm ihn an die Hand, ein anderer streichelt' ihm den Arm, ein dritter legte seinen Kopf auf seine Schulter, als ob er ihm Trost ins Ohr sagen wollte; der vierte, der unempfindlichste, wollt' ihm den Vorhang wegreißen. Unser Betrübter hielt die Schürze fest vors Gesicht. Dieser vierte schien es eben so gut zu meinen, wie die drei andern; allein wer den Menschen kennt, wird es finden, was für eine grausame Beschämung es für unsern Weinenden gewesen wäre, wenn er uns alle ins Gesicht bekommen hätte. Der Mensch scheint sich in dergleichen Fällen zu schämen, daß so viele Leute gefaßt sind, nur er nicht. – Ueberhaupt sieht man selten den Tröster an, es wäre denn, daß viele Trostbedürftige zusammen sind; dann überträgt einer den andern in Rücksicht dieser Beschämung. – Der vierte riß wirklich endlich die Schürze herab – wie konnte der Traurige lange widerstehen? Schmerz macht schwach. – Unser Weinender machte indessen die Augen ganz dicht zu, und da stand er jämmerlich. Der erste nahm dem vierten die Schürze aus der Hand und gab sie dem Weinenden wieder. – In dieser Handlung traf uns der Graf, dem des Predigers und meine Ankunft gemeldet war! – Alles blieb, wie es da stand. Niemand kam dieses Ueberfalls wegen aus seiner Stellung. Niemand schlich sich an seine Werkstätte, alles schien an Ort und Stelle, selbst unser Betrübter nicht ausgenommen, der Mittelpunkt dieser Scene. Was da? fragte der Graf, nachdem er den Prediger und mich mit einem guten Morgen begrüßt oder beherzigt hatte. – Der Prediger nahm das Wort: – Ferdinand hat den Einwohner des Hauses sterben gesehen, das er baut! Nun, sagte der Graf, Fassung, Ferdinand! Begrab' ich denn nicht alle, die ich sterben sehe? Leim' ich nicht hier und da selbst ein Leistchen an den Sarg? Der junge Mensch, der hier einziehen [11] soll, hatte ein frommes, gutes, edles, warmes Mädchen, das ihm starb. Sie starb und er – ihr nach. Gott, in deine Hände befehl' ich meinen Geist, dacht' ich tief im Herzen. Der junge Mensch hatte eine Mine, fuhr ich fort im Herzen zu denken, und war froh, daß Gram und Kummer wegen verunglückter Liebe so lang' am Herzen nagten, bis es durch und durch ist, bis man nachstirbt. Mein Auge sah gen Himmel starr. Ha, sagte der Graf, der mich bei der Hand nahm, da haben wir's. Gelt! wenn Sie einen Sarg für diesen Jüngling machen sollten? Gern, griff ich ein, sehr gern. Das glaub' ich, erwiederte der Graf. Sie würden nicht weinen und heulen. Nein, sagt' ich, ich würd' es nicht – nicht einen einzigen Thränentropfen, nicht einen. – Das glaub' ich, erwiederte der Graf, der stirbt gern, sehr gern, den diese Welt nicht entschädigen kann, es sey in Wirklichkeit oder in Einbildung. So hab' ich einen jungen Menschen gekannt, der mit Freuden dem Tode entgegenging, weil er die Zierde seines Haupts, seine Haare verlor. Er hatte sie so schön wie Absalon; allein eben so leicht, wenn er's bedacht hätte, eben so leicht wie Absalon, hätt' er an einer Eiche hängen bleiben können. – Eine Krankheit raubte ihm diese Zierde, gegen die ihm der Tod wie gar nichts schien. Er erholte sich zusehends. Kein vernünftiger Arzt entdeckt dem Patienten die erste Erholungsspur. Dieß würde heißen, auf dem Richtplatze Pardon ertheilen. Alle Affekte sind schon an sich dem Menschen schädlich, Freude so gut als Leid. Ein Stück von Fieber ist immer dabei, und wer ist wohl zu solchen plötzlichen Uebergängen aufgelegt? Nun war unser Absalon so weit in der Besserung gediehen, daß er sich nicht mehr auf dem Richtplatze befand, und nun kam der Arzt mit der frohen Nachricht, daß er und der Tod geschiedene Leute wären. Leben ist ein frohes Wort! ich setze ewig dazu, wenn ich mich freuen soll. Bei den meisten Leuten ist das Wort leben schon genug.

[12] Froh blickte unser Kranker auf, und sein Haupthaar war das erste, mit dem er sich befreuen wollte. Er war mit ihm am mehrsten verwandt – allein es war dahin, und siehe da, er wollte nicht leben. Man hatte ihn zu voreilig versichert, daß seine Haare entweder nie wieder, oder wenigstens sehr spät, aufgehen würden, und wie konnt' er leben? Er hatte, wie Simson, seine Stärke in den Haaren. Man nannte ihm Völker alter und neuer Zeit, die sich zur Zierde der Haare entäußerten; allein nichts – er ward krank und starb so ruhig, als wenn ihm im Tode die Haare wieder wachsen würden! – Du armer Absalon! Bist du denn in keinem Gebeinhaus gewesen? Hast du denn keinen gebleichten Schädel gesehen? Ich nenne so etwas auf Gottes Bleiche liegen, sagte der Graf im vertraulichen Lehrton, in den er oft fiel! und wahrlich! wir werden durch den Tod ausgewaschen. Wenn ich einen alten Mann, ich sage mit Fleiß alten Mann, mit einer Glatze, mit einem Todtenkopf sehe, denk' ich, der Mann ist schon dem Himmel näher als ich. – Wie gefällt ihnen die Geschichte von Absalon, der wahrlich an den Haaren starb? – O Freunde! Nicht wahr, von vielen, von vielen Sterbenden kann man sagen, sie bleiben an einer Eiche hangen? Nicht wahr, Gevatter Prediger?

Bis dahin hört' ich den Grafen mit Vergnügen; da er aber zur Nutzanwendung überging und mir ganz zu verstehen gab, daß Minens Verlust von der nämlichen Art wäre, ward ich über diese Kälte, über diese Todeskälte des Grafen, wegen meines unersetzlichen Verlustes ungehalten. – Es schicken sich wenig Leute, dacht' ich, zur Nutzanwendung. – Ich wandte mich zu unserm Weinenden und Heulenden, und verlangte den Uebergang von der Geschichte des eben Verstorbenen zu dem Herzen des Sargtischlers – Dieser Weg, dacht' ich, muß sehr gerade gehen. Der junge Mensch, fiel der Graf ein, hat ein Mädchen, die ihm seine Eltern verweigern, weil sie reich sind. Ihre Eltern sind [13] reicher als wir alle – – sie sind todt. – Er hat nicht nöthig in meiner Werkstube zu seyn; allein er arbeitet für Protektion, er glaubt, mein Fürwort könnte hinreichend seyn, seine Eltern zu bequemen. – Und wenn das nicht, fuhr ich fort, so haben der Herr Graf Mittel und Wege, das arme Mädchen zu bereichern, und hier gleich und gleich zu machen. Ha, dacht' ich, das ist für deine Kälte, Hochgeborner Herr. Anwendung für Anwendung. Schon recht, junger Mann, erwiederte der Graf; allein wenn ich die Vorurtheile der Eltern befriedigen sollte, hätt' ich dann für die Ewigkeit gesäet? Wahrlich, ich hätt' auf Fleisch und nicht auf den Geist gesäet – und am Ende, wenn ich jedes Mädchen bereichern sollte? – Ich ärgerte mich, und vorzüglich, weil der Mann bei seiner Todeskälte wieder Recht hatte. So ist, glaub' ich, das Recht überall. Man faßt Eis, man faßt den Tod an, nicht das rechte Recht ist so kalt, sondern das Weltrecht, mit dem man so selten zufrieden ist, daß man fast lieber Unrecht wünscht, um wenigstens laut schelten zu können. Das Weltrecht ist aus dem Codice genommen, der todt an ihm selber ist. Das rechte Recht aus dem lebendigen Specialfall, der eben vorliegt. – Ein haarkleiner Unterschied aus der Ursache, nicht aus der Wirkung, wie ändert er die Sache!Casus in terminis. Welch ein dummdreistes Kunstwort! Ist euch, ihr hochverordneten Rechtskauer, dasPrincipium indiscernibilium denn ganz und gar unbekannt, und, um euren Collegen ein lehrreiches Exempel darzustellen, einen wirklichen casum in terminis, thut der Arzt nicht wenigstens, als ob er dem lebendigen Specialfall, der eben vorliegt, nach dem Leben, nach dem Puls faßt, obgleich auch er nach dem Corpore Juris Hippocratesiano sein Urtheil formt?

Der Graf setzte diese Unterredung, ohne daß ich es ihm nahe legte, fort. Ich hoffe, sagte er, die Eltern des Weinenden und Heulenden weichherzig zu machen, und dann hab' ich alles aus der [14] ersten Hand; wenn ich sie ausstatten sollte, hätt' ich's aus der zweiten, wo nicht gar dritten. Die erste Hand ist mir immer die beste und sicherste. Ich liebe, fuhr der Graf fort, Heirathen zu stiften; denn wo würd' ich sonst Gelegenheit zu Särgen vorfinden? Dieser Sonnenschein, den der Graf auf unsern Weinenden (ein Heulender zu seyn, hatt' er ohnedem schon aufgehört) schießen ließ, trocknete seine Thränen, er hobelte weiter, ohne seinem Herzen mit seinem Hobel zu nahe zu kommen, und ihm einen Gnadenstoß beizubringen.

Der Graf bat näher zu treten, und ich weiß auf Ehre nicht, ob es meinen Leser und Leserinnen angenehm seyn werde, näher zu kommen. Sie kennen den Grafen so gut, wie ich, und wissen so gut wie ich, daß ich sie nicht nach Arkadien begleiten werde. Der Graf würde in Egypten zu der Zeit recht an Stell' und Ort gewesen seyn, da in jedem Hause ein Todter war, und was noch mehr ist, die kernfrische Erstgeburt. – Der Graf schien in seinen Todes-, Hör- und Sehsälen sehr tolerant. Es sterben Christen und gottgläubige Deisten bei mir, sagt' er. Wenn gleich ich, mit Gottes Hülfe, wie ein Christ zu sterben der festen Zuversicht lebe, so will ich doch mein Haus zum Sterbehaus und nicht zur Mördergrube machen, das heißt: ich will nicht Christen werben, und ehrlichen Heiden in meinem Obdach zum erbaulich-christlichen Ende Handgeld beibringen. Kein Jude hat mir noch das Vergnügen gemacht, in meinem Hause zu sterben. Mein Haus ist ihm unrein, obgleich er selbst so unsauber ist, daß ich ihn für einen Cyniker halten würde, wenn er nicht ein Jude wäre. Ich habe zwar nach Anzahl der fünf Bücher Mosis fünf Juden sterben gesehen; allein bis auf einen nur sterben gehört, vier starben hebräisch, sie hatten den Tod auswendig gelernt, und beteten ihn so her, wie die Nonne den Psalter. Beim Amen – weg waren sie. Den fünften hab' ich observirt, dessen Aeußeres zwar jüdisch schien, sein Inwendiges [15] aber war gottgläubig deistisch, und also gehört er eigentlich nicht in die Judengasse. Barba non facit Philosophum. Der Bart macht keinen Juden.


Wir kamen einen Sabbatherweg von unserer eigentlichen Straße ab, und ich hatte Gelegenheit, von dem jüdischen Volke die Meinung meines Vaters anzubringen. Hat der göttliche Judenbekehrer dieß Volk nicht einlenken können, mußte er seinen Stab Sanft zu den Heiden übersetzen; warum wollen wir bei einem so schlechten Beispiel, das wir den Juden in den meisten Christen darstellen, mehr erwarten? Des Herrn Reich wird kommen, der Tag, den Gott allein machen kann, einbrechen, da trotz des bärtigen und unbärtigen Gottesdienstes, eine Heerde und ein Hirte seyn wird. – Der gute Prediger aus L – hatte viel überhaupt, besonders aber wegen der Sünde wider den heiligen Geist dagegen, welche sich im eigentlichsten Originalverstande das stockblinde jüdische Volk, wie er versicherte, zu Schulden kommen lassen; indessen mußte er die Juden für Archivarii, für Siegelbewahrer der christlichen Religion, anerkennen, und der Graf lenkte mit dem Umstande ein, daß er die vier hebräisch gestorbenen umgekehrt in das Buch der Sterbensläufe eingetragen. Der fünfte stand in einer Reihe mit den Gottgläubigen. Ich habe, sagte der Graf, alles nach Ortsumständen und Gelegenheit eingerichtet, und zwei Klassen gemacht. Hier zu meiner Rechten Christen, zu meiner Linken Gottgläubige. Muhamedaner gehen diese Straße nicht; warum also? – Hier ist noch ein Simultanstübchen, wo Socinianer, Pelagianer, Semipelagianer, Berliner und Semiberliner (wie der Prediger – – in – – die neueste Ketzerei nennet) bleiben können. Es sind indessen nur zwei Socinianer hier unsanft entschlafen; die meisten haben sich zu einer der größten Klassen ohne meine Mitwirkung bekehret und sind auf Prima oder Sekunda, ober zur Rechten oder [16] Linken gestorben. Ich selbst bin ein Christ, mache mir eine Ehre daraus, und alle rechtschaffene Primaner erkennen mich dafür.

Ha, fing der Graf wie aus einer frischen Champagner-Bouteille an: meine Mode ist vielen ein Geruch des Todes zum Tode. Sie spotten mein und belegen mich mit apokryphischen Schandnamen. Es sey also, ich achte alles für Schaden gegen diese überschwengliche Erkenntniß; Sterben ist mein Gewinn; ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich's ergriffen hätte. Eins aber sag' ich, ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, was da vornen ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziele, nach dem Kleinod. – Zwar läugne ich nicht, daß die Kranken- und Todeswärter auch Träger von je her eben nicht in großem Ansehen gestanden, und daß schwerlich, so lange die Welt steht, ein des heiligen Römischen Reichs Graf und Herr sich damit beschäftigt haben dürfte, aber dafür hab' ich auch die Ehre, der erste in dieser Art zu seyn. Es ist wahrlich ein Stück von Adam in seiner paradiesischen Pracht und Herrlichkeit, wenn man auf einem Wege der erste ist! Es liegt etwas Göttliches darin. Zwar wenn vom Stammbaum die Rede wäre, fing der Graf in einem hochgebornen Ton an, möcht' ich sehen, wer einen entferntern erstern hätte, als unser Haus. Ich nehm' aber meinen ersten im andern Sinn. Auch der letzte ist mir ehrenwerth. Der letzte zu seyn ist zwei Drittel weniger köstlich, indessen besser als alle, die vor sind, bis auf den hohen ersten. – Adam und Eva wurden nicht geboren, und die den jüngsten Tag erleben, werden nicht sterben. Ich möcht' ihn schon nicht erleben, den jüngsten Tag, denn ich habe Lust abzuscheiden. Ich habe die Ehre den Tod zu kennen, und kann wohl sagen, daß ich ihn lieb habe, so lieb wie mein Leben und mehr.

Der Graf sprach dieses nicht im Ausforderungstone, sondern so kalt wie der Tod. Er hatte schon die Weise des Todes angenommen. Ich hatte, ihm seine obige Anwendung längst verziehen [17] und war froh, einen solchen Sterbensmann kennen zu lernen. Ich möchte bei dem allen wissen, fing der Graf von frischem an, wie es zugehe, daß Leute, welche alsdann, wenn uns oft die besten Freunde untreu werden, uns zu Diensten stehen, so wenig geachtet wurden und noch werden. Die natürlichste Ursache, erwiederte ich, da der Graf wirklich inne hielt, weil der Mensch ohne Seele nicht viel ist. Es hinkt und stinkt mit ihm, pflegte meine Mutter zu sagen. Da es nun endlich mit uns allzusammen auch einmal hinken und stinken wird, so scheint das Leichenbegängniß, woran alles ohne Anstoß, ohne capitis diminutio Theil nimmt, eingeführt zu seyn, welches bei allen gesitteten Personen von jeher üblich gewesen. – Hierdurch wollen wir unsere Entfernung von der Leiche, unsere Verachtung selbst gegen die, so ihr nahe blieben, rechtfertigen. Wir treten der Leiche näher. Man nennt dieß die letzte Ehre, den letzten Liebesdienst, weil die Seele nicht mehr gegenwärtig ist, da der Erdenkloß zum letztenmal nach seinem in der Welt behaupteten Menschenwerth und Rang behandelt wird. Ich will mich hier nicht anführen, denn wäre es möglich gewesen, mit Minen auch ohne lebendigen Othem zu leben und zu seyn – gern! – Der Graf, dem dieser Seufzer unangenehm schien, half mir wieder in die Rede, wie folgt:

Ich läugne es nicht, daß wir Menschen vielleicht bei dieser Gelegenheit eine Dosis Großmuth räuchern wollen. Der Erbe zeiget, er habe, unerachtet der Erblasser nicht mehr da ist, noch Liebe für ihn und mehr als für den Nachlaß. – Der Sohn will die Pflicht der Erkenntlichkeit erfüllen gegen den, der ihm sein Bild anhing, das auch noch im Tode nicht ohne übereinstimmende Aehnlichkeit ist. Die Tochter will beweisen, daß sie eine tugendhafte Mutter gehabt, das heißt mit andern Worten, daß sie selbst tugendhaft sey. Mine weinte bei dem Grabe ihrer Mutter meinet- und ihrer Mutter wegen. Dem Grafen war dieser Eingriff wieder [18] nicht am rechten Orte, denn ich konnte den Namen Mine, der mir mehr als alle Namen ist, nicht aussprechen, ich kann es noch nicht, ohne aus dem Concept zu kommen. Dießmal half der Graf mir ein. – Das alles läugne ich nicht, indessen bin ich der lebendigen Zuversicht, daß, weil alle Nationen so einstimmig in puncto puncti sind, es sey die Nachexistenz der Seele die Ursache dieses Hebens und Tragens, das man mit ihrer Hülle vornimmt. Man ehrt sie im Körper, so wie den Mann im Bilde, und will das, was ein Geist getragen hat, in einer Ehrenrüftkammer aufhängen, so wie man Harnische in der Kirche aufhängt, obgleich sie nicht alle wider die Türken gebraucht worden. Man will das an andern thun, was man selbst an sich zu seiner Zeit gethan wissen will. Man fürchtet ein schlechtes Compliment in der andern Welt, wenn man gegen den Entseelten diese Pflichten versäumt hat. Wahrlich, es liegt sehr was Menschliches in dem Begräbniß, und ich bin ihm sehr gut – sehr. Der Graf konnte nicht umhin mich herzlich zu umarmen, mehr konnte er nicht.

Die Flüche, womit man in alten Zeiten diejenigen bedrohte, die Hand an die Todtenhäuser legen würden, wie sehr beweisen sie den Werth, den man auf Staub, Erde und Asche legt! Wer dieß Grabmal stört, soll die Seinigen all' überleben. Schrecklicher Fluch! Er ruhet auf mir, sagte der Graf. Ich lenkte ab und sagte einen Fluch anderer Art: den sollen die Manes sauer ansehen! – Ist das nicht schrecklicher als wenn es an den Wegen heißt: wer hier Tabak raucht, soll sechs Jahr in die Festung! denn dieß heißt mutatis mutandis, soll ihn sechs Jahr in der Festung rauchen. Dieß Wort, zu seiner Zeit oder Unzeit, munterte den Grafen auf, der wider Denken und Vermuthen eine Empfindung über den Umstand merken ließ, daß er auf dem Staube aller Seinigen stünde.

Man hatte zu aller Zeit Familienbegräbnisse, Familiengewölbe, [19] Hypogäa, wo jeder sein Kämmerlein besaß, jeder Topf sein Plätzchen und seine Apotheker-Etikette!

Recht, sagte der Graf, die Urnen und Grabhäuser verrathen indessen viel Geschmack. Man findet in diesen galanten Zeiten Tassen, fügte er hinzu, Potpourris, was weiß ich mehr, auf diese Weise, und manches Weibsbild sollte nur wissen, woraus es trinkt, woraus es Geruch ziehet, sie würde –

Daß ich, fuhr der Graf fort, meine Tassen in der Art habe, ist kein Wunder; da ich indessen ein Christ bin, habe ich was Christliches dabei angebracht, ein Kreuz. Ich bin kein Heide, sehender oder blinder! Heide ist Heide! Nicht wahr, Gevatter Prediger?

Der Gevatter Prediger, der des Grafen Toleranz kannte, obgleich er auch wußte, wie ächtchristlich der Graf sey, gab kein Wort darauf, sondern ließ sich bei dieser Gelegenheit mit der Anmerkung hören, daß Seefahrer, wenn sie in Lebensgefahr gewesen, sich Kostbarkeiten um den Leib gebunden, und ein Gesuch, sie, wenn das Meer die Gnade haben würde, sie auszuspeien, zur Erde zu bringen; denn der Mensch ist Erde und muß zur Erde werden, setzte er hinzu. Hier sagte der Graf: Recht! Gevatter Prediger.

Ich führte meinen Cornelius Nepos an, wegen des Cimons, dessen Leib der Herr Sohn Miltiades auslösen mußte. Es macht Menschen Ehr' und Schande, daß sie einen menschlichen Leib für ein Unterpfand ansehen können, sagte der Graf, und setzte wieder hinzu: Nicht wahr, Gevatter Prediger?

Wir konnten von der letzten Ehr' und letzten Schande nicht abkommen, die wir den Verstorbenen erwiesen. Die letzte Schande, sagten wir einstimmig, finge von dem Augenblick an, da alles sagt: Kalt, und daure bis zur Collocation, bis zur Ausstellung; hier finge sich die letzte Ehr' an, und gehe bis sich Gleich und Gleich gesellt hat, und Erde zu Erde gekommen. Bei uns zu [20] Lande, bemerkte Gevatter Prediger, heben Träger von einiger Bedeutung die Bahre nicht auf, sondern schlechte Leute. Sie setzen sie auch nicht nieder. Da wieder Schand' und Ehre. Wer wird, fragte der Graf, der Albernheit das Wort nehmen, die sich beim Anputz der Leiche und bei dem Begräbniß-Luxus zu offenbaren pflegt? Da begraben die Todten die Todten! Wir fielen auf die Todten- und Begräbnißlieder der Alten, die nicht so erbaulich waren, als: Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt; Ich bin ja Herr in deiner Macht, und das neue Todtenlied vom Jahr des Organisten in L –


Wir danken Gott für seine Gaben etc.


Die Todtenlieder der Alten waren weinerliche Lustgesänge, sagte der Graf. Ernst und Scherz, wie ist es zu erklären (das war das Wort, so der Graf suchte), wie ist's zu erklären, daß so kluge Völker in diesem Stücke so unklug seyn konnten? Diese Gesänge, diese Nänien, die Hanswürste und Gaukler, diese Klageweiber, die so lachen konnten, daß alle Welt es für Weinen hielt, wie ist's in rerum natura, wie ist's erklärbar? Wie Lachen und Weinen zusammen!

Nachbild der Welt, sagt' ich, oder mein Vater.

Doch ich will bloß den Inhalt eines langen Gesprächs geben, sonst würd' ich zu weitläufig werden.

Dieses Leben, fing ich an, ist Lachen und Weinen. In einem Sack, setzte der Graf hinzu. Warum der Anstoß bei einem Universalwort, das fast in allen Sprachen ein und dasselbe bedeutet? Sack, sagt' ich dem Grafen nach, Dramas, weinerliche Lustspiele, würden wahre natürlich-warme Lebensdarstellung seyn, wenn das Ende nicht lustig und der Anfang traurig wäre. Links und rechts, bald so, bald anders müßte es seyn, das wär' ein Leben! – Lust- und Trauerspiele wären dann Kunst-, jene Naturstücke; nicht [21] wahr? fragte der Graf den Gevatter Prediger; allein dieser schüttelte bloß mit dem Kopfe, weil von Lust- und Trauerspielen die Rede war, auf die sich der Gevatter so wenig, als auf die weinerlichen Lustspiele, kunstgerecht verstand. – Die Alten agirten beim Begräbniß das Leben, so wie sie bei allem, was ihnen groß, erbaulich, göttlich war – agirten. Es lag vielleicht ein hoher Sinn in ihrer Begräbnißmethode, wo Lust und Unlust zusammen waren und wechselten, wunderlich. Sie lasen den wahren Lebenslauf des Verstorbenen ohne Tropen und Figuren. Ihre Begräbnisse waren Leichenpredigt, Leichengesang für die so umher gingen. Seht da das Leben! seht! seht! faßt euch, wenn der Tod es fordert. Laßt Leben und Tod aus einem Stück seyn, und soll Leben und Tod als etwas verschiedenes angesehen werden, macht, daß der Deckel zum Gefäß passe. Das beste ist, so sterben, als man lebt. Der wirklich Traurige, wenn ja ein Pickelhäring ihn aus der Fassung bringt und ihm ein Lachen bereitet, welch ein bitterer Vorwurf folgt darauf! Die Freude der Welt wirket den Tod! – Das Leben ist so etwas Niedrigkomisches, daß es jedem klugen Mann ekelt zu leben. – Alle Todte haben Ernst in ihren Gesichtszügen. In der andern Welt wird vielleicht das Lachen kein solch' Hauptstück des Lebens seyn; da wird das Lachen werden theu'r! Dieß und das könnte vielleicht ein Theil von dem hohen Sinn seyn, der in den Begräbnissen der Alten enthalten ist. Wir läugneten, daß dieser Sinn eben so hoch läge, indem jeder ziemlich leicht, und ohne auf Zehen dazu kommen könnte.


* * *


Wir ehren sehr Leute, die sich durch den Tod nicht aus dem Concept bringen lassen; freilich trifft ein gewisses gesetztes Wesen, das dem Tod entgegen kommt, mehr das Herz, wir schätzen auch Leute von dieser windstillen Art im Leben am meisten. Genau[22] genommen ist nur der Umstand verehrungswerth, daß wir nicht stecken bleiben – daß es so aussieht, als lebten wir in eins weg. – Des Thomas Morus letzte Worte sahen wie Tischreden aus, und wahrlich, er starb wie ein Mann. Sobald, sagte der Graf, ich einen leichtsinnig sterben sehe, der so lebte – sage man mir nichts über den Leichtsinn; ich nehme dieses Wort im guten Sinn. Man könnte diesen Sinn, um ihn zu verstehen, auch Leichtsinn nennen. – Noch hab' ich dergleichen Sterbende nicht gefunden. Denn Witz und Sinne sind in einem besondern geheimen Einverständniß. – Bevor die Frage: wie wir starben? beantwortet wird, sagte Epaminondas, kann man nicht sagen, wer von uns die meiste Achtung verdient. – Niemand ist vor seinem Tode glücklich, niemand bei seinem Leben groß. – Mensch, bedenke das Ende! Aber, fing der Graf an und wandte sich an mich, warum so viel Leid um unsere Todten? Sie gehen keinen Schritt vorwärts und werden vom Schmerz angehalten, sobald der Name Mine vorkommt. Ich habe viel äußere Trauer an mir, als da sind z.B. die Pleureusen an meinen Briefen – und mich hält nichts an, und was eigentlich hieher gehört, hat nichts angehalten. Ist denn der Tod nicht bloß vorausgezogen? Er hast Extrapost genommen, wir gehen mit eigenen Pferden. Werden wir denn nicht zu ihm kommen? Je stiller der Durchgang, je besser! Ich für meinen Theil liebe sehr die Reisen incognito, ohne Geräusch. Warum wollen wir denn nicht die lieben Unsrigen incognito sterben lassen? Wir sehen uns wieder. Ist in der Welt eine Lücke durch unsern Freund, durch unsere Geliebte worden? Fehlt denn ein anderer? Ist Alexander selbst in der Welt vermißt, der doch wohl unstreitig ein Weltmann war? Haben Sie, mein Kind, in Curland gewußt, daß ich Frau und Kinder verloren? Laßt uns doch nicht vergessen, daß wir in der Welt und nicht in der Familie sind. – Das war ungefähr, was der Graf [23] und der Prediger mir ans Herz legten. Hier ist der Extrakt meiner Exception.

Der Zeit kann und muß nichts vorgreifen; nicht Religion, nicht Weisheit. Sie leidet es nicht, und nur sie kann den Schmerz, den allergerechtesten Schmerz, lindern. Zeit und Ewigkeit liegen nicht so von einan der wie Königsberg von Paris, wo ich Extrapost und langsam fahren kann. Die Idee, den Freund, die Geliebte siehst du nicht mehr, so ganz erdenganz, wie sie da waren; die Idee, der Leib, den du geliebt hast, dem du so gut gewesen bist, ist Asche! ist Staub! O liebster Graf! das brennt wie Nesseln an die Seele. Wir betrauern nicht die Seele, sondern den Leib, weil er Fleisch von unserm Fleisch ist.

Wenn noch ja eine künstliche Störung im Schmerz angenehm wäre, würd' es die seyn, wenn man hohe Achtung für jemand hat, und sich gerade halten muß. Der Schmerz geht krumm und sehr gebückt. Durch diesen Zwang kommt man zuweilen der Zeit vor; allein oft ruht sie sich. Es kommen Recidive! – Sich Gott, das ist, sich der Zeit überlassen, das, hoff' ich, wird meine Wunde heilen. – Es kann Linderung geben, wenn man aus Schmerz die Binde wegreißt; allein die Wunde wird gefährlicher durch diesen Aufriß. Man lasse der Natur ihren Lauf; sonst ist's Unnatur. Die Alten erzürnten sich zuweilen mit den Göttern über einen Todesfall. Sie schimpften, sie warfen die Bilder der Hausgötter auf die Straße und wollten nicht mehr so unerkenntlichen Göttern ein Obdach verstatten. Es ist Schmerzensnatur, so etwas auslaufen lassen – und nichts bringt so sehr zu sich, als dergleichen Exceß. Ein ganz stiller Schmerz ist der gefährlichste. Wenn er poltert, schlägt und stößt, legt sich der Sturm und es wird bald stille. Strenge Herren regieren nicht lange!

Der gute Prediger, der oft zurückgeblieben, wollte bei dieser [24] Gelegenheit voraus, und eilte uns mit der Anzeige nach, daß Alexander der Große, als ihm sein Jonathan Hephästion starb, sogar die Stadtmauern kurz und klein gemacht, um eben hierdurch Trauer zu tragen um seinen Todten.

Daß man sich die Haare abschnitt, um seine Trauer an den Tag zu legen, find' ich nicht unrecht, sagte der Graf. Man will auch was von sich verlieren, man will dem Verstorbenen etwas mitgeben. – Ich dacht' an Minens Locke, die ich an meinem Busen befestigt hatte, und gern hätt' ich jetzt eine von mir Minen ins Grab gegeben, wenn es nicht zu spät gewesen. – Wie viel Sterbensart kann man von einem Mann wie der Graf lernen!

Ich komme wieder ins vorige Extractsgeleise. – Die Haare ausraufen, ist von jeher als ein Zeichen der Traurigkeit angenommen worden. Wer gen Himmel betrübt sehen kann, fordert der nicht fast Gott heraus, thut der nicht mehr, als die Hausgötter ausfegen? und doch halt' ich ihn für einen bessern Menschen als den, der dem lieben Gott was vorliebäugelt, und im Herzen gallenbitter auf ihn ist. Der Pharisäer! Ich glaube, der liebe Gott sieht's recht gern, daß wir Menschen sind, daß wir das Herz haben, es zu seyn! Es ist ein lieber, guter Gott!

Dem Grafen war es eine Besonderheit, daß man zu alten und neuen Zeiten Menschen zur Gruft von andern Menschen tragen lassen und läßt, und daß auch hierbei, nach Bewandtniß der Leiche, bald viel, bald wenig Träger genommen werden, obgleich dieß mit zur letzten Ehre gereicht, von der oben gehandelt worden. Leitet man nicht den, der nicht gehen kann? sagt' ich, und um auf die letzte Ehre einzulenken: Träger sind die Livreebedienten des Todten. Sollte man nicht beim Begräbniß Ewigkeit spielen, und dieß Verwesliche nach dem Unverweslichen stimmen? erwiederte der [25] Graf. Und der Hammer? fragt' ich. Sollte, fuhr der Graf fort, und nun waren wir im


Saale.


Was seither vorfiel, war gehenden Fußes, war auf der Treppe. Man sieht ihm die Stufen an. – Erschrecken, pflegte mein Vater zu sagen, ist die Goldwage für Männer. Wir können erhaben und pöbelhaft erschrecken. Die Weiber erschrecken bald, und, was noch mehr ist, nach einer und zwar bekannten Melodie. – Sie erschrecken schön, wenn man will. – Um alles in der Welt wünscht' ich mir keine Frau, die nicht leicht erschräke. Schamröthe und Erschrecken liegt bei ihnen in einem Bezirk. Eins borgt vom an dern; beides kleidet das schöne Geschlecht. – Es ist extra fein Postpapier, wo alles durchschlägt.

Könnt' ich meine Leser und Leserinnen doch in den Saal selbst und weiter einführen! Könnt' ich's doch! Todespracht überall! Wahrlich Todespracht. – Mir war's oft, als hört' ich einen dumpfen Ton: Mensch, du mußt sterben! Wäre mir diese Botschaft weniger fremd in meiner damaligen Lage gewesen; ich wäre mehr zurückgefallen. – Ich weiß nicht, ob meinen Lesern die Geschichte des Belsazars beiwohnt, der eine Hand an der Wand schreiben sah. – Solch eine Hand an die Wand schreiben zu sehen – –

Was ich erzählen kann und werde, o! wie gar nichts gegen das, was ich sah – nichts –

Den Saal, fing der Graf an, haben die Weltlichen, so nenn' ich die Gottgläubigen, in Beziehung der Christen, die ich in dieser schnurgeraden Linie Geistliche heiße. Verzeihung, Gevatter, sagte der Graf, indem er zum Prediger sich wandte, der tief in Gedanken darniederlag und unfehlbar mit dem Verleger wegen der [26] zweiten Auflage im Streit war. – Gern, erwiederte der Prediger. Das Wort gern war immer seine Antwort, wenn Verzeihung die Frage war, er mochte wachen oder träumen. Christen, fuhr der Graf fort, sind allzumal geistliche Priester! Ja wohl, erwiederte der Prediger. Der Geistliche konnte den Verleger nicht los werden. Der Graf fuhr weiter fort –

Ob nun gleich Christus, der Erzpriester, kein Altarredner und Kanzelprediger war, sondern statt auf die Kanzel auf einen Berg stieg, wo er eine Predigt hielt, die er drucken lassen; – der Prediger, wie aus der Pistole: Von der Sünde wider den heiligen Geist. Ei, Freund! fiel der Graf ein: in der Bergpredigt keine Sylbe von der Sünde wider den heiligen Geist. Matth. Kap. 5. versetzte der Prediger. Recht! endigte der Graf, der während der Zeit das Ob nun gleich verloren hatte, so daß diese Periode ungerundet blieb. Christen, hub er von frischem an, verwandelten ihre Höhlen in Kapellen, bis Tempel daraus wurden; und warum nicht? Wohnt gleich Gott der Herr hier nicht ausschlußweise, wohnet er doch auch hier. Christus ging in den Tempel und nannt' ihn ein Bethaus, das man zur Mördergrube gemacht hätte. – Christen in die Kirche – Gottgläubige in den Saal.

Wir billigten alle die Gewissenhaftigkeit, die Peinlichkeit des Grafen, der Christenthum von Heidenthum, selbst bis auf die Mobilien, trennte. Werden, fing ich wieder an, doch unsere christliche Helden in römischen Ornat gesteckt, wenn man sie aufhängen, aufstellen und also der Ewigkeit zubringen und, wenn ich so frei seyn darf, schon für die Ewigkeit über die Taufe halten will. Scheint es gleich überhaupt, daß der Kleiderschnitt, den wir angenommen haben, nur ein Schlafrock wäre, und daß, sobald wir zu Ehren gebeten werden, es römisch seyn müßte, so ist es doch nicht recht und löblich!

Ich stelle, sagte der Graf, alles an seinen Ort. Wahrlich, [27] dann würde wenig zu lehren und zu lernen seyn, wenn alles so gestellt wäre. Jetzt ist der Haufe bloß darum so hoch, weil alles, Groß und Klein, durcheinander geworfen ist. – Wenn indessen, fing der Prediger in einer abzurundenden Periode, der gewiß nicht, wie des Grafen sein: Ob es nun gleich, in Stocken gerathen wird, an – wenn indessen der Christ allen allerlei werden soll, und wenn Christus, der Herr, selbst sich beschneiden lassen und das Osterlamm gegessen; die Jünger auch, obgleich sie Juden waren, am Sabbath Aehren zu lesen und Esel aus dem Brunnen zu ziehen von ihrem Meister die Erlaubniß erhielten; so darf doch der Christ kein so großer Ceremonienmeister seyn. Ceremonialgesetz ist bei allen, selbst den geistigen Dingen; indessen sind wir in der christlichen Freiheit, wie es selbst bei unsern christlichen Ceremonien am Tag ist, denen ich indessen von Herzen gut bin. Der Christ hat den Geist von allen Religionen, das unsterbliche Wesen, so Christus durchs Evangelium ans Licht gebracht hat. Laßt uns also tolerant seyn, wie unser theurer Graf, der es ist, wenn er gleich – Saal und Kirche unterscheidet. Und in allem, fuhr ich fort, dem Geist, dem Wesen nachspüren, bis ein Hirt und eine Heerde wird. – Hosianna, gelobet sey diese Zeit, die da kommt im Namen des Herrn! Hosianna ihr in der Höhe! Das Christenthum, sagt' ich, ist die einfachste Religion auf Gottes weitem Erdboden, so wie der Geist einfach ist. Sie kann Körper annehmen, wie in der Schrift Engel Körper angenommen haben, und wie man von sehr guten Menschen, die gut wie Seelen sind, sagen könnte: sie hätten Körper angenommen. Freilich adoptirten Engel keine andere, als menschliche, als solche Körper, die sie im Griff hatten, die ihnen die nächsten waren. – Die christliche Religion hat keinen Tempel, kein Haus, kein Obdach nöthig, sondern überall, wo Luft und Sonne ist, wo wir sind und weben, ist Gottes Stuhl, und die ihn anrufen, dürfen nicht das Gesicht drehen und wenden. [28] Gott ist überall. Im Morgen und in Mitternacht. Wer recht thut, ist ihm angenehm. Dieß war (obgleich es hohe mystische, nur wenigen verstehliche Toleranz ist) dem bloß gewöhnlichen und für's Haus toleranten Prediger so gefunden, daß er mit einer Dreistigkeit schloß, die dem Grafen ein wenig zu hart auffiel.

Ceremonien, sagt' er, sind des Herzens Härtigkeit wegen, und da, nach Ortsumständen, die ersten, die besten!

Nicht also, lieber Gevatter, versetzte der Graf, etwas untolerant. Ceremonien, lieber Gevatter, sind Kleider der Sache. Kleiden denn alle Farben alle Gesichter? Es ist ein Aufputz, das Colorit – das wahrlich seinen Meister erfordert. – Wenn es also recht wäre, müßten Christen christliche Ceremonien haben. Wie stimmet Christus mit Belial? hätt' ich bei einem Haar gesagt; allein Belial und ein Heide ist zweierlei. Die Folge dieses Spruchs paßt besser. Was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsterniß?

Ich gestehe es gern, daß mein Auge dem Ohre viel abgewonnen; indessen kam die Sache endlich so zu stehen:

Es gibt ein blindheidnisches und ein gottesverehrendes, ein sehendes Heidenthum. Auch diese Sehenden sind von Christen unterschieden, so wie Saal von Kirche. Findet man Antiken, wo man einen unbekannten Gott drin siehet, einen Künstler, der bei dieser Arbeit nicht auf's Sichtbare, sondern auf's Unsichtbare sah: Heil dem Künstler! Und findet man einen Samariter mit Oel und Wein – er sey uns ehrenwerth – und findet man – genug.

Zu beiden Seiten der großen Thüre standen zwei Genien, deren jeder seine Fackel umgekehrt hatte und ins Kreuz auf eine Urne hielt. Zwei Sphinxe von beiden Seiten sahen zu.

In einem Felde waren zwei reißende Thiere, die nach einem Schmetterling haschten, der über einer prächtigen Urne flog. Sie haschten; allein er entfloh.

[29] In einem andern die Artemisia, mit einem Trank, köstlicher als die Perle der Cleopatra! Mannsasche. Zu einer Seite ein Künstler mit dem Riß vom Mausoleum in der Hand, zur andern ein Dichter, der mit den Augen sang. Wie kann er anders auf der Wand?

Sodann allerlei Arten von Pyramiden, Mausoleen, Grabmälern, Urnen, Thränenflaschen. Ein Feld mit drei Parzen! Zu beiden Seiten solch Feld.

Endlich Himmel und Hölle, der Alten drei Furien, der Tantalus, der heidnische reiche Mann, der mitten im Wasser steht und doch Gefahr läuft zu verdursten. Ein Rad, mit dem ein Verdammter ewig herumgetrieben wird. Das nenn' ich rädern, sagte der Graf! Leidenschaft heißt dieß Rad.

Ferner ein Leichenbrand, von Leuten angezündet, die ihre Gesichter abgewandt hatten. Eine Gebeinlese von Verwandten – und die Collekte: S.T.T.L. sit tibi terra levis. Leicht sey dir die Erde – drei, vier, fünfmal angeschrieben.

Sodann ein Feld. Elysisch. Frühling. Paradies. Ein Körper, diesem Klima gleich – drei Grazien.

Endlich eine Art von Altar, oben ein Spiegel. Um den Spiegel die Aufschrift: dem unbekannten Gott!

Dieß, sagte der Graf, ist der Erbauungssaal derer, welche nur eine Offenbarung durch die Vernunft kennen, nur ein Licht, das den Tag regiert, ohne an das Licht, das die Nacht regiert, und die Sternenflur zu denken. Die Vernunft wird durch den Spiegel angedeutet, den man nur auf Zehen erreichen kann. Es muß ein Flügelmann seyn, der einen Blick hineinstehlen soll; und was sieht er? Ein klein Stückchen Kopf! Er sieht sich, wenn er Gott sehen will. Bei allem dem bin ich kein Feind dieser Gottesverehrer, ich habe Kerls darunter sterben gesehen, besser wie Sokrates, ohne Hahn, ohne Todesangst. – Kein Wunder, sie hatten das [30] neue Testament unsers Herrn gelesen. – Sie sollen einige sehen unter meinen Todtenköpfen, wo ich Christ- und Gottverehrer zusammen, wie es in allen Gebeinhäusern Sitte ist, gestellt habe. – – Da ist nicht mehr Tempel und Saal.

Paulus kann unmöglich brünstiger den unbekannten Gottesaltar angesehen haben, als ich den des Grafen, geweiht den Menschen, die Gott nicht als Vater, sondern als Herrn, als Alleinherrscher, anschauen. Ist denn, dacht' ich, Gott den Christen bekannter? Wohnt er nicht in einem Lichte, wozu niemand kommen kann? Ist er nicht ein Wesen, das niemand gesehen hat und sehen kann? Der Gottverehrer indessen sieht sich selbst im Spiegel, der Christ sieht Christum, wenn beide Gott sehen wollen. Ihm, dem Vater aller Dinge, sey Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen!

Wir gingen durch mancherlei Zimmer zur Kapelle; durch viel Trübsal, sagte der Graf, zum Reiche Gottes. Es waren ihrer dreimal sieben. Der Graf liebte diese Zahl sehr, er nannte sie eine Offenbarung-Johanniszahl, eine biblische Zahl, und hatte gewiß ein paar Zimmer (da wollt' ich drauf wetten) eingehen lassen oder mehr angebaut, um nur die Zahl sieben herauszubringen! Man lasse ihm doch die siebente Zahl! Meine Mutter pflegte zu sagen, jeder habe seine Zahl, die ihm am Herzen liege. – Es war kein einziges unter allen siebenmal sieben Zimmern (so viel waren im Hause), in dem nicht Ende, Tod und Verwesung angeschrieben war! Alles mit großen Buchstaben. Er war ein heiliger Vater, der die Bilder die Schrift der Einfalt nannte. Sie sind es; allein für den Klugen sind sie Poesie. In dem Saal und sechs andern Zimmern gemeine Liebe, in den siebenmal sieben Zimmern weniger sieben die christliche. Särge in den christlichen Zimmern ohne End' und Zahl. – Wenn ich bei jedem dieser Särge eine christliche Leichenpredigt halten und die Todeszimmer alle zusammen be- und umschreiben [31] sollte, würd' ich zu langweilig werden. Ein guter schneller Tod, ist er nicht der beste? Ich behalte mir vor, auf drei (auch eine heilige Zahl, eben so gut wie die sieben, vielleicht eine, die mir nach dem Ausdruck meiner Mutter am Herzen liegt, so wie meinem Vater die Zahl neun) Zimmer einen Accent zu legen und eile zur Kapelle. – Es führte ein finsterer Gang dahin; so wie oft ein schlechtes Geläute zu einer schön gebauten Kirche einladet, sagte der Graf. Es konnten nur zwei gehen, so eng war der Gang, um den schmalen Weg zu parodiren. Von beiden Seiten kamen Aerme heraus, auf welchen, obgleich es hoch Tag war, dennoch Lichter brannten oder brennen mußten; denn hier war es ewig Nacht. Die Aerme schienen (so besonders waren sie) schnell herauszuwachsen, um den Wanderern auf dem finstern Wege zu leuchten! – Auf einer Seite waren sechs Lichter, auf der andern fünfe. Warum das? Dafür konnte der Graf nicht, daß die eine Abtheilung der Spruchstelle: Dein Wort ist meiner Füße Leuchte, sechs, und die andere: Ein Licht auf meinem Wege, ganz richtig berechnet, fünf und nicht weniger Wörter hatte. Ueber jedem Lichte stand ein Wort, schön wie eine Dedication. Würd' er mit dem Worte Und auch einen Arm verehrt haben, so wären beide Seiten gleich gewesen. Das arme Wörtlein Und, ich hätt' es nicht verstoßen, wenn ich der Graf gewesen wäre. Es ist gemeinhin ein menschliches, liebes, gutherziges Wort, und ist seinen Arm werth. Der Graf aber sprach ihm die Göttlichkeit ab; wenn Gott spricht, ist's ohne Und. In der Kapelle selbst hing ein Crucifix und der Schächer, den Christus ins Paradies mitnahm. Der sterbende Simeon, mit einer Friedensmiene im Gesicht, die entgegenrief: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren. Einige Apostel als Märtyrer sterbend. In ihren Gesichtern lagen die Worte: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir leben oder sterben, sind wir des Herrn. [32] Hier stand auch in einem Behältniß, von einem eisernen Gegitter eingeschlossen, des Grafen Sarg. Rührend war es mir anzuhören, daß er alle Vierteljahr einmal drin schlief. Ich habe mich mit meinem Hause, sagt' er, so bekannt gemacht, daß ich alles im Griff habe. – Die erste Zeit schwitzt' ich, als hätt' ich Bezoarpulver eingenommen; jetzt schlaf' ich, ohne einen einzigen Schweißtropfen, ruhig und sanft. Der Tod wird mir, das hoff' ich, nicht unbereitet kommen. Der Wappenzierrath war mir bei diesem Sarge unausstehlich. Es waren drei bemalte Pfeiler in der Kapelle, Weisheit, Stärke, Schönheit, Glaube, Liebe, Hoffnung! drei Grazien – drei Frauenzimmer, sagte der Graf und ich: »Die Tugend selbst ist ein Frauenzimmer, das Laster ist eine Mannsperson.« Ei! schrie der Graf, ei! der Prediger. Ich hatte Mühe die guten Herren zu überzeugen, daß mein Vater wohl wüßte, was er spräche. Man muß nur alles nehmen, wie es von Gott und Rechtswegen zu nehmen ist. Der Buchstab' ist todt, allein der Sinn ist lebendig. Ich blieb bei Würden und Ehren, und das Ei war vertilgt bis auf den letzten Buchstaben, welches um so leichter geschehen konnte, da es nur aus zweien besteht. Sonst versteht jeder, was Glaube, Liebe, Hoffnung sey, oder eigentlicher, wie sie gemalt werden; indessen hatte der Graf seinen eigenen Glauben, seine eigene Liebe, seine eigene Hoffnung.

Der Glaube war ein Mädchen, das mit der rechten Hand gen Himmel mit einem Crucifix den Weg wies, in der linken Hand einen Kelch hatte, woraus es trank; mit dem einen Auge ließ es die Bitterkeit des Tranks merken, mit dem andern aber himmelan, als säh' es den himmlischen Vater – auf dem Haupte eine Krone mit Lorbeeren durchflochten. Es lag auf den Knien, das gute Kind. Oben standen die Worte: Ich glaube, Herr! hilf meinem Unglauben! Glaube war groß geschrieben und es war auch nöthig, denn wer hätte sonst wohl wissen können, daß dieß [33] der Glaube sey? Es thut mir ordentlich leid, daß ich vergessen habe, mit welchem Auge der Glaube gen Himmel und mit welchem er in den Kelch der Bitterkeit sah, als wollt' er die Tropfen auszählen. Kannst du sie zählen, hieß es zu Abraham, da ihm die Milchstraße am Himmel gewiesen und die Versicherung in forma probante behändigt ward: also soll auch dein Same seyn.

Die Liebe war eine junge, liebenswürdige Mutter (das schönste in der Natur), ein Kind an ihrer Brust, eins lag ihr auf der Schulter und küßte sie mit Inbrunst. Noch war ein Kind, dem sie drohend ihre rechte Hand reichte. O wie drohte sie! Allerliebst. Oben stand:


Stärker als der Tod!


Die Liebe ist sehr beschäftigt! sagte der Graf. Sie hat alle Hände voll, die wird wohl jeder kennen!

Die Hoffnung war eine Gesegnete, eine der Entbindung nahe. Das Kind sprang ihr im Leibe, wie der Elisabeth, und doch sah man ihr einigen Kummer an. Sie zählte die Monden. Sie hatte sich auf einen Anker gelehnt. Sie lag fast ganz darauf. – In der einen Hand hatte sie ein postfliegendes Noatäubchen. Den Kopf hielt sie in die Höhe, als ob sie wissen wollte, wie weit von ihr zur Erfüllung wäre, vom Ja zum Amen. Die Augen, das merkte man, konnte sie nicht in die Höhe bringen, sie wollte –

Es standen die Worte herum: Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden! Hoffnung groß.

Der Prediger war ein Musikus, und da ihm der Graf das kleine Positivchen zuwies, zog er den Tremulanten, den Hauptzug an diesem Werklein und spielte:Was willst du, armes Leben?

Beim Herausgehen wurde mir ein Buch in die Hand gegeben, das die Aufschrift führte:


»Namen derer, die in dieser Kapelle gewesen, die, da sie [34] schrieben, waren, und eh' sich das Blatt umkehrt, nicht mehr sind. Ihre Namen mögen geschrieben seyn ins Buch des Lebens! Amen.«


Herzlich freut' ich mich, daß ich meinen Namen beinahe am Ende schrieb, so daß das Blatt bald umgekehrt werden mußte – bald! Es ergriff mich ein Schauer und es war, als hört' ich Minen säuseln: bald!

Der Graf bewohnte sieben Zimmer, wo er und sein Bruder Feuer und Herd hatten. Des Grafen Bette war ein förmliches Gewölbe. Lazarus, unser Freund, schläft, sagt' er zu mir, da er es mir zeigte. Sein Bruder gab ihm nichts nach, nur daß auch hier das gräfliche Wappen eine Scheidewand machte. Der Graf, der sehr in die Urnenfaçons verliebt war, hatte in seinen sieben Leibzimmern christliche Urnen, wo er wirklich christliche Todtenknochen unter wohlriechende Dinge gelegt und aufbewahrte.

Bei Gelegenheit, daß uns der Graf in seinen sieben Leibzimmern herumführte, war er nicht etwa stumm, sondern so beredt, als nur irgend jemand seyn kann. Wir setzten unsere Gespräche, des Sehens unerachtet, ohne Zeitverlust fort. Man sieht noch einmal so gut, wenn man drein spricht, wenn man sagt, was man sieht. Das Hören leidet Abbruch, wenn man recht von Herzen sieht. Wir sprachen über das, was wir sahen – und über vieles, was wir nicht sahen. Meine Leser werden keine Mühe haben zu wissen, was jedem aus unserm Kleeblatt, aus diesem Spiritus – oder wie es sonst heißt, eignet, zugehört und gebührt. Die Griechen, sagte der Graf, hatten die Gewohnheit, einen Zweig an die Thür zu stecken, wo ein Todringer lag, wie ungefähr hier, wo Bier feil ist. Ich behalte diese Gewohnheit auch bei. Ueber jede Thür in meinem Sterbehause, wo gestorben wird, ist ein Reis als ein Siegeszeichen angesteckt; warum ich aber an einem Sterbenden nicht genug habe, geschieht nicht sowohl meinet- als der [35] Sterbenden wegen. Man hat sich gewaltiglich über den Gebrauch der Alten gewundert, daß man bei der Leiche anderer viele Leichen machte, um dem Gott des Todes den Mund zu stopfen und den Charon auf einen Tag in solchen Schweiß zu setzen, daß er fast selbst gestorben wäre. Man hat, dünkt mich, Ursache sich zu wundern. Soviel ist aber gewiß, daß es weit angenehmer ist, in Gesellschaft zu sterben als in Gesellschaft zu leben. Der größte Theil der Menschen stirbt eben darum so schwer, weil er alles verlassen muß und weil ihn alles verläßt, weil er so sehr allein bleibt. Ein schweres Wort allein. Der Mensch ist ein geselliges Thier. Der Sterbende hat selbst so oft und viel in seinem Leben derer, die starben, vergessen, als daß er auf die Ehre eines längern Andenkens rechnen sollte. Wenn er aber mit dem Cirkel, in dem er leibte und lebte, in einem stirbt, wie tröstet dieß? Auch wenn ihm die andere Welt und die Wiederkunft der Guten und Bösen ein unauflösliches Räthsel bleibt, gibt ihm dieser Gedanke einige Ruhe – und welch eine Seelenruhe, wenn er mit ihnen, sowie er hier lebte, dort wieder lebt! Da denkt denn der Reiche, er werde unter seinen mit ihm zusammen gestorbenen Schuldnern noch immer der Gläubiger bleiben. Die Leute werden sich doch schämen, ihn auf einen andern Fuß zu nehmen, da sie ihm die Zinsen ohnedem acht Tage nach der Verfallstunde berichtigt, welches aufs Jahr schon etwas beträgt. Da denkt der Herr, wenn er mit seinen Bedienten zusammen stirbt, die Menschen werden doch Lebensart verstehen. Ich, sagte der Graf, ich selbst möchte mich nicht gern von meinem Bruder trennen. Darum, fuhr er fort, sind uns neue Freundschaften so verhaßt, wenn wir in gewissen Jahren sind, im Fall die Freundschaftsparteien nicht jahregleich sind. – Auf Ehre, liebe Sterbenscandidaten und Candidatinnen! wenn die Hohen und Reichen, die Augenlustigen und die vom hoffärtigen Leben wüßten, wie wohl es in dieser Rücksicht sich im Hospital sterben [36] ließe, stürben viel drin, die sich jetzo wohlbedächtig genügen, Geld unter diese Armen auszuwerfen. Diese Armen besitzen oft mehr als alle Schätze der Welt; denn das Himmelreich ist ihrer! Darum vorzüglich glaub' ich, sagte der Graf, durch gute Gesellschaft meinen Sterbenden ihr Ende zu erleichtern und ihnen einen Dienst daran zu thun. Sie können jetzt die Zeit nicht abwarten, sie keuchen recht nach dem vorgesteckten Ziel und oft hab' ich gehört: Willst du mit? Ich bin bereit. So komm – ich geh – Gern! So komm doch! Gern! Nun? Hol' mich nach. So gern ich wollte, kann ich?

Wenn die grausame Gewohnheit der Alten, Leichen bei Leichen zu machen, in diese Ideen zum Theil einschlüge? sagten wir alle drei, und thaten so als frügen wir's. Wir machten es wie die Redner und Schriftsteller, bei denen das Fragezeichen nicht ein Menschenhaar mehr bedeutet als gehorsamer Diener, unterthäniger Knecht und dergleichen siebenmal sieben Sachen mehr.

Selbst der Selbstmord würde beim offenen Grabe noch am ersten aus der Natur des Menschen zu erklären seyn, und es gehört ein eben so großer Grad Lebensliebe dazu, als der große Menschentöpfer uns mit eingeblasen, um diesen Grillen bei den offenen Gräbern der lieben Unsrigen zu entkommen. Man dünkt sich ohne die Seinen verwaist in der weiten Welt, und ist man es nicht an diesem unempfindlichen, großen Orte? Was wäre das Leben, wenn man nicht noch den Cirkel der Seinen hätte, wo man noch das süße Echo seines Schmerzes, seiner Freude hört und eine Theilnehmung sieht, Liebe und Gegenliebe empfindet? – Wer sich auf einem andern Wege als am offenen Grabe das Lebenslicht ausbläst, bedenkt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. So ehrbar es manchem läßt, er ist doch mit seinem Kopf über Bord. Ei, wenn es der Mensch in einem entsetzlichen, übermenschlichen Schmerz thäte? Gibt's übermenschlichen? Exempel zwar, daß [37] Menschen sich des Schmerzes halber umgebracht, ob's aber übermenschlicher Schmerz war, bleibt Frage. So viel ist auffallend, daß der Leib, der, wenn er todt ist, da liegt wie ein Stück abgehauenes Holz, unmöglich dem Schmerz ausgesetzt seyn könne, den er im Leben empfand, und wenn also ein Leidender seine Seele Gott befiehlt und seinem ihn plagenden Leibe einen Streich spielt oder dem armen Schelm eine Wohlthat erweist, so ließe sich darüber reden, mehr aber auch schwerlich; denn ein solcher Selbstmörder kommt aus dem Text der Natur. – Wie selten sind indessen Exempel von Leuten, die aus Schmerz sich ins Leben greifen, in ein zweischneidendes Schwert fassen; denn Leute, die dem Tode recht ehrlich trotzen können, o, die trotzen auch dem Leben.

Ei, wenn der Mensch alles vollendet hätte? Wenn ihm die Zeit mit Recht lang würde? Alles vollendet, Lieber, alles! Wenn wir gethan haben, was wir zu thun schuldig waren, sind wir dann mehr als unnütze Knechte? Wer hat aber alles vollbracht? Wem wird die Zeit auf eine weise Art zu lange?

Jener Freigelassene der Agrippina, der sich bei dem Scheiterhaufen seiner Gönnerin (um ihr Ehrenbette nicht zu beflecken) erwach. Viel Erkenntlichkeit, wenn sie ihm bloß Schutzgöttin war! – Doch solche Erkenntlichkeit haben noch mehr bewiesen. Weiber, Freigewordene, selbst Hunde und andere Thiere, die sonst nicht so treu befunden werden.

Sehen und Hören, ich habe es, glaub' ich, schon sonst wo gesagt, vertragen sich mit einander wie Halbgeschwister. Ich gestehe es sehr gern, viel, sehr viel von dem Gerede des Grafen verloren zu haben, und das ist Schade! Der Graf, der in andern Fächern eben keine große Kenntnisse bewies, war unerschöpflich in den Sterbenswissenschaften. Da hatte er gedacht und gelesen. Da konnte er mit dem Gelehrtesten schon eins anbinden. Ich wundere mich noch, daß er bis auf die Terminologien, die eben seine Sache [38] nicht waren, den Tod in allen Zeiten, in allen Zungen und Sprachen verstand. Sogar aus fremden Sprachen, die er nicht kannte, wußte er gewisse Worte, den Tod betreffend. Der Prediger konnte ihm in dieser Kunst auf sechs kaum das siebente antworten; indessen examinirte er nicht, wie es denn auch niemand thut, der dem andern sehr überlegen ist. Wer wirklich weniger weiß, als der Initiandus, ist ein Inquisitor im Examen. – Der Ueberlegene lehret nur, das heißt, er legt es alles zum Greifen nahe.

Ich erinnere mich meines Versprechens, meine Leser in drei Zimmer zu führen.


* * *


Das erste Zimmer soll das seyn, wo der Graf seine verstorbene nächste Familie hatte.

Es wird meinen Lesern noch im frischen Andenken seyn, daß ich bei dem seligen Ende des zweiten Theils der Lebensläufe, da ich den besondern Mann, den Herrn Grafen, am dritten Ort zu präsentiren die Ehre hatte, zugleich anbrachte, wie er sehr traurige Schicksale überlebt. Sieben Kinder, alle im Lenze des Lebens, waren ihm gestorben. Dieses Zimmer hieß Familienkabinet, und war den Schatten dieser sieben Seligen, dieser sieben Engel, die Gottes Angesicht sahen, gewidmet. Lange stand der Graf an, ob er diese heilige Seelenzahl verrücken und ihnen noch die beiden Bräutigams der beiden als Bräute gestorbenen Töchter, und die Braut des als Bräutigam gestorbenen Sohnes, zugesellen sollte? Endlich Ja! weil seine Gemahlin schon über sieben war. Die Zahl war also schon verdorben. Dieß Familienkabinet enthielt diese lieben Todten, wie der Graf sie nannte, von denen immer eins dem andern die Hand gab und eins nach dem andern an den Reihen kam. Eines fordert das andere zum Todtentanz, zum Grabesgang auf. Viel Einheit der Zeit, alles starb in Zeit von [39] drei Jahren. – Ich kann eben nicht sagen, daß in diesem Trauerspiel griechischer Geschmack herrschte, indessen war viel Manns- und Vaterwärme da, viel Empfindung. Es waren zwei Thürstücke, das eine stellte Genesin, das andere Apocalypsin vor. Genesis war in Gestalt eines Menschen, Apocalypsis wie ein Engel gekleidet. In jenem sah man die Worte: Es ward – in diesem das Offenbarungs-Johannis-Wort: Amen!

Die Seligen waren alle wie Geister gekleidet. Sie hatten weiße Kleider. Sie waren mit Körperchen umschlagen, mit einem leichten Gewande, mit dem Sterbehemde. Die Gesichter kenntlich, aber himmlisch. Wenn die jungen Grafen und der Bräutigam nicht Hutkränze von weißen Federn auf ihren fliegenden Haaren gehabt, und ganz unvermerkt das gräfliche Wappen nebst der Perlenkrone an ihrer Seite hervorgeschimmert hätte, so würden die Geister mehr Geister gewesen seyn. Jetzt waren es gräfliche Geister. Andere Welt! wenn du Fürsten, Grafen, Freiherren, Ritter, Bürger und Bauern hast! sind sie auch nur durch ein Wappen unterschieden, wie wenig bist du dann, andere Welt! wie wenig! – Alles handelte in diesem Familienstück. – O, der unseligen Wappen und der weißen Federbüsche! und der gräflichen Krone!

Die Gräfin Mutter hatte sieben Weinreben in der Hand, die alle sieben weinten, so daß die Thränen zusehends herabträufelten; drunter gingen Vergißmeinnicht auf.

Zwei Söhne hatten Grabschaufeln in der Rechten, standen an einem aufgemachten Bette, wie der Graf es nannte, an einem fertigen Grabe, und besahen die Erde und sich, als wenn man sein Porträt und sich collationirt, um beizuzeichnen: concordare cum suo originali testor. Man sah, daß sie sich sagten: Staub von unserm Staub! Zwei Gräfinnen, unschuldig wie Engel, bis auf die verfluchten Wappen. Wozu doch die Wappen? Zwei [40] Gräfinnen, wirkliche Engel, gossen jede eine Schale auf die aufgeworfene, zur Saat Gottes vorbereitete Erde.

Meine Mutter hatte das Taufwasser nicht feierlicher ausgießen können, als diese Engel die Schalen.

Die beiden Bräute mit herabhängenden, halbverwelkten Kränzen, Hand in Hand. Der eine Bräutigam den rechten Arm in der linken Hand – so aufgestützt sieht er starr auf einen Fleck im bloßen Kopf, wie der Graf sagte, das ist, auf nackte Erde. Wohin der Blick nur reichen kann, ist die Stelle kahl, ohne grün und gelb. – Der andere neigte sich sanft zur Erde, die er küßt. Die Bewegung jenes Römers, da er seinem Vaterlande einen Kuß gab, ist nichts dagegen.

Der Sohn und seine Braut, oder Federn und Wappen, hielten eine mit Blumen durchflochtene Schnur. Sie zogen jedes sein Ende mit Macht, und siehe da, sie reißt und beide sind im Sinken. – Zwei Tauben fliegen mit Oelzweigen über der ganzen Gesellschaft. Und nun noch ein Engel ohne Sterbehemde, ohne schlafrocksmäßig um den Geist hängendes, fliegendes Körperchen, ein Engel in einer noch angemessenern Uniform, in einem so Original-Engelgewande – alles englisch an ihm; wie schön er in die Höhe sieht! wie schön! Es war der jüngste, der Benjamin unter seinen Brüdern. Wenn ich doch diese Uniform beschreiben könnte! – – – Schade! er hat ein Ordensbändchen, worauf das lutherische Wort sieht: Vivit. Freilich mehr als pro gloria et patria.

Allein ein Ordensengel! O des Ordens, der Wappen, der Federbüsche!

Das zweite Zimmer,

mit dem Accent; ich gesteh' es, ich hätt' es für mein Leben gern.

Lauter sterbende Köpfe! Noch ist's Zeit zurückzutreten, gnädige Frau – allein die letzte Zeit war diese heilige Schwelle betreten – ich stehe nicht für ihn. – Man sieht es Ew. Gnaden [41] an – Sie erliegen! ohne Umstände ein polnischer Abschied, ober ein deutscher, wie Sie befehlen!

Ha! das war ein Odemzug! Das Beharren bis ans Ende ist nicht jedermanns Ding. – Viel Vergnügen auf der Redonte. – Da sind freilich andere Gesichter! Narrenkappen wie man sie will. Als Schäferin also? – – – Und diese Köpfe? O Freunde, wie werth, wie werth zu sehen! Es sind Gestorbene, die eben kalt geworden, eben. – Alle ganz pünktlich, richtig nach dem Leben – nach dem Tode, würd' ich sagen, nach ihrem Sonnenuntergang! – Selig, selig, selig, sagte der Graf, sind die Todten, die im Herrn sterben. Sie ruhen von ihrer Arbeit, ihre Werke folgen ihnen nach. – Wir falteten alle drei die Hände! Es war erwecklich anzusehen. – Sie sind, fing der Graf etwas zu gesucht an, diese Todten hier, sind nach dem Ausgang der Seele durchs rothe Meer, wie diese schon Canaans Thurmspitzen sah, gemalt. Wenn die Seele, fuhr er fort, von ihrem vieljährigen Freunde Abschied nimmt, verehrt sie ihm noch ein kleines Andenken. Eine goldne Tabatiere mit ihrem Bilde. Sie wirst noch Strahlen auf ihn, die so aus den Gesichtszügen des Gestorbenen herausleuchten, wie das Antlitz des Moses, obgleich er schon vom Donner- und Blitzberge war. Der Mensch dort, der, so lange die Seele in ihm lebte, schwebte und war, sich so oft hinter ihr versteckte, und vom Verstande Feigenblätter, Vorhänge borgte, kaufte, wie es die Noth wollte, ist da auf ein Haar zu sehen, als wenn er lebt, als wenn die Seele nur über Feld gegangen wäre, um frische Luft zu schöpfen, um ins Freie zu gehen, als wenn die Seele gleich wieder kommen würde. Ihr Hauptsessel ist noch nicht kalt. – Spaßvogel Diogenes, lösche deine Laterne aus! Hier sind Menschen, recht wie sie sind. – Da ist das aufgegebene Räthsel und die Lösung, das Exempel und die Probe! Jeder fürchtet sich vor dem natürlichen, vor dem Kammertode, vor dem kalten, vernünftigen Tode. Der [42] Heldentod, der Feldtod ist nicht kalt, nicht vernünftig. Es ist ein künstlicher Tod, man weiß nicht wo man bleibt; und ich, sagte der Graf, ich, der ich dem Tode seine Künste ablaure, ich, der ich ihm nachschreibe, wollte in Fällen dieser Art nicht Observationen anstellen, um alles nicht, in Fällen nämlich, wo der Mensch so recht in seinen Sünden, ohne Zeit und Raum sich in Ordnung zu legen, dahin stirbt, dahin. – Zwar, fuhr der Graf fort, zwar hab' ich selbst zwei Brüder, die auf dem sogenannten Bette der Ehren geblieben sind, und ich hoffe sie gewiß in der seligen Ewigkeit zu treffen; indessen ist nichts richtiger, als daß der Baum wie er fällt, liegen bleibe. Da liegt der Grund von meinem Grundsatz. Wahrlich, lieber Leser, das war das Motto zu dem Zimmer, in das ich euch ein- und die gnädige Frau v. –, die eben jetzo schon ein englisch Tänzchen macht, ausgeführt habe, obgleich die gute Frau, unter uns gesagt, über ein Kleines auch ein Todtenkopf werden wird, und ins Ohr gesagt, schon jetzt halb einer ist. – Und diese Köpfe? So hab' ich schon einmal gefragt, und so werd' ich noch oft fragen und immer darauf antworten: o Freunde, wie werth zu sehen, wie werth! Wer kann sie aber ohne Verlust beschreiben? Wer? Ein Gemälde von andern Gemälden ist Copie, ist todt an ihm selbst, ist kalt von kalt – wie – der eine Kopf als früg' er: wo kam ich hin? so bescheiden gefragt, daß es ihm gleich war, wohin es ginge. Die Augen so geschlossen, als ob er sich alles willig gefallen ließe, und gern unter Gottes Regiment blind wäre, ohne alle Capitulation. Wer wird auch mit dem guten, mit dem lieben Gott capituliren.

Tiresias tödtete die Frau Drachen und ward aus einem Manne ein Weib. Nach sieben Jahren tödtete sie oder er den Herrn Drachen und ward ein Mann. Seiner Offenherzigkeit halber, da Jupiter und Juno über die Süßigkeiten des Ehestandes stritten, und er dem weiblichen Geschlechte den Apfel reichte, ward Juno [43] aufgebracht; denn welche Dame, wäre sie auch eine Göttin, thut nicht so, als sey ihr nichts um die Liebkosung der Männer zu thun, und sey es auch Herr Jupiter, der ihr liebkose. Der Zorn der Juno machte den Tiresias blind. Jupiter aber verlieh ihm in höchsten Gnaden das Privilegium personale, wiewohl in casu onerosum, wahrzusagen, zur Erkenntlichkeit. Die Anwendung dieser Fabel: Tiresias hatte so die Augen zu, wie unser Verstorbener – er war so zufrieden, wie Tiresias. Das Schicksal wollt' es, daß er die Augen schließen sollte, und er schloß sie. So auch unser Kopf. Tiresias war blind und sah mehr, als Leute, die ihre zwei Augen im Kopfe hatten. Unser Gestorbener schien auch beim Verlust seiner Augen eines andern Heils gewiß zu seyn. Das war Aussicht. Die Rücksicht? Sich selbst von Jugendsünden zugezogener Sterbensschmerz schien auf der Stirn zu runzeln: allein kein Bewußtseyn, seinen Nächsten um fünfzig Procent gebracht zu haben, kein Betrug, kein Bubenstück. Die Unterlippe biß die obere ein, doch verwundete sie solche nicht. – Paete, non dolet. Oberlippe, es thut nicht weh, schien die Unterlippe der Oberlippe aufbeißen zu wollen. Just dann schmerzt es aber, wenn man sagt, es schmerzt nicht. Man bespricht den Schmerz, wenn man spricht, indem es weh thut, wenigstens glaubt man ihn zu besprechen.

Sollten Sie denken, meine Herren, sagte der Graf, es ist ein bloßer Gottverehrer – der, wie er mir bekannt hat, den lieben Gott bloß in seiner lieben gütigen Natur gesehen, gekannt und sich drob gefreut hat. Denn Gott ist nicht ferne von einem jeglichen. Den feurigen Busch der Religion hat er nicht gesehen. Er blieb seinem Naturglauben und Vernunft-Catechismus, der nur einen Artikel hat, treu! Ich kann nicht, sagt' er, wenn ich gleich wollte, allein ich habe keinen in seinen drei Artikeln gestört, keinem seinen Catechismus im Spiel abgenommen, keinem geschwindes Witz- ober langsam wirkendes Verstandesgift eingegeben, keinem in seinem [44] Thun und Lassen einen Stein des Anstoßes in den Weg gelegt. Ich hielt viel für Gotteslästerung, was andere für Gottesverehrung hielten – ich – besonders war es, bemerkte der Graf, daß er das Ich unendlich oft und viel aussprach, und mit seinem Ich hinten und vorn war. Er blieb auch imIch. – Er stieß sich das Herz daran ab. Mit dem lieben Ich! – Die Herren Naturalisten im guten Sinne, dabei bleib' ich, fuhr der Graf fort, halten sich selbst für kein Kleines. Ihre Seele wenigstens ist ihnen ein Stücklein lieber Gott, wie wir Christen denn auch darin nicht ganz in Abrede sind, allein wie? – Man könnte die Deisten Seelenverehrer nennen, bald hätt' ich Seelenabgötter gesagt; allein seht nur die Miene des Gestorbenen! Ist da wohl Abgötterei drin? – Ich mag keinen Stein aufheben wider ihn, weder einen großen, wie wider den Stephanus, noch einen kleinen, wie wider Goliath – ich nicht. Noch ein Deist mit mehr Stirnunbeladenheit, allein mehr Lebensmühseligkeit über den geschlossenen Augen, die er eigentlich nicht geschlossen, sondern zugedrückt hatte. Es schien so, als wäre der Schlüssel abgedreht. Eine Auferstehung gehörte dazu, um diese verschlossenen Augenthüren zu öffnen. Alles war dicht zu auf beiden Wangen. Von der Mitte der Nase an bis ganz herunter lag ein Strick von Runzel, der sich unten zusammen gab. Er ist sehr verfolgt, der arme Schelm – sagte der Graf. Sein Tod war sanft, das sah man – kein Gewissensbiß, auch nicht einmal in einer Lippe. Ruhe lag über und über und so viel Ergebung, daß er, wenn Gott gesagt hätte: hör' auf, erwiedert haben würde, dein Wille geschehe! Wahrlich das könnt' ich nicht, bemerkte der Graf; ich würde dem lieben Gott wenn nicht mehr antworten, so doch: aber lieber Gott. – Ich konnte nicht weg von diesem Kopfe. Herr, wie du willst, so hieß er. Der Graf erzählte mir viele Verfolgungsscenen von Geistlichen, und besonders von einem gewissen Consistorial-Präsidenten Caiphas – der selbst weder Gott noch [45] Teufel glaubte, der aber von Amtswegen und aus ledigem Präsidentenstolz orthodox schien bis zur Raserei, die überhaupt mit ihm sehr nahe verwandt war. Gott lasse dich ruhig hängen, sagt' ich, da ich ihn sah – du ruhiger Mensch! Könnte seine Seele wohl in der Hölle und Qual seyn, und sein bestes Leibstück, sein Kopf, so aussehen? Es wär' ihm, sollt' ich denken, auf dem Hölle- und Qualfall gewiß etwas vom Durst anzusehen, den seine andere Hälfte dort litte. Mein Vater pflegte zu sagen: alles Paarweise, Seele Mann, Körper Weib. W.Z.E.W. Meine Mutter würde gesagt haben: Leib Weib – ohne W.Z.E.W. Dieß fiel mir ein, und schnell dacht' ich: ein gutes Weib! Sollte wohl da oben über den Augen etwas Menschenhaß liegen, und der Gerntodt eben daher sein schönes Feierkleid her haben, und die Entschlossenheit, auch ganz zur Erde zu werden, daher kommen, um nur mit Menschen nicht mehr zusammen zu seyn? – Seht ihn recht an, ich finde keine Schuld an ihm, und wenn etwas Bitterkeit wider Priester und Leviten, wie Unkraut unterm Weizen, stünde, war nicht vielleicht Verfolgung wider diesen Samariter Schuld daran? Es liegt auf jedem lebensausgegangenen Gesicht Rücksicht und Hinsicht, sagte her Graf. Ich fand keines von beiden auf unserem Ruhigen. Er neigte nicht sein Haupt, das that auch sein Bruder nicht; sie hatten den Kopf rückwärts gebogen, und doch in die Höhe! – Schlaf gesund, du Verfolgter, und genieße der stolzen Ruhe derer, die in Gottes Hand sind und von denen es heißt: keine Qual (auch nicht einst vom Consistorialpräsidenten Caiphas, dem Schwiegersohn des Hannas) rühret sie an. – Das waren die beiden Deisten, denen der Graf hier ein Räumlein bei seinen Christenköpfen gegönnet hatte, so daß diese Todtenkopfgallerie eben hierdurch ein Simultangewölbe worden war.

Der Deist, da er wohl einsieht, er komme nicht aus, er habe eine Rechnung ohne Wirth gemacht, nimmt sich eine Handlung aus [46] seinem Leben heraus, stellt sie auf und sieht sie so mit unverwandten starren Augen an, daß er drauf lebt und stirbt, daß er sich einbildet, der liebe Gott werde auch sein ganzes Leben so vergessen als er, bis auf das Pröbchen, das er zur Schau aufgestellt. Moses ward begraben, ohne daß jemand wußte, wo? Doch! ich wollte vom Lykurgus reden. Dieser große spartanische Gesetzgeber eröffnete dem Volke seine in Delphos confirmirten und göttlich erklärten Gesetze, und da Sparta unter seinen Gesetztafeln blühte, wie ein Weidenbaum an den Wasserbächen, nahm er von seinen Bürgern einen Eid, die Gesetze so lange in Ehren und Würden zu lassen bis er heim käme; denn er müßte wieder nach Delphos, und nun reiste er nach Cirra und bestätigte mit seinem Tode seine Gesetze. – Eine Parenthese. Ist Lykurgus ein Selbstmörder, und jener Patriot, der für sein Vaterland in ein warmes Todesbad ging? Nein, sie sind Märtyrer und haben den nämlichen Zug im Gesicht als die, so aus Liebe zu einer Sache, damit sie, die Sache, nicht stürbe, gestorben sind. Ich komme ab. Ich wollte sagen, Lykurgus habe so ausgesehen, wie jeder Deist, der sich ein Lebensbild aufschlägt, und dieß ohne Aufhören ansieht. – Die Seele selbst gewöhnt ihr Auge dran.

Ueber die Christenköpfe überhaupt die Anmerkung: die Augen alle nicht ganz zu. Sie wollten sehen, wo ihre durch Christum geheiligten Leichname blieben. Sie wollten lauschen (das thut man nur mit niedergeschlagenen Augen), wohin die erlöste Seele citirt worden, und also die Augen etwas offen. Die Augen waren von andern zugedrückt; allein die Thüren wollten nicht zuhalten, sie waren eingetrocknet. Die Christen hatten alle das Haupt geneigt. Sie hatten, das sah man ihnen an, schon das Seelentestament deponirt:Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände, nimm meinen Geist auf! und nach diesem Testamente neigten sie ihr Haupt und verschieden. Die Erde ist des [47] Herrn! Nimm, liebe Mutter, diesen Leib, den du neu gebären sollst – ich fürchte nicht deinen verschlossenen Leib – ich weiß, an welchen ich glaube, und bin gewiß, daß er diese Beilage bewahren werde, bis zu meinem Geburtstage, bis an jenen Tag –


* * *


Der eine Mann da, sollt' ich mich irren, wenn ich behaupte, daß etwas Zweifel in ihm läge? Eine edle Unruhe – – bald hätt' ich sokratische gesagt; allein sie war lange noch nicht sokratisch. Es war eine christliche. – Baal, erhöre uns, hätte dieser Mann nimmer und in Ewigkeit gerufen! – Heute im Paradiese – heute noch? Wo liegt es? Gott von Angesicht zu Angesicht sehen? Ein Geist den andern? Ewige Seligkeit! ewige! in einem weg, ohne daß uns die Zeit, hätt' ich bald gesagt, ohne daß uns die Ewigkeit (das, glaub' ich, kann ich auch nicht sagen) lang wird. – Auferstehung der Todten, des in alle Welt zerstreuten Leibes? Dergleichen Fragzeichen schien der Mann auf dem Gesichte zu haben, und auch sein Nachbar, auch der hier, auch jener dort, o! der an der Thür am deutlichsten: das ganze Gesicht ein Fragzeichen! allein bei alle dem, mit einer Art von Vertraulichkeit gegen Gott. Nicht Dummdreistigkeit, nicht Christenstolz, wie die Feinde der christlichen Religion es zu benennen belieben, sondern kindliche Zudringlichkeit, höchstens Vorschnelligkeit, höchstens Kinderfrage. Sind Kinderfragen Zweifel? Sind es Knoten, die der Deist heroisch, statt zu lösen, entzwei haut? Werdet wie die Kinder! Wer kann das genug lehren und lernen, und beim Kapitel der Rücksicht, o! mein Gott, welche richtige Rechnung! Wie stimmig die Balance! keine Schuld im Rückstande, nichts zum Uebertragen, alles thut wie oben. Alles rein abgeschlossen! ohne Bruch, ohne –

Der Kalte da! die wenigsten Zweifel! im linken Auge ein [48] halbes Aber, kaum halb, das rechte glaubt – beide christlich neugierig; ist das Wunder? Aber wie ruhig wegen des vollbrachten Lebens! Der Deist, wenn er's recht, wenn er's genau nimmt, bankerottirt, und sein Tod ist ein Prangertod, ein Spektakeltod, als Christ? Alles bezahlt! Sollte denn der Christ stärker in seinen Tugenden, fester in seinen Gesinnungen seyn? Sollte! Halt! gelehrter Frager, der Christ ist überall kindlicher. Er thut nichts aus Stolz oder eitler Ehre. Gott ist Vater, er ist ein kleines Kind, das wo einmal in's Licht greift und sich verbrennt, das – –

Wer, Freunde, ist der Engelreine, der nichts auf seinem Herzen und Gewissen hätte? Solch ein Paar Gottes-Menschen, als wir beim Grafen erblickt, finden sich, glaub' ich, nicht in vielen Jahren. Wir haben sie aber rühmlichst abgehandelt; indessen haben auch sie gewiß ein Pröbchen ausgehangen. Der Mensch, wenn er alles gethan hat, hat er alles gedacht? Und bleibt er nicht ein unnützer Knecht? Und wer macht das Blutrothe schneeweiß und das Rosinfarbne wie Wolle? Ich glaube nicht, daß Gott der Herr unmittelbar beleidigt werden könne! Und die crimina laesae majestatis divinae sind, wie schon bemerkt worden, so was Menschlichgesagtes, als Gottes Hand, Gottes Fuß, Gottes Auge. Wer von Gottes Mund spricht, thut etwas sehr Gewöhnliches; wer aber nur die Hälfte von Gottes Nase spräche, und von seiner Stirn und von seinen Beinen, würde Gott danken können, wenn man ihn nicht für eine Art von Gotteslästerer hielte. Warum das?

Gott, der nicht zu sehen ist, wird nur in unsern Brüdern beleidigt, die zu sehen sind, und in uns selbst, die wir auch sein Odem sind. Hier indessen, welch ein Feld zu Verbrechen! – Wir wollen annehmen, daß Selbstsünden auch Selbststrafen nach sich zögen (Sünde, den Tod); ists aber darum gut ge macht? Wäre dieß, so wäre jeder Selbstmörder selig, ohne Streitschrift, weil er das Leben eingebüßt hat; nicht also? Wer sich zum Arbeiter im [49] göttlichen Weinberge, zur Weltarbeit untauglich macht, wer nicht treu und fleißig mit den Gaben umgeht, die er empfangen hat, verdient nicht allein keinen Taglohn und Armuth und Mangel, sondern er hat auch mit seinen Sünden noch andere Strafen verdient. – Und wer ist so unschuldig, daß er seinen Bruder nicht mit Gedanken, Geberden, Worten und Werken beleidigt hätte?

Schön, Freunde! wenn ihr das Seine dem gebt, dem ihr's genommen, dem Nachbar sein Weizenland, und der armen Priesterwittwe ihren Kohlgarten. Schön, wenn ihr dem die landüblichen Zinsen wegen des entbehrten Nießbrauchs ersetzet, dem ihr den Nießbrauch seines Ackers entzogen. Habt ihr aber auch die drei Lebensjahre erstattet, welche ihr diesem Armen durch eure Kränkungen entzoget? Die Sonne, die auf dieses Land sah? Den Regen, der darauf fiel? – Habt ihr dadurch schon den in integrum restituirt, den ihr für einen Weinsäufer, beißig, hartherzig ausgabt, wenn ihr über viele Zeit, da er schon dieses eures Todtschlags halber in die Verwesung übergegangen, eine Palinodie sanget und behauptetet, er sey ein Wassermann, habe keine Zornzähne, sey warmherzig; und wie mancher ist gar nicht mehr mit euch auf dem Wege, den ihr beleidigt habt! Wird der Mord, den ihr an der Mutter verübtet, etwa nicht gestraft, wenn ihr ihrem Säuglinge eine Amme gebt? oder wenn ihr den Altar bekleidet oder dem Oberpastor einen Antheil vom Besten spendiret? Hat Christus, der Mund der Wahrheit, etwa die Unwahrheit unter die Christenleute gebracht, wenn er über jedes unnütze Wort Rechenschaft einfordert? Ist was wahrer, was richtiger? Herr! wenn du willst Sünden zurechnen, wer kann bestehen? So gut ich mein Buch gemeint, können nicht Stellen seyn, die nicht da seyn sollten? Und was alsdann? So ruhig wie die zwei Gottes-Menschen oben gestorben! Wer es kann. Wer nach Orts-Ellen gestempelt, durch den Land- und Stadtphilosophen Gottes Eigenschaften abmißt, und [50] Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nach dem Einmaleins berechnet; was meint ihr, kann er wohl bei ganz gesundem Nachdenken sein Haupt so rückwerfen, wie die beiden, die wir nahebei gesehen haben? Und seht sie doch nur recht an. Recht! Ist denn die Ruhe der beiden guten Leute die rechte Ruhe? Wer steht uns dafür? Der Phlegmatische ist ruhig, weil er phlegmatisch ist. Wenn aber ein Betriebsamer seine Geschäfte richtig durchkalkulirt, Debet und Credit abzieht und Summa Summarum Ruhe abzieht. – Was meint ihr? Ist das nicht eine andere Ruhe? Eine Ruhe, ohne vorherige Unruhe, was ist sie? Reue, die niemand gereut, wirkt Leben, und wenn denn ein Deist traurig wird, was kann diese Trauigkeit der Welt anders wirken als den Tod? – Seht da den Christen, die Augen offen (im Leben heißt es, Nase und Mund offen) wegen der Hinsicht; allein wie ruhig wegen der Rücksicht! Selig! selig wer wie Mine stirbt! so kindlich groß! so schön! So sterben zu sehen, ist das nicht Wonne? Wer so stirbt, der stirbt wohl, wohl, wohl! Und verdenkst du, unberufener Kunstlichter, dem Grafen, daß –

Seht nun, wie ausdrücklich berechnet ist die Ruhe der Christen auf ihren Gesichtern! Gilt es denn hier etwa nur eine taube Nuß, oder gilt es eine Ewigkeit?

Nach diesem Präludio, ich wünscht' es wär' in der Wirklichkeit so stark im Ausdruck, als das des alten Herrn in der Einbildung! Seht euch mit mir um, lieben Leser!

Auf den Christen-Todtenköpfen eine vollständige Quittung, Brief und Siegel zum Losspruch. Kein Zweifelglaube, ohne alle Einwendung in der Rücksicht. – Die Kinderfrage in der Hinsicht thut nichts zur Sache. Seht jenes Weibsbild! wie unbefleckt, wie frohruhig, wie zweifelsfrei! Nicht Hoffnung, sondern der Himmel selbst in hoher Person, hätt' ich bald gesagt, liegt auf ihrem edlen Gesichte! Ich kann hier selbst keine Neugierde, keine Kinderfrage [51] finden. Solch ein Weib, wie schön selbst im Tode! Alles ist neues Testament, alles ist Erfüllung in ihrem glänzenden Angesicht! Nichts Prophezeiung, nichts Vorbild, nichts Verheißung. Jener alte Mannskopf ihr gleich! O Gott! wär' ich doch einst auch so todt, wie die beiden! Da ist auch nicht ein einziger Zug, der nicht wünschenswerth wäre! Nicht einer! So schöne Köpfe würde man Mühe haben, im Leben zu finden. – Der Graf erzählte uns beider Sterbensläufe. Sie wären gern, wie er sagte, herzlich gern gestorben, und hätten die Kräfte der zukünftigen Welt so gewaltig gefühlt, daß sie mehr dort als hier gewesen. Ueberdruß der Welt ist Vortodt, bemerkte der Graf. Es ist ein gut Hausmittel, die Bitterkeit des Todes zu vertreiben. Wer aber so gleich gerade stirbt, so einen klaren reinen Tod ohne alle Ingredienzen! O schön! rief der Graf aus. – Ein auszehrendes Fieber lösete die beide Köpfe auf. Ihr Geist lag nicht an der Auszehrung; feierlich, sagte der Graf, so mit Verstand und allen fünf Sinnen, gingen sie aus der Welt, so daß nur ein Thor, wie der Graf sich etwas zu hart ausdrückte, sagen könnte: Sie wären gestorben. Freunde! auf Ehre, sie zogen nur über Land. Wer einfach, wer im Naturstande, im Stande der Unschuld lebt, stirbt der? Nein, er wird lebendig gen Himmel geholt und solcher Uebergänger, solcher Himmelsfahrer gibt's viel, obgleich das Paradies nicht mehr ist. Es ist mit der Unschuld zusammen verschwunden.

Wir sprachen bei dieser Gelegenheit ein Hohes und Tiefes über den Einfluß, den die Krankheit auf die Gestorbenen behauptet; allein der Graf versicherte, wenig oder gar nichts. Auf den Agonisirenden zwar; allein auf den eigentlich Sterbenden, auf den Gestorbenen nicht. Sobald der Mensch todt ist, fuhr der Graf belehrend fort, zieht sich alles, wenn ich so sagen soll, nach der Seele, die größten, eindrücklichsten Krankheiten verlieren ihre Spuren. Das Wort:komm oder geh, welches die Seele, die ihr [52] voriges Leben dem Gewissen vorreferirt, schon in den letzten Augenblicken vor dem infallibeln, unappellabeln Richterstuhl des Gewissens, vor dem Baum der Erkenntniß Gutes und Böses, als eine rechtskräftige Sentenz erschallen hört, geht in den ganzen Körper über, in die ewigen Elemente desselben, wie ein Blitz oder Sonnenstrahl, nach dem es komm oder geh heißt und bleibt.

Wenn ich, sagte der Graf, dessen Einbildungskraft im Adlerfluge war, den Augenblick hinmalen lassen könnte, wenn ein Mensch stirbt, was würd' ich drum geben! Diesen Augenblick zu observiren, kostet Mühe und Erfahrung, und doch glaub' ich am Ende, hab' ich nur fünf im eigentlichsten Sinne sterben gesehen; ich hoff's zu sieben zu bringen. Ein heftiger Ruck – bei allen Fünfen; bei einem unter den Fünfen war der Tod ein wirklicher Einschlaf. Diese Fünfe hängen wir, nicht wahr, etwas zu sehr im Dunklen? Ich liebe einen gewissen Schatten auf diesen Gesichtern, den ich zum Theil erkünsteln muß. Die Fensterladen auf! – – Da der, der ist's, von dem ich sprach! Wahr! ich fand es, ich fand noch Seele, aber eben abschiednehmend, und so lieblich, als sagte sie: Leb wohl, lieber Junge, Leib! leb wohl! Ich werde dich noch oft auf dem Kirchhofe besuchen, wo man dich hinbringt; wenn es angeht, will ich sehen, wo du bleibst, auch wenn sich Staub von Staub losreißt. – Sey gutes Muths! Gott vermag alles! So lange du in seiner Welt bist, sind wir zusammen! Weine doch nicht! Armer Junge, könnt' ich dich doch trösten! Armer lieber, geliebter Erdenkloß, könnt' ich doch! O könnt' ich! Beten kann ich, will ich. Laß ihn, o du Seele aller Seelen, Geist aller Geister, laß ihn nicht versinken in des Todes letzter Noth, erbarm dich sein! – Ein Theil Leben, wenn es ginge, wie gern gäb' ich es hin für dich, lieber Getreuer! – und ihr, Elemente! ihr ewigen Stücke am Körpertheil des Menschen, ihr Vorsteher des Körpers, nehmt euch der unedlen Stücke an, wenn sie [53] gleich nicht von Familie sind, schämt euch ihrer nicht. – O der guten abschiednehmenden Seele!

Gott, was für Schmerz auf zwei Gesichtern!

Warum verstellest du deine Geberde? könnte man zu allen beiden sagen. Der zur Linken scheint sich zu fassen, oder fassen zu wollen. Es ist Alexander, da er krank war und den Arzneibecher von General-Feldmedico Philippus entgegennahm. Eben ein Brief von Parmenio. Er nahm den Becher und trank, und gab dem Doktor Philipp den Brief, der ihn las. Fast so, sagte der Graf. Nicht völlig, sagt' ich, denn ich kannte den Alexander auf ein Haar, und besser als unser Hochgeborner Herr, obgleich er Graf war. Aber da! mein Gott, welche Verzogenheit, Carrikatur, als wär's kein Menschenkopf. Der Graf erzählte mir zu meiner allergrößten Verwunderung, daß dieß ein Plötzlichgestorbener sey. Mein Gott! rief ich aus, wie sehnlich hab' ich mir, bis ich diese Verzerrung sahe, einen guten schnellen Tod gewünscht! Vielleicht, fuhr ich fort, war dieß ein böser, schneller Tod, von dem es in unserer Litanei heißt:


Für einen bösen schnellen Tod

Behüt' uns, lieber Herr Gott.


Ich glaub' es nicht, erwiederte der Graf, allein über den schnellen Tod, mein Freund, wie viel zu sagen! Ich habe Ursache zu denken, fuhr der Graf fort, daß jeder Mensch gleich viel Todesnoth ausstehe. Todesangst und Noth ist zweierlei. Die Angst ist zufällig; nachdem der Mann, nachdem die Angst. Die Noth ist wesentlich. – Aber, wandt' ich ein, sollte Mine so wie dieser gestorben seyn, mit so viel Noth? Ihre Mutter ist wahrlich so nicht gestorben! Recht, sagte der Graf, sie hat die Todesnoth, mit einem Stoff Wasser gemischt, getrunken. Dieser auf einmal! Aesop nahm den größten Korb zu tragen; allein es waren Lebensmittel darin, und eben dadurch war der Korb ihm am Ende am [54] leichtesten. Mein Gott, was gibts für schmerzhafte Krankheiten und Vorfälle in dieser bösgewordenen gefallenen Welt! Alles Todte, die Schrift nennt sie todt, und sie sind es im eigentlichen Sinne; wenn aber der Mensch, der nie gestorben, auf einmal recht und eigentlich stirbt, auf einmal weg soll, im Augenblick, aus dem Lande der Lebendigen; – Seele und Leib so bekannt mit einander; er eben in der Ausführung von vier Planen, wovon immer einer den andern deckt: o Freund! so was pflegt in einen Schrei – auszuarten! Und dieser hier ist eben im Schrei! Ich hab' ihn nicht observirt. Es ist ein großes Präsent von einem Freunde, der mir aber auf Treu und Glauben dieß Stück gegeben hat, und mich dünkt, es sey ein Stück auf Treu und Glauben. – – – Und dieser verhangene Kopf? (Es war einer aus den Fünfen.) Freund, sagte der Graf, der Maler Timanth malteIphigeniens, der Tochter Agamemnons, Aufopferung und theilnehmende Personen, die jeden rührten, der sie sah. Timanth brachte alles zum Vorschein, alles, alles vom Schmerz, was auf der Stirn dem Throne des Schmerzes, im Aug' und im Gesichte nur Raum hat, was man nur vom Schmerze weiß. Niemand konnt' in die Höhe sehen, wer Iphigeniens Aufopferung von Timanth sah; alles stand betrübt, gebeugt zur Erde; nur Iphigeniens Vater, und wie der? eine schwarze Trauerdecke um sein Angesicht. Warum also? Darum also, weil es der Vater ist. Hier, sagte der Graf, hier unter diesem entsetzlichen Leichentuche ist auch ein Schmerz, größer, tiefer als jeder Ausdruck. Etwas ist davon am Tuche zu sehen, und nur eben so viel etwas, als hinreichend ist, uns das Herz zu durchbohren. Sehen Sie hier nicht mehr als überall? Und doch ist hier nur ein Strich, ein Punkt! – Dieß Stück ist auch der Vater!

Ich kann es nicht aussprechen, was ich empfand! Ich unterlag.

[55] Der Prediger machte dem Grafen bei Gelegenheit der Todesangst und Todesnoth einen Einwand. Es hat, sagte der Prediger, Leute gegeben die aus Freude gestorben sind. Was thut's? sagte der Graf.

Viel!

Nichts!

Wo da die Todesnoth?

Freund! erwiederte der Graf, die heftige Freude kann eher, wie heftige Traurigkeit tödten. Die heftige Freude hat sehr was Widerliches an sich. Fast wollt' ich behaupten, es ist noch niemand aus Traurigkeit gestorben, wohl aber aus Freude. Nicht weil die Traurigkeit dem Menschen eigner als die Freude ist, obgleich dieser Umstand uns eben nicht aus dem Wege liegen würde; sondern weil der Mensch bei der Traurigkeit auf seiner Hut ist, die ganze Wache ins Gewehr ruft, alle Macht und Kraft aufbietet, und: macht euch fertig! schreit. Bei der Freude überläßt sich der Mensch sich selbst, es geht mit ihm rips raps, holter polter, über und über, und dieß Freudenwirrwarr, wie leicht kann es dem Menschen eins versetzen! Ein aus sich versetzter Mensch ist todt. – Große Lustigkeit und tiefster, schmerzhafter Unwille sind so nah, daß sie sich in die Fenster sehen können. Fast wollt' ich sagen, ein heftig lustiger sey eben so gefährlich unwillig im Sinn, wie man gefährlich Kranke hat, die sehr gesund aussehen.

Diagoras freute sich über seine drei Söhne, weil sie alle drei den Preis der Akademie der Wissenschaften erhalten, fing ich an. – Lassen sie den Diagoras, sagte der Graf, er hat mehr seines Gleichen. Ein großes Glück ist eine Posaune der Ewigkeit, und sollte jeden Menschen aufmerksam machen. Wenn man schnell dick und fett wird, ist dieß eben kein Beweis der Gesundheit. Hat man Schmerz, Kummer und Gram, und der Körper ist nur aus gesundem Schrot und Korn, Freunde! das sind Leute, die ihr Leben [56] bis auf den Gipfel treiben, das sind Leute aus dem vierten Gebot! Ein lachend Sterbender fühlt Noth über Noth. Er macht nur zum schlechten Spiel ein gut Gesicht, und gelt! das ist schwer Ding! Stirbt er schnell und lacht er überlaut, ist's ärger, als der Schrei dieses Mannes hier! Wer so lachen gehört hätte, würde nie mehr lachen. Stirbt man langsam und lächelt, kann ein so freundlich Aussehender auch ein leichtes Ende haben; denn er ist schon lange zuvor gestorben, eh' er dieß Ueberwinderlächeln aufschlug. – Ich halt' es, beschloß der Graf indessen mit Ernst, im Sterben mit einer gewissen Fassung, und die kennt weder Lachen noch Weinen. Eine gewisse Grazie liegt zwar in jedem ernsten Gesicht, und ein gewisses Seelenlächeln, wenn Ernst edler, unangenommener, nachdrücklicher Ernst. – Ein Ernstspieler, ein Einfallsernst, o das kennt man auf ein Haar! –

Noch ein Wort zu seiner Unzeit.

Meine Leser werden es von selbst gemerkt haben, daß dieß alles nicht in wenigen Stunden verhandelt ward. Wir aßen und tranken, wenn die Zeit und ihr Zeiger, die Sonne, es wollte; da war der Graf wie ein anderer Mensch. Und ich kann versichern, daß es hier nicht heißen konnte: der Tod in Töpfen; inzwischen war auch bei Tafel alles wie beim Leichenessen. Eine unsichtbare Stimme rief, statt des Benedicite und Gratias, nach Art des Philippus: Gedenke an den Tod! Bei Tafel war geredet, und zwar viel. Wir waren nicht Papageien, die nur Memento mori bei schicklicher und unschicklicher Gelegenheit anbrachten, doch war alles so, als bei einer Leichenwache. Mein Vater liebte eine frohe Mahlzeit, eine mit Sonnenschein. Beim Essen wird man nicht alt, sagte er. Der Graf aß, wenn ich so sagen soll, bei Mondenlicht. Er schien beim Essen alt werden zu wollen. Die Zimmer waren alle am Tage verfinstert; der Schatten ist bei mir die Probe vom Dinge, das ihn wirft, sagte der Graf. – Das [57] Sonnenlicht war überhaupt nicht für ihn. – Wie ehrwürdig, wenn sich das Sonnenlicht hier und da durchschlängelte! Der Graf sagte: Wer kann Gott und die Sonne in dieser Welt sichtbarlich vertragen? Gott wohnt in einem Lichte, wozu niemand kommen kann. Nur durch den Tod zu ihm! Durch Finsterniß zum Licht. Wie schön die Sonne da durchstrahlt – ich verhänge mir die Welt und was in der Welt ist. Wer kann mit der Welt in dulci jubilo leben und auf die Sterbensastronomie ausgehen? Stellatim, sagte der Prediger, gehen, wie man zu meiner Zeit auf der Akademie sprach.

Nun mit der Erlaubniß meiner Leser in


das dritte Zimmer,

auf welchem ein langer Accent liegt.

Ehe ich sie hineinführe, wieder ein Wort der Vorbereitung.

Bei den Sterbenden war der Graf mit Tubus und Ferngläsern auf dem Observatorio. Ich sterbe täg lich, das war seine Losung; das wissen wir schon. Als etwas Neues und Besonderes muß ich bemerken, daß der Graf fast immer Zeit und Stunde wußte, wenn es mit dem Patienten aus seyn würde, allein er sagte es nie dem Sterbenden. Er? nie? obgleich er den Tod so hochschätzte, und eigentlich lebte, um zu sterben, oder eigentlich starb, und nicht lebte. Der Graf hatte zu diesem Rückhalt sehr große Ursachen. Man muß, sagte er, keinem Menschen das Sterben verderben. Der Arzt, der es durch die Signa Mortis vielleicht eben so gut weiß als ich (ich sage vielleicht, denn er weiß es vom Körper, ich von der Seele), ist mein Mann nicht mehr, sobald er es seinem Patienten ins Ohr rannt, oder Leuten entdeckt, die der Patient an den Arzt abgesandt. Eine schreckliche Gesandtschaft! Meine Aerzte müssen sich dergleichen Kunstverräthereien nicht zu Schulden kommen lassen. Mir können sie zunicken, was sie hoffen – was sie fürchten. – Das erste, fuhr der Graf fort, was die [58] Patienten gefragt wird, ist: ob sie schon ihren letzten Willen entworfen, ihr Haus bestellt und ihren Geist in die Hand Gottes einschreiben lassen? Diese peinliche Frage, dieses Verhör enthält den größten Theil des Lebenslaufs, den der Graf gern, herzlich gern, vor'n Willen nahm, indessen ihn, wie er auf Ehre versicherte, nie erpreßt hätte. Viele Leute fürchten den letzten Willen, bloß des Worts letzt wegen, obgleich die Postscripte, Codicille und alles, so lange die Zunge nur lallen kann, aufzuheben und zuzugeben, von den Gesetzen berechtigt werden. Die Lehre von den Testamenten, wie gefällt sie Ihnen? fragte der Graf. Indessen kamen wir von dem letzten Willen an sich ab. Wer wird, rief der Graf aus, solch eine unverdiente Güte, als die Lehre von den Testamenten, nicht vor'n Willen nehmen, und so etwas bis auf den letzten Abdruck aussetzen? Ist denn schon jemand am letzten Willen gestorben? Hat sich der Patient leiblich wohl bereitet, denn auch dieß ist eine feine äußere Zucht, so geht das Geistliche an, und der Patient wird eingeläutet, und sodann Gott und meinen Anstalten überlassen. – Ich hätte gern, das läugne ich nicht, dieß Glöcklein gehört, indessen ward's abgeschlagen. Man hört' es nie, als wenn eins zur geistlichen Vorbereitung schritt und ins Sterbekloster auf- und angenommen ward. Ist aber, da dieß Glöckchen nur bei Einläuten eines Sterbenden zu hören, dieser Klang nicht schon die letzte Oelung, ist er nicht die Entdeckung, daß man ins Todesthal eintrete? Ins Noviziat, Freund! versetzte der Graf, wo man, wie bekannt, auch heraus kann, wenn Gott will. Viele ahnen die Sterbestunde selbst, und das ist ein ander Ding, sagte der Graf, denen hat es Gott offenbart. Wie viel ich für solche Leute Achtung habe, ist unaussprechlich; ich denke immer, der liebe Gott habe mit ihnen geredet, und sie wären getrieben vom heiligen Geist. Wer sie nicht ahnt, sterbe, ohne Zeit und Stunde zu wissen, welche Gott seiner Macht vorbehalten hat. Daher auch [59] alle Sterbenszeichendeuter, ich selbst nicht ausgenommen, oft irren und fehlen. Meine Aerzte haben aus diesem Grunde ihre Instruktion, in ihrer Kur der lieben Natur zu folgen, ihr nicht in den Weg zu treten, sondern sie bloß zu begleiten. Will sie nicht mit solch einem elenden Geschöpf, als ein Doktor ist, zusammen gehen, so lasse sie der hochgelahrte Herr allein. Auch gut. – Bei mir stirbt niemand durch den Arzt, versicherte der Graf, sondern natürlichen, nicht medicinischen Todes. Das Stundensandührchen muß sanft abnehmen, ohne daß ihm nachgeholfen wird. Meine Mutter würde sagen: ohne daß es gerüttelt und geschüttelt wird. Man hat so viel von der Abstellung der Todesstrafen in die Kreuz und Quere geredet und geschrieben, daß wirklich einige Staaten die C.C.C. wo ohn' Ende und Ziel getödtet wird, ins Galante, ins Feine gebracht. Ich würde, sagte der Graf, die Todesstrafe darum abstellen, weil niemand weiß, ob er nicht durch die Hand des Arztes schmerzhafter, als durch die des Henkers, stirbt, und weil eine Seele, die noch kernfrisch ist, sich auf tausenderlei Art, durch Anstrengung auf einen Punkt, des Todes Bitterkeit vertreiben kann. – Das einzige, was einen Henkerstod schrecklicher, als einen Kammertod macht, ist die Gewißheit der Stunde; wer also die weiß, wenn er auf seinem Bettlein dahinfährt aus diesem Elend, stirbt ganz und gar wie ein Delinquent, wie ein armer Sünder – ganz und gar.

Ich könnte noch viel, viel erzählen, wenn ich alle Bemerkungen wiederholen wollte, die mir reichlich und täglich in Wurf kamen.

Ein Paar, und damit genug.

Das Händefalten hielt der Graf für ein schmerzlinderndes Mittel – und sprach sehr von der guten Wirkung, die er von diesem Hausmittel ersichtlich erfochten.

Die Art, wie er Kranke behandelte, war wirklich Erfahrungsweise. [60] Alles hatt' er aus dem Leben, nichts, rein nichts aus Büchern.

Kurz, ehe es zum Sterben kam, trank er mit den Sterbenden Brüder- und Schwesterschaft. Eine solche Sterbensschwester konnte von ihrem Lager aufstehen, und wenn es ihre Natur so wollte, gesund werden; allein sie blieb, was sie einmal war – Schwester, obgleich ihr Vater Organist, Fabrikant, Nadler war.

Der Graf nannte diese Ceremonien: Becherreichung. Ich freue mich, sagte er, schon hier in dieser Welt im Himmel zu seyn, wo wir alle, bis auf den lieben Gott, der der Hausvater ist, Brüder und Schwestern sind. Solch ein Trank ist wirklicher Himmelstrank, wirklicher Nektar, von dem viele Menschen sich keine Idee machen können.

Der Prediger aus L – hatte anfänglich dieser Becherreichung wegen viel zu erinnern gehabt; indessen ward alles fein ordentlich und ehrlich beigelegt.

Es herrschte im ganzen Hause des Grafen ein Krankentritt; langsam und auf den Spitzen der Füße ging alles. Kein Wunder, sagte der Graf, wenn hie und da etwas steif in meinem Hause ist und nach diesen Einrichtungen aussieht. Wenn's nur der Staat nicht ist, fuhr er fort, der auf den Zehen geht. – Im Privathause hat's wenig oder nichts zu sagen. Ich kenn' einen Staat, der schon lange auf den Zehen geht. (Meine Mutter würde »geht und steht« gesagt haben.) Der Himmel helf' ihm auf die Beine, wenn es ihm nützlich und selig ist! fügte der Prediger hinzu. Ich liebe den Privattod wie mein Leben, fuhr der Graf fort, nur den publiken, den Nationtod nicht. Da stirbt nichts und alles. Der Graf konnte sich nicht erholen, um die Krankensprache zu reden, so voll war er über den publiken Tod, und freilich ist's eine Todesart, die mit in sein Fach einschlägt. So im Todtentritt kamen wir in eine der Sterbezellen. Der Graf nannte diesen Zehengang den Todtentanz [61] und hatte wunderliche, steifbenutzte Regeln darüber und eine ganz peinliche Theorie. Ich konnt' es in so kurzer Zeit freilich nicht weit in dieser Kunst bringen, wie ich denn überhaupt kein großer Tänzer in meinem Leben gewesen. Fürs Haus und so war ich auch ein Todtentänzer.

Der älteste unter den Sterbenden hieß Pater, die älteste Mater. Diese Aeltesten veranstalteten entweder eine Versammlung in einem Zimmer zum Gebet und Gesang und Krankheitserzählung, oder es wurden, wenn es die Krankheit nicht zuließ, alle Zellenthüren geöffnet und jedes sang und betete auf seinem Sterbebettlein. Alle Zimmer waren in Gemeinschaft. Jede Sterbezelle war auf zwei Personen eingerichtet. In Littera O (alle Buchstaben kommen nicht zu dieser Bezeichnungsehre, der Graf hatte einige, denen er diesen Vorzug erwies), wo ich eben die Thüre zu öffnen mir die Erlaubniß nehmen werde, um einen Accent darauf zu legen, war kurz zuvor eine Sterbenscandidatin gesund geworden, und nun war nur


die Curländerin

in Littera O. Ich bitte, sagte der Graf, und kaum hatte er's ausgesagt, da ich eine Stimme hörte: der Pastor – aus Curland, der Pastor – – aus Curland! Sein Sohn, erwiederte der Graf. Bei aller Lebenslaufsneugierde und Verhörslust, wovon der Graf schon in L – ein Pröbchen zurückließ, war er, wie wir schon wissen, nichts weniger als zudringlich. Der Ausruf: der Pastor – – aus Curland, den der Graf verbesserte und stehenden Fußes ins Reine brachte, hatte meine Neugierde ebenso wie die des Grafen in Bewegung gebracht. Die Curländerin hatte so was Liebevolles im Auge, da sie rief, daß sie Strahlen aus ihren Augen warf; die Augenbraunen gingen so schnell in die Höhe, als wenn man Fenstervorhänge durch Schnellfedern zieht. Ein Romanheld würde die Neugierde seiner Leser und Leserinnen noch wenigstens [62] ein paar Seiten erhitzen und ihnen alsdann einen Labetrank geben, so ungesund es gleich ist, in voller Hitze zu trinken. Ich sage geradezu: die Krippenritterin, verstoßen, verworfen von ihrem Ehemann und im Begriff irgendwo den Tod zu suchen. Gottlob, setzte sie hinzu, da sie diesen Umstand erzählte, daß der Tod mich ohne mein Verdienst und Würdigkeit bei Ew. Hochgeboren in Empfang nehmen will. Ich bitte, fiel der Graf ein, Hochgeboren weg. – – Hier zu Lande sind wir nur schriftlich Hochgeborne. Ich dachte bei dieser Gelegenheit an den Ordensengel und die Wappen und die Federbüsche. Dieser Eingriff setzte die Curländerin in eine kleine Unordnung; nach einigem Stillstande fuhr sie fort: so ein schönes Rendezvous war ich vom Tode nicht erwartend. Sie dankte dem Grafen mit einem Blick, daß ich völlig einsah, wieviel sie mit ihrem Auge vermochte.

Ich will ihre Geschichte in tertia persona geben, ohne zu bemerken, ob ich die Umstände von ihr selbst oder vom Grafen empfangen Ihre Schicksale waren höchst traurig. Der Ritter hatte wirklich Neigung zur jüngsten Tochter des Pastors L –. Die Ohrfeige gab den Ausschlag. Er hatte in Curland nichts zu verlieren als mensam ambulatoriam, zu deutsch Krippenritt, und da Pastor L – von jeher seine Geberde so zu verstellen wußte, daß man ihn reich hielt, kostete es dem Krippenritter wenig Mühe, seinen Freunden Tisch und Krippe aufzusagen. Ihre Anzüglichkeiten gegen ihn, somit sie ihm alles versalzten, was er genoß, nachdem er geschlagen war, bestimmten ihn völlig. Der Weinstock seiner Gönner war ihm des Weinstocks zu Sodom und von dem Acker Gomorra. Ihre Trauben waren ihm Galle, sie hatten bittere Beeren. Ihr Wein war ihm Drachengift und wüthige Otterngalle. Worte, über welche der Casuist Pastor L – seinem Schwiegersohne eine Abschiedspredigt hielt, und sich wegen zeither genossener Höflichkeiten im Namen desselben bei seinen Tischfreunden bedankte, obgleich [63] in Curland Weinstock und Trauben etwas Wildfremdes ist. Zu lesen im 5. Buch Moses im 13. Capitel im 32. und 33. Vers, sagte der Prediger aus L – und freute sich, daß er, so alt er wäre, noch so gut treffen könne.

Der alte Herr spielte im figürlichen Verstande zu der Predigt des Casuisten. Er gab dem neuen Ehepaar durch einige Reimlein das Geleite. Die Curländerin brauchte den Ausdruck: er bestreute diesen Weg mit einem Pasquill und da sie alle Beilagen zu ihrem Lebenslauf aufgeblättert hatte, fand sie diese Beilage A. mit einem Griff, womit ich meine Leser aber nicht belästigen will.

Ein Reimschmied war gewöhnlich die andere Hand des Hermanns. Aus Höflichkeit nannte er ihn seine rechte Hand. Selten war er ohne eine solche andere oder rechte Hand. Ein paar Strophen:


Was hat in dieser letzten Zeit

Ein Pastor über Fingerbreit?

Den Beichtstuhl, arme Sünder,

Und, wenn zu Haus es wohl gedeiht,

Ein ganzes Häuflein Kinder!


Wie aber Sie? – Halt! us hat e

Achtbarer Herr Präposite

Zu Mosen und Propheten? 1

Und bei der Zeiten Ach und Weh

Zu Pauken und Trompeten?


* * *

[64]
Ein Jüngferchen wird gnäd'ge Frau;
Des Pastors Trinchen kommt zum V.
Auf ungebahntem Wege.
O Wunderworte! braun und blau,
Schlag über alle Schläge!
* * *

Ist Ende gut, ist alles gut!
Das neue Paar zieht wohlgemuth
Mit Bibel und mit Degen.
Der Herr Gemahl hat adlich Blut,
Und Sie des Vaters Segen.

O des Hermanns und seiner andern Hand! Meine Mutter, wie wir alle wissen, war keine Freundin ihrer Nebenbuhlerin, und alle Reimlein fein waren ihr ein süßer Geruch. Was würde sie indessen zu diesem Auswuchs gesagt haben? »So wie Christus der Herr unter Mörder kam, so auch oft die Dichtkunst, diese edle Gabe Gottes. Die Sonne geht auf über Fromme und Gottlose, und der Regen fällt über Gerechte und Ungerechte.« Sie nannte sonst die Poesie etwas, was der liebe Gott seinen Lieblingen in die Hand stecke, ohne daß es andere merken. – Was kann der Geber dafür, setzte sie aber hinzu, wenn der Schlingel in der nächsten Schenke seine Gabe versäuft? – Doch von allem dem ist schon sonst gepredigt worden.

Hermann – – warum vorderhand von ihm auch nur ein einziges Wort?

Der Ritter erhielt vom Pastor L – so viel als das Haus vermochte. Ein Schelm gibt mehr als er hat. Der Pastor L – that sich wehe seines hochwohlgebornen Schwiegersohns halber, seine [65] andere Tochter litt Noth dabei; sie starb im Hospital. Unser Ritter hatte nie Gelegenheit gehabt, Debet und Credit in seiner eigenen Angelegenheit abzuschließen, indessen verstand er doch zu übersehen, daß die Mitgabe nicht hochadelich zugeschnitten wäre. Er entschloß sich also zum Incognito, wo es, wenn nur eine reiche Weste hervorsticht, aufs Kleid nicht ankommt. Der Ritter beschonte seinen adelichen Namen und legte sich wohlbedächtig einen unadelichen bei. Das junge Paar lebt' also in bürgerlichen Ueberkleidern in – – einem preußischen Städtchen, und verzehrte bei einer friedlichen Ehe alles, was es hatte. Die Ritterin fand Ursache, ihren Gemahl für ein gut Spiel in der Hand zu halten, wobei es zwar noch immer auf den Spieler ankommt; da sie indessen des Dafürhaltens war, daß sie sich schon in die Zeit zu schicken im Stande seyn würde, so lebte sie sorgenlos froh, das heißt seliglich. – In dieser glücklichen Periode hatte sie keine Kinder. Die Anzeige, daß ihr Vorrath zum Ende ginge, bracht' ein Nordwind zuwege, der lange anhielt, wie die Nordwinde gewöhnlich zu thun pflegen. Was war zu thun? Unser Ehepaar entschloß sich zur Hauptstadt, und nach mancherlei Hin- und Her- und Ueberlegen wollte der Ritter französischer Sprach- oder Tanz- oder Fechtmeister werden, obgleich er sich schließlich als Sprach- und Tanzmeister bei der Universität Königsberg für Geld und gute Worte eintragen ließ. Es waren ihm Kleinigkeiten, daß er so wenig tanzen konnte als parliren. Im Fechten war er zwar in naturalibus; indessen hätt' er doch eher als Fechtmeister als wie ein andrer Meister die Zunft gewinnen können. Er war indessen wegen einer natürlichen Herzlosigkeit auf diese edle Kunst gar nicht fundirt. Der Teufel, glaubt' er, könnte sein Spiel haben, wie er's oft hat. – Da unser Krippenritter ein Mann war, der sich in allem, selbst bei einer Ohrfeige, wie uns bekannt ist, zu finden wußte, so half er sich aus und brachte es dahin, daß er in beiden schönen Wissenschaften, denen [66] er den Eid der Treue abgelegt, das Gewöhnliche leistete. Vom Französischen haben meine Leser am Wörtchen rendez-vous eine Probe, das er sogar auf seine Frau fortgepflanzt hatte.

Unser Meister zweier brodgebenden Künste hatte ein Gedächtniß, das er auf curische Manier ein Pferdsgedächtniß hieß, und was brauchte er mehr, als ein Lexikon, wozu er in kurzem Rath schaffte. Nun war er fürs Haus ausstaffirt. Die Kunst verräth den Meister nicht. Er hatte gelehrt und gelernt, den Acker cultivirt und sogleich Samen auf den Boden gestreut. Doppelte Schnur reißt nicht. Diese Methode erforderte Fleiß und Häuslichkeit, und das ist der Grund und Boden einer glücklichen Ehe, worüber unsere Ritterin, nachdem sich der Nord gelegt hatte, nicht klagen konnte. »Jetzt, da ich weniger Brod hatte, erhielt ich mehr Zähne und mehr Magen. Ich schenkte meinem Manne einen Sohn und eine Tochter.« Unser Meister mußte bei seinem sauren Wein der Sprach- und Tanzkunst verschiedene Kränze aushängen. Er zog die studirende Jugend mit Rath und That an sich. Die That bestand in Cautionen, die er für seine Leute, vom Professor an bis zur Wäscherin, einlegte. Man nahm ihn überall, seiner Frau und Kindes halber, als Bürgen an. Der Hauptkranz, den er aushing, war sein Incognito. Er zeigte zuweilen den Schimmer seiner Weste und bedeckte sogleich wieder diesen Sonnenglanz durch die Verfinsterung seines Bürgerrocks. Man wird selten einen Sprach- und Tanzmeister finden, der nicht Menschenblut auf sich sitzen hat, und so hatte auch unser Sprach- und Tanzmeister einen Gewissen im Duell erstochen, um mit Blut seine Frau zu lösen. Für einen Mann, der Sprach- und Tanzmeister zusammen in einer Person war, ist es sehr bescheiden, daß er nur einen, und nicht für jede Kunst wenigstens einen, ums Leben gebracht; obgleich dieser Eine gewiß sich gottlob besser befand, wie er. Leute, die den Pfiff verstanden, schätzten die Schonung des unschuldigen Menschenbluts und die Bescheidenheit [67] unseres Tanzbären und Deutsch-Franzosen. Die es aufs Wort glaubten, sahen die mit kostbarem Menschenblute gelöste Krippenritterin so steif an, daß sie roth werden mußte. Ich bin als Gast in ein paar französischen Stunden des Krippenritters gewesen, und muß nach einem L.B.S. ihm ein Zeugniß mit Obgleich geben. Ob er gleich durchs Lehren wirklich gelernt hatte, so wollte mir doch verschiedenes nicht in Augen und Ohren, Vernunft und alle Sinne.

Unser Ritter fing an warm zu werden; ich glaube das wird kein Deutscher, wenn er nicht französisch kann. Er ließ es seinem Weibe empfinden, daß sie ihn bis zu Trebern erniedrigt hatte, wie er sich, weil sie Pastors Tochter war, biblisch ausdrückte. Du hast ja gottlob ein gutes Lexikon, erwiederte sie in edler Unschuld; allein der Krippenritter hatte aufgehört Unschuld zu fühlen. Es war nicht zu läugnen, daß es nicht immer Füchse gab, die Füchse hatten (ein paar akademische Ausdrücke, die ich so frei, wie die Curländerin sie brauchte, meinen Lesern abgebe; Füchse heißen Dukaten und einjährige Studenten), allein dieß war nicht der Hauptgrund seiner Ausgelassenheit. Es hatte sich ein Liebeshandel zwischen ihm und der Mutter und Tochter eines wohlachtbaren Mannes auf dem Tanzboden angesponnen; dieß setzt' ihn zurück, und war die Hauptursache von allem. Unser Ritter legt' es seinem armen Weibe nahe, daß sie den Weg des Fleisches gehen sollte, den er ritterlich ging; es ist, setzt' er hinzu, der Weg alles Fleisches. Nicht also, erwiederte die Curländerin. – Also, also, rief er. Ein unmenschliches Also! Der Tyrann entzog seinem Weibe alles, was zur Leibesnahrung und Nothdurft gehört; den letzten Bissen Brod. Seine Kinder, die nach Speise jammerten, störten ihn nicht in seinem Lustschloßbau, wo er mit seinen Prinzessinnen in Gedanken sich weidete. – Ich will heute, sagte der Kleine eines Abends, aufbleiben, um dem Vater die Füße zu küssen und ihn zu bitten. Was denn? fiel die Mutter ein. – Das könnt Ihr wohl rathen [68] (es war alles Ihr und Ihr). Die Mutter weinte; denn sie wußte wohl, daß der arme Jacques gern noch eine Semmel gehabt hätte. Jackchen schlug sich mit dem Schlafe und hatte einen desto schwereren Stand; denn ihn hungerte, weil er den Schlaf überwunden hatte. Der Vater kam um Mitternacht und, wie es aus seiner Art Gepolter den Anschein hatte, fröhlich und guter Dinge heim. Der liebe kleine Junge kroch im Finstern (zu Licht war kein Dreier im Hause) zu seinen Füßen. Was da für ein Hund? rief der Unvater. Dein Hündchen, lieber Vater, sagte Jackchen. Er: »Fort!« Der Kleine: »Gleich, lieber Vater.« Warum läßt dich die Mutter herumkriechen? Auf diese Aufforderung gab das arme Weib, das sich schon längst in ihr Schlafkämmerlein zurückgezogen hatte, keine Sylbe. Der liebe Junge erzählte mit einer himmlischen Leichtigkeit, daß er sich des Schlafs erwehrt, und daß er seinen Vater etwas zu bitten hätte, was seine Mutter nicht hören dürfte. Vielleicht wacht sie noch, fuhr der Kleine fort, hebt mich an Euer Ohr, oder neigt Euch zu mir. Der arme Junge bat den Vater ganz leise, seiner Mutter zwei Semmeln zurückzulassen. Wir beide, setzt' er hinzu, meine Schwester und ich, werden, wie ich hoffe, satt werden, wenn wir Mutterchen essen sehen. Diese fußfällige Bitte beantwortete der Vater mit einem Stoß und dem Ausschrei: Comödie! Vortrefflich! Madam hat nicht einmal nöthig zu souffliren, brummte er hinterdrein. Das arme Weib verlor über diese Geschichte den letzten warmen Tropfen Fassung, und unserm Jackchen (ich will ihn lieber Jakob nennen) spielte der Schlaf den Streich, daß er kein Auge schließen konnte. Die Mutter schluchzte und der kleine Junge weinte so bitterlich, so, daß er bis Morgens um fünf darüber vergaß, daß er hungrig war. – Die Curländerin lebte mit ihren Kindern von ihrer Hände Arbeit. Das Mädchen mußte spinnen und Jakobchen die Wolle auseinander ziehen. Sie wollte eher ihren Ismael und seine Schwester Hungers sterben sehen, als [69] auf unrechtem Wege Nahrung und Kleider suchen. Sie erfuhr in Wahrheit, daß der Mensch nicht vom Brod allein lebe, sondern vom Worte aus dem Munde Gottes, vom Bewußtseyn, recht und richtig zu wandeln. Ich war nie böse, sagte sie, allein mein trauriges Schicksal brachte mich weiter; ich ward fromm, gut, so wie es Menschen sehn können. Ein gewesener Sprachschüler hatte schon zur Zeit des genommenen Unterrichts ein Auge auf sie geworfen, ohne daß sie dieses Auge auf ihren Wangen, geschweige an ihrem Herzen empfunden. Jetzt glaubte der gewesene Sprachschüler beide Augen auf sie werfen zu können. Um indessen desto sicherer zu gehen (er kannte ihre Denkungsart), mußte seine Base, die in der Familie kuppelte, es mit der Ritterin freundschaftlich anbinden. Diese Base war in einen Engel des Lichts gekleidet, und wenn auch vielleicht zuweilen ein schwarzes Fleckchen hervorkam, wie hätte es wohl unsere Curländerin sehen können? Verliebte haben mit guten Seelen eine gewisse Denkungsart gemein; jene lieben alles, diese halten alles für ihres Gleichen. Die Geschenke, womit die Base der Nothleidenden auf eine so gute Art zuvorkam, machten sie blind, wie doch Geschenke sogar die Weisen blind machen und die Sachen der Gerechten verkehren. Der Knoten war geschürzt, und der Buhler fand sich eines Tages bei Frau Basen ein, und von Stund' an, so oft die Curländerin zur Base ging. In geraumer Zeit sah sie das Netz nicht, das zu ihrem Fang ausgebreitet war. Einst aber küßte dieser Buhler die Kinder der Curländerin so verliebt, daß die Wangen der Mutter aus Scham glühten. Vielleicht wär' es ihr weniger bedenklich vorgekommen, wenn er nicht noch obenein die Kinder dießmal, da er küßte, so reichlich beschenkt hätte, daß die Curländerin ganz deutlich sah, worauf es herausging. Die Sache kam dem fünften Akt immer näher, und Frau Base deckte jetzt so wenig ihre schwarzen Flecken, daß sie über und über kohlschwarz erschien. Sie brachte, um recht ordentlich und bedächtig zu [70] Werke zu schreiten, ein Pakt in Vorschlag. Die Curländerin, die ihr Herz ehemals in ihren Händen getragen, schloß und verriegelte es jetzt, brach mit Frau Basen, sandte die Geschenke zurück, welche die Kinder erhalten. Die mit buhlerischen Küssen befleckten Kinder wusch die Mutter mit frischem Wasser aus dem Brunnen vor ihrem Fenster. Die Kleinen weinten über ihren Verlust, allein ihre Mutter tröstete sie mit süßen Worten. Das arme Weib wußte nicht, was man vorhatte. Man drohte, da Bitte nicht helfen wollte. Es enträthselte sich, daß Frau Base nur die Geschenke spedirt hätte, die jetzt zurückgefordert wurden. In welcher Seelennoth sah sich die Curländerin. Sie rang die Hände, entdeckte sich ihrem Manne, der zum erstenmal im Jahr (es war im November) lachte; allein er lachte so, daß noch nie so schrecklich gelacht ist, seitdem der Teufel lachte, da Adam und Eva so dummköpfig fielen. Der Satan war lichterloh in ihn gefahren. Sie sprach Leute an, allein vergebens. Sie hatte von einem reichen Manne gehört, von dem man sagte, daß er zuweilen einen guten Augenblick hätte. Sie ging, fand ihn beschäftigt; er nahm sich Zeit, sie anzuhören. Sie mußte ihm ihre ganze Geschichte erzählen. Da sie am Ende war, fragte er sie mit einer Gelassenheit, die mit dem Lachen ihres Mannes sehr nahe verwandt war, ob sie hypothekarische Sicherheit hätte? Nein, antwortete sie. Nun, jede Noth findet ihren Trost, fuhr der reiche Mann fort, so werden Sie einen Biedermann finden, der Bürgschaft für Sie leistet. Die Curländerin bat ihn, dieser Biedermann selbst zu werden; allein er erklärte ihr nach Rechtsgrundsätzen, wie er bei sich selbst nicht Bürge sehn könnte. Ich führte die große Bürgschaft an, sagte die Curländerin, die Gott sich selbst geleistet hatte – allein er meinte, diese Sache wäre zu heilig, um sie auf irdisches Geld und Gut zu deuten. – Schließlich gab er ihr das Geleite bis zur letzten Stufe und befahl sie Gott. Eben dacht' ich, fuhr die Curländerin fort, wenn Gott die Menschen [71] auch nach Hypothek fragen, wenn er mit ihnen verfahren sollte, wie sie unter sich – als ich ohnmächtig hinsank, und noch jetzt nicht weiß, wie ich in ein Haus in der heiligen Geiststraße gebracht worden. Sie fand sich, da sie erwachte, in den Händen einer alten Frau und eines jungen Mannes. Dieß brachte sie zum Schrei, denn sie stellte sich die Base und ihren Vetter vor; allein sie erfuhr, daß es Schwiegermutter und Schwiegersohn waren. Sie war in ihrer Erzählung noch nicht bei der Hypothek, als diese Mutter und Sohn sich ansahen und den Blick schnell abbrachen. Ein Blick, sagte die Curländerin, der mir wie ein Sonnenstrahl tief in die Seele schien. – Die Tochter der Alten, die Güte selbst. – Die guten Leute ließen die Kinder der Curländerin holen und gaben ihnen zwei Tage zu essen und zwei Nächte Betten zu schlafen. Dieser Schlaf war mir ein Vorschmack des Todesschlafs, so süß, sagte die Curländerin. Nun kam sie in ihr häusliches Elend, allein sie fand ihren Mann nicht mehr; sein Auszug hatte keine Stunde erfordert. Ein jämmerliches Bett, mehr war nichts nehmenswerth, und eben dieß fehlende Bett zeigte seine Entfernung an. Sie warf sich auf die wüste Stätte, wo sein Bett gestanden, nieder und wollte beten, da ihre Thür aufging und eine weibliche Gestalt erschien. So trug der Engel dem Elisa Essen, wie diese Gestalt ein im weißen Tuche verknüpftes – Wer? Wie? Wo? Weg war die Trägerin. Die Beterin lösete auf, fand das Geld für den Bösewicht und noch darüber. – Da blinkerte der Blick vor ihren Augen, der ihr in der heiligen Geiststraße in die Seele strahlte. – Diesen Abend dankte sie Gott, den folgenden wollte sie ihren Errettern in der heiligen Geiststraße danken, allein sie fand niemand im Hause. Die Nachbarn versicherten, daß die gewesenen Einwohner über Land gezogen, wohin, wüßten sie nicht. Sie haben's im Himmel zu gut, liebe Freundin. (Bald hätte der Graf Schwester gesagt, das war sie noch nicht.) Wehe der Stadt, [72] die solche Leute verlassen! Ich dachte an Lot und seine Familie, fuhr die Curländerin fort. – – – Doch warum diese Weitläuftigkeit in wörtlicher Nacherzählung? Der Vetter und seine Base wurden von Heller zu Pfennig befriedigt, das übrige im Bündel war kein Oelkrüglein, allein es war Spargeld in den Tagen der Krankheit, womit Gott unsere Curländerin heimsuchte. Ihr Töchterlein starb an den Blattern, Jakob aber, ein rüstiger Junge, der es selbst mit dem Schlaf anzubinden sich getraute und den Sieg erhielt, unterlag nicht der Krankheit, sondern starb im eigentlichen Sinn an der Gesundheit, die mehr als die Krankheit forderte. Er überstand die Blattern, allein Mangel der Pflege war die Ursache seines seligen Todes. Er kam mit dem Tode wie mit dem Schlafe zurecht. Eine benachbarte Wittwe brach in dem größten Elend mit unserer Unglücklichen das Brod. Sie hatte einen Sohn, den sie den Bräutigam der kleinen Julie (so hieß die Tochter der Ritterin) nannte. Da aber ihr Sohn mit der Tochter zu gleicher Zeit die Blattern bekam und auch zu gleicher Zeit ein kurzes Leben endete, ward die Wittwe so bitter unwillig, daß sie die Curländerin mit einem Tropfen Wasser vergeben hätte. Ist das der Dank, schrie die Wittwe ohne Aufhören, daß sie mein Kind würgt? Sie begegnete der Curländerin als der Mörderin ihres Sohnes, und wollte nichts weiter von ihr sehen noch hören. Der Schmerz thut mehr als dergleichen Dinge, und auch seltener als der Zorn, was recht ist.

Noch eine Anekdote muß ich einholen, die mich sehr bewegte. Zur Zeit, da ihr Ungetreuer sein Bette noch nicht aufgehoben und sie verlassen hatte, war die Krippenritterin wegen Quartiermiethe sehr verlegen Ostern und Michael war Zinstag und Jammertag, wie sie sagte. Nie konnte sie Zeit und Stunde einhalten. Habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen, war alle Jahre zweimal ihre Bitte. Der Vermiether hatte Geduld: es war ein Leineweber. [73] Einstmals ward ihm die Zeit zu lange; die Weihnachten waren vor der Thür und mit dem Michaeliszins noch kein Anfang gemacht. Der Krippenritter hatte den Leineweber, der ihn in Züchten und Ehren mahnte, ziemlich deutsch abgefertigt, obgleich er französischer Sprachmeister war. Mit einer Frau und einem Leineweber getraute er's sich schon anzubinden. Der Hausherr ward zornig. – Sie kam, und eine spiegelblanke Thräne stand ihr im Auge. Der zornige Hausherr sah sich in dieser Thräne und fand seine Geberden verstellt; denn er hatte es auch mit ihr zum Scheltworte angelegt. Plötzlich ward aus dem Saulus ein Paulus Liebe, gute Madam, ich bedauere Sie. Freilich, Sie sind unschuldig, aber er – ein böser Mann. Sie seufzte in die Höhe; die Thräne blinkerte. Nach ein paar Worten fing er an: Laß gut seyn! So lange ich lebe, hören Sie? so lange ich lebe, sollen Sie in meinem Hause wohnen und sich Ostern und Michael (ein paar schöne Feste!) nicht mehr durch die Frage verderben, wo die Miethe? frank und frei! Der Leineweber konnte die Worte: frank und frei, vor Bewegung nicht laut herausbringen, er sprach sie gebrochen, das heißt, die meiste Zeit, herzlich. Sie wußte nicht, wie ihr geschah. Die dießjährige Michaelismiethe, fuhr er fort, zum heiligen Christ für ihr Jüngstes; das war Jakobchen. – Gott! mehr konnte sie nicht; sie wollte den Geber anfassen und ihm danken – man faßt gern an, wenn man dankt – allein noch ehe sie dazu kam, legte der Wohlthäter beide Hände auf den Tisch, eine auf die andere, den Kopf langsam darauf und – wer hätt' es denken sollen? – starb. – O glücklicher Leineweber, dein Lebensfaden, wie schön ist er zerrissen! Du bist lebendig gen Himmel geholt. Solch ein Tod! – Das nenn' ich sterben! sagte der Graf, der Todesangst und Noth unerachtet, wovon ich unsern Seligen nicht loszählen kann.

O du, der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt [74] wieder, Menschenkinder! Ich bin zu geringe, wie jener Märtyrer den Himmel offen zu sehen; laß mich, laß mich nur mit einer solchen That, wie dieser, dahinscheiden! Konnte Gott diesen großen Thäter mehr belohnen? Nicht wahr, der starb in einer seligen Stunde? Gott schenke sie mir und allen, die solch eine Thräne verstehen. Amen!

Hiermit wäre diese Leinewebergeschichte für den Himmel zu Ende, allein für die Erde bei weitem nicht. Die frohen Erben verstanden sich so auf Thränen nicht, als unser Leineweber. Das Versprechen: So lange ich lebe, war mit seinem Tode abgelaufen, das verstand sich von selbst; allein der Michaeliszins? Auch den mußte die Curländerin einbüßen, oder ihr Jüngstes –

»Denn es ist mit nichts bescheinigt, daß eine dergleichen Schenkung vorgefallen, vielmehr sind alle Umstände dawider. Defunctus hat zu verschiedenenmalen den Zins im Guten und Bösen verlangt, und ist nicht abzusehen, warum er so schnell seine Gesinnungen ändern sollen. Es ist unter dem vorschriftsmäßig schriftlich errichteten Miethskontrakt diese Schenkung mit keiner Sylbe bemerkt, vielmehr findet sich weder hinter dem Miethskontrakt, noch sonst wo, eine Quittung wegen des angeblich verschenkten Zinses. Niemand hat die Schenkung entgegengenommen, und können die vorgeschützten Worte: ›Die dießjährigen Michaeliszinsen zum heiligen Christ für ihr Jüngstes,‹ wenn sie wirklich vorgefallen, auf verschiedene andere Weise gelenkt und ausgelegt werden, zu geschweigen, daß kein deutlicher Sinn herauszubringen und daß das Hauptwort: Schenkung, gänzlich fehlt. Der so plötzlich darauf erfolgte Tod läßt vielmehr vermuthen, daß, wenn Defunctus sich ja wirklich (welches doch an sich zu bezweifeln) dieser Worte bedient, er schon ohne Bewußtseyn gewesen. Defunctus hat, wie es zugestanden ist, sich jederzeit und auch nur kurz vor seinem Ableben gegen den Mann bitter ausgelassen; und [75] würde es wohl der Ehegattin Ehre machen, wenn sie sich mit eben demselben Mann so gut gestanden? Auffallend ist's, daß sie durch diese Schenkung ihre eigene Schande veroffenbaret. Dergleichen Personen versagen die Rechte allen Glauben, sowohl nach den gemeinen als den statuarischen Rechten.«

Das war ungefähr der Inhalt zu einer Sentenz, die uns die Curländerin sub B. in copia authentica vorzeigte. Ich mag nicht weiter abschreiben, mir ekelt vor dieser losen Speise.

O der feinen, spinnwebfeinen, nadelspitzen Gerechtigkeit! sagte der Graf. Wie oft hab' ich mich in meiner Jugend der heiligen Justiz angenommen und den Kopf geschüttelt, wenn Priester und Küster, Präsident und Notarius in öffentlichen Lust- und Trauerspielen dem Volke zum Spektakel aufgezäumt wurden; nach der Zeit sah ich ein, und wer sieht's nicht, daß man ihr nicht zu viel, sondern zu wenig thue. Der Fehler ist, man behandelt sie bei ihrer Feinheit zu handgreiflich. – Mit demselben Maße, womit sie misset. – Doch weh', weh' ihr, wenn der Richter aller Welt sie messen wird! – Die Curländerin behielt die Sentenz zum Sterbekissen, und wahrlich, auf solch ein Urtheil den Kopf gelegt, muß sich leicht sterben, fast so leicht, wie der Leineweber auf seiner eigenen Hand. Wie aber, der solch eine Sentenz formte? – Richtet nicht! – Eine von des Leinewebers Erben war ein niedliches Mädchen, das ein Rath aus dem Ober-Collegio nicht sauer ansah. Ich weiß nicht, ob und in wie weit dieser Umstand auf die gemeinen und statuarischen Rechte einen Einfluß gehabt. O der wächfernen Nase! rief der Prediger, und dachte an das Promemoria des Justizraths. Der Graf beschloß: Wenn die Christen zur heiligen Christzeit solche Sentenzen machen! Der Judenjunge und Benjamin fielen mir ein, jener in Ketten, dieser wie er dreimal um den Tisch hinkt.

Dieses Sterbekopfkissen war nicht das einzige, das unsere Curländerin [76] sich unterzulegen im Stande war; sie konnte noch weicher liegen. Ihr Ehemann war entschlossen, die Tochter quaestionis zu heirathen. Die Mutter quaestionis glaubte, bloß ihret-, der Mutter halber, die Tochter bildete sich ein, es besser zu wissen. Der Ritter gewann zusehends bei diesem Spiel und ließ die Mutter glauben und die Tochter sich einbilden, was jedes wollte. Er mußte, ehe aus ihm und der Tochter ein Paar, und die Mutter zugerechnet, ein Dreiblatt werden konnte, von seiner vorigen Frau, nach der Sitte im Lande, geschieden werden. Es ist ein Gräuel in Preußen zwei Weiber zu gleicher Zeit haben, allein ich habe einen Mann gekannt, der zwei Frauen, von denen er geschieden war, bei sich hatte, die dritte ungerechnet, mit der er aber priesterlich verbunden war. Es kommt alles auf die Form an. – Gott, der du Mann und Weib, Adam und Eva schufst!

Der Bräutigam schrieb an seine Frau einen schrecklichen Brief, er beschuldigte sie der schwärzesten Laster und trug es ihr als eine Großmuth an, daß er sich aller Beahndung in bester Rechtsform begeben wollte, wenn sie gutwillig, unter dem Vorwande, daß eine Todfeindschaft sich zwischen sie ins Ehebett gelegt, in die Trennung willigen würde. Das arme Weib, die sich ihrer Unschuld bewußt war, antwortete ihm, wie er's mit seinen Sünden verdient hatte, und nun der Weg Rechtens! Ein kleiner, schielender Bube, der Rath des Ehegerichts (ein Verwandter von dem Hause, mit dem der Ritter ehelich und unehelich verbunden war und werden sollte), war Kläger, Richter, Henker. Er entwarf die Eingaben, referirte, erkannte und trieb sein Werk, wie die feinsten Bösewichter, so öffentlich, daß er mit dem Ritter vor aller Welt Augen ging und stand, aß und trank. Unserer Beklagten ward ein Anwalt ex officio zugeordnet, dem sie den Schaden Josephs entdeckte; indessen that dieß Männchen nichts weiter als die Achseln ziehen. Mit einem Steuermann des Collegii, eines Armenparts wegen, einen Speer [77] brechen, verlohnte der Mühe nicht. Der Kläger nahm aus der Beilage sub B Gelegenheit, die Beklagtin eines verdächtigen Umgangs mit dem Leineweber zu beschuldigen. Die Base ward zur Zeugin laudirt, daß sie Geschenke von ihrem Vetter angenommen, die sie wieder zu erstatten wäre gezwungen worden. Ihr Lebenswandel, behauptet der Bösewicht, sey schon vor der Ehe verdächtig gewesen, und eben dieses Verdachts halber hätte sie mein Vater (wie unschuldig man in Akten prangen kann) recusirt. Die zwei Tage und Nächte, die sie bei den Engeln in der heiligen Geistgasse gewohnt hatte, wurden als eine bösliche Verlassung (malitiosa desertio) ausgegeben. Sie ward als eine Verschwenderin dargestellt, und wenn alle diese Stricke reißen sollten, ward eins (ein Galgenstrick) angebunden, das über alles ging, die liebe Todfeindschaft. Wohlbedächtig verschwieg der Herr Ehekläger die Ohr –, die er vor der Ehe aus guter Hand erhalten, allein er erwähnte, wie oft er nothgedrungen gewesen, Hand an sein Weib zu legen und sie sich von Leib und Seele zu halten, wenn sie als eine Furie Feuer gespien. – Er hatte wirklich, unfehlbar dem Beirath des Klägers, Richters und Henkers zur gehorsamsten Folge, ihr das erste Liebesband, die Ohrfeige, mit vielen wucherlichen Zinsen erstattet. Die Sentenz war in den besten Händen. Der schielende Bube setzte sich auf den Richtstuhl an der Stätte, die da heißet Hochpflaster, ja wohl Hochpflaster, auf hebräisch aber Gabbatha. Sie wurden geschieden, und da es keiner Auseinandersetzung sowohl wegen Kinder als Vermögens bedurfte, weil nichts von beidem da war, so wurden der Beklagten in der Sentenz ihre Bosheiten und Herzenstücke aufs nachdrücklichste verwiesen und sie zwar für diesesmal und, wie es hieß, vorzüglich um den Namen ihres gewesenen Mannes zu schonen, von einer öffentlichen Gefängnißstrafe befreit, indessen fürs künftige angewiesen, sich eines christlichen, eingezogenen Lebenswandels zu befleißigen. – – O du sanftes Kopfkissen im [78] Sterben! – Soll ich appelliren? fragte der Advokat, und eine Thräne fiel ihm auf die Abschrift, die er in Händen hielt. (Er war nur im ersten Jahr in der Praxis.) Nein, sagte sie, Sie nicht, ich werde appelliren, ich, und sah gen Himmel. Wenn der arme Schelm von Advokaten doch ein anderes Handwerk gewählt hätte! Ich habe nichts, sagte die Curländerin, was ich Ihnen anbieten kann, als hier diese Bibel von meinem Vater (sie hatte silberne Clausuren –). Wäre sie nicht in Silber, wie willkommen sollte sie mir aus Ihren Händen seyn, erwiederte der Advokat. Nun hatte die Curländerin nichts, was einen Rückblick nach Sodom veranlassen können, wenn sie auch Madam Lot gewesen wäre. Sie war sicher, daß sie keine Salzsäule werden würde. Der Weg nach der heiligen Geistgasse, den sie dreimal auf- und abging, war ihr letzter in Königsberg. Sie weinte bei diesem Auf- und Abgang dankbare Thränen, die besten, die man weinen kann, und nun? wohin Gott wollte! Mine ging in ein Land, das Gott ihr zeigen würde. – Die Curländerin hatte, wie sie sagte, zum Glück etwas aus dem gutthätigen Wörterbuch gelernt und wollte mit ihrer Wissenschaft wuchern. Nicht auf die Saat, sondern aufs Gedeihen kommt's an. Ich für mein Theil, sagte der Graf, würde meine Kinder eher von Ihnen als von einer Französin, die nur eben geraden Weges von Paris kommt, im Französischen unterrichten lassen, wenn ich Kinder hätte, fügte er nach einer Weile hinzu, und das so gerührt, daß – Er selbst weinte nicht. Indessen war der Geist bei unserer Curländerin willig, das Fleisch aber schwach; sie erreichte mit genauer Noth ein Wirthshaus, wo man sich bloß des Lagers wegen das letzte Bischen Sachen zueignete, das sie mittrug. Man nahm sogar ein Bündel französischer Vocabeln, die sie sich als ein Viaticum ausgeschrieben hatte, weil sie in Goldpapier genäht waren, in Zahlung. Die Sentenzen und andere Papiere ohne Goldpapier ließ man ihr. O die Unglückliche! [79] Sie verlor mit den Vocabeln auch die Herzhaftigkeit, in der Sprache Unterricht zu geben. Hand an sich zu legen, wer kann das? Die Hungersnoth, dachte ich, wird ohne dein Zuthun dich erlösen, und ärgerte mich, daß mich nicht hungerte. – Solch ein Hungerswunsch ist das schrecklichste, was man sich denken kann. Die Todesfurcht ist natürlich, und mich dünkt, man sey immer übler dran, wenn man den Tod wünscht als wenn man ihn fürchtet. Da traf sie einen Menschen, der nicht Oel, nicht Wein in ihre Wunden goß, sondern sie zum Grafen brachte, und da der Graf auf eine Kleinigkeit zur Erkenntlichkeit es nicht ansah, wenn die Todescandidaten, wie er sich auszudrücken pflegte, des Sterbens werth waren, so machte dieser Priester und Levite (ein Samariter war er nicht) keine unrichtige Speculation. Nun sind wir an Ort und Stelle.

Das war in kurzem der Lebenslauf der Antagonistin meiner Mutter. Ich konnte dem Grafen noch verschiedene Auskünfte zu diesen Erzählungen zureichen, und das war ihm ein Fund, den er zu schätzen wußte. Die Curländerin bat mich, nach Curland zu schreiben, wenn sie gestorben seyn würde.

Gott kann Ihnen helfen, fiel ich ein.

Durch Tod oder Leben! fuhr der Graf fort; denn wenn er gleich keinem die Sterbestunde anzeigte, so war er doch sehr entfernt, bei seinen Patienten den Worten Tod und Grab auszuweichen. Man muß, wenn man frisch, gesund und stark ist, auf Tod und Leben gefaßt seyn, fuhr er fort, und wenn man krank darnieder liegt, allein auf den Tod. Wenn die alten hochadelichen Häuser die schon gestorbene, verschiedene Hand der Curländerin jetzt gesehen, die sie ihr zu einer Zeit rund abvotirten, obgleich andere mehr bewanderte hochadeliche Herrschaften sie ihr gnädigst ließen, wahrlich, sie hätten ihr Urtheil revocirt. Mit den Urtheilen!

Die arme Unglückliche konnt' ihr Gesicht nicht von mir wenden. Gewiß, sagte der Graf zu mir, ist sie Ihrem Vater, dem Sie [80] sehr ähnlich seyn müssen, guter gewesen, als er ihr. Auf diese Art scheint wohl die jüngste Tochter des Pastor L – (der nicht Präpositus ward, obgleich er sich auf den Kopf setzte) Theil am Gastmahl zu haben, wozu mein Vater eingeladen ward, nachdem im Pastorat des verunglückten Präpositus L. in Curland erscholl: mein Vater hätte die Gabe der Enthaltsamkeit nicht. Ob das Ave Maria, der Gruß, den mein Vater dieser Ritterin eher als ihren ältesten Schwestern zuwandte, ober wirklich allmählige Neigung die Ursache gewesen, und viele Ob's und viele Oder's mehr, leg' ich bei Seite. Was konnte das arme Trinchen (diesen Namen erseh' ich aus dem Hermann'schen Pasquill) dafür, daß ihr Vater nach der Weise Melchisedech zum Sprichwort aufbrachte? was?

Um die Observationen über diesen Kometen in der gegenwärtigen Geschichte zu schließen, sey mir erlaubt zu bemerken, daß diese Arme, nachdem sie eingeläutet war und nachdem sie geohrbeichtet, sich er holte. Der Graf hatte den größten Theil dieser Ohrbeichte bis auf meine Anwesenheit gespart. Nach der Zeit fiel sie wieder ein und starb als Schwester des Grafen und seines Jonathans, des alten Bedienten (denn wahrlich, sie hatte den Kelch der Todesnoth allmählig ausgetrunken) sanft, willig und selig, ihres Alters fünfundvierzig Jahre.

Meine Mutter, an die ich diesen Vorfall, sobald der gute Prediger in L – mir ihn meldete, weiter brachte, antwortete mir wie nachfolgt:

Herr, der du sprichst, es geschieht, der du gebeutst, es stehet da, der du Gehet und Kommet in deiner Gewalt hast, gelobet sey dein Name! In Curland und Preußen, für die Wege und Stege, die du mit dieser Geendeten und Vollendeten eingeschlagen! Durch gute und böse Gerüchte, durch mancherlei Kummer und Leiden ist sie zu deinen Freuden eingegangen. – In Unfrieden ging sie aus ihrem Vaterlande, in Frieden fuhr sie zu deiner Herrlichkeit, wo [81] sie ihr französisches Bündel nicht mehr nöthig hat, den Bettelsack. Sie hat mich vielleicht nur im Traume beleidigt, und hätte sie es auch im Wachen gethan, hätt' ich den Schlag bekommen, den ihr Ritter bekam, was nun mehr? Wir sind hier nicht zu schlagen, sondern geschlagen zu werden. Verzeih mir, lieber Gott, wenn ich im Wachen den Traum ihr übel nahm. Ihrer Seele sey wohl unter denen, die gekommen sind aus großer Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und sie helle gemacht. Heil ihr, wenn sie im Namen dessen starb, dessen, der unschuldig lebte auf Erden und auch ein Fremdling war und in Gottes Hand im Himmel seine Wohnung bestellte! Nimm auch ihren Geist in deine Hände, du allgemeiner Vater, du, Preußens und Curlands Vater! Ihrem Leibe Ruhe, er bedarf ihrer! – Ein weiches, ungestärktes Sterbetuch für ihr thränendes Auge – ein stilles Grab! Vollbracht – Uns alle lehre bedenken wohl, daß auch wir des Bleibens nicht haben, müssen alle davon, gelehrt, jung, reich, alt oder schön! Du aber, mein Sohn, schone dich in Preußen, es scheint eine Grube zu seyn, wo alles fällt, was aus Curland ist.

Wenn es nicht mehr leben kann, liebe Mutter! Aus dieser Stelle sollte man nicht schließen, daß meine Mutter ihren Casum setzt und fromm ist – in dem Sinn, wo fromm seyn etwas geistliche Aufgeblasenheit, geistliche Stärke durch Kraftmehl ist, die hart und ansehnlich macht. – Vergib mir, Mutter, wenn ich dir im zweiten Theil zu viel that. Ich that's im Traum, wie Pastors L – Trinchen. Wenn ein einziges empfindliches Herz eine Thräne bei diesem Grabe gemeinschaftlich mit mir weint, so hat die Arme ein schönes Leichenbegängniß. Meine Thräne hat eine schwere Geburt, fast nimmt sie mir das Auge mit. Die deinige, liebe Leserin, falle sanft auf dieses Blatt und diene deiner Tochter zum Zeichen, diese Stelle wieder zu finden, wenn sie ihr nöthig ist.

Alle diese Auftritte, welche uns anderthalb Tage beschäftigten, [82] hatten mich so mitgenommen, daß ich bei einem Haar zum zweitenmal in diesem Buche krank geworden wäre. Doch Krankheit kann ich's nicht nennen, was mich niederriß. Was es war, weiß ich nicht; der Pastor – – in L – meinte, daß dieses Uebel gerades Weges vom inwendigen Menschen, von der Seele, herkäme, welche kein Arzt tödten, allein auch nicht heilen könnte. Er rechnete diese Krankheit zu den Lindenkrankheiten, die oft gefährlicher, oft leichter als die Leibesgebrechen sind. Recepte, Schlagwasserdöschen, meinte er, wären hierbei nicht anzuwenden. – Hier ist Gott allein der Arzt, und sein heiliges Wort Medicin. – Zur Bewegung wäre am Frühlingsmorgen eine sanfte Flur vorzuschlagen; der Waldgeruch sey schon zu stark und greife solch einen Kopf an. Das, sagte der Prediger, ist die Art der Seelenkrankheiten. – Unsere Aerzte curiren oft den Körper, wenn die Seele leidet. – Körperkrankheiten pflegen nicht den Kopf vorbeizugehen, sondern ihm die Ehre zu thun, von ihm auszuziehen in den ganzen Körper weit und breit.

Der gute Pastor! Ich seh' ihn noch, wie bekümmert er war. Es überfiel mich mit einer Ohnmacht. Der Graf schien froh zu seyn, daß es mich so überfiel – natürlich, um einen Sterbecandidaten mehr zu haben; er gab dem Prediger nicht undeutlich zu verstehen, daß, wenn er sich nicht länger aufhalten könne oder wolle, er ihm keine Bitte in den Weg legen würde. Jeder, setzte der Graf hinzu, hat sein Päckchen.

Ich – sagte der Prediger, und konnte nicht mehr.

Beim Ich Punktum? fragte der Graf.

Ich werde diesen Jüngling nicht verlassen.

Auch ich, sagte der Graf, nicht verlassen, noch versäumen.

Gott, wenn er stürbe!

Nun, wenn er stürbe?

Er kann nicht sterben –

[83] Wenn er unsterblich ist.

Gott!

Gevatter, entweder glaubt ihr Herren nicht, was ihr lehrt, oder was ist das Sichtbare gegen das Unsichtbare, das Gegenwärtige gegen das Zukünftige, Zeit gegen Ewigkeit? Ist's denn nicht eine schöne Sache um die Hoffnung? Und der Genuß?

Freilich, der Himmel wird anders genossen als Dinge der Erde. Der Erdengenuß gebiert den Tod, den Ekel.

Der Himmel ist Himmel, ist Genuß ohne Ekel, ohne Tod. Tod und Ekel sind gleichbedeutende Wörter. Gleich und gleich gesellt sich gern. Ein Jüngling wie dieser soll nicht glücklich werden?

Ach, ich habe Kinder, er Eltern, und die zeugten einen Sohn, der ihrem Bilde ähnlich war.

Warum mehr von den frommen Anzüglichkeiten, welche diese beiden Leute, der Graf und der Prediger, aus gleich gutem Herzen auswechselten? Sie schlugen Ball. Der Prediger wollte nicht von meinem Stuhl – und war für mich auf eine so rührende Art bekümmert, daß er seine Abhandlung ganz und gar darüber vergessen zu haben schien. Die Bekümmerniß gefällt am meisten, wenn sie unzeitig, wenn sie nicht an Ort und Stelle ist; daher die Sorgfalt der Weiber, so kindisch sie ausfällt, wie schön! – Auch bei den Männern muß sie weiblich ausfallen, sonst ist sie Furchtsamkeit. – Der gute Vater Gretchens! Er erhielt auf vieles Bitten die Versicherung vom Grafen, daß ich noch nicht eingeläutet werden sollte. Auch (dieß hab' ich alles nach der Zeit vom Prediger) war diese Fürbitte Schuld daran, daß ich nicht in die Todtenliste eingetragen ward, welche der Graf das Himmelsbürgerbuch nannte. So kam ich wieder um's Geläute, wonach ich doch so lüstern war.

Herr, laß ihm noch diese Nacht, diesen Tag, noch drei [84] Tage! sagte der Prediger mit andern Worten zum Grafen, die sich der Graf oft wiederholen ließ, ehe er diese Frist bewilligte. Herr, laß ihn noch! war der Morgengruß des Predigers; denn ich hatte eine elende, lange, lange Nacht gehabt, und der Tag war wie sie.

Der Graf deklamirte für, der Prediger wider den Tod, jener mit erhabener Stimme, dieser mit leiser, schmerztheilnehmender. Nie vergesse ich die gräflichen Worte: Stirbt man denn an der Krankheit, Freund? Vom Leben stirbt man, und wenn unser Liebling (ich liebe ihn wie Sie), wenn er gesund wird, entfloh er dem Tode? Nein, nur der Krankheit. Allen? Nein, dieser. – Eine große Sache!

Der Graf hielt drei Safts bei seinen Kranken, die Untersafts, die Aderbinder und Pulsbeschleicher ungerechnet. Der Arzt, der mich besuchte, wußte, daß er dem Grafen mit einem heimlichen Kopfschütteln einen Gefallen erwies, und schüttelte also, es mochte Gefahr seyn oder nicht. Bei einem Manne wie der Graf, und bei Krankenlagern, die von lachenden Erben umgeben sind, haben die Herren Safts immer gewonnen Spiel, es stehe oder falle.

Der Prediger aus L –, der die Lindenkrankheiten aus Erfahrungen kannte, hatte völlig Recht, daß diesen Ober- und Untersafts meine Krankheit zu hoch wäre. Freilich steckt eine kranke Seele den gesündesten Leib an, alle Seelenkrankheiten sind ansteckend; allein es war Lebensekel, Lebenskummer – Ueberdruß, was mich ergriffen hatte. All' die Gebeinhäuser, in die ich herumgeleitet worden, hatten meine Einbildungskraft so erhitzt, daß ich wirklich nicht todtkrank war, nicht gefährlich krank – aber beides zu seyn herzinniglich wünschte. O Gott, wie sehnte ich mich nach einem seligen Ende! wie nach Minen! Sie war der Mittelpunkt von allem. Ich suchte meinen Tod überall, auf allen und jeden Gesichtern, und wo ich ein Todeswort fand, wie sehr drückte ich's an's Herz! Ich war eigentlich nicht krank, allein ich wünschte es[85] zu werden. Eine der gefährlichsten Gemüthskrankheiten, wenn es nicht im Apostelsinn heißt: Ich habe Luft abzuscheiden. – Gern wollte ich bei Minen seyn, und sollte ich nicht wollen? Nach des Grafen Meinung nicht. In dieser Aussicht sterben, heißt: sich den Tod verderben, ihn mit allem Fleiß verunstalten, ihm den gesunden, natürlichen Geschmack nehmen, englisches Gewürz, Galgant, Pfeffer, Kreidnelken daran legen. Man muß sterben, um zu sterben. Der Graf hatte hierüber mit dem Prediger eine sehr gelehrte Unterredung. Ich vernahm die Worte nicht, allein der Geist von allem wirkte auf mich. Mein Vater pflegte dieß Wirken Wanken zu heißen, wie man von Gespenstern sagt: sie wanken. Ich wankte; es war mir, als hörte ich in der Ferne läuten. Der Hauptinhalt der gelehrten Unterredung war: ob man nicht auch durch künstliche Mittel berechtigt wäre, sich den Tod zu erleichtern? Der Graf behauptete Nein, und nannte diese Kunst Betrug. Wenn Sie wollen, frommen Betrug. Ich will aber nicht fromm betrogen werden.

Es sey nun aber wie ihm wolle, Mine war mein Schutzengel bei meinem Seelenzufall, sie stärkte mich; ich holte alles nach, was ich bei ihrem Grabe durch Betäubung übersprungen hatte. O wie gern wollte ich bei ihr seyn! Die vier Nägel, wovon meine Mutter sechs für einen Vierding kaufte, glänzten mir schrecklich in meinem vierzehnten Jahre. Das Blatt aber, wo ich in der Kapelle eben am Ende meinen Namen verzeichnete, wie trostreich für mich! Es war eine sichere Verschreibung, bald, bald, bald bei Minen zu seyn. In meinem vierzehnten Jahre ließ ich sie zurück; hier sah ich das vorgesteckte Kleinod. Es war mir ein Licht aufgegangen; ich empfand den ganzen heiligen Busch einer gottgefälligen, gottgeheiligten, himmelklaren, engelreinen Liebe – ich hatte Lust abzuscheiden. Ein paar Schauer, womit dieser Leib und dieß Gebein seine Rechte sich vorbehält, abgerechnet. Ist's Wunder, [86] dachte ich, eine so hoch geadelte Erde soll wieder zurückkommen, wovon sie genommen ist? Ein solch Gefäß zu Ehren zum Wurmgehecke? Doch schnell gab ich meinem Seelengefährten den Segen: Gehe hin in Frieden, es soll dir alles wohl belohnt werden; du sollst auferstehen in Kraft, und Minens Leib und ihr Gebein, und dieser Leib und dieß Gebein. – – Halleluja blieb mein Hauptwort, in meinem vierzehnten Jahre war es das Amen fein, Amen, das ich meiner Mutter nachbetete, Freunde, wohl dem, der eine Mine im Himmel hat! Die fühllosen Saducäer müssen keine Minen gehabt haben. Mein Herz hing an Minen, und sollte dieser Sitz des Lebens an etwas wirklich Todtem, auf Ernst Todtem hangen? Gott ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen, und meine Seele, sein Aushauch, ist hier sein Ebenbild. – Mine lebt, ich werde auch leben! Junge Leute sterben leichter, sagte der Graf, weil sie keinen Anhang und Zugabe haben, weil – eine lange Reihe Weils – ich glaube kurz und gut, weil sie gewöhnlich nach der jetzigen Weltmanier unglücklich lieben. Die Liebe hoffet alles, sie duldet alles, sie macht ein ruhiges Leben und einen sanften Tod.

Das erstemal, wie ich aus zum Ende gehende Blatt dachte, war's so, als ein aus dem Feuer gerissener Brand ins Herz. – Das war ein Hauptreservat des Leibes, eins in optima forma. Es ist einem so warm auf einem Fleck, und kommt dergleichen Brand dem von der Schamröthe so nahe wie möglich. – Beide verbreiten ihre Flamme zum Angesicht, die Stirn kalt. – Dergleichen Vorbehalte, dergleichen Erdbebungen, hätt' ich bald gesagt, Erschütterungen wollt' ich sagen, das war alles, was ich von Todesangst bei dieser für den Grafen, wie es anschien, so erwünschten Gelegenheit empfand. Es war indessen alles so, daß ichs ertragen konnte. Der Tod selbst, sagte der Graf, ist das allerwenigste; da springt das Band, das man so [87] lange zog und riß und neckte, weg sind wir. Tod als Tod hat weniger Schreckliches als das Leben, er hat nichts Schreckliches. Ich fürchte mich nicht vor Gespenstern, wohl aber vor Dieben und Mördern. Wer wird sich vor etwas fürchten, was er nicht kennt, und wer kennt den Tod? Das Leben aber kennen wir. Wenn auf Regen die Sonne scheint, auf Mühe Lohn folgt, wohl uns, daß wir sterben, wohl, wenn wir todt sind, wenn unser Glaube an die Unsterblichkeit auch nur wie ein Senftkorn ist. Der Tod gibt Trost über Trost, Wonne über Wonne, und sollte der Gang zu diesem Aufschlusse des Menschengeheimnisses (wahrlich, wir sind ein Räthsel, der Tod ist unsere Auflösung) schrecklich seyn? Ende gut, alles gut. Der Tod ist das Ende vom Klagelied, von allem Elend. Canaan im Kleinen, in Miniatur, im Auge; was schadet ein Fuß in der Wüste? In einer unseligen Stunde sterben, heißt in den Henkerhänden der Krankheit sterben; das kann schrecklich seyn. – Dem besten Kämpfer aber das Kleinod, dem stärksten Ringer der Preis. Wie wohl ruht es sich nach der Arbeit, wie wohl! – Laßt uns nur des Sterbensleidens, ehe das letzte Stündlein kommt, viel haben, wenn es Gottes Wille ist; dann verdienen wir im Tode getrost zu seyn und wie der selige Leineweber gen Himmel geholt zu werden. Wer wollte sich aber das Sterben, aus Furcht des letzten Augenblicks, ohne Noth bitter machen, wer das Leben dadurch verleiden? Es gibt Leute, die sich das Leben auf diese Art versterben; warum das? Ich kann von mir sagen, ich sterbe täglich, allein dieß will nicht viel mehr sagen, als: ich sehe täglich andere sterben, obgleich es auch Stunden gibt, wo es mehr sagen will. Der heilige, geplagte Apostel starb täglich anders als ich. Paulus trank täglich einen Tropfen aus dem Todesbecher; es war nicht Todesfurcht, die er trank – solch ein Mann wußte schon, was im Kelche war – es war wirklicher Tod; er starb allmählig. Wer es höret, der merke darauf. [88] Sich sein ganzes Leben vor dem Tode fürchten, heißt zwar, ein Knecht, ein ägyptischer Sklave des Todes seyn, allein noch lange nicht, sterben lernen, den Tod studiren. Mensch, bei allem, was du thust, gedenke ans Ende, so wirft du nimmermehr übel thun! das heißt: Mensch, lebe gut, um gut zu sterben! Ich für mein Theil (der Graf fiel in einen andern Ton) habe den Tod herzlich lieb, sehr gern seh' ich sterben. Sterben allein, das ist mein Leben; jeder muß wissen, was ihm Leben ist. Ich habe nichts wider das Leben, wie der Herr Gevatter meint. Da der Prediger sich bloß auf dieß Wort bückte, brach der Graf ab und versicherte, der festen Hoffnung zu leben, daß er sanft sterben würde. Du weißt, Bruder, sagte er zum Bedienten, ich hoffe zu sterben, wie der Leineweber. War es nicht, lieber Gott, fragte er zuversichtlich, inbrünstig, war es nicht Todesangst, Todesnoth, was ich aus dem Kelche trank, den du, mein Vater, mir gabst? Hab' ich noch diesen ganzen Kelch zu leeren, oder wird meine Zunge, wenn es ans Letzte geht, nur noch die letzten wenigen Tropfen aufziehen? Dein Wille, nicht wie ich will, sondern wie du willst.

Der Graf hätte so ohne End' und Ziel reden können. Es war Zephyr, den er mir zuwehte – wirklicher Zephyr, sanfte Empfindung, womit er mich anfächelte. Es gibt Stunden, wo wir keinen Sturm ertragen können. Der Bruder des Grafen neigte sich, als schien er sagen zu wollen: Ich werde eher sterben, als du, gräflicher Bruder; allein es schien auch gleich darauf, daß er sich bedächte, wie es ihm gebühre zu folgen. Ehre, dem Ehre gebühret. Und Sie (fing der Graf zu mir an), ausblühender Jüngling – schnell hielt er sich auf, als bedächte er sich bei dem Worte: ausblühender – Sie haben auch nach Ihrer Art gelitten – vielleicht sind nur noch wenige Tropfen Todesangst übrig. Ich, fuhr er nach einer Weile fort, habe bei der bittersten Arzenei nichts nachgetrunken. Ich auch nicht, erwiederte ich; allein ich muß gestehen, [89] nur blutwenig Arzenei gegessen und getrunken zu haben, setzt' ich hinzu. Bravo! schrie der Graf. Er wollte bemerkt haben, daß Leute, die sanft einschliefen, auch Anlage zum sanften Tode hätten, und befragte mich, zum innerlichen Verdruß des Predigers, wie es mit meinem Einschlafen wäre? Bei Leuten, die schnarchen, fuhr er fort, hab' ich bemerkt, daß sie zu ihrer Zeit röcheln, und die unruhig schlafen, sterben gemeinhin auch unruhig, wenn nämlich der unruhige Schlaf keine Folge des vorigen Abends ist.

Wie ich verschlage! – Desto besser, so sehen meine Leser am deutlichsten, wie ich zu dieser Frist gestimmt war.

Der Prediger mußte des Sonntags wegen, der vor der Thüre war und anklopfte, von dannen; jeder hat sein Päckchen. Das Wort: ausblühender Jüngling, so dem Grafen selbst auffiel, war dem Prediger aufs Herz gefallen, der gute, theilnehmende Mann! Sagt selbst, lieben Leser, verdient nicht seine Abhandlung von der Sünde wider den heiligen Geist bloß darum deutlichen Druck, gutes Papier und so weiter? Meine Seelenkrankheit kehrte das Blatt den Abend noch, und kurz, ehe der Prediger aufbrach; er nahm noch den ersten Besserungsstrahl mit. Mein Gruß an Gretchen, den er so gern in die Hand sich drücken ließ, heiterte mich sichtbarlich auf. Gern hätte der Prediger dem Grafen wiederholt: Laß ihn noch; durft' er aber? Man widerräth den Schwermühigen die Einsamkeit, und in vielen Fällen mit gutem Grunde; bei dem allen glaub' ich, daß, wenn ja ein Kraut und Pflaster sie heilen könne, es die Einsamkeit, die Selbstgelassenheit sey, wenn diese Einsiedelei nur gleich beim Anfange gebraucht wird. Die Einsamkeit ist dem Ungewohnten wie ein kaltes Bad, das anfangs widerlich ist, allein es stärkt die Nerven. – Gesellschaft ängstigt schwermüthige Personen, das heißt, sie macht sie kränker. O ihr gütigen Thränen, was für ein sicheres Recept seyd ihr in dieser Krankheit, und in Gesellschaft weinen, welch ein Mann kann das? Der Graf wünschte [90] mir Glück zu meiner Genesung. Jetzt sah er selbst ein, was für ein Zufall es gewesen. Das Phänomenon bei dieser Sache war, daß ich, so froh ich war zu sterben, es auch zufrieden war wieder zu leben. Nicht wahr, ein wahres Phänomen? Ich, der ich meine Hände nach dem Tode ausstreckte, nach dem Freiwerber, den Mine zu mir gesandt, ich, der ich mit diesem Manne ziehen wollte, der ich nach der Zeit tausend- und abermals tausendmal bei ihr zu seyn mich herzlich sehnte. Der Graf versicherte mich, daß er kein Sterbenszeichen um und an mir entdeckt. Saft hat also unzeitig sein Haupt geschüttelt; dem Grafen zum Munde würde ich in Rücksicht des Gesprächs mit dem Prediger in L – sagen. Wie kam es aber, daß der Graf Glück wünschte? Und wie kam es, daß ich den Glückwunsch als Glückwunsch entgegennahm? Wir Menschen sind wunderbare Geschöpfe! – Es war mir so, als ob ich Minens wegen schon wirklich gestorben gewesen und nun, nachdem ich ihr mein Gelübde bezahlt, wieder auferstehen könnte. – Ach, diese Seelenkrankheit, so hat sie nicht mehr mich übermannt; allein wie oft hieß es von mir: Siehe, um Trost war mir bange! Wie oft blüheten die Linden für mich! – Ach heute, da ich dieses schreibe, war ich in meiner Kammer, hatte die Thüre nach mir zugeschlossen und mich verborgen, um –

Wenn ich wüßte, daß einer von meinen Lesern über das, was Sitte beim Grafen war, seelenkrank werden könnte, wie bei mir dieser Fall eintrat, obgleich sie nicht sehen, sondern nur lesen, ich würde hier schließen, ohne ein einziges Wort weiter zu verlieren – nicht wahr, verlieren? Kommen meine respektiven Leser und Leserinnen aber mit einem einsamen Stündchen, mit einem kalten Badestündchen ab – was hat's zu sagen? Wir haben doch alle ein langes, kaltes Bad im Grabe vor, und wahrlich, das wird eine rechte Nervenstärkung seyn! Sieht noch obenein unter meinen Lesern ein Alexander seine Mine, und unter meinen Leserinnen eine [91] Mine ihren Alexander in dieser Geschichte im Bilde, trägt er oder sie Leid um seinen, um ihren leiblichen oder geistlichen Todten, o dann ist's kein böses, dann ist's ein gutes Stündlein, das ich euch beschert habe. Wo hatte er denn so viel Zeit? fragte ein kluger Mann, da er hörte, daß ein Held im Felde an einer Krankheit gestorben wäre. Diese Frage würde bei unserm Grafen, der nichts mehr in der Welt zu versäumen hatte, der im Fegefeuer sich befand, ohne daß ihm, wie den drei Männern im Feuerofen, ein Haar gekrümmet ward, die überflüssigste von allen seyn.

Zum Schluß ein paar Reden, die mir der Graf zu Ehren am Sonntage halten ließ. Das Evangelium, wie es mir vorkam, war nicht so ganz nach seinem Sinn, es war zu viel Leben darin. Der Graf war wegen seiner Sterbenden zum Hausgottesdienst gewöhnt, und hielt sich wegen einiger lebendigen Evangelien einige Reden, von einem Christen und bloßen Gottesverehrer bearbeitet, über seinen Lieblingstext. Das Geläute zu diesen Reden – hier ist's.

Ein Gespräch zwischen dem Grafen und mir. Meine Leser mögen es als eine captationem benevolentiae ansehen.

Alles, was keine Sprache besitzet, was sogar keinen Laut vermag, ist todt an sich selbst. Alles, was nicht mit vernehmlichen Tönen von der Natur ausgerüstet ist, ringt fast nach Gelegenheit, daß ihm die Zunge gelöset werde. Sprache, Ausdruck ist Leben. Die schwerste Schrift wird biegsam, gefälliger, gelenkiger, geschliffener in unserm Munde. Die Zunge ist ein klein Stücklein Fleisch, und fast könnte man von ihr sagen, sie wäre das Lustschloß der Seele. – Der Mensch ist der Gott alles Leblosen; wenn er ihm gleich nicht einen lebendigen Odem einhauchen und es beseelen kann, ist's doch fast so, als ob alles spräche, wenn der Mensch ihm zuspricht, als wenn es antwortete, wenn der Mensch es frägt. Die Figur, daß man leblose Dinge anredet, wenn nur die Kunst nicht zu merklich ist, wäre so unnatürlich eben nicht, als sie jetzt auffällt. [92] Es scheint, als mache der Mensch den Versuch, ob es nicht anginge? Gott sprach, und es ward; der Mensch spricht, und es scheint zu werden. Sprich, damit ich dich sehe. In der Sprache liegt die Gewalt, welche der Mensch über alles hat, was lebt, schwebt und ist, der Binde- und Löseschlüssel. Mein Vater pflegte zu sagen: Noch sind jene Töne nicht cultivirt, wodurch wir vielleicht mit allem auf der Erde so umspringen würden, als der Hauptmann von Kapernaum mit seinen Knechten: Komm, geh, thue das! Vielleicht waren diese Töne schon und gingen verloren, wie viel verloren ging.

Mein Redner, fing der Graf an.

Redner? erwiedert' ich. Nicht anders, sagte der Graf. Beleben die? Sich im Leben angreifen, sich überleben, zu viel leben, ist Tod, überall Tod, fuhr ich fort. Es gibt Redner, die nicht bloß schlechthin beleben, sondern beseelen, begeistern; allein das sind nicht ausgelernte Papageien und Raben, die auch zuweilen zu rechter Zeit oleum et operam perdidi krächzen, sondern Leute mit feurigen Zungen, nachdem ihnen ihr Geist gab auszusprechen. Aus dem Herzen aufs Papier, Schwarz auf Weiß, vom Papier ins Gedächtniß, aus dem Gedächtniß in Hand, Mund und Fuß. – O der ermattenden Umwege! Und wie selten geht's gerade aus dem Herzen aus.

Der Graf fühlte, was ich sagen wollte, obgleich nur ein Funke auf meiner Zunge blinkerte. Feuer war nicht drauf, die Lindenkrankheit hatte gedämpft, gelöscht. Eine Rede, sie sey auch die beste, ist ein Gipsabguß der Gedanken. – Gemeinhin verschlingen hier die sieben mageren Kühe die sieben fetten, wie in Josephs Traum; indessen ist nicht zu läugnen, daß eben dieselbe Sonne, wie ein witziger Schriftsteller sagt, die das Wachs schmilzt, die Erde versteinert; und es gibt Leute, die gern reden, und andere, die auch nur durch Reden gewonnen werden. Leidet aber jeder, [93] daß auf ihn Jagd gemacht, daß auf ihn angelegt wird? Und thut der Redner mehr, als seinen Bogen spannen und auf die Herzen seiner allerseits nach Stand und Würden höchst und hochzuehrenden Zuhörer zielen? Freilich, erwiederte der Graf, wo Feuer ist, da raucht es auch. Meine Prediger, fuhr er fort, hab' ich so ziemlich ins Geleise bei Leichenpredigten gebracht, indessen raucht es doch noch. Conferatur: Siehe, ich komme bald, behalte was du hast, daß niemand deine Krone nehme. Da war noch viel zu sagen, und doch war es aus dem Herzen. Wenn er aber empfängt, wenn er concipirt, o dann beißt der Rauch in die Augen! Willst du denn was Besseres sagen, als du kannst? Das war eine weise Lehre eines weisen Mannes, die er einem Jünglinge gab, der sich über den Eingang seiner Rede den Kopf zerbrach. Ein Redner, sagtemein Vater, ist ein Mann, der mehr von einer Sache sagen will, als er von ihr weiß; ein Avantürier, der sich über seinen Stand kleidet, ein Petitmaitre, der zum verschimmelten Brod frische Butter gibt. – Er machte einen Unterschied zwischen Redner und Prediger. Mit Feierlichkeit von einer Sache sprechen, nannt' er predigen, und in diesem Sinn war er Prediger überall. Aber die Redner, sie machen einen großen Schuh auf einen kleinen Fuß. Schuster nicht übern Leisten, sagte der Maler zum Recensenten, der sich, wie gewöhnlich, mehr herausnahm und herausließ, als er verstand. Dem Redner könnte man zurufen: Redner, nicht übern Fuß! – – Durch Reden sind mehr Länder erobert, Festungen eingenommen, als durch Waffen; allein wie gewonnen, so zerronnen, würde meine Mutter sagen.

Der Graf theilte mir sein System über die Leichenandachten, wie er sie nannte, mit. Die Worte: Leichenpredigt und Leichenrede, gefielen ihm nicht. Bei den Aegyptern konnte man nicht alle Todten ohne Unterschied loben, es mußte per judicata feststehen; [94] der Todtenfiscus trat auf und ward gehört. Man erkannte auf Beweis salva reprobatione, und ehrliches Begräbniß und Leichenpredigt hing von diesem Urtheil ab. Der König hatte vor dem geringsten seiner Kammerlakaien keinen Vorzug; im Leben sah man ihn durch die Finger an, um den Staat zu schonen, nach seinem Tode, fiat citatio. Er so gut Staub, Erd' und Asche als ein anderer, und warum jetzt eine andere Procedur? Wie oft würd' es jetzt von bepredigten und beredeten Leichen heißen: Laßt die Todten die Todten begraben. –

Ich höre gern Leichenpredigten, setzte der Graf hinzu; allein in meinem Sinne sind es nicht Leichenpredigten, wenn es nämlich nicht Lügenpredigten seyn sollen. (O wenn meine Mutter doch diesen letzten Gedanken von Lügen- und Leichenpredigten gehört hätte!) Kupfernes Geld, kupferne Seelmessen, fuhr der Graf fort. Weh' über diese Aergernisse! Da heißt es denn: Er hatte nichts Menschliches an sich, als daß er starb, oder wie von jener Madam: Sie betrübte ihren Herrn nur ein einzigmal, nämlich da sie starb! Wer ist da mehr todt, fragte der Graf, die Leiche oder der Redner? Rauch über Rauch! Etwas Rauch schadet nicht. Opferrauch, fiel ich ein, Blumenrauch, der gen Himmel steigt, wenn es hübsch warm ist. Und das ist eine inwendige Wärme, die alles Lebendige hat; Kälte ist Tod, Wärme Leben, innerliche Hitze ist Krankheit oder Anfang dazu. Wer anstecken will, muß selbst feurig seyn. Ein Redner will sein Auditorium anstecken, mithin muß er im Feuer seyn. Ein Brand raucht zu sehr; allein eine durch und durch glühende Kohle, das ist das Bild eines Redners! – Da war es ausgeläutet. Wir waren feuerempfänglich, das heißt: warm. Noch einen Klöppelanschlag. Vom gottgläubigen zum wahren Christen ist es kaum ein Sabbatherweg weit, hab' ich sehr viele Leute (versteht sich, christliche) sagen gehört.

[95] Plato würde zuverlässig Superintendent geworden seyn, wenn er das Glück gehabt, in christlichen Zeiten geboren zu werden, und Sokrates irgendwo Rector an einer Domschule.

Der Graf sagte zu mir: Freund, von unten auf. Ein feiner Knabe; Oelzweige um sein Haupt – freie Stellung. Nichts, auch kein paar Handschuh in den Händen; allein um ihn ein weißes, weites Gewand, bald hätt' ich's Chorhemde genannt, wenn ich hier ein christliches Wort fliegen lassen könnte.

Das Jahr hat Monate, der Monat Wochen, die Woche Tage, der Tag Tageszeiten; Morgen und Abend ist überall. Was Anfang hat, muß sich auch enden; der Mensch wird geboren und stirbt, beides, wenn sein Stündlein vorhanden ist; er wächst hin und zurück, er sinkt, wird hinfällig mit dem ersten Tage, da er zu wachsen aufhörte. Seht die Tage, wie sie ab-und zunehmen, so habt ihr euer Leben. Ein Jubeljahr, ein Hundertjähriger, ist außerhalb des gemeinen, und am Ende, was ist der ganze Jubel? – Weiber, schwächliche Mannspersonen bringen es im Leben am längsten, sie lebten am langsamsten in die Höhe und in die Breite und sterben also auch so langsam wieder ab. – Mäßigkeit in Absicht des Leibes, Mäßigung in Absicht der Begierden können uns zwar zum ruhigen Leben, zum ungestörten Genuß desselben bringen, ob sie aber das Leben verlängern, ist noch die Frage. Der Mensch hat seine bestimmte Zeit. Wenn es Ausnahmen gibt, so ist die Lebensökonomie – wenigstens nicht immer – Schuld daran. Wär' es durchaus nöthig gewesen, daß wir nicht mehr, nicht weniger essen und trinken sollten, hätte die Natur eine Thüre angebracht, die von selbst zugefallen wäre: erreichten denn nur gute Lebensökonomen, oder erreichten nicht gemeinhin auch Verschwender dieses ausgerückte Ziel? Sie scheinen zu Ausschweifern bestimmt zu seyn, im Tod und Leben; sie leben, wenn man so sagen soll, auf Tod und Leben, sie empfangen ihr Gutes in diesem Leben. Laßt sie [96] doch, laßt sie doch leben! Ich wette drauf, es sind wenige, die solch ein Leben nehmen für halbes Geld. Die meisten Menschen haben nur Jahre, nicht Leben zurückgelegt; sie reden vom Leben, als von einer Sache, die man vom Hörensagen kennt. Wie viel gehört zum Leben! Man nehme den Zufällen des Lebens ihre Wichtigkeit; wer kann das? Man bedenke, daß nur das Wohlverhalten den Werth des Menschen und seines Seyns ausmache. Wer versteht diese Kunst? Und besteht die Glückseligkeit in etwas anderem, als in der Befriedigung der Sinne, aller Neigungen? Beim Lustigen tritt der Nervensaft über seine Ufer, und diese Ueberschwemmung, diese Sündfluth richtet Unheil an. Das Leben ist eine Last, und warum sollten wir uns den Rückgrat brechen und darüber froh seyn? An der Länge liegt's nicht, an der Würde liegt's. Unsere Brüder aus zweiter Ehe haben von den Juden gelernt, daß langes Leben als Lohn für den kindlichen Gehorsam anzusehen; allein auch sie behaupten, daß Gott mit den Seinen eile. Und so wahr es ist, daß Jünglinge, die das Alter ehren, sich alt zu werden vor Menschen berechtigen, so ist doch dieß Menschenrecht nicht auch Gottes Recht. – Dein Wille, Gott, dein Wille geschehe! Das männliche Alter schürzt den Knoten, der Tod löst ihn. Wer Gott gelebt hat und nicht sich selbst, wird auch Gott im Tode preisen und den verherrlichen, der das Weizenkorn, wenn es gleich dahingestorben und in Fäulniß übergegangen, zum Aufleben bringen kann; den, der Seelen wegzuhauchen Macht hat, alles, wie er will. Was er will, das geschieht, was er gebeut, das steht da. Sein Blick ist Sonne, sein Wort Erdenball. – Sein Wille, und es ist nicht mehr, was es war. Wer sich auf alle Fälle bereitet, ist weise; wer sich einen einzigen Weg erzielt, wird oft durch eine Kleinigkeit so zurückgesetzt, daß er nicht aus noch ein weiß. Richtet sich der Lauf der Welt nach uns, und ist es darum schönes Wetter, weil wir nach Athen fahren wollen, oder weil es im Kalender steht: [97] klarer Himmel, oder weil wir ein Weib nehmen, oder einem Freunde das Geleite geben und eine Ausfahrt machen wollen, um dicht am Flusse ein Gericht Fische zu essen?

Das Denken allein hat wenig Trost in sich; wer es aber versteht, was für Kraft in der Rede liegt, wird auch wissen, sich alles aus dem Sinne zu reden, was ihn niederschlagen kann, und sich selbst Muth zuzureden, wie es unsere in Gott ruhenden Vorväter gethan, die den nämlichen ungewissen Weg ohne Wegweiser, ohne Grenzenmal gingen, der vor uns liegt. Der Herr, der Herrscher des Lebens, der ihnen an Ort und Stelle geholfen, wird uns auch an seinen Ort stellen. Der Thor klagt über das, so nicht zu ändern ist, der Weise sucht Bewegungsgründe, es zu tragen. Das Ende liegt immer im Anfang, so wie der Anfang im Ende. Wir werden, das heißt wir hören auf zu seyn; wir sind, das heißt wir sterben. Wenn wir gegessen haben, stehen wir auf, und wenn wir gewacht haben, gehen wir, wie alles, was lebt und webt, zur Ruhe. Die Sonne geht auf und unter und der Mensch ihr nach. Sich grämen, daß wir sterben müssen, heißt: sich grämen, daß wir sind. Durch Philosophie, der man durch Ton und Geberde nachzuhelfen verbunden ist, kann man den Tod besiegen. So kann man des Todes Bitterkeit vertreiben, und wenn Noth an Mann ist, selbst für Ehre und Vaterland sein Haupt hingeben, wie Johannes sein Haupt zum Schauessen. Eine gräßliche Melone auf der Tafel eines Tyrannen! Nicht wer überwindet, sondern wer so viel thut, als er weiß und kann, ist Held. Wohlan denn, laßt uns alle Kräfte zusammenraffen und uns anspannen, um dem Tode, dem Fürsten der Finsterniß, stattlichen Widerstand zu thun und das Feld zu behalten. Unser Leben ist ein Quodlibet von Abwechselungen, ein Apriltag, und wenn Thoren es gleich für Mangel der Lebensart halten, an den Tod zu denken, so haben doch von jeher kluge Leute Todesbetrachtungen als richtige Proben eines gutgerechneten [98] Lebens angesehen. Mensch, weißt du, ob du diese Nacht schlafen, ob du je schlafen, ob du Lust zum Essen haben, fröhlich und guter Dinge seyn, Söhne oder Töchter zeugen wirft? Daß du aber sterben wirft, daß dein Leben ein Ziel hat und du davon mußt, weißt du gewiß oder kannst es so wissen, als daß zweimal zwei vier ist. Aber selbst der Schnee auf dem Haupte erinnert den Greis nicht an den Winter seines Lebens; es ist Hagel und Schlossen, denkt er, so was fällt auch mitten im Sommer; der Himmel lasse nur das Getreide ohne Schaden! Die Menschen denken vielleicht darum nicht an den Tod, weil er das einzige Gewisse ist, und weil er sich von selbst versteht, das andere alles aber mit auf ihrer Sorgfalt beruht. Nicht also, Freund! ein hitziges Fieber, ein plötzlicher Tod kann zwar deine Vorbereitung stören, dein mit Fleiß besäetes Feld in Unordnung bringen, allein auch beim Mißwachs bleibt dir Grund und Boden. Du kannst heute sterben, also lern es heute. Ein Seefahrer, der dem Weltmeer entging, findet seinen Tod im Brunnen, aus dem er sich einen Labetrunk schöpfen will. Den Riesen Goliath schleudert der Hirtenknabe David zu Gottes Erdboden; jenen römischen Sieger trifft auf dem Wege zum Capitol ein Dachziegel und er stirbt; Heliogabalus wollte so sterben als er gegessen hatte, es ward ihm ein gewaltsamer Tod prophezeit und er ließ sich köstliche Stricke bereiten, goldene Becher zum Gift und einen prächtigen Thurm zum Herabsturz; allein siehe, seine Anstalten zum kaiserlichen Ende waren vergebens, sein eigenes Blut war sein Leichentuch und die Tiber sein Grab.

Der Tod hat eine Sanduhr in der Hand, die er verdeckt hält, wir sehen nur die Sense, die er in der andern führt. Wenn wir gefaßt sind, warum einen Blick auf Sand in unserer Lebensuhr? Es fallen uns Tausend zur Rechten und Zehntausend zur Linken, laßt uns also bereit seyn und eine Nachtlampe anzünden, wenn wir schlafen. Wir stehen auf Rechnung, laßt uns also in unserm [99] Wirthschaftsbuche alles unsträflich addiren, subtrahiren, multipliciren und dividiren, damit wenn der Herr kommt, wir Credit und Debet sein haushälterisch vorlegen und auf das Testimonium von ihm Anspruch machen können: Ei, du frommer und getreuer Knecht! Wer mit Beständigkeit und Geduld in guten Werken trachtet nach dem ewigen Leben, hat vom Herrn selbst sterben gelernt, und bedenkt daß es ein Ende mit ihm habe und er davon müsse, daß das Leben einem Faden gleich sey, der in der Hand des Webers so leicht abgerissen wird. Seht euch um, Lilien knicken, Eichen stürzen. Ein kleiner Wurm sticht die schönste Blume, und manche wird, wie Cäsar, mit dreiundzwanzig Wunden erstochen durch und durch. Ein Nebel fällt uns auf die Brust und unsere Stätte ist nicht mehr. Wir müssen wirken, ehe die Nacht kommt; wir müssen, wie alle Weisen es thaten, sterben, ehe wir sterben; wir müssen uns absondern und aus der Welt gehen, um unsere Seele zu retten; wir müssen uns selbst auflösen, ehe wir aufgelöst werden, und so wenig den Körper, Fleisch und Blut aufkommen lassen, daß wir je mehr und mehr geistig werden. Laßt uns, Freunde, beim Tode uns nicht verwahrlosen. Wer bemüht sich nicht, sein Kind gesund und unverwahrlost aus Mutterleibe zu ziehen? Wißt, unsere Seele wird geboren, wenn wir sterben. Der Tod ist eine Niederkunft, eine Geburt zum andern Leben, und es ist gut, auch auf diese Geburtsstunde und diese großen sechs Wochen zum voraus zu denken. Werden wir darum eher sterben, weil wir den Tod in Erwägung nehmen, eher begraben werden, weil wir diese Gewichte, die uns zur Erde ziehen, abschneiden? Willst du den Redlichen, der nach Gott frägt und nach sich selbst, von der Welt entfernen, gib ihm den Rath, sich mit ihr zu verwickeln. Gibt's eine größere Aufforderung zum Memento mori-Orden als eben diese? Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wer sich selbst ein Vergnügen entzieht, gewinnt; nur wenn [100] andere es uns entziehen, verlieren wir. Der ist der Glücklichste, der am wenigsten zu verlieren hat. Besitzen wir das, was wir über ein Kleines zurücklassen müssen? Gott gibt alles und behält nichts; seyd wie Gott. – Jedweder geht den rechten Weg, der recht thut. Der Christ glaubt an Christum, der göttlich auf Erden gewandelt hat, dergleichen Erscheinungen glaubten auch unsere Väter. Sind nicht noch der Erde die göttlichen Spuren anzusehen von diesem heiligen, göttlichen Menschen? Ueberall Gottes Fußstapfen. Wenn Gott auf Erden kommt, was kann er anders als Mensch seyn? Er begibt sich ins Fleisch, in den Menschen. Der Mensch ist das beste Stück Zeug, wovon der Allerhöchste sich ein Kleid machen lassen kann. Diogenes sah einen Knaben mit der Hand Wasser schöpfen und warf den Rest seines Mobiliarvermögens, seiner fahrenden Habe und Güter, seine Wasserschale dahin. Wer die Knie aufeinander legt, kann ohne Tisch schreiben. Der Christ glaubt an Christum, wir an Gott, der da ist und der da war und der da seyn wird in Zeit und Ewigkeit. Sollte Gott nicht verzeihen, wofür mein Fleisch und Blut, das ich von meinem Vater seligen und meiner Mutter seliger geerbt habe, allein kann und nicht ich? Wenn ich nur rechtschaffenes Wollen habe, das Vollbringen, steht es wohl in meinen Kräften? Meine Seele kommt mit einer Bittschrift ein; der Körper, der sich nun einmal, weil er in die Höhe geschossen und großmächtig ist, auf den Thron geschwungen, schlägt das Gesuch ab. Wenn ich das Supplikat nur recht von Herzensgrund eingerichtet und weder am Formale noch am Materiale was versehen, der Herr König Leib aber dem unerachtet den Kopf schüttelt, was kann das arme Seelchen dafür, was kann es wider Tyrannei? Wenn ich wie ein Engel von der Toleranz spräche und hätte der Liebe nicht, meinen christlichen Bruder gehen und stehen zu lassen, wo und wie er Luft hat, und ihm sein Trostkämmerlein nicht ungestört zu vergönnen, wär' ich nicht[101] ein Mörder von Anfang und würd' ich wohl bestanden seyn in der Wahrheit? Ich bin Demokrit, der Christ Heraklit. Könige und Ketzermacher haben beide lange Hände, selten ist mit dem Kopf bei beiden zu prahlen. Uebers Grab weg, jenseits des Grabes ins Schwarze (dunkel ist zu wenig) reicht keiner mit einem Finger, auch nicht mit dem Mittelfinger, obgleich er der längste ist.

Unsere Sache ist leben und sterben, was drüber ist, ist vom Uebel, so wie alles, was über Ja, Ja, Nein, Nein ist. Die christliche Religion und unsere Religion hat durch die heilige Schrift ein Herz und eine Seele. Wer läugnet, daß ohne Bibel wir, die wir alle an einen Gott, Schöpfer Himmels und der Erden glauben, lange nicht so weit wären als wir jetzt sind, wenn nicht Christi Lehre so mancherlei in der Vernunftmoral aufgeräumt hätte, allein wer? – Doch warum dieser Maulaffe von verfänglicher Frage? Göttlich ist, was von Gott kommt und ewig bleibt, menschlich ist, was so fingerlang als das menschliche Leben ist, eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind vorüberfährt, ist der Mensch nicht da und seine Stätte kennt man kaum mehr. Worte haben dem Menschengeschlechte einen unersetzlichen Schaden gethan; am Ende sind Kriege, wo Blut fließt, als wär' es schlecht Wasser so gut Wortgezänke, als die Dispute der Gelehrten, die sich kein Komma vergeben, wie die Monarchen keine Provinz, und wenn's auch nur der Name davon in ihrem Vongottesgnadentitel wäre. – O sagt mir, Menschen, sagt mir, damit ich einlenke, warum ihr so zittert und zagt, wenn's aus Sterben geht, wenn man nur das Wort Tod ausspricht? Warum ihr im eigentlichen Sinn am Worte Tod sterbet? Ist es das Leben werth, daß ihr darum siebenzig, und wenn's hoch kommt, achtzig Jahre Leid traget? Wahrlich, die meisten Menschen leben nicht, sondern betrauern das Leben. Wenn wir todt sind, leben wir nicht, warum sollten wir also nicht bemüht seyn, wenn wir leben, den Tod zu entfernen? Wie braucht [102] ihr das Leben, das euch so köstlich dünkt? Lebt ihr denn wirklich auch, wenn ihr das Trauerkleid abgelegt habt? Die meisten Menschen wachen, damit andere schlafen mögen; ihr lebt für andere, und so kurz und kostbar euer Leben auch ist, so verkauft ihr es doch gern für wenige Gran Gold und Silber, die Erstgeburt für ein schnödes Linsengericht. Warum also die Klage: kurz ist die Zeit, kurz sind die Jahre? Hättet ihr Oekonomie studirt, ihr Lebensdurchbringer, ihr verlornen Söhne, wahrlich, ihr würdet das Leben nicht zu kurz finden! Thiere werden älter als wir, Bäume, die wir pflanzen, überleben uns und wir sind im Stande, uns ein Grabmal aufzurichten, das stumm wie es da ist, zu seiner Zeit mehr von uns anzeigen kann als wir selbst. Wie lange währt es nicht, bis der Eichbaum so dicht wird, daß kein Nahrungssaft mehr durch kann, daß die Feuchtigkeit keine Circulation mehr hat, die Adern zu Knochen werden und die Lebenssäfte austrocknen? Beim Menschen geht's geschwinder, geschwinder werden seine Häute Knorpel, seine Knorpel Knochen, seine Knochen Steine, wahrlich Leichensteine. – Ich läugne nicht, daß aller Menschen Leben nur ein Tag sey. Dieser lebt einen Winter-, jener einen Sommertag, dieser ein Aequinoctium, jener den längsten Tag. Am Ende hat der, so in den Zeitungen steht, als habe er des Moses Lebensschlagbaum aufgemacht und noch zehn Jahre drüber gelebt, und das kleinste Kind einen Tag gelebt. Methusalem, da er starb, kam nicht in die Zeitungen, darum steht er auch in der Bibel. Was wimmerst du, Unvernünftiger? Lebt auch was, das nicht Vernunft hat? Du abbrevirst dein Leben wie Geschwindschreiber und machst es so unleserlich, so ungestaltet, daß du über ein Kleines selbst nicht klug daraus werden kannst. Die Natur ist nicht karg gewesen, allein du bist ein Prasser. Wer kann dir das Maul stopfen, wer dich bereichern? Ein großer Lebensdurchbringer, daß dich Gott mit seiner milden Rechten selbst nicht reich machen kann! Du dienst [103] dem Publikum und vernachlässigst dich selbst; du sinnst Tag und Nacht, um das Geld, das dein Nachbar hat, dir zuzuwenden, es sey durch Handel und Wandel oder Diebstahl, das heißt durch grobes und subtiles Stehlen. Und wenn du Meere durchkreuzt und gute und falsche Wechsel unter die Leute gebracht und endlich alles in deine Scheuern gehäuft hast, was ist deine Sammlung? Leben ist's nicht, das ist nicht feil in der Welt, du allein haft es zu verkaufen. Bleibe im Lande. Fasse in deinen eigenen Busen. Nähre dich redlich. Sieh, deinem leiblichen Bruder wird die Zeit lang. Der Thor, sagst du, ohne zu bedenken, daß jener es in der Schlafmütze und du in Reisekleidern bist. – Die meisten Menschen sehen ein, daß sie sich ums Leben betrügen, drum setzt sich jeder sein Ziel. Wenn ich dahin komme, will ich Halt machen! Allein, du Kornjude, heute wird man deine Seele von dir fordern und wer wird das Korn mahlen, das du aufgemessen hast? Er ist in der Lehre geblieben, sagt man von einem Menschen, der als Hauptmann stirbt und Feldherr werden sollte. Sind wir nicht alle nur Hauptleute, wenn gleich nicht von Capernaum? Wie kannst du mit deinem Leben so schalten? wie einen geliehenen Ring verschenken? Dem Staate, das heißt, dem fürstlichen Schatz und deinem grünen Netze von Beutel, die Erstlinge geben und Spreu für dich behalten? Kann man denn, wenn man alt ist, wieder in Mutterleib gehen und geboren werden? Jeder Tag beim Menschen könnte ein Ganzes seyn, ein Leben in compendio. Wer nie solche ganz ausgeschlagene Tage, solche Lebenstage gehabt, ist ein elender Mensch; wer wird ihn erlösen von dem Leibe dieses Todes? Wir legen uns unter drei und vier Schlösser. Die Perlen für die Säue, die Diamanten in ein Kästchen. Du lebst kurz, Mensch; allein ist ein kleiner Mensch nicht ein ganzer Mensch? Wer an die Weisheit kommt, hat seinen Lauf vollendet; wer tugendhaft ist, ist alt, ohne graue Haare. Unser Leben währt siebenzig [104] Jahre; wenn's hoch kommt, sind's achzig Jahre; der Tugendhafte lebt drüber. Ein Tag ist bei Gott tausend Jahr und beim klugen Menschen wenigstens ein Monat; je klüger, desto zeitsparsamer. Zwischen Pflanzen-, Thier-und Menschenleben, welch ein Unterschied! Dieser hat sein ganzes Leben verspielt, jener hat zwölf Procent in gutem, gangbarem, kassenmäßigem und auf keinem Abschlage stehendem Gelde gezogen; der hat den Homer gelesen, dieser da weiß die Kometen auf Secunden zu berechnen, die Gottlob! mit der Erde jetzt gute Freunde sind und so freundlich zu uns kommen, als kämen sie zum Gevatterstande. Nur wenige haben zu dieser ihrer Zeit bedacht, was zu ihrem Frieden dient, und sich die Fragen woher? und wohin? aufgeworfen. Das Leben ist eine Geschichte, wobei man nicht nach der Länge, sondern nur frägt: wie sie ausgefallen? Wie lange wir leben, steht nicht in unsern Kräften, wohl aber, ob wir gut leben. Mensch, klage nicht über Lebenskürze, schicke dich in die Zeit, mache Pläne über deine Tage, und wenn du dein Leben zu Ende gelebt hast, wahrlich, so kannst du ruhig sterben. Und warum wünschest du denn länger zu leben? Sey weise, das heißt, halte deine Zeit fest; ist sie indeß mehr als eine ungetreue Schöne? Sie drückt dir die Hand und lächelt dem Nachbar zu. Der Tod nimmt von jeder Minute die Hälfte, von jedem Athemzug zieht er seinen Theil; wir werden jeden Augenblick schwächer. Jede Minute geht ein Theil von dir; diesen Augenblick, sieh, wie das Leben in einem tiefen Seufzer davon geht! Greifst du nach, was ist's? Schatten, weiter nichts. Der größte Lebensschoner kommt hier nicht ungeschlagen davon. Der Genuß, wie schmeckt er? hast du ihn schon gekostet? Zum wahren, innerlichen Zeugen, daß es mit diesem Leben nicht aus seyn könne, ist noch etwas da, das auf die Zunge beißt, das sie kitzelt und das wirklich Geschmack hat: die Hoffnung; und die sollte zu Schanden werden lassen? Glücksgüter sind Zeitverlust, je weniger wir besitzen, [105] desto mehr Zeit haben wir. Jener Weise lachte, und jener Weise weinte; das beste ist, weder lachen noch weinen, den Richtsteig halten und mit ernster Heiterkeit wandeln. Gern leben und gern sterben, heißt: Gott gefallen, denn unser Leben und Tod ist in seiner Hand. Wer nichts mehr zu hoffen hat, stirbt gern, und es käm' auf die Probe an, daß uns der Arzt allen Hoffnungsfaden abschnitte, vielleicht würden wir leichter sterben als jetzt, wo sich alles unserer Lebensart oder Lebensgrille bequemt und uns mit Hoffnungen schmeichelt. Wer hat Lust, die Probe auszuhalten? Die Aerzte machen feig; wenn sie nichts thäten, als Todesurtheile publiciren: du stirbst, du, auch du, auch du, wir würden Helden haben, in jedem Flecken mehr, als Tage im Jahre. Ein Blindgeborner denkt noch sehend zu werden, und welch ein Unglücklicher hofft nicht auf Glück? Wir bringen eine richtige Summe heraus, der Fehler steckt nur in der Rubrik dieses und jenes Lebens; so was allgemeines ist von Gottes Finger in uns hineingeschrieben, wir verstehen nur diese göttliche Schrift nicht recht zu lesen. Ist es ein so groß Wunder über Wunder, daß sich die andächtigen Zuhörer das Leben nahmen, da Hegesias die Mühseligkeiten dieses Lebens beschrieb? Die Freude des Lebens, ist sie mehr, als leidlicher Schmerz, als weinerliche Luft? Wir begrüßen die Welt mit Thränen, und wahrlich: Lachen, du bist toll! Hegesias, du hattest halbe Arbeit, deine Zuhörer waren schon vor deiner Rede überzeugt; weit mehr ist's bedenklich, daß sich eine lebendige Seele über ein Buch, das ein Christ von der andern Welt geschrieben hatte, das Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die Neugier ist's, wenn ich nicht irre, von dieser Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was wünschenswürdiges, die Sinnlichkeit als einen König der Schrecken. Nicht die viel denken, sondern die viel thun, verpflichten sich mit dem Leben. Der Mensch lebt die meiste Zeit wie das liebe Vieh, und noch öfter stirbt er so. Warum? Die [106] Vernunft ist dem Menschen gegeben, um Tod und Leben zu würzen und jedem von beiden seinen Jahreszeitgeschmack beizulegen; sie besitzt die einfachen Hausmittel, die uns im Leben und Sterben, wo nicht froh, so doch getrost zu seyn lehren. Die Röthe, so sehr sie einnimmt, was ist sie? Tod oder Leben? Wer, wenn er sein Urtheil über das Leben abgeben soll, nicht hier und da eine schöne Stelle auswählt, sondern über das Ganze urtheilt, ist weise. – Was ist aber alsdann das Leben? Wenn es köstlich gewesen ist's ein Lebensanfang. Der hat am schönsten gelebt, der am meisten gedacht, wie er leben wollte. Jener Weise, welcher behauptete, daßTod und Leben eins und eben dasselbe wären, war nicht in der Lage, da man ihm den Einwand machte: Warum stirbst du denn nicht auf der Stelle? Darum eben, erwiederte er, weil Leben und Sterben einerlei ist. – Es stirbt sich, wenn man's nur dazu anlegt, leichter, als es sich lebt. Laßt uns ehrlich seyn; ist die Zahl unserer Freuden nicht auf augenblickliche Intervalle eingeschränkt? Der rechten Freuden, sag' ich. Daß wir so herzlich gern hoffen, beweist, daß an der größten Lust nicht viel seyn könne. Die Menschen wünschen sich ohne End' und Ziel, weil der Wunsch ein Keim der Hoffnung ist. Schon der Mechanismus tröpfelt Thränen in den Wein unserer Freuden. Was ist der Mensch? Nackt kommen wir auf die Welt; seht, andere Thiere kommen eingekleidet und bedürfen des Schneiders nicht; wir Könige von Gottes Gnaden aber müssen die Thiere bestehlen, unsere Unterthanen mit Abgaben bedrücken, um Nothdürftigkeiten zu bestreiten, die schwer auf uns liegen. Vernunft, wozu braucht sie der Mensch? Dem Thiere das Fell über die Ohren zu ziehen und sich zu bedecken, sich selbst und andern das Leben abzugewinnen. Das Ziel der Vernunft ist, wenn sie einsieht, daß sie uns nicht glücklich mache, daß wir überall damit anstoßen, wie ein junger Mensch, der in die große Welt eintritt. Je vernünftiger der Mensch ist, [107] desto mehr zweifelt er. Die Kinderjahre sind die schönsten, weil wir mit der Vernunft in ihren Schranken bleiben. Gott, was ist der Mensch?

Diese Welt ist ein Gefängniß, in das wir vielleicht wegen voriger Verbrechen verbannt sind, ein Exilium, ein wahres Sibirien. Der Tod hebt diese lebenswierige Festungsstrafe auf und läßt uns wieder auf freien Fuß. Freuden, wenn sie nahe sind, erschöpfen sie nicht mehr, als der Schmerz? Bei der Hektik kann man alt werden; ein dicker, vollblütiger Körper, wie schnell dahin! Krankheit und Schmerzen kommen unverdient, selbst wenn wir ihnen recht mühsam auszuweichen gesucht. Wer sein Leben lieb hat, verliert es; wer das Leben genossen hat, stirbt gern, das heißt: wer dieß Leben kennt, kauft es nicht. Ist der Tod ein Uebel, ist er ein nothwendiges Uebel? Ist es nicht eben so thöricht, sich zu grämen, daß man nur zwei Augen und zehn Finger hat, als daß man sterben muß? Was nicht in unserer Gewalt ist, sollte dieß uns wohl beunruhigen? Man kann es uns nicht leichter machen, als wenn uns gleich zu Anfang, ehe wir noch Hand ans Werk legen, gesagt wird: Das ist über euch.

Der Tod ist bitter? Vielleicht den Umstehenden, dem Sterbenden nicht. – Bist du denn schon gestorben, daß du die Bitterkeit des Todes auspunktirt hast? Ich habe es an Sterbenden gesehen, sagst du, ich habe es von Scheidenden gehört. Von fremden Leuten deinen Tod? Und war es der Tod, von dem sie dich unterrichten konnten? War es nicht das Leben, über das sie wehklagten? Man thut dem Tode Unrecht, daß man ihn bitter beschreibt; wer hat die Ehre, ihn zu kennen? Ein Cholerischer will schnell fort, ein Phlegmatischer will absterben und nicht sterben; allein in allen Fällen hat nicht der Tod, sondern das Leben die Hektik, Schlagfluß, Krämpfe, Gichte, Beklemmungen. Der Tod hebt diese Uebel und schlägt diese Lebensfeinde in die Flucht. Der [108] Held! Wenn dir keine böse Handlung in der Brust sticht, sey unbekümmert; warum willst du fürchten, was so und anders seyn kann? Die Braminen sehen auf die Nase und weissagen. Wenn man lange auf einen Punkt sieht, ists einem so, als sähe man nichts. Seht auf das Unrecht, das man euch in der Welt thut, auf den Acker, den euch der reiche Nachbar abgrenzte, auf eine Bathseba, um die euch ein Wollüstling betrog, auf die Zwanzig, die euch ein Verschwender von eurem Hundert in seinem Concurs darreichte. – Braucht ihr mehr, um gern zu sterben?


Suche, Freund, ein gut Gewissen zu behalten, beides gegen Gott und den Menschen, und wahrlich, ich sage dir, du wirft selig sterben, auch ruhig, wenn dir das Leben es zuläßt; es wird wohl so gut seyn. – Ein gut Gewissen ist ein probates, schlafbeförderndes Mittel. Das Gegenwärtige hat seinen unläugbaren Reiz, denn es ist etwas Gewisses. Da aber das unsichere Gegenwärtige kaum der Rede werth ist, was thut denn die Gewißheit dazu? Die Alten brauchten den Tod zur Aufmunterung. Es sollte noch auf allen Grabmälern stehen: Sey getrost, Wanderer, genieße das Leben, denn es ist kurz! Wer den Tod zuerst als ein häßliches Gerippe vorstellte, war gewiß ein junger Maler, der seine Geliebte verloren hatte. Die Griechen malten ihn als einen Engel, und wahrlich, er ist ein Engel, ein Bote Gottes zur Ablösung. Der Tod ist die größte Gabe des Höchsten; den Seinen schenkt er den Tod. Jene fromme Mutter, die ihre beiden Söhne, vor einen Wagen gespannt, in den Tempel zogen, bat die Götter, diese fromme Handlung mit der besten Gabe zu lohnen; den Morgen fand man beide im Bette in den Tod eingeschlafen. Tod und Schlaf sind Kinder von zwei Vätern und einer guten Mutter. Ist es nicht gut, daß die Fesseln sich abnutzen und wir endlich aufhören, Rudersklaven zu seyn? Der Tod ist der letzte Auftritt in der [109] Reihe der Stufen; wir sind schon bis auf den letzten Tritt todt, ehe wir sterben.

Die Liebe duldet alles, allein sie hofft auch alles. Wie wohl wird uns seyn, wenn wir unter dem Lindenschatten des Tages Last und Hitze vergessen und uns von der Arbeit erholen werden; wie wohl, wenn wir von den Ungerechtigkeiten der Welt noch ans Thal Josaphat die Appellation einlegen und sie geltend machen! Was der Tod dir räth, ist wohlgerathen. Der Leichenstein ist der wahre Stein des Weisen. Auch die Sehnsucht nach dem ewigen Leben wird befriedigt werden. Unser Heißhunger nach Existenz ist Gottes Hauch – sey getrost. Ja, wenn die Ursachen keine Wirkungen und die Wirkungen keine Folgen hätten, ja, wenn! Ja, wenn das Leben dir nicht so viel Vordersätze darreichte, aus denen du den unläugbaren Schluß zu ziehen im Stande wärest von einem unsterblichen Leben, das dort dein seyn wird, ja, wenn!

Wir werden leben, wir werden wiederkommen und zum Tode sagen: Tod, wo ist dein Stachel? Das Principium des Lebens, ist es nicht die Seele? Der Körper, die Materie, ist todt, und sollte dieß Lebensprincipium nicht ohne die Materie besser, gemächlicher, als mit ihr seyn und leben können? Was ist Gott, was seine Welt; was sind wir, was das Gewissen in uns, wenn die Zeit Summa Summarum unseres Seyns ist? Wer will nicht mehr, als er kann? Wer wünscht nicht, wer hofft nicht? Die Essenz des Lebens ist Wunsch und Hoffnung. Wir ehren jeden Mann, der so wenig Bedürfnisse hat, und halten den Genuß, die ganze Sinnlichkeit für etwas, das unschicklich ist. Unsere Talente selbst, was läßt sich nicht von ihnen erwarten? Was ist nicht schon erfunden, und das Reich der Möglichkeit, wer kennt seine Grenzen? Ich erstaune, wenn ich die Geschichte mir über tausend Jahre denke. Sollte uns Gott geschaffen haben, um unserer zu spotten? Monarchen, und auch Salomons unter ihnen, brauchen [110] lustige Räthe. Wie? das höchste Wesen sollte Menschen zu solch einer Absicht – oder im Zorn sollte Gott den Menschen gemacht haben, wie einige Gottschänder gewähnt? Und was ist selbst leichter zu denken, daß wir bleiben oder daß wir aufhören werden? Wer ist, der sich nicht nach Unsterblichkeit sehnt? Und diese Sehnsucht sollte wie Spreu zerstreut werden? Die meisten unserer Brüder sterben gemeinhin in Fragezeichen, einige in Verwunderungszeichen, viele in Komma; wer stirbt im Punktum? Und sollte der Mensch seinem Oberherrn trotzen können, sollte er, wenn es ihn gut dünkt, in der Welt Brand stiften, alle Kinder, die jährig und drunter sind, in Bethlehem morden lassen und sodann flüchtigen Fuß setzen können, ohne daß ihm Steckbriefe nachgesandt werden können, ohne daß er einzuholen und zu bestrafen ist? Ist Tugend und Laster ein und dasselbe Ding, und soll die That im Stillen, die Gott nachahmt, unerkannt und unbelohnt bleiben? Wo dann die Bewegungsgründe zu diesen göttlichen Thaten? Und wann würde ich aufhören zu fragen, wenn der Tod ewiger Tod, ewige Verdammniß zur Vernichtung wäre? Zwar, wenn wir erwägen, wie der Mensch auf die Welt kommt, sieht es doch fast so aus, als ob man Menschen säen könnte. Wie der Hausvater sich Federvieh schafft, so der Monarch Unterthanen; jener legt Eier unter die Henne, dieser schließt seine Wolken auf, läßt Freiheit und Ueberfluß in seinen Staaten regnen, und siehe da, es wird! Ist aber dieser Gang der Natur, so unbedeutend er anscheinet, nicht eben darum göttlich? Der Mensch kann alles und kann nichts. Die Natur sängt im Kleinen an, allein wie weit ins Große geht sie! sie springt nicht, sie geht mit bedächtigem Schritte. Was sind wir, wenn wir auf die Welt kommen, und was, wenn wir hinausgehen, und zu was sind wir dann nicht aufgelegt? Wir sind geprüft, geläutert und bewährt. Es gibt Tugenden, die nicht anders als in einem niedrigen, schattigen Thal auf dürrem Boden wachsen können; [111] darum die Welt, und darum auch die andere. Es kann alles aus uns werden, was Gott will; zwar wissen wir's nicht, wir glauben es nur. Die Vorsicht hat weise, große Absichten in diesen Schleier der Ungewißheit gehüllt; allein brauchen wir mehr als Wahrscheinlichkeit? Wir sollen nicht in der Welt die Hände in den Schooß legen. Welch eine andere Wendung würde die Welt gewinnen, wenn wir auf einmal wüßten, was wir hoffen? Würden wir noch einen freien Willen behalten, und würden wir nicht nur bloß so fromm und gut seyn, als wir jetzt uns gerade halten? Die Christen wissen es gewiß, wie sie sagen, daß sie bleiben werden; allein leben sie wohl so, als wüßten sie mehr davon als wir? So etwas muß das Leben ausweisen. Wenn die Lehrer des Volks selbst Erscheinungsgeschichten, die sich nicht aus den Wochenstuben herschreiben, hören, wie fahren sie in einander, wie erschrecken sie! Ich will den ehrlichen Kerlen unter ihnen keinen Vorwurf machen; wenn sie es aber so gewiß wüßten, als selbst ihre hiesige Existenz, würden sie nicht anders leben, weben und seyn? Würde man aus diesem Leben wohl so viel auf den Kanzeln machen? Wer untersteht sich, an heiliger Stätte einem Fürsten, einem Kirchenpatron etwas anderes, als aus dem alten Testament und der vierten Bitte, zu wünschen? Arme Leute werden in der Nutzanwendung mit dem Himmel getröstet, über haupt ist die andere Welt, auch bei unsern herzlich geliebten christlichen Brüdern, bloß Trost, dieses Leben aber – o was ist es nicht alles? Zuweilen kann man sich nicht entbrechen, an die himmlische Freudenkrone zu denken; allein man setzt wohlbedächtig hinzu: nach späten, urspäten Jahren.


Hören wir auf, was haben wir zu fürchten? Zwar auch nichts zu hoffen, allein wenigstens doch kein Klagelied. Wo warft du, ehe dir zum Menschen die Vokation ins Haus geschickt ward? Ein nicht Geborner und Gestorbener, sind die weit auseinander? [112] Wie viel Gründe aber zur Wiederkunft! Das Laster allein fürchtet, die Tugend sitzt der Hoffnung im Schooße.

Das Grab, Freunde, ist eine heilige Werkstätte der Natur, ein Formzimmer; Tod und Leben wohnen hier beisammen, wie Mann und Weib; ein Leib sind sie, Eins sind sie, Gott hat sie zusammengefügt, und was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden. Eine Handvoll Erde ist eine Handvoll Welt. Schaudere nicht vor der Verwesung. Das Weizenkorn fault und wird ein hundertfältiger Halm; alles muß sterben, was zum Licht und Leben herausbrechen soll. Dieß Erdenall, dieser Erdenball hat alles, was schön und gut ist, erzeugt und ernährt; er ist das Herz, unter dem jedes gelegen, die Brust, die jedes gesogen. – Die Erde ist des Herrn; fast sollte man glauben, daß es des lieben Gottes Lustschloß, sein Sanssouci sey, so gut ist's auf ihr, oder so gut könnte es auf ihr seyn. – Nimm doch diesen Staub in die Hand, vor dem du bebst; es ist Bein von deinem Bein. Aus Erde sind unsere Windeln und unser Leichentuch. Wir werden, was wir waren. Die Goldkörner, die letzten Körpertheilchen, das eigentliche Saatgetreide, ist aufgespeichert und wird zu seiner Zeit schon vom lieben Gott wieder ausgestreut werden auf einen schönen Acker. Die Natur ist das perpetuum mobile, sie steht nicht still, sie wirkt Leben im Tode, Tod im Leben schön durcheinander, daß es eine Lust ist anzusehen, dem, der ein Auge dazu hat. – Der Geist ist in Gott, in dem er lebt, webt und ist. – Das Schlechtere vom Körper, das sich die Würmer so gierig zueignen – Mensch, trauere nicht – es wird nur abgezogen, vom Felde in den Garten verpflanzt, wo es so lange verpflanzt und gepflanzt wird, bis –

Es ist noch nicht erschienen, was wir seyn werden. Du, mein Geist, der du dein bewußt bist, du, der du dich selbst anredest, du Funke Gottes in dieser stockfinstern Erde, du Funke, an dem sich [113] jeder das Licht anzündet, das in seinem Hause brennt, was warst du, ehe dir dieses Kleid zugeschnitten, ehe es dir umgehangen ward, und was wirst du seyn, wenn du dieses Regenkleid, diesen Schlafrock, wenn's köstlich gewesen, ausziehest, oder wenn er, aus Alter unbrauchbar, wie ein zerrissenes Gewand abgeschüttelt wird? Von wannen kommst du? Wohin fährst du? Woher? Wohin? finster vor und hinter dir. – O ihr entkleideten, ihr nackten Geister, die ihr vielleicht dieß Selbst-, dieß Seelengespräch angehört, redet drein: sagt, wo seyd ihr? Wißt ihr, daß ihr seyd, daß ihr waret, daß ihr seyn werdet, und seyn so oder anders in Ewigkeit? Seyd ihr es, die in uns wirken, wenn uns ein heiliger Schauer durchblitzt? Nicht von Hautschauer, sondern von Seelenschauer rede ich. Wollt ihr etwa den Geist warnen, wenn ihr der Seele, des Geistes Busenfreunde, winkt, da ihr an seinem Körper anpocht? – Nur herein, ihr guten Geister, herein! Näher – weg seyd ihr! Diese Ebbe und Fluth des Bluts, was will sie? Solch ein Seelenschauder, Todesvorschmack, wozu? Es ist wahr, es geht durchaus und durchall; allein ich, hoffe ich, werd's vollenden. Was ist der Tod? Selige Geister unserer Vorfahren, die ihr vor uns waret und mit eben der Neugierde, wie wir, euch nach Nachrichten aus der andern Welt sehntet, sagt uns, gebt uns ein Zeichen: was ist der Tod? Hebt euer Incognito, bittet Gott um diese Erlaubniß. Wir haben nicht Mosen und die Propheten, die wir hören können; wir wünschten, daß einer von den Todten aufstände. O du, mein eben entschlafener Freund, wache auf, der du schläfst, stehe auf von den Todten, entdecke mir, wie dir war, wie dir ist, womit du dich beschäftigst. Der Christ ist musikalisch in der andern Welt, der Muselmann wollüstig lüstern, wir sind drüben so einfältig, als man nur einfältig seyn kann. Wie? frage ich, nicht: ob? ist meine Frage; doch auch diese Frage und alle meine heiligen Fragstücke sind wilde Reben der Wißbegierde, sind vorschnelle Sprößlinge [114] meiner Einbildungskraft, welche die Vernunft, wo nicht gänzlich wegzuschneiden, so doch zu verkürzen verbunden ist. Freunde, laßt uns in die Hände Gottes fallen! Warum sorgt ihr für euer künftiges Schicksal? Gott, euer himmlischer Vater weiß, was ihr bedürfet. Ob Leben oder Tod, ob Tag oder Nacht, sorget nicht. Ist es nicht genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe? Es wird alles gut werden. Leben ist eure Sache, Sterben gleichfalls, was drüber ist, bleibt über euch, Freunde. Was euch nicht angeht, davon laßt euren Vorwitz. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, das ist das Grundgesetz in Gottes Staat, und das andere wird euch von selbst zufallen. Laßt alles gehen, wie Gott will, laßt die vier Winde über euern Staub sich in Anspruch nehmen, laßt die vier Gegenden darum streiten, laßt den eichenen Sarg euer Fleisch an Dauer übertreffen, was kümmern euch solche Kleinigkeiten. Wir, die wir nicht in die Sonne sehen können, wollen Gott sehen; wir, die wir den Mond nicht bespannen können, wollen Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit behügeln und begrenzen, wir, die wir die Fixsterne nicht zu zählen verstehen (Mensch, kannst du sie zählen?), wollen die Ewigkeit messen und eine Schlaguhr für sie meistern!

Wer kennt den morgenden Tag? Und doch will man einen Kalender über Ewigkeiten schreiben? Der Anfang und das Ende dieser Welt sind uns Geheimnisse und wir glauben einen Maßstab für die Himmel der Himmel zu besitzen. Hat der Christ einen nähern Weg als wir? Gut für ihn! Unsere Bahn ist die Landstraße, diese Bahn ist plan und natürlich. Im Glauben kommen wir mit dem Christen überein, als wenn wir unter einem Mutterherzen gelegen hätten, nur sein Glaube hat ein ander Feld, als der werthe unsrige. Wir wollen so leben, als könnten wir eine andere Welt sinnlich machen, so fingersinnlich, als daß zweimal zwei vier ist, als wären wir wie die Christen bis in den Himmel entzückt gewesen[115] . Denn fragt euch selbst, Freunde, wenn auch euer Muth an der andern Welt zweifelt, um eure Kunst in Zweifeln zu zeigen; als ob's Kunst zu zweifeln wäre? Was sagt euch euer Herz? – Will ich denn, daß ihr einen Riß von der Stadt Gottes, vom himmlischen Jerusalem entwerfen sollt? Es ist mir genug, wenn ihr nur alle menschenmögliche Wahrscheinlichkeit für die andere Welt findet.

So gut leben, daß, wenn eine andere Welt, schön wie die Sonne, aufgeht, unser Bürgerrecht in derselben gewisser, wie Brief und Siegel ist, das heißt mit andern Worten: der andern Welt würdig seyn. – Je besser der Acker, desto mehr Unkraut. – Vorwitz ist unechtes Kind des menschlichen Verstandes, eine Anlage zur Vorschnelligkeit, eine Krankheit des Scharfsinns, ein helles Glöckchen in der Thorheitskappe. Wir wollen uns entschließen, wie einer unserer Vorfahren, zu bekennen, daß wir nichts wissen, daß wir hier und da Wahrscheinlichkeiten haben; allein im Thun komm' uns niemand zuvor. Weder Wagehälse, noch Wageköpfe taugen viel.

Der Ausdruck: seine Seele in Händen tragen, heißt, wenn ihn die Philosophen brauchen, so viel, als gute Gestus machen. Wir wollen uns weniger um das Für und Wider, diese oder jene Meinung bekümmern, als bereit seyn, es komme, was nur wolle, daß Oel in unserer Lampe sey. Gott wird uns richten, nicht nach unserm Wissen, sondern nach unserm Thun, je nachdem wir die Winke befolgt, die uns zum Guten aufforderten, je nachdem wir die Keime gepflegt, die er in uns gepflanzt hat, je nachdem wir nicht, wider unser Gewissen, die Leute mit allerlei Schwindelei der Lehre hinter das Licht geführt. – Weg mit Sophisterei, weg aber auch mit dem Dichterlaub, das höchstens vor dem brennenden Sonnenstrahl und einem Regenschauer sichert. Ein starkzweigiger Stamm soll aus uns werden, der dem auswurzelnden Organ stattlichen Widerstand leistet, dessen zur Erde sich neigende Aeste Wurzel [116] fassen und der ein Abraham, ein Stammvater eines ganzen heiligen Hains wird. – Wissen macht schwach, Thun stärkt, festigt und gründet. Thätige Menschenliebe ist eine Silhouette von Gott, dem Herrn. Der Anblick des Glücklichen macht froh, das Bewußtseyn, einen glücklich gemacht zu haben, macht selig. That ist das Maß der Zeit; Tod und Sünde ist eins. Die personificirte Bosheitssünde ist der Tod, das, was wir gemeinhin Tod nennen, ist nicht der Tod. Ich bin der festen Hoffnung, es sey Geburtsschmerz, was wir Tod nennen, und gebären nicht die schwächlichsten Werkzeuge unter den Menschen?

Gutes thun, heißt Leben. Auch der Niedrigste hat seinen Geburtsbrief (seinen Taufschein würde ein Christ sagen) von Gott. Laßt uns die Mutterhand der Natur küssen, welche uns einige unserer Brüder und Schwestern, so voll Zutrauens, zur Aufsicht und Pflege überläßt, die uns die ihr zustehende natürliche Vormundschaft abtritt; laßt uns dieser so gütigen Mutter nachahmen, Gutes zu thun nicht müde werden und durch so unzählige mittlere Zwecke hindurch zu einem einzigen, letzten, großen Endzweck arbeiten, das heißt, die höchste nur mögliche Wohlfahrt des ganzen menschlichen Geschlechts befördern. Vorwärts ist Bahn! – Gesetzt, wir erreichten nicht das Ziel; ihm nahekommen heißt: es erreichen. Das Aergste, was wir zu fürchten haben, ist, daß wir im Thun bleiben; das ist besser als in der Lehre. Man sollte allen Subtilitätenkrämern das Handwerk legen, es sind die ärgsten Zeitverderber in der Welt; sie gewinnen uns die Zeit ab, wie die falschen Spieler das Geld.

Strebt der Sonne entgegen, Freunde, damit das Heil des menschlichen Geschlechts bald reif werde! Was wollen die hindernden Blätter, was die Aeste? – Schlagt euch durch zur Sonne, und ermüdet ihr, auch gut, desto besser läßt sich schlafen.

Eine wohlgesetzte Rede ist nie zum Behalten eingerichtet, man will sie ganz, und hat nichts; es ist ein regelmäßiger Garten, [117] wo es recht hübsch und fein aussieht, allein was kannst zu heimführen? Blumen? Blumen in der Hand, von der Wurzel gerissen, was sollen die? Nimm den ganzen Garten mit, was hast du? Ein ganz richtig gerechnetes Exempel zusammt der Probe. Wildniß, Berg und Thal, aus dem Vollen gehauene Gänge, Parke, die machen Eindruck und lassen ihn auch. So vortrefflich unordentlich war diese Rede. Es war kein Kunst-, sondern ein Naturstück, und was ist, pflegte mein Vater zu sagen, was ist es denn, das die künstlich gezogene Wortschleuße und die daherrauschenden Fluthen des Redners, die alle an seinen Text schlagen, erzeugen? Schaum, und wenn auch eine Venus daraus würde; nicht jedem ist mit dieser Schaumgöttin gedient. – Was ich meinen Lesern von der Wildnißrede gegeben, sollte eine Nachfolge des Originals seyn; ich wollte nicht den Hauch der Natur von der Pflaume wegwischen, sondern so wie sie da ist, mit diesem Naturathem, der mir wie ein Heiligenschein vorkommt, wollt' ich sie – da ist die rothbackige Birne ungeschält, die Baumwolle auf der Pfirsich, der Sammt auf der Aprikose, Blatt und Stengel obenein. – Was meint ihr, Freunde, hätt' ich besser gethan, alles in Ordnung zu stellen und zu nehmen und zu geben, mit Allerseits anzuheben, mit Dixi zu schließen? – Ich mag nicht, sagte mein Vater, freie Gedanken in die Festung bringen, obgleich er ein Königscher, ein Monarchenfreund war. – Doch ich bin außer dieser Rede noch eine reine Lehre schuldig. Und freilich hätt' ich diesen Pfirsichen-, Aprikosen-und rothbackigen Birnennachtisch weit füglicher bis ans Ende versparen und da erst zum Besten geben können und sollen; wer kann sich aber helfen? Dafür werd' ich auch nichts nach diesem christlichen Exercitio exploratorio abkanzeln, noch eine Kinderlehre für die Kunstrichter anstellen.

Es trat ein Mädchen auf. Allerliebst! Nicht mit fliegendem Haar, als ständen sie ihr zu Berge, nicht mit einem Gewande, als [118] wär' es vor dem Winde nicht sicher, nicht mit einer hin- und herfahrenden, vorspiegelnden Hand, mit Augen, als wollte sie einfädeln, um uns nur etwas aufzuheften – sondern mit einem fest an den Leib gegossenen weißen Kleide, einem schwarzen Kranze vor der Brust – ihr Haupt mit einem Schleier bedeckt, zwar auch fest, doch ließ er zuweilen nach. Das Auge schweifte nicht aus, allein es blickte inbrünstig gen Himmel und zufrieden auf Gottes Erde. Die Hände, die meiste Zeit gefalten, oft aus Herz gelegt, das aus Empfindung in die Höhe kam und sich zu Gott wölbte.

Das Ende krönet das Werk und zeigt den Unterschied dessen, der Christum angezogen hat, und dessen, der im Bloßen geblieben und höchstens einen Regenschirm für allerlei Wind und Wetter in seine Rechte genommen, welcher aber zur Zeit der Trübsale gemeinhin die Flügel sinken läßt und abfällt. Nur Christus hat Leben und unsterbliches Wesen an das Licht gebracht, die Dunkelheiten der Weisen zerstreut und selbst die finstere Nacht des Grabes ins helle Licht des Evangeliums gesetzt. In ihm war das Leben und das Licht der Menschen. Der Tod ist für den christlichen David der Riese Goliath; er geht ihm nicht mit Schwert, Spieß und Stange, mit weltweisem Panzer und blank geputzter glänzender Rüstung, mit spitzigen Sentenzen und kriegslistigen Fragen, sondern mit kleinen Steinen entgegen, und, wenn er ihn glücklich geschleudert hat, nimmt er sein Haupt gefangen, und es heißt von ihm: Wenn Sokrates tausend geschlagen, der Christ habe zehntausend überwunden und das Feld behalten. Halleluja! Tod, wo dein Stachel? Hölle, wo dein Sieg? Gott aber sey Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum! Wer vor Gott wandelt, wer seine Seele und seinen Leib unbefleckt bewahret, nach dem vorgesteckten Ziele läuft, wer heilig lebt, weil Gott heilig ist, der stirbt selig; wer dem Herrn lebt, stirbt ihm auch.

Die ersten Christen versammelten sich, aus Furcht vor den [119] Verfolgern, auf Gräbern zum Gottesdienste; und wie schön klingen Todesglocken dem, der zu sterben versteht. Kein Deist hört gern läuten. Zwar hat der liebe, grundgütige Gott für alle Menschen gesorgt, für Christen sowohl als für Nichtchristen. Die Unchristen und Antichristen sollten, wenn sie Gelegenheit haben, sich dem Christenthume einzuverleiben und einzuverseelen, die Einladungen nicht verwerfen, sondern sich den Kopf waschen lassen, wodurch das Herz mit rein wird. Was hilft die reine Vernunft, wenn das Herz nicht rein ist? Nur die, so reines Herzens sind, werden Gott schauen. Mensch und Christ sterben; allein der Christ ist eigentlich der Lehnsträger, der Gutserbe, der eigentliche Sterbliche; man kann nur von ihm sagen, daß er geboren werde und daß er sterbe. Der Unchrist ist ein Mensch, als wollt' er Mensch seyn; der Christ ist alles wirklich, was er ist.

Sankt Paulus spricht zu den Ephesern, im vierten Kapitel, im siebzehnten und achtzehnten Verse: So sage ich nun und zeuge in dem Herrn, daß ihr nicht mehr wandelt wie die andern Heiden wandeln, in der Eitelkeit ihres Sinnes, welcher Verstand verfinstert ist, und sind entfremdet von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch die Blindheit ihres Herzens. Der Körper war da, noch ehe Christus kam, das heißt: es fehlte nicht an prächtigen Worten, allein der Geist fehlte; da blies uns Christus an und sprach: Nehmet hin den heiligen Geist! Der Christ ist das Geschöpf, das Gott, wenn ich so sagen soll, am sechsten Tage schuf, um die Lehren der Heiden und Juden und alle Schriften, geschrieben von auserwählten Menschen, zu benutzen und den todten Buchstaben zu beleben, und aus einem Gebeinhause eine Himmelswohnstube zu machen. Der Christ hat den Schlüssel zu den fünf ersten Tagen und ist ein Herr des unvernünftigen Viehes, das auf dem Bauche oder auf Vieren geht, oder fliegt oder – Der Heiden Tugenden sind, nach dem Ausspruch [120] des heiligen Augustinus, glänzende Sünden, und ihr Tod ist ein Armessünderende, wo immer viel geredet wird. Christus hielt keine Reden, wie Sokrates, da er starb; ihm schrieb kein Plato die Predigt nach – der Herr der Natur starb natürlich. Alles zusammen, mit sammt dem Testamente, bestand in sieben Worten. Eine schöne Zahl! Laßt uns die Sache beim rechten Ende fassen. Der Mensch mag es machen wie er will, es finden sich Lebensstellen, wo er offenbar zu kurz kommt; er kommt nicht aus und macht einen Concurs, wo Gott, er und sein Mitmensch classificirt werden, wo es überall heißt: Soll haben, hat nicht; soll bezahlen, kann nicht. Wir können uns zwar vor den Blicken der Welt verbergen; allein der Furcht, verrathen und verkauft zu werden, wer kann der auf Flügeln der Morgenröthe entfliehen? Und wenn wir der Welt entkommen, sind wir uns selbst entflohen? Der Hauszeuge ist in den Gerichtshöfen verdächtig; allein das Gewissen ist unbestechbar und so erhaben, daß man ihm auch nichts einmal anzubieten wagt. Verschließe dich wie du willst, das Gewissen begleitet dich; es schläft und schlummert nicht, es geht nicht über Feld, und was das ärgste ist – es hat ein göttliches Gedächtniß. Das Gewissen ist Gottes Unterrichter, es eröffnet dir in jeder dir selbst gelassenen Stunde, du seyst ein ungerechter Haushalter; du hättest mehr thun sollen, weil du mehr thun können; du hättest gesündigt im Himmel und vor ihm und wärest nicht werth der göttlichen Natur, nicht werth ein Mensch zu seyn. Schäme dich, sagt es dann, und sammelt feurige Kohlen auf dein Haupt. Wohl dem, der diese Kohlen zum Fegefeuer anfacht! Wohl dem, der zu dieser seiner Zeit bedenket, was zu seinem Frieden dient, und daß er in eine Gegend gehe, wo er nicht mehr mit seinem Bruder auf dem Wege ist und wo es angeschrieben steht: Du kannst hinfort nicht mehr Haushalter seyn. Was nun?

[121] Die meisten Handlungen, Freunde, sind darum gut, weil man sie sich viel böser denken kann. So wird das Spiel als eine erlaubte Sache gepriesen, weil es besser als Schmähsucht und Zungentodtschlag ist. Priester und Leviten der Vernunstreligion stehen mit Lebensbalsam, mit Gewissenskühlungen, mit Herzstärkungen aus; allein wenn's zum Sterben geht, hilft kein Seelenkraut und Pflaster, das Wort Gottes allein heilet. – Jeder unrichtige Gedanke, jedes unnütze Wort ist verantwortlich. Wie schrecklich wahr ist dieß Gesetz der sich selbst gelassenen Vernunft! Wo fliehet sie hin in diesen Seelennöthen?

Wohl mir, daß ich ein Christ bin! Wenn ich alles gethan habe, was ich zu thun schuldig war und was ich nur thun konnte, bin ich zwar noch immer ein unnützer Knecht, dem noch viel fehlt; allein welch ein Trost für mich im Leben und Sterben, daß Christus lebte und starb! Er hat Gott, dem Schöpfer der Menschen, im Leben und im Sterben den ganzen Werth der Menschheit in hoher Person gezeigt; er hat ihn uns dargestellt, und wenn, nach dem äußersten Bestreben, zu werden, wie Jesus Christus auch war, Unvollkommenheiten vorfallen, bitten wir Gott, daß er nicht uns, sondern die Essenz der Menschheit, das Ideal menschlicher Tugenden, anschaue, und in ihm, in diesem großen Muster, uns sündige Geschöpfe; und daß er uns gnädig sey und barmherzig und von großer Güte und Treue.

Der Mensch ist göttlichen Herkommens, göttlichen Geschlechts. Aller dieser Verwandtschaft, wie unwürdig sind wir ihr im Fleisch durch die Sünde! Heil uns, daß unsere Natur einen Repräsentanten hat, in welchem Gott uns und wir Gott sehen. Christus ist der Erste in der Menschenfamilie, der Chef des menschlichen Geschlechts, der zweite Adam, der uns den Weg wies, eine verlorne Festung einzunehmen und wieder ins Paradies zu kommen, wo keine Schildwache mehr steht. Er ist der Erstgeborne, denn [122] Adam aus dem Paradiese war nicht geboren, sondern aufgehaucht. Außer diesem Verdienstlichen, welch ein Muster im Tod ist sein Tod? Sein Leben sey mein Leben, sein Tod der meinige. Wer starb so, als dieser Fürst des Lebens? Das Muß des Weisen ist so wenig trosthaltig, daß er sich vielmehr wieder frägt: Warum muß ich? Wenn ich den Schmerz verbeiße, leid' ich nicht, ich stoße zurück, was heraus will. – Und da der Nichtchrist ungewiß ist, ob sein Lebensziel nicht auch sogleich sein ganzes Ziel sey, wie sehr ist er ein Knecht seines ganzen Lebens, ein Knecht von der Stunde des Todes! Alle Pulsschläge schlägt sich der Gedanke auf: nicht etwa diese Nacht, sondern diese Stunde, diesen Augenblick kann man, nicht etwa bloß deine Seele, sondern dich ganz von dir fordern, und was wird seyn, das du gesammelt hast? Elender Nachruhm! Du Unsterblichkeitsanalogon des Nichtchristen, du wirst die zitternden Nerven nicht halten und dem Herzen nicht Luft zuwehen.

Zwar auch Christus war von Gott verlassen, allein mit Ehren und Schmuck ward er gekrönt, selbst da er noch am Kreuz hing. Sein göttlicher Tod lösete dem Hauptmann die Zunge zu der Stunde: »Wahrlich, es ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen!« Der Christ, wenn er im bösen Stündlein auf den Gedanken fällt, sein Geistfaden wird mitreißen, wenn der Lebensfaden reißt, Gott sey von seinem Geist gewichen und dieser sein Geist werde verrauchen, so wie sein Fleischtheil aufgelöst wird, dann erscheint ein Engel und stärkt ihn. Wenn das was gedichtet wird, keine Möglichkeit in sich enthält, ists Hirngespinnst, je mehr Wahrscheinlichkeit aber, desto vollkommener das Gedicht. Wenn der Nichtchrist uns vorwirft, wir stürben poetisch – so laß er uns diese heilige Poesie, diesen Schwung. – Trifft dieser Schwung nicht näher, als ein geschliffenes Kunstsystem von Hoffnung? Ist die ganze Hoffnung mehr oder weniger als Dichtkunst?

Der Christ, entzückt in den Himmel, hört unaussprechliche [123] Worte. Wann haben wir nicht unaussprechliche Selbstlaute gehört, wenn uns eine schöne Frühlingsmorgenröthe ins Freie einlud und wir einsam der Sonne entgegengingen? Und das Gefühl der Kräfte der zukünftigen Welt, welche Begeisterung im Sterben!

Die Offenbarung ist eine erhöhte Vernunft, die Vernunft in heiliger Poesie, ein Vernunftkörper; sie stellt dar, sie macht anschaulich, es ist ein Höchstes der Vernunft, ein vernünftiges Ideal, und doch eine solche lautere Milch, daß sie ein Kind fassen kann. Wo die Vernunft Zahlen hat, besitzt der Christ lebendiges Wesen. Der Weise denkt, der Christ sieht. Wie sehr weg setzt ihn diese Fassung über alles was in der Welt ist! Er ißt Aehren am Sonntage, wenn ihn hungert, und wenn selbst der Hohepriester, auf dessen Brust Licht und Recht strahlen sollte, diesen göttlichen Orden verkennt, und den Pöbel zum kreuzige ihn auffordert und sein Müthchen an ihm kühlt, wenn der Sadducäismus und der Pharisäismus es mit ihm anbinden will, wenn die Welt ihn auspfeift, überwindet er weit. – Christus hat am meisten von Gelehrten gelitten. – Seht die Sünde, wie sie wollte und nicht konnte! Wo ist ihr Sieg? Und wenn der Zweifelkopf der Vernunft, und wenn das eigene Herz schüttelt und spricht lauter Nein! Er weiß. – Zwar ehrt er den Namen Gottes unter dem Patent, das die Vernunft vorzeigt, er läßt ihr ein freies Votum, allein er verlangt auch eins. Was weiß die Vernunft von der Zusammennehmung dieses und jenes Lebens, dem ersten und zweiten Theil des Menschen, von unsern Schicksalen, vom ersten Menschen? Von der Sprache, dem göttlichen Unterricht bis auf die Kleider zu?

Nicht so, nicht so ist die Vernunft im Leben und im Tode. Der Christ weiß, sein Tod sey nur Verwandlung, Verklärung, melior compositio ohne grammatikalische Fehler, ohne Flecken, ohne Runzeln oder deß Etwas. Alles schön gegeben, vortrefflich ausgedrückt. Die zweite Auflage und auch die, so mit ihm aus[124] einem Gesangbuch sangen, in einer Bibel lasen, auch die wie er. Was trauerst du, arme Wittwe, um den einzigen Sohn? Mein Meister spricht: weine nicht! Zwar erweckt er nicht mehr einzeln die Todten, denn auch die Erweckten sind wieder gestorben, oder was sind sie? Wahrlich, doppelter Tod wäre eine Ungerechtigkeit. Wittwe, warum die tiefen Thränen? Zwar wird er nicht zu dir kommen, aber du zu ihm. Weine nicht, ruft dir der Herr zu, dessen Herz auf den Grund bewegt war, und auch vor Schmerz, vor Mitleid überging. So können nur trauern, die keine Hoffnungen haben. Ist's nicht gut, daß ein Weltknoten nach dem andern gelöset wird, und daß ihr Bekannte in der Stadt Gottes habt, welches euch gut und wahrlich besser, als ein Freund am Hofe ist? Die Zeit tröstet den Weisen. Beweise, christliches Weib, daß du auf die Zeit nicht warten darfst und auf die Stunde, wenn es ihr gelegen ist. Die Ewigkeit sey dein Trost, die auf der Stelle lindert, verbindet, heilt! Es gibt ein allgemeines Ziel, spricht Sirach, hundert Jahre; allein dieß ist ein apokryphisches Ziel. Moses verkündigt fein canonisch: Unser Leben währet siebzig Jahre, wenn's hoch kommt sind's achtzig, wenn es köstlich gewesen ist's Mühe und Arbeit gewesen, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Der Christ sucht dieses Ziel nicht zu verrücken, er wälzt den Grabes-Grenzstein nicht weiter, übt sich, indem er den Lüsten und Begierden abstirbt, im Sterben, und was kann ihn scheiden von der Liebe Gottes?

Was braucht aber der Christ von den göttlichen Absichten zu erklügeln? Er weiß, daß der Herr alles wohl mache, und das ist genug.

Wenn andere leben, um nach dem Tode einen Leichenstein zu verdienen, auf dem Leben und Thaten eingeätzet sind, welchen ein gedungener Haufen Leichenbegleiter für Geld und gute Worte mit feilen Thränen taufte, hat der Christ nicht lieb die Welt, noch was [125] in der Welt ist. – Sein Name und Wappen, wenn er sie aushauen läßt, sollen nur bloß, auch nach seinem Tode, ein gutes Beispiel stiften.

(Bei dieser Stelle sagte mir der Graf ins Ohr: Wenn ich meine Krone im Wappen sehe, denke ich an die himmlische und an die Perlen, deren auch in der hohen Offenbarung gedacht wird.) Der Mensch ist ein Hieroglyph der ganzen Natur; wer es zu erklären und aufzulösen versteht, hat den Schlüssel zur Natur. Der Leib gehört hiezu eben so, wie die Seele. Glaubt mir, Freunde, er muß was zu verbeißen haben, wenn die Seele im Fluge ist, und wenn es uns recht gut bekommen soll, muß unsere Mahlzeit geistig gewürzt seyn. Den Menschen ganz zu erklären, dazu gehört mehr, als wir diesseits des Grabes vermögen. Der Christ kommt bei dieser Auslegung noch am nächsten. – Er versteht das Menschenhieroglyph, so wie die Kinder ein Buch aus den Bildern. Das Grab hat nur auf die Schlacken Anspruch. Das Feine des Körpers wird auferstehen; das ist eine Wahrheit zum Wärmen, wenn alles an uns kalt wird. Gottes Weisheit handelt überall im Verborgenen: in Gräbern nur wird sie gerechtfertigt. In dieß Auge, das im Tode verlöscht, wird wieder Licht geschlagen werden. Heilig, selig ist der elektrische Funke, der in diese Finsterniß gesprüht werden wird! Dieß Leben ohne den Herrn ist ein Fischzug Petri, der die ganze Nacht arbeitete und nichts fing, und nur, wie er auf seines Meisters Befehl das Netz auswarf, mehr zog, als das Netz halten konnte. Wenn auch beim Christen zuweilen das Netz reißt, was ist's gegen den Segen, der von Fischen gezogen wird? Heil dem Christen! Sein Leib ist im Dienste der Seele, die Seele im Dienste des Geistes, der Geist im Dienste Gottes.

Heil dem Christen, denn er hat über sich einen gnädigen Gott, in sich ein stilles Gewissen, unter sich einen ihn befriedigenden Erdboden – wenn gleich die Aepfelbäume nicht so gut wie im [126] Paradiese fortgehen – hinter sich eine glücklich zurückgelegte Bahn, den Trostspruch: Sohn, Tochter, dir sind deine Sünden vergeben, stehe auf und wandle!

Vor sich einen seligen Tod und eine fröhliche Auferstehung, einen Richter, der wohl weiß, wie es einem Menschen zu Muthe ist, der auch lebte und starb!

Das verlohnte also wohl, daß Engel der Erde gratulirten: Ehre sey Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

Wollt ihr mehr? O ihr Kleingläubigen? Wohlan, ich will euch die Furcht des Herrn lehren, den eigentlichen Anfang der Weisheit. Laßt uns von den letzten Dingen anheben. Letzt und Erst ist nur, nachdem man es nimmt.

Was du säest, Freund, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Ist dein Leib nicht ein bloßes Saatkorn, das ausgesäet ist? Ist der Mensch hier mehr, als Fayence, und soll er dort nicht seyn ein Gefäß zu Ehren? – Gott weckt alle Frühjahre Todte auf, und jeder Augenblick ist eine Auferstehung. In jedem Felde sind Schaaren Evangelisten, die uns die Lehre der Wiedergeburt, des Wiederlebens alles Fleisches, das wie Heu ist, verkündigen. Wir ziehen aus diesem Leibe, um in eine andere himmlische Wohnung einzuziehen, wie aus der Pacht ins Eigenthum. So verwandeln sich vor unsern Augen unzählige Dinge. – Der Geist ist der eigentliche Mensch; dieser Jünger Christi stirbt nicht. Der Pfeil des Todes trifft nur den Leib. Sobald es zum Sterben geht, beruht alles auf der Einbildung derer, so nicht sterben und sterben sehen. Seht ihr denn den Geist, ihr Händeringer? Er ist in Gottes Hand, und keine Qual rührt ihn an, und warum sollte der Geist um diesen Leib und dieß Gebein zittern und zagen? Warum sollte er beim Leichenbegängniß im ersten Paar, wie ein leidtragender Wittwer, gehen. Wie vielmal soll ich den Trost des [127] Christen wiederholen? Auch sein Leib wird nicht untergehen. Pflanze und Thier fordern das zurück, was ihnen zugehört, und was ist denn, was wir ihnen zurückgeben? Ist es nicht Etwas, das uns oft so lästig war? – In der Natur ist ein immerwährender Wechsel; allein eine Allwissenheit regiert ihn! Und kommt denn Etwas aus unserem eigenthümlichen Hause? – Ist die Erde nicht unser Haus? Ob dieses oder jenes Stück von unserem beweglichen Hab und Gut in diesem oder jenem Zimmer steht? Ob unterm Spiegel oder am Kamin? Ob im Saal oder im Nebenzimmer? Und warum sollte ich nicht etwas Abgetragenes gegen etwas Neues hingeben? Eine andere Klarheit hat die Sonne, eine andere Klarheit hat der Mond. Es wird gesäet verweslich und wird auferstehen unverweslich; es wird gesäet in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit; es wird gesäet in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft; es wird gesäet ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistiger Leib.

Ist es nun begreiflicher, daß auch der Leib nicht untergehe? Alles, was stirbt, steht auf. Nennen wir nicht vielleicht öfters todt, was wir in seiner Entwicklung nicht übersehen? Jene tausendmal tausend Vollendete sehen vielleicht unserer Geburt, unserem Durchdrange durch Tod zum Leben zu und freuen sich, die Taufzeugen bei dem Namen zu seyn, der dem Ueberwinder, dem Geprüften, des Heiligsten würdig Befundenen, beigelegt wird.

Geschöpfe, die Gott erkennen, in denen Christus wohnt, können unmöglich auf der ersten Stufe bleiben, auf der Stufe der Kindheit. Dieses Leben ist ein Kinderstand; diese Leiber sind Windeln. Aus Kindern werden Leute. Unsere Seele ist in dieser Welt ein Licht unterm Scheffel. Wir steigen die Stufen, die Jakob im Traume sah, wo die Engel hoch und niedrig standen, und wenn ich gleich nach meinem Abschiede aus dieser Welt ein Engel werde, kann es denn nicht auch hier Klassen der Seligkeit geben. Der [128] Thürhüterposten ist hier aber schon eine über alle Maßen wichtige Herrlichkeit, weil weder Neid noch Eigendünkel mehr ist. In Gottes Hause sind viele Wohnungen. Unser Haus ist die Erde; Gottes Haus ist die Welt. Das feste prophetische Wort zeigt uns die andere Welt in Kupferstichen, hie und da illuminirt. Wie kann ein vernünftiger Lehrer anders mit Kindern verfahren? Gastmahl, Paradies, himmlisches Jerusalem, eine schöne Erbschaft, eine Ehrenkrone, ein Siegerkranz, ein Ruhesitz Gottes, eine Festfeier; so wird uns die andere Welt vorgestellt, und wenn wir annehmen, daß wir Gott in seinen Werken näher schauen, daß wir tugendhafter und also auch glücklicher seyn werden, was wollen wir denn mehr? Der christliche Himmel besteht in reiner Wahrheit und vollkommener Tugend. Sehen wir gleich hier nur durch einen Spiegel in einen dunkeln Ort, so ist es doch genug zu wissen, daß, wenn gleich unser äußerlicher Mensch verwest, der innerliche jedoch von Tag zu Tage erneuert und stärker wird. Ist denn das nicht Gewährleistung für die andere Welt? Ein ächter Christ ist hier schon im Himmel! Er sieht sich ab- und zunehmen; das Sichtbare, das Zeitliche fällt, das Unsichtbare, das Ewige hebt sich. – Er hat das andere Leben in der Hand – es ist ihm so nahe, als der Leib der Seele. – Warum sollten wir uns bemühen, zu bestimmen, ob aus Steinen Pflanzen, aus Pflanzen Thiere, aus Thieren Menschen, aus Menschen Engel werden? Ob wir in eine Sonne oder in einen Planeten, ob wir in ein Winter- oder Sommerzimmer unseres lieben Gottes dereinst einziehen? Ob wir in unser Sonnensystem oder wo anders hinkommen? Beides, Leben und Tod, ist dem, der alles recht bedenkt, wünschenswerth. Gott hat uns in dieser Welt den Weg gebahnt, zu werden, was wir geworden, und in jener wird er, der Herr und Vater über alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden, uns nicht verlassen!

Dieß ist die Zuversicht, die ich durch den habe, der dem Tode [129] die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durchs Evangelium. Wir besitzen des Himmelreichs Schlüssel, zu binden und zu lösen, wo der Philosoph Lücken findet und nicht aus, nicht ein weiß. Ueberhaupt weiß er nichts. Einer ist unter ihnen wider den andern. Der ist ein Plato, der ein Aristoteles, der ein Redner, der ein Sophist. Sophisten sind Taschenspieler und Redner sind Schmeichler. Wahre Weisheit wohnt nicht in geschmückten Gärten von Kunstworten, sondern in dem friedlichen Thale der kindlichen Aufrichtigkeit. – Darum schilt ein Weiser den andern. Sie haben unter sich Katholiken, Protestanten, Muselmänner und Gott weiß, was mehr. Je nachdem jedem der Kopf steht, je nachdem will er es auch vom Auditorio. Dieser spricht von der Mutter Gottes, der Jungfrau Maria, der grundgütigen Natur und von guten Werken, predigt viel Gesetz, allein kein Evangelium. Jener ist der Meinung, der Mensch könne sich nicht besser machen, als er ist. Seine Neigungen sind nicht Vorschriften, die er sich selbst gegeben, sondern steinerne Gesetztafeln, die man zwar zerbrechen kann; wer aber, fragen diese guten Herren, wer kann ein Gebot der Neigung ausradiren? Es ist ja ein Stein. Dieser ist sinnlich, Jener geistig; Dieser ein Kopfhänger,Jener fröhlich und guter Dinge; Der zweifelt über alles, auch selbst, daß er zweifelt, Dieser thut so grundgelehrt auf seine Worte, daß man wirklich glauben sollte, er wüßte Etwas. Ein Einfall, sagt er, ist ein einziger Fall, den auch ein bloßer Witzling haben kann. Mir stehen Principien, das heißt, eine Sammlung aller Fälle zu. – Gut, aber wo sind denn deine Principien, in so weit sie wirklich weise und selig machen? Die Philosophen sind Räthselaufgeber, sie lehren Räthsel und lehren sie räthselhaft. Eine Volksphilosophie müßte so kurz ausfallen, wie Luthers kleiner Catechismus. Ist denn die Wahrheit nicht nackt, und wenn einige der Alten für Dunkelheiten waren, mußten [130] sie es nicht wegen der Unvernunft des Volks seyn? Jetzt aber, ihr Weisen, da ihr selbst nicht läugnen könnet, Weisheit aus dem Volk und aus dem Volksbuch, aus der Bibel, geschöpft zu haben, warum gebt ihr nicht verständlich wieder, was ihr verständlich empfinget, und was ist's denn, was euch selbst zusteht? Der Christ weiß, an wen er glaubt. Von diesem Glauben des Christen hat der Nichtchrist keine Vorstellung. Es ist ein lebendiger, ein wissender Glaube. Gott sandte uns nicht ein Buch herab, voll Worte und Meinungen, fein sauber geschrieben. Unsere Vorfahren waren Geisterseher, allein wir? wir sahen Christum, den Anfänger und Vollender unsers Glaubens. Hier ist Sache, That, Begebenheit, Wahrheit. Er war zwar Mensch, allein Gottmensch; man sah ihn, und wir sehen ihn noch in Begebenheiten mancherlei Art; sein Geist blieb bei uns. – Christus ließ sich nicht malen, denn da hätte man nur eine Stellung von ihm gehabt, sondern er ward geboren, lebte, lehrte, starb. – Er lehrte durch Thaten, er lebte durch Lehren. – Was von seinem Leben geschrieben worden, ist auch Leben. Einfalt ist die Art, womit alles behandelt wird; allein Einfalt ist die ächte Tochter alles Guten, alles Wahren, alles Vollkommenen. – Wo ich göttlichen Finger sehe, warum will ich denn da noch meine Hand auch in die Nägelmale legen um sagen zu können: Mein Herr und mein Gott! Empfindest du nicht in jedem deiner Schicksale (o Mensch, gib auf dich Acht!) Gottes Wege? Fühlst du nicht, daß, so wie Gott Einer ist, er dich auch so leite und führe, als ob du der einzige wärest, den er zu leiten und zu führen hätte; und warum willst du denn ein Zeichen am Himmel, um zum Dank, zum Lob, Lob sey Gott! ohn' Ende aufgefordert zu werden? Laßt uns Hand ans Werk legen, und wir werden finden, ob die christliche Lehre von Gott sey, oder ob die Bibel so von ihr selbst rede? Von dem Weltweisen heißt es, wie vom reichen Manne: Er starb und ward [131] begraben. Die Herren Recensenten hielten ihm Reden und Predigten, die Dichter fangen, und doch ward er begraben. Vom Christen kann man wie vom Lazarus sagen: Er starb und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schooß!

Was habt ihr denn für einen Beweis? rufen uns dieWeisen zu. Verzeiht, ihr Herren, Gott allein istweise! Was aber unsern Beweis betrifft, so führen wir ihn menschlich. Unser Beweis ist vernünftige, lautere Milch und Erfahrung.

Wie ist der Mensch auf Gott, Geist und Ewigkeit gekommen, wenn sie nicht wären? Der Mensch ist groß und klein; er zähmt Löwen, verkauft Wallfische und wird von einer Schlange getödtet.

Zweifler! ich soll beweisen, daß ein Gott sey? Beweise mir erst, daß er nicht ist. Wie kann man Thatsachen beweisen? Wie kann ein Sohn beweisen, daß Dieser oder Jener sein Vater ist?

Es geht in der Welt über und über, und wie könnte das, wenn Gott, der Herr derselben, König wäre? Ei, Lieber, wenn Gott sein Bild dem Men schen anhing, wenn er ihm Verstand und Willen gab, wer hat Schuld an dieser Unordnung?

Jeder Mensch hat so etwas bei sich, was Ja oder Nein bei allen Dingen sagt, sie mögen Wissen oder Thun, Rath oder That betreffen. Es gibt so gut ein Verstandes- als ein Willensgewissen. Ist euch das zu hoch? euch zu hoch, die ihr den Gang Gottes in der Natur, das Kommen einer jeden Pflanze in ihrem sanften Tritt beschleicht? Ihr solltet euer eigenes Erdreich nicht kennen?

Es gibt baare Kenntnisse und Kenntnisse auf Verfalltage. Das Christenthum hat von beiden sein Theil. Die wichtigsten Artikel können durchs Leben bewiesen werden. – Ich lebe, sagt Christus, und ihr sollt auch leben.

[132] Ich weiß eure Einwendungen, ihr Weisen der Welt.

Das Christenthum, sagt ihr, habe den Muth gehemmt, froh zu leben und froh zu sterben; es lehre, daß nur wenig Auserwählte seyn werden. Allein was ist besser, seine Seligkeit schaffen mit Furcht und Zittern, oder wider besser Wissen und Gewissen handeln? Es ist ein Aufwaschen, bringt ihr Leichtsinnige bei; allein seyd ihr schon von euerm Gewissen je in Anspruch genommen? Seyd ihr schon in der Tinte gewesen? Glaubt ihr denn, daß das Auge, welches seinem Nächsten nach Leib und Leben stand, mit einer Thräne der Reue abgewaschen werden könne?

Wenn die reine Vernunft lehrt, sich so zu führen, daß, wenn ein Gott und eine Ewigkeit wäre, wir seine Kinder und die Erben des Himmels zu seyn das Recht hätten, so lehrt sie uns etwas Uebermenschliches. – Sobald wir zweifeln, Freunde, so bricht die Sinnlichkeit Thür und Thor, schlägt alle Schlösser auf und findet im Zweifel so viel Unterstützung, daß alles über und über geht. Ja, wenn der Mensch fünfzig Jahre alt und des Tages Last und Hitze der Sinnlichkeit getragen hat, dann, Freunde, könnte diese Lehre weniger gefährlich seyn.

Und doch ist sie gerade zuwider der lautern Milch Christi, des Herrn, der ein herzliches Zutrauen von seinen Nachfolgern will. Zweifel, Freunde, ist das Schrecklichste, was man sich denken kann! Wo Zweifel ist, wie kann da Zutrauen seyn? Man will sich in den Schatten legen, eh' noch die Bäume ausgeschlagen sind. Man brennt sein Haus aus eitler Baulust ab; man ist nicht kalt, nicht warm; man hinkt auf beiden Seiten. Gelehrte Zweifler, gute Freunde, ihr dringt aufs Thun, und wenn ich euch sage: Ihr könnt, ohne zu wissen, ohne den Glauben, ohne die Lehre Christi nichts thun. Eine Gott ehrende Menschenliebe ist unsere Tugend. Wir leihen dem Herrn, wenn wir den Armen geben. Wir geben nicht mit dem Munde, sondern mit dem Herzen, im [133] Geist und in der Wahrheit; wir entäußern uns unser selbst, wenn wir Gutes thun.

Euer ganzes System beruht auf Furcht, die aber nicht die Furcht des Herrn ist. Lebt so, als wenn wirklich ein Gott, wenn wirklich eine Unsterblichkeit wäre. Schön gesagt, aber auch gethan? – Liebe, Liebe, Liebe ist die Quelle alles Guten, der Brunnen des Lebens! Die Liebe treibt die Furcht aus.

Niemand hat Gott je gesehen, niemand besitzt eine Demonstration von seiner Existenz; allein braucht's einer Demonstration, daß ihr seyd?

Du glaubst, Freund, daß sich die Welt selbst erhalte, daß, wer erhalten könne, auch zu schaffen vermögend sey, daß, wer B zu sagen verstünde, auch A zu sagen im Stande sey? Ich weiß, daß ein Haus sich nicht selbst bauen könne, weil es ein Kunststück ist, daß aber die Natur täglich, stündlich, augenblicklich baue und niederreiße, bessere und fördere; allein, Lieber, was ist die Natur? Laß mich mit deinen Wörterchikanen; die Wahrheit hat, wie die Sonne, ihr eigen Licht.

Vorwitz ist freilich Untugend, allein kindliches Zutrauen und Zudringlichkeit, wie sehr unterschieden!

Ich weiß, was ich glaube, heißt das viel weniger, als: ich weiß?

Guten, lieben Freunde, wenn eure Lehre unter den Haufen käme, was würde da aus der Welt werden? Gott schlägt euch mit Wortsblindheit, sonst müßten wir unsere Kirchen brechen und Gefängnisse daraus machen. – Und doch, lieben Leute, glaubt ihr die Wohlfahrt des ganzen menschlichen Geschlechts durch eure Lehre zu befördern, ihr, durch solche Lehren, die nichts denn Menschengebot sind? Freunde, das laßt dem Christenthum über, oder der ganze Plan ist platonisch. Uns sollt' es gleich seyn, wie das Reich Gottes käme, wenn es nur käme! Nur eure Fahne[134] scheint es nicht dazu anzulegen, das Verirrte zu sammeln – damit eine Heerde und ein Hirte werde. – Doch, warum sollten wir mit euch rechten? Richtet nicht, sagt unser Herr und Meister, und es wird die Zeit kommen, da wir alle werden gerichtet werden. Wohl uns, wenn wir bestehen in der Wahrheit! Als gute Streiter im Reiche der Vorurtheile, nicht, die suchten das Ihre, sondern das, was der Wahrheit und Tugend ist; nicht, die über die Menschen herrschen, sondern die sie glücklich machen wollten. Wie oft kann es hier heißen: Große Schulden erhalten bei Credit, kleine schwächen ihn. Der Christ will keinen verführen; er gibt jedem die Bibel in die Hand, und da liest sich jeder heraus, was seinem Verstande gemäß ist. Es finden sich Sprüche für Gelehrte und Ungelehrte, Reiche und Arme. Hier ist harte Kost, hier ist Milch, starker Wein und Labetränke. Die Bibel ist allen allerlei; sie ist für Leben und Tod; sie lehrt uns, Cisternen auszusetzen, um himmlisches Wasser auf zufangen. Der Geist der heiligen Schrift ist so kurz, als das Vaterunser. Glaubt, lieben Nichtchristen, im Sterben sieht man Gott, sich und die Welt aus einem andern Gesichtspunkte, als im Leben.

Laßt mich an Ort und Stelle, laßt mich zurück, wo ich ausging!

Was Johannes sagt, ist jeden Augenblick wahr:Kinder, es ist die letzte Stunde! – Wohl uns allen, wenn wir bereit sind zu stehen vor des Menschen Sohn! wenn wir ihm unter Augen treten und sagen können: Wie du gewandelt hast, haben auch wir gewandelt; so ehrlich, wie du gelehrt hast, haben auch wir gelehrt. Gestern haben wir überwunden, heute laß uns mit dir im Paradiese seyn!

Komm, Tod, heute, morgen! Mein Freund ist mein, ich bin sein. Ich habe Luft abzuscheiden und bei ihm zu seyn; welches [135] auch besser wäre. Amen, ich komme bald, Amen! Ja komm, Amen! Vater, in deine Hände befehl' ich meinen Geist!


† † † †

† †


Lieber Graf, bis zum Wiedersehen, hier oder dort!

Von einem Manne, wie der Graf, wer kann Abschied nehmen? oder besser, den Abschied mittheilen? Ich nicht.

Der Prediger aus L – kam und war so inniglich froh, mich wieder besser zu finden, daß er bei einem Haar mit dem Grafen wieder freundschaftlich zerfallen wäre. Der gute Prediger! Er hatte für mich, unter dem Namen eines Leidenden aus einer andern Gemeinde, auf der Kanzel gebetet, und eignete den größten Theil meiner Besserung dieser ernstlichen Fürbitte zu. Die ganze Gemeinde, fügte er hinzu, wußte beim ersten Wort, daß Sie der Leidende aus einer andern Gemeinde waren. Der junge Ehemann, sagten sie unter einander, dessen Frau wir jüngst begruben.

Ich bin sonst sehr fürs Abschiednehmen, wovon ich in diesem Buche manches Pröbchen gegeben; allein hier, kann ich?

Das ganze Leben des Grafen war eigentlich ein feierliches Abschiednehmen, nicht bestehend in: Leben Sie wohl, Dank für alle erzeigte Güte! – Wünsche so glücklich zu seyn, vom Wohlbefinden die besten Nachrichten einzuziehen! Solch elend jämmerlich Zeug hat das Abschiednehmen, so wie das Gesundheitstrinken, bürgerlich gemacht – und doch liegt in einem Leben, im andern Sterben. Ich trinke Gesundheit und nehme Abschied.

Wahrlich, ich kann es nicht beschreiben, mit welcher Bewegung ich diesen hochgebornen Todtengräber verließ. Auf meinen wohlehrwürdigen Reisegefährten konnten diese Dinge natürlicherweise keinen so starken Eindruck machen. Der Prediger kannte das Erdreich auf diesem Gottesacker und hatte hier zuweilen selbst die Hand [136] an den Pflug legen müssen. Anfang, Mitte und Ende meines Aufenthalts auf dem gräflichen Gute lag auf meiner Seele; allein sanft war mir dieses Joch, leicht diese Last. Hier oder dort! Ich dachte nicht das Hier. Hier galt bei mir wenig, dasDort verschlang es bei mir. Nicht hier, dort! bald! dort! dort! wo Mine ist, wo sie ewig seyn wird, dort! dort! dort! Ich komme bald, Amen! hieß es beim Schluß der christlichen Rede. Ja komm! Amen!

Der gute Prediger stieß mich mit der Frage an, wie mir die Reden gefallen, von denen er gehört, daß sie gehalten worden? – Herzbrechend, sagt' ich. Dort, lieber Herr Prediger, dort sehen wir uns wieder! Der gute Prediger faßte mich bei der Hand und drückte sie, und sagte mir so sanft: Gretchen läßt Sie grüßen! daß mir ward, ich weiß nicht wie? – Jungen Leuten ist Leben und Sterben wie Wachen und Schlafen; alles an einem Rosenkränzchen. – Auch hier ist gut seyn, sagte der Prediger. Nur nicht zum Hüttenbauen, versetzt' ich, wenn man eine Mine verloren hat. Auch die Erde ist des Herrn, fuhr der Prediger fort, so wie es der Himmel ist.

Der Prediger fand viel eigenes in Absicht des Styls in den Reden. Es ist, sagte er, so was Beängstigendes, so was von Todesnoth darin. Eben das, sagt' ich, hat mich entzückt bis zur Halle des Himmels. Dieß in der Rede zu treffen, zu copiren, war unmöglich. – Ich liebe, fuhr der Prediger fort, eine genaue Bindung der Perioden, eine gewisse Baukunst im Vortrage, und so viel Fenster wie möglich in jedem Stock. Zwar halte ich es für keine Sünde wider den heiligen Geist –

Da waren wir wieder, wo mich der gute Prediger hin haben wollte. Er wiederholte mir Plan und Ausführung, Geist und Ausdruck, versicherte, alles Eckige in den Perioden, was nicht schon gerundet und abgeschliffen wäre, noch runden und abschleifen zu[137] wollen. Was meinen Sie, fragt' er mich, ob ich das Register lasse? und zur Nutzanwendung noch ein ob? noch die kritische Frage: ob sein Bruder, der königliche Rath, sich nicht über die Zuschrift kreuzen und segnen würde? Ohne Vorrede, sagte der Pastor, lass' ich's nicht. Es ist nicht gut, daß das Buch allein sey. – Die Vorrede, sagte mein Vater, ist der erste Eingang, wo Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung vorkommt, damit der Autor ein geruhiges und stilles Leben führen möge, in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

Zur Erkenntlichkeit versah mich der Prediger mit einigen Zügen vom Grafen – aus seiner Vorrathskammer, womit ich meine Leser versehen will. Die letzte Hand –

Der Graf rechnete mit seinen Pächtern und Verwaltern jedesmal die Woche vom neunten bis zehnten Sonntag nach Trinitatis. Am neunten Sonntage nach Trinitatis wird von dem ungerechten Haushalter gepredigt, am zehnten von Jerusalems Zerstörung. Der Graf ist nie von seinen Haushaltern betrogen.

Wenn er in die Kirche kommt, wird er mit Geläute eingeholt. So wird's klingen, sagte der Graf, wenn Sie mich werden heimführen aus diesem Elend. Kyrie eleison.

Zu seinen Kirchenabgaben, wozu auch das Predigtamt gehört, hält er seine besondere Sonn- und Festtage. Er berichtigte sie doppelt, nur nicht wenn Quatember roth im Kalender steht, sondern z.B. am sechzehnten Sonntage nach Trinitatis, wo man der Wittwe Sohn aus Nain trägt; am ersten Sonntage nach Trinitatis, wo vom reichen Mann und armen Lazarus gepredigt wird. Solche Evangelien muß man eindrücklich machen, sagte der Graf.

Am siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis, wo, wie er sagt, die christliche Illumination vorkommt (das Evangelium handelt von den fünf klugen und fünf thörichten Jungfrauen), schenkt [138] der Graf zehn Kirchenlichter, die bei der Communion (nach der Gewohnheit in Preußen) brennen.

An seinem Geburtstage legt' er sich zwei Stunden in seinen Sarg, welcher, wie meinen geneigten Lesern bekannt ist, in der Hauscapelle steht – und zwar im Sterbehemde.

Geduld, Standhaftigkeit, sagt' er einstmals zum Prediger, der von der Standhaftigkeit und Geduld gepredigt hatte, das sind die einträglichsten Tugenden, und worin bestehen sie? In der Fertigkeit, sich auf einen Punkt einzuschränken, den man mit unverwandter Seele ansieht; in der Geschicklichkeit, immer in diesen schwarzen Fleck zu treffen. Mein Vater schlug Observationen vor; allein der Graf schien sich auf einen einzigen Punkt anzustrengen. Wer hat Recht?

Der Graf war sehr glücklich im Rathen. Er setzte sich nicht auf den Dreifuß, wenn er zum voraus Dinge bestimmte. Er schüttelte dieß aus dem Ermel. Er hielt sehr auf Träume, und glaubte mit meiner Mutter, daß andere Geister alsdann die Thüre offen fänden, um sich mit ihres Gleichen zu unterhalten.

Die Welt, sagte der Graf, ist ein Garten in Norden, wo nur wenig reif wird. Er aß gern Brunnenkresse und Raute.

Nichts konnt' ihn mehr ärgern, als wenn sich der Mensch den Schlaf aus Lebensgeiz entzog. Es ist gleich viel, auf dem Ball, oder in der Studirstube, überm Leben den Tod vergessen.

Der Graf sah entweder gen Himmel oder auf die Erde. Leute, die den Kopf von einer Seite zur andern werfen, sind nicht so, nicht so, sind Zweifler, sind aufgeschossenes Rohr, das der Wind hin und her treibt. Herauf oder herab.

Pathengeschenke gab er nicht eher, als bis der Pathe zum erstenmal zur Communion ging. Ein schwarzes Kleid war das geweihte Geschenk.

Seine Bücher waren schwarz eingebunden. Silberne Griffe, [139] sagt' er, das heißt: der Titel war mit versilberten Buchstaben eingestochen.

Wenn man fällt, besieht man die Stelle, wo man gefallen ist. Der Geist wird sich gewiß von seinem Lebensreisegefährten nicht sogleich trennen. Er wird sehen, wo er gefallen ist. Wer mit den Seinigen noch länger zusammen zu bleiben Luft und Liebe hat, gehe auf die Kirchhöfe, wo sie hingelegt sind. Ich habe den Einfluß der Meinigen lang in meiner Seele empfunden, und noch empfind' ich ihn.

Wenn man erzählt: die und der ist todt, frägt der Hörer: Ist sie? ist er todt? Warum frägt der Hörer also?

Wenn der Graf communicirte, hatt' er einen rothen Mantel über das schwarze Kleid. In seinen Tischtüchern, Servietten war Name und Wappen schwarz eingenäht.

Ich kann, sagte der Graf, im dreißigsten und vierzigsten Jahre mit vieler Zuverlässigkeit wissen, ob man siebenzig oder achtzig Jahre alt werden soll. Ein Glücks- oder Unglücksfall ist schuld daran, wenn man es nicht wird.

Melancholische Leute (diese Anmerkung machten wir beide, der Prediger und ich) sind sehr zur Dichtkunst aufgelegt. Vielleicht besteht die Melancholie im Dichten.

Am neuen Jahrstage würd' es schwer seyn angemessen zu predigen, wenn nicht die Worte drin vorkämen: da acht Tage um waren. Also von der Zeit. – O du liebe Zeit! exklamiren einige Leute im Sprüchwort. In der Entfernung ist sonst alles klein, nur die Zeit nicht.

Der Graf setzte einem seiner Pathen, der nur sieben Wochen gelebt hatte, selbst eigenhändig die Grabschrift: Aus einem Mutterschooß in den andern.

Der Schlaf war eher in der Welt, als der Tod. Das Vorbild eher, als die Erfüllung.

[140] Auch du wirst sterben, das war des Grafen Condolenz, wenn man wirklich trauerte um einen Todten.

Gehst du aus der Welt, wenn du stirbst? Deine Seele entschwebt nur den Dünsten dieser Erde! Ewiger Geist der Liebe weht im Athem der Natur; wo der webt, ist Leben!

Was mir der Prediger vom Leichenanzuge im Namen des Grafen sagte, gefiel mir nicht. Ich stimme mit ihm nicht ein. Warum bekleiden wir denn einen nackten Körper selbst im Grabe? Wollen wir etwa den Würmern etwas zu verbeißen geben, ehe sie an uns kommen? Dem Menschen gefällt nichts, was ein Bedürfniß verräth. Wir sind in Gesellschaft gewohnt, unsere Bedürfnisse zu verhehlen. Wir verehren Leute, die sich mit Wenigem behelfen, wenn nicht Geldgeiz die Wage hält. – Man glaubt, sie sind schon gestorben und auferstanden. Sie sind schon Vollendete.

Wer in einer großen Stube schläft, sagte der Graf, bedenkt nicht, wie klein der Sarg ist.

Von unserem Körper heißt's im Tode: Lazarus, unser Freund, schläft, und es wird besser mit ihm!

Wer viel Leib hat, von dem könnte man eben so gut »entleiben« sagen, als nur von dem, der viele Seele hat, »entseelen« gesagt werden sollte.

Es ging alles schwarz beim Grafen. Herr v. W – würde mit seinen Freudenfesten eben so wenig, als mit seiner drei Viertel-, Halb- und Viertel-Trauer, bei ihm Glück gemacht haben. Der Graf kam nicht aus der Verwunderung heraus, daß ich nur einen schwarzen Flor um den Arm trug.

Seine Bettdecken waren alle schwarz.

Es ist ein falsches Mitleid, was die Menschen von den Todtenbetten zurückhält, sagte der Graf. Böhmische Steine, anstatt Diamanten – Glanzgold.

Der Graf liebte viel Lichter. Er schlief gerade auf dem [141] Rücken, nie lag er auf einer Seite. Im Sarge, sagt' er, liegt alles auf dem Rücken.

Die Jugend ist witzig wegen der Plane, die sie sich macht, um die Frage zu beantworten: Was werden wir essen? was werden wir trinken? womit werden wir uns kleiden? Dem Alter schmeckt das Leben am besten. Je weniger Wein im Keller, desto besser schmeckt er.

Der Tod hat große Leute bei Büchern getroffen. Man wollte vielleicht des Todes Bitterkeit mit papierner Unsterblichkeit verjagen. – Vielleicht liegt eine Fassung darin, sich nicht in seinen Cirkeln stören zu lassen. – Ich, sagte der Graf, halt' es für Furchtsamkeit.

Oft dachte der Graf an einen seiner besten Unterthanen, der beim Ungewitter unter einen Baum geflohen und hier erschlagen worden. Auch der Baum war zu Boden geschlagen! Da ist ja Michel schon eingesargt, sagte der Graf, als er diesen Fall hörte, und ordnete an, daß dieser Baum zum Sarge gebraucht werden sollte.

Bis zum letzten Seufzer, sagt man. Warum nicht bis zum letzten Lächeln? Weil das Leben ein Jammerthal ist; und doch kommt der letzte Augenblick, die letzte Stunde, sehr oft, wie der Geist des Herrn, im sanften Winde. – Da sieht vielleicht die Seele den Engel, der sie aus Sodom führen will. Stehe auf, hebe dein Bett auf, und gehe heim!

Ein böser schneller Tod ist ein guter Mann, und ein böses Weib.

Der Tod ist nicht Gottes peinliche Halsgerichtsordnung. Gemeinhin sprechen wir uns selbst das Todesurtel. Die Art des Todes gründet sich auf die Art unseres Lebens, wenn diese Todesart nicht schon eine Erbsünde ist. Der stirbt an Zangenrissen, an Stichen; der wird verbrannt und stirbt am hitzigen Fieber; der[142] wird gehangen und stirbt am Schlagfluß. Wir sitzen alle auf den Tod.

Wo die Praxis nicht der Theorie vorgeht, da verdient sie kaum den Namen.

Jeder Schwindsüchtige, der unter meiner Aufsicht gestorben, hat den Wunsch geäußert, einen hohen Sarg zu haben! So sind die Menschen!

Der Graf hielt Ahnungen für Warnungen guter uns verwandter Geister, für Orangenblüthen, die wir noch aus dem Paradiese gebracht.

Sein Trost war der Tod! Ich, sagt er, bin nicht für leidige Tröster. Gemeinhin ist der Trost ein beglaubtes Zeugniß, daß wir mit leiden. Wir wollen uns überreden, der Tröster nehme einen Theil Leiden auf sich. Wir wollen gewiß seyn, daß niemand froh und glücklich in der Welt seyn könne.

Kunstrichter, die ihr diesen hochgebornen Mann angreifen wollt, laßt ihn, wenn ich bitten darf – und ist es möglich, erlaubt mir die Frage: ob euch vindicta Lycurgi bekannt sey? Ein Studiosus wie ihr, hatte dem Lykurgus ein Fenster eingeschlagen, oder, weil euch vielleicht die Lykurgische Geschichte nicht beiwohnen dürfte, es war das Auge selbst, das er ihm ausschlug. Das Criminalgericht beschloß in diesem besondern Casualvorfalle, den Jüngling dem Lykurgus zur Strafe zu übergeben. Was eröffnete Lykurgus für eine Sentenz? Schickt' er ihn in die Festung, oder ins Irrenhaus? Nein, die Hand, sagt' er zum Augenräuber! Studiosus gab sie, wie natürlich, Sr. Magnificenz mit Zittern und mit Beben, und Lykurgus? gab ihm die seinige und so gingen sie Hand in Hand – in Lykurgus Haus, wo er ihn unterrichtete, nicht, wie arme Sünder, ehe sie hingerichtet werden, den schlachtcalecutschen Hähnen gleich, mit Katechismuslehren gefüttert und gemästet werden, sondern in Lebensregeln, und da der junge Mensch Candidat worden war, [143] stellte er ihn vor das Criminalgericht und fragte dienstlich an: ob sie mit diesem in Rechtskraft übergegangenen Urtel zufrieden wären? Kunstrichter, der Graf bietet dir auch die Hand dar, um dich sterben zu lehren. Bedenke das Ende, so wirst du dem Grafen kein Aug ausschlagen.

Gretchen empfing mich so froh, so gutthätig, daß wir uns beide Hände reichten. Zwar weiß ich es nicht mit vollständiger Gewißheit; indessen kommt es mir so vor, daß wir uns auch herzlich geküßt haben! Ein unschuldiger Kuß! Wär' er wiederholt worden, hätt' ich ihn vielleicht nicht vergessen; alsdann wär er aber auch schon vom verbotenen Baume gewesen.

Auf Gretchens Gesicht lag noch viel Schmerz; in dessen waren es bloß Narben, welche nur bei Veränderung des Wetters die vorige Wunde ins Gedächtniß bringen.

Ich fing an mein Haus in L – zu bestellen: ich hatte viel zu bestellen! So gern ich gleich noch bei Minchens Grab geblieben wäre, so wollt' und konnt' ich doch nicht füglich länger weilen. – Ein ganzes Tagewerk war, die Abhandlung von der Sünde wider den heiligen Geist von Anfang bis ans selige Ende zu hören; das Register bloß ausgeschlossen. Der Prediger hielt Komma, Kolon, Semikolon, Ausrufungszeichen (deren viel vorkamen), Fragzeichen, und wie sie weiter lauten, diese himmlischen Zeichen, wie meine Mutter sie benamt. Ich werde mir vorstellen, fuhr der Prediger fort, als ob Sie mein Bruder wären, und nun brach er mit der Zueignungsschrift los, und that wörtlich so, als ob ich der königliche Rath wäre. Ich wollt' Ihnen, sagt' er beim Anfang der Vorlesung, keinen unbeseelten Odem mitgeben, keinen todten Körper, sondern ihm vielmehr einen lebendigen Odem einblasen und sie Ihnen empathisch vorlesen. Er hielt Wort. Ausdruck, nicht Eindruck, machte diese Abhandlung. Man konnte drüber sprechen. Zum Weiternachdenken war sie nicht eingerichtet. Ein Unterschied, der gewiß weit her ist. [144] Das Schlußwortregister war das Amen dieser Taufhandlung. Der Vater übergab mir dieses sein wohlbestalltes Kindlein so feierlichst, wie man einem Pathen nur die Frucht seines Leibes übergeben kann.

Mit der Abhandlung sind wir also fertig. – Noch mehr aber lag mir in L – ob.

Meine Schuld drückte mich zu Boden. Der Prediger in L – war nicht in der besten Vermögensverfassung. Er hatte (dieß und jenes erfuhr ich von ungefähr) verschiedene Auslagen bei Minens Begräbniß gehabt: Glocken, Erde, Träger und deßgleichen. Dem Organisten mußt' ich auch eine gesegnete Mahlzeit wünschen; denn, wenn gleich eine Krähe der andern nicht die Augen aushackt, so hat doch unser Glaubensvater, Dr. Luther, in der vierten Bitte das Holz ausgelassen, welches nicht geschehen wäre, falls Dr. Luther Organist in L – gewesen, und wenn gleich der gute Organist schon den Abend beim Prediger sich's wohlschmecken ließ, so kostet es doch viel und mancherlei, einen Sohn auf der Universität zu haben, der künftige Pfingsten predigen und zeigen soll, ob er wüßte, wo er zu Hause gehöre? Ost hatt' ich schon dieß alles überdacht; allein meine Verlegenheit war bis jetzt noch nicht herrschend worden. Das Ende trug die Last. Wie ich stand und ging, trat ich meine Reise nach L – an, und wenn ich auch mehr Zeit gehabt, oder mir mehr Zeit genommen, was hätt' ich mitnehmen können? Eben erwartet' ich mein Ausgeding von Hause. Wo Brod in der Wüste? Ohn' einer Bedenklichkeit Rede oder nur Gedanken zu stehen, ging ich hin, brach und las.

»Weißt du was ἀνέχου καὶ ἀπέχου sagen will? Dein Griechisch hast du nicht vergessen, das weiß ich. – Sollte der Geist dieser Worte von dir gewichen seyn? Das wolle Gott nicht! und die deutsche Note nebenher: In der größten Noth! – Ist sie dir entfallen? Prüfe dich, ehe du weiter brichst. Es gibt nicht bloß[145] Geldnoth, sondern auch viele von anderer Art, z.B. Melchisedechs-Noth! ἀνέχου καὶ ἀπέχου in der größten Noth! –«

Ich fand in dem Zimmer meines Amulets, das ich erbrochen hatte, Schaustücke. Ich zählte sie nicht, sondern nahm ihrer drei; zwei für den Prediger, eins für den Organisten. Dem letzten schickt' ich eins hin. Herr Prediger, sagt' ich dem ersten, wegen der gehabten Auslagen. Ich zog den beiden Goldstücken kein weißes Hemd an; denn eben dadurch würd' es ein Geschenk, eine Verehrung geworden seyn, und schenken, welch ein gräßliches Wort ist es unter Leuten, die empfinden können! Der Prediger kam mir mit einem gleich kalten: Wofür? entgegen, und nach einem kleinen Wortwechsel blieb's dabei, daß ich ihm die baaren Auslagen ersetzen sollte. Als Unterpfand, fuhr ich zwar eben so kalt und ehrlich, allein lange nicht so treffend und anständig fort; ich habe kein ander Geld. – Ich brauche kein Unterpfand, erwiederte der Prediger, und um der Sache ein Ende zu machen, geben Sie die Auslagen, die sich auf 2 Rthlr. betragen, meinem Bruder. Dem, das wußte der Prediger, durft' ich mit einem Schaustück gewiß nicht ankommen.

Daß man doch nicht umsonst sterben kann, sagte der Prediger. Wir sollen nicht sorgen für den andern Morgen; unser Arme muß weiter hinaus, und für sein Begräbniß sorgen – – wie der Mann mit dem einen Handschuh.

Der Organist erließ ein großes Danksagungsschreiben an mich, und bat höflich sich's dagegen aus, die Stellen in seiner Abdankung zu streichen, worin er mir zu nahe gekommen, oder gar zu viel gethan. Ich würde kein Geld um alles in der Welt willen nehmen, setzte er mündlich hinzu: allein ein ander Ding Geld, ein ander Ding solch Schauessen. Aß doch David von den Schaubroden, rief er einmal über das andere aus. – Noch drang er mir eine ausgearbeitetere Abdankung auf, die ich aber nicht als Beilage C. ausstatten werde, eben weil sie ausgearbeitet war. Leute, die bloß [146] Mutter Natur, und nicht Vater Kunst, haben, müssen werfen, nicht legen, Glück greifen, nicht sortiren.

Freilich hätt' ich bedächtiger mit meinem Amulet zu Werke gehen, und, wie meine Mutter, Ja und Nein in zwei Zettelchen schreiben, und eins von beiden ziehen können – indessen –

Was meint ihr Herren Kunstrichter, wenn ich die übrigen Goldstücke (es waren ihrer zwanzig) unter euch vertheilen sollte, wie es wohl Sitte in Deutschland war, und noch ist, wenn der Verfasser sich einen Titel, oder Amt, oder deß etwas, an den Hals schreiben will?

Noch war ich mit meinen letzten Dingen nicht fertig. Ich ließ mir die Taxe von den Sachen meiner Mine methodisch extradiren, gab Gretchen eine Abschrift des letzten Willens meines seligen Weibes, weil Gretchen mich darum bat. Grete erhielt dieß Andenken auf Minens Grabe. Wir weinten beide bei dieser Gelegenheit. Freunde, wenn alle Contrakte, alle Verabredungen auf Gräbern, an diesem Altar der Natur, geschlossen würden, was meint ihr? Ich liebte Gretchen nicht, allein ich liebte ihren Schmerz um Minen, und fand, daß es tief in unserer Natur läge, wenn man was Liebes verloren, sich sogleich mit was Liebem zu verehelichen. Einer Wittwe, einem Wittwer, ist vielleicht die zweite Ehe in den ersten sechs Wochen noch am ersten zu vergeben. Gretchens Mutter wollte, das sah man deutlich, daß Gretchen meine Mine würde. Gretchen selbst verlangte feierlichst von mir, daß ich wenigstens (auf dieß wenigstens der Ton) noch einmal (auf noch einmal wieder) nach L – kommen möchte, ehe ich von hinnen zöge. Des Grabes wegen, setzte sie mit einem Seufzer hinzu, der mir durch die Seele ging. Der Prediger dachte an weiter nichts, als an seine Abhandlung von der Sünde wider den heiligen Geist.

Lieben Leser! Kann ich dafür, daß ich so oft dran denken muß? Die Autorschaft könnte wirklich solch ein Punkt, solch ein [147] schwarzer Fleck seyn, auf den man im Leben und im Sterben starr hinsieht, um alles andere weit zu überwinden. – Oft ist sie's wirklich! Gretchen sagte mir gerade heraus, daß sie einen gefährlichen Eindruck befürchtete, den meine Abreise auf ihre unglückliche Mutter machen würde. Sie ist Ihnen gut, setzte sie hinzu (und ward roth, nachdem die Worte weg waren), als wären Sie ihr Sohn.

Wenn sie nur nicht glaubt, sagte Gretchen: es sey eine Linde ausgegangen, wenn Sie abreisen.

Diese Befürchtungen machten eine allmählige Entfernung von ihr vor meiner Abreise nothwendig. Vergessen Sie uns alle und Gretchen nicht – sagte die Lindenkranke, da ich Abschied von ihr nahm. Gretchen küßt' ich nicht; allein beide Hände reichten wir uns. Ein paar Stunden vor meiner Abreise ließ sich der Justizrath Nathanael anmelden. Wenn ich nicht mehr da wäre, ließ er sagen, um meinen Schmerz nicht aufzubringen, nicht zu erneuern. Ich bat Gretchen, ihn zu grüßen. Mich? fragte sie. Sagen Sie ihm, ich wendete mich zum Prediger, daß Mine ihm von Herzen vergeben habe. – Gretchen hat das Testament.

Und so kam ich mit dem künstlich gewindelten mir auf die Seele gebundenen Werklein von der Sünde wider den heiligen Geist nach Königsberg. Mein Gefährte sprang mir um den Hals, da er mich sah, und herzte und küßte mich. Zu Hause, fing ich an. Seit ehegestern, erwiederte er, hause ich; ich habe es der Blonden in einem schwachen Stündlein versprochen, weil eben heute ein Lautenconcert, dem Vater zu Ehren, aufgeführt wird. Gestern war die Probe. Es ward bei der Probe alles durchs Fenster gespielt. Heute bin ich in bester Form gebeten – aber du kommst mit, wenn nicht, so soll auch heute die wirkliche Aufführung durchs Fenster geschehen. Aber, fing ich an, ohne aufs Mitkommen ein Wort zu geben, und sah einen Stoß Bücher und Schriften. Beim[148] Scherz muß Ernst seyn, beim Zeitvertreib Arbeit; dic, cur hic? Schön, dacht' ich, und v. G. (er hieß Gotthard mit dem Vornamen) fuhr fort, da hab' ich mir einige Bücher über Jagdgerechtigkeit und Jagdungerechtigkeit, über fas und nefas in dieser freien Kunst, nicht minder die kunterbunten preußischen Jagdverordnungen geben lassen. Bruder, ein Studium, um den Tod zu haben! Freilich mehr als Jagdterminologie, wodurch man für Fund zeitlebens sicher ist, und noch dazu Fund andern zuwenden kann. Indessen sag mir, du bist doch ein kluger Kerl, wie kommen die regierenden Herren dazu, die Jagden zu Herrlichkeiten und Gestrengigkeiten zu rechnen, und sich darüber solche Rechte anzumaßen, als ob ihnen das liebe Wild näher wäre, als Schafe, Ochsen allzumal? Da hab' ich schon gedacht, daß sie ihre allerunterthänigst treugehorsamste Sklaven nicht zu genau mit dem Wilde bekannt machen wollen, um sie nicht auf wildgroße Gedanken zu bringen, aus dem Schafstall ins Freie.

v. G – brachte mich durch einige Betrachtungen, die nicht aus dem Stalle waren, zum Ausruf. Bruder, exclamirt' ich, du entzückst mich; du bist, ohne die Concertprobezeit abzurechnen, die du am Fenster verhört hast, noch nicht vierundzwanzig Stunden zu Hause, und sprichst so wahr! Und wenn ich immer zu Hause bliebe, fiel er mir jagdeifrig ein, gelt! dann wär' ich Sklave über Sklave. Nicht also, sagt' ich, wenn je die Freiheit noch einst in ihrer edlen einfältigen Gestalt auf Erden erscheinen soll, wenn je – so kann sie jetzt nur aus der Studirstube ausziehen. Der Heerführer Moses war unterrichtet in aller ägyptischen Weisheit.

Da kam eben ein Bote, der mich mit zum Concert einlud. Man hatte mich kommen sehen und hoffte gewiß –

Ich war so wenig gestimmt, eine solche Dissonanz anzuhören, daß ich geradezu abschlug. Junker Gotthard, dem ein Menschenstimmhammer ohnedem nicht eigen war, und der keine meiner [149] Herzenssaiten in Harmonie ziehen konnte, nahm indessen das Wort, sagte dem Boten: Ich werde ihn mitbringen. Dieser ging, und ich mochte wollen, oder nicht, ich mußte. Freilich, sagte Junker Gotthard, wirst du heute nur die Hochzeit sehen; die Verlobung ist vorbei, wie du zu sagen pflegest! Wer kommt indeß in der Welt immer zur Probe?

Herr v. G – hatte nicht die mindeste Neugierde, Geheimnisse zu hetzen oder zu schießen. Ich reisete, ich kam, ohne daß er was, und wie, und wo wußte. Mein Herz brach mir über den guten wilden Jungen. Ich wußte wohl, daß Theilnehmung ein Wunder in seinen Augen setz, und doch sagte ich ihm alles. Ohngesagt verstand er nicht, das wußt' ich, einen Herzensbruch, die schreckliche Ohnmacht eines beklemmten Herzens, den Wortstod auf der Zunge, das Beben auf der Lippe, wo man sonst mit sichtlichen Augen den Geist sieht, der den allerfeinsten Körper von Wort (wär' es auch ein bloßes Ach!) zu schwerfällig für sich findet. Ich sagt' ihm alles, und mußte mich wahrlich zwingen, zu reden; denn wer kann in solchen Herzensnöthen, wer kann mehr, als abgebrochen seyn? Ich war dießmal so glücklich, solche Worte zu ertappen, daß ich den Junker Gotthard in Bewegung setzte. Bruder, sagte er, du jammerst mich! Das war viel!

Nach einer Weile: wenn ich das gewußt hätte, ich hätte dich zu Hause gelassen und wäre selbst zu Hause geblieben. Hiebei stand er auf; denn er saß bei seinen Jagdschriften. Hätte v. G – diese Periode nicht mit wenn angefangen, was hätte ich mehr erwarten können? Was, meine Leser? Was fehlte denn zum thätigsten Beweis einer lebendigen, leibhaften Theilnehmung? O wär' es dabei geblieben! Si tacuisses!

Schon war ich entschlossen, nach einem so guten Anfang meinem lieben v. G – Empfindung beizubringen, die Jagdwerke unvermerkt zuzumachen, um ihn zur Absage des Lautenconcerts zu bequemen, [150] da er wieder, um seinen Ausdruck zu adoptiren, ins Zeug gesetzt war. Urplötzlich war er wieder da mit Flinte und Tasche und dem Satanas.

Hättest du denn, fing er von freien Stücken an und setzte sich wieder, hättest du denn nur eine schmucke Mine? Bruder, erwiederte ich und wollte was anders sagen, Bruder, wir gehen aufs Concert.

Junker Gotthard wollte zwar seine Frage durch eine andere wieder gut machen und schwur mir hoch und theuer, daß ich wie eine Wassersuppe aussähe, so verzweifelt wie ein gejagter Hirsch; allein unsere Empfindungsstunde war vorbei. Ich schloß die Sünde wider den heiligen Geist in den nämlichen Kasten, wo mein


ἀνέχου καὶ ἀπέχου,


dessen Vorhang bis zum Allerheiligsten, wie mich dünkt, gezogen war, an einen Ort, doch so, daß sie nicht zusammen kamen. Zweimal schloß ich den Kasten auf und legte sie jedesmal noch mehr auseinander, recht als ob ich besorgte, sie könnten sich doch wohl zu nahe kommen und Schaden thun, und nun ging es an eine städtische Läuterung, die ich nicht nöthig gehabt hätte, wenn Grete die Heldin, prima donna, dieses Concerts gewesen.

Was ein ander Kleid, ein gewisses städtisches Wesen, eine gewisse Körpertracht, aus der der Tanzmeister alles schlichte, natürlich gute Wesen herausgegeigt und herausgebrochen, machen kann, wird jeder wissen, der in Rom und auf dem Tusculan gewesen.

Ich ging mit meinem guten v. G – zum Concert, wo ich Lichter und Kleider von Gold und Silberstück über alle Maß und Gewicht fand.

Was mir seit einiger Zeit dergleichen Pracht und Herrlichkeit widerlich ist! Ein wahres Theater! Da ging ich leise hin und her, ohne daß ich hörte. Ein paar Töne kamen mir so vor, als hätten sie was ähnliches von den Glocken aus L –, und dann ein [151] paar Adagiosstellen als wären sie aus dem Liede: Nun laßt uns den Leib begraben, und das rührte mich so, daß mir alles nicht etwa verkümmert war, nein, sondern so, als wär' es gar nicht. Der Herr des Festes sollte durch diese Solennität überrascht werden, mithin hätte er thun müssen als wüßt' er nicht, was Trumpf wäre. Er wollte es auch, wie mich dünkt; indessen zeigte seine lichterloh brennende goldene Weste das Gegentheil. Alle sein Dichten und Trachten fiel zusehends dahin aus, daß ihm diese Feierlichkeit, die im Finstern geschlichen, nicht unbekannt geblieben. Er sah leibhaftig wie das Ziel aus, nach dem geschossen ward.

Ich merkte bei aller meiner Zerstreuung, daß Amalia der schmucken Trine des guten Junker Gotthards Abbruch gethan, und obgleich er gewiß mehr als eine in dieser Gegend (wieder sein Ausdruck) auf dem Korn hatte, so schien doch Amalia das Schnupftuch empfangen zu haben. Jene mit schwarzem Haar, wie Ebenholz, wobei eigentlich Junker Gotthard titulo institutionis honorabili zum Erben eingesetzt war, hatte es wegen der zehntausend Liebesgötter auf dem Busen, die bis auf zehn reducirt wurden, verdorben. Amalia hatte sehr wohlbedächtig diesen Abend alles, was ihr nachtheilig seyn konnte, entfernt; sie allein wollte mit ihrer blonden Stirne siegen und mit ihrem wallenden, herauf bebenden Busen und mit ihrem dahinfließenden Ordensbande und mit allem, was der Testator so pünktlich von ihr angegeben hatte.

Ich hörte es Amalien in der Kopie an (das Original, die Probe war wie bekannt vorbei), daß sie von ganzem Herzen dem Junker Gotthard zuspielte, daß ihr Herz alle seine Gedanken und Begierden der Laute anvertraut hatte, die alles wieder raunte, was sie wußte! Nur Schade, daß es eine Laute war! Wenn's ein Waldhorn gewesen wäre, würde v. G – es eher verstanden haben. Den Lautenzug verstand er nicht. Amaliens Auge, das wahrlich nicht ins Ohr sprach, sondern vernehmlich sich ausließ, dieß redende [152] Auge verstand v. G –, wie's schien, stellenweise. – Er war eine lebendige Seele worden.

Vater und Mutter, obgleich beide auch bei dieser Gelegenheit so thaten, als der Hausvater beim heutigen Namenstage, konnten doch eine gewisse Freude von lichterloh brennender goldener Weste nicht bergen, welche sie über diese Augenvertraulichkeit (es war mehr als Augenumgang) verspürten.

Wenn ich den Junker Gotthard nicht als einen so jagdgerechten Jäger und einen, der mehr als eine schmucke Trine und schmucke Amalia zu lieben verstünde, gekannt, würde ich ihn stehenden Fußes gewarnt haben; allein jetzt, dachte ich, wird sich alles geben.

Da fand ich ein Glas voll Rosen, zwar außerhalb der Jahreszeit, wie alles am Hof und in der Stadt ist, doch anziehend. Vier Rosen waren aufgeblüht und eine Knospe. Gott verzeih mir meine schweren Sünden, daß mir in einem Musikzimmer, bei so viel Glanz und Lichtern nur Mine einfiel. – Der gräfliche Todtengräber liebt auch viele Lichter, und man sage, was man will, Lichter (die Menge thut nichts dagegen) haben etwas Melancholisches, etwas von Mondschein bei sich. – Eine heilige! – meine heilige! – mein Schutzgeist – wie in diesem Saal der Eitelkeit? – Wie stimmt Himml und Erde, Seligkeit und Weltfreude! Doch, war es nicht bei einer Rosenknospe, ihrem Ebenbild?

Da war dieß Knöspchen unter ihren aufgeblühtern Schwestern. Es schien gerungen zu haben, sich herauszuhelfen, allein vergebens. Bleich, abgezehrt begab es sich in die liebe Geduld; es spürte wohl, daß es nie zum Aufbruch kommen würde. Gott, dachte ich und sah gen Himmel! Eine Platzthräne fiel aus meinem zum Himmel andringenden Auge, das ich über diesen Rosenbusch hielt. – Diese Thräne entblätterte die Knospe. – Ob so oder [153] anders. Die Blätter fielen auseinander und ich – – Wer so stirbt, der stirbt wohl.


* * *


Ich ging oder lief wie es kam wieder in die Stunden. Meine Abwesenheit war mir nicht nachtheilig – ich half mir selbst nach, und da ich mit dem besten meiner Beigänger oder Beiläufer collationirte, fand ich hier und da eine andere Ader! Auch gut, dachte ich. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Man muß daß Pfund, das uns der Herr anvertraut hat, nicht ins Schweißtuch vergraben, sondern es anlegen, damit es Früchte bringe zu seiner Zeit.

Mein Vater pflegte zu sagen: alle Philosophie will den Menschen still machen. Erinnerst du dich nicht an schöne Abende, wo sich kein Blättchen am Baume bewegt, wo die ganze Natur, wenn ich so sagen soll, beim lieben Gott in der Kirche ist und Ihn, nur Ihn anhört und die Sphärenorgel, wo auch ein Lied:Freu dich sehr, o meine Seele, und vergiß all' Angst und Qual gespielt wird; allein wahrlich von anderm Inhalt und wahrlich auch in andrer Melodie als es deine Mutter singt. Wahrlich, die Philosophie will uns in Stille bringen! Es soll sich kein Blättchen an uns bewegen, kein Vergnügen, kein Schmerz soll bis zu unserer Seele eindringen, es sey denn der Schmerz, der Seligkeit wirkt, der Schmerz wegen verletzter Pflicht. Nicht jeder Schmerz ist Traurigkeit; nur alsdann wird er's, wenn er bis zum Gemüthe kommt. Nicht jede Ruh' ist Fröhlichkeit; sie wird es nur, wenn wir das Vermögen besitzen, alle Vorfälle unseres Lebens aus dem Gesichtspunkte zu betrachten, der uns auf irgend eine Art an dem unangenehmen Vorfall ein Vergnügen verschafft, eine sonnbeschienene Stelle zeigt. – Wir sind leidend bei Affekten, schickt sich das für uns? Schickt sich passiv zu seyn für Männer? Man verachtet [154] jeden Menschen, wenn er in Affekt ist, Weiber weniger, denn sie sind zum Leiden gemacht. Woher die Verachtung? Weil die Menschheit herabgesetzt ist und die Thierheit auf dem Throne sitzt und tyrannisirt. Wohl, recht tyrannisirt. Beim Affekt tritt die dumme Figur ein: Pars pro toto. Der Theil ist so groß als das Ganze. Ein Theil der Bedürfnisse überwiegt Summa Summarum aller Bedürfnisse. Eine Neigung überwiegt die Sammlung aller Neigungen. Es ist ein Monstrum, ein Mannskopf und Kindsfuß oder umgekehrt. Neigung ist schon Schwachheit; indessen behält sie noch immer eine Klarheit, allein im Affekt, wo bist du Sonne geblieben? Der Tag ist schier dahin.

Alle Thiere sind des Vergnügens und Schmerzes, nicht aber der Freude und Traurigkeit fähig; denn diese entstehen nur alsdann, wenn wir von dem Hügel unseres jetzigen Zustandes unsern ganzen Zustand überschauen. So weit reicht das Auge des Thieres nicht, wär's auch ein Elephant. Der Mensch ist Thier, wenn er ergötzt wird, wenn er Schmerz empfindet, kann es ihm wohl verdacht werden? Nur außerordentlich freudig, außerordentlich traurig zu seyn, ist ihm unanständig.

Der Eifer für des Herrn Haus, der edle Zorn für die Rechte der Weisheit, die Entzückung über das Glück der Menschheit kleiden einen Menschen, weil sie den Menschen dahin leiten, wo kein Affekt mehr seyn wird. Dieß Reich Gottes (mein Vater nannte Reich Gottes was zwar hinein gehört, allein es eben nicht ist, pars pro toto) wird schon in dieser Welt kommen, kann kommen; allein dort ist's gewiß, darum ewige Ruhe! Die Sünde ist der Menschen Verderben, und das Verderben ist die Quelle aller das Gleichgewicht habenden Leidenschaften, sie mögen übrigens seyn, welche sie wollen, angenehm oder unangenehm. – Am Ende sind sie alle unangenehm, glaubt mir!

Diese Predigt, welche meinen Lesern keinen Dreier in den [155] Seckel gekostet hat, diese Wiederholung einer paränetischen Stunde, wie wandte ich sie an? So wie man gemeinhin alle Predigten ohne und mit dem Seckel anzufangen pflegt. Fast könnte ich sagen, daß ich dieß alles angesehen, wie die Henne ihre Ausbrut junger Enten, womit sie die Hausmutter betrogen hat, wenn sie schwimmen. Es ist noch lange nicht alles gesagt in der Welt, was gesagt werden kann, weit weniger ist alles gethan. Was that ich aber? Was konnte ich thun? Da Mine lebte, sah ich sie überall. Ich studirte an ihrer Hand. Jetzt, da sie im Himmel ist, ruhte ihr Geist auf dem meinigen. Ich konnte nicht so glücklich seyn, in L –, wo ihre Gebeine ruhten, körperlich mit ihr zusammen zu seyn, und eben dadurch, nach der Meinung des Grafen, länger sie zu haben, länger sie zu besitzen. Es war mithin alles im Geist. Wahrlich, unsere Liebe war Geist zu Geist, war himmlisch, war auserwählt. – Ich wallfahrtete, so oft ich konnte, auf alle Kirchhöfe, christliche und unchristliche, und las mir einen aus, wo ich Minens Andenken stiften wollte. Diesen fand ich an einer Kirche, die man die Roßgärtsche nennt.

Der Tod, Freunde, ist natürlich fürchterlich! Der Denker, der sein eigen Licht hat, und der gemeine Geist, der sein Licht von der Sonne borgt, müssen gleicher Weise ihre Zuflucht zur Kunst nehmen, um den Tod sich leidlich vorzustellen, und da kommt es mit auf die Oerter an, wo man uns hinbringt.

Gewölbe, sind das nicht Oerter, wo einem angst und bange wird? Der Moder, der Todtengeruch, womit wir unsere Kirchen verpesten, wie schrecklich zieht er dahin und daher, wenn er eingemauert wird? Bringt den Todten in die freie Luft, er ist lebendig. – Schließt den Gesundesten ein, er verweset.

Meine Kirchhofsidee fand ich auf dem Roßgärtschen Kirchhofe am gründlichsten in ganz Königsberg ausgeführt.

Ein vortrefflicher grüner Platz, mit Bäumen unordentlich [156] besetzt, zuweilen viere nicht weit von einander, und unter ihnen ein Grab, das sie bedecken, zuweilen ganze Stellen als ein Wald, und dann ein Monument, wie verloren, nicht nach Regeln der Kunst, sondern schlechtweg gearbeitet. – Ein lebendiger Zaun unterscheidet einen kleinern Kirchhofstheil vom größern. – So vortreffliches Grasgrün auf diesem eingeschlossenen Platze, daß man sich das Auge daran stärken kann. Vielleicht wird hier das Taufwasser ausgegossen. Die andere Seite dieser Kirchhofsparenthese geht nach dem Wasser. Dieser Einschluß, dieser Kirchhof im Kirchhof, dieser Status in Statu nimmt die Gebeine der verstorbenen Herrnhuter an Kindesstatt an, die nach dem sehr präcisen herrnhutischen Kunstworte, das auch dem Grafen v. – eigen war, nicht sterben, sondern heimgehen. Da ich nach meines Vaters Weise bei allen dergleichen Dingen durch die große Pforte zu gehen gewohnt war, so blieb ich auch mit meiner Mine auf dem unverzäunten Hauptkirchhofe. O hier ist gut seyn! Man kann sich auf diesem Kirchhofe kaum des Gedankens erwehren, daß die Abgeschiedenen hier im Mondenschein sich regen und bewegen, wie meine Mutter sich ausdrücken würde.

Der Todtengräber dieses Sprengels wohnt unweit dem Kirchhofe, sein Hauptfenster geht hinein. Da er mich unfehlbar mit einem Gesichte, worauf Tod und Begräbniß deutlich zu lesen war, herumwanken und Stelle und Ort suchen sah, kam er mit einer eisernen Stange zum Vorschein und fragte mich, was mein Begehren sey? Die eiserne Stange diente ihm beim Grab machen, um zu versuchen, ob auch tief genug, ohne einem frischen Sarge zu nahe zu kommen, gegraben werden konnte. »Ich kann den Kirchhof empfehlen, wenn es was zu begraben gibt, fing er zu mir an. Wie sehr überraschte mich der Todtengräber mit seiner Stange und seiner Frage! Ich erwiederte ihm mit schwerem Herzen, daß ich ein Liebhaber von Kirchhöfen wäre, und eben einen getroffen hätte, der mir sehr gefiel. Sie sind nicht der erste, der diesen Kirchhof schön findet. [157] Der Graf v. – besuchte ihn, so oft er nach Königsberg kam. Ich bin bei ihm einige Jahre im Dienst gewesen, setzte er hinzu. – So, dacht' ich, bist du ein wirklich ausgelernter zünftiger Todtengräber, bei solch einem Meister!«

Nach diesen Umständen fand ich es nicht länger schwierig, diesen ausgelernten Todtengräber in mein Herz tiefer hineinsehen zu lassen. Ich habe, sagte ich, eine Schwester verloren, die ich sehr liebte, und an die ich gern hier auf diesem Kirchhofe denken will. Ich gehe darauf aus, mir einzubilden, daß sie hier begraben sey, um mich mit dem Andenken an sie desto fester zu binden, das dauern soll, bis daß auch ich begraben werde. Sterbe ich in Königsberg, versteht sich, ist hier mein Grab. Der Todtengräber, dem mit dergleichen idealischen Gräbern, bei denen er seine Stange nicht brauchen konnte, nicht im mindesten gedient war, widerrieth mir, obgleich er einige Jahre beim Grafen v. – gedient, diese Imaginationen, die keinem Menschen was einbrächten, wohl aber dem, der sich mit ihnen in Vertraulichkeit einläßt, an Leib und Seele schaden könnten. Ich glaubte zu merken, worauf es bei diesem Ehrenmann ankäme, und nachdem ich mich seiner Gebühren halber erkundigt, und ihm noch einmal so viel in die Hand gesteckt hatte, als ein wirkliches Grab galt, weil ich ein idealisches Grab bei ihm bestellte, so fand er weniger Bedenklichkeit bei meiner Sache, und ließ es mir selbst über, ein Plätzchen für meine Phantasie auszusuchen. Er fragte mich zum Beschluß, wie alt ich wäre, und schüttelte, da ich ihm antwortete, den Kopf. Ich fragte ihn zur Wiedervergeltung, wie lange er beim Grafen v. – gedient hätte, und schüttelte, da er mir antwortete: sieben Jahr! auch den Kopf.

Wir hatten, glaub' ich, beide gleich Ursache zum Schütteln.

Ich suchte hin und her eine Stelle für mich zum Monument und sah endlich einen Baum, den ein anderer nicht bloß angefaßt hatte; er hatte sich hinangewunden. Der Todtengräber, der seine [158] Amtspflicht vollbracht hatte, und mit seiner Stange nach Hause zu gehen im Begriff war, sah sich zum Glück noch einmal um. Ich winkte ihm nicht, allein er sah die Frage im Auge und kam.

Ich. Diese Bäume –

Er. Von selbst zusammen.

Ich. Selbst?

Er. Ohne Menschenhände.

Ich. Und begraben?

Er. Ein junges Paar.

Ich. Paar?

Er. Wie ich sage. Schade, daß Ihr Verlust eine Schwester ist, sonst eine Stelle für Sie, wie gewonnen.

Ich. Wer zuerst?

Er. Sie.

Ich. Gott!

Er. Es war ein Mädchen, das Liebe hatte bei Jung und Alt. Die Eltern, wie's doch immer so geht, wollten sie zwingen, und sie wollte sich nicht zwingen lassen. Sie liebte einen jungen Menschen, dessen Vater das ist, was ihr Vater ist. Kein Fingerbreit mehr oder weniger. Die Eltern wollten höher mit ihr hinaus; endlich sahen sie, es ginge nicht, denn das Mädchen grämte sich zusehends. In der Gemeinde kenne ich meine Kundleute auf's Haar. Da sollten wohl zehn eingeschnürte verheimlichte Schwangerschaften der Hebamme des Kreises eher entgehen, als mir eines, das an Grabes Bord ist, obgleich ich auch mich auf die gesegneten Umstände und Leibeserlösung, wiewohl nur nach Augenmaß, verstehe. Ein Auge ist bei unser einem die andere Hand. – Dießmal glaubte ich schon, mich zu irren. Ich irrte mich wirklich; die Eltern sagten endlich ja zur Heirath und alles sagte ja. Das Mädchen erholte sich zusehends. Verlobungen kommen unser einem selten zu Ohren. Die Leute halten mich für ein Stück vom Tode, für einen Verwandten [159] des Todes, und wollen mit dem Tode bei dergleichen Gelegenheit nichts zu thun haben, obgleich der Tod immer hinterm Stuhle steht, es sey bei einer Verlobung oder sonst. Es ist, dünkt mich, zu sehen, daß ich so gut lebendig bin, wie einer, und wenn der Tod bedenkt, daß unser einer ihm gewiß ist, und daß er ihn aus der ersten Hand hat, so geht er lieber auf die Jagd, als daß er nach dem Haushahn greift.

Ich. Das Mädchen, Freund, das Mädchen erholte sich –

Er. Ja wohl erholte es sich. Ist die Verlobung nicht vorgefallen, so hatte sie doch vorfallen sollen. Es war alles: Ja und Amen, und da starb es wie eine Knospe Rosenroth, und nun ging's ans Heulen und Zähnklappen.

Ich. Und er? er?

Er. Er? weiß Gott wie's war, er ist am Tode gestorben. Es hat ihm so wenig gefehlt, wie Ihnen und mir. Sie starben einander so nach, wie Blitz und Donner. So was hat man bei Menschen Gedenken nicht erfahren! Die Nachbaren und deßgleichen sagten nun freilich wohl, daß der liebe Gott an ihnen ein Exempel statuirt, weil sie doch vom verbotenen Baum essen und den lieben Eltern der Braut ungehorsam werden wollten. Sie meinten es gut mit ihr und dachten höher mit ihr hinaus.

Ich. Ach Freund! Sie ist höher hinaus, wie wir alle!

Er. Ja, wenn Sie's so nehmen, habe ich nichts dawider. Sonst pflegt's zu heißen: wer den Eltern nicht folgt, der folgt dem Kalbfell. Hier ging sie einen andern Weg und er folgte.

(Das Sprüchwort: wer den Eltern nicht folgt, folgt der Trommel, fiel mir so auf, daß ich aus der Weise kam; indessen erholte ich mich nach einer kleinen Weile und lenkte das Gespräch zurück auf ihn undsie.)

Ich. Aber diese Bäume?

Er. Ein lebendiger Leichenstein, zum Zeichen der fröhlichen [160] Auferstehung gesetzt. Ihr setzten seine Eltern diesen lebendigen Leichenstein, ihm die Mutter der Seligen, mit Zuziehung der Kirchhofsobrigkeit.

Ich. Mit bebender Hand.

Er. Kann nicht sagen; was man setzt, muß mit Herz und Hand gesetzt werden, sonst geht's auch so fort. – – Ohne mich kann kein Grab gegraben und kein Baum gepflanzt werden. Auf diesem Acker bin ich, ohne Ruhm zu melden, Gottes Gärtnierer, so wie der Herr Pfarrer sein Diener ist in der Kirche. – Die Mutter der Seligen hatte den Glauben, daß dieß Pärchen dort Hochzeit machen würde, obgleich ich's ihr ohne Ende und Ziel sagte, sie werden dort weder freien noch freien lassen. Noch kann sie niemand von dem Gedanken abwendig machen; ich wenigstens gebe meine Kunst auf, denn sehen Sie, die Bäume wurden mit Herz und Hand so hingesetzt, mir nichts, dir nichts. Wahrlich ein stark Stück! Dieser Baum da, auf Ehre und Redlichkeit, schlang sich um den andern so herum, daß es nun freilich so aussieht, als wären sie um einander gewunden.

Wie mich diese Zugabe des Todtengräbers gerührt, mag jeder meiner Leser selbst empfinden, der sich dieß in einander geschlungene Paar Bäume so lebhaft vorstellen kann, als ich! Da lag ich, und Mine im Geist in meinem Arm! Die Bäume – waren Linden.

Bis hieher hat der Herr geholfen, sagte Samuel, da er einen Stein zum Altar hinlegte, und auch ich; ihr wißt es, ihr heiligen Gräber und ihr Bäume, die ihr mit ihnen so nahe verwandt seyd, ihr wißt es, wie ich bei diesem Altar bewegt war, den ich nächst Gott Minen setzte. Der Todtengräber war weg. Ich allein. – Ein heiliger Schauder nach dem andern nahm mich, als wenn diese oder jene abgeschiedene Seele auf und in mich wirkte, und nun, da ich mir selbst zu schwer war, fiel ich auf Gottes Gartenacker, von wo ich beide Hände offen gen Himmel hob, als wenn mir [161] Gott einen sanften, seligen Tod hineinlegen sollte. O wahrlich! ich bettelte darum. Siehe, da fiel ein welkes Blatt auf meine Rechte; dieß nahm ich und ging gesegnet in mein Haus. Noch liegt dieß Blatt in der Bibel, die mir mein Vater auf den Weg gab. Wie mir diesen Einweihungsabend war, vermag ich nicht auszudrücken. Oft hab' ich ihn wiederholt, den vortrefflichen Abend, ohne daß mich der Todtengräber weiter mit seinem Spieß störte. – So oft wir uns überfielen, berichtigte ich ihm meinen Canon.

Einen schönen Abend, da der Mond die Nacht regierte, ging ich tief andächtig zu meinem Altar, und stehe da, der königliche Rath kam, stellte sich vor ein Grab, sah in den Mond und aufs Grab, wie's mir vorkam, so lange, bis die Thränen ihm nicht mehr erlaubten, in den Mond und aufs Grab zu sehen. Ich glaube nicht, daß er mich bemerkt hat; allein ich habe ihn weinen sehen, weinen, und das beim Mondenschein. O! wie schön die Thränen da aussehen! Er war mir von jeher schätzbar; seit diesem Abend aber war er es mir unendlich mehr. Es kamen und gingen viele Leute dieses Weges, und dieß war das einzige, was mir auf diesem Kirchhofe mißfiel und meine Andacht unterbrach. Denn wahrlich die wenigsten sahen, wie der königliche Rath, in den Mond und auf ein Grab, bis die Thränen es nicht mehr verstatteten. Die wenigsten wallfahrteten einer Mine wegen an diese heilige Stätte. Ich hab' ihn auch nie mehr an diesem Grabe weiter gefunden; allein nie bin ich seine Thränenstelle vorbeigegangen, ohne daran zu denken, daß dieser in der Welt so gefaßte Mann hier weinte.

Bei dieser Gelegenheit freue ich mich, auf den königlichen Rath zu kommen, der, wie alle Obersten im Volke, nur des Nachts, nur beim Mondschein, weinen konnte.

Die Abhandlung überlieferte ich sogleich nach meiner Ankunft dem Verleger, ohne, nach der dem guten Prediger gegebenen Verheißung, seinem Bruder hievon einen Strahl leuchten zu lassen. Ich [162] indessen stellte auf meine eigene Hand dieß Werk und den königlichen Rath zusammen und überzeugte mich je länger je mehr, daß ihm mit der Zuschrift nicht sonderlich gedient seyn würde. Ich erzählte dem königlichen Rath meine Geschichte mit aller Treue, und hatte Gelegenheit zu bemerken, daß er, auch ohne in den Mond zu sehen, empfinden und theilnehmen konnte. Es war hoch am Tage. – Weinen nur konnt' er ohne den Mond nicht. So lieb, als in meine Stunden, und wären sie auch beim Professor Großvater gehalten, ging ich in seine kleine Abendgesellschaften, wo ein königlicher Rath, sein College, ein Officier, ein Prediger und ich mit Leib und Seele waren. Selbst, wenn er es nicht länger aussetzen konnte, und er ein Mittagsmahl gab, wo mehr gegessen und getrunken und weniger gesprochen ward, und wo der königliche Rath, sein College, der Officier, der Prediger und ich, nichts mehr thaten als vorlegen, selbst da hielten mich manche Anmerkungen schadlos, die der königliche Rath zuweilen zum Besten gab. – Es ist viel, einen Mann von seinem Stand zu finden, der zu Gott, der Natur und zu sich selbst zu kommen verstand, wie sein College Nicodemus zu Christo. Der College des königlichen Raths, mein Mitgast, ein Mann von anderm Schrot und Korn, hätte nicht geweint, wenn sich der Mond gleich seinetwegen alle Mühe gegeben. Man nannt' ihn ein juristisches Genie, das heißt, er fing seine Sentenzen nicht mit Alldieweilen, sondern mit Alldieweil an; schrieb nicht: Wie Recht ist von Rechtswegen, sondern von Rechtswegen; ließ den Buchstaben h bei vielen Worten weg.

Das letztemal, da ich diesen Altar besuchte, ließ ich es darauf nicht ankommen, ob ich dem ehemaligen siebenjährigen Bedienten des Grafen v. – und jetzigen wohlbestallten Todtengräber des Roßgärtschen Kirchhofs, oder Gottes Gärtnierer, in dem Sinn, wie der Prediger des Orts Gottes Diener ist, begegnen würde. Ich war verbunden, ihm Minens Grabmal zurück zu treuen Händen [163] zu liefern, und mich mit ihm, neben dem Dank für dieses Begräbniß der Einbildung, auf eine wirklich fühlbare Art abzufinden, des Canons ungerechnet, den ich ihm, so oft ich ihm begegnet, abzutragen für Pflicht gehalten. Ich klopfte an sein Fenster. Gleich, war seine Antwort, und da stand er auch mit seinem Spieß in der Hand, den er lächelnd ansah, nachdem er mich gewahr ward. Er war es nicht gewohnt, daß ich ihn auf diese Art aufrief; sich zu begegnen war eingeführt. Hier, fing ich an, lieber Freund, gebe ich dieß Grab, frei von aller Einbildung, die bis jetzt darauf haftete, zurück. Die Gebeine des guten Paares, das in dieser Welt, des Ja und Amens unerachtet, nicht zusammenkommen konnte, das an der Liebe starb – mögen wohl ruhen! Ich ziehe mit meiner Todten von dannen, die dieß Grab, so lange ich sie hier beigesetzt, nicht beunruhigt hat. Mein Begräbniß war geistig gerichtet. Da wollt' ich wetten, sagte der Todtengräber und stützte sich auf seinen Spieß, diesem Paar wird es ein Vergnügen gewesen seyn, ein ander Paar guter Freunde bei sich zu sehen! Die Gesellschaft kann auch den Todten nicht unangenehm seyn. Von jeher sind Kirchhöfe gewesen. Hier fiel mir die Sterbensmethode des Grafen ein, die auch auf Gesellschaft hinausging. Von der Erde, womit der liebe Gott von Anfang, da er Himmel und Erde schuf, diese Kugel bestreute, so wie meine Hausmutter alle Sonntage unsere Prunkstube, wird wohl schwerlich viel mehr übrig seyn. In dieser Anfangsrede war freilich kein pulverisirtes Gebein; allein unsere jetzige sind wir selbst, bis auf die Seele! – – Nach diesen Betrachtungen, welche der Todtengräber in beliebter Kürze und Einfalt, auf seinen Spieß gelehnt, nicht ohne Bewegung der Hände, bald zur Rechten, bald zur Linken, hielt, und worin ich seinen hochgebornen Meister in Lebensgröße fand, berichtigte ich ihm meine Schuld, und er kam zur Nutzanwendung seiner angefangenen heiligen Rede, die zwar seinem Text nicht angemessen [164] war, die indessen aus gutem Herzen quoll. Vor allen Dingen, fing er an, schenke Ihnen der liebe Gott Glück und Segen und ein langes Leben! Bei Ihnen verliert der Todtengräber nichts bei lebendigem Leibe; wenn ich aber bitten darf, begraben Sie Ihre Einbildung auf diesem schönen Kirchhofe, wo es Ihnen gefallen hat. Jeder Platz soll Ihnen gehören, den herrnhutschen grünen Einschluß nicht ausgeschlossen. Es ist keine Schwester, der Sie hier im Geist ein Grabmal errichtet! Ich weiß, was Schwester sagen will. Die begräbt man ohne Einbildung, und, wenn ich's selbst nicht wüßte, mein Weib weiß mehr als das. Da stirbt keins vom königlichen Hause, was ihr nicht voraus gemeldet wird. Wunderbar verkehrt sie im Schlaf mit den Geistern. Das Paar, das unter den zusammengewachsenen Bäumen schläft, ist hier mit dem Herzen zusammengewachsen. Sie läßt auf dieß Paar nichts kommen. Sie, mein Herr, haben eine Braut verloren. Ja, sagt' ich, meine Mine! – Den Namen wußt' ich nicht, erwiederte er. – Geister haben keinen. Minens Geist, Freund, heißt Mine, fiel ich ein. – Einbildung, und diese Einbildung, wenn ich bitten darf, begraben Sie sie. Es ist Raum in der Herberge. Das Grab haben Sie reichlich bezahlt! Ich will es eigenhändig machen. Sie sind jung, und wissen nicht, was solch eingebildetes Wesen für Folgen hat. Seit einiger Zeit war mein Vorsatz, Sie aufzusuchen und Ihnen diese Lehre zu wiederholen, die ich Ihnen beim Miethskontrakt nicht verhielt. Konnt' ich aber so grob seyn, und Sie aus der Miethe setzen, ehe Sie sie mir selbst aufzukündigen genehm finden würden? Heute alles, wie gerufen. – Der Todtengräber belegte seine Ermahnung mit einer Geschichte, die vor kurzem ihre Endschaft erreicht hatte. Es verdroß mich, daß so etwas auf dem Roßgärtschen Kirchhofe geblieben, ohne daß ich in meinem Quartier der Stadt davon eine Todtenglocke gehört.

Was liegt nicht alles auf den Kirchhöfen begraben! In großen [165] Städten ist Vergnügen der Inhalt. Das Wort Tod ist hier so contreband, als das unhallische Salz in Preußen. Hier ist diese Geschichte, womit ich diesen Kirchhof schließe, so wie ich ihn mit einer Geschichte meinen Lesern öffnete. Zuvor eine Todtengräberbemerkung, die meinen Lesern nichts neues ist, daß mehr Leute an der Liebe sterben, als an den Blattern. Die Schuld hiervon gehört auf die Rechnung des Zwangs, den man den Menschen auflegt. Man hat so viel über die Klöster geschrien; allein wahrlich jeder Staat macht recht geflissentlich ein großes Kloster aus sich! –


Die Geschichte.


Ein Eigenthümer von einigen Hufen Acker und einem kleinen artigen Häuschen, hatte einen Sohn und eine Tochter. Eltern und Kinder lebten in so glücklicher Ruhe, daß der Pastor loci selbst zu sagen pflegte, es wäre ein patriarchalisches Leben, das sie führten. Der Sohn kam ins Jahr, in dem sein Vater geheirathet hatte. Dieß fiel dem Alten an seines Sohnes Geburtstage ein, und er forderte ihn selbst auf, an dieß heilige Werk der Natur zu denken. Der Sohn hatte schon daran gedacht, und entdeckte dem Vater seine Absichten. Anwerbung, Verlobung und Hochzeit waren so nahe zusammen, daß alles wie Eins war. So sollt' es auch immer seyn. Gretchen, so will ich die Tochter des Hauses nennen (ohne Pastors Gretchen in L – im mindesten zu nahe zu treten), hatte das größte Recht von der Welt, zu erwarten, daß ihre Mutter sie eben so auffordern würde, als es der Vater in Rücksicht ihres Bruders nicht ermangeln lassen. Sie war einundzwanzig; ihre Mutter hatte im zwanzigsten geheirathet. Diese Aufforderung blieb aus. Böse war es hiebei nicht gemeint; die Mütter haben gemeinhin die Rücksichten nicht in diesem Punkte für ihre Töchter, die die Väter für ihre Söhne haben. Gretchen machte diese verfehlte [166] Aufmerksamkeit ihrer sonst lieben Mutter nicht die mindeste Sorge. Sie fiel ihr nicht einmal ein. Wann werden denn wir, sagte Hans, ihr Geliebter, es so machen, wie dein Bruder mit seinem Gretchen? Hans war nicht mit seiner Liebe in der Festung; allein völlig im Freien war er auch nicht. Er war nicht bloß auf die Wälle eingeschränkt, sondern konnte Sonntags und Festtags Gretchens Eltern besuchen, Gretchen sehen, ihr verstohlen die Hand drücken, und beim Weggehen ihr geradeswegs die Hand geben; bei welcher Gelegenheit ihm aber die Hand so zitterte und bebte, daß er sie kaum hinlangen konnte. War niemand dabei als Gretchen und er, war sie ihm fest in allen Gelenken. Er war ein starker Hans an Leib und Seel. Gedacht mögen die Eltern über Hansens Liebe viel haben; allein gesagt hatte sich Vater und Mutter kein Wort. Unser Paar liebte sich so inbrünstig, als man nur lieben kann, und doch so unschuldig, so rein. – Gretchen hatte ihrem Hans viel von dem schönen Meiergute erzählt, das ihr Bruder mit bekäme, und Hansen, obgleich er kein anderes Eigenthum, als eine unbefangene Seele, und ein Paar gesunde Hände, besaß, wäre es nicht eingefallen, daß das Gütchen, worauf Gretchens Eltern waren, ihm mit Gretchen zufallen würde, wenn Gretchen ihn nicht selbst darauf gebracht hätte. Der Sohn, der sonst das nächste Recht gehabt, war jetzo wohl versorgt. Das liebe Eigenthum; es hat mehr Unheil, als dieß, angerichtet. Hans machte sich den Kopf so warm mit allerlei Entwürfen, die er, wenn Gott will, auf diesem Gütchen ausführen würde, daß sein Paar gesunde Hände am Werth verloren. Gretchen merkte, daß Hans mit etwas umging; indessen wußte sie nicht, was es war. Einst sagte sie ihm: Du hast da etwas im Kopf, und sollst doch nur etwas im Herzen haben. Hans indessen hatte Gretchen bei seinen Entwürfen nicht vergessen. Alles macht' er an ihrer Hand. Ein Stück uncultivirtes Land wollt' er erziehen, und es sollte Gretchenfeld [167] heißen. Dort sollte ein Gang angelegt werden, und der sollte Gretchenhall genannt werden. Der arme Hans! Was ihm sein Gütchen, das er nur in Gedanken besaß, schon für Gedanken machte! Gretchen hatte ihm so viel von der Anwerbung und Verlobung und Hochzeit ihres Bruders erzählt, daß nichts darüber war; nur einen Umstand hatte sie verschwiegen, daß nämlich ihre Schwägerin einen Bruder hätte. Die Meierei, welche das neue Ehepaar bezogen, lag zwei Meilen von dem Gütchen, das Hans in Gedanken, und sein künftiger Schwiegervater wirklich besaß. Nach einiger Zeit kamen das neue Paar und die Seinigen, Gretchens Eltern zu besuchen. Der erste Stoß, den Hans ans Herz erhielt, war die Nachricht, daß Gretchens Schwägerin einen Bruder hätte. Auf diesen Umstand war Hans nicht gefaßt. Und warum? fragte er sich selbst, warum hat sie mir das gethan, und kein Wort darüber verloren? Sich so in Acht nehmen, wer kann das ohne böses Gewissen? – Hans hatte nicht so ganz unrecht, so zu fragen, allein Grete war unschuldig, wie die Sonne am Himmel. Es blieb nicht bei dieser Unruhe. Hans ward zu den unschuldigen einfachen Gastmählern, welche in dem Hause seiner Schwiegereltern angestellt wurden, nicht gebeten. Zwar hätt' er diese Tage für Festtage ansehen und von selbst gehen sollen; allein dieser Entschluß, wenn er gleich zuweilen wollte, konnte nicht aufkommen. Gretchens Bruder, der voll von seinem Weibe war, und der seinen leiblichen Bruder darüber in den Tod vergessen hätte, besuchte zwar Hansen, seinen alten guten Freund; indessen war es nur so beiläufig. Hans, der einmal ins Auslegen gekommen war, deutete alles zu seinem Nachtheil. Das schöne Wetter schien ihm als von Gretchen bestellt, um mit ihrer Schwägerin Bruder spazieren zu gehen, und auch der Regen gehörte auf ihre Rechnung; damit sie ungestörter mit ihm lieben konnte, regnete es. Sieh! dacht' er, auch selbst von der Natur will sich die Ungetreue und ihr Liebling nicht einmal [168] stören lassen. In diesen Vorstellungen vergingen einige Tage, die Hansen in der Hölle und Qual nicht hätten wärmer seyn können. Nun sehnte er sich nach Gretchen, nicht, um von ihr diese Räthsel lösen zu lassen, sondern ihr Vorwürfe zu machen, und ihr das Gütchen wieder zurückzugeben, das er von ihr erhalten, und eben nun begegnete ihm Gretchens Vater, der ihn bei der Hand nahm und zum Abend einlud. Wo so lang gewesen? fragte der Alte. Hans antwortete nur bloß durch eine Pantomime, indem er den Hut abzog und wieder aufsetzte. Hans ging mit dem Alten, und alles kam ihm verändert vor. Es war ein Kälberbraten aufgetischt, und Gretchens Mutter fing an: Da kommt ja Hans recht zum Verlornensohn-Braten. Das Verlorne fiel ihm sehr auf. Gretchen war zwar freundlich gegen Hansen; allein eben, weil sie freundlich war, fand er Nahrung für seinen Argwohn, und was weiß ich, was er aus ihrer Unfreundlichkeit geschlossen. Nach dem Abendessen ging man in die Luft, und da Gretchen den Fremden in dem Gütchen herumführte und ihn alles Schöne desselben mit Aug' und Händen greifen ließ, kam es Hansen nicht anders, als eine Schlange vor, die in Gestalt eines Junkers den Herrn Christum auf der Zinne herum führte, und ihm das alles anbot, wenn er niederfallen und ihn anbeten würde. Der Fremde fand alles so allerliebst, daß er mehr als einmal den Wunsch fallen ließ, wie ihm dieß Gütchen viel besser als der väterliche Meierhof gefiele, der ihm bestimmt war. Nun war Hans bis zur letzten Stufe der Verzweiflung gebracht. Gretchen, die seine Unruhe merkte, wollte sich mit ihm eine Luft machen, und schien den Fremden aufzumuntern. Sie war froh und lächelte, weil sie sah, daß Hans sie so liebte, und Hans that froh und lachte auf eine recht schreckliche Art. Dieß war der letzte Abend, den die Gäste bei Gretchens Eltern zubrachten. Hans hörte unaufhörlich bitten, wenn es ihnen allerseits gefallen, doch bald wieder zu kommen. Auch [169] Gretchen bat. Hansen kam es vor, daß es bloß seinem Nebenbuhler galt. Sah sie ihn nicht an? fragt' er sich. Hans ging voller Verzweiflung von hinnen. Er lachte, da er ging. Den andern Morgen, als er alles zusammen rechnete (bis dahin lag alles ungezählt, unberechnet), was er gesehen und gehört, war sein Entschluß gefaßt, wozu Gretchen ihm die Hand bot. Es jammerte sie sein. Sie wollte ihren Vielgetreuen beruhigen, und legte es recht geflissentlich an, mit ihm ins Feld zu gehen. Er, gleich da. Was ist dir aber? fuhr Grete fort. Es wird sich, erwiederte er, im Freien geben, sollte ich denken. – Gretchen wollt' es anfänglich heimlich machen, endlich entschloß sie sich, von ihren Eltern die Erlaubniß zu diesem Gange zu erbitten. Dieß kleine Opfer, dachte sie, bin ich Hansen wegen des Kummers schuldig, den ich ihm gemacht habe. Mit Hansen? sagte der Vater und lächelte. Die Mutter sagte:So? und lächelte deßgleichen. Gretchen hätte zu keiner erwünschtern Stunde diese Erlaubniß bitten können. Vater und Mutter hielten in Gegenwart Gretchens einen Rath über sie und das Ende war: Grete sollte Hansen zum ehelichen Gemahl haben. Ja doch, sagte der Vater, ich muß jemand haben, der mir zur Hand geht; allein halt' ich's nicht mehr aus. Ja doch, sagte die Mutter, der es jetzt einfiel, was ihr längst hätte einfallen können, daß sie schon ein Jahr früher geheirathet hätte. Grete stand da, so froh, daß sie ihren Eltern vor Freude nicht danken konnte. Das, dünkt mich, ist der beste Dank, für Erkenntlichkeit nicht zum Dank kommen können. Dieses Gespräch hielt Greten über die Zeit auf, die verabredet war. Hans war schon unruhig. So fand sie ihn. Du wirst schon ruhig werden, dachte sie; hiebei zielte sie auf den Rath, den ihre Eltern gepflogen hatten, allein sie ließ sich nichts merken. Anfänglich wollte sie ihr Lustspiel fortsetzen. Hans war ihr aber zu ernsthaft. Sie besann sich bald, und zog ein ander Kleid an; das natürlichste, das beste. Ihre [170] Eltern hatten sogar ihr nicht verboten, Hansen zu sagen, was geschehen war, und wär' es ihr verboten gewesen, wie hätte sie sich helfen können? Lieber Hans, fing sie an, und nahm ihn bei der Hand. Ha, dacht' er, Mitleiden! Wie es mit solchem Mitleiden ist, wissen wir alle. Solch Mitleiden ist das empfindlichste, was ich kenne. Nichts thut so weh, als dieß. Mitleiden kann zuweilen der Liebe Anfang seyn, noch öfter aber ist es das Ende der Liebe und ein schreckliches Ende! Du bist böse, daß ich so spät gekommen, fing Gretchen an. Betrügerin, dachte Hans, ohne mehr zu sagen und zu thun, als sich den Hut tiefer zu setzen. Jetzt waren sie so weit, daß sie von dem väterlichen Gütchen völlig entfernt waren. Nur zwei Stiere, die sich von der Heerde verlaufen hatten, waren ihnen nachgekommen, worüber sich Gretchen wunderte, Hans aber nicht. Eben wollte Gretchen ihrem Hans erzählen, was vorgefallen war, und wozu sich ihre Eltern von freien Stücken entschlossen hätten, als Hans sie faßte, sein Mordmesser zog und ihr zehn Wunden beibrachte. Seine Hand zitterte und bebte nicht, als wie vorhin, wenn er aus ihres Vaters Hause ging und Gretchen öffentlich die Hand reichte. Gott! schrie sie, Gott! nimm meinen Geist auf! Sie war über und über mit Blut bedeckt und schwamm in ihrem Blute. Die Stiere brüllten auf eine so schreckliche Art, daß dem Mörder ihrentwegen das erste Grausen ankam. Sie kamen hinzugelaufen, als ob sie diese That verhindern wollten, sie liefen davon, als ob ihnen der Anblick zu schwer würde. Nun fragte Hans lächelnd (es war das letztemal, daß er lachte): Wen willst du jetzt lieben, Ungetreue? Dich, antwortete Grete, und Blut schoß aus ihrem Herzen. Dich, wiederholte sie und drückte Hansen auf eine Art die Hand, daß er seinen ganzen entsetzlichen Irrthum einsah. Jetzt hatte er der Stiere nicht mehr nöthig; das Grausen kam von selbst. Er warf sich auf die Erde, schrie nach Rettung, sprang auf, eilte selbst, Hülfe zu suchen, in ein benachbartes [171] Städtchen – und fand den Wundarzt nicht an Ort und Stelle. Alles hatte er Gretchen zur Hülfe aufgeboten. Nun kam er, wie ein Verdammter, der um einen Tropfen Wasser bettelt und ihn nicht erhält, und fand den Wundarzt, den Gretchens Eltern aufgefunden, fand die Eltern selbst, die ihm mit offenen Armen entgegen kamen. Einem Tochtermörder! Grete hatte diese That auf einen andern ausgesagt, der sie überfallen, und hiebei hatte sie Hansens starke Hand gepriesen, die sie zu retten unermüdet gewesen. Gott, diese Unwahrheit, betete sie im Herzen, vergib sie mir! Die Eltern hatten ihr zugeschworen, Hansen das Gütchen zu lassen, und nun, voll des Danks und der Erkenntlichkeit, kamen sie ihm entgegen, fielen auf die Blutflecken, die sie an seinem Kleide gewahr wurden, als so viel Beweise seines Edelmuths. Für jede Wunde, die Grete erhalten, umarmten sie ihn! – Es kostete Hansen kaum so viel Mühe zu morden, als die Eltern zu überreden, daß er Mörder sey. Sie glaubten, er hätt' aus zu großer Liebe den Verstand verloren. Je gütiger Gretchens Eltern gegen ihn thaten, je schrecklicher klagte Hans sich an. Wenn er Gott und alles, was heilig, zu Zeugen aufgerufen: er sey der Thäter; so sahen ihn Gretchens Eltern so mühselig, so beladen an, als wollten sie sagen: der arme Junge, wie ihn Gretens Schicksal übernommen hat! Und wenn er ihnen das Mordmesser zeigte, drückten sie ihm die Hände, weil sie Gretchen so mächtig beschützet. Wenn er es gen Himmel hielt und schwur, bogen sie sanft seine Hände zur Erde. Niemand wußte, woran es mit Hansen war. Lieber Sohn, fingen die Eltern an, du bist mehr todt als sie! Endlich ging allen ein Licht auf. Hans ward eingezogen. Er sah die Gerichtsdiener, die ihn fesselten, als seine Wohlthäter an, die ihm den Tod, das einzige Verband für seinen Schmerz, mitbrachten! Der Abschied war rührend. Er bat Gretchen um Vergebung; sie versicherte, daß sie ihm nichts zu vergeben hätte, und da sie [172] endlich einsah, daß alle ihre Bemühungen, Hansen zu retten, vergebens waren, rang sie die Hände, und weinte so herzlich, daß selbst die Gerichtsdiener zu weinen anfingen. Hansen ward der Proceß gemacht. Er konnte die Zeit nicht abwarten, sein Todesurtel zu hören. Wenn ich doch an einem Tage mit ihr sterben könnte, das war der einzige Wunsch, den er noch in dieser Welt hatte. Eben an dem Tage, da sich die Richter einigten, daß Hansen, als einem Unmenschen, der den Vorsatz gehabt, auf der Landstraße zu morden, sein Leben auf eine schreckliche Art, vor aller Welt Augen, genommen werden sollte, war es ausgemacht, daß Grete außer Gefahr sey. Sie erholte sich nach diesem Tage zusehends, und es war die Frage: ob es gut sey, Gretchen Hansens und Hansen Gretchens Schicksal zu entdecken? Die Frage wurde noch bei herzensguten Leuten problematisch abgehandelt, da schon weniger herzensgute Menschen der Beantwortung zuvorgekommen waren. Hans wußte um Greten, und Grete um Hansen. Im ersten Augenblick war es Hansen anzusehen, daß ihm über Gretens Aufkommen der Kopf herum ging. Da er sich aber besann und noch dazu hörte, daß Grete durchaus nicht leben wollte, schrieb er an sie wie folgt:

Es ist genug, Du lebst, und ich will fröhlich sterben! Dein Blut wird mir nicht vor den Augen fließen, wenn ich für meine That bluten werde. Nun darf ich an meiner Seligkeit nicht verzweifeln und an meinem ewigen Leben. Meine Hand ist mir von den Ketten nicht so schwer, als vom Herzen. Vergib Deinem Mörder und bete für Hansen. Dank dem, der mich verhört hat. Mit dem edlen Mann hat Tod und Leben, Gesetz und Menschlichkeit gekämpft. Wünsch ihm in meinem Namen ein langes glückliches Leben, und geh nicht heraus, wenn ich ausgeführt werde. Reise, wenn es Deine Gesundheit erlaubt, dahin, wo ich Dich erschlug, und schreie ein Vater unser für mich.

[173] Dieser Brief, anstatt daß er Kraut und Pflaster zur Beruhigung für Greten seyn sollte, nährte ihren Gram. Er brachte ihr empfindlichere Wunden bei, als Hansens Mordmesser. Niemand hatte Hansens Tod erwartet. Hans nahm sein Urtel als Gottes Ausspruch an. Grete war außer sich. Sie wollte für ihn sterben. Die Geistlichen lösten die Wundärzte ab, um ihr Ruhe zuzusprechen; allein vergebens. Das Wollen, schrie sie, nicht das Vollbringen. Wenn Gott strafen sollte, was wir wollen, wer könnte vor ihm bestehen? Sie sprach wie alle Leute, die außer sich sind, so weise, so vernünftig, daß sich jedes wunderte, wo sie alles dieses her hatte, was wirklich über ihr war. Es war kläglich anzusehen, daß diese beiden Menschen ohne einander nicht leben, nicht sterben konnten. Grete trat, ohne daß Hans es wußte, den König an. Sie sind ein Mensch, schrieb sie, Monarch, und machen sich eine Ehre daraus, es zu seyn! Schenken Sie Hansen das Leben, oder nehmen Sie es mir, so und nicht anders ist uns beiden geholfen. – Der König verwandelte die Todesstrafe in eine einjährige Festungsstrafe, und alle Welt sagte, daß dieses ein Salomonisches Urtheil wäre. Um solch ein Urtel zu sprechen, wer wünschte nicht König zu seyn! Hans wäre gar nicht in der Festung gewesen, wenn nicht Grete seine Strafe mit ihm getheilt hätte. Dieß war das einzige, was ihm schwer zu tragen war. Seine Ketten waren ihm nicht lästig. Nach so viel Kummer und Noth, ging endlich die Sonne über dieses treue Paar auf. An das Gütchen, in welchem Hans so viele Veranstaltungen in Gedanken getroffen, war nun nicht mehr zu denken. Sie wollten beide weder Land noch Leute dieser Gegend sehen, und entschlossen sich, um sich recht zu verbergen, nach Königsberg zu ziehen. Sie waren eben zum drittenmal aufgeboten, da Hans in ein hitziges Fieber fiel und starb. So entscheidet Gott, der Herr, wenn gleich Könige anders entscheiden. Seine Wege sind nicht unsere Wege, seine Gedanken sind [174] nicht unsere Gedanken. Grete fiel an Hansens Begräbnißtage in eine solche Schwermuth, daß sie jetzt im Irrenhause, wiewohl in einem bessern, als den gewöhnlichen Zimmern, gehalten wird. Gott, was hat Grete verbrochen, daß sie gelacht hat? Sara lachte auch und Gott segnete sie mit dem Sohne Isaak; und Grete? im Irrenhause. Ihre zerrüttete Einbildungskraft läßt sie glauben, Hans sey auf dem Richtplatze aus der Welt gegangen. Sie macht beständig eine Bewegung mit der Hand, als köpfe sie! – Hans liegt auf dem Roßgärtschen Kirchhose zur linken Hand, am kleinen Ausgange, begraben.

Diese Geschichte hab' ich aus einem Aufsatz genommen, den ein armer Candidatus Theologiae zu einem Jahrmarktsliede entworfen, zu singen von einem lahmen Bettler, auf die bekannte Melodie: Es ist gewißlich an der Zeit. Der Todtengräber, der nun sehr unvollständig diese Geschichte erzählte, behändigte mir diesen Entwurf, den ich aus gezogen habe.

Wahrlich, Freund Todtengräber, wer seine Einbildungskraft begraben kann, hat sich leicht gemacht! Wie könnt' ich aber Minens Andenken zurücklassen?

Schlüßlich stieß ich auf drei ausgegangene Bäume, und mein Lehrmeister versicherte mich, daß, nachdem die Familie, die hier ihr Erbbegräbniß gehabt, ausgestorben, sie in einem Herbst alle drei ausgegangen wären. Das ist nichts Neues, setzte der Todtengräber hinzu. Es haben sich viele Hunde um ihren Herrn zu Tode gegrämt, und die Stiere, die in dieser Geschichte vorkommen, sind ein neuer Beweis, daß die Bäume gewußt, wenn es Zeit zum Ausgehen war. Ich bat den Todtengräber, diese Mordgeschichte dem Grafen zu übersenden, welches er mir aber abschlug. »Ich muß so etwas aufbewahren, um es ihm hier vorzusetzen.«

Ich schließe den Kirchhof, ehe das Stadtthor für mich geschlossen wird. Wer mir aber dergleichen Vorgriffe übel nimmt, kann mir [175] mehr übel nehmen, wenn es ihm so beliebt. – So sehr mir diese Geschichte auffiel, so war ich doch nicht im Stande, Greten im Irrenhause zu besuchen, um ihren schrecklichen Scharfrichterhandgriff zu sehen!

Wenn es ausgemacht ist (und nichts ist gewisser als dieß), daß die wahre Philosophie eine Sterbekunft sey, so legt' ich mich mehr auf die Philosophie, als auf irgend etwas. Um reich zu seyn, braucht man nicht Geld, nicht Gut, sondern Mäßigkeit. Gute Führung beehrt uns, nicht Würde. Wer lang und glücklich leben will, sey sein eigner Herr, im philosophischen Sinn! Wer die Welt verachten will, hab' eine Mine im Himmel! – Mine war der philosophische Text, über den ich studirte. Ueberall war sie. Je mehr ich studirte, je mehr fand ich: Gesunder Verstand sey täglich Brod. Wörterkram, Schnirkelei aber, kopfverderbendes Gebackenes. Wenn mein Vater redete (docirte, wenn man will, denn ich läugn' es nicht, daß der Lehrton ihm wie eine Klett' am Kleide hing), hatt' er jederzeit etwas in der Hand, Messer, Scheere, ein Buch, einen dem Wachslicht abgenommenen Bart, einen Zahnstocher, kurz, ohne was Körperliches war er nicht. Er schwur immer einen körperlichen Eid, wenn ich mit Verzeihung der juristischen Genies mich so erklären darf. So was hilft die Sache sinnlich machen. – Er knetete die deutlich zu machende Sache durch, würd' ein anderer gesagt haben; er nicht – ich auch nicht. – Gott der Herr hatte ein Chaos, aus dem er die Welt allmählich herausrief, und wenn ich's recht bedenke, ist was Körperliches vielleicht darum in der Hand gut, um für den Gedanken ein Kleid, für den Geist einen Körper zu finden. Gott ehre mir Leute, die Hand und Mund zugleich bewegen, war, wie wir wissen, meines Vaters Losung. – – Der Kirchhof in L –, der Roßgärtsche Kirchhof in Königsberg, das waren meine Messer, Buch, Scheere, Wachsbart, Zahnstocher.

[176] Die Alten brauchten den Tod, als ein Mittel der Aufmunterung. Ich ahmt' ihnen nach, wiewohl auf andre Weise, die aber nichts zur Sache selbst thut. Hätt' ich, einsam in mich verschlossen, der Welt das Rauhe zugekehrt: da wäre freilich nichts Kluges herausgekommen. In Gesellschaft gefällt das Wundersame; in der Einsamkeit schadet es.

Ich habe schon meinen Lesern meinen Studirplanad unguem vorgerissen. Ich war darum auf der Akademie, um mich vor Irrthümern protestando zu verwahren. Mein Vater stand keinem Menschen das Recht zu, ohne Rand zu schreiben, und auch, wie er sich uneigentlich auszudrücken pflegte, ohne Rand zu sprechen. Wir sind Menschen, setzte er hinzu. Man muß sich mit keiner Schrift so einverstehen, daß man es dabei läßt: Es steht geschrieben. Was mündlich vorfällt, ist Scheidemünze. Was ist Ihre Meinung, lieber Professor Großvater? Was? Ist's genug, daß die erste Erziehung negativ sey? oder muß jeder Unterricht cum reservatione reservandorum negativ seyn? Ich denke ad Zwei, Ja. Willst du ein collegium charitativum anordnen, willst du causa cognita rechtliches Erkenntniß eröffnen? In allen Stücken will ich hören! – denn dazu bin ich und du zum Lesen (Gott helf' dir!) berufen. Würde mein vorgeschlagener Weg gewandelt, wahrlich wir wären selbst im speculativen Fache ein wenig weiter, nicht eben in Rücksicht von Sonne, Mond und Sternen, sondern unserer selbst, der Welt in nuce, in compendio. – Wahrlich das sind wir. Der Mensch hat einen innerlichen Sporn zur Thätigkeit. Er will durchaus, daß die Leute selbst mehr von ihm sagen sollen als an ihm ist. (Obgleich der Philosoph durch sich selbst und nicht durch sein Aeußeres sich vom Haufen unterscheidet, obgleich alle Affektation ein Mangel wahrer Vollkommenheit, ein Mangel menschlicher Vollständigkeit ist.) Woher dieß? Der Mensch dringt durchaus zum Positiven. Glaube mir, hohe Schule! Wenn jeder positive [177] Jüngling, nach rühmlichst zurückgelegter akademischen negativen Bahn, weiter ginge, was würde da nicht zum Vorschein kommen? Mehr als in vielen überdachten Beantwortungen gleich überdachter Preisaufgaben! Wie selten ist der Mensch Mensch, wie selten kann, wie selten darf er's seyn! O! wenn er's doch immer wäre. – Tausendmal um Vergebung, sagte Herr v. W – und Hermann: Tausendmal unterthänigst um Vergebung, wenn von jemanden, wo ein Schnack mit andern Umständen erzählt ward, als Herr v. W – oder der schnackreiche alte Herr ihn zu wissen das Vergnügen hatten. Es hat ehegestern gefroren, sagte Herr v. G –. Tausendmal um Vergebung, fällt Herr v. W – ein, und der alte Herr nimmt sich die Erlaubniß, tausendmal unterthänigst um Vergebung zu bitten. Warum tausendmal? erwiederte Herr v. G –, ich sag's einmal, und warum um Vergebung? Hat's nicht gefroren, so sagen Ew. Hochwohlgeborcn und Hochedlen: es hat nicht gefroren. Hat es aber gefroren, so haltet beide das Maul! Mit der Vergebung bleibt mir in alle Wege vom Leibe. – Vergebt eurem Schuldiger, wie Gott euch vergeben soll. So der brave v. G –. Mein Vater würde diesen Auftritt auf philosophische Noten setzen und sich also verlauten lassen: der Mensch fühlt sich berufen zur Thätigkeit, wenn ihm jemand in die Quere kommt, schlägt er aus, mit dem Munde nämlich. Beim Einwurf wird er aufgehalten, dieser Renner nach dem Preise, und das ist freilich unangenehm. Daher Pardonnez – Verzeihung! Weg mit diesem französischen unphilosophischen höflichen Halt! Laßt den Herrn v. G – den altern erzählen, was ihn gut dünkt, laßt jeden seine Meinung sagen. Wer hindert euch dagegen geraden Wegs und ohne Bückling einzuwenden? Jeder Mensch hat in der Welt gleiche Rechte. Das ist so und das ist nicht also, kann jeder sagen. Auf diese Art würde sich von wahr und nicht wahr alles fein abgezogen der Ueberschuß schon finden, den diese Behauptung vor jener hat und[178] jene vor dieser! – So käme das Positive ohne unser Gebet allmählig zum Vorschein, wenn wir erst recht negativ gewesen. Nach langem Regen die Sonne. Und bliebe dann so manches, aller Mühe unerachtet, unentschieden, mir schon recht. Man wüßte denn doch, woran man mit solchen unzuentscheidenden Dingen wäre, die jetzt so oft ungebührlich auf Wetten ausgesetzt werden, obgleich hier nichts zu wetten ist.

Was meint ihr Herren Gelehrten, wären Universitäten nicht die Plätze, wo dergleichen Streit geführt werden könnte? Es versteht sich nicht über den Umstand, ob es ehegestern gefroren oder nicht? Und über diesen und jenen Schnack, den Herr v. W – anders und Hermann anders gehört haben.

Bei unsern jetzigen Verfassungen sieht man offenbar ein, wie nützlich und selig es sey, gewissen Dingen ein Ansehen beizulegen, sie zu Würden und Ehren zu bringen und sie dabei zu erhalten. Ebenso sieht man auch ein, wie wenig die Sache sich von selbst zur Strenge, zum Ernst berechtige, und was ist zu thun? Man würzt gesundes Essen, man hängt sich einen langen schwarzseidenen oder wollenen Mantel, eine Reverende um die Schultern, man theilt Stock und Degen aus. Der Mensch ist von seiner Unwichtigkeit, sobald er sich ins rechte Licht stellt, vollständig überzeugt, und dieß bringt ihn zum Luftigen, obgleich es noch eine zum Streit auszusetzende Frage wäre: ob der Mensch zur Lustigkeit geboren sey? Das Klügste, was ein unwichtiger Mensch anfangen kann, ist lustig seyn. Das sehen wir an unsern Alltagseinfälligsten. Die einzige Rolle, die der Mittelmäßigkeit angemessen ist, ist fröhlich und guter Dinge seyn. Seht euch um! Alle mittelmäßige Leute sind es von Herzensgrunde. Sie haben nicht umsonst Verstand. Wer kann nicht Vögel leiden, die lustigen Thierchen auf Gottes Erdboden? Der Professor Großvater erzählte, einen Tauben gekannt zu haben, der sich Vögel gehalten bloß des Springens wegen!

[179] – Meine Mutter würde freilich das Singen vomSpringen nicht scheiden, da es die Natur zusammengefügt hat; was konnte aber der Taube dafür, daß seine Ohren verschlossen waren?

Man lasse die Menschen bei ihrer Lustigkeit, der ersten Thränen unbeschadet, womit wir alle das Taufwasser verstärkt haben und des ältesten biblischen Buchs unerachtet, welches ein Trauerspiel ist. – Ließen sich doch die Stoiker selbst zu öffentlichen Bedienungen brauchen, da gibt's genug zu lachen. Und Epikur! war er nicht ein allerliebster Weiser? Warum sollten wir den Menschen nicht zugestehen zu hüpfen, wenn sie nur nicht luftspringen; und ihr grundgelehrte Herren selbst, die ihr darauf bedacht seyd, alles trocken zu sagen, allem ein Ansehen beizulegen, ein gewisses Ceremoniel einzuführen, wobei sich jeder gerade halten, ein steifes Kleid anlegen und im bloßen Kopfe gehen muß – wenn ihr doch den Versuch machen möchtet, auf alle diese steife Etikette Verzicht zu thun. Sagt eure Wahrheiten immerhin trocken, gebt uns kalte Küche, nur schreibt uns die Bratenkur nicht vor, wenn wir gesund sind. Thut nicht so ernsthaft, wo zu lachen ist. Hängt euch nicht eine Reverende von Worten um, wo es auf Sachen ankommt. Ich weiß, Kleider machen Leute, allein nicht unter Männern, denen das Denken obliegt. Warum das ermüdende Ceremoniel, das, sobald es aus eurem Tempel ins Freie gebracht wird, lächerlich ist? Gehört denn dazu soviel Kunst zu sagen: wir wissen nichts! und das ist doch das Ende aller eurer Kunst. Wahrlich eine menschliche Kunst, die aber natürlich vorgetragen werden muß, wenn sie Frucht bringen soll in Geduld. Was ist denn positiv, so wie ihr es nehmt, hochgelahrte Herren? Das Format des Positiven ist Duodez. Warum doch alle die Formalien, wo es auf Ja und Nein ankommt? So sey eure Rede! Was darüber ist, sagt, ist es nicht vom Uebel? Wir leben nicht mehr im alten Bunde, sondern in der christlichen Freiheit, wo das Ceremonialgesetz, Gott sey gedankt! [180] abgestellt ist; warum wollt ihr solch einen Kopfzwang, solche Daumenschrauben einführen? Gesteht aufrichtig, legt ihr es nicht recht geflissentlich darauf an, das Allerleichteste schwer zu machen, das Lichte zu verfinstern und euch vom Leben zu entfernen? Hat denn diese Welt nicht Mühseligkeiten genug und ihr wollt sie noch mit mehr Drangsalen belästigen? Seht! Ich vergelte nicht Böses mit Bösem, nicht Kunstwort mit Kunstwort, ich begegne nicht trocknen Wahrheiten mit trocknen Einfällen, obgleich trockne Wahrheiten und trockne Einfälle Gevattersleute sind und in canonischer Verbindung stehen. Wie kann ich euch aber retten, wenn sich dergleichen trockne Einfällisten wirklich fänden, die euch über kurz oder lang darstellten, wie ihr seyd? – Um des armen Menschengeschlechts willen bitt' ich euch, laßt ab vom Ziegelstreichen und von egyptischer Dienstbarkeit und vom Morde der geistvollen Knäblein, und wollt und könnt ihr nicht? Es wird ein Moses kommen, der uns nachCanaan führt, wo Milch und Honig fleußt.


* * *


Daß das Studiren tröste, hab' ich erfahren. Der einzige Trost in der Welt, wenn ja die Welt Trost hat, liegt in den Wissenschaften. Selbst die Unvollkommenheit unseres Wissens ist tröstlich; die edle Art uns zu zerstreuen, die den Wissenschaften eigen ist, hat weder die Welt noch etwas, das in der Welt ist! – Die Wissenschaften allein können zerstreuen! – In ihnen liegt Lehr- und Trostamt eines guten, eines heiligen Geistes, den der Vater in unsern letzten Tagen gesendet hat, denen zur Stärke, welche ob dem Jammer, ob dem Elend dieser im Argen liegenden Welt darnieder liegen! Wir haben die Natur, die Freiheit verlassen und uns selbst in die Festung gebracht. Die Wissenschaften sind da, um uns wenigstens in der Festung eine gute Aussicht zu verschaffen, um uns die Zeit zu vertreiben.

[181] Studiren ist eine Art von Geisterseherei, eine Empfindung höherer Kräfte, ein Vorschmack des Himmels! – Die Alten, welche die Ideen der andern Welt nur für schöne Träume hielten, wußten nicht, wie dieser Trost eigentlich mit den Wissenschaften verbunden war, wo er eigentlich zu Hause gehöre?

Uebrigens hängt dieß Leben an einem seidenen Faden. Wir leben nur einmal, wir haben nur eine Seele zu verlieren. Ein Mensch, der im Himmel, das heißt überall, nur im Planeten Erde nicht zu Hause gehört, sollte aus Paris, London, Rom, Athen seyn? Unser Wandel ist im Himmel. Wir wollen Herzhaftigkeit haben aus Gottes Welt, aus uns selbst zu seyn.

Den Menschen kennen lernen heißt: den besten Theil der Wissenschaften gewählt haben. Das soll nicht von uns genommen werden! Wenn uns alles verläßt, behalten wir uns doch!

Ich werde noch Gelegenheit haben, von meinem akademischen Lebenslauf ein Wörtchen zu geben. Will man dieß Wörtchen in Rücksicht, daß das Studiren eine Art von Geisterseherei ist, so übersetzen: ich werde einen Geist erscheinen lassen! Auch gut! Einen guten Geist, versteht sich. Alle gute Geister loben Gott den Herrn!


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Ich verließ, wie es meinen Lesern nicht unbekannt seyn kann, Gretchen eben zu einer Zeit, da sich der Justizrath Nathanael zwei Stunden zuvor in dem Widdem (Pastorat) anmelden ließ. Meine Leser wissen, daß ich Gretchen bat, ihn zu grüßen, und daß sie dagegen fragte; mich? – Ich küßte Gretchen nicht, da ich von hinnen zog, wohl aber, da ich vom besonderen Grafen kam; wenigstens glaub' ich es so. – Nichts war mehr zu vermuthen, als daß sich der Justizrath seiner Anmeldung gemäß einfinden würde. – Auf die Verlobung folgt die Hochzeit, wenn kein Einspruch geschieht, [182] wenn nicht wo der Wagen bricht, oder andere Hindernisse sich in den Weg legen. Nathanael kam wohlbehalten in das Wirthshaus in L –, aus welchem er zuvor Kundschafter sandte, ob ich auch wirklich schon abgereist wäre? Und da er Ja zurück empfing, kam er mit einer ganz frisch aufgepuderten Perücke, und so stattlich ausgeziert, daß der Prediger sehr um Verzeihung bat, daß er ihn so alltäglich fände. Meine Leser wissen zwar schon, daß er seinen Erlaß erhalten, allein dieß war ein Wort aus gutem Herzen, das auch oft zur Unzeit fällt. Nathanael war jetzt, da er seine Aufwartung in L – machte, auf das allerunterthänigste Gesuch um seinen Erlaß noch nicht beschieden und konnt' auch noch nicht beschieden seyn. Das erste und letzte Wort des Nathanael war Mine! Und dieß schien die einzige Ursache, warum Gretchen auf alle seine Fragen antwortete. Er ließ sich das Grab zeigen, und weinte herzlich, wie Petrus, da er seinen Meister verrathen hatte Da ihm Gretchen die Stelle in Minens Testament, auf die Erinnerung des Predigers (von selbst that sie es nicht) zeigte: »Sag ihm, wenn du ihn in dieser Welt sprichst, daß ich ihm von Herzen vergeben habe,« weint' er so heftig, daß er die Hände brach und sich an die Stirn schlug, ohne seine aufgepuderte Perücke und die stattliche Verzierung zu bedenken, womit er ausgerüstet war. Der Prediger hatte sein ganzes Trostamt nöthig, um ihn wieder ins Geleise zu bringen. Mein Gruß, den ihm Gretchen warm bestellte, kostete ihm neue Thränen; allein er tröstete ihn auch. Die Predigerin selbst lief nicht mehr vor ihm. Seine Thränen hatten sie aus dem andern Zimmer herbeigelockt. Nathanael konnte nicht aus L – kommen. Jetzt bedauerte er, daß er zwei Stunden vor meiner Abreise sich melden lassen und nach vieren vor derselben gekommen wäre. Dieß alles machte den Nathanael bei den Frauenzimmern erträglich, ohne daß hiebei auf seine mühsame Dekoration gesehen ward, die der Schmerz, nach seiner Gewohnheit, ziemlich in Unordnung [183] gebracht hatte. Man bat den Nathanael sogar, noch länger zu weilen, um von Minen und mir erzählen zu können. Nathanael blieb in Mitbetracht des Mondscheins. – Seine Bitte war die Erlaubniß, Minens Andenken in L – öfters feiern zu dürfen, die ihm selbst von der Predigerin bewilligt ward. Ohne Thränen aber nicht, fügte diese gute Hanna hinzu. Zu befehlen, beschloß Nathanael, und fuhr seine Straße weinerlich. Der Prediger, Hanna undGretchen begleiteten ihn bis – an den Mond, hätt' ich bald geschrieben – bis ins Freie. Alle sahen auf Minens Grab, und es kam jedem so vor, als wenn der Mond hier ganz besonders sich hingewandt und es beblitzet. – Was meinst du, Einzelner! es ist doch gut, wenn man Freunde nachläßt, die beim Mondschein nach unserem Grabe sehen. – Nathanael, der, ohne daß Gretchen es empfunden, so oft es die Thränen nachgeben, sein Auge nicht von ihr gelassen, war so erbaut von allen diesen Vorgängen, daß er – weg war. Am Heck sang ein Bauernmädchen ein bekanntes Volkslied in gleich bekannter Melodie, indem sie das Heck öffnete:


Der Mond scheint hell,

Der Tod reit't schnell!

Feins Liebchen, graut dir auch?


Das fehlte noch dem Nathanael, um von ganzer Seele seinen Abschied zu wünschen und einem Plan nachzuspüren, in den Gretchen mitgehörte. Nathanael wiederholte seinen Besuch, ohne sich weiter melden zu lassen. Gretchen blieb, wie sie stand und ging. Vater und Mutter bedachten die erneute Perücke des Nathanael und sein sonstiges Schnitzwerk, und halfen sich nach. Gretchens Nachlässigkeit machte Nathanael noch verliebter. Mine und ich blieben die Hauptmaterien. Nathanael kam auch der Ermahnung der Hanna, nie ohne Thränen, nach; indessen wußt' er je länger je mehr [184] es so einzurichten, daß er Gretchen einen begehrenden Blick zuwandte, den Gretchen nie auffaßte. Sein Funke zündete nicht. Jetzt war die Erlassung gekommen, die keinem in Preußen schwer wird, und wäre Nathanael das A und O in Staatssachen gewesen, da er es doch jetzt nur im Justiz-Collegio war. Der König von Preußen hält keinen. – »Wenn der Tod ihn will, muß ich nicht auch wollen?« ist sein königlicher Grundsatz. – Ein König muß sich zu allem gewöhnen lernen, so wie sich alles zu ihm gewöhnt.

Mit einer Freude, die ihres Gleichen nicht hatte, kam Nathanael nach L –, entdeckte dem Prediger, sein Vermögen zu einem kleinen Gütchen ohnweit L – angelegt zu haben, und hatte ohne Promemoria Herz genug, dem Prediger sein Anliegen näher zu legen. Nathanael war dießmal noch geputzter, wie je, obgleich ihm schon zuvor nichts abging. Der Prediger erwiederte, diesen Antrag in Erwägung zu nehmen, und Nathanael trat ab, wie alle Parteien, wenn die Richter in ihren Sachen erkennen wollen. Der Prediger trug Frau und Tochter mit einer kleinen Anrede die Sache vor und kleidete alles in eine wohlgemeinte Rede über die Worte ein: Willst du mit diesem Manne ziehen? Da ging Gretchen über manchen unverständlich gebliebenen Blick ein Licht auf. Hanna hatte tausend Bedenklichkeiten, die aber alle tausend in den Umstand zusammen kamen, daß ich – Gretchen ward roth. – Nun, sagte der Prediger, wenn das ist, desto besser; ich bin ihm wegen meiner Sünde wider den heiligen Geist tausend Verbindlichkeiten schuldig. Er hatte schon längstens den Erfolg seines Auftrags in Händen. – Wenn er mit dir so umgeht, wie mit dieser Abhandlung, hast du gewonnen Spiel Fein Papier. Der schönste Druck. – Die Recensenten werden wider diese Verbindung kein Wort haben. Der Beschluß war, dem Justizrath Nein zu schreiben, weil Gretchen mit mir eins wäre. – Nathanael hatte gebeten, ihm sein Urtel schriftlich zuzusenden, welches er als [185] publicirt ansehen würde, und war voll Erwartung der Dinge, die kommen sollten, heim gereiset. Den andern Morgen fiel dem Prediger die Frage ein: ob ich denn wirklich mit Gretchen eins wäre? Und da man alles zusammenhielt, fand man mich in weitem Felde – im weitesten. – Es gibt nicht alle Tage Nathanaels, sagte der Prediger, der diesen ganzen Vorfall seinem Bruder zu referiren und die Sache seinem Schiedsspruch zu überlassen antrug. Hanna trat bei, und bat nur, das Testament in dieser Relation abschriftlich beizufügen, als ein Dokument, woraus ganz deutlich hervorginge, daß ich Gretchen heirathen müsse.

Der Haupteinwand, den Gretchen aber für sich behielt, war, daß, obgleich sie mit zwei Accenten verlangt, daß ich wenigstens noch einmal nach L – kommen sollte, ich doch in so langer Zeit nicht gekommen. – – Zwar hatt' ich geschrieben, allein, da war auch keine Spur, die dieses Obgleich heben oder nur mindern können.

Ein Brief von mir an Gretchen, der meine Reise nach Göttingen eröffnete, gab allem eine andere Wendung. Der Prediger sah diesen Brief als eine göttliche Schickung an. Die Predigerin selbst war der Meinung, daß die Relation nicht abgehen dürfe. Er hat doch keinen Amtswachtmeister mehr, setzte Hanna hinzu, und Gretchen? Sie hätte freilich bedenken können, daß ihre Eltern arm wären und ihre Mutter noch obenein lindenkrank, allein dieß war ihr wenigster Kummer. Es ist nicht die einzige und sichere Art, Mädchen durch Schmeicheleien zu fahen. Man sollte kaum glauben, was in einem unbefangenen Weibsbilde Raum hat. Eine Großmuth, die über allen Ausdruck ist. Ich getraue mir zu behaupten, daß man ein Mädchen durch Beleidigungen eben so weit bringen kann, als durch Liebkosungen. Wenn nicht Curländer geradeüber gewohnt und ihr Herz durch buhlerische Blicke verdorben haben, was kann sie nicht? Wißt ihr, Freunde, wer die größten Menschenfeinde [186] sind? Die, denen die Menschen am meisten Gutes gethan. Diese Beglückten empfinden ihren Unwerth, sie wissen am besten, durch was für Wege sie sich dieß und jenes erschleichen, und eben dieß macht sie zu Menschenfeinden. – Unglück, Freunde, das man duldet, leitet uns oft zur genauesten Menschenliebe. – Daher Freud und Leid, Sarg und Hochzeitbette so nahe verwandt! Nichts ist natürlicher, als daß Gretchen Ja sagte. Sie hätt' es gesagt, wenn gleich Nathanael nicht so geweint, als er gethan, wenn er gleich den Abschied nicht genommen. Gut ist gut, allein besser ist besser. Einer, der Buße thut, ist besser, als neunzig, die der Buße nicht bedürfen. – Ehe es sich noch schickte, die Bedenkzeit zu schließen, wiewohl alles schon bedacht war, erschienen Se. Hochgeboren, der hohe Eingepfarrte, mit einer Anwerbung – auch für Nathanael. Das Nathanaelsche Gütchen stieß an eines des Grafen. Wer viel im Himmel haben will, muß sorgen, daß die Welt fruchtbar sey und sich mehre. Man gab, um alles fein und schön zu machen, dem Grafen die Einwilligung mit, und siehe da! Nathanael und Gretchen ein Paar! – Eins hätte Gretchen sich gern ausbedungen, wenn es sich geschickt hätte. Sie wünschte, daß Nathanael, der sonst eben nicht unleidlich war, seine Haare wachsen oder sie wenigstens mit seiner Perücke so verheirathen möchte, daß man nicht wüßte ob's Natur oder Kunst, eigen Haar oder Perücke wäre. Die Natur trägt ihr eigen Haar. Solche Wünsche heben in der Ehe sich von selbst. Das Weinen ließ dem Nathanael, wie Hanna versicherte, nicht übel. Die erweinte Röthe, welche sich von einer andern ungefähr wie das Taufwassergrün vom andern unterscheidet, gefiel Greten selbst. Ueber das Weinen ließ sich Hanna aus: »Es kleidet wenigen Leuten, Lachen steht fast allen gut; darum lassen sich die Menschen fast alle im Lächeln malen.« – Wer war glücklicher, als Nathanael? Daß du es noch immer seyst, gutes Paar, ich wünsch' es von Herzen! Gretchen bestand darauf, daß die Verlobung [187] auf Minens Grabe geschehe. Man bat mich schriftlich um diese Erlaubniß, und ich bewilligte sie mit einem Seufzer, der aber bloß Minen zugehörte. Gretchen schrieb: »damit auch ein Engel des Herrn dieser Verlobung beiwohne!« Der Graf fand dieses so originell, daß er sehr bedauerte, nicht auch auf diesen Fuß sich verlobt zu haben. Der Prediger schenkte seinem Schwiegersohne zwei Autorexemplare von der Abhandlung, die auf extrafein Papier gedruckt waren, und fragt' ihn, was für Bände in seiner Bibliothek hervorstächen?»Lieblingswerke broschirt ohne Glas und Rahmen, am wenigsten goldnen;« indessen schien der Prediger zu wünschen, daß er mit diesem Werklein eine Ausnahme von der Regel machen und ihm eine schwarzcorduane Uniform anziehen mögen. – Nathanael hätte das Werk auswendig gelernt, so lieb hatt' er Gretchen. Ein schwarzcorduanes Kleid war das wenigste, was er daran wenden konnte.

Nachdem alles von Seiten der Verlobten Ja und von Seiten des Predigers und seiner Hanna Amen war, und man sich, wie doch im Brautstande gewöhnlich, das Herz ausschüttete, erschien auch ein Theil von der geheimen Abschiedsgeschichte des Justizraths. Er entschloß sich freilich auf frischer That, nicht mehr zu richten, damit er nicht auch gerichtet würde; allein bei alle dem würde wenigstens der Abschied nicht so schnell gesucht und erfolgt seyn, wenn nicht noch ein Umstand dazu gekommen wäre.

Der Justizrath fand wegen verschiedener unrichtigen Beschwerden, die man wider das Collegium höheren Orts, das heißt in Königsberg, angebracht, bei seiner Rückkunft einen Revisor, bald hätt' ich Sequester gesagt, das ist, ein Männchen aus einem Collegio, das den königlichen Titel hat, wenn es beisammen ist, ein Männchen, das den Tag seine drei Reichsthaler aus dem Seckel der Justiz, aus der Sportelkasse, sich zueignet und jedes einladet, seine Beschwerden über die Ortsobrigkeit anzubringen. Besonders, [188] daß der König von Preußen den Militärpersonen, wenn gleich sie excellent sind (das ist hier zu Lande der Feldherr vom Generallieutenant an), sein Bild nicht anhängt und ihnen den königlichen Titel verleiht, dagegen im Civildienst oft an einem Ort vier Stück Könige regieren, oder Collegia, die den Namen ihres Königs unnützlich führen. Ein König über den andern. – Ein Revisor ist ein einzelnes Mitglied aus einem dergleichen mit dem königlichen Namen begabten Collegio. Ein Postillon ohne Horn. Solch ein Postillon ist indessen im Collegio zu sehr gewohnt, alle Augenblick ins Horn zu stoßen und durch: Wir Friedrich von Gottes Gnaden etc. sich Platz zu machen, als daß er nicht auch ohne diesen Ordensfaden sich einbilden sollte, er sey etwas. Muthwillige Knaben machen mit der Hand das Posthorn so nach, daß man glauben sollte, die Post käme. Jeder Mann denkt sich unter einem Richter einen Aeltesten im Volke, und es ist nicht zu läugnen, daß es auf zehn Jahre, in oder außer dem Wege, sehr viel beim Richter ankommt. Von dem Geburtsbrief, vom Taufschein unseres Revisors, war der blanke Streusand noch nicht abgerieben. Er konnte ungefähr dreiundzwanzig Jahre haben und war also sehr zeitig zur Landesregierung gekommen. Dieser Jüngling hatte die juristischen Collegia durchlaufen, wie ungefähr ein Hofmann ein Puderstübchen, damit nur ein feiner Septemberreif kleben bleibe. – So viel war dem Revisor auch kleben geblieben. Stolz, feurig indessen in Gedanken, Geberden, Worten und Werken! Er rühmte sich, einen glücklichen Aktenblick zu haben. Das hieß: Er las die Akten nicht ganz, sondern schweifte nur umher, hüpfte sie nur durch, und doch, sagt' er, find' ich die rechten Stellen, die verba probantia, den physiognomischen Fleck. – Gott erbarm' sich dessen, der sein Wohl und Weh so aufs Spiel setzen muß! Ein Schurk' anderer Art war er obenein, nach der Weise des Ehegerichtsraths, der den Ritter und die Curländerin schied, und Kläger, Richter, Henker in einer Person war. [189] Er ließ sich so klar und offenbar bestechen, daß kein Mensch es gröber machen konnte, und eben diese Grobheit war Feinheit. Er borgte nämlich von allen Menschen Geld und gab es nicht wieder, oder besser, man fordert' es nicht. Das nenn' ich einen Bock zum Gärtner setzen! Unser juristisches Genie war dem A und O im Collegio wie auf den Leib gebannt. An keinem kleinern, als ihm, wollte der Knabe zum Ritter werden.

Wo gewesen?

Auf königlicher Commission?

Und die Akten?

Beim Prediger in L –.

Als Mitcommissarius?

Nein.

Warum denn?

Damit er der Regierung Bericht erstatte.

Desto besser!

Nathanael erzählte dem Postillon ohne Horn sehr gerade den Vorfall und zeigte ihm das Promemoria, das er allein zurückbehalten. Der Revisor bestand darauf, daß er wieder zurück nach L – sollte. Er selbst wollte mit, um diese Sache zu ergründen. Mine kam ihm als die feinste Betrügerin vor. Sterbend hin, sterbend her, sagte der Revisor. An diesem Herodes, an diesem Zaunkönig, hatte es auch noch gefehlt! – Einige dringende Beschwerden derer, die von den Straßen und Zäunen geladen waren, hielten diese Reise auf, und eben da er hin wollte, kam die Nachricht und der Bericht zur Unterschrift, daß Mine im Herrn entschlafen sey. – Der Revisor behauptete, Mine hätte Gift genommen, da er die unzulänglichen Aktenstücke las. Solch einen trefflichen Ueberblick hatte er! – Zwar ließ er auf die Vorstellung des Nathanaels die Obduction, die er anfänglich durchaus veranstalten wollte, nach; indessen konnte Nathanael es nicht hindern, [190] daß der Revisor auf zehn Bogen Papier diesen Vorfall auseinander setzte, um denen, die ihn gesandt hatten, zu zeigen, was geschehen wäre, und was nicht geschehen wäre, und was geschehen können, und was geschehen sollen.

Da kam eine Wittwe, die sich beschwerte, man hätte zu viel Stempelgebühren von ihr genommen. – Akten! schrie der Revisor, und setzte auseinander, was bei dieser Sache versehen wäre. Nun fand er zwar, daß nach der Verordnung mehr Stempelgebühren genommen werden sollen, die auch das arme Weib nachbezahlen mußte; allein nebenher setzte er die Fehler ins Licht, welche bei dieser Sache vorgefallen. Akten waren nicht gehörig geheftet, nicht gebührend foliirt, das Rubrum war falsch und hätte auch größer geschrieben werden müssen. Lateinische Worte, die man schon besser als die deutschen verstand, verdeutschte er, und das mit einer Randweisung: in Zukunft, des gemeinen Mannes wegen, sich so viel als möglich der deutschen Sprache zu bedienen. Wo er Termin fand, setzte er Tagfahrt, wo Concurs, Brodel u.s.w. Die tausend Kleinigkeiten, welche der Revisor zu moniren fand, zeigten eben so, wie der blanke Streusand auf dem Geburtsbriefe, ziemlich deutlich, daß er nicht sehr lange aus dem ABC heraus wäre.

Der Wittwe wurden alle diese Erinnerungen und Weisungen, wiewohl ohne Stempelpapier, gegen Bezahlung der Copialien zugefertigt, und anstatt, daß sie herausbekommen sollte, mußte sie V.R.W. noch das zu wenig genommene Stempelpapier und die Copialien für den Revisionsbescheid zuzahlen. Schwerlich wird sie, mehr klagen! Ich wollte, sagte sie, für meine Tochter, die eben heirathet, zu einem silbernen Speiselöffel aus den Akten heraus haben, und muß in die Akten einen silbernen Vorlegelöffel dazu geben.

[191] Das war fürs Promemoria, dacht' unser guter Nathanael. Wen Gott lieb hat, den züchtigt er auf frischer That, wie jeder gute Vater seinen Sohn! Wenn ich meine Rüben pflanze, wie angenehm wird es mir seyn, gebüßt zu haben! – – und beim vermißten Früh-oder Spätregen nicht denken zu dürfen: fürs Promemoria! Wahrlich, Nathanael war hiebei auf keinem unrichtigen Wege. Mein Vater pflegte zu sagen: es muß jedem klugen Menschen (und auch der kann ein Sünder seyn) eben so angenehm seyn zu büßen, als zu sündigen. – Die bittersten Erniedrigungen, in Gegenwart der andern Mitglieder des Collegii und der Subalternen, kränkten den Nathanael, das A und O, am meisten. Selten ist ein Unglück allein. Der Director des Justizcollegii starb, aus Furcht unfehlbar. Furcht ist eine Krankheit, welche den größten Theil der Menschen, nach der Liebe, dahinrafft. Es ist die Seelengicht. Unser Revisor hatte einen adlichen Referendarius, Auscultator, was weiß ich, wie solch ein Zögling recht heißt, mit. Man kann sich vorstellen, wie alt die ser gewesen, da er an der Brust des Revisor lag. Nach dem Vorschlage, den der Revisor denen, die ihn gesandt hatten, that, und der durchaus genehmigt ward, sollte dieser Säugling von unserm Revisor als Interimsdirector eingeführt werden. Nathanael hatte wider diesen Director den Spruch »aus dem Munde der jungen Kinder« und die Stelle Jesaia drei, der zwölfte Vers: »Kinder sind Treiber meines Volks, und Weiber herrschen über sie,« gemißbraucht. Die Folge war grüne Galle bei der Introductionsrede und außer ihr noch ein Anhang mehr, als Galle. Der Interimsjustizdirector machte den Revisor mit den Benachbarten vom Adel bekannt. – Das war ein Leckerbissen für seinen Stolz, ein Kitzel für seinen Gaumen; der Revisor war nicht von Adel. Jedem seiner adlichen Wirthe sagte der Revisor die Spöttereien über das Justizcollegium vor, die er in seiner[192] Einführungsrede angebracht, und zum Schluß, der adliche Wirth mochte lateinisch verstehen oder nicht,


cognovit bos et asinus,
quod puer erat dominus.

Der Justizrath hat ihn aus der Bibel beleidigt; der Revisor schlug ihn aus dem Gesangbuche. Diese Strophe ist aus dem Liede: Ein Kind geboren zu Bethlehem: Puer natus in Bethlehem, und heißt nicht, wie wir singen, das Oechslein und das Eselein, sondern der Ochs und Esel erkannten, daß der Knabe Herr war. Ob nun gleich Nathanael nicht wußte, wie er und sein College (aus zwei Räthen bestand das Justizcollegium) sich diese beide Prädicate vertheilen sollten, so waren doch beide Ehrentitel nicht viel auseinander. Beide Leute hörten ganz laut diesen Zusatz erzählen, obschon der Revisor ihn nur jederzeit ins Ohr gesagt hatte. Wieder ein Genieblick von unserm Revisor. Der Adel nimmt Recht beim Justizcollegio.

Der Mensch besteht aus Leib und Seel, äußerlichem und innerlichem Sinn, und bedarf also immer etwas von innen, und etwas von außen, wenn er zum Ziel kommen soll; ohne einen Schlag ans Herz, etwasad hominem, bleibt die speculativische Demonstration ein Luftschloß. Fast sollte man glauben, daß die Sinnen, die anfangen, auch vollenden, Allerseits und Amen sagen! Selbst zu Entschlüssen, wenn nichts ans Herz kommt, wie schwer die Geburt! Wen Gott lieb hat, dem gibt er, außer dem schweren Buche, noch ein Handbuch, außer der Bibel einen Katechismus, außer den höhern geistigen Gründen, einen mit Fleisch und Bein – außer tiefer Wissenschaft – Dichtkunst.

So mit unserm Justizrath. Minens Geschichte erregte den Entschluß: Du kannst hinfort nicht mehr Haushalter seyn! Der Revisor macht ihn lebendig!

Bei diesen Umständen verdachte der Prediger in L – selbst [193] nicht dem Nathanael, daß er sein Amt niedergelegt, und eine Zeit der Ruhe, der Heiligung angefangen. Lieber Nathanael, wenden Sie Ihre Zeit gut an, und Gott segne Ihre Studia! Der königliche Rath, dem ich gelegentlich diesen Vorfall erzählte, war so wenig über diesen Vorgang außer sich, daß er vielmehr, obgleich er selbst ein Stücklein König war, nichts mehr that, als die Achseln ziehen. – Der Entschluß des Nathanaels war so nach seinem Sinn, daß auch er sich, wie man deutlich sah, nach dieser Erlösung sehnte.

Gretchens Hochzeit ward meinethalber zeitiger veranstaltet, als es wohl sonst nach der Sitt' im Lande hätte geschehen können, wofür mir, glaub' ich, Braut und Bräutigam, wiewohl mit dem Unterschiede verbunden waren, daß der Bräutigam allein sich dieß Verbunden seyn merken ließ. – Ich kam ein paar Tage vor dem Hochzeitstage. Gretchen, sobald sie mich sah, küßte mich so aus Herzensgrund, und ich sie wieder, daß Nathanael auffuhr. – Sie ließ ihn, und kam zu mir. Dem Nathanael war hierbei eben so übel, als bei der Revision, zu Muthe, und was das ärgste war, so durfte er sich dieß nicht einmal merken lassen. – Jeder, das sah er ein, würd' ihn wegen seiner Eifersucht ausgelacht haben. An einen Abschied war hier ohnedem nicht zu denken. Er liebte Gretchen unendlich. Anfänglich affectirt er dabei so eine Heiterkeit, daß man gar nicht wußte, wie ihm geworden. Bald darauf ward er unruhig. Er schien nicht aus noch ein zu wissen. Wenn ich mit ihm allein war, fragt' er mich ohn' Ende und Ziel: wenn ich denn gedächte Preußen zu verlassen? Und, ohne mich zu nöthigen, auch nur einen Tag länger zu bleiben, war wieder einWenn da. Sobald mir über diese Eifersucht, die sich jetzt in eine ungewöhnliche Höflichkeit gegen Gretchen auflösete, nur das erste Licht aufging, dacht' ich auf Mittel, den armen Nathanael zu heilen. – Ist's nicht eigen, daß man den Eifersüchtigen allein durch Affectation [194] beruhigen kann? Ich fing an, gegen Gretchen mich zu zwingen, und da sie sich darüber beschwerte, sucht' ich für den Justizrath auf eine so gute Art alles zum Besten zu kehren, daß er von Stund an anders zu werden anfing. Ganz kam er nicht ins Geleise; obgleich er nicht mehr wenn fragte.

Der Graf konnte so wenig, wie sein an Brudersstatt angenommener Bedienter, auf die Hochzeit kommen. Etwas Sterbendes hielt ihn ab. Gern hätt' ich ihn zu Cana in Galiläa gesehen. – Und der königliche Rath? Auch er nicht. Er hatte einen Revisionsauftrag erhalten. So viel weiß ich, daß er keiner Wittwe, außer dem eingebildeten Gewinnst eines silbernen Eßlöffels, einen Vorlegelöffel von der Seele revidirt haben wird.

Gretchen hatte von jeher auf ein stilles, kleines Hochzeitmahl bestanden. Ihre Mutter war zu diesen Wünschen eine Mitursache. Wir sind in Trauer, sagte sie zum Justizrath, und sah mich an. Einige der Eingepfarrten indessen mußten geladen werden, und hiezu war der 14te – angeordnet. Den 13ten – des Morgens gingen wir alle zusammen ins nahe Wäldchen, und kamen so heiter zurück, daß wir, Gretchen, Nathanael und ich, auf den Gedanken fielen, heute stehenden Fußes den geschürzten Knoten zuzuziehen. Der Prediger hatte Bedenklichkeiten; unfehlbar war er mit der Hochzeitrede noch nicht fertig. Er gab indessen nach, da er unsere vereinigten Wünsche merkte. Gretchen und ich gingen zur Mutter; was konnte die uns beiden abschlagen? Während der Zeit, daß der Prediger sich in seine Reverende setzte, und an seine Traurede dachte, ward nach dem Organisten und ein paar Dorfältesten gesandt, wozu noch ein Verwandter des Justizraths, der schon den 12ten – angelangt war, stieß. Es war ein königlicher Amtmann (Pächter eines Domänenguts). Gretchen fragte den Nathanael: ob sie ihren Brautschmuck anlegen sollte? – Den können Sie nie ablegen, erwiederte der galante Bräutigam. Wir baten alle, [195] Gretchen möchte bleiben, wie sie wäre, und diese Bitte machte uns wenig Mühe, weil sie selbst dazu geneigt war. Sie blieb, und die Natur selbst hätte sie nicht besser putzen können, als sie's war. Sehet die Lilien auf dem Felde! Und Salomo war nicht gekleidet, wie derselben eine! – Wahrlich, Gretchen war eine schöne Feldblume! – Wie schön sie da stand! Nathanael konnt' es ohne Puder nicht lassen, sonst konnt' er seiner Galanterie keine Elle mehr zusetzen; er war wie aus einem Putzkästchen gezogen. – Der Amtmann war nicht im Stande, sich aus seinem Erstaunen heraus zu finden. Er hatte sein Kleid mit den goldbesponnenen Knöpfen noch nicht herausgepackt, und nun war es zu spät. Der Organist bat um Verzeihung, daß er kein hochzeitliches Kleid anhatte, und während aller dieser Dinge kamen die Begleiter zu Hauf. Gretchen bat mich um Blumen, die ich ihr zitternd brachte; ich hätt' ihr gewiß keine gepflückt, wenn sie's nicht selbst verlangt hätte. Sie nahm diese Blumen mit einem Blick entgegen, der mir durchs Herz ging, und steckte sie sich, warm von meiner Hand, an den Busen. Nathanael war zu andächtig, um darüber eifersüchtig zu werden, und der Blumen halber zur Frage: wenn? Gelegenheit zu nehmen. – Nathanael ging mit seiner Braut, ich mit der Predigerin, der Prediger mit dem Amtmann ohne die goldbesponnenen Knöpfe; dann Gretchens beide Brüder, ein paar Primaner, die beiden Dorfältesten machten das letzte Paar. Der Organist war voraus gelaufen, um uns mit einigen seiner Schüler zu bewillkommnen. An Minens Grabe standen wir einige Minuten still, als wenn wir uns ausruheten. In der Kirche trafen wir eine ungebetene Versammlung, der man es ansah, daß sie mit dieser Eilfertigkeit nicht völlig zufrieden war. Vielen sah man an, daß sie auf die erste Nachricht sich zu putzen angefangen, und in diesem gutgemeinten Bestreben, zu Gretchens Ehrentage etwas beizutragen, gestöret worden. Es war nicht halb, nicht ganz. Die [196] Töchter der Dorfältesten stachen durch grünes Band hervor; indessen waren auch selbst sie nicht fertig. Der goldbesponnene Knopf fehlte ihnen so gut, wie dem Amtmann. Die Töchter der Dorfgeschwornen hielten einen Kranz, den sie Gretchen, eben da sie in die Kirche trat, aufsetzten. Der Organist, der entweder auf ein Präludium nicht denken können, oder der dem Gesang durchs Präludium nicht zu nahe treten wollte, fing bei unserm Eintritt singend und spielend an:


Was Gott thut, das ist wohlgethan.

Es bleibt gerecht sein Wille.


Eben so begann Minens Begräbniß – und diese Erinnerung, wie bewegte sie mich!

Der Prediger war gerades Weges auf den Altar gegangen. – Wir andern standen rund herum. – Nach den Worten:

Darum lass' ich ihn nur walten, als den letzten des Gesanges, fing er so zu reden an, als ob er sich mit uns unterhalten wollte:

»Hätten Sie sich's wohl vorgestellt, lieber Freund!« so ungefähr war sein Anfang, »daß Sie, was Gott thut, das ist wohlgethan, in unserm lieben L – bei einer Hochzeit singen würden?« Eben wollte ich antworten: nimmermehr, lieber Pastor, da er feierlicher fortfuhr: »Und doch lag dieses: Was Gott thut, das ist wohl gethan, in jenem: Was Gott thut, das ist wohl gethan.«

Der gute Mann hatte sich, das merkte man, vorgesetzt, über Minchens Leichentext: siehe ich komme bald, halt was du hast, daß niemand deine Krone nehme, auch seine Hochzeitsrede zu halten, allein es fehlte ihm just so viel Zeit, um seiner Rede die goldbesponnenen Knöpfe anzusetzen. Sonst war sie fertig, in sechs Stunden wäre alles angeheftet gewesen, und wir hätten gesehen, wie dieser Text eben so gut für Minens Tod, als für [197] Gretchens Hochzeit, in der Offenbarung Johannis des dritten Capitels eilften Vers stünde.

So gut es indessen dem Amtmann und den beiden Töchtern der Dorfältesten ließ, eben so gut stand es auch dem guten Pastor. Was ihm an gerundeten Perioden abging, ersetzte er durchs Herz, und ich hätte um vieles nicht diese Hochzeitrede mit der grundgelehrten Abhandlung von der Sünde wider den heiligen Geist vertauscht, obgleich diese Abhandlung beseilt und beschliffen war und in zwei gleichlautenden und gleichgebundenen Exemplaren in der Bibliothek des Bräutigams stand. Zehnmal schien es mir so, daß es der Prediger dazu anlegte, mit diesem oder jenem unter uns ein Wort zu wechseln. Es lief indessen allemal so ab, wie mit mir beim Anfange. Zuletzt hatte er sich zu tief in seinen Spruch, ich komme bald, verwickelt, oder war es väterliche Rührung? Kurz, ohne Uebergang nahm er seine Agende und las:


»Lieben Freunde in dem Herrn!


Gegenwärtige beide Personen wollen sich in den Stand der Ehe begeben« – und so weiter.

Dieß Formular, alt und wohlgemeint, war mir darum so rührend, weil ich mich all' Augenblicke befragte: wenn du da so mit Minen stündest?

Der Prediger erzählte uns nach der Trauung, daß bei Hauscopulationen, die in Preußen sehr häufig wären, gemeinhin das Formular verbeten würde, und zwar wegen des Fluchs und Segens des heiligen Ehestandes, der in diesem Formular so ehrlich als nur immer möglich vorgetragen wird.

Ist's Wunder, daß Gott denen den Ehesegen entzieht, deren zu feine Ohren die Ehestandsbeschwerden nicht einmal in der Kirchenagende ertragen können? Leute, denen die Bibel zu herb ist, Gottes Wort was für einen schwachen Kopf und Herz müssen die haben!

[198] »Und Gott der Herr sprach: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sey.«

Das ist ein Wort in allem Verstand anwendbar. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sey. – Selbst im Sterben, würde der Graf wiederholen, ist's nicht gut, daß er allein sey. Selbst auf dem Kirchhofe, würde der Todtengräber hinzufügen.

Der Prediger machte in seiner Rede die Anmerkung, daß die Copulation vor dem betrübten Sündenfall ganz anders gewesen wäre, und manche, setzte er hinzu, die vielleicht den betrübten Sündenfall am deutlichsten an sich tragen, wollen durchaus eine paradiesische Copulation und kein Wort aus dem dritten Capitel des ersten Buchs Mose, sondern alles hübsch und fein, alles aus dem zweiten Capitel. Wie kann das aber? – Freilich erschrak das aus dem Paradiese getriebene Paar über das dritte Capitel so sehr, daß, da Gott ihnen Kleider von Fellen machte, sie solche in der Verwirrung nicht einmal anzuziehen verstanden: er zog sie ihnen an, heißt es. Die meisten unserer angehenden Eheleute hätten weniger Ursache, diesem Capitel durch eine Hauscopulation und Weglassung der Agende auszuweichen, da sie vom Stande der Unschuld keinen Begriff haben.

Meine Leser sind in der Kirche zu L – schon so bekannt, wie ich selbst, und wissen, daß die Kirche nie anders als nach einem Lobgesang geschlossen wird. Wie beim Begräbniß ward nach der Copulation gesungen: »Nun danket alle Gott!«

Nach diesem Gesang betete alles vor dem Altare. Die Braut hatte, wie es sonst wohl etwas ungewöhnliches ist, keine einzige Thräne geweint. – Nach dem Gebet traten die beiden Töchter der Dorfältesten hinzu, und wünschten Gretchen alles aus dem zweiten Capitel. – Die edle Einfalt dieser Wünschenden war rührend, so wie es alles Edeleinfältige ist. Gretchen und die Mädchen waren Jahreskinder, Milchschwestern, zusammen in die Kinderlehre gegangen [199] und zusammen confirmirt, oder, wie es in Preußen heißt:eingesegnet. Gretchen wünschte, daß sie auch bald Gelegenheit haben möge, ihnen beiden so Glück zu wünschen. – Die Mädchen hatten Thränen in den Augen, und man sah es ihnen an, daß es Thränen der Liebe waren. Gretchen küßte sie beide, und nun gingen sie zum größern Haufen zurück, der in der Entferung geblieben war.

Es ging alles wieder paarweise so, wie es gekommen war. An Minens Grabe streute Gretchen die von mir erhaltenen Blumen hin. – Sie warf sich nieder (schwerlich hätte sie dieß thun können, wenn sie in hochzeitlichem Schmuck gewesen wäre) und weinte, als ob sie bis hieher ihre Thränen aufgespart hätte. Der schwerfällige Justizrath setzte sich – ich kniete. – Der Prediger und seine Frau hatten sich umfaßt. – Die beiden Dorfältesten standen von ferne. Wir weinten alle. Das neue Paar weinte mit, aus dem dritten Capitel. Es war rührend! Ihr sah man die Worte an: »Ich will dir viel Schmerzen machen, wenn du schwanger wirst, du sollst mit Schmerzen Kinder gebären, und dein Wille soll deinem Manne unterworfen seyn, und er soll dein Herr seyn.« Ihm, die folgenden Verse: »Dieweil du hast gehorchet der Stimme deines Weibes und gessen von dem Baum, davon ich dir gebot und sprach: du sollst nicht davon essen; verflucht sey der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Lebenlang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brod essen, bis daß du wieder zur Erde werdest, davon du genommen bist: denn du bist Erde und sollst zur Erde werden.«

Mir war nur Minchen in Herz und Sinn.

Die ungebetene Versammlung hatte noch das Postludium des Organisten gehört, der sich, weil wir nicht mehr darin waren, mit Manual und Pedal hören lassen. – Jetzt kam der ganze Haufen [200] und blieb stehen. Allen und jeden sah man auf den Gesichtern: Du bist Erde und sollst zur Erde werden.

Genau genommen, lieben Freunde, ist's all' eins, taufen, sterben, heirathen. Mensch, du bist Erde und sollst zur Erde werden! Nach dieser Scene kamen wir in die Widdem. Das neue Paar fiel sich in die Arme! – Man sah, wie es sich liebte. Von Stund an ließ Gretchen nicht mehr ihren Nathanael. Sie nahm mich nicht weiter. Er war der Ihrige. – Pflicht, Freunde! ist sie nicht besser, als Neigung? Sicherer, stärker, wahrlich! Sie überwindet den Tod oft weit leichter als die Liebe; allein auch sie wird von der Pflicht überwunden. Der Justizrath fragte so wenig wenn? daß er mich jetzt zu bitten anfing, doch ja zur Heimführung zu bleiben. Da Gretchen fortfuhr, sich ihm ganz zu weihen, gab er in seiner Bitte immer mehr zu. – Zuletzt bat er mich im ganzen Ernst, gar nicht aus Preußen zu gehen. – Haben Sie nicht hier Minens Grab? setzte er hinzu, und konnte keinen größern Bewegungsgrund anführen. – Doch warum vorgreifend? Wir setzten uns zu einem Mahl, so natürlich eingerichtet, wie Gretchen gekleidet war. – Wir alle, könnt' ich fast sagen, waren so gekleidet, bis auf den Justizrath, der wie ein sauber geschriebenes Urtel in beweisender Form aussah. – Der Prediger bringt mich auf diesen Ausdruck. Er hatte den Einfall, daß wir alle, wie ein Concept, ein Entwurf aussähen. – Wie die Probe, sagt' ich, indem mir das Lautenconcert einfiel. – Der Organist, obleich er kein hochzeitlich Kleid anhatte, blieb zum Mahl; nur die Dorfgeschwornen nicht, obgleich man sie sehr darum ersuchte. Ich erzählte dem Prediger und dem Justizrath, was ich bei dem Glückwunsch der beiden Kranzträgerinnen bemerkt hatte, und bat sie beiderseits, sich der Herzen dieser guten Mädchen anzunehmen. Dieß geschah unverzüglich. – Da kam es denn bald zum Vorschein, daß der eine Vater seine Tochter einem kleinen dicken Pachter, und nicht dem raschen Martin, [201] der die Tochter liebte, bestimmt hatte; der andere wollte sie seiner Schwester Sohn, einem weit schönern reichern Burschen, als Caspar war, zuwenden; das Mädchen aber wollte Casparn oder keinen. Dergleichen Wahleigensinn, sollte man ihn wohl unter Leuten dieser Art vermuthen? Kunst ist er. Von Anbeginn ist es nicht so gewesen. Adam konnte nicht wählen, und doch hatt' er ein allerliebstes Weib. – Caspar war indessen ein guter Junge, der dem Mädchen mehr zur Hand ging, als der Schwestersohn, der seiner Sache sich gewiß glaubte. Nathanael und der Prediger brachten es in kurzer Zeit zum Vergleich. Martin und Caspar waren an dem Tage, da Gretchen Hochzeit hielt, die glücklichen Bräutigame. Wir werden schon nacheilen, sagten die vergnügten Bursche, und Gretchen ward roth, was weiß ich warum? Nathanael sah in den Spiegel. Ich glaube nicht, daß es eben so angenehm sey, in Gesellschaft zu heirathen als zu sterben, obgleich ich nicht vom Grafen zu diesem Glauben aufgefordert bin. Ein verliebtes Paar ist Adam und Eva in der ganzen weiten Welt; sie dünken sich die einzigsten Menschen in der Welt zu seyn und sich selbst genug.

Eine Gesellschaft wie diese indessen, muß auch bei den Verliebtesten ein Beitrag des Vergnügens seyn. Das Dorf kam unserer Hochzeitfreude eben dadurch näher. Es war alles Paar und Paar. Die Dorfältesten hatten sich schon längst vor der Hochzeit festgesetzt, dem Nathanael-Gret'schen Myrtenfeste zu Ehren eine Beifreude zu bezeigen. Ein Reihentanz konnt' es nicht seyn; denn sie war aus dem Stamme Levi und des Seelenhirten eheleibliche einzige Jungfer Tochter. Nach vielem Hin- und Herdenken waren sie endlich auf einen ländlichen Gesang gefallen, den zwölf der schönsten Mädchen in weißen Kleidern kurz vor Schlafengehen absingen sollten. Ein junger Bursche hatte diesen Gesang entworfen, der Herr Organist aber, wie es hieß, hatt' ihn stylisirt oder die Natur verkünstelt. Die beiden Kranzträgerinnen hatten große Rollen bei [202] dieser singenden Mitfreude, wobei sich alle zwölf die Hände geben und eine Freudenkette machen wollten. – Hätten die Mitfreudigen und selbst der Censor von den neun Musen gewußt, es wären nicht nach Zahl der Monate zwölf gewesen! Unfehlbar aus denen mehr als zwanzig jungen Mädchen, die in die Stelle der Leichenbegleiter traten, nachdem Minens Sarg vor den Altar gesetzt war.

So ward es beschlossen; jetzt aber kam alles in Unordnung. Die beiden Kranzträgerinnen, welche die großen Rollen hatten, waren aus Text und Melodie gekommen. Niemand wußte, ob das Ständchen heut oder morgen gebracht werden sollte, und doch wollte jedermann es so gut als möglich machen. Kurz, das Dorf war in Unordnung. Diese Unordnung selbst indessen bot Hand zur Freude. Die Freude ist die unordentlichste von allen Leidenschaften. Unser Pfarrhaus war während der Zeit das glücklichste Haus in der Welt. Gretchen so ganz und gar des Nathanael, daß sie auch nicht einmal einen Blick für mich übrig hatte. Neigung ist so pünktlich nicht. Pflicht aber ist das pünktlichste, was ich weiß. Der gute Pastor ließ sich an diesem Tage die Verlagsgeschichte seiner Sünde wider den heiligen Geist erzählen, und war so froh, daß er sein Seelenkind so gut, wie Gretchen, angebracht! Ein wahrer Nathanael von Verleger, sagte der Prediger, und feierte ein doppeltes Hochzeitfest. Gretchen und ihre Mutter nahmen wie gewöhnlich keinen Theil an diesem Seelenkinde. Nathanael indessen mußte wegen der in schwarz Corduan eingebundenen Exemplare sein Ohr zu dieser Unterredung neigen. Da er Gretchen hatte, war ihm schon vieles von diesem Ehrenwerk entfallen, das er, als angehender Bräutigam, fast wörtlich wußte. Gretchens Mutter war selbst so heiter, als wäre sie gar nicht lindenkrank, als wäre der Lindenbaum, der so alt wie sie war, und der in ihren letzten Wochen ausging, wieder zu Kräften gekommen; der Organist, so erkenntlich gegen mich, wegen des Schaustücks, daß er nicht aus [203] dem Bücken herauskam, und so ehrerbietig gegen den hochedelgebornen Herrn Justizrath, daß ich immer besorgte, er würde wieder etwas aus dem Hute lesen, obschon er nur auf Begräbnißreden fundirt war; der Amtmann so ins Vergnügen verstrickt, daß er den goldbesponnenen Knopf vergessen hatte. Wahrlich, man kann auch ohne goldbesponnenen Knopf vergnügt seyn! Und Gretchens beide Brüder, welche der königliche Rath als die Seinigen in Königsberg erzog, die in eine der besten Schulen gingen, wo sie gerades Wegs auf einen Superintendenten losstudirten – die guten Primaner, hatten ein Gedicht zusammen getragen, das sie beim Braten übergaben. Freilich hätten sie bis zum Kuchen warten können, indessen war es ihre erste Autorschaft, die selten den Kuchen abwartet. Der Vater kritisirte die armen Jungens sehr scharf, und nannte ihr Mascopiewerklein ein ährengelesenes Stück! – Guter Pastor, hast du denn schon aller kritischen Tage Abend erlebt? – Die beiden Knaben thaten in alle Wege so altklug, daß man ihnen ihre Aaronsbestimmung ohne Fingerzeig ansah. – Es gebrach bei diesem Feste nicht an Wein. – Se. Hochgeboren hatten dem guten Prediger ein gutes Fäßchen Rheinwein verehrt, welches wir nicht feierlicher begrüßen konnten. Wein hätte heute getrunken werden müssen. Der Communion wegen wird an allen christlichen Orten Wein gehalten. Da aber die Andacht keinen Geschmack am Körperlichen hat, so ist der Communionwein gemeinhin schlecht, sagte der Prediger. Ich, fuhr er fort, habe noch nie bei dieser heiligen Handlung den Wein geschmeckt. Viele der Herren von Adel schicken den Tag zuvor ein Fläschchen aus ihrem Keller; unser Graf nicht also, obgleich sein Rheinwein sich nicht gewaschen hat. Wir saßen länger als gewöhnlich bei Tisch. Heut, sagte der Prediger, fröhlich mit den Fröhlichen! Wir waren traurig mit den Traurigen; wir sind es noch, sagte Gretchen, und dachte so rührend an Minen, ohne sie zu nennen, daß alles an sie dachte. [204] Der Prediger belebte diesen Gedanken durch ein paar rührende Worte. Wer seiner Todten nicht denkt, wenn er vergnügt ist, bedenkt nicht, daß auch sie lebten und daß auch er sterben wird. Das war das Gerippe, das er auf gut ägyptisch aufstellte! Wahrlich, es war nicht fürchterlich. Sie hat ihren Myrthentag nicht erlebt, sagte Gretchen, und ließ eine Thräne fallen. Nathanael küßte sie herzlich. Wer es weiß, wie schön es sey, ein Mädchen in solchen Thränen zu küssen, denke sich die Wonne dieses Paares. Ohne Thränen gibt es keine Trunkenheit der Liebe. Diese Ehe, sagte die Predigerin, hat der Tod gerathen; was er räth, ist wohl gerathen. – Die Dorfältesten schlossen diese wahre hochzeitliche Scene, sie kamen und fragten im Namen der jungen Dorfleute an, ob es wohl erlaubt wäre, die vier Dorfflinten dem Tage zu Ehren abzufeuern, wie es wohl sonst bei dergleichen Gelegenheiten geschehen wäre? – Das wäre so recht für Junker Gottharden gewesen! Wir alle aber verbaten dieß Feuerwerk. Die Anfrager mußten ein Glas Wein dem Brautpaar zu Ehren leeren. Das ist besser als ein Flintenschuß, sagte der Amtmann ohne goldbesponnene Knöpfe; und dann noch eins, und dann das dritte. Aller guten Dinge sind drei, sagte der Prediger, und ich stimmt' ihm, meiner heiligen Zahl wegen, herzlich bei. Im Paradiese, was braucht' Adam mehr als Eva, um froh zu seyn? sagte Nathanael. Nach dem Falle haben wir auch Rheinwein nöthig, um uns ins Paradies zu bringen Man muß sich hinein trinken. Er fing sich aus lichterloher Galanterie zu wundern an, daß Adam nicht beim Blick seines Weibes aus Entzücken, aus Uebermaß des Sehens, blind geworden! Der Prediger half ihm zurecht. Es war im Paradiese, sagt' er, wo Adams Auge so gut, wie seine andern Gliedmaßen, unsterblich waren. – Der Organist, damit ich sein nicht vergesse, hatte den gesunden Gedanken, da sich das Brautpaar küßte: Lassen Sie uns ihm mit den Gläsern nachküssen! Wir [205] stießen an, und zur Ehre dieses Einfalls zweimal. – Der heiligen Zahl war er nicht werth. Wir standen auf. Der Prediger schlug einen Spaziergang in das nämliche Wäldchen vor, das uns zu diesem Tage anräthig gewesen, und beschlossen wir also, wie angefangen war. Wahrlich, ein schöner Tag! – Wir kamen in der Dämmerung heim, und eben wollten wir ins Pastorat, da uns der Musenchor überfiel. Der Organist hatte sich der Noth angenommen und die Zahl zwölf noch mit zwölf andern vermehrt. Ein wahrer Minnegesang! – Gretchen ging nach vollendetem Ständchen unter diesen schönen Haufen, nannte alles Schwester, und dankte so schön, daß jedes Mädchen glaubte, Gretchen hätte nur ihm gedankt.

Der Prediger konnte sich ohne Abendessen nicht behelfen. Nathanael declamirte wider das Abendessen, er ward aber überstimmt: den Alten, sagt' ich, wäre das Abendessen freilich das vorzüglichste, und den Christen, bemerkt' er, sollt' es noch weit mehr seyn. Man setzte sich an ein Milchmahl. Die Sängerinnen hatten uns musikalisch gemacht. Alles sang und sprang, hätt' ich beinahe mütterlich hinzugereimt. Es war aber wahrscheinlich kein Springen, es war eine stille Freude, eine Milchfreude! O Gott, was liegt in der Unschuld, in der lautern Milch der Unschuld! – Unter tausend andern Dingen liegt auch Vernunft darin. Es heißt vernünftige lautere Milch, und nichts ist einpassender als diese Beiworte zur Unschuld. Es liegt in ihr Vernunft, höchste oder tiefste, wie soll ich sie nennen?

Nun ging das neue Paar ins Schlafgemach. – Es verschwand und das ist das natürlichste Ceremoniel, wenn ein neues Paar zu Bette geht. Die Auskleidung der Braut ist ebenso unwürdig als eine laute Hochzeit. Geht in Frieden, lieben Leute! Es geleite euch der, welcher dem Menschen sein Schöpferbild anhing, mit seinem himmlischen Segen! Das ist mein Hochzeitgeschenk. [206] Auch jedes der Hochzeitgäste ging in sein Kämmerlein, nur ich nicht. Ich schlich mich an Minens Grab und hatt' eine Scene über alle Scenen. – Eine himmlische Hochzeit! Wer war glücklicher, ich oder Nathanael? Spät kam ich in mein Kämmerlein und fand, daß der Amtmann, mit dem ich gepaart war, auf mich gewartet. Ich konnte nichts sprechen, nicht einmal ein Wort zum Dank. Auf solch einen Tag, wie schön schläft es sich! – Mein Schlaf war eine Entzückung in den dritten Himmel. Es fiel keine Schäkerei den andern Morgen vor, keine Strohkranzrede. Die Frau Nathanael schlich sich aus der Schlafkammer und ich merkte, sie ward roth auf ihre eigene Hand; sie hätte nicht schleichen dürfen, auch nicht roth werden das gute Gretchen! Nathanael und Gretchen waren jetzt so ganz Eins, ein Leib, eine Seele!

Wie sich das Paar benachbarter Freunde kreuzt' und segnete, das zur Hochzeit gebeten war und, wie der Prediger sagte, post festum (nach dem Fest) kam, kann man sich leicht vorstellen. Hätte der Graf et Compagnie zusagen lassen, dann hätten wir den Tag zuvor diese Freude nicht haben können. Mit dem Paar benachbarter Freunde hatte es nichts zu bedeuten. Dieser Nachtag, dieß Agio von Hochzeitfest hatt' drei Umstände, die ich außerdem, daß dreimal mehr Essen und dreimal weniger Vergnügen herrschte, der Bemerkung werth halte. Die erste Denkwürdigkeit. Der Amtmann brachte sein Kleid mit den goldbesponnenen Knöpfen nicht zum Vorschein. Warum sollt' ich? sagt' er; Möstrich nach der Mahlzeit.

So gern ich also auch meinen Lesern des Kleides Farbe, Form und nähere Nachricht von den Knöpfen und ihrer Zahl mittheilen möchte, kann ich?

Die zweite Denkwürdigkeit. Die post festum gekommenen Freunde hießen die neuen Eheleute nicht anders als Brautpaar, und wenn sie's ausgesprochen hatten, schämten sie sich dieser Uebereilung, [207] die sie doch gleich darauf wieder begingen und dann noch einmal. – So fest hatten sie es sich eingeprägt, es ginge zur Hochzeit.

Vielen wird dieser Mittelumstand nicht denkwürdig scheinen. Mag's doch.

Die dritte. Der Graf kam ohne seinen Bruder nach Mittage. Alles voll Freude! Auch zu Ihnen komm' ich, sagt' er, um Sie noch einmal zu sehen und noch einmal zu sagen – hier oder dort. – Was er sich freute, daß die Hochzeit vor der Hochzeit gewesen! Das kommt aus dem Bitten heraus. Das Feine des Vergnügens geht verloren. Die Natur läßt sich nicht melden, es wäre denn bei Krankheiten. – Wir mußten dem Grafen den gestrigen ganzen Tag referiren, und wahrlich unsere ganze Freude dieses Tages war, daß wir den vorigen Tag froh gewesen.

Mit den lieben, großen Hochzeiten, sagte der Graf. – So was nenn' ich nicht leben, wenigstens will ich das Leben bei dieser Gelegenheit so wenig observiren, als auf dem Schaffot den Tod! – Allzuviel ist ungesund. Zu Warnungsanzeigen findet sich zwar in beiden Fällen Stoff die Menge, nur zu Lebens- und Sterbensobservationen nicht.

Der Graf konnte nicht lange bleiben. Er hatte, wie er sagte, einen rechten Segen Sterbender bei sich. Obgleich, fügt' er hinzu, ich wenig Heil in meiner Ehe erlebt, ist's mir doch lieb, geheirathet zu haben, um dort einst sagen zu können: hier bin ich und hier sind, die du mir gegeben hast! Kann das ein Eheloser? So rührend mir diese Empfindung war, so schwächte sie doch die Erinnerung an die Grafenkrone, an die weißen Federn und den Orden. – Füllt die Erde! heißt: füllt den Himmel! Wenn Menschen sich nicht Leid klagen könnten, wie unglücklich würden sie seyn! Die Ehe ist ein Band, wo sich Mann und Weib auf Lebenslang verbinden sich Leid zu klagen.

[208] Der Organist, der auch diesen Abend herrlich und in Freuden beim Prediger lebte, hielt sich während der Zeit, da der Graf gegenwärtig war, so demüthig, daß er nicht vom Ofen kam. Wieviel sind diesen Monat im Kirchspiel gestorben? fragte ihn der Graf, und er: ich habe nicht geglaubt, die Ehre zu haben, Ew. Gnaden zu sehen. Zwei Reden hab' ich gehalten, aus diesem Dorf also zwei. Der Prediger mußte das Buch holen und wir fanden abermal, daß die Erinnerung des Todes keine Hochzeitfreude verderbe. Die Hochzeitgeschenke, welche der Graf unvermerkt in die Brautkammer setzen lassen, waren Sinnbilder vom Tod und Verwesung. Sie hatten einen ausgemachten Werth. Eine Urne von Porcellan gefiel mir am besten.

Ich blieb noch einen Tag in L – und diesen einen Tag waren wir wieder ganz unter uns. Den Amtmann hatten wir unter uns aufgenommen. Es war ein recht guter, biederer Mann! Wie lang er am Hochzeittage meinethalben seine Ruhe abgebrochen! Mittelmäßig war er in allem; allein warum sagen wir: die Mittelstraße die beste und wanken doch so gern? Warum?

Bei dem Mittelmäßigen fällt es mir ein, daß wir den dritten Tag viel von der Schönheit sprachen. Nathanael that sich bei dieser Unterredung recht sichtlich hervor. Er setzte die größte Schönheit in die Mitte zwischen Feistigkeit und Magerheit, obgleich er selbst mehr fett als mager war. Gretchen aber diente ihm zum Exempel, seine Regel zu beweisen und außer ihr alle Statuen der Alten. Ich muß es doch wohl wissen, sagte Nathanael. Der Amtmann, der seinem Bauche nichts vergeben wollte, fand indessen dieß letzte Argument unwiderlegbar, schlug sich auf seine Bauchbürde, sah Gretchen an und schwieg.

Nathanael ließ nicht ab, mich zur Heimführung einzuladen; allein meine Stunde war gekommen. Answenn? war gar nicht weiter beim Justizrath zu denken. Diesen Abend weihte ich noch [209] Minens Grab, nahm von Nathanael und Gretchen das feierliche Versprechen, dieses Grabes Beschützer zu seyn, und nun wollte ich L – (allem Vermuthen nach auf ewig) gute Nacht sagen. Die Predigerin machte es mir zur Pflicht, daß ich, wenn ich bei der Heimführung nicht gegenwärtig seyn könnte, wenigstens bis zu Gretchens Abreise bleiben möchte. Der Prediger und seine lindenkranke Frau blieben auch zurück. Der Amtmann allein und Gretchens beide Brüder begleiteten das junge Ehepaar. Der Abschied? Bei Beschreibungen der ganzen Natur kann man malen oder pinseln nach der Gabe, die jeder empfangen hat. Ist von Menschen die Rede, wer kann ohne lästig zu werden Leidenschaften in Worte ausbrechen lassen?

Gretchen war im Reisekleide ausgegangen und kam mit verweinten Augen zurück. Wo sie gewesen? werden meine Leser nicht fragen. An Minens Grabe. – Ihre Mutter stand am Fenster, sah unverwandt den Reisewagen an und hatte sich betrübt aufgestützt. Gretchen ging zu ihr, faßte sie zärtlich an und Hanna küßte sie herzlich. Gretchen fiel ihr zu Knien und bat um Segen! Sey gesegnet, sagte Hanna und legte beide Hände auf sie, und sey eine so gute Mutter, als du eine gute Tochter gewesen. Nie geh' ein Lindenbaum vor deiner Thüre aus! – Hier hemmten die Thränen der Mutter und Tochter diese Segenshandlung. Nach einer Weile setzte sie hinzu, deine Töchter werden wie Mine und deine Söhne wie Minens Mann. Gott bewahre die Söhne, im Fall sie Justizräthe werden, vor Treibern, vor Revisoren, die Knaben sind, und die Töchter vor Nachstellern der Unschuld, vor v. E – s. – Und nun legte der Prediger den Segen, womit Gott sein Volk zu segnen befohlen, auf beide: der Herr segne dich u.s.w., ohne daß er von einem Candidaten mit langen Manschetten aus der Bauskeschen Präpositur unterbrochen ward.

Die beiden Aeltesten der Gemeinde kamen gemeinschaftlich das [210] Aufgebot für ihre Töchter nachzusuchen, welches den nächstfolgenden Sonntag zum erstenmal geschehen sollte. – Nebenher wollten sie sich erkundigen, wenn heimgefahren werden sollte, und da sie sahen, daß es hier so rasch als mit dem Hochzeittage ging, setzten sich einige junge Ehemänner zu Pferde, um dem neuen Paar bis zur Grenze das Geleit zu geben. Einige junge Frauen, worunter drei gesegnet waren, begleiteten das Paar bis aus dem Dorfe. So weit ging auch Vater, Mutter und ich. – Der Genius des mir unvergeßlichen Kirchdorfs ging weiter mit Gretchen, mit seinem Liebling. – Es gehe dir wohl, liebe Seele, vergiß Minen und ihr Grab nicht!

Ich reiste denselben Tag nach Königsberg und fand bei meiner Ankunft einen Brief nebst hundert Pistolen. Ich brach den Brief und fand weiter nichts als folgende Devise:


»Für Minchens Verwandten in Mitau.«


Ein Zug, an dem ich den Grafen erkannte, obgleich er incognito war und blieb. Aller Mühe, die ich mir gab, unerachtet konnte ich ihn nicht herausbringen. Wahrlich dieser Zug ähnelt ihm! Der Graf, dachte ich, der den Sargtischler nicht in Stand setzen wollte, ein Mädchen zu heirathen, das keinen andern Fehler hatte als den, daß es arm war; der Graf, der diesen Jüngling für Protektion arbeiten und sich das Herz abhobeln ließ – da fiel mir wieder seine strenge Gerechtigkeit ein. Er war Patron der Kirche und des Hospitals, dem Minchens Anverwandter in L – den Halbscheid seines Vermögens zugewendet hatte. Also – gedankt hätt' ich dem Grafen nicht, wenn gleich ich seines Namens gewiß gewesen wäre. Gott dank' ihm! – Der dankt nicht mit Worten, sondern mit That und Wahrheit. Zwar hatte ich meiner Mutter die Worte aus Minchens Testamente bestens empfohlen:


»Kannst du meinen Verwandten in Mitau förderlich und dienstlich seyn, sey es. Gott wird dich lohnen!«


[211] indessen kam mir dieß ἀνέχου καὶ ἀπέχου, diese Lotteriedevise mit einem Gewinnst sehr willkommen. Willkommner kann es den Anverwandten in Mitau nicht seyn! Schwer war es mir, zu diesem allen nichts mehr als ein Franko beitragen zu können – ein Scherflein in den Gotteskasten.


Das Schwere bei einem mäßigen und zugemessenen Auskommen ist bloß, daß wir nichts mehr als höchstens die Gabe der Reichen frankiren können! Darf ich wohl bemerken, daß ich gegen den Grafen kein Wort von Minchens armen Verwandten in Mitau verloren? Es wird nicht jeder so neugierig seyn zu fragen, ob die Post auch richtig das Haus der Armen gefunden, die in der Welt Angst hatten. Um ihnen keine Minute zu entziehen sandte ich das Geld geraden Wegs und nicht durch meinen Vater, auch nicht einmal durch Wechsel; allein ich bat meine Mutter, sich nach der Aufnahme dieses Geldes zu erkundigen, da ich hierüber dem lieben Gott unmittelbare Rechnung abzulegen hätte. Er, der ehrliche Alte, war schon seit drei Wochen zur Ruhe eingegangen in jene seligen Wohnungen, wo ihn kein Pachtunglück und kein Contrakt, der ohne den lieben Gott gemacht ward, und kein W.R.I.V.R.W. mehr drücken konnte. Seine Frau lebte noch, zählte bis zehn. Noch mehr? sagte sie, als ob das Geld unter ihren Händen sich mehrte. Sie sprach für den Geber Segen, gab das ungezählte Geld und die gezählten zehn einem ihrer Nachbaren zum Aufheben und starb. – – Der Tod war ihr lieber als hundert Pistolen. Der Sohn, der Amtsgeschäfte halber seinem Vater nicht das letzte Geleite geben konnte, kam zum mütterlichen Begräbniß. Sollten ihn wohl die hundert Pistolen dazu vermocht haben? Meine Mutter versicherte mich, daß der leidtragende Herr Sohn nicht aufhören können, Gottes wunderbare Führung zu verherrlichen! – Das dacht' ich wohl und meine Leser mit mir, daß er diese hundert [212] Pistolen nicht ohn' ein Kirchengebet einstreichen würde. Ich wünsche wohl zu bekommen, lieber Herr Prediger an der Grenze.


* * *


Ein Wort zur Rettung der Ehre meiner Mutter, die ich vielleicht hier und da auf zu frischer That beurtheilt haben kann. Darf ich bitten, lieber Freund! zu diesem Rettungswort? Auch du urtheiltest auf frischer That, da ich dir meinen Lebenslauf aus freier Faust erzählte und an den Brief kam, den meine Mutter an Minen schrieb, sich anhebend:


»Es will verlauten.«


Hermann machte meine Mutter mit dem Abschiedsbriefe bekannt, den Mine ihrem Vater zurückließ, als sie aus ihrem Vaterlande und aus ihres Vaters Hause in ein Land ging, das ihr der Herr zeigte.

Hier ist die Antwort meiner Mutter und meines Vaters. Was jenes Weib vom Petrus am Kamin sagte, gilt auch von diesen Briefen. Die Sprache verräth sie.


* * *


Fasse dich! bedenke das Ende, so wirst du auch in deinem Schmerz nicht übel thun. Gott ist die Liebe! Das größte Ueberbleibsel des göttlichen Ebenbildes ist die Liebe. Liebe ist der Funke, den Gott anschlug, da er die Welt schuf. Du weißt das Sinnbild Feuer, Liebe, Wasser, Haß! Wo Feuer ist, ist Licht – wo Licht ist, ist Wahrheit. Das Licht der Vernunft ist Liebe, die Luft der Geister ist Liebe. Suche deinen Trost in der Liebe! – Du sollst Gott lieben, den du nicht gesehen hast und nicht siehest. Sieh! ein Hülfs-, ein Hausmittel, dich zu dieser Gottesliebe hinauf zu schwingen, da du Minen liebst, die du gesehen hast und nicht siehest. Um diese Welt gleichgültiger zu finden, ist's gut, einen geliebten Gegenstand in der andern Welt zu haben. Wahrlich! es [213] warten noch Stunden auf dich, wo es dir in dieser Welt nicht gefallen wird. – Du liebst Minen und wünschest sie nicht glücklicher, als du bist? – Ist die Liebe nicht stärker, als der Tod? Sind wir nicht am geneigtesten, allenthalben eine Aehnlichkeit von Menschen zu entdecken? Ein Baum in der Entfernung dünkt uns ein Mensch. Wir geben ihm alle Gliedmaßen, und alles dünkt uns so. An der Wand, im Dunkeln, überall Menschengestalten! Nichts ist uns wichtiger, als der Mensch, nichts natürlicher, als er; und dir sollt' es schwer werden, Minen darzustellen? – Wer sich selbst nicht liebt, liebt auch andere nicht. In der Schule der Nächstenliebe wird mit der Selbstliebe der Anfang gemacht. Ein Verschwender kann dem Dürftigen sein Brod nicht brechen, weil er selbst nichts zu beißen, nichts zu brechen hat.


* * *


Warum aber so kabinetsverschwiegen? Waren wir denn Vater und Sohn? oder waren wir du und du, und gute Freunde zusammen? Ich find' in diesen Fragstücken Trost; allein du wirst ihn hier schwerlich finden. Auch für mich selbst ist hier Unkraut zwischen dem Weizen. Friede mit Minens Seele, Friede mit der deinigen! Friede mit deiner Mutter, die unaussprechlich leidet. Fällt dir ein, daß ich es euch im Wäldchen wohlfeilern Kaufs lassen können, so wisse, daß dieser Umstand mich oft ergriffen, daß er mich noch ergreift, und mehr, als es Christen geziemt. Gott helf' unserer Schwachheit! Dieser Brief wird mir saurer, als je ein Brief mir worden, obgleich mir jede Schrift schwer wird, und ich meinen Schreibtisch, der aber kaum diesen Herrnnamen verdient, die meiste Zeit widerwillig ansehe. – Trost zusprechen, sagt man; wer kann ihn schreiben? und wenn es viele könnten, würde diese Kunst doch nicht mein seyn! Denke! mein Sohn! – das heißt: sey mit Minen zusammen. Du hast nur Minens Form [214] verloren! Mine lebt! und wir werden auch leben! – Besorgt seyn und sorgen, ist zweierlei. Hier ist so viel von der Predigt über den Text:Wir haben hier keine bleibende Stätte, als ich selbst besitze. Du kennst meine Weise zu concipiren. Hie und da ein Wecker. Betrügen mag ich nicht. So schick ihm doch das Concept, wie es steht und geht, sagt deine Mutter. Da ist es, wie es steht und geht.


* * *


Herzlich geliebter und nach dem Willen Gottes schmerzlich betrübter und nach kurzer Freude viel Leid tragender, einziger lieber Sohn!

Da sitz' ich und lese diese Ueberschrift zehnmal: Herzlich geliebter und nach dem Willen Gottes schmerzlich betrübter und nach kurzer Freude viel Leid tragender, einziger lieber Sohn, und kann keinen Anfang finden, ich, die ihr Lebtage nicht des Anfangs halber eine verlegene Minute gehabt, und auch noch hab' ich den Anfang nicht, denn das ist erst der Anfang zum Anfang. Beim Ende, mein Kind, war ich oft verlegen. Dein Vater pflegte zu sagen, ich könnte das Ende nicht finden, obgleich mit seinen Anfängen, wenn er was schreibt, wahrlich nicht zu prahlen ist. – Bis jetzt hab' ich, Gott sey Dank, noch immer das Ende gefunden, freilich oft in Winkeln, wo es nicht jeder zu suchen gewohnt ist. – O mein Sohn, wenn du wüßtest, wie schwer es mir wird, den Anfang dieses Briefes zu finden, du würdest deine Mutter bedauern, und sie in deinen Schmerz einschließen, wie ich dich immer in mein Gebet eingeschlossen habe und jetzt in mein Gebet einschließe. Ich will sie nur nennen – so gern ich diesem Namen auswiche: Mine da ist der Anfang, Mine! o mein Sohn! wie wird mir, da ich diesen Namen, diesen seligen Namen schreibe und spreche. Zacharias schrieb und sprach: Er soll Johannes heißen, und war [215] ein so glücklicher Vater, als ich eine unglückliche Mutter bin, obgleich mein Johannes nicht daran Schuld ist, sondern ich selbst, ich allein selbst. Mine! Mine! Mine! Da ist der Anfang. Ihr Name wird auch das Ende seyn! Meine Seele ist betrübt bis in den Tod!


Wohl ihr, dem Kind der Treue!

Sie hat und trägt davon

Mit Ruhm und Dankgeschreie

Den Sieg, die Ehrenkron'!

Gott gibt ihr selbst die Palmen

In ihre rechte Hand,

Und sie singt Freudenpsalmen

Dem, der ihr Leid gewandt.


Aus dem Liede: Befiehl du deine Wege, woraus, wie ein Ausgebäube, die schönen Worte: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoff' auf ihn, er wird's wohl machen, herausspringen. Dieser Vers heißtWohl! Der Spruch steht im siebenunddreißigsten Psalm, der fünfte Vers. Fast kann ich sagen, ich fiel zu Grunde, wie ein Stein. Nichts, nichts in dem ganzen Laufe meines Lebens hat mich so ergriffen, als dieser Fall. So wie den Egyptern ging's mir. Sie saßen in der Nacht, während daß bei den Israeliten Tag war. – Das Licht war nicht bei mir. Zu Gott rief ich: Die Angst meines Herzens ist groß, führe mich aus meinen Nöthen! Siehe an meinen Jammer und Elend und vergib mir meine Sünde! Der Herr sey gelobt? Ich habe Gnade gefunden in seinen Augen, so wie den Anfang zu diesem Briefe. Meine Brust schwoll so in die Höhe, daß alle Bande zu reißen schienen. Jetzt legen sich diese Blutwogen – obgleich ich noch lange nicht sagen kann: es ist stille. Vielleicht wird es nie ganz stille. Du warst kein Kind mehr, als du schwach und krank darnieder [216] lagest und wieder gesund wurdest, ich weiß indeß nicht wie? Der Dr. Saft hat wenig oder nichts dabei gethan, der, wenn gleich er seinem Vater selig eben nicht in Wunderkuren durch Heirathen gleich kommt, jedoch in der Apotheke zu Hause gehört und seine Kunst versieht trotz einem. Du weißt wie gottergeben ich damals war. Wärst du gestorben, ich hätte keine Thräne, wie ich nach der Liebe hoffe, sinken lassen. Seit der Minute, da ich fühlte, daß ich dich hatte, bis jetzt, da du dich zum Dienst des Herrn weihst und heiligest – wußte ich, daß mein Sohn sterblich war. Sterblich von sterblich, und wärst du gestorben! Wohl dir, du Kind der Treue!


Du sängest Freudenpsalmen,

Dem, der dein Leid gewandt.


Aus der Strophe Wohl!

Du wärest wohl versorgt. Ein himmlischer Superintendent und Oberpastor! Das ist mehr als in Mitau, wohin dir der liebe, gütige Gott, wenn es seinem heiligen und allezeit guten Willen nicht zuwider ist, verhelfen wolle zu seiner Zeit! – Da ist er wieder in Herz und Feder der Name: Mine! Mine! O der namenlosen Angst bei diesem Namen, den Gott in Gnaden von mir wende, wenn der letzte Kampf anbricht. O wende ihn, wende am Lebensende das Schreckliche dieses Namens, du der du alles lenkst wie Wasserbäche.

Wie hieß der Barbar, der zwei römische Rathköpfe (nicht Glieder) jämmerlich hinrichten ließ, und, da ihm nach kurzer Zeit bei einem Abendmahl unter vielen andern Speisen ein gekochter Fischkopf aufgetragen ward, ihn für das Haupt des einen Erwürgten ansah? Er sprang auf, denn der Fischkopf drohte ihm in seiner Einbildung. Er floh, der Fischkopf verfolgte ihn, und unter diesen Aengsten, da beide Ermordete ihr Blut von seinen Händen forderten, starb er. Man kann leicht denken wie? Ich [217] meines Orts behaupte Stein und Bein von dergleichen Leuten, daß sie lebendig in die Hölle gefahren! Da sagen denn die Gewissenslosen: der Barbar hatte Hitze! Freilich hatte er Hitze, allein Höllenhitze! Er setzte sich hin, um fröhlich und guter Dinge zu seyn, bis der Ermordete ihm erschien. Der Fischkopf war ihm ein magischer Spiegel, und so ist's immerdar mit dem Gewissen. Einbildung? Recht. Allein das ist des Gewissens Art und Weise. Es hält uns immer einen Spiegel vor, dieser sey ein Fischkopf oder was anderes – und am Ende will ich lieber wirklich leiden, als einen solchen Fischkopf sehen. Was mich mit Wasser in meiner Minenhitze besprengte, war der Umstand, welcher andere vielleicht unmuthiger gemacht haben würde. Du hast, dachte ich, meinen grausamen Brief an Minen! Du weißt alles; das Bekenntniß der Sünde ist eine halbe Reue, eine halbe Besserung. Die Beichte könnte eine sehr vernünftige Sache seyn; jetzt freilich ist sie nichts weniger wie das. Sey mein Richter. O hier ist mehr als ein Fischkopf! Es ist immer ein und dieselbe Saite, die in mir sumset. – O ein schrecklicher Ton! Auch die Hörner des Altars selbst kann ich nicht ergreifen. So oft ich in Gottes Hause bin, seh' ich hier Nummer 5, und da Nummer 5. An Nummer 5 hängt mein Gewissensspiegel. Da seh' ich das stille gute Mädchen und fühl' es, daß ich ihr mit Ungestüm begegnete, den letzten Sonntag, da schon ihre Seele alles eingepackt hatte. Sie grüßte mich und dich. O Nummer 5! Nummer 5! O wenn diese Zahl nicht wäre! Einfältiger Wunsch, da eben fallen mir die fünf Finger ein. Sie bleibe, diese Zahl, und die Erinnerung bleibe, daß ich Minen auf der Seele habe! Wie lebhaft ich mir alles zurückerinnere! Ich besann mich, indem ich dankte, ob ich wohl danken sollte, und solch ein Dank ist ärger, als Undank. Jetzt danke ich, so oft ich die Bank sehe – und niemand ist, der mir diesen Dank abnimmt. O wenn doch Minchens Geist diese meine Bücklinge sehen könnte [218] und mich bedauerte! O wenn doch ihr Geist nur ein einzigmal noch in unsere Kirche käme! Wenn ich diesen Fischkopf: Sonntag, zurück hätte, was gäbe ich darum! Nur den Vormittag, nur die Predigtstunde. Ich sah Minen deines Vaters Predigt hören über: wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir! welche dir dein Vater auf mein Zudringen, wie sie da geht und steht, senden wird. O Gott, wie hörte Mine diese Predigt, und ich, wie sah ich sie hören! Gleich, dachte ich, ein Mädchen, das so hören kann, kann das böse seyn? Es kann nicht. Ich sah Minen manches Predigtwort befeuchten mit ihren Thränen. Ein warmer, fruchtbarer Regen zur Seligkeit! Ich sah sie Abschied von Nummer 5 nehmen, einen sanften, seligen Abschied! O möchte ich doch auch, wenn ich zum letztenmal in das Gotteshaus gehe, von Nummer 1 so Abschied nehmen, und wenn es auch zu mir heißt: wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir! so von hinnen gehen, wie sie aus Nummer 5. O hätte ich doch nur einen Buchstaben von diesem Abschiede gemerkt, da Minchen ihn nahm, nur ein Uhütchen, ein Ipünktchen! Welch ein schreckliches Licht ist mir jetzt aufgegangen. Vorigen Sonnabend ging ich allein ins Gotteshaus und wollte versuchen, ob ich mich vielleicht in der Stille mit Minens Bank versöhnen könnte. Langsam ging ich zu ihr, als zu meinem Richterstuhl. Ungefähr kam ich an die Stelle, der sie die Hand gedrückt, und siehe, es waren feurige Kohlen, die da brannten. – Noch jetzt bin ich mit Nummer 5 nicht in Ordnung. Gott sey gelobt und gebenedeit, daß ich Minchen anders grüßte, da sie herausging. Gott! Gott! Großer Gott, ihre Thränen! Ihr Ringen im Auge, ehe die Thränen flossen, die bangen Thränen und die letzte, die Abschieds-Thräne, die sie weinte, da sie ging, die ihr mein letzter Gruß erregte. – O sie komme zur Linderung über mich, zum Erquickungstropfen in meiner brennenden Todeshitze, in meiner Todesnoth! [219] Vater, vergib! Ich wußte so wenig, als Nathanael, was ich that! Dieser Wehrwolf –


Doch warum klag' ich andre an,

Ich habe alles selbst gethan.


Der Stank für Dankbrief! O hätt' ich nie schreiben gelernt! Die Zunge hat viel Unheil angerichtet; allein es geht mit ihr, wie mit dem Brod beim Bäcker. Den andern Tag wird frisch gebacken. – Nie, mein Sohn, das schwör' ich schriftlich vor Gott, der über mir ist, ich schwöre, nie werd' ich Lebenslang einen Brief, ein Promemoria, einen Waschzettel schreiben, wo ich nicht an Minen schriftlich denke, und ihren Namen, wär' es auch nur der erst' und letzte Buchstabe M.e. mit hinein schreibe, um meine schriftliche Sünde, meinen Stank für Dank zu büßen. Sey mit dieser Buße zufrieden, lieber gütiger Gott, und sieh mich so nicht an, wie ich Minen, vor der letzten Predigt in unserer Kirche! Wie könnt' ich sonst vor dir bestehen! – Straf mich nicht nach meinen Sünden, vergilt mir nicht nach meinen Missethaten! – So du willst, Herr, Sünde zurechnen hier, in der ersten Instanz, vor dem Gewissen, und dort in der letzten, wer kann bestehen?


Gott, du kennst vorhin

Alles, was mich kränket,

Und woran mein Sinn

Tag und Nacht gedenket.

Niemand weiß um mich,

Als nur du und ich.


Das! das! mein Sohn, ist mein täglich, mein stündlich Gebet zu Gott, das ich aus der Tiefe herauswinde, wie ein müder Wanderer einen Labetrunk aus einem Brunnen, der dem Reisebecher Tropfen auspreßt. Wie gern ich sehe, wenn das Glas beschlägt, kann ich dir nicht sagen. Es ist mir so, mein lieber Sohn, als erquicke sich das Glas selbst.

[220] Du hast mir, es ist nicht zu läugnen, einen stark gewürzten Brief geschrieben; Muskatennuß, Englischgewürz, Pfeffer und Ingwer war darin. Zu sehr indessen zeigt der Brief noch, daß du mein Sohn bist, und ich deine Mutter; zu sehr, daß du unter meinem Herzen und an meiner Brust gelegen, die niemand, als dein Vater, und der nur beiläufig, gesehen hat. O warum, warum vergißt du denn dieß nicht alles? Das konntest du leider nicht. Warum denn nicht? Griff ich dir nicht ins Herz hinein? Riß ich dir nicht ein Aug' aus? Sohn! zu guter Sohn! – Wisse, daß ich mir selbst, wie jener Gesetzgeber, dessen Sohn ein Gesetz übertrat, worauf zwei Augen standen, auch ein Aug' ausgerissen, und zwar das linke, das ich das Herzensauge nenne, so wie das rechte das Verstandesaug' ist. Jetzt, ich weiß selbst nicht, wie's zugeht, da ich dieß alles aus der Fülle meines Herzens herausschreibe, fühl' ich mich einigermaßen getröstet. Mich soll verlangen, ob es von Bestand seyn wird. – – Wundershalber brech' ich auf einen Tag ab.

Gelobt sey der, dessen Aufsehen unsern Odem bewacht! Ich bin zufriedener. Ich bitte dem lieben Gott wegen des Fluchs ab, den ich über's Schreiben aussprach! – Es ist grundfalsch, daß das Schreiben nicht auch sein Gutes habe. Freilich hätt' ich an Minen nicht schreiben sollen. Was kann aber das Wasser dafür, daß es nicht Taufwasser wird, welches so schönes Grün hervorbringt, daß das Auge fühlbar gestärkt wird? Denke doch weiter über das Schreiben, und schreibe mir mit nächstem, was du gedacht hast. Bei deinem Vater kann ich mir deßhalb nicht Raths erholen. Das Schreiben kommt mir als ein vernünftiger Monolog vor, die beste Manier, wie man zu sich selbst kommen, und sich ein Wörtchen ins Herz und Seele hineinbringen kann. Wenn man mit sich selbst spricht, läuft jeder für uns: und mit den lieben Gedanken – wer zäunt sie gern ein? und unverzäunt, wie selten [221] halten sie Stich? – Ich weiß, an welchen ich glaube – und bin gewiß, daß er mir meine Beilage bewahren werde bis an jenen Tag, daß der, so meinen Nelkensamen gestreuet, auch die Nelken ablegen, und in ein ander Beet versetzen werde; daß der, so in mir angefangen das gute Werk seiner Verherrlichung, es auch durch seinen heiligen Geist bestätigen und vollführen werde, bis an den lieben jüngsten Tag. O wie es mich entzückt hat, daß die Selige Mosen und die Propheten, Bibel und Gesangbuch, zu ihrem Ein und Alles gemacht, und daß sie besonders in geistlichen und himmlischen Liedern ihre Wonne gefunden! O du mir sonst theures und werthes Lied:


Ich hab' mein Sach' Gott heimgestellt,


wie weit theurer und werther bist du mir jetzo, du, Minens Reiselied auf ihrer Wanderschaft zur seligen Ewigkeit! Weißt du auch noch, mein Erst- und Letztgeborner! wie wir unterwegs, da wir die Folianten, die uns kreuzweise zur Verewigung des vetterlichen Kupferstichs dienten, zu Hause brachten, wie wir sangen:


Man trägt eines nach dem andern hin,

Wohl aus den Augen und aus dem Sinn.


Behüte Gott, daß ich dich an diese preiswürdige Stelle darum erinnern sollte, damit auch die hingetragene Mine dir wohl aus den Augen und aus dem Sinn kommen möge! Nein, ewig sollst du an sie denken, aber denk' an sie, als Christ! Sieh! die Natur gibt dir die Vorschrift, deinen Schmerz nicht zu verewigen. Allmählig, wie Spiritus, duftet er aus. Man merkt wohl, es ist Spiritus gewesen, allein die Hauptkräfte sind in den Wind geschlagen. – Dein Vater pflegte zu sagen, daß er jeder Hand ansehen könnte, auch dann, wenn jetzt kein Ring daran hing, daß einer daran gewesen. Ein gewisser Zwang, ein gewisser Stolz, bleibt darin, und der kleine Finger will mit aller Gewalt der Daumen [222] oder Mittelfinger seyn. Das kleine Närrchen! So nicht mit Christenleuten. Sie sind einen Zoll über die Natur! größer, stärker, als sie. – Was die Natur nicht kann, vermag die Gnade, die mächtig macht! Dieser Gnade befehl' ich deinen Geist, Seel und Leib, alles müsse unsträflich behalten werden bis zum allgemeinen Concilio, wenn offenbar wird, der Gott dient, und der ihm nicht dient. – Wenn du das schöne Werk: Ehre und Lehre der Augsburgischen Confession, von Johann Weidner, Ulm, 1732, habhaft werden kannst, laß es nicht aus der Hand und dem Auge! Dein Vater hat es nicht! Ueber das Reiselied: Ich hab' mein Sach' Gott heimgestellt, hab' ich nicht ohne die äußerste Rührung meines Herzens nachgeschlagen, daß ein siebenundsiebenzigjähriger Greis, da er sich diesen Kern- und Sterngesang vorsingen ließ, und an die Worte kam:


Es wird nicht eins vom Leibe mein,

Sey groß oder klein,

Umkommen, noch verloren seyn,


sich so angegriffen, daß sein erstorbener Körper sich verjüngte, wie ein junger Adler. Man sah ihn ordentlich auferstehen. Nicht eins, nicht eins, nicht eins, schrie er, vom Leibe mein, umkommen und verloren seyn! und starb ruhig und selig! – Würdest du es wohl gern sehen, wenn du von Minen in der andern Welt nur ein Gemälde, nur einen Kupferstich sehen solltest? Nicht eins, nicht eins, hör' ich dich auffahrend rufen, wie den siebenundsiebenzigjährigen Greis. Nun, du sollst sie wieder haben, ganz und gar! Es gibt plätze in unsern Liedern, wo man in der größten Sonnenhitze vor dem Sonnenstich sicher ist, wo kein Sonnenfunke hineinblitzt, kein Strahl hineinschleudert und wo es einem so wohl ist, so herzlich wohl! – Ich weiß nicht (mein Gedächtniß fängt mir an so schlecht zu werden, und ich merke selbst bei Liederstellen, daß sie mir wie die Zähne ausfallen), ich weiß nicht, wo ich es gelesen [223] habe, daß ein braver Mann sich alle liebe Morgen, wenn er aus dem Bette gefahren, einen frischen Erdenkloß bringen lassen, daran er eine Weile gerochen. Er behauptete, daß er Gesundheit und Lebensverlängerung daraus röche! Mein Sohn! gibt's einen originalern Menschengeruch? Ein Erdenkloß war noch vor dem Adam, und er ward aus ihm gemacht. Zwar ist die Erde jetzt sehr mit Todten versetzt, denn wer weiß, ob ein Stellchen ist, das nicht ein Kirchhof, eine Urne wäre? Und wer kann es läugnen, daß so ein Erdenkoß, aus dem Gott der Herr den ersten Menschen machte, sich ungefähr gegen unsere jetzige Erde verhalten haben könne, als gekochtes Gemüse und rohes Obst. – Indeß erfrischt auch das gekochte Gemüse das Blut und auch noch, glaub' mir, auch noch muß man von der Erde was Originales riechen können, wenn man sich nicht an sogenannten wohlriechendem Wasser die Nase von Grund aus bis auf die Wurzel verdorben hat, welches aber nicht, wie dir erinnerlich seyn wird, durch Himmelsschlüsselchen, wozu auch Krausemünze zu zählen, geschieht. Den Erdenkloß, aus dem Adam ward, nicht wahr, den hättest du riechen mögen? Ich auch, mein Sohn! – Noch eine Anekdote schwebt mir in Gedanken über:ich hab' mein' Sach'; allein ich kann sie nicht zum Stehen bringen. So geht's, je älter, je kälter! und bald wird mich der Papagei jenes spanischen Gesandten übertreffen, welcher, wie ein bewährter Schriftsteller versichert, die ganze Litanei singen können. Das wäre ein Casus für mich! Was ist Nachtigall und Lerche! und alle Finkenarten gegen solch einen Litaneipapagei? – Zum erstenmal merke ich, daß sich Litanei und Papagei reimt! Schön! – Es gibt Lasten des Lebens, mein lieber Sohn, die auch dem Christen zu schwer zu heben sind; allein er vermag alles durch den, der ihn mächtig macht; er probirt und probirt so lange, bis er hebt und trägt. Es kommt viel darauf an, wie man's angreift und sich auflegt. Die Gelehrten lassen sich gemeinhin mit einem [224] Buch in der Hand malen und darüber wegsehend! Nicht also! mein Sohn, wie diese Verkehrten! Ins Buch, sag' ich, ins Buch das Auge! Glaubt ihr Herren Gelehrte, Verkehrte, etwa, daß das Auge dem, der euch sieht, verloren gehe? Eben dieser Blick ins Buch ist das Auge eines Gelehrten, wenn er nicht ein Verkehrter seyn will, und nun, mein Sohn, laß dich nicht bloß so malen, sondern sieh wirklich ins Buch des Lebens! Die Bibel ist davon die erste Ausgabe, die zweite vermehrte wird dir in der andern Welt aufgethan!

Dein Großvater seliger, der Glückliche, machte, wenn er nachsann, kleine Augen, recht als ob er keinem Gegenstand mehr Platz lassen wollte; dein Vater macht sie groß, wenn er nachdenkt, wenn er mit der Seele wohin sieht, und da fallen denn Sonnenkörner, kleine Sterne, wie die Sternschnuppen, aus seinen Augen. Manche machen die Augen dicht zu, als ob sie nicht sähen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.

Was steht in der ersten Ausgabe des Lebensbuchs? Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen. Kann der Thon sprechen zum Töpfer: warum machst du mich also?

Der Mensch sieht immer scheel über den lieben Gott, weil er so gütig ist, nicht nur in Absicht seines Groschens, sondern anderer. Dieß Evangelium vom Groschen ist vortrefflich; es ist nicht mit Gold zu bezahlen. Was kannst du, Mensch, mehr als einen Groschen verlangen? Am Ende hat niemand mehr. Nur daß es anscheint, als hätte dieser oder jener darüber. Was willst du mehr, Mensch! wenn du deinen Groschen bekommst? Was mehr? Du willst die ganze Natur verschlingen. Unthier! Wie viel Arten von Speisen in einer Mahlzeit? Fast alle sechs Tagewerke werden aufgetragen. Dafür mußt du aber auch leider! den Dr. Saft in Ehren haben. Selbst das Sterben muß dir dafür schwer werden. [225] Du bringst dich selbst um, Israel! Wahrlich, in allem Betracht dich selber! – Das ist ein theuer werthes Wort, daß sich der Mensch mit dem lieben Gott in Verbindung denkt, daß er weiß, wie ohne den Vater über alles kein Sperling fällt, wenn gleich dieser den Kirschen nachstellt. Kein Haar auf deinem Haupte ist, das Gott der Herr nicht gezählt hätte. Alles ist in Verbindung mit einander und alles zu Gott. So drehen sich große Weltkörper um ihre Achse und wandeln, sagt dein Vater. Ich stelle die großen Weltkörper an ihren Ort, genügsam mit der Bemerkung, daß göttliche Heimsuchungen, dergleichen du jetzt erfahren, dergleichen ich auch oft erlebt, besonders da dein Vater mir lieblos den Rücken kehrte und ich im hitzigen Fieber hebräisch lernte, da mir deine Großmutter den Ring aufdrückte, und da dein Vater dich Alexander hieß, und da er selbst M – l – ch genannt ward, was wollt' ich sagen? Dergleichen Heimsuchungen sind Wecker, sind Haltrufer! Steh doch, Seele, steh doch stille! Gott sucht den Menschen heim, wenn es dem Menschen wohlgeht. So sieh dich doch um, wie schön dein Feld steht; dein Weib fürchtet den Herrn und deine Kinder stehen wie Palmen am Wasser; du hast, was dein Herz wünscht und deinen Augen gefällt. Gott sucht den Menschen heim, wenn er ihm mit unerwartetem Unglück in die Quere kommt. Glück kommt in die Länge. Gott kommt, so zu sagen, bis ins Menschen Haus, um ihm Gutes im Glück und Unglück zuzufügen. Was liegt nicht alles in dem Worte heimsuchen! Gott sucht den Menschen heimzuziehen, von der Welt ab und in sich selbst, in seinen eigenen Busen, um durch eben diese Selbsterkenntnis ihn dahin zu bringen, wo wir ewig seyn werden! Kreuz und Leiden, mein Kind, sind der Zaum und Gebiß, so der liebe Gott uns, seinen Rossen, ins Maul legt, wenn wir nicht zu ihm wollen; und wer ist ohne Kreuz und Leiden? Willst du mit Gott rechten, du toll und thöricht Volk, das wahrlich [226] nicht an seine Brust schlagen und sagen kann: mein Gewissen beißt mich nicht meines ganzen Lebens halber. Das Gewissen, wie du selbst wissen wirst, geht von unten, ungefähr um den Magen herum, in die Höhe. Oben hält es sein richterliches Amt, unten ist sein Schlafstübchen. Wenn es aufwacht zum harten Criminalurtel, wie brennend sind seine Tritte! Wie glühend Eisen geht's in die Höhe. – Was schreien wir denn? Daß wir nicht dieß und daß wir nicht jenes haben? Wenn wir auch das nicht hätten, was wir haben? Wenn du z.B. nicht Pastors Sohn wärst und Mine die Tochter eines Literati, obgleich über seine Literatur noch ein Streit ist. Waren wir nicht Thon, aus dem der Weltmeister machen konnte, was er wollte! Warum sollten wir der Erde noch mehr Dornen und Disteln auf den Hals wünschen und ihr fluchen? – Glaub mir, am Ende hat der Generalsuperintendent und der Herzog, der Präpositus, der Pastor, der Literatus, schlecht und recht, fast möcht' ich sagen, der Wacker selbst, nichts vor dem andern darüber und darunter. Jeder hat seinen Groschen. Staub ist Staub, er sitze im Sammetrock oder im Kittel. Schmerz ist ein Präludium zur Freude, Freude ein Präludium zum Schmerz. Es geht in der Welt alles aus einem Ton, aus B – dur. Freilich leiden wir oft des Ganzen wegen, so wie der Gerechte durchs Gesetz, das eigentlich nur dem Ungerechten gegeben ist; allein leiden nicht auch viele für uns? Es geht immer mit einander auf. Wie viel Hände sind nicht unsertwegen, eben da ich dieß schreibe, in Bewegung. Die Menschen haben schon einen angebornen Trieb zur Hülfsamkeit, sich einander förderlich und dienstlich zu seyn. Du empfindest die Sonne, weißt du aber ihre Natur und Wesen, weißt du, ob darin gegessen oder getrunken wird? Das sey dir eine Warnung! Ueber Gott und seine Wege meistere nicht! Dein Standort ist dir nicht recht; weißt du aber auch, wo du stehst? und wenn du es weißt, stehe wohl zu, daß du nicht fällst. Willst [227] du gerechter, gütiger seyn, als der Allgütige, der Allgerechte? Die Natur des Menschen hilft sich durch die Krankheit, so wie die große Hauptnatur durch Donner und Blitz, Hagel und Stürme. Wenn sie sich den Magen verdorben hat, muß es heraus. So lange dir der liebe Gott die zwei Brünnlein deiner Augen gibt, in denen Wasser des Lebens, des Trostes rinnen, und so lange der Mensch manche schwere Stunde verweinen kann, was will er denn? Zwar


Die Fromme stirbt, die recht und richtig handelt,

Die Böse lebt, die wider Gott mißhandelt;


allein ist's nicht besser, daß eine Wohlvorbereitete unter die Engel kommt, als eine die es nicht ist. Würden die Engel sonst nicht alle Liebe zu den Menschenkindern verlieren, würden sie sich nicht des Menschen schämen, obgleich er wie sie Gottes Geschöpf ist? Wenn der v. E – mit seinen habsüchtigen Augen dahingerafft wäre, wahrlich ganz Curland hätt' im Himmel darum verloren. Es wäre Curland gegangen, wie es den Deutschen dadurch geht, daß sie lauter Grützköpfe nach Paris geschickt, das Land zu besehen, worüber dein Vater nicht genug seinen deutschen Kopf schütteln kann. Lies dir da Trostgründe aus, wie wir Zuckererbsen zur Saat auszulesen pflegen. Was wurmstichig ist, wirf davon. Nicht alle meine Trostgründe sind Saatzuckererbsen. Du weißt doch, man muß sie erst aufweichen, wenn sie aufgehen sollen. Weine, herzlich geliebter und nach dem Willen Gottes schmerzlich betrübter und leidtragender Sohn! und erweiche die Saaterbsen von Trostgründen durch deine Thränen; dann wirst du alles ganz anders finden. Weine für Freuden, daß wir weinen können, und erhole dich, wie die angebrannte Pflanze nach dem Abendthau. Verstopfe die Quelle, aus der Leben abfließt, nicht durch bittere Härte. Murre nicht wider Gott! Nicht alle können alles: nicht jeder kann einen Wald voll Waldgreise alter und wohlbetagter Eichen, nicht jeder kann einsame [228] Gegenden aushalten, wo Schauer aus allen Winkeln zusammenkommen, und den Ankömmling ängstigen, als käm' er in ein verfluchtes Schloß. Da wird er denn in die Enge getrieben, und kommt so im Kleinen zu stehen, daß er wie in sich selbst verkrochen ist. Ich konnte den dicksten Wald aushalten, als säh' ich Johannisbeerenstrauch, und selbst in der alten Rummelei eines vernachlässigten Waldes, in einer zerstörten Stätte, wo ein Käuzlein keinen Laut wagt, konnt' ich froh seyn. Da fing ich dann ein Morgen- oder Abendlied an, und freute mich, daß der Wiederhall so gut Melodie hielt. Da sah ich dann manchen Baum, dem die Erde an der Wurzel ungetreu worden. Sie wollte von ihm abfallen; allein er befaßte sie mit seiner Klaue – und sie blieb. Da war ich wie zu Hause, und fühlt' es tief in der Seele, daß im Stillen wirken göttlich sey. Die Natur (Gottes Sprachzimmer) sieh, wie still sie ist! – Eine Waldblume, obgleich sie nie eine Eiche wird, bekommt etwas von der Stärke ihrer Kameraden. Sie steht länger als die auf dem Felde; denn wenn ich gleich nur ein Lied bin, geht doch manche Ode auf meine Melodie – ich hörte den Donner nicht, als hört' ich Gottes Scheltwort. Schelten konnte nur meine selige Mutter – überall, und ich – in der Kirche. Ich hab' es selbst gesehen und gehört, daß mitten im Gesange deine Großmutter selige, war es Katharinen oder einer andern, einen Schlag ans Ohr gab – mitten darin. Dergleichen Taktschläge sind mir nicht eigen. Wer ein gut Gewissen hat, hält den Donner für eine Instrumentalmusik der Natur. Thut Buße, tönt er dem Verbrecher, denn das Himmelreich ist nahe herbeikommen. – Und der Blitz? Gott verzeih mir meine Sünden, oft ist es mir vorgekommen, als schlüge sich der liebe Gott Licht an, und auch im dicksten Walde, wo ich denn wohl einsah, daß die stolze Eiche, die gern ein Wörtchen mitspricht, und die, wenn der Wind daherfährt, Scheltwort auf Scheltwort gibt, stockstill war; im Walde, wo der Blitz sich [229] so recht herumschlängeln kann, war mir ehemals nichts schrecklich! – Wie still es hier war, wie vor dem Worte: es werde Licht! Da bewegte sich kein Blatt. Mir war ehemals diese Stille erwecklich, himmlisch! – Nach Minens Tode, ich kann es nicht läugnen, ist mir beim Donner und Blitz nicht mehr so zu Muthe! Jetzt ist auch was von thut Buße darin, und im Blitz: bedenke das Ende! Ich schaudre vor dicker Finsterniß, und alles scheint Mine im Munde zu haben und wider mich ausbrechen zu wollen. Vor diesem, selbst wenn eins vom Blitze getroffen war, kam es mir vor, als wär' es im feurigen Roß und Wagen gen Himmel geholt; vorzüglich dacht' ich dieß bei dem Blitztode des alten Peters, denn er war ein so guter, frommer alter Mann, daß nichts wider ihn zu sagen war. Man suchte nach seinem Tode; allein kein blauer Fleck an ihm! – Es war kein Schmerz in seinen Falten; sie schienen wie ausgeglättet. Im Leben hatte Peter auch keinen Fleck, außer daß er zuweilen ein Gläschen über den Durst trank. Eins nur. Jetzt ist alles mit mir gar anders! – Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt, von den Fußsohlen an bis zum Scheitel ist nichts Gesundes, nichts Festes an mir.


Charlottens Laube selbst, wie schrecklich sie mir da ist! Hier, wo so viele Thränen vergossen sind, hab' ich Mühe, die meinigen in Gang zu bringen. Sieh, mein Sohn! Du bist zu Superintendenten-Leiden und zu Superintendenten-Freuden geboren und erkoren, zur hohen Würde, zur schweren Bürde. Zum höheren Halleluja, zum tieferen Kyrie Eleison. Du bist, das weiß ich, nicht unbehülflich in diesem Kummer. – Der Gram ist durstig, wenn er aus verunglückter Liebe, aus Todesliebe, kommt, hungrig, wenn er Verachtung, Verspottung zur Triebfeder hat. Trink ein wenig Weins, deines schwachen Magens halber, und wisse, daß deine [230] Mine wohl versorgt sey; aber warum schein' ich es selbst nicht zu wissen?

Ach! wer doch einmal droben wäre! Wenn du gelegentlich, mein Kind, ein Buch:Die große Diana der Epheser, oder ein Traktätchen von den Accidentien der Prediger, Danzig 1693, lesen kannst, lies es und schreib mir den Inhalt. Selbst lesen mag ich es nicht, wohl aber die Ehre und Lehre der Augsburgischen Confession von Johann Weidner, Ulm 1732. Wenn es dir begegnet, kauf' es. Mit Freuden ersetz' ich Kosten und Porto. – Glaube mir, mein hiesiger Aufenthalt wird nicht langwierig seyn, und ich freue mich darüber, bald, bald ausgespannt zu seyn und außer dem Leibe zu wallen. Meine Seele, ein Strahl aus dem göttlichen Lichte, sehnet sich, zurückprallen zu können und mit dem lieben Gott ins nähere Verkehr zu kommen! Der Tod wahrlich ist das wahre Universale wider alle Leiden dieser Zeit. Würden wir wohl Lust haben einzupacken, wenn nicht heute hier, morgen da einer von unsern Lieblingen und Gespielen das Zeitliche segnen und aus unserem Kränzchen wie eine Rose, die am besten riecht und am ersten bricht, ausfallen würde? Und was hat sie denn, die Welt, im Palast und in der Wächterhütte? Was hat sie denn,


So uns nicht naget und plaget?


In der Natur ist Tag und Nacht, Sommer und Winter, Leben und Tod. Wäre nicht Abend, wäre auch kein Morgen, wäre nicht der Tod, wäre wohl Leben? Hier ist der erste Eingang bei den meisten Menschen bis ans Vaterunser. Bei den andern das Thema, die Partition, bei den meisten ein Gerippe zur Ausführung, die mein seliger Vater, wenn der Edelmann communicirte, vorn in die Bibel zu legen pflegte, um keine Division und Subdivision zu verlieren.

[231] Die rechte Ausführung, vorzüglich die Applikation, ist der Zukunft vorbehalten. Zum Amen kommt es bei keinem Menschen. Gott allein ist Amen. Alle Verheißungen sind Ja in Ihm, und Amen in Ihm! Gott zu Lobe durch uns! Darum lieb' ich auch dieß Wort, das Amen fein, Amen, bis zum Herzandruck, bis zum Küssen – Gott der Herr ist überschwenglich; er thut mehr, als wir wissen oder verstehen. Wir fragen zwar alle Augenblick, wie Maria, wie soll das zugehen? und lachen wie Sara, weil ihr Herr alt war und es ihr nicht mehr nach der Weiberweise ging; allein Zeit bringt Rosen, und Hoffnung läßt die nicht zu Schanden werden, die im Dienst der Wahrheit und des Lebens stehen, und nicht auf den Wirrwarr dieses Lebens, sondern auf die Harmonie des Zukünftigen sehen; daher auch der Himmel musikalisch vorgestellt wird.

In Parenthesi merk' ich an, daß ich am Sterbetage deiner Mine faste und fasten werde, bis mich nicht mehr hungert, noch durstet, und auf mich fällt irgend eine Hitze der Angst. – Aber wie fast' ich? Nicht, daß ich mich verschlösse, sondern daß ich meine Lieblingsschüsseln selbst mit eigener Hand koche und mit eigener Nase rieche. Dann ist's keine Kunst zu fasten, wenn uns Feuer und Wasser im Exilio versagt werden. Sey getrost, mein Sohn! Der Trieb des Lebens hört nicht auf, sondern mehrt sich mit den Jahren; nur durch die Religion wird er eingeschränkt und zur rechten Ader gelenkt. Ich kann es dir versichern, daß meine Lust zum Leben so ziemlich versiegt ist. Wie sollte das zugehen, wenn nicht noch was dahinter wäre? Darauf verlaß dich! Es ist noch was dahinter.


Deiner Güte will ich trauen,

Bis ich fröhlich werde schauen


Weiter kann mein centnerschwer beladenes Herz weder schreiben noch singen. Wieder ein Absatz! – Meine Lippen sind gedörrt, [232] so, daß die Triller nicht aus der Stelle wollen, eben so wenig, als die Feder. Ich will morgen wieder eins versuchen. – Alte, mein Sohn, müssen aufs Vergangene, Junge aufs Zukünftige denken. Wer die Ursachen der gegenwärtigen Dinge und ihre Verbindung mit den zukünftigen übersehen kann, das ist ein weiser, das ist ein göttlicher Mann. Der hat Verstand, dem etwas leicht wird, was andern Menschen schwer ist; der hat Verdienst, der es seinen Nebenmenschen leicht machen kann. Ich wünsche dir wohl zu ruhen!


* * *

Mein Gott, nun ist es wieder Morgen!
Die Nacht vollendet ihren Lauf;
Nun wachen alle meine Sorgen,
Die mit mir schlafen gingen, auf!
Die Ruhe, wie der Schlaf, ist hin,
Ich sehe wieder, wo ich bin.
Ich bin noch immer auf der Erde,
Wo jeder Tag sein Elend hat,
Hier, wo ich immer älter werde,
Und häufe Sünd' und Missethat.
O Gott, von dessen Brod ich zehr',
Wenn ich dir doch auch nütze wär'!

Diese beiden Reihen hört' ich einmal von einer Bettlerin singen, und dieser Gesang ist mir in der Erinnerung noch so rührend, daß ich keine Zeile mehr weder abschreiben noch singen kann.

Wie hast denn du geschlafen? – Wenn man auch nicht gut wacht, wenn man nur gut schläft, so findet sich auch das Wachen.

Der Candidat erzählte jüngst ein Vorfällchen, das kürzer als seine Manschette, allein recht artig ist. Ein Bauer kommt nach [233] Mitau, um den Brief an seinen Sohn ja recht gut anzubringen. Er gibt ihn ab, und wartet bis der Postillon blaset, und nun bittet er ihn recht freundlich, doch ja den Brief gut zu bestellen. Lieber Sohn! Wir Menschen, denk' ich, machen es eben so, und auch du bist, mit deiner Erlaubniß, nichts mehr, nichts weniger, als dieser Bauer mit dem Briefe. Wir alle bitten den Postillon, den Brief, den er zwei Meilen trägt, gut zu bestellen. Wer erreicht seine Schicksale, nur über eine Handvoll Jahre, das sind fünf nach der Zahl der Finger? Wer bis an Stell' und Ort? Auch in Absicht deiner Mine bist du nach Mitau gereiset, und hast so lang gewartet, bis geblasen ward, und hast recht freundlich gebeten, doch ja den Brief zu bestellen. Sag am Ende, um nur mit einem Blick, mit einem einzigen, auf die nächstfolgende Station zu kommen, hätte wohl Mine füglich Superintendentin werden können? Wenn ich schwach bin, bin ich stark, sagt ein Apostel, der doch entzückt ward bis in den dritten Himmel, ins Paradies, wo er unaussprechliche Worte hörte, die kein Mensch ausdrücken kann. In Parenthesi, mein Sohn! Betrüge den Petrus und den Paulus nicht um ihr us. Scheer ihnen den Bart nicht, der ihnen so trefflich fleht. Recht Maß, rechte Elle, recht Gewicht. Sey nicht solch ein Ehrenschänder, als ein junger Candidat, der vor acht Tagen bei uns war, welcherlei es viel gibt unter den Deutschgelehrten. Der heilige Paul, der heilige Peter! O du hölzerner Peter du! Peter und Paul ohne us ist nicht Petrus und Paulus. Dein Vater selbst, der in solchen Dingen, wie du weißt, kein Zelot ist, und seinen Schlagbaum manchem öffnet, wobei ich halt rufe, ärgerte sich dieses Candidaten mit hinten gesteckten Locken. Du in dich selbst verliebter Narciß, der du der Kirche nicht einmal die Tonsur deiner Haare leistest, und dein Härlein mehr liebest, denn Sitte im Lande ist. – Doch ich mag keine Delila seyn, die Simsons Haupt perückendürftig machte, obgleich unser Candidat so wenig Simson ist, als ich Delila. [234] – Was wollte ich aber von Paulus sagen? Daß er im zweiten Briefe an die Korinther sich Gerechtigkeit widerfahren läßt: und dieß Wörtchen zu seiner Zeit, wer verdenkt es ihm? Ich bin nicht wider Selbstgefühl. Wer nicht im Geist und Wahrheit sagen kann ich, wie kann der du, er, ihr, wir, ihr, sie sagen? Jede Woche hat ihren Sonntag, und so hat auch der Herr unser Gott Stände eingerichtet. Wer wird dem Stolz das Wort reden? allein ich soll meinen Nächsten lieben, als mich selbst. Ich bin also das Original, mein Nächster die Copie. Ich enterbe meinen Bruder nicht, gebe meinem Nächsten sein Pflichttheil, behalte aber für mich, was Recht ist. So auch Sanct Paulus zu den Korinthern, der seine Lobrede anfangt, wie ich nie eine angefangen. Ihr vertraget die Narren, weil ihr klug seyd. Solch einen Eingang lasse ich wohl bleiben. Meine Korinther sind aber auch darnach.

»Ich habe mehr gearbeitet, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin öfter gefangen, oft in Todesnoth gewesen. Von den Juden habe ich fünfmal empfangen vierzig Streiche, weniger eins. Ich bin dreimal gestaupet, einmal gesteiniget, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht habe ich zugebracht in der Tiefe des Meeres. Ich habe oft gereiset, ich bin in Fährlichkeit gewesen zu Wasser, in Fährlichkeit unter den Mördern, in Fährlichkeit unter den Juden, in Fährlichkeit unter den Heiden, in Fährlichkeit in Städten, in Fährlichkeit in der Wüsten, in Fährlichkeit auf dem Meer, in Fährlichkeit unter den falschen Brüdern. In Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße. Ohne was sich sonst zutraget, nämlich daß ich täglich werde angelaufen, und trage Sorge für alle Gemeinen.«

O des vortrefflichen Paulus! O des theuren auserwählten Rüstzeuges, des Superintendenten unter den Aposteln! Da bin ich eben, wo ich hin wollte. Kann sich, lieber Sohn, Sanct Paulus [235] rühmen seiner Superintendentur, warum sollten wir vergessen, daß wir aus dem Stamme Levi sind, und daß ich fünf Pastorahnen von Vater- und vier von mütterlicher Seite zählen kann; daß einer meiner Ahnherren Superintendent und zwei Präpositi gewesen; daß Ehren Paul Ein horn mit uns von der Seitenlinie verwandt ist? Ist's denn nichts, Menschen vom Irrthum und Thorheit bringen zu der Wahrheit? Ist's denn nichts, Superintendent seyn? Der Herzog regiert über den Leib, der Superintendent über die Seele. Dein seliger Großvater sagte, wer ein kluges Buch schreibt, hat ein Edict ausgeschrieben, das nicht ein spannenlanges Ländchen, sondern die Welt beobachtet. Er ist mehr von Gottes Gnaden, was er ist, als diese Durchlauchtigen Häupter. Wenn ich die Wahl hätte, so wollte ich lieberNewton, als Czar Peter seyn, sagte unser Hauptcandidat. Dein Vater schüttelte den Kopf, was ist aber da zu schütteln? Und wenn nicht ein Dichter, ein Historicus dazu kommt, fuhr der Candidat fort (es ist immer derselbe mit den langen Manschetten), was ist denn des Helden größte That? Ein Held, ein Monarch braucht einen Dichter, einen Redner; aber diese können sich ohne ihn behelfen. – Dein Vater nahm den Candidaten bei der Hand, damit aber war die Sache nicht ausgemacht. Es ist kein Kleines, Gottes Diener zu seyn. Was ist der kaltbrandige alte Herr dagegen? Und doch ist er Minens Vater. Sein Flick von Literatur macht es nicht aus. Wie, sage selbst, wie hätte sich Hermann zum Schwiegervater eines Ehren Superintendenten geschickt, wenn auch Mine seine Tochter zur Superintendentin zu erkiesen gewesen? Wenn auch? O vergib mir dieses wenn auch, und oben die Frage: Hätte wohl Mine füglich Superintendentin werden können? Ein bösartiges füglich. Ja sie hätte füglich können. Ja, sie hätte können!

Du weißt wohl, wie dein Vater sich zu ärgern pflegte, wenn jemand Papier im Garten viertheilte, wenn Papierstücke auf der [236] Erde lagen. »Papier,« pflegt' er zu sagen, »gehört so wenig in den Garten, daß es das Auge beleidigt, so was im Freien zu sehen. Weißt du was künstlicheres, außer deinem Hemde, als Papier? Und doch muß erst dein Hemde alt werden, wenn Papier daraus werden soll.« In der Studirstube deines Vaters war freilich mehr zerrissen, als ganz. Da liegt der Mensch, sagt' er! – wenn ich ausfegen wollte, hieß es: laß ihn! Ich meines Orts, das weiß Gott, habe kein Blättchen entzweiet, und oft, wenn ich gern was vertilgt hätte, konnt ich's? Ich kann nicht zusehen des Knaben Sterben, hieß es von mir, wie von Hagar und Ismael! Obgleich Ismael ein Spötter war, ich aber kein Wort geschrieben habe, was ismaelitisch wäre. Die Frage: hätte Mine füglich Superintendentin werden können? und die Stelle: wenn auch – das wäre so etwas, das ich Lust zu vernichten hätte! Und der Brief an sie ist wahrlich des Feuers schuldig. – Selten, mein Sohn, ist ein Herz, das nicht mit dem Kopf über den Fuß gespannt wäre; oft wenig oft viel. Selten ist's, daß Kopf und Herz sich mit ein ander einverstehen, und dann spotten sie sich nach. Da spielt denn das Herz den Kopf, und der Kopf das Herz, und die beiden Gecken sehen sich als ein Paar Affen an! – Ja, sie hätte! – Mine hätte können! Wenn ein Hechtkopf aufgetragen wird, suche des Kopfs habhaft zu werden. Zwar ist's auch ein Fischkopf, der jedem Tyrannen schrecklich seyn würde; dich aber wird er erbauen: da fehlt nicht ein Stück von dem, was bei der Kreuzigung vorgefallen – Speer, Kreuz. – Wie steht's, wie geht's auf der Akademie? Laß dich nicht durch Minens Tod von deinem Fleiß abwendig machen. Sie studirt dort, du hier, beide Theologiam! Vergiß nie, mein Sohn, daß du im Dienste der Wahrheit und in keines Menschen Dienst stehest. Die Wahrheit ist Gottes. Professor Großvater, so gut ich ihm gleich bin, ist doch ein Mensch. Von den kopfhängenden Pietisten, dergleichen es in Königsberg an allen Ecken der Straßen geben soll, [237] laß dich nicht verführen. Die Hurer und Ehebrecher wird Gott richten. Ein Mensch, wie du, muß so seelenkrank in der Welt seyn! – Ist das nicht Jammer und Schade! Doch du wirst alles gewohnt werden, und Gewohnheit ist die andere Natur. – Minchens Anverwandte in Mitau sind Anverwandte meines Herzens durch Minens letzten Willen worden. So lang' ich Brod habe, soll's ihnen gebrochen werden. Die guten Alten! Warum sollt' ich ihnen sogleich sagen lassen, daß Minchen todt wäre? Was die Minchen gesegnet haben! – Sie braucht euren Segen nicht mehr. Jetzt wissen sie ihren seligen Tod; denn die Wahrheit zu sagen, ich wollte mir diese Pension von Segen selbst zuwenden; da hab' ich einen Geiz, der seines Gleichen nicht hat. Sieh! das ist ein Capitälchen, das in der himmlischen Bank aussteht, wo die Zinsen auf den Tag fallen. Eile mit Weile. Ein Arzt, der einem Schaden vorbeugt, ist theurer und werther, als einer, der ihn heilt. Ich weiß nicht, ob du Minens wegen ein Schwarzröckler werden wirst? Ich vermuthe es und bin drob fröhlich, weil du dich schon zeitig an diese Farbe gewöhnst, die deine einzige, deine Leibfarbe, werden wird; wenigstens würd' ich dir zu schwarzen Knopflöchern und Knöpfen nämlicher Farbe anräthig seyn. Was Gutes kann man nie zeitig genug anfangen. Schwarz kleidet jeden Menschen. Hier wird Minens Geschichte sehr geheim gehalten. Alles schleicht incognito. Du kannst sehr leicht rathen, warum? Der Herr v. G. kam jüngst, bloß dieser traurigen Geschichte wegen, zu uns, und so was muß man sehen, wie sie ihm nahe ging. Die Frau v. G. soll gesagt haben: Da sieht man, was nicht adelich, nicht – Wie wenig beneid' ich ihr diesen Adel! Und wie wenig hab' ich es Ursache, wenn dich Gott zur Superintendentur aufgehen läßt. – Ich werde es freilich nicht erleben, in diesem Jammerthal; allein solch eine Nachricht kommt sehr schleunig und durch einen himmlischen Courier gen Himmel! – und da werd' ich mich freuen, wenn [238] mir meine englischen Gesellschafter oder Gesellschafterinnen (wie soll ich sagen? es wird da, glaub' ich, kein Männchen, kein Weibchen, sondern alles wird Engel seyn) Glück wünschen werden. Habt Dank, ihr lieben guten Engelein wegen eurer Glückwünsche! Schon da ich mit ihm gesegnet ging, schon im Mutterleibe war er Superintendent und ihr werdet hören und sehen, in wie viel Abgewichenen er das glimmende Docht anfachen, wie viel Fromme er befestigen, wie viel unschuldige junge Seelen er gründen werde! – Wir werden so ein Plus im Himmel haben, daß man darüber erstaunen wird, und kommst du selbst einmal, lieber Sohn, wenn dein Stündlein vorhanden ist, zur ewigen Freud' und Herrlichkeit, wie wonnereich wird es mir seyn, die Stimme zu hören: ei du frommer und getreuer Erzknecht! Das ist eine andere Ehre als die Canonisation, die wir einem unserer Vorfahren erwiesen, der dir so ähnlich sieht wie ein Ei dem andern, als dessen Kupferstich wir dem Himmel nahe brachten, indem wir es in der Speisekammer aufhingen! Du wirst es nicht bei Ostereiern bewenden lassen, lieber Sohn, welche dieser unser Vorfahr in seiner Gemeine rühmlichst abstellte, sondern mit offenbaren im Schwange gehenden Sünden so umspringen, wie er mit den Ostereiern. Mache mir, geliebtester Sohn, die Freude, daß ich von dir im Himmel höre und bei dem: gehe ein zu deines Herrn Freude! ich, als des Triumphators Mutter mit triumphiren und jubiliren könne in Ewigkeit. Gern werd' ich dich dort in Pontificalibus sehen, das heißt nicht in Mantel und Kragen, sondern als himmlischer Superintendent. Ohne dir den Tod zu wünschen, wenn du hier zu leben Lust hast, stell' dir vor, wie es dich selbst ergötzen wird, wenn der unddie kommt, dieser und jene, und dir dankt, daß du das glimmende Docht angefacht, daß du es befestigt, daß du es gegründet hast! Da wirst du manche That emporgeschossen finden, die du aus einem Wortkern gezogen hast! O, der unnennbaren Wonne! – Ist dieß schon so schön [239] in der Prophezeiung, was wird die Erfüllung seyn! Guter Oberhirte


Gibst du schon so viel auf Erden,

Ei was will im Himmel werden!


Du weißt, mein Lieber, wie ich zuweilen mich von Grund aus recht von Herzen freuen kann in dem biblischen Sinn: freuet euch in dem Herrn und abermal sag' ich euch, freuet euch! Dein Vater pflegte zu sagen: bei der rechten Freude sind alle Fenster beim Menschen offen, und da hat er ganz recht. Man fühlt solch eine Freude durch alle Organe. Ich fliege zwar nicht an allen meinen Gliedern, wiewohl diese Freudenflügel bei einigen im Gebrauch sind; allein alles ist in Bewegung an mir. Wo ist aber diese Freudensonne geblieben? Sie ist hin – ihre Stätte ist nicht mehr. Eben war es bei mir so schön Maigrün an der Erde und Maiweiß auf den Bäumen, und siehe da die Botschaft: Mine ist todt, zertrat jedes Gras, das sein Haupt heben wollte, und zog den Bäumen das weiße Hemd aus, so daß alles wüst und leer steht! – Alles ward so eilig in einem Nu, in einem einzigen, alles so kurz und klein, so verheert und zerstört, alles so bettelarm entkleidet, daß es auch den Kaltherzigen jammerte. Deinem Vater, das sah ich, geh' ich so nah', daß ich ihn drob liebe, als könnt' er hebräisch wie Wasser. – Der gute Mann seines Weibes, der gute Vater seines Sohnes! Alles übrige, was ein jeder Christ und jede Christin auf seinem und ihrem Herzen und Gewissen hat, die Noth der ganzen Christenheit, besonders das gegenwärtige und zukünftige Gewitter fasse ich zusammen in die schönen Worte: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn! – Sonst, mein lieber Sohn, muß wohl das Lichtere den kleinern Theil ausmachen. Rothe Weste, blauer Rock. Wer kann die stets lustigen Leute ausstehen? Der kleinste Theil des Lebens kann nur [240] dem Vergnügen gewidmet seyn! – Dem allen unerachtet will ich dir doch wegen der noch blühenden Jahre das meiste Licht erlauben, wenn nur das kleinste, Knopf und Knopflöcher schwarz sind. Heller Futter als die Farbe des Kleides pflegt dein Vater zu sagen, allein er verzeihe mir. Dieß würde heißen: sie glänzen schön von außen oder der hochwürdige Herr weiß sich nicht zu regieren und zu führen. Also laß dein Licht leuchten vor den Leuten, trag' ein lichtes Oberkleid und beweise, daß du auch mit Pharisäern und Obersten im Volke zu Tische zu sitzen verstehst – ohne deinem Innerlichen, dem inwendigen Menschen, dem schwarzen Unterfutter zu nahe zu treten. Ich beharre deine treue Mutter und Fürbitterin bei Gott!

Deines Vaters Brief, der ihm durchweg so viel Schweiß gekostet, als mir der Anfang, leg' ich diesem Sendschreiben bei!


* * *

Der Vater Amaliens und ich nach meiner Zurückkunft von dem Nathanael Gretenschen Myrtentage.

Er. Wenn das Ehegeld in Curland nicht höher ist.

Ich. Schwerlich – es gibt Fälle, sie sind aber selten.

Er. So ist die Sache richtig. Meine Frau, um mit der Thür ins Haus zu fallen, wünscht den Herrn v. G. zum Schwiegersohn. Er hat ihr sein Ja so deutlich ge macht, nicht etwa zu verstehen gegeben, so deutlich gemacht, daß es jedem Menschen sichtbar ist, nur hörbar noch nicht. Die Aussprache des Worts fehlt. Angeschrieben steht's in seinen Augen, Mund, Händen, Füßen.

Ich. Sie sagen mir da etwas –

Er. Was Sie selbst wissen.

Ich. Ich?

Er. Hätten Sie es denn nicht gelesen? Doch stand es so leserlich, so fraktur-groß.

[241] Ich. Von wem geschrieben?

Er. Ich sehe wohl, daß Sie in dergleichen Schrift nicht gelehrt sind; das hab' ich von jeher Ihretwegen behauptet. Gelt! Sie sind ein Abstemius, obgleich das Gerede im Weibercirkel ging, Sie hätten wirklich ein Mädchen unter die Haube gebracht, das heißt bei uns: Sie wären verheirathet. Bald darauf ging es: Sie wären Wittwer! – So oder anders, ich kann in Sachen meiner Tochter –

Ich. So oder anders sind Sie mir lieb.

Er. Hören Sie nur, auf Betrügerei steht ein böses Gewissen, auf Wind steht Verachtung. – Warum der Streit zwischen Geist und Fleisch, zwischen Fleisch und Blut? Gerade aus ist am nächsten. Sie kennen mich einestheils und hätten mich anderntheils noch näher kennen lernen können, wenn Sie öfter bedacht, daß wir uns in die Fenster sehen können und so nahe Nachbaren sind. Mit Ehren zu melden bin ich so offenbar wie mein Laden. – Am Ende was wäre denn, wenn meine Tochter Frau v, G. würde?

Ich. Frau v. G.?

Er. Nicht anders.

Ich. Soll ich ohne offnen Laden so offen seyn wie Sie? – Herr v. G.

Er. Ich bitte –

Ich. Herr v. G.

Er. Zu dienen.

Ich. Ist Studirens halber in Königsberg, und gewiß nicht, um sich eine Lebensgehülfin zu suchen.

Er. Und wenn er was ungesucht findet?

Ich. Ist ein Edelmann.

Er. Ha, da liegt der Hund begraben – wohl recht, der Hund! Edelmann! Er Edelmann, ich Kaufmann. Mann ist [242] Mann. Herr v. G. wäre nicht der erste und wird der letzte nicht seyn, der es so macht, ob es gleich freilich nicht al corso, nach laufendem Preis ist, ich finde nichts in den zehn Geboten –

Ich. Gott und Natur haben nichts dagegen, allein der Lauf der Welt –

Er. Laßt die Welt einmal gehen und nicht laufen.

Ich. Lauf oder Gang –

Er. Wenn die Welt geht und nicht läuft und sich nicht übereilt, kann meine Tochter so gut Ja sagen als ein Fräulein –

Ich. Und kommt so gut von Adam und Eva als ein Fräulein –

Er. Nicht anders.

Ich. Aber wir sind nicht bestanden in der Wahrheit, und eben darum Stände, Königreiche, Fürstenthümer, Grafen, Freiherren, Herren und deßgleichen. Ehe die Welt wieder ins Paradies kommt, und das möchte wohl eine Zeitlang dauern. – Noch ist an diese Gleichheit nicht zu denken. Meinen Sie wohl, daß wir's erleben werden?

Er. Curland ist doch aber ein freier Staat.

Ich. Das heißt: der Edelmann geht in Stiefeln zur Kur, wenn es ihm so einfällt.

Er. So! das ist alles?

Ich. So ziemlich! Ein Cavalier wenigstens heirathet ein Fräulein und ein Fräulein einen Kavalier, des freien Staats unerachtet.

Er. Und das ist ein freier Staat?

Ich. Wie es heißt!

Er. Basta! Das Weiberzeug! Ich hab' es gleich gedacht, Herr v. G. könnte mein Kundmann nicht seyn; aber da wollen die Weiber immer hoch hinaus. Der Henker mag wissen, was am Ende wird. Ein Schustermädel will einen Kaufmann, eines Kaufmanns [243] Tochter einen Geheimenrath, die Tochter des Geheimenraths, die wenigstens Emilia Philippina Polyxena Alexandria heißt, übrigens kein Hemd, wenigstens keines von holländischer Leinwand, auf dem Leibe hat, will gar einen Fähndrich, ein Fräulein schlechtweg einen Grafen u.s.w. Das ist schon Preis courant; aber da bleibt denn auch manches Mädel ein Ladenhüter, wenn sie nicht klein beigibt.

Ich. Sie sind ein vernünftiger Mann.

Er. Decourtiren Sie immer etwas von diesem Lobe. Ich liebe meine Frau, und da passirt denn zuweilen unrichtig Maß, Gewicht und Elle.

Ich. Ihre Tochter selbst –

Er. Sagen Sie nicht! Der Jäger hat ihr das Herz getroffen.

Ich. Das bedaur' ich!

Er. Ländlich, sittlich! Costi, das heißt: hier auf dem Platz ist es so was ungewöhnliches nicht, daß ein Edelmann Hans und eine Bürgerliche Grete ist.

Der ehrliche Nachbar bat mich dringend, das Wort: ich liebe auszulöschen, das auf dem Gesichte des Junker Gotthards mit so blendenden, goldenen Buchstaben angeschrieben wäre, und ich versprach es dem Biedermann. Der Vater hatte einen Collegen, einen Krämer bei der Hand, der den Junker Gotthard ersetzen sollte. Das Mädchen wollt' um alle Welt nicht. Sie hatte, wie es sich von selbst versteht, ihr gebranntes Herzeleid vom Vater, Rückhalt aber von der Frau Mama, die durchaus ihr Blut, wie sie sagte, ins Reine bringen wollte. Ihr Vater seliger war Sekretär und hatte des Jahrs praeter propter hundert Reichsthaler jährliche Einkünfte gehabt, womit ihr Ehemann gewiß kaum vierzehn Tage haushielt, aber des Blutes wegen –

[244] Eine Ermahnung an Herrn v. G., der von der Jagd kam und sich noch ein Viertelstündchen vom Schlaf losbitten mußte.

Es kostete ihm doch einige Mühe, die Frakturbuchstaben für die Blondine auszustreichen, eigentlich auszukratzen. Die Reise kam ihr sehr zu statten. Wären wir länger in Königsberg geblieben, würd' er sich vorzüglich an die Brunette gewendet haben, die ihm der Testator eigentlich beschied und die, so stolz sie war, mit keiner Sylbe an die heilige Ehe dachte. Sie wollte nur siegen, bloß siegen, aus der Beute machte sie nichts. Sie theilte sie andern aus. Mit den lieben Blondinen, sie wollen gleich heirathen, sagte Junker Gotthard. – Ich hab' es schon irgendwo bemerkt, daß Junker Gotthard beide, die Brunette und Blondine liebte. Die Blondine hatte indessen, wie das mitgetheilte Gespräch es ausweist, nach der Zeit die Oberhand erfochten – unfehlbar weil sie mir legirt ward (wer ißt nicht gern vom verbotenen Baum), obgleich auch die zehntausend Liebesgötter, die auf dem Busen der Brunette tanzten, einen Beitrag zum Siege für Amalien das Ihrige geliefert haben können. – Das Nein, welches Amalia dem Collegen ihres Vaters, dem Krämer halsstarrig sagte, so eine blonde sanfte Stimme sie auch sonst hatte, that mir Amaliens halber leid. – Mich dünkt, sie hätte Ja sagen sollen, wenigstens kein so halsstarriges Nein, welches keiner Blondine eignet und gebührt.

Ich kann nicht sagen, daß der Zeitpunkt des Herrn v. G. gekommen wäre, zu Hause zu bleiben. Stoßweise kam es ihm so. Er war oft auf der Jagd, wozu ihn, außer den wohlfeilen ihm als plus licitanti zugeschlagenen Feldmarken, die Homerischen Hunde, Argos genannt, verleiteten, die ihm ganz vortrefflich einschlugen. Er wußte durch den Ton, durch die Aussprache des Namens, die Argosse so von einander zu unterscheiden; daß ich anfange zu glauben, man könne sechs Söhne Johann taufen lassen, [245] und der von ihnen gerufen wird, könne wissen, daß just er es sey, der unter den sechsen aufgefordert worden.

Laß uns, sagte ich dem Junker Gotthard einen Abend, sobald als möglich von hinnen gehen. Amalie wird sich bedenken, und dem Collegen ihres Vaters, dem Krämer, nicht mehr halsstarrig, sondern blond begegnen, und dann gehst du mit dem Gedanken aus Königsberg, Amalien in ihrem Lebenslauf keinen Stein der Aergerniß, über den sie leicht fallen können, in den Weg gewälzt zu haben! Wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt! Junker Gotthard sträubte sich wegen der Abreise, und dieß nahm ich als einen Beweis seiner Liebe zu Amalien. Ich sann auf Mittel und Wege, ihn abzubringen, bis es, ehe ich mich versah, herauskam, daß die Feldmarken den eigentlichen Grund des Widerstandes enthalten. Er hatte sie auf vier Jahre sich zuschlagen lassen, wie wenig sagte er, habe ich sie benutzt. Alle Augenblick Setzzeit! – Eben dieser Setzzeit halber komm, Bruder, ich bin fertig!

Unser Lebewohl war kurz und gut. Amalia nahm auf eine Art vom Junker Gotthard Abschied, daß wenig Hoffnung für den ehrlichen Krämer blieb. Er beklagte sich gegen sie wegen der entbehrten Jagdnutzung, daß es mir so schien, als wollte er die noch künftige Pachtzeit ihr zum Andenken überlassen. Ich mischte mich in die Unterredung, und sie ward beigelegt. Der Professor Großvater wünschte mir so altklug Heil und Segen, daß, wenn ich ihn nicht schon so herzlich geliebt hätte, ich es jetzt angefangen haben würde. Ich konnte nicht weg von ihm. Es ist, wie mich dünkt, kein unangenehmer Anblick, wenn ein alter Mann und ein Jüngling sich so zusammenpassen, wie der Professor Großvater und ich. Den Großvätern ist eine solche Art eigen; sie gewöhnen es sich bei ihren Enkeln an! Die Großmutter in Sterbensgröße schlug dießmal kein Feuer aus ihrem rechten Auge. Sie ließ sich nicht sehen. Mir kam es vor, daß sie zu ihrer Tochter gegangen.

[246] Freund, sagte der Alte, ich halte nicht viel von Leuten, die Länder und keine Karte gesehen haben. Sie gehen, das weiß ich, von dem Ganzen auf die Theile, und das ist der Weg zur Deutlichkeit. Eine Erkenntniß, die ohne einen überdachten Zusammenhang derselben mit andern Erkenntnissen entspringt, heißt bei mir ein Einfall. Wer hat nicht alles Einfälle? Schade, daß der gute Großvater so wenig gesellig war. Ich glaube, seine Schlafmütze war schuld daran. Ein großer Kopf ist indessen gewöhnlich ungesellig. Geselligkeit hat nur was Gemeines, was Unvollständiges. Man ist sich nicht selbst genug. Diese Größe hatte unser Großvater nicht. Man sah es ihm an, daß Umgang sein Bedürfniß sey. Er war fröhlich und guter Dinge, wenn seine Hausmütze ihm die Erlaubniß ertheilte, in Gesellschaft zu gehen. Beim königlichen Rath hätte er in alle Wege ein ordentliches Mitglied werden sollen. – – – Das Schreien, sagt man, befreit den Augenblick von Schreck. Es treibt das zusammengezogene Blut auseinander, und die Natur selbst hat dieses Hausmittel dem schönen Geschlechte verliehen. Das war ein Glück, sagte der Professor Großvater, daß ich schrie, nun ist's über. Er hatte die Büste des Homer auf einem seiner Repositorien, die herabstürzte, da er zu heftig aufstand; ich fing sie auf und dünkte mich groß, diesen Kopf in meiner Hand zu haben. Schnell faßte ich ihn auch mit der andern an, und wahrlich, solch ein Kopf verdient beide Hände. Der Großvater freute sich über meine Freude, und wir brachten den Kopf wieder dem Himmel näher, wohin er, der blinden Heidenschaft unerachtet, eher hin gehört, als der Kopf des Eierheiligen, dessen Kupferstich in der Speisekammer hängt. Bei allem was fällt, bemerkte der Großvater, ist uns so, als fiel es uns auf den Kopf. Wer glaubt nicht, jede Rakete steige gerade auf uns herab? Fast schien es, daß wir das Examen bis auf den Homer, den ich aber dießmal nicht übersetzte, sondern der mir auf den Kopf fiel, wiederholten. [247] Dem Kunstrichter zu dienen noch die Glosse, daß die Büste von Holz war. Ei, sagte der Großvater, ich habe gehört, Sie wären Wittwer geworden. Beim Examen hieß ich diesen Seitenblick auf Minen Traufe, und wußte ich nicht, was ich geantwortet, nur das wußte ich, daß es nicht griechisch, nicht lateinisch, nicht deutsch war, und daß ich mich lieber noch einmal examiniren, als diese Frage an mich ergehen lassen wollte. Jetzt war ich gefaßt und sagte dem Großvater, daß ich Minen verloren. – Schade, sagte er. Der Todesfall wird Sie in Ihrem Studienlauf gestört haben. Nicht im mindesten, antwortete ich; er ist mir sogar förderlich und dienstlich gewesen. Wie das? Schönheit gefällt unmittelbar; die Wissenschaften mittelbar. – Ich hatte des Weges nichts zu bestellen. Der Professor merkte es mir ab und umarmte mich! – Wir nahmen sehr rührend Abschied. Allem Vermuthen nach, sagte er, werde ich so wenig einen neuen Beweis meiner Großvaterschaft erleben, als Ihre Zurückkunft. (Seine Tochter war hektisch) – Mir schon recht, setzte er hinzu, ich habe gelehrt, und will gern lernen; der Schatten des Todes enthält, wenn er sich enthüllt, Klarheit des Lebens – die größte Unvollkommenheit der Natur den Weg zum ewigen Leben. Der Professor empfahl mir Aufmunterungen, weil es auch in Wüsten Versuchungen gebe, und nahm so Abschied, als wenn er unter Minens Leichenbegleitern gewesen. – Schließlich bat der Großvater, dem Junker Gotthard für die richtige Zahlung zu danken, wenn er nicht die Ehre haben sollte, diesen Dank selbst zu sagen. Das baten alle akademischen Lehrer, denen ich mich empfahl. Man bemerkte, daß selten ein Curländer so richtig Zahlungstermin gehalten wie Junker Gotthard. Gern, das weiß ich, hätte Gotthard den Professor Großvater gesprochen, und wär' es nur gewesen, um ihm des Argos halber verbindlichst zu danken, wenn er sich nicht des Dankes wegen richtig bezahlter Collegiorum geschämt hätte.

[248] Der Kreisrichter wollt' uns durchaus den Abend ein Mahl geben, welches wir aber ausschlugen. Gotthard war in die Stelle eines Hausofficiers wirklich gerückt, die ein anderer ihm überlassen, und sah sich also, dieses Verhältnisses wegen, gedrungen, seinen Erlaß nachzusuchen, den er mit vielen höflichen Ausdrücken erhielt. Mit eins fing der Kreisrichter an: Sie reisen ab, eben da in Ihrer Gegend ein lustiger Sprung vorfällt: Dieß sollte Amalia und der unerhörte Krämer seyn. Gotthard hatte Amalien in des Kreisrichters Haus eingeführt. Junker Gotthard versicherte, diese Neuigkeit wäre kaum reitergahr, und da er merkte, daß man ihm auf den Zahn zu fühlen anlegte, so macht' er ein Rechts um kehrt euch, und der Kreisrichter war so klug als zuvor. – Die alte und wohlbetagte Frau hatte ihr Gehör, diesen Sinn der Geselligkeit, verloren, und war eben dadurch argwöhnisch und verdrießlich worden. Gesicht, pflegte mein Vater zu sagen, ist im Dienst des Verstandes, Gehör im Dienst der Vernunft. Was diesen Dienst betraf, so hatte die gute Frau ihn wahrlich nicht übertrieben. – Wenn Gott ihr nicht hilft, sagte der Kreisrichter, so geht meine Brust verloren, die ich zu meinem Amte wahrlich nothwendig habe. Diese Hülfe, das sah man dem engbrüstigen Manne an, war nach seiner Meinung ein baldiger Tod, der nach menschlichen Berechnungen auch nicht lange mehr ausbleiben konnte. Sie ließ, obgleich wir beide keinen Lungenfehler hatten, uns nicht vor. – Was meinst du, sagte Gotthard, da wir gingen, wenn er Wittwer wird, und wieder heirathet, ob er die Hausofficiere behält, oder die Stellen eingehen läßt?

Bei unserm königlichen Rath mußten wir die letzte Mahlzeit halten. Junker Gotthard hatte überhaupt keine Collegia gehört, und war auch nur, wenn der königliche Rath es nicht länger aussetzen konnte, und eine große Mahlzeit gab, unter diesen Gästen. Es gefiel Gottharden dieser Cirkel, bestehend aus einem Officier, [249] einem andern königlichen Rath, einem Prediger und Professor, ungemein, und wenn eben dieser Professor ihm nicht wegen richtiger Bezahlung seines Collegiums gedankt, und ihn dieses Danks halber auf eine Viertelstunde in Verlegenheit gesetzt hätte, Gotthard wäre noch weit vergnügter gewesen. Bruder, sagt' er, wie wir weggingen, Gesellschaften solcher Art machen weit klüger als Collegia. Die Erkenntniß aus Büchern ist todt, die aus Gesellschaften lebendig. Sie hat eine öffentliche Probe ausgehalten, sie ist abvotirt.


Nach Göttingen.


Berlin, den – – 17 –


Den König, den König, nicht einen König, den König hab' ich gesehen? Gern möcht' ich sagen König, wenn's nicht undeutsch wäre. Von Angesicht zu Angesicht, lieber Vater, gesehen! Das nenne ich sehen; wenn man so hörte, würd' ich sagen: er predigt gewaltiglich. Dich, mein Vater, hab' ich so gehört, wie den König gesehen! Solch ein Auge! – Hat er Augen? Sterne hat er, Sonnen, die ihr eigen Licht haben und Strahlen werfen. Er ist die Experimentalphysik zu deinen Grundsätzen über den monarchischen Staat. Herr v. G. der ältere, das wett' ich, würde huldigen, wo nicht mit den beiden Schwurfingern, so doch innerlich. – Bis recht zum Herzen bringt, glaub' ich, keine Huldigung, sie geschehe dem König, oder sonst wem. Mein Reisegefährte ist in Beziehung der Monarchie dem Bilde seines Vaters ähnlich. Ich behalte mit Fleiß deine Distinction bei, nicht ihm, sondern seinem Bilde ähnlich – nicht die andere Welt empfinden, heißt es, sondern die Kräfte der andern Welt. – Der dem Bilde seines Vaters ähnliche Sohn stand, sah und war weg – weg war er! – Er hätte nicht angelegt, wenn das Wild ihm zu Fuß gefallen und gehuldigt hätte. – Was wahr ist, ist wahr, [250] sagte der gute Wildfänger zu Hause, nachdem er sich von der königlichen lieben Sonne Licht und Pracht im Schatten erholt hatte. Was wahr ist, ist wahr! Ein besonderes Ding, König zu seyn! Was wahr ist, ist wahr! Dieser da! Groß, sehr groß, wie ein Löwe! (um beim Wild zu bleiben) und wenn er Liebhaber von der Jagd wäre – – »und wenn er aufhören möchte, der König zu seyn!« Ob ich ihn recht beim Worte gefaßt, ob ich recht eingegriffen, stelle ich deiner reifern Entscheidung anheim. Vater! die Augen! die Augen! Die Nase, Stirn, Hand, Gang, alles königlich. – Wenn er sie doch schonen möchte, die großen Königsaugen, und sie nicht so hin- und herwerfen, oft und auf Leute, die des Blickes nicht werth sind – wahrlich nicht. Nach allem Menschenmöglichen hab' ich mich erkundigt. Der kleinste Zug hat einen König. – Man ißt bei ihm; er ißt bei keinem seiner Unterthanen. Keiner würd' ihn, wenn der Legitimationspunkt zum Regiment je zur Frage kommen sollte, seiner Vollmacht wegen in Anspruch nehmen. Er trägt sie unterschrieben und besiegelt in Gedanken, Geberden, Worten und Werken. So viel Siegel, daß der Lack ordentlich verschwendet ist. Feiner Lack, Vater! – Gleich wie ich ihn sah, dacht' ich, warum reisen denn nicht Dichter, Maler, Bildhauer nach diesem Ideal eines königlichen Aussehens, nach diesem Bilde des Königs? Er herrscht und regiert. Regenten gibt's auch in der Schule. Mein Rector magnificus, den ich das letzte halbe Jahr hatte, regiert' im rechten wahren Sinn; allein herrschen kann nur König Friederich! – Beim Regieren wird's schwer! Du hättest hören sollen, wie Se. Magnificenz Krone und Scepter niederlegten, als wenn Sie sich gebadet hätten, so leicht, so wie neugeboren. Herrschen sieht immer leicht aus, so leicht als einschlafen. Eins, Vater, mit Sr. Majestät Erlaubniß, gefällt mir nicht. – Was ich mich geärgert habe, daß Er die Flöte spielt, das soll er dem Apoll überlassen, wenn er in der Schäfermaske ist. [251] Sage, Vater, gibt's ein königliches Instrument? Ich kenne keines. Die Flöte? Freilich, da der König sie bläst scheint es, es könne etwas aus ihr werden. – Einige glauben gar, sie wäre gekönigt, in den Königsstand erhoben. O, ihr Kleingläubigen! Ich find' es nicht. Blasen? Kann man denn nicht den Odem zum Worte sparen, den Odem, den göttlichen Spiritus, den Geist oder das Bild von ihm! – Aber der König läßt sich nie hören, er bläst die Flöte eben so, als er sich im Schlafgewand, wenn man es so nennen soll, sehen läßt. Eine Schlafmütze hat er nie auf seinem königlichen Haupte gehabt. Sie sticht überhaupt schlecht mit der Krone ab. Sein Hut steht ihm, als eine Krone! So trägt keiner seinen Hut. Der Hut ist überhaupt ein Hauptkleidungsstück am Könige. Der König von Polen mit einer Mütze, der Sultan mit einem Bund machen keinen Einwand. Den Bischöfen ihr Insul! Wenn der König grüßt, du solltest sehen, Vater, wie er den Hut faßt! – Seine Kleidung? Nichts was neu anschiene. Ein neues Kleid ist nicht königlich! Am Hut, der gewiß nicht neu war, keine Verzierung! Vater, durchweg ein König! Alles so natürlich. – Thäten wir es, wär' es die äußerste Affektation.

Aber wieder von der Flöte. Nur die haben seine Triller, seine Läufe gehört, die ihn nicht als König ansehen dürfen. Freunde! Fremde! – Tonkünstler! Ein König, Freunde? König Friedrich soll einen haben oder ein Paar, und das ist viel! – Ich hätte nicht das Herz, es zu seyn; auch du, Vater, so sehr du Monarchenfreund in abstracto bist, hättest du wohl göttlichen Ruf, es in concreto zu seyn? Immer gerade, wer kann sich halten? – Nur die so geschnürt sind, und dann thun es nicht sie, sondern das Eisen.

Die Verse, die er macht? Auch das könnt' er bleiben lassen und es dem Voltaire anheim stellen.Französische, Notabene gereimte, Verse! hättest du das gedacht, Vater? Gott der Herr [252] hat nie in Versen geredet; Könige tragen sein Bild. Es sind Götter der Erden. – Das schwerste Stück Arbeit eines Dichters ist, wie mich dünkt, Gott den Herrn redend einzuführen. Wenn Gott zu Menschen spricht, ist es Prosa. Den Donner selbst ist wahre Prosa. – Wir Menschen, wenn wir zu Gott sprechen, poetisiren, und das ist nicht ohne –

Du pflegtest zu sagen, Vater, jeder große Mann hat einen Vers gemacht, es sey im Wachen oder im Schlaf. – Newton so gut wie Rousseau, und ich glaub' es dir aufs Wort, dir, dem einzigen, dem ich aufs Wort glaube und als Sohn zu glauben von Gott und der Natur angewiesen bin, wofür ich dem lieben Gott Dank sage für und für. Da, dünkt mich, hab' ich die ganze Pflicht des Sohnes zum Vater gesagt. Christus verlangt selbst nichts mehr, da er uns zu Kindern Gottes berief, erleuchtete und heiligte.

Des Königs Poesie. 2 Gern, lieber Vater, hätt' ich mir den König abmalen lassen, allein da ist er so eigen, wie Alexander, mein Vetter.


* * *


Du hast mir oft und viel, lieber Vater, den Schlüssel zu deiner Monarchenliebe behändigt, und wie viel hab' ich nicht, wie sehr viel, was ich noch weglege, weil du dieses Depositum mit der Ermahnung zu übergeben pflegtest: Wintersaat – kommt Zeit kommt Rath! Wenn ich gleich, wie du weißt, das erste Siegel von ἀνέχου καὶ ἀπέχου gebrochen; dieß Siegel soll mir heilig seyn. Es gibt Dinge, die durchaus Jahre erfordern. Leibnitz war zwar [253] im fünfzehnten Jahre Magister; allein als Magister war er nicht Leibnitz, und da er schon Leibnitz war, wie oft fiel er in den Magister! – Ich bescheide mich von selbst, daß ich gewisse Dinge, die du für mich eingepackt hast, noch so anzusehen verpflichtet bin, wie die meisten Menschen einen Folianten. Wenn ich gelegene Zeit habe – oder wenn ich volljährig bin; denn wahrlich, ein Foliant in der Hand eines Knaben ist nicht gleich und gleich, das doch allein sich gesellen, sich paaren sollte. Zwar hab' ich oft in meinem Leben Folianten getragen, und stellenweise, durch deine Güte, aus Folianten, die einige Leute, ich weiß nicht warum, geradeweg Quellen heißen, geschöpft. Quellen im gemeinen Leben sind im Verhältniß mit andern Gewässern nicht Folianten.

Verzeih, Vater, meine Altklugheit, die in diesem Briefe hie und da hervorflicht. – Der König von Preußen, oder sein Blick, gab mir Veniam aetatis. Ist man doch heiter am heitern Tage. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht des Dafürhaltens seyn sollte, du wärest darum ein Monarchenfreund, weil du ein Menschenfreund bist; der Monarchen wegen ist's nicht. Da dem Herrn Christo, deinem Herrn, eine Münze vorgezeigt ward, was sagt' er? Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Die Monarchen sind unseres Herzens Härtigkeit halber von Gott gegeben, und da nur ein Gott ist, so ist nach deiner Meinung die Monarchie die klügste, die natürlichste Staatsform. Sie ist die Theokratie in höchst fehlerhafter Uebersetzung. O Gott, wenn sie doch einmal Dr. Martin Luther übersetzen wollte, so ins ehrliche Deutsch! Monarchie ist der Freiheit halber da, die dem menschlichen Geschlecht ins Herz geschrieben ist. Der Monarch soll so lange grünen und blühen und leben und hoch leben, bis die Unterthanen zu ihm kommen und ihm sagen: nun sind wir alle so, daß, wenn uns Gott der Herr ins Paradies setzen wollte, wir nicht essen würden von der verbotenen Frucht, Jetzt ist kein Mein und [254] kein Dein mehr zu verzäunen nöthig, wir brauchen keine Besatz- und Hypothekenbücher und keinen rothbeschlagenen Richterstuhl weiter. Sey, lieber Herr König, wie unser einer. Sey mit uns, wie Engel Gottes im Himmel, wie Adam vor dem Fall! – –

Hab' ich dich nur von weitem verstanden, so schreibe mir ja, Vater, sonst hilf mir zurecht mit einer authentischen Interpretation.

Die meisten Menschen reden wider den Staat, wider den König. Dergleichen gibt's in Preußen, so wie überall; indessen hilft der König sich mit seinen Augen. Sein Auge ist sein Miniatur. Wenn die Berliner, seine nächsten Nachbarn, politisch kannegießen – sieht er, und sieht alles rings umher treu und hold, folgsam und gehorsam. – Er hat ein Gesicht, das man sehen muß,. so oft es zu sehen ist. Er komme, wenn er wolle, jedes läßt liegen, was er treibt, sieht, oder will sehen. Es ist, als wenn heraus gerufen würde. Die Mutter hebt ihr Kleines in die Höhe und der Junge bleibt starr! Das Mädchen lächelt! Er ist selten in Berlin. In Potsdam ist er König; in Sanssouci Mensch. Aber, Vater! warum redet alles wider die Obern? Es ist die natürliche Freiheit, welche sich vordrängt, welche das Wort nimmt, pflegtest du zu sagen, und Herr v. G. ist dein unumstößlicher Beleg. Ich hab' indessen Mißvergnügte gefunden, die es bloß sind, weil sie den Tyrannen in Kopf und Herz haben. Sie selbst wollen auf den Thron. O der Tyrannen! mit ihrem Freiheitsgeplärr! O der Sünder wider den heiligen Geist! Einige der Mißvergnügten sind es, weil sie es sind. Sie wissen nicht, was sie thun. – Das Wort Freiheit ist ihnen nicht ein Deckel der Bosheit, wohl aber ein Deckel des Unverstandes.

In Curland, pflegtest du zu sagen, ist Sklaverei und Freiheit zu Hause. Jeder Adelhof ist ein Thron, jeder Thurm Sibirien, jeder Stock Scepter. Der Edelmann ist Despot, Tyrann, seine [255] Einwohner, bis auf den Pastor loci und den Hofmeister, welche altioris indaginis sind – Sklaven!

Solch ein König auch König Friedrich ist, getraue ich mir doch (und das ist wieder ein Wunder in seinem Auge) zu ihm zu kommen, und ihm den Antrag zu thun, zu seyn, wie unser Einer; es versteht sich, wenn dieß Stündlein vorhanden ist. Das Menschengeschlecht sucht alles auf dem unrechten Wege, und das kommt, weil es nicht zusammenhält. Da es nicht Gott treu ist, wie kann es Menschen treu seyn? Gott hat alles dabei gethan, und den Menschen den Trieb der Geselligkeit so gar tief ins Herz gelegt; allein noch stoßen sie sich von einander. Wie sehr in weitem Felde liegt nicht alles, und wie nahe könnte es liegen, wenn Gottes Wille geschähe!

Nimm, lieber Vater, mit diesem specimine academico vor den Willen, das ich dir loco testimonii schuldig bin. Ich habe die Kosten dabei gespart, und bin bei einem Manne, wie du, eben so weit, wo nicht weiter.


* * *


Meine Leser werden freilich aus diesem Briefstück des mehreren ersehen, daß eine gewisse mir angeborne Königsfreude mich begeistert habe, und eben darum dieses Er an Ihn verzeihen, dafür sind auch so viele Sie's an Ihn (Briefe meiner Mutter an mich) weggefallen, und mit keinem einzigen ich anSie, mit keinem einzigen von meinen Briefen an meine Mutter sind meine Leser belästigt. – Ich habe meinen Brief an meinen Vater so gelassen, wie er war; warum sollt' ichs nicht?

Im letzten Kriege, nicht in dem Prozeß, die Succession von Bayern betreffend, sondern im letzten Kriege, sagte Madame Pompadour, da ihr einer aus dem Volke vorwindbeutelte: man würde den König gefangen nach Paris führen, da wird man doch [256] einen König zu sehen bekommen! Dieß, was freilich nur eine Maitresse sagen konnte, so wie das erste nur ein Franzose, ist so schön, als wahr gesagt! – Einem Kreuzzug der Königin aus Saba zum König Salomo sieht es freilich nicht ähnlich, dafür ist auch Pompadour nicht Königin aus Saba, und Friedrich, ist er Salomo, der durch eine Lilie auf dem Felde in seiner Herrlichkeit beschämt ward? König Friedrich läßt sich mit keiner Feldlilie in Wettstreit ein.

Der König lacht nur mit seinen Freunden, denn er ist König. Ernst liegt in ihm, und wenns hoch kommt, Beifall. Er straft durch seine Collegia; den Lohn hat er sich vorbehalten. Danken kann er nicht; durch Thaten dankt er. In seinem Danke liegt: ihr seyd ein unnützer Knecht, ihr habt gethan, was ihr zu thun schuldig waret! Das sagt er, nicht in seinem, sondern im Namen des Staats. Er wechselt nicht mit Leuten, auf die er einen königlichen Accent gelegt; allein er hat auch keinen Liebling, ohne den es ihm schwer wäre zu seyn.

Bei seiner Liebe zu Hunden ist mir eingefallen: er sähe selbst als König ein, daß, wenn der Mensch sich dienen lassen sollte, es durch Hunde geschehen müßte. Sie scheint die Natur dazu bestimmt zu haben. Vielleicht würden die Hunde und noch andere Thiere besser, wenn ihre angebornen Herren besser wären. Wenn ein Mensch Mensch ist, bedarf er wahrlich keine andere Bedienung, als im Fall der Noth einen Hund. Diogenes konnte sich ohne ihn behelfen.

Der König, hält viel von glücklichen Menschen. Der Mensch hat Glück, sagte er. Glück und Welt ist in diesem königlichen Sinn nicht viel auseinander, und so könnte man auch sagen, der König habe Glück!

Der König ließ in seinen Feldzügen die Kugeln um sich herum pfeifen und heulen; so wie Mücken sah' er sie an, die um seinen [257] Kopf sich lustig machten. Man sollte fast glauben, für einen unverwandten Blick auf einen Fleck, für einen festen Gang zum Ziel, für ein Bewußtseyn, das ist der rechte Weg! haben die Kugeln selbst Respekt. – Im Willen des Menschen liegt eine menschliche Allmacht. – Alle beherzte Leute verlieren das Gleichgewicht, wenn sie einen Unsinnigen sehen. Ists Wunder, da die Beherzten die Mitleidigsten sind? Feigheit allein ist grausam.

Was ist der Mensch ohne Vernunft? so sehen Thiere nicht aus, welchen es doch allen am Besten, an der Vernunft, fehlt – als ein unsinniger Mensch. Er ist weniger als ein Thier geworden. – Die menschliche Gestalt ohne Vernunft ist das Schrecklichste, was man in der Natur sehen kann. Kains Zeichen ist ein Gnadenkreuz dagegen. Der König kann keinen Unsinnigen aushalten. Er sieht, wie tief der Mensch sinken könne, obgleich er seines Gleichen ist. Ein προσκυνεῖν dünkt ihn daher wie ein Bruch der Vernunft. – Er zieht sich vor jedem zurück, der vor ihm die Knie beugt. Alles aus einer und der nämlichen Quelle. – Das Haupt regiert, und nicht die Füße, sagte der nämliche Kaiser, da man ihm zu Füßen fiel, der, da man ihm sein theures Leben landesväterlich vor dem Geschütze zu decken anrieth, erwiederte: es ist noch kein Kaiser erschossen!

Gott der Herr ist überall. Der Himmel, heißt es zwar, ist sein Stuhl und die Erde seiner Füße Schemel; allein das ist Poesie, und ein Selbstherrscher, ein Monarch, der im eigentlichen Sinne Gottes Bild trägt, sollte auch keinen beständigen Aufenthalt haben. Er, der überall seyn sollte, müßte wenigstens überall zu Hause seyn. Das Hoflager, kann es denn nicht wandelbar seyn, um die Allgegenwart zu spielen? Die deutschen Kaiser waren ehemals an keiner Stelle und Ort zu Hause. Die Könige von Polen zogen auch umher, und was ist natürlicher, als daß Residenzen, Königsstädte, durch den Vorzug, den ihnen das Schlafzimmer des [258] regierenden Herrn beilegt, das Haupt, die andern Provinzen aber die Glieder werden! Würde es nicht gut seyn, wenn die hohen Collegia des Landes an den kleinsten, unbedeutendsten Oertern wären? Gott regiert im Verborgenen. – Der König von Preußen visitirt wenigstens jährlich seine Provinzen. Er braucht keinen Wardein seiner Diener. Sein Auge ist Schwert und Wage, und da blickt er umher, und wenn er einen Ueberhang von Aesten eines Unterthans über des andern Boden findet, der diesen stört, heißt's: haue sie ab, was hindern sie das Land? – Er besitzt ein moralisches Menstruum universale, alle seine Unterthanen aufzuschließen. – Bei Freunden irrt er öfters. Er hat einmal Berlin, und es verlohnt's, daß er es hat. Wer es behauptet, daß die Residenz der Extrakt, das Extrafeine, die Punktation aller Provinzen sey, mag so unrecht nicht haben. Ich glaube fast, daß man aus der Residenz den ganzen Staat in unsern Zeiten am sichersten übersehen könne; es kommt nur hier, wie überall, auf den Standpunkt an.

Thiergarten, rief Junker Gotthard, und lief spornstreichs hin. – Glockenspiel! schrie Gottfried, und vergaß darüber Danzig, wo Glockenspiel und kein Ende ist. Gott ehre mir, fuhr Junker Gotthard fort, meinen Thiergarten in – –, der natürlich ist, ich will den Berlinern gern den künstlichen lassen, und den Sand obenein, der, wie er bemerkte, der grünen Farbe am schädlichsten ist. Sieh nur, sagte er, eine Blume, deren Laub vollgestäubt ist! – Darf man doch im Thiergarten nicht einmal eine Flinte losknallen! Auf die Parade zu gehen, hätte ich ihn um eine Obristenstelle nicht überreden können. Man muß den Teufel nicht an die Wand malen, war seine Meinung. Ich war auf der Parade in meinem Element. Zuweilen war mir das Comandowort so nahe, daß ich's mit Gewalt unterdrücken mußte. Der Alexander wollte durchaus zum Vorschein. Wie viel Helms [259] sah ich da, tapfere Helms! Alles wäre dem Junker Gotthard erträglicher gewesen, wenn nur die Fragen: woher? wohin? wer? wie? was? an den Thoren ihn nicht mit Vorurtheil eingenommen hätten. Muß man sich doch, sagte er, hier durchdecliniren und durchconjugiren lassen. Da hatte ich's ja beim Professor Großvater noch leichter, wo ich dich für mich antworten ließ und den Argos kennen lernte, welches der beste Hund in der ganzen Welt ist. Einen seiner königsbergschen Argos, von dem er glaubte, daß er vom Homerschen abstammen müßte, hatte er mit. Die andern wurden verschenkt. Amalia hatte einen (dieß erfuhr ich erst unterwegs). Es war wahrlich kein Schooßhund! Was thut die Liebe nicht! Gottfried sagte, da auch er am Thor examinirt war: Muß man sich doch hier an die Glocke schreiben. Da, wo der König selbst ist, gilt kein Revisor, wie der Nathanaelsche, kein Knabe, der mit der Hand das Posthorn so nachmacht, daß man glauben sollte, die Post käme. Nathanael würde hier seinen Abschied nicht genommen haben. Wo solche Revisors, wie unser Nathanaelscher, den König selbst vor Augen haben, können sie unmöglich: Wir Friedrich, ohne Furcht der Ruthe, mißbrauchen. Ich würde kein Kind zum Treiber des Volks machen. Wahrlich! Richterverstand kommt nicht vor Jahren!

Einem seinen Engländer lief ich in Berlin nach und machte ihn mit vieler Mühe zu meinem – Bekannten; Freund war er noch nicht. Ein Mensch von ausnehmendem Kopf. – Seine Nation war in ihm getroffen, wie aus dem Auge gerissen. Er kam von Rußland und wollte noch weiter in die Welt. Hier, sagte er, ineurem Staat (ich bin ein Curländer, mein Herr Engländer) überall eine Saladiere zu wenig, ein Friedrichsd'or erspart. In Rußland zehn Rubel, ein paar Schüsseln zu viel. Immer Epakten, immer Ueberschuß! Das, fuhr er fort, liegt im geheimsten Mark des Staats. In Petersburg ist zu viel, in Berlin zu wenig Platz, [260] das sehe ich an Gebäuden, die sich sehen lassen. – Man weiß, wie die Engländer sind! Für den König war er wie ich. Ganz gewiß hat er an seinen Vater auch so geschrieben wie ich. – Der Starrkopf! Die Franzosen waren seine Freunde nicht, wie gewöhnlich. Der König von Preußen, sagte mein Engländer, liebt den französischen Verstand, aber nicht den französischen Willen. Wir und ihr (Wir voraus, das hieß: England und Deutsche) bleiben bei der Angel, wenn gleich in einigen Stunden kein Fisch kommt. Der Franzose schießt während der Zeit einen Vogel. Er trägt Gold auf dem Hut; wir ein seines Hemde. Viele in Berlin, fuhr er fort, welche den Unterschied von Verstand und Willen nicht so gut wie der König einsehen, sind ganz und gar Franzosen. Man könnte diese, unterbrach ich meinen Engländer, weit eher als die Letten in Curland Undeutsche nennen. Dieß war ihm was Neues vom Jahr. Undeutsch! wiederholte er und lächelte. Das Frauenzimmer, bemerkte er, ist in Berlin zum größten Theil vom Haupt bis zu den Füßen französisch. Zum größten Theil, fiel ihm Junker Gotthard ein, und der kleinere Theil? ist englisch! – Deutsch! wie Sie wollen, erwiederte der Engländer. Ich dächte, beschloß Junker Gotthard, das Frauenzimmer stamme durch die ganze Welt von den Franzosen, oder die Franzosen vom Frauenzimmer. Wir, der Engländer und ich, vereinigten uns wider den Junker Gotthard und bewiesen ihm, daß es noch Frauenzimmer deutscher oder englischer Art gebe, und zeigten ihm davon etliche in Berlin! Ihr kennt sie nur von Ansehen, fuhr Junker Gotthard fort. Darf man mehr, wenn vom Frauenzimmer die Rede ist? Da ich dem Junker Gotthard die Gewissensfrage that, ob denn seine Trine von französischer Abkunft sey? war er verlegen. Ich richte meine Frage nicht auf Amalien, die einen Argos von dir zum Geschenke zurückbehielt, nicht auf die [261] Brunette mit dem trefflichen Busen, wo ein Ball gegeben wird, und wo zehntausend Liebesgötter schweben! – von Trinen, frage ich. – – Gotthard trat uns bei.

Der gute Junker Gotthard hatte es von seinem Vater, und dieser von dem meinigen, daß man das Volk in der Sprache suchen müßte, und da er sich viel darauf zu gute that, ein halber Landsmann von Großbritannien zu seyn, so neckte er sich mit dem Engländer, dem es sichtbarlich Vergnügen machte. Schade nur, daß Junker Gotthard nicht viel Englisch wußte. Englisch Mann, fing er an, England! Curland, warum denn nicht: curisch Mann? – Und dann wieder: Was solch ein englisch Mann vom Kopfe macht! Da haben wir doch, Gottlob! Stirne und Scheitel, und er Kopfkron und Vorkopf! – Bruder! erwiederte ich, das Volk kann ein Wort vom Kopf mitreden. Und dann immerich selbst, fuhr Gotthard fort, das Selbst doch ja nicht zu vergessen! Sieh! sagte ich ihm, Bruder! da ist doch jeder was selbst, im monarchischen Staat ist man alles par Bricole. Dieß vom Billard geliehene Kunstwort fiel ihm so auf, daß er als Curländer auch von selbst zu sagen sich berechtiget glaubte – obgleich ein Curländer mehr als zwei Herren dient, und niemand kann zwei Herren dienen!

Daß sich die Englischmänner auch in Abwesenheit beehren und dem Namen ein ehrerbietiges Herr vorsetzen, wenn gleich der Herr nicht da ist, und es auch so mit ihren Weibern halten, gehört auf das nämliche Conto! – In der Monarchie ist man Augendiener, fing ich an. Wenn man mit dem Herrn spricht, bückt man sich dazu, und ist er nicht da, heißt er schlechtweg Peter Paul Pompei. Heuchelei ist der Erbfehler der Monarchien. In Curland, wo doch Freiheit herrschen soll, fuhr ich fort, sehen die Leute ein, wie wenig sie bedeuten. – Doch warum eine Donatsche Stunde! – Ich will sie mit dem Worte Königreich schließen, auf welches [262] mein Vater aus dem englischenVater unser den Accent legte, und zwar nicht, wie man beim ersten Blick glauben sollte, weil mein Vater ein Königscher war, sondern weil er den seligen Zeitpunkt wünschte, das Fest aller Heiligen, wie er's zu nennen pflegte, da wir allzusammen eine Heerde seyn werden, und Gott unser König, ein königlicher Vater. Ist's Wunder, daß wir uns in einer Residenz, wo unstreitig der erste König regiert, an dieß Fest aller Heiligen erinnerten, wo eitel Güte und Wahrheit herrschen wird, wo nicht steinerne Herzen und steinerne Gesetztafeln, sondern fleischerne Herzen seyn werden, und Leben für und für? Gott verhelf' uns allen dahin, wo Freude die Fülle und liebliches Wesen ist immerdar! – So lang aber dieß göttlich-väterliche Königreich nicht kommt, ist's wahrlich das beste, einen König zu haben, der es im Geist und in der Wahrheit ist.

Der König von Preußen hat viele Räthe; allein er ziehet keinen zu Rath.

Noch mehr vom Könige. Gern! Sowohl der Engländer, als ich, sind zu mehr bereit. Junker Gotthard wird sehen, wie es fällt.

Der König schreibt, trotz allen Wörterbüchern, Federic, obgleich Friederich Frederic heißt.

Ich habe schon bemerkt, daß er sich nur angekleidet sehen läßt. Ein Held ist wie eine Uhr; sie muß aufgezogen seyn, wenn sie gehen soll. Sollte man dieß nicht auch von einem Könige sagen können?

Der Engländer sagte: Finden Sie es nicht auch, daß Preußen so lange groß bleiben werde, als es immer Schach bietet?

Alexander der Große fürchtete sich bekanntlich vor dem atheniensischen Czar Peter, vor den holländischen Zeitungen. Aretin machte sich alle europäische Höfe zinsbar; König Friedrich ist darüber weg. Man sagt: er habe bei [263] Gelegenheit, daß eine unschickliche Schrift, die wider ihn gerichtet war, sehr hoch hing, bloß verfüget, sie sollte etwas tiefer geschlagen werden.

Was ich gern Prinzen sehe! sagte mein Engländer; ich sehe in ihnen ein ganzes Land. Hunderttausend in Einem. –

Der König sieht jeden an; allein er will nicht, daß man ihn wieder so dreist ansehe. Wer kann in die Sonne sehen?

Man sagt: der König habe blöde Augen, und eben daher sein Blick, sein großes Auge! Kann seyn! Seinem Blick ist es nicht anzusehen. Er hat alles an sich, was ein vollgültiger Blick haben kann. – König und ein Perspectiv sind fast unzertrennlich.

Der König hält den Soldaten für seinen Freund, den Civilisten für seinen Unterthan. Ist das recht? fragte der Engländer. Junker Gotthard schrie: Nein! Der Engländer gab ihm die Hand. Der Soldat, fing ich an, ist des Staats Wundarzt; der Civilist sein Medicus; allein ich kam nicht weiter. – Mit dem Civilisten spricht der König über sein beschieden Theil; mit dem Soldaten über alles. Ob der Soldat antworten kann, ist des Königs wenigster Kummer! Alle Staaten, wenn sie groß werden, sind kriegerisch. Sind sie groß, und wollen sie's bleiben, bedürfen sie Staatsmänner.

Der König will einen gewissen Esprit de corps in sein Heer einführen, welches das ganze Geheimniß der Phalanx war, so im ersten Paragraph der phalanxischen Kriegsartikel stand. Das ganze preußische Heer soll eine Phalanx seyn. Was einem begegnet, soll allen begegnet seyn. So denkt jeder Edelmann in Curland, fiel Gotthard ein. Nicht wahr, Alexander? Ja doch, lieber Junker Gotthard, jeder Edelmann in Curland.

Wie kommt's, fragte der Engländer, daß beim Exerciren niemand hustet? Hat kein preußischer Soldat den Husten? Er hält sich gerade, erwiederte ich; – das hilft für alle Krankheiten, [264] selbst des Todes Bitterkeit ist damit zu vertreiben. – Es ist eine monarchische Kur, sagte der Engländer, und Gotthard trat bei. Ich weiß, daß viele Krankheiten hiedurch curirt sind! – Man verbeißt sie!

Bei allem, was der König öffentlich thut, ist die Uhr aufgezogen. Thun die Menschen, sagte der Engländer, denen der König die Parole gibt, doch so, als wenn sie den König Salomo urteln gehört!

Der König hat in gewissen Dingen keine Proportion. »Da geb' Er doch den beiden Mädchen drei Friedrichsd'or.« Es sind viere, Ew. Majestät, die gesungen haben! »So geb' Er dreihundert,« das heißt: geb' Er ihnen eine Kammer oder ein Schloß!

Der König (wahrlich das ist groß) wird so wenig im Krieg als im Frieden bewacht. Man sieht offenbar ein, er sey unbesorgt, er sey ruhig! – Wenn das ein König seyn kann, so hat er's weit gebracht!

Noch etwas, das dem Engländer das Herz stahl! Alles ist gleich weit vom Throne. Der Bediente des Königs ist ein Bedienter.

Warum beschreibt er nur eine Seite? Und warum muß alles was an ihn gebracht wird, auf einer Seite Platz haben?

Er liebt nicht Registraturen und Canzleien. Herzog Friedrich der Weise, Kurfürst zu Sachsen, nannte die Canzlei der Fürsten Herz! – Wie sie doch der König nennen mag? Wir waren alle der Meinung des Herzogs Friedrich des Weisen, Kurfürsten zu Sachsen.

Alexander der Große ärgerte sich, da Aristoteles eines seiner Werke – drucken ließ, hätt' ich bald gesagt, und einen entsetzlichen Druckfehler begangen – ausgab. Alexander wollte in allem besonders seyn und etwas bloß für sich haben, was jetzt auch andere hatten. Wie muß er es doch gemeint haben, daß er lieber alles an Gelehrsamkeit als an Macht übertreffen wollte?

[265] Was ist besser: wenn die Fürsten philosophiren und die Philosophen regieren, oder wenn die Regenten bloß thun, was die Weisen lehren? Der König von Preußen ist ein schöner Geist – – –


* * *


und mein Engländer ist ein Engländer. – Gern hätt' ich mir diesen lieben Jungen zum Freunde gemacht. Wer weiß aber, wie lang er den im Noviciat behält, der zum Freunde eingeweiht wird! – Wir waren wirklich so nahe, als man es mit einem Engländer seyn kann, der noch nicht Freund ist. Seine Ungeselligkeit blieb mir kein Geheimniß, das ist der einzige Umstand, wo die Engländer ohne Rückhalt sind. Wir waren immer, willst du zur Rechten, will ich zur Linken, obgleich er den Deutschen die Ehre that, sich mit ihnen wider die Franzosen in Bündniß einzulassen. Ich ließ es mir merken (bitten hätt' ich ihn um vieles nicht können; kein Engländer läßt sich bitten), daß ich es gern sehen würde, wenn er noch acht Tage bliebe, wie ich. – Den andern Morgen war er weg und, um ganz englisch zu seyn, ohne Abschied. Unfehlbar, stand in seinem Reisekalender: Geh' ich ab, und da hätt' ihn keine Observation der Venus durch die Sonne gehalten. Gott geleit' ihn, den guten Jungen! Ich wünschte wohl, wenn er seinen Lebenslauf schriebe, daß er an mich dächte. In dieser Welt glaub' ich, werd' ich ihn so wenig wiedersehen, als den Alten mit dem einen Handschuh, der auf ein sanftes Ende mit dem Herrn v. G. trank, und der nur höchstens noch acht Tage zu leben hatte, da er zum Herrn v. G. kam und dessen Zeit edel war. O da werden wir so manche gute Seele finden, die wir in diesem Buche verloren haben! Junker Gotthard würde hinzufügen, auch so manchen Argos. Die Fortsetzung also von unserm Engländer folgt künftig.

Ich habe viel in Berlin verloren, da mein Engländer mit seinem zu viel und zu wenig nicht mehr da war. Junker Gotthard [266] munterte mich wahrlich nicht auf. – Gottfried glaubt' auch noch andere Oerter zu finden, wo Glockenspiel wäre.

Auch ohne Engländer, wie vortrefflich Berlin! – Außer meinem Elemente, dem Paradeplatze, was für Nahrung für Geist und Herz! Berlin könnte Deutschlands Athen seyn, wenn der König es wollte und so mancher Undeutsche, der um ihn ist!

Den Tag vor unserer Abreise kam Junker Gotthard so außer Athem nach Hause, daß ich befürchtete, es wäre ihm ein Ehrenhandel aufgestoßen. Was ist dir? fing ich an. Und siehe da, man hatte sich über sein grünes Kleid lustig gemacht, und wußt' er nicht, wie er damit daran war. Wal um, fing ich an, hast du nicht was daran spendirt und dem Witzling, dem eine derbe Antwort noth that, Wehr und Harnisch genommen? Warum waghalsen, sagt' er, Bruder? Wir reisen heute. Morgen, erwiederte ich. – Damit ich mich räche, fiel er ein, heute! Ich hatte Mühe, ihm zu beweisen, daß man sich darum an einem Verräther der grünen Farbe nicht rächt, wenn man einen Tag früher aus Berlin reist. Wir blieben die vollen acht Tage.

Fußnoten

1 Hieß zu der Zeit in Curland Geld und Gut, oder, wie einige wollen, Gold- und Silbergeld, oder im Provinzialausdruck, grob und fein, groß und klein Geld, dieß will sagen, Albertsthaler und Vierdings.

2 Ich mag nicht mehr darüber abschreiben, sondern begnüge mich, ehe ich weiter komme, die Anmerkung hinzuzufügen, daß Se. Majestät und ich einen und den nämlichen Verleger haben. Ein Compliment für uns alle drei! Das hätte noch mein Vater erleben sollen!

Zweiter Band
Beilage C.
[165][167]

Einen freundlichen Gruß und alles Liebes und Gutes zum voraus, Wohlehrwürdige, Veste, Hoch- und Wohlgelahrte Frau Pastorin! Fürsichtige Seelsorgerin und Mutter meines zweiten Herrn!


nebst dienstwilliger Bitte, mir durch die Finger zu sehen, daß ich so keck bin, schriftlich Ew. Wohlehrwürden hinterm Stuhl zu stehen und auf diesem Teller ein Glas Wasser zu reichen. Wer durstig ist, steckt auch die Nase in ein Glas Wasser. Ein Schelm gibt mehr, als er hat. Mit der Zeit hoffe ich ein Spitzgläschen Wein reichen zu können. Ew. Wohlehrwürden dürfen nicht glauben, daß ich Ihr Kleid mit diesem Glas Wasser begießen werde, und wenn ich etwas vergösse, ist es doch bloß Wasser! Wo das fleckt, ist die Farbe nicht ächt. – Ew. Wohlehrwürden haben alles ächte Farben.

Ich lerne, was man nur kann. Verstand kommt nicht vor Jahren, wie ich sehe, weder in Kopf noch in Finger. Meine Herren machen sich den Spaß, zu sagen, daß ich viel Anlage zum Handwerk habe, aber blutwenig zum Gelehrten, da das Schreiben mir wunderbarlich von statten geht, und da ich die schwersten Worte von der Faust weg aufs Papier setze. Das wächst alles wie Pilze. Wenn ich nur die Herren und Bedienten unter den Worten unterscheiden könnte; aber da liegt der Hund begraben; [167] nicht der Argos meines adelichen Herrn, sondern der Hund im Sprüchwort. Wüßte ich die großen und kleinen Buchstaben zu brauchen, was würde mir dann fehlen? Im gemeinen Leben kennt man so was an der Livree; bei den Buchstaben ist alles eins, nur daß einer ein besser Gesicht als der andere hat. Die l gefällt mir über die Maßen; ein schlanker Buchstab, und überhaupt bin ich den Buchstaben gut, die gedruckt und geschrieben sich gleich sind, da weiß man doch, woran man ist. Es wird mir herzinniglich lieb seyn, zu vernehmen, wenn mein lieber Vater wohl auf wäre, der keine i, geschweige denn eine a machen kann. Für mich ist a der schwerste Buchstabe im ganzen deutschen ABC. Schwester Trinchen, die so schrieb, wie ich, ehe ich auf die Akademie ging, wird wohl noch nicht aufgeboten seyn. Meinetwegen danke dem lieben Gott für gute Gesundheit. Mir hat auf der Reise kein Finger, vom Daumen bis zum kleinen, weh gethan und meinen Herren auch nicht. Keinmal umgeworfen, aber alle Augenblick gedacht, es fiele schon. Einem der andern Herren Passagiers kam eine meerschaumene Pfeife, die in Curland ihre zehn Bauern werth gewesen, unter das Rad, und noch einer verlor seinen Hirschfänger, den er auch zu Hause hätte lassen können. Er war noch dazu nicht von Adel und trug unter dem Hut eine baumwollene Schlafmütze. Meine Herren pflegten zu sagen, daß er in einem Zuge wache und schlafe. Hätte er den Hirschfänger nicht mit gehabt, wäre er nicht verloren gegangen. Er hatte einen silbernen Griff. Das Gehenk schenkte er mir, weil ich ihm unterwegs beisprang. Sonst war er bis auf den Hirschfänger und den Hut und Mütze in einem Stück, bald hätte ich in einer Person geschrieben, nicht zu verwerfen. Schon hatte ich eher Ew. Wohlehrwürden von allen diesen Dingen dieß Glas Wasser voll Nachricht ertheilet, wenn ich nicht erst das Glas reinigen und läutern wollen. Wird sich von selbst verstehen, daß ich mich im Schreiben sichtlich gebessert habe,[168] wofür ich nächst Gott meinen Herren dienstlich verbunden bin. Ein Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und wer nur Lust hat, kann schon auf der Akademie was lernen, es sey großer oder kleiner Buchstabe. Ew. Wohlehrwürden danke ich ganz gehorsamst für alles Gute und unter diesem Guten für die schöne Predigt, da ich Abschied nahm und den Segen empfing, den Ew. Wohlehrwürden an diese Predigt legten. Das ging mir alles durch Mark und Bein! So ein schöner Text, als wenn er auf mich gemacht wäre. Niemand kann zwei Herren dienen! Ew. Wohlehrwürden Erklärung vergesse ich nicht, solange eine Handvoll Leben in mir ist, daß nämlich dieser Spruch so wie der vom Kameel-Nadelöhr und dem Reichen zu verstehen sey. Ich habe alles gefunden, wie Ew. Wohlehrwürden es mir auf den Weg gegeben. Meine beiden Herren sind wie Mann und Frau, und ich diene also nicht zwei Herren. Sie sind so von einander unterschieden und wieder so zusammen, wie Mann und Weib.

Ew. Wohlehrwürden Herr Sohn wird einen starken, schwarzen Bart bekommen. Der liebe Gott lasse ihn dabei. Ist doch besser, als ein Judasbart, den ich in drei Kirchen am Altar abgemalt gefunden. So getroffen! Mich wundert, daß ein Barbier nicht in Gedanken dem Judas zu Halse gegangen. Man konnte ihn recht beim Bart halten. Mit dem Herrn v. G. hält es wegen des Barts schwer. Hie und da ein weißes Härchen. Sonst sind hier die Barbiere nicht in sonderlichem Ansehen und werden von den Herren Studenten Bartphilosophen genannt, welches ich Ew. Wohlehrwürden nicht verhalten kann. Große Städte, große Sünden, kam auch in Dero Abschiedsermahnung vor, und das ist wahr und wahrhaftig. Prediger die schwere Menge, mit blauen und weißen Kragen. Blau haben die Feldprediger, auch Manschetten und kleine seidene Mäntel, die man Advokatenmäntel heißt. Die Advokaten gehen hier schwarz mit kleinen Mäntelchen, die man Feldpredigermäntel [169] heißt. Sie nennen sich Priester her Gerechtigkeit; von andern ehrlichen Leuten werden sie Galgenprediger genannt. Ich konnte diese Herren lange nicht aus einander bringen, bis mich der blaue Kragen an Ort und Stelle brachte. Wie das alles hier durch einander läuft und fährt, wahrlich noch weit ärger, als in diesem Briefe. Prediger und Advokaten. Man kann vor Lärm kaum sein eigen Wort hören. Die Pastortracht, die in Curland keiner anzulegen sich erkühnen darf, er sey noch so hochwohlgeboren und hochgeschoren, ist hier etwas so Gemeines, daß alle Küster sich in Kragen und Mantel stecken, und kein Ansehen der Person zwischen Pastor und Glöckner ist. Gräuel ist es anzusehen. Es gibt sogar Leute, die beim Wagen gehen wenn Vornehme begraben Werden, ganz gemeine Kerls, Träger von den eigentlichen Leichenträgern, und auch diese Unterträger gehen mit Kragen und Mantel. Anfänglich war mein Hut mehr in der Hand als auf dem Kopf, weil ich jeden Kragen und Mantel grüßte; jetzt lasse ich's bleiben, und so bleibt auch wider meine Schuld mancher Pastor ungegrüßt, welches Ew. Wohlehrwürden nicht übel auszulegen belieben wollen. Gott grüße den Herrn, wenn er es verdient und Ew. Wohlehrwürden gleich ist in Lehre und Leben!

Um zur Hauptsache zu kommen, die Ew. Wohlerwürden mir auf meine arme Seele gebunden, so habe ich mancherlei von Ketzern auch in Curland gehört; allein wer den Teufel nicht selbst gesehen, hat keine rechte Vorstellung vom bösen Feinde. Die Ketzer sehen, Gott sey's geklagt! aus, wie wir andere Christenmenschen. Vom Kopf bis zu Füßen, nicht einmal lassen sie sich den Bart wachsen, wie Judas in den drei Kirchen. Man hat mir erzählt, daß unter den Doktoren und Schriftgelehrten sogar viele wären, die nicht reiner Lehre sind; allein hier ist jeder für sich, und Gott für uns alle. Ich habe mir einen Candidaten zeigen lassen, der seine Stimme durch eine Erkältung verloren, aber darum geht ihm kein [170] Dreier ab. Er steht sich besser, als wenn er eine Gemeinde und eine Stimme hätte. Er lebt vom Predigtmachen so gut, als einer, und wenn der Pastor unter den Mennonisten, den Reformirten, den Katholiken, selbst unter den Juden, eine Predigt nöthig hat, husch! ist er mit fertig, und wer sie hört, merkt nicht auf tausend Meilen, daß ein lutherischer Candidat ohne Stimme diese Predigt ausgeheckt. Der Herr Sohn sagt: der Mann sieht wie die Toleranz selbst aus, und da war ich noch übler mit diesem Candidaten daran wie zuvor; denn ich fand an ihm kein Abzeichen, ob ich ihm gleich zehn Straßen nachlief, wenn ich ihn gehen sah. Was er darüber gedacht hat, fahre in die nächste Predigt, die er für den Rabbi macht, welches allhier ein feister Mann ist, der wie ein Wechsler aussieht und von Moses kein Haar hat. Die Toleranz sieht wie der Herr Candidat aus, und der Herr Candidat wie ein anderer ehrlicher Mensch. Was ich mir darüber den Kopf zerbrochen habe! Gestern bemühte sich der Herr Sohn, das Wort ins Licht zu stellen, wozu ich ihm Feuerstein und Stahl reichte.

Toleranz heißt: wenn man fünf gerade seyn läßt, welches doch nicht ist, obgleich wir an jeder Hand fünf Finger haben. Wo Duldung ist, da ist auch Fortpflanzung, sagt er, und was er sagt, ist wie Amen in der Kirche. Hier zu Land ist man für beides, für Fortpflanzung und für Toleranz. Die Leute sagen: je mehr Kinder, je mehr Brod. Das finde ich nicht, und was die Toleranz betrifft, so kann ich Ew. Wohlehrwürden versichern, daß zur heiligen Advents- und Weihnachtszeit von den Chorknaben vor den Häusern der Juden, so wie vor Christen-Thüren gesungen wird: »Uns ist geboren ein Kindelein,« das ist über den Candidaten, den Predigtfabrikanten. Ew. Wohlehrwürden können nicht glauben, wie sonderbar das Lied: »Uns ist geboren ein Kindelein,« vor einer Judenthür klingt! Es verlohnt der Mühe, drum nach Königsberg zu reisen, und wenn Ew. Wohlehrwürden [171] einen so guten Major und Junker finden, wie wir, so würde Ihnen kein Haar gekrümmt, das Ew. Wohlehrwürden nicht selbst zu krümmen Lust und Belieben finden.

Bei uns essen die Juden und die Edelleute freilich Kirschen zusammen; allein man weiß wohl wie's geht, wenn paar und unpaar Kirschen essen! Ich versichere Ew. Wohlehrwürden, daß hier ein Katholik bei einem der ersten Prediger im Dienst steht. Er heißt Jo hann und ist, bis auf den katholischen Glauben, ein guter Knabe, der mich neulich in seine Kirche schleppte, wo ich eine Predigt gehört, die, Gott sey bei uns! mir so vorkam, als wäre sie lutherisch. Das soll mir eine Warnung seyn, nie mehr in unächte Kirchen zu gehen. Die preußische Luft ist so tolerant, daß man wie behext dasteht. Ew. Wohlehrwürden versichere auf Ehre, daß, Gott steh' uns bei! wenn ich mir die Augen verbände, ich ein »Vaterunser« in der katholischen Kirche beten könnte, trotz dem Johann, der beim ersten lutherischen Prediger dient. Wie sich das alles hier spricht und widerspricht! – Ein Wäscherin heirathet einen Kohlenbrenner; eine Herrenhuterin, die selbst so schlecht und recht einhergeht als könnte sie nicht drei zählen, nährt sich vom Putzmachen. Jedes geht seinen Weg. Keiner legt es an, den andern zu bekehren. Juden, das versichere Ew. Wohlehrwürden auf meinen christlichen Glauben, kommen sogar in christliche Kirchen, nicht um sich zu bekehren und zu leben, sondern um eine wohlgesetzte Predigt zu hören. In der Kirche bis auf die schöne Musik zu, ist es wie auf dem Tanzboden. Alles faßt sich an, hier mit der Hand, dort mit den Augen. Daß die Toleranz dem lieben Gott ein Gräuel sey, weiß ich wie einer, daß aber die Leute hier just so dick und fett sind, wie anderswo, ist nicht zu läugnen. Mag aber wohl ungesundes Fett seyn! Hexen glaubt' hier kein Kind von acht Tagen, das doch so in seinen besten Glaubensjahren ist. Mein adelicher Herr sagte gestern: Wenn hier [172] die alten Weiber (mit Ew. Wohlehrwürden Erlaubniß) noch so häßlich aussehen, es ist keine der Gefahr ausgesetzt, verbrannt zu werden, wiewohl auch zu meiner Zeit keine in Curland, Gott sey's geklagt! in Rauch aufgegangen. Ich möchte gern eine prasseln hören. Muß doch einen besondern Knall geben! Der Himmel weiß, wie es kommt, so häßlich sind die alten Weiber in Curland nicht, wie hier. Mag wohl kommen, weil sie hier nicht alt seyn wollen. Die Mädchen so frech, daß nur noch jüngst eine Ehefrau (ich stand hinter ihrem Stuhl so behext, wie in der katholischen Kirche) die Frage aufbrachte, warum wir nicht alle nackt gingen, wie im Paradiese? Da bin ich gut dafür, daß Ew. Wohlehrwürden das Wort »nackt« noch bis diesen Augenblick nicht ohne Röthe werden aussprechen können, und diese – war nicht einmal roth. Sie forderte ein Glas kalt Wasser. Daß dein Feuer gelöscht werde, dachte ich; allein es scheint, sie bedürfe des Löschens nicht. Ländlich, sittlich! könnte man wohl sagen, wenn bei dieser Sache auch nur das mindeste Sittliche wäre. Man hat mich versichert, daß dergleichen Mädchen mit bloßen Busen, hinter deren Stuhl man behext wie in der katholischen Kirche ist, die tugendhaftesten wären. Erbsünde hat jedes, Ew. Wohlehrwürden selbst nicht ausgeschlossen. Das grüne Holz, die Frommen, die Stillen, sollen hier zu Lande das dürre seyn, und davon kann Ew. Wohlehrwürden ein Pröbchen geben. Grad über, wo wir einwohnen, war ein Mädchen, in ihrer Art nicht uneben. Sie that so züchtig, als kennte sie den alten Adam nicht anders, als im Kupferstich, wo ich ihn auch mit Hörnern gesehen! – Sie dient, ich diene. Mein adelicher Herr kann ihre Jungfer leiden, und – was soll ich läugnen? – ich sie! Wenn ich sie nur ein wenig hart zur Hand nahm, gleich ein Schrei! und dann wieder: bringen Sie mich nicht zum Ende! Sie werden Unheil anrichten! und so weiter. Kam ich Sonntags, las sie:die in Gott andächtige Jungfer [173] mit ihren Morgens und Abends zu Gott erhabenen Händen, an Sonn- und Festtagen, sowohl durch auserlesene Sprüche der heiligen Schrift, andächtige Gebete und geistliche Lieder vorgestellet, als in beigefügten saubern Kupferbildern entworfen von M. Nicolao Haas, Pastore Primario und Inspectore der evangelischen Kirchen und Schulen zu Budißin.

Stade, druckt's und verlegt's Caspar Holwein. Im Jahr 1717.

Was mir diese Andacht durchs Herz ging, kann ich nicht sagen. Den Titel abzuschreiben, hat mir, wie Ew. Wohlehrwürden leicht denken können, viel Mühe gemacht; aber ich that es mit Freuden, um Ew. Wohlehrwürden diese Freude zu machen. Weiß nicht, ob Ew. Wohlehrwürden diesen Haas, diesen Caspar Holwein und die in Gott andächtige Jungfer kennen. Sollte mir herzlich lieb seyn, wenn es wäre! Der Name Haas ist freilich etwas anstößig; wer kann aber für den Namen? Die Kupferstiche sind sauber. Wo ich ein andächtiges Weibsbild auf Knien fand, dacht' ich, Lieschen war' es auf ihrem Herzensknie. Das Büchelchen war mit Silber beschlagen. Können sich Ew. Wohlehrwürden von dieser in Gott andächtigen Jungfer mit ihren Morgens und Abends zu Gott erhabenen Händen an Sonn- und Festtagen vorstellen, daß sie vor vierzehn Tagen ein Söhnchen taufen lassen? Da wär' ich angekommen, wenn ich es mit ihr zu Ende gebracht! Ich habe gar viel Spott darüber von Freund und Feind erlitten, weil man nichts anders glauben wollte, als daß ich Hähnchen im Korbe gewesen! – Der Thäter soll ein liederlicher Bursch seyn, der durchs Gebetbuch gewiß nicht angelockt worden. Hab' ich doch um das Mädel geweint, wie ihr kleines Kind. Da war sie in Angst und Noth wegen ihres Kindes, und [174] wollt' ich wohl oder übel, mußte schon in einen sauern Apfel beißen und das Kind ernähren. Der Apfel ist eben so sauer nicht. Geht schon in den vierten Monat, daß ich das Kind erhalte. Ward mir indessen vom Johann, der sich auf so etwas versteht, angerathen, zum Richter zu gehen und über das alles ein Protokoll zu lösen, damit ich nicht zu Kind und Kegel käme, wozu hier zu Lande die Unschuldigsten am ersten kommen. Ist ein braver Mann der Richter, nahm kein Geld für die Schrift; wohl aber mußt' ich den Stempelbogen bezahlen, weiß nicht, warum? Besser wäre es gewesen, das Kind hätte das Geld dafür aufgepappt.

Was das wunderlichste dabei ist, so thut die in Gott andächtige Jungfer, als wäre die ganze Sach' eine Kleinigkeit! – Wie man es nimmt, freilich eine Kleinigkeit. Der Stempelbogen ärgert mich am meisten! – Wozu ist denn ein Stempelbogen nöthig, wenn man ein Kind einer in Gott andächtigen Jungfer, Stade druckt's und verlegt's Caspar Holwein, erziehen will? Johann sagt, ob Rose oder Knöspchen. Weiß nicht. Liese soll sich haben verlauten lassen: Wer wieder aufstehen kann, was thut dem der Fall? Ich denke, thut viel, und wär' es auch nur, daß alle Leute drob lachten, wenn man fällt. Sollte man glauben, Lieschen liest wieder die in Gott andächtige Jungfer, als wäre nichts vorgewesen. Mit der Zeit, merk' ich, ist man allen kleinen Kindern gut. Vater seyn oder nicht, macht nichts zur Sache. Ew. Wohlehrwürden würden dem Knäbchen selbst gut seyn, wenn Sie es sehen sollten. Ist ein feines, sauberes Kind, wie die Kupferbilder! Zwar sagt die arge, böse Welt, daß es mir ähnlich wäre; allein was sagt die nicht? Ist nur gut, daß ich das Protokoll auf Stempelpapier habe, um der argen, bösen Welt das Maul zu stopfen; zu so etwas ist ein Stempelbogen gut.

Ew. Wohlehrwürden Herr Sohn wird von allen Menschen geliebt. Ich wette, wenn er Geld lehnen wollte, Juden und [175] Christen würden ihm leihen auf sein blank Angesicht. Sonst gibt man den Studenten kein Geld, sie studiren weltlich oder geistlich! Warum denn nicht? – Sein gerader Weg macht ihm Credit überall. Wenn was zu sehen ist und es ist Wache ausgestellt, Er kommt, gleich ist die Pforte offen, ich hinterher, wie Ew. Wohlehrwürden leicht denken können. Jeder Vater, der ihn ansieht, möchte ihm seine Tochter geben, und jede Tochter, das wollte ich wetten, möchte ihn auch gerne mit Herzen, Mund und Händen! Das läßt er aber bleiben. Er wird sich durch keine in Gott andächtige Jungfer anstecken lassen; ob er aber ohne Protokoll abkommen wird, zweifle sehr! Wer hier ein gutes Herz hat, kann an ein Protokoll kommen, weiß nicht wie! Selten, glaub' ich, ist jemand, der nur mit dem Stempelpapier abkommt, wie ich, wofür ich Seiner Gestrengigkeit großen Dank sage und es zu rühmen wissen werde. Lieschen ist einundzwanzig Jahr alt, und bis auf das Söhnchen ein vortreffliches Mädchen. Hoffe, daß das Kind ihr Gemüth haben werde und nicht des liederlichen Burschen. Sonst sollte mirs doch wohl um die paar Groschen leid thun, die ich meinem Munde entziehe: der Magen verliert nichts daran. Ob Ew. Wohlehrwürden Dero Abkömmling kennen würden in seiner gelben Weste und Hosen? Könnte wohl schwarz seyn, wird auch, will's Gott, werden. Gegen die Königsberg'schen Jungfern, ist gleichviel ob grünes oder dürres Holz, ist er wie Eisen und Stahl. Weiß nicht, wie es kommt! – Wünschte, daß ich gegen Lieschen auch so wäre. Bin's nicht! Weiß nicht, wie er auf gelb gefallen; keine sonderliche Farbe. Hat aber seine Grillen! Habe ihn zuweilen mit sich selbst reden gefunden und recht laut; sagt, daß es alle Leute thäten, die sich stark was einbilden könnten. Mir würde grauen, wenn ich allein seyn und reden sollte. Denk', es könnte sich doch was melden, und da war' ich übel dran. Ob er zur Uebung mit Tisch und Stühlen katechisirt, weiß nicht; [176] möchte erfahren, was Ew. Wohlehrwürden von diesem Gerede denken? Ob Röschen oder Knöspchen? sagt der Katholik; allein großer Unterschied! Ist's denn gleich, fein züchtig sich gehalten, oder Scham und Schande verloren und sich weit und breit jedem darstellen, der's begaffen und beriechen will? Ew. Wohlehrwürden werden meiner Schwester Trinchen diese Rosengeschichte nicht aufblättern. Sie und Hannchen liegen sich immer an den Ohren. Hätte zwar Hannchen halber die in Gott andächtige Jungfer je eher je lieber ehelichen können, da ich kein Buch und Tuch aufs Gewiß gegeben; Ein Hannchen aber ist mehr werth als zehn andächtige Jungfern. Werde schwerlich Hannchen zum ehelichen Gemahl nehmen.

Von Wahrzeichen weiß Ew. Wohlehrwürden wenig oder nichts zu sagen, außer die schöne Aufschrift an einem Hause, die meine Herren sich den Tag wohl zehnmal abfragen und abantworten. Der eine fängt an:

Klimm, schläfst du?

Der andere antwortet:


Treu', Glaub', das Recht und das rechte Recht,

Die haben sich alle vier schlafen gelegt!

Nun komm, du lieber Herre,

Und erweck' sie alle viere.


Zwar sind diese Worte im platten Deutsch, welches man so gut wie das Curische undeutsch heißen könnte; hab' indessen Ew. Wohlehrwürden mit diesem platten Deutsch nicht schwer fallen wollen, wohl wissend, was Ew. Wohlehrwürden schuldig bin. Mir ist in dieser Aufschrift so was vom lieben jüngsten Tage, daß ich das Haus bei Mondschein nicht ohne Schauer vorbeilaufen kann, wo diese Jüngstetagesschrift angeschrieben ist. Gehen könnt' ich nicht vorbei, um Tausende. Da dünkt mich immer, Klimm regt sich.[177] Wenn Ew. Wohlehrwürden mir bei guter Gelegenheit zu erklären die Güte hätten, wie das Recht und das rechte Recht von einander wären, würden Ew. Wohlehrwürden Ihrem Diener ein großes Licht anzünden. Mein zweiter Herr ließ sich zwar verlauten, daß das Recht im Buche, das rechte Recht im Herzen und im rechten Herzensfleck, im Gewissen, angeschrieben stünde, und daß, wo viel Recht wäre, oft am wenigsten rechtes Recht sey; das mag aber wohl er und Klimm verstehen, ich begreife da kein Wort.

Der König soll sich alle Mühe geben, Recht und rechtes Recht in sein Land zu ziehen, sowie es alle Fremde gut bei ihm haben; allein noch soll Klimm schlafen. An Recht soll es, wie man hört, nicht fehlen; mag wohl am rechten Recht! Hoffe wohl für mein Theil ungeschlagen, auch selbst ohne blaues Auge davon zu kommen, da ich das Protokoll in Händen habe. Sollte glauben, daß vor dem lieben jüngsten Tag Treu', Glaube, Recht und das rechte Recht schwerlich aufwachen werden! Diesem seligen Tage sehe mit allen frommen Christen entgegen. Wünsche gar andächtig, Ew. Wohlehrwürden desselben Tages früh Morgens um drei Uhr einen schönen guten Morgen sagen zu können. Sollte denken, daß ich den Klimm alsdann ohne Schauer bei Mondschein sehen werde!

Mein erster Herr sagte gestern gar eben, die Hoffnung sey der Steigbügel, woran wir uns halten, und das gefiel mir nicht übel. Bedaure nur, daß Ew. Wohlehrwürden nicht reiten, um dieß Gleichniß probiren zu können. – Muß bekennen, daß sich mein erster Herr durch meinen zweiten Herrn sichtbarlich verklärt, wie aus dem Steigbügel zu sehen. Hat mir seine Antwort gefallen, die er gestern gab. Sie müssen schon das Auge zumachen, sagt' ihm jemand. Das thue ich nur, erwiederte er, wenn ich schlafe.


* * *


[178] Das übrige, was Freund Gottfried meiner Mutter zugeschrieben, stellenweis. Ueberhaupt ist mir diese Beilage in die Hand gefallen, ehe ich's mir versah. Ich hatte meinen Lesern ein ganz anderes C bestimmt, womit es mir indessen freilich wie dem Gottfried mit den großen und kleinen Buchstaben gehen können. Ich wünschte herzlich, daß ich dem Buchstaben C durchs gegenwärtige Briefbuch nichts vergeben hätte, dessen mein Vater sich als eines Unterdrückten und Nothleidenden angenommen. Er war's, der den Candidaten ohne C widerlegte und diesem Buchstab das deutsche Bürgerrecht verlieh, welches ihm meine Mutter zur Gerechtigkeit rechnete, obgleich der lettische Dichter Paul Gerhard kein Lied mit C angehoben, welches ihm meine Mutter nie ganz vergeben konnte. Daß ich Worten, denen respective große und kleine Buchstaben gebühren, diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, und dieses Briefbuch mehr leserlich von dieser Seite gemacht, sey für die Buchstabenhelden gesagt.


Königsberg, den – –


Der König hat sich in den Kopf gesetzt, die Sperlinge zu vertilgen, und es ist ein Befehl ausgeschrieben, daß jedes Männlein eine gewisse Anzahl Sperlingsköpfe jährlich einzuliefern verbunden. Ohne den Willen des himmlischen Vaters, der doch am besten wissen muß, wozu ein Sperling gut ist, fällt keiner. Wäre ich wie der König, ließ ich keinem den Kopf abdrehen. Ew. Wohlehrwürden sollten nicht glauben, wie viel Sperlinge dieser Verfolgung unerachtet in Preußen sind, besonders in den Kirchenmauern, wohin die armen Dinger sich retten und fliehen. Da sieht man doch, daß es nicht ganz gottlose Geschöpfe sind. Vor wenigen Tagen hielt mein zweiter Herr den Sperlingen eine Vertheidigung, wobei er auch vom Morgen- und Abendsegen der Raben sprach, die andächtiger auswendig beten mögen, als Lieschen aus der in Gott andächtigen Jungfer. Kann das Mädchen nicht aus den Gedanken [179] bringen. Besonders des Nachts gaukelt sie mir vor den Seelenaugen! Hoffe indessen, mit der Zeit sie gar völlig los zu werden. Mein zweiter Herr behauptet, daß es gewisse Raupen gebe, von welchen die Sperlinge den Boden reinigen. Habe nie gewußt, was eine Insel sagen wolle; bei dieser Sperlingsgelegenheit auch erfahren. In England kann man Thiere ausrotten, als Bären, wilde Schweine, Wölfe; aber Vögel zu vertilgen, muß man in England bleiben lassen. Möchte wissen, was Ew. Wohlehrwürden von Preußen und den Sperlingen denken, von denen doch ein Paar im Kasten Noah gewesen –?

Ha der Betrüger! Lieschen ist so schuldig nicht, als ich glaubte. Er hat sich durch keinen Schrei abschrecken lassen, wie andere wohlgezogene Gemüther! Hat ihr ein seines Briefchen von seiner Mutter gezeigt, die gar höchlich froh über solch eine Schwiegertochter gethan! Mich hat der Bösewicht, mit Verlaub zu melden, einen Kosaken genannt. Möchte wissen, ob so etwas nicht zu bestrafen? Fürchte nur, daß nicht ohne Stempelpapier abkommen würde. Hat einen Nickel verkleidet, der, als seiner Mutterschwester, Lieschen gar lieblich begrüßt, und nun ist Mutter und Mutterschwester nicht zu sehen, nicht zu hören. Glaube auch, daß der Bösewicht, der still wie ein toller Hund hinschleudert, sich unsichtbar machen werde. Mich einen Kosaken? Möchte nicht einmal ein Katholik seyn, wenn Papst werden könnte, so doch ein gutes Stück Brod ist. – Habe es meinem zweiten Herrn erzählt, wundert sich darob, daß alles wie aus einem Buch genommen wäre. Habe es von Lieschen, die es mir mit Thränen erzählt hat, und konnte ich nicht umhin, herzlich mitzuweinen. Was das Mädel den Tanz bedauert, wozu ich die Musik bezahle, ist nicht auszusprechen. Habe Lust, das Protokoll zu zerreißen und dem Kinde meinen Namen zu geben. Ob ich das Protokoll zerrissen zurückbehalten werde, weiß nicht! – Wollte das Kindlein Ew. Wohlerwürden gottesfürchtig empfohlen haben, wenn [180] ich unterwegs bleibe. Die Mutter ist seit gestern so voll Buße, daß, wenn sie nicht etwa eine neue Unthat bereut, welches Gott verhüten wolle, sich ein Stein über sie erbarmen könnte. Bittet, Ew. Wohlehrwürden auf allen Fall ihres Kindleins halber zu grüßen. Hoffe, daß Hannchen, wenn gleich sie's erfährt, bedenken wird, daß Tanz und Musik zweierlei ist.

– – Habe gestern eine Wallfahrt mit meinen beiden Herren zu Fuß gehalten nach der alten Stadt und deren Kirche, wo der Sohn des seligen Dr. Luther,Johannes genannt, begraben liegt. Werden auch wohl in Ferien nach Mühlhausen, ein paar Meilen von hier, reisen wo seine Tochter schläft. Man zeigt noch ihre Knochen in einem kleinen Sarge. – Soll gut für Kopfschmerzen seyn.

Will Ew. Wohlehrwürden ein paar Geschichtlein nicht verhalten, die hier viel Redens gemacht in Lehr-, Wehr- und Nährstand, wie Ew. Wohlehrwürden die Christenwelt bedachtsam eintheilen.

Ein armes Weib, die in einem benachbarten Flecken mit Brod ausgesessen, ist allda vor Hunger gestorben. Will viel sagen, frisches Brod riechen und nicht begehren seines Nächsten frisches Brod! – Ihr Brodlohn hat sie ihren zwei unerzogenen Kindern zugewendet, welche der selige Mann ihr zurückgelassen! – Wollte nicht in diesem Flecken wohnen! Muß Hagelschaden kommen und Mißwachs!

Da geht ein gedrückter Mann in die Kirche nach Trost. – Findet ihn! Der Pastor predigt recht nach seinem Herzen; nun geht's an eine Collecte für eine abgebrannte Kirche. Die Kirche hat nicht Fleisch und Bein, wie ich habe, sondern Stein und Kalk, und ist nicht mein Nächster, wie ich glaube. Der arme Mann will zur Thür hinaus, ehe die Kirchenältesten die Sammlung anheben. Siehe da! die benachbarte Thür ist verschlossen; und so muß er durch die ganze Kirche, und alles zeigt ihm mit Fingern nach. Er hatte nur einen Gulden in seinem ganzen Hause, und fünf[181] Kinder, die nach Brod den Mund aufsperrten. Mein zweiter Herr behauptet, dieser Trostlose hätte mehr gegeben, wie sie alle, obgleich er nichts gab. Er ließ sich schnöde mit Fingern nachweisen. Wenn es doch mit dem Gulden wie mit dem Oelkrüglein ginge. Gott geb's.

Hab' mir noch einige Knoten in's Schnupftuch ge macht.

Ein armes Weib bekommt drei Kinder, und hat nur mit genauer Noth ein Hemdchen vor ihrer Niederkunft zusammengebracht. Wie das dritte kommt, ringt sie die Hände. Das arme Weib will die beiden jüngsten nackt taufen lassen! – Der Prediger gab nichts als drei Segen, und wollte auch für drei bezahlt seyn. Was aber die Leute, ohne daß sie Gevattern waren, dem armen Weibe zugewandt, ist nicht zu beschreiben! Müssen doch noch mehr Gerechte hier seyn als in Sodom, wenn gleich man mit »Uns ist geboren ein Kindelein« vor den Judenthüren hausiren geht, eine Wäscherin einen Kohlenbrenner heirathet, eine Herrenhuterin Putz macht, ein stimmloser Candidat für Juden und Heiden Predigten fabricirt!

Ein großer Knoten! – Meine Herren klagen alle Morgen über die schlechte Milch. Freilich sieht sie aus, als käme sie von einer der sieben magern Kühe. Doch liegt's nicht an der Kuh und wird sie mit Wasser von den Mädchen verfälscht, die sie ausschreien! – Da geht eines dieser Milchmägdlein, und der Wind reißt ihr ihr rothes Tuch vom Halse, und nimmt es mit ins Wasser! – Weg ist's! Da steht sie mit bloßem Busen, wie die junge Frau, die nackt gehen wollte. Vom Wasser kommt's, zu Wasser geht's! So gewonnen, so zerronnen, sagten die Leute, und Ew. Wohlehrwürden werden diesen großen Knoten verzeihen.

Es ist eine extra-fromme Schule, wo ein Knabe gefragt wird: wer ist dein Vater? Soll antworten: der Teufel, wie es geschrieben steht; der Junge ist so dumm und sagt: Erzpriester in –; ist darüber hart angesehen, wie er's auch wohl verdient hat.

[182] Habe so viel von einem großen Gelehrten erzählen gehört, der im großen Weinfaß seine Wohnung genommen, und sich über alles aufgehalten, was ihm zu nahe gekommen. Ein Mann desselben Schlages ist allhier befindlich. Seiner Profession ein Jude. Sagt allen Leuten eine trockene Wahrheit, hat nur den Fehler, daß er betrügt, wie andere. Mag wohl der Faßgelehrte auch nicht ohne Tadel gewesen seyn.

Das Pflaster einer der besten Straßen wird gebessert. Was wollt ihr? fragt der Jude, da sie mit Spaten und Steinen kommen. Die – – Gasse ausbessern! Das geht nicht mit Steinen, sondern mit Friedrichsd'oren. Eine Münze, die hier fünfzehn Gulden gilt, und der der König seinen Namen gegeben hat. Ist doch nur ein Stückchen Gold, und Ew. Wohlehrwürden sollten Lieschens schönen Jungen sehen! – Ich denk' ich zerreiß das Protokoll und verwerfe die Stücke.

Der Jude ist ein sonderbarer Kauz! »Hängt ein Jude,« sag er, »wem kommt's wohl ein, zu schreien: Da hängt ein Dieb! da hängt ein Jude! sagt jeder.«

Was habt Ihr das Jahr? gestrenger Herr, fragt er einen Richter. Bald viel, bald wenig, wie es fällt, er wiederte der gestrenge Herr. Sporteln meint Ihr doch? fügte der Richter hinzu. Nicht doch beschloß der Jude, Flüche und Segen.

Der Reiche, hat er sich verlauten lassen, ist ein Kettenhund des lieben Gottes, den er an die Kisten und Kasten gestellt hat. Der Reiche bezahlt für den Armen; dieser genießt, jener trägt die Kosten.

So geht's, sagt' er, da jemand fuhr, der sich durch einen wohlthätigen Bankerott bereichert hatte; der Herr fahrt, weil er sich vergangen hat.


* * *


Eine Hand wäscht die andere. Gottfried hat für mich ein gut [183] Bekenntniß gethan, und ich kann ihm mit gutem Gewissen Gleiches mit Gleichem vergelten! Es war kein Augendiener, sondern einer von Herzensgrunde. Wißbegierig bei mittelmäßigen Fähigkeiten. Ein seltener Fall. Ost vergaß er aus Achtsamkeit dem königlichen Rath den Teller zu nehmen, und bald gab er ihm Salz für Pfeffer und Essig für Zucker. Der königliche Rath liebte alles sehr süß. Gottfried hörte überhaupt mehr, als er sah; war nicht etwa ordentlich, sondern peinlich. Es verdroß ihn nichts mehr amJunker Gotthard, als daß er die Groschen und Pfennige oft unberechnet ließ. Herzlich freute er sich über meine Bemerkung: Bruder! zum Kaufmann und tiefen Gelehrten hast du keinen Beruf; die berechnen Pfennige. Dichter aber könntest du werden. – Nach Noten, erwiederte Junker Gotthard! Gottfried lächelte und dachte vielleicht innerlich, zum tiefen Gelehrten mehr Anlage zu haben, als der gnädige Herr!

Zuweilen übertrieb Gottfried diese Anlage. Wenn er Spielgeld wegtrug, bestand er auf eine Quittung, worüber er einmal bei einem Haare aus dem Regen in die Traufe gekommen wäre. Einen gastfreien Ausdruck nahm sich Gottfried nicht übel, und kam immer mit heiler Haut davon, wenn gleich er zu weit ging. – Seine Rechtschaffenheit blickte überall durch. Jeder nahm Partei, sobald er ihm in's Gesicht sah. Da er sich im Schreiben zu üben Gelegenheit hatte, glaubte er auch im Denken es weit gebracht zu haben. So geht es mit solchen Leuten, und was schadet es, daß es so geht? Man kommt oft mit Erfahrungsbegriffen weiter als mit Vernunftbegriffen. Bei jenen ist man unternehmend, nichts ficht uns an; bei diesen alle Augenblick ein Querstrich, ein Seitensprung. Die Vernunft ist nicht jeder Sache gewachsen, und kann manches Gehege nicht durchbrechen, wo die Erfahrung sich Bahn macht! – Die Baarschaft seiner Seelenkraft ergibt sich aus seinem Briefe. Ich habe den größten Theil seines langweiligen Briefbuchs [184] abgesichelt. Was hindert er das Land? Seine Bemerkungen über Danzig gehen alle auf das Glockenspiel heraus! In Berlin hat er keine in Gott andächtige Jungfer mit ihren Morgens und Abends zu Gott erhabenen Händen gefunden.Lieschen ist todt, ihr Kind hat Gottfried nach seinem Namen genannt, und das Protokoll nicht etwa eingerissen, sondern verbrannt. Noch eine Stelle finde ich in seinem Briefbuche, die lesenswerth seyn dürfte.

Es ist allhier Sitte, daß man die von Gottes Gnaden oder Ungnaden, wie es die Leute nennen, in den Wirthshäusern zu jedermanns Achtung, sonderlich denen daran gelegen, aufknüpft. Da hing ein ganzer Codex (meine Herren nannten es so) am Nagel, und es gefiel meinen Herren die Art, den Codex an den Nagel, zu hängen, worüber der Wirth selbst lachte, da man ihn darauf brachte. Sein Schwager, der das Bier zu versuchen gekommen war, hatte noch einen tückischern Einfall, den ich Ew. Wohlerwürden mittheilen will. Mein adelicher Herr that die Frage: Nun, Ihr haltet doch diese heilsamen Verordnungen, oder von Gottes Gnaden, wie Ihr sie nennt? – Junger Herr, einer hält sie im ganzen Dorfe. Gott verzeih' mir meine schwere Sünden! Da fiel mir der Jüngling ein, der alle zehn Gebote gehalten hatte von seiner Jugend an. Ha! dachte ich, das wird wohl so ein Enkelchen dieses Jünglings seyn, und freute mich, daß beide Herren fragten: wer? denn hätten sie nicht gefragt, so hätte ich es gethan. Wer? Der Nagel, antwortete der Bauer, und sah nach oben, als ob seine Antwort auch an dem Nagel hinge.

Aus dem nämlichen Fasse des jüdischen Diogenes. Nicht wahr? Ein besonderer Geschmack darin! Es schmeckt nach dem Fasse.

Hier sagt man, schreibt Gottfried, mutterseligallein; habe es in Curland nicht gehört. Mein zweiter Herr ist gleich mit einer Erklärung da. Will es von den sechs Wochen verstanden haben, da der Mann sein Weib, wenn er sie gleich noch so liebt, allein [185] läßt, und wo sie doch allein so selig in der Mutterfreude ist, daß sie nichts mehr begehrt. – Liese, fügte er hinzu, hat nur drei Wochen gehalten. Möchte wissen, wenn nach dem betrübten Sündenfall die sechs Wochen aufgekommen?


* * *


Meiner Mutter Lieblingswunsch war: Gott thue wohl den guten und frommen Seelen! und so schließe ich auch diese Beilage C.

[Fortsetzung]
[186]

Soldat. Ob mein Vater den rechten Weg eingeschlagen, mich zum Soldaten zu erziehen, mögen Feldherren und nicht Kunstrichter bestimmen. Daß ich mich aber selbst nach dieser Lebensart, nur erst da Mine todt war, herzlich gesehnt, ist ein Umstand, den ich zur Steuer der Wahrheit, sonder Arglist und Gefährde, hie und da zu erkennen gegeben. Nie würde ich diese Sehnsucht befriedigt haben, wenn es nicht dem Herrn über Leben und Tod gefallen, meine liebe, theure Mutter aus der streitenden Kirche dieser Welt in die triumphirende zu versetzen und zum ewigen Frieden in sein himmlisches Reich zu bringen, wo Ruhe ist. Sie warf zuweilen die großmütterliche Frage auf: Ob es in der andern Welt zwei Geschlechter geben würde? und mein Vater, der sich in solche Fragen nie einließ, brachte sie auf die himmlischenHeerschaaren und ließ das gute Weib im Stich. Sie war wirklich auf dem Wege zu glauben, daß dort nur männliches Geschlecht seyn würde! Indessen erklärte sie die Spruchstellen, welche die Engel alsstarke Helden, als edle Streiter, als Hülfsvölker der Menschen darstellten, in der Art, daß man in der andern Welt sich recht emsig bemühen würde (dem Wort: exerciren, wich sie glücklich aus), Gott zu loben! – Der Engel aber, sagte mein Vater, der in einer Nacht einhundert fünf und achtzig tausend Mann schlug? – »Das war durch eine Feldpredigt.« Und der [187] mit dem Schwerte vor dem Paradiese aufzog? fiel ich ein. Stecke dein Schwert in die Scheide; denn wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen.

Ohne daß man wußte, ob diese vortrefflichen Worte auf den Cherub oder mich gingen.

Noch nie bin ich über etwas so stimmig gewesen, als über die Ausführung des Entschlusses, Soldat zu werden. Es war göttlicher Ruf. Ich hatte nicht nöthig, die goldene Regel von zwei Loosen in Anwendung zu bringen und in eines flugs Ja und ins andere flugsNein zu schreiben, sie einander gleich zu machen, eins zu greisen, und zu thun, was ich gegriffen. Es war alles Ja in mir, und Amen in mir, und wahrlich, ich empfand, daß ich eine Stimme zum Adler und Löwen hatte, die meine Mutter nur Baßpastoren erlaubte, dagegen sie der gütigen Meinung war, daß auch ein Discantist schon ein Thierchen für sein Stimmchen in der Bibel finden würde!

Der preußische Dienst hat so viel Anziehendes für mich, daß ich lange kämpfen mußte, wo ich den Tod, den lieben Tod suchen sollte. Da fiel mir noch zu rechter Zeit ein Gespräch ein, das der Professor und der Officier beim königlichen Rath über diese Materie gehalten. Es ward von einem jungen Manne gesprochen, welcher durchaus und wider seiner Eltern Willen, wie es der Professor hieß, dem Kalbfell und nicht den Prolegomenen der Metaphysik folgen wollte.

Der Kalbfell-Ausdruck fiel dem Officier auf. Er forderte den Professor. Hier ist das Duell:

Und wenn er will?

Der Verstand ist frei!

Der Wille nicht?

Wer sich auf den Verstand verläßt, was thut der?

Alles!

[188] Mit der Feder?

Mit dem Kopf überall der Soldat. Freund! ich lasse Ihrem Stande alle Gerechtigkeit widerfahren; ich lasse ihm den Degen und, wenn Sie wollen, die Hand.

Und Willen?

Meinetwegen! wenn mein Stand den Verstand behält, hat er gewonnen Spiel. Den Verstand – –

Bitte zu behalten. Gegönnt von ganzem Herzen. Mit Verstand ist nicht viel anzufangen; aber was können Sie denn meinem Stande nachsagen?

Cain schlug seinen Bruder Abel todt, war der erste Alexander der Große, der erste commandirende General-Feldmarschall, ein Allerdurchlauchtigster Ueberwinder, Sieger aller Sieger!

Und das Zeichen, das ihm Gott an die Stirn hing, gelt?

Das war wohl, nach Ihrer Meinung, ein Gnadenkreuz, ein Orden? – –

Wenn Sie wollen; wenigstens schützt manches Gnadenzeichen den Träger, daß man ihn nicht Mörder schilt.

Gewonnen!

Noch nicht. Gott schuf Weiber und Männer; allein viele Männer sind Weiber, und viele Weiber Männer. Es gibt Leute, die den Baum sein höflich wegbiegen, und Leute, die ihm gerade entgegen trotzen; Leute, die bitten, und die fordern.

Fordern, Freund? Was haben wir denn Welt auf Welt abzufordern?

Die ganze Welt!

Oder nichts, als uns selbst. Ein jeder hat den Ort, wo er steht, den Platz, wo er seine Rüben Pflanzt.

Und wer ihm das nimmt?

Ist sein Feind!

Also Krieg und Soldat!

[189] Vor dem die steinerne Tafel sub B, die von der Liebe des Nächsten handelt, ihn schützt: Was du nicht willst, daß dir andere thun, thue andern auch nicht.

Und wenn trotz der steinernen Tafel sub B doch ein solcher Thäter wäre?

Dann alles wider ihn, bellum omnium contra unum, solum, totum.

So wäre das menschliche Geschlecht eine Familie, wo der liebe Gott Hausvater wäre. Staaten sind unserer Herzenshärtigkeit wegen, und Soldaten?

Träume, Freund! Wir wollen nicht im Schlaf reden.

Ists Schlaf? Ists Traum? Wie gern gäbe ich, wie der Astronom, den Tag um diese Nacht! Glauben Sie nicht, Freund, daß einmal eine Heerde und ein Hirte seyn wird? Daß die Böcke ausgestoßen und die Lämmer gesammelt werden können? – Es gehen viele Lämmer in einen Stall! und in Wahrheit, die Erde ist so ein kleiner Stall eben nicht, daß nicht jedes Paar sein Königreich, sein Haus und Hof, seinen Acker haben und sich begnügen sollte mit dem, was da ist! Wir haben nichts in die Welt gebracht, und ist gewiß, daß wir auch nichts Herausnehmen werden. Der Mensch, wenn er todt ist, hat mit wenig Spannen Erde genug, und wenn er lebt, schwebt und ist, braucht er ein paar Spannen drüber. Man sollte nach Spannen messen. Die verdammten Meilen, sie mögen deutsche oder englische, oder – seyn, so sind es Wege, die den Menschen aus dem Menschen hinausführen. Die Soldaten sind eigentlich die Meilenzeiger. Sie haben alles Unglück in die Welt gebracht, sie erhalten es und werden es so lange erhalten, bis die Menschen so klug werden, daß sie kein Herz mehr haben; dann wird sich alles von selbst geben!

In den ersten fünftausend Jahren wohl nicht, und da unser Leben siebenzig währet, wenns hoch kommt achtzig, lassen [190] Sie uns die Welt nehmen, wie sie ist, und den Soldaten Soldaten seyn!

Aber das Bewußtseyn, daß er überflüssig ist, daß die Welt ohne ihn seyn könnte und, was noch mehr ist, glücklicher seyn würde – ha! solch Bewußtseyn thut weh.

Kann nicht sagen! Was würden denn die Herren Gelehrten in diesem Paradiese vorstellen?

Bewahrer der Labe des Bundes, wo geschrieben steht: Was ihr nicht wollt, daß die Leute euch thun, das thut ihnen auch nicht.

Lieber Freund! Zu so einem kleinen Bundeslädchen hat jeder in seinem Hause Platz, ohne den Gelehrten Miethe bezahlen zu dürfen.

Nun! so mag alles dahin fahren! Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sey gelobet!

Und gebenedeiet! Kurz und gut, lieber Professor! Gesetze ohne Vollstreckung sind Professores ohne Studenten!

Zur Vollstreckung sind hundert Mann genug.

Nachdem die Unterthanen sind, viel oder wenig, ruhig oder unruhig.

Man weiß nicht, ob Julian die Christen, oder die Christen den Julian verfolgt. Die Sterbescene an seinen Ort gestellt, da Julian eine Handvoll Menschenblut mit den Worten gen Himmel warf: Endlich hast du, Galiläer, doch überwunden!

Ich. Julian? –

Die wenigsten Unterthanen lassen es bis zur Execution –

Und die Nachbaren?

Müssen denken wie wir!

Müssen? Und wenn nicht?

Greift der Bürger nach seinen Waffen.

Der Professor nach dem Studentendegen.

Hat es denn nicht militiam civicam gegeben?

[191] Schneider zum Beispiele.

Fleischer, Schlosser, Schmiede, unsere Fuhrleute

Gänse zur Leibwache fürs Capitolium –

Was ich bei dieser Unterredung für vernünftige, lautere Milch in Absicht meines Entschlusses eingesogen, wird jeder selbst einsehen. So lange die Welt so ist, wie sie ist, scheint der Soldatenstand so etwas Männliches, so etwas Rüstiges an sich zu tragen, daß ich keinem jungen Menschen, falls er nicht eineMine hat, verarge, wenn er dem Kalbfell folgt, so wenig wie dem Sokrates, daß er zwei Schlachten pro patria et gloria übernommen. Der Gebrauch, daß man das Kind die Semmel erst mit einem Pfeile treffen ließ, ehe man ihm solche bewilligte, hat er nicht sein Gutes? Und wer kann meinem Vater das Alexanderspiel vorrücken? Man sieht den Krieg als einen Staatsaderlaß an, und vielleicht nicht ohne Grund. Der Professor war der Meinung, so wie es alle Schulmänner sind, der Peditatus, das Fußvolk, sey der Kern, die Phalanx der Armee. Weil die Alten dafür gewesen, sagte der Officier, und weil die Schulofficiere selbst alle Peripatetiker, Spaziergänger sind. Der Officier war ein Reiter. Ein Pferd ist freilich ein geborner Soldat unter den Thieren, und kann es vom Reiter mit Recht heißen: doppelte Schnur reißt nicht; indessen war ich mit dem Professor sehr fürs Fußvolk. Kein Wunder, da ich Student war. Ich blieb aber auch dieser Meinung, weil ich in der Jugend schon bei der Infanterie gedient und einen rühmlichen Abschied als Alexander erfochten. Fußsoldaten sind die Richter, die das Urtheil aussprechen; die Reiter vollstrecken es nur.

Daß doch der gütige Himmel dieß Kränzchen beim königlichen Rath in Frieden erhalten wolle! Nach meinem letzten Briefe aus Königsberg lebt er noch, der Präsident desselben, dieser Mann mit einer offenen, weit offenen Stirn, schwarzem Haar und einem Auge, [192] in dem man ihn im Kleinen, allein doch ganz sah, dieser Mann, der in den Mond und auf ein Grab sehen und weinen konnte.

Es gehört, sagte der königliche Rath, Minister und General zum Kriege; einer, der das Pulver erfindet, und ein anderer, der es braucht; und dieß kam dem Professor wie gerufen. Was will denn der Soldatenstand? sing er an. Erfand nicht ein Geistlicher das Pulver? Und hat nicht Daniel einen Traktat von der Cavallerie geschrieben? Der Officier hätte, das sah man ihm an, den guten Mann nicht ohne ein Wer da? gehen lassen, wenn nicht Daniel eben von derCavallerie geschrieben. Das brachte ihn durch.

Ueber die fremden Worte beim Exerciren war der Officier am verlegensten. Die Herren, sagte der Professor, sind alle deutsche Briefe mit französischen Aufschriften. Für ausbrechen, fortgehen, sagen sie marschiren, für Schlacht Bataille, für Rittmeister Capitain, für Rottmeister Corporal, für Feldwebel Sergeant. – Warum denn nicht Feldherr, sondern General? Von den Polen können wir deutsch lernen; da gibt's allein Groß- und Unterfeldherrn. Zwar, fuhr der Professor fort, haben die Herren freilich auch ihre deutschen Kunstwörter. So heißt z.B. der Teufel hat ihn geholt, in unserer Sprache: er ist sanft und selig im Herrn entschlafen! aber – Wer andere jagt, fiel der Officier ein, wird selbst müde; und der Professor wie ein Kanonenschuß:Man muß sein Geld nicht in einen Kasten werfen, wozu man den Schlüssel nicht hat.

Außer in den Gotteskasten, sagte der königliche Rath.

Soldat! aber wo? Eigentlich ist man Soldat fürs Vaterland. Da Curland indessen kein Vaterland ist, oder da Curland keine Soldaten hält, so war mir die ganze Welt offen. Wo? dachte ich. Der gute Officier, ohne zu wissen, was ich dachte, sprach ohne Ende und Ziel von der überwiegenden Würde eines preußischen Soldaten. Ueberzeugt, daß er mit drei Mann dreitausend [193] schlagen könnte, so daß kein Gebein von ihnen auf dem andern bleiben sollte, war ihm Alexander nicht groß. Alexander nicht? Der Professor sagte an einem tapfern Tage: Gewiß hat ein preußischer Trompeter die Mauern von Jericho zu Schanden geblasen. Unser Reiter lächelte. Wissen Sie, Freund! fuhr er fort, die Unterredung des großen Alexander mit dem Seeräuber, der sich so nahm, als wären sie Kriegscameraden? Der Reiter lächelte. Als Alcibiades, sagte der Reiter, erfuhr, daß die Athenienser ein Todesurtheil über ihn ausgesprochen, sagte er, laßt uns ein Lebensurtheil eröffnen, und dieß Urtheil in Rechtskraft setzen. Alcibiades, lieber Professor, zeigte daß er lebte.

Der Professor schwieg, ohne zu lächeln. Ich würde unserm Reiter, der wahrlich ein deutscher Brief mit einer französischen Aufschrift war, die Verachtung des großen Alexanders verziehen haben, obgleich Alexander mein Verwandter war, und worden seyn, wie er Einer, wenn nicht zu allem dem noch ein Vademecum von Werbgeschichten gekommen wäre, die der Reiter in Bereitschaft hatte, und die mehr interessiren, als die im Druck erschienenen List und lustige Begebenheiten der Herren Officier auf Werbungen. Es ist bekannt, daß Preußen für seine Kriegsmacht zu wenig Vaterländer habe, und daß durchaus auf Fremde Rücksicht genommen werden müsse. Mein Herr, sagte ein Witzling, braucht nicht Kinder, sondern Männer, als man von der Unzulänglichkeit der preußischen Landeskinder sprach. Kann man aber vom Witze sagen, daß er seinen Mann halte? – Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, bemerkte der Professor über diesen Gegenstand. Es kommt viel darauf an, wie man ihn trägt, erwiederte der Reiter. Mag seyn! Was kann denn aber ein Fremder für innerlichen Beruf fühlen, für ein fremdes Land zu siegen, oder zu sterben? Sollte man es nicht für eine Art von Blutschande halten, wenn Fremde für Geld und gute Worte Blut [194] und Leben in die Schanze schlagen? Freilich geben auch zwei kalte Steine Feuer; allein man muß sie lange reiben; mit einem eilfertigen: Fertig, schlagt an, Feuer' ists hier nicht gethan. Zur Zeit der Anfechtung fallen die Miethlinge ab! – Gut, sagte der Reiter, daß der Spreu vom Kern stiebt! – allein noch besser, wenn keine Spreu mehr da ist. Der Professor! – Sollen Werbungen seyn, warum denn list- und lustige Begebenheiten dabei? Ists denn so unrecht, wenn ein mit List und Luft Geworbener sich mit List und Lust wieder aus dem Staube macht? Der List kann durchaus nichts anders als List entgegengesetzt werden. Verstand thut nichts dagegen. – Der Professor konnte nicht aufhören über den armen Tropf zu lachen, der als Regimentsglaser Handgelb genommen.Eine einzige von diesen interessanten Geschichten.

Ein Officier, der aus List und Luft in gemeiner Kleidung auf Menschencaperei ausging, fand, wie sich unser Reiter ausdrückte, seine Leute, die er mit Geld und guten Worten locken wollte, daß sie daran glauben sollten, so gefaßt, daß er keine Menschenfestung einnehmen konnte. Er legte sein Ueberkleid ab, fing an zu drohen, und siehe da! man legte es ihm so nahe, daß er sich ins Wasser stürzte um sich zu retten. Ungewohnt, zu Wasser Dienste zu thun, würde er sein Leben gewiß eingebüßt haben, wenn nicht ein junger Mensch, der nur an die That, nicht an die Gefahr zu denken gewohnt war, mit seiner eignen Lebensgefahr das Leben dieses Werbers gerettet hätte. Edler Mensch, sagte ihm der Gerettete, was bin ich schuldig? – Nichts, erwiederte er. – Ein Tuch wenigstens zum Trocknen! – Ich bin nie anders getrocknet, als von der Sonne. – So sey mein Freund! – Hier ließ sich der Retter bewegen, dem Geretteten die Hand zu geben und ihm zu folgen. Edler Mensch! wo gehst du hin?

Bei großen Handlungen ist kein Stand merklich. Man sieht [195] den Menschen nicht vor der That. Jetzt, da beide unter Dach waren, sah der Officier, daß die Seele seines Lebensverehrers weit über dessen Stand wäre! – Der Gerettete ließ auftragen, was das Haus vermochte. Macht nur den Versuch, es kommt nur auf euch an, wie ihr den gemeinen Mann haben wollt. Ihr habt den Stimmhammer zu seinen Gesinnungen in euren Händen! –

Der Officier, so wenig zum Stimmen aufgelegt, daß er bis auf eine sehr kleine Cultur tief unter seinem Retter stand, verhielt sich herrlich zu ihm. Man aß und trank, und ward, wie der Reiter sich ausdrückte, von innen so naß wie von außen. In diesem ausgelassenen Vergnügen nöthigte der Officier seinem Erretter ein Versprechen ab, das sogleich durch eine rothe Binde in Rechtskraft gesetzt ward. Unser Reiter nannte diese Erzählung einen Wasserfall und that so listig und lustig dabei, daß es jedem von uns wie ein zweischneidiges Schwert durch die Seele ging.

Wenn das der König wüßte, sagte der königliche Rath! – Wenn? erwiederte der Reiter; was für ein Federleser wird es ihm denn melden? Da niemand das Wort nahm, fuhr der Reiter fort: Nachdem es fällt. Was für Collision ist denn hier, wenn man die Sache beim rechten Zipfel faßt? –

Ich wünschte, diese zweischneidige Geschichte so kalt erzählt zu haben, als sie der Reiter erzählte, der mir in diesem Augenblick mit seiner List und Lust wie ein Menschenhändler vorkam! Er glaubte, daß der Retter nicht höher, als durch eine rothe Binde belohnt werden könne, da er aus einem Sklaven ein Gebieter worden! Wie man alles in der Welt nehmen kann! Das Copernicanische System scheint paradox und ist doch das wahrscheinlichste! Der Retter war freilich ein gemeiner Mann; muß man denn aber einen Degen tragen, um glücklich zu seyn?

Ich dachte nicht mehr wo? Die Russen können von Riga aus den Curländern in die Fenster sehen! Unser Reiter selbst [196] konnte den Russen nicht ein gutes Zeugniß abschlagen. Er hatte sich mit ihnen gemessen, und sein Vater, der während des dritten schleichen Kriegs in Preußen den Russen zu huldigen verbunden gewesen, hatte alles Liebes und Gutes von diesen guten Feinden genossen! – Alles, fügte er hinzu, alles haben die Russen von uns. – Mag! Man sagt freilich, die Russen ahmten nach. Besonders daß eine Nachahmung der Natur, eine Beschleichung derselben, eine unmittelbare Befolgung der Vernunft, eine Erfindung heißt, und von niemandem, als wer es versteht, Nachahmung gescholten wird. Nur wenn ein Mensch ein Menschennachahmer ist, heißt er Affe. Männchenmacher, oft Possenreißer; dann siehts aus, als wenn man im verbotenen Grade geheirathet hätte. – Ist's eine Blutschande, für ein anderes als das Vaterland den Degen blößen, so ist hier die Blutschande noch ersichtlicher. Wahr! daß kein Menschennachahmer es weit bringt und die Nase (bei jeder Nachahmung ein Hauptstück, das in Bewegung ist) hoch heben kann. Warum aber wahr? Weil der Menschennachahmer vielleicht mehr vermochte, als sein Herr und Meister, weil der Nachahmer kein Herz hatte; und weil überhaupt es nicht viel Menschen gibt, deren Bild man tragen kann.

Jeder Mensch ist Original, sagt Pope, und wie oft ist das Uneigenthümliche nichts weiter, als Rost, der sich an eignes Talent anklammert.

Das erste Wort war Russen! das zweiteKrieg! und das dritte Türken! So viel Worte, so viel Gewichte. Die Türken gaben den Ausschlag.

Mein Vater konnte zwar als ein christlicher Geistlicher nicht wie Aristander in dem Alexanderspiel dienen; allein wider die Türken wäre er mit Freuden als Feldpropst gegangen.

Ich fürchte, er hätte seine Bibel sehr bald mit dem Degen verwechselt. Er hatte nach seiner angestammten Milde keinen Feind [197] in der Welt, als die Türken. Auch diese waren Feinde der Einbildung. Wäre es auf Liebesdienste angekommen, er hätte nicht ermangelt. Selbst zog er keine erbauliche Kirchenglocke wider sie. Meine Mutter besaß eine Predigt mit dieser Aufschrift, die mein Vater in seinem Bücherheere litt. – Das will schon viel sagen; was that er denn Curland und Semgallen? und was den Türken? – Wem fällt hier nicht seine Reise ein, die er mit meiner Mutter des Abends zum Grabe Christi anstellte? Des Morgens, wenn beide zu Hause wieder eintrafen, hatte keines einen Türken gesehen. – –


* * *


Junker Gotthard hatte, nach dem Tode seines Vaters, von seiner Mutter dringende Briefe, zurückzukommen. Schnell fiel ihm auf einmal seine unverkrümmte und unverkrümmte, reif wie die Natur herausgegangene, wie eine Göttin ausgewachseneTrine ein, gegen die alles, was er in Königsberg Schönes erjagt, nur mangelhafte Kopien blieben. Was das für ein Geruch ist, sagte er mir einen Abend, wenn die Pomade auf dem Kopf und die Rose am Busen im Wettstreit sind! Nun war Junker Gotthard fertig. Er sagte selbst, daß er wie aus der Pistole abgehen wollte. Unvergeßlich ist mir der Abend, da die Nachricht von seines Vaters Beförderung einging. Seine Mutter hatte mir übertragen, ihm diesen Todesfall gelegentlich im Säftchen beizubringen. Er kam mir mehr als halbes Weges entgegen. Meine Vorbereitung indessen verpfuschte mir eine Scene nicht, auf die ich es geflissentlich anlegte. Er ist geborgen, fing er an. Was meinst du, Bruder, ich werde nicht alt werden? Mit diesen Worten stützte sich Junker Gotthard auf drei Finger seiner linken Hand (er hatte starke Finger), und blieb so eine Viertelstunde. Jetzt sprang er auf und murmelte die Melodie: Wenn Mein Stündlein vorhanden [198] ist. Das Ende vom Liede, fing er zu mir nach dem dritten Vers an, das Ende vom Liede, Bruder, ist sterben. – Wir leben für nichts und wieder nichts; eins kommt zum andern, erwiederte ich; es gibt auch schöne Tage in der Welt.

Er. Summa Summarum, was ist das Leben?

Ich. Freilich, der schönste ist der Sterbetag!

Er. Gelt! es war ein Mann, mein Vater! Ich will nicht ruhmredig seyn. Ich werde nie werden, was er war! –

Wahr! Bruder! ich vergesse nie ihn und den Alten mit dem einen Handschuh, den er jetzt mit Bor- und Zunamen kennt!

Junker Gotthard holte sich den Kalender und brachte ganz richtig heraus, daß sein Vater an dem nämlichen Tage gestorben, da der ehrwürdige Alte zum letztenmal vom Gewächs des Weinstocks bei ihm getrunken! – Eine Stille!

Junker Gotthard aß den Abend keinen Bissen. Er war ernst und feierlich; Gottfried außer sich. – Beide konnten sich nicht anders nehmen, da sie herzlich betrübt waren. Gottfried weinte laut, als wollte er seinem Herrn den Rang ablaufen. Junker Gotthard keine Thräne!

Man entgeht mit eins, wenn man stirbt, allem, allem Elend, sagte Gottfried, und riß seinem Junker das Kleid herunter und band ihm das Kopftuch mit den Worten um: Ists mir doch, als wäre es dem seligen Herrn! –

Ich weiß nicht, ob dich oder was anders der Drücker der Flinte gewesen! – Junker Gotthard weinte heimlich. Er und ich hatten die Gewohnheit, aus dem Bette gute Nacht auszuwechseln, dießmal hielt es lange an, ehe sie seinerseits zum Vorschein kam! Ich hörte ihn weinen! – Spät kam die gute Nacht, und so mit Thränen versetzt, daß ich selbst bewegt ward! Ich kein Wort, wie gute Nacht! Wer sollte glauben, daß Junker Gotthard, dieser rauhe Jüngling, auf diese Art gute Nacht sagen könnte! Er [199] schlief bald ein. Seine drei Argos, die er in Göttingen hatte, konnte er nicht freundlich ansehen. Der Selige hatte es ihm verboten. So wie sein Schmerz nachließ, so nahm die Liebe zu den Hunden zu. Sie heißen Argos, sagte er, ich nehme sie mit. Der Schmerz, sagte ich ihm, ist eine Seelenbewegung! Die deinige hatte sie höchst nothwendig.

Ich gestehe es, sie war der Stockung nahe.

Fast. –

Ich kann mich nicht so geschwind auffreuen als mancher!

Desto besser, daß du geweint hast! –

Aber weinen! –

Würden wir wohl weinen können, wenn wir nicht weinen sollten?

Gerne hätte er, wie er sagte, seinen Vater im Sarge gesehen! Du hast mir gesagt, es gebe Gesichter, die sich da ausnehmen! Mein Vater war einer von denen, die im Tode getrost zu seyn verstanden. Es freute den Junker Gotthard, daß sein lieber Vater, wie ers nannte, zu Kreuz gekrochen und sich mit der Bibel ausgesöhnt hätte.

Seine Mutter hatte ihn von allem unterrichtet, und im Postscript, das fast eben so lang als der Brief war, vorgezeichnet, wie die Trauer beschaffen seyn sollte. Die Regel jenes Alten, die er gab, da man ein Mittel wider den Schmerz von ihm verlangte, brachte den Junker Gotthard wieder auf die drei Finger seiner linken Hand: denke an die Zukunft, als wäre sie da! – Wahrlich, eine schöne Regel!

Gibts Schmerz? könnte man fragen, und: gibts Freude? darauf antworten. Bei Gott ist Finsterniß Licht. Böses ist bei ihm Gutes. Er sieht wie Gott, und wir wie Menschen! – Podagra ist Originalschmerz! Edles Salz, uns das Leben schmackhaft zu machen, das ist Schmerz! – – – [200] Daß dem Junker Gotthard seine gute Trine einfiel, wer kann es ihm verdenken? Ich verdenke keinem, was die Natur ihm nicht verdenkt! Da ich ihn aber an die liebe Kleine, an Lorchen, erinnerte, schlug er den Kopf zurück. Kinderspiel! Das war alles, was er sagte. Junker Gotthard ward, was er nie gewesen, krank, und konnte nicht reisen. Die Aerzte widerriethen ihm die Reise, und seine Mutter, da sie die Nachricht von seiner Krankheit eingezogen, verbot sie ihm. Sie verfügte eine Zeit, damit er sich ja nicht übereilen möchte. Ihren mütterlichen Segen setzte sie darauf. – Junker Gotthard blieb, wie er mir sagte, gern meinetwegen! und ich läugne es nicht, daß ich mich ihm und seinem Gottfried in dieser Vorbereitungszeit mehr widmete, als vor diesem!

Einen Morgen traf ich ihn mit einer Taube beschäftigt. Er wollte ihr beibringen, die Wicken aus den Erbsen zu lesen! – Bruder, setze den Citronenbaum dem Fenster näher; siehst du nicht, wie er seine Aeste nach der Sonne reckt? – Natur, Bruder! – Wie kannst du glauben, daß eine Taube sich so verläugnen sollte? – Dafür ists eine Taube! erwiederte er.

Ich würde sie verachten, wenn sie keine Erbse mit verschlänge!

Zugegeben, sagte er eines Abends, da er sich durchaus noch eine Viertelpfeife länger mit mir unterhalten wollte. Alles zugegeben, eine Flinte ist doch was Großes. Jupiters Scepter! Donner und Blitz! Jupiter würde sich nicht schämen, sie zu führen.

Je aufgeklärter die Nation, je weniger wilde Thiere, erwiederte ich. Wilde Thiere, wilde Menschen!

Er. Der Sohn des Achill ging mit zwei Jagdhunden in die Versammlung der Achäer.

Ich. Wilde Thiere sind Straßenräuber.

[201] Er. Darum Jagd.

Ich. Ich. wünschte Ausrottung!

Er. Und wo denn Fleisch in der Wüste?

Ich. Wachteln! Vogelwild!

Er. Vogelwild ist Weiberwild. Männer sollten so männlich seyn und diesen Jagdabschnitt den Weibern überlassen! Nicht wahr, auch Hausthiere?

Ich. Freilich, wenn durchaus Fleisch seyn soll, wenn Manna nicht hinreichend ist. Man muß doch von jeher Gewissensbisse übers Fleisch gehabt haben, sonst würde nicht in den christlichen Kirchen die Fleischfasten ein Religionsstück worden seyn. Der Mensch, dünkt mich, ist Souverän der Erde, kann essen und trinken was er will, was sein großes Haus, die Erde, nur vermag! – Was seiner Souveränetät in Weg kommt, begeht Hochverrath! Alle schädlichen Thiere sind Verräther. Nimm England!

Er. Hasen gibts da noch

Ich. Die sind zu keinem Hochverrath aufgelegt.

Er. Der Hauptjagdartikel!

Ich. Du sprichst dein Urtel selbst. Siehe da! den Beweis, daß die Jagd mehr ein Spiel, als eine Ausübung der Majestätsrechte über die Thiere ist! – Freilich kommt der Jäger mit List, Hunden und Flinte, so wie jeder Despot; allein der Sache nahe getreten, ist er Fiskal, Richter, Henker, der im Kleinen den Monarchen spielt! – Ausrottung, Bruder, Ausrottung!

Er. Du redest, wie Moses von den Canaanitern, Hethitern, Amoritern.

Ich. Mit dem Unterschiede, daß meine Canaaniter Bären, wilde Schweine, Wölfe und andere dergleichen schadenfrohe Thiere sind.

Er. Und England?

Ich. Ich bitte.

[202] Er. Dieser Wildfang von Staat ward, was die Thiere erst waren, ward wild.

Ich. Frei, willst du sagen, und Curland, dieß Bärenland!

Er. Gute Nacht, Bruder!

Ich. Gute Nacht!

Er. Mein Vater pflegte zu sagen, der Monarchist reitet, der Aristokratist fährt, der Demokratist geht zu Fuß, wie jeder kluge Mann.

Ich. Der Despot läßt sich in der Sänfte tragen.

Er. Der Monarch liebt die Jagd.

Ich. August der Schöne, König von Polen, liebte die Jagd rasend, und der Original-König Friedrich, liebt er sie?

Schon habe ich bemerkt, daß die Frau v. G. ihrem Sohne die Trauer sehr pünktlich vorgezeichnet. Herr v. W. hätte nicht genauer seyn können, wenn von ihm ein Trauergutachten auf Ehre und Reputation wäre abgefordert worden. Wer aller dieser Trauergesetzgebung ungeachtet nicht trauerte, war Junker Gotthard!

Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, sagte er; dem Vater mehr als der Mutter.

Herr v. G., der Selige, declamirte, nach der Relation des Junkers Gotthard, unaufhörlich wider alle Trauer. Jedes, sagte dieser Naturmann, hat seine Tracht. Die Erde grün, die Sonne Gold! Grün und Gold ist Erde und Sonne!

Bruder! sagte ich, man siehts dir nicht an. (Dieß war seine Uniform, wie wir alle wissen.)

Ihr Gelehrten habt alle kein Auge, erwiederte er.

Aber die Jagd, Bruder! verbot sie der Selige nicht?

Er selbst war Jäger; bin ich denn noch Student?

An der Taube hast du den Erb- und Gerichtsherrn von – gesehen, nicht wahr? in Lebensgröße! Sey immer eine Taube, lieber Gotthard!

[203] Der Zeitpunkt kam, den ihm die besorgte Mutter bezielt hatte, und nun schieden wir an einem regnichten Tage, nach Mittag, weil es eine weite Reise war, von einander.

Es ist in diesem Buche schon so oft Abschied genommen worden, und begnüge ich mich also zu bemerken, daß der unsrige kurz und gut war, wie vieles in diesem Buch ist. Ginge ich zu Fuß, würde ich behaupten, ich ginge mit einem Springstock. – Gottfried hatte etwas Schriftliches aufgesetzt, das er mit einer Art behändigte, die nicht zu beschreiben ist.

Der Jüngling, fing Gotthard an, lehrt den Mann, der Mann den Greis. Der Grund, die Folge, pflegtest du zu sagen, lieber Bruder! Du sollst Freude an mir erleben! – Gott segne dich, lieber Gotthard, sagte ich.

Er. Du wirst dein Lebtag nicht Pastor werden.

Nach einem kleinen Wortwechsel mit dem Postillon wegen der drei Hunde brachte Junker Gotthard es in einem Augenblick durch Geld und gute Worte dahin, daß der Postillon diesen dreien Argos selbst ein Lager legte! Und nun ließ Junker Gotthard über und über blasen! Reise glücklich!

Zum erstenmal empfand ich die Glückseligkeit,allein zu seyn! Daß Leute in gewissen Jahren zum Traualtar so schwer zu bringen sind, kommt wahrlich daher, weil sie die Süßigkeiten des Einsiedlerstandes gekostet haben! – Luther sagt, wo ich nicht irre: wo reiche Leute sind, ist Theurung; wo Menschenhülfe aufhört, da sängt Gotteshülfe an! und gewiß, keinen hat Gott und die Natur verlassen! – Wahrlich, Freunde, es ist keine unrichtige Behauptung, daß der ehelose, der einsame Stand nach der jetzigen Eheweise un endlich viel zum göttlichen Leben beiträgt; daß eine gewisse Kirche die Ehelosen begünstigt, ist es Wunder?

Russen! Krieg! Türken! das waren die drei Worte, bei denen ich stehen blieb, und mich ausruhte. Auch ich war fertig, [204] nach dem Ableben meiner Mutter, wie aus der Pistole. Preußen vermied ich wohlbedächtig, ich wollte stark seyn, und wahrlich, das heilige Grab hatte mich geschwächt!


* * *


Ich kam ins russische Lager zu einer theuren Zeit. Die Türken hatten alle Lebensmittel aus der Moldau aufgeräumt, um uns das Bahnmachen, das Vorrücken zu behindern! – Solche Zäune sind im Kriege die gefährlichsten.

Fürst Gallizin (sein Name sey in der Geschichte ehrwürdig!) ließ zwei Brücken über den Dniester schlagen und brach auf mit uns. – Die Hauptmaxime des Krieges ist freier Kopf und freie Füße. Sich den Feind vom Leibe halten, ist im Großen und Kleinen ein wichtiges Glück.

Wer von mir Ulysseische Wanderungen erwartet, dem gebe ich eine gültige Anweisung auf denHomer, und wenn er will, auf den Professor Großvater, der dem Homer neben der Bibel ein Räumlein vergönnt hatte! – Wer nach einer Abhandlung wider den Soldatenstand dürstet, gehe zum Antagonisten des Reiters, dem Professor – Klein-Vater hätte ich bei einem Haar geschrieben.

Freunde! um euch nicht ganz im Bloßen zu lassen: Es ist alles in der Welt nur ein Spiel! Der Soldatenstand, wie der akademische, der Feldherr, Professor, die Stabs- und andere Offiziere, Magistrati, Baccalaurei, Licentiaten, Candidaten, Fußvolk und Reiterei, Studenten, im vollen Mond, im halben, im Viertel: nur mit dem kleinen Unterschiede, daß der Pedantismus mehr im Soldaten, als im akademischen Stande herrscht.

Ich bitte, mein Herr Obrister, dieß für keinen Druckfehler zu halten. Tausendmal habe ich gedacht, nur neue Dekorationen, das Stück ist das nämliche. Wenden Sie Ihre Zeit gut an, sagt der General und der Professor, und wenn sie Pietisten sind, setzen sie[205] hinzu: Gott segne Ihre Unternehmungen! Ich dachte so wenig, da ich Soldat ward, meinen Lebenslauf zu schreiben, als auf der Akademie. Dort wollte ich leben, hier wollte ich sterben. Auch nicht viel auseinander! Kein Wunder, daß ich bei aller menschenmöglichen Gelegenheit Muth zeigte. Wäre ich ein Katholik gewesen, vielleicht schrieb ich im Kloster Prodromum aeternitatis, Jacobs Himmelsleiter; als Protestant, sage selbst, liebe Mutter, was konnte ich an ders, als Soldat werden? Ich folgte nicht dem Kalbfell, sondern der Todesfahne, in der ein Kreuz hing, dein Lieblingszeichen, das du dir aber meines Vaters halber beim Gähnen abgewöhntest. Es gehört auch für kein groß Maul!

So und nicht anders konnte mir der Soldatenstand nur willkommen seyn; ich wollte nicht den Bürger kränken, um mir von seinem Schweiß und Blut einen Bauch des reichen Mannes anzumästen! – ich wollte siegen oder sterben. Mine selbst würde es mir nicht verzeihen, die vielleicht auf dieses Blatt blickt, wie Geister blicken, wenn ich eine Unwahrheit schriebe. Ehre mischte sich in meinen Entschluß, und wo sie nicht ist, was schmeckt? Ich war nicht verliebt in mein Leben; allein ich wollte es nicht um ein Linsengericht dahingeben.

Was kann meinen Lesern mit Scharmützel- und Schlachtrissen gedient seyn! Hätte ich geglaubt mich dadurch in bessern Ruf zu setzen, würde ich daraus, mit Gottfrieds Erlaubniß, die Beilage C gemacht haben.

Ich war bei dem Treffen, da es zwischen dem Vordertrab des Fürsten Prosorowsky und dem ottomannischen Haufen, der vom Karaman Bassa angeführt wurde, zum Angriff kam!

Ich war bei der Belagerung von Chotzim. Ueberall stand ich wie Urias, ohne sein Empfehlungsschreiben zu haben. Mein lebensgleichgültiges Herz hatte mir diesen Uriasbrief geschrieben, die Ehre hatte ihr großes Siegel mit einem Adler drauf gedrückt. Bei [206] Chotzim gab mir der Tod, mit dem ich wie mit einem guten Freunde umging, die Hand. Ich ward durch den Arm geschossen! Ich kam dieser Armkugel nicht in den Weg, ich sagte nicht: du irrst dich, hier ist der Fleck! – aufs Herz zeigend. Es ist ein besonderes Ding, das Leben, auch wenn man eine Gemüthskrankheit hat, die das Leben schwarz, wie die mondlose Nacht, und den Tod weiß, wie einen schönen Lenztag, poetisch verkünstelt! ES ist doch das Leben, worauf es angesehen ist!

Ein Armbruch ist im Kriege ein Aderlaß; ehe ich selbst dachte, war ich da, und froh, daß ich da war! Geschäfte sind dem Menschen nach unserm Weltlauf so nöthig, als das tägliche Brod. Ich kann nicht sagen, daß ich Minen drüber vergaß; allein Handlungen sind der Einbildung so entgegen, wie Wasser dem Feuer!

Gallizin, der mich bis zum Hauptmann gebracht (er war so gut, zu sagen, ich allein hätte es gethan), übergab das Commando dem Romanzow. Auch er verdient einen undanksichern Platz in der Geschichte.

Ich stand unter dem braven General Elmpt bei der Einnahme von Jassy.

Was werth zu sehen war, habe ich gesehen. Was ist doch Paris und Rom und die schönste Schweizergegend gegen diesen Schauplatz? Ich sahe mehr, als was alle Künstler zeigen können; ich sah den großen Sieg, da das türkische Lager erobert ward! – Möchten sie doch das heilige Grab verlassen, wie ihre Zelter! – Da sah ich den Prinzen Wilhelm von Braunschweig siegen! Warum nicht sterben? Was will eine Civilkrankheit von Helden? – Wie mir sein Tod nahe ging, bloß weil es ein Betttod war! Kein Prinz sollte einen Civiltod sterben!

Ich sah Bender mit Sturm erobern. Es war ein Wirbelwind; ob es gleich nur Türken galt, wandte ich doch mein Auge von der Plünderung. Feinde laufen, Prinzen ihr Leben ausschlagen [207] sehen, ist ein Anblick, der seines Gleichen nicht hat. Welch ein Abfall! die Plünderung! Drei Auftritte gingen mir bei dieser Plünderung durch die Seele. Mein Herz rief wehe! über sie. Sie sollen nicht meinen Lebenslauf verunreinigen!

Romanzow commandirte mich zum Paninschen Corps. Er schien mit mir zufrieden zu seyn und begießen zu wollen, was Gallizin gepflanzt hatte. Romanzow band mir ein paar vornehme Russen auf die Seele. Nicht sollen sie, sagte er, wie an der Schnur irgend eines Unterrichts einhergehen! – Sie sind schon vor solch einem Garn gewesen! Wir Russen sind gewohnt, die Antwort aus der Frage zu nehmen! Reim dich oder ich fress' dich, ist unsere Regel! Durch Umgang, ohne Uebergang und Curialien, wünschte ich, daß Sie dann und wann einen Funken Ihres natürlichen Verstandes in ihr Herz und ihre Seele fallen ließen. Zünden wird es, hoffe ich! – Es waren ein paar allerliebste junge Helden! Sie wußten vom Handwerk mehr, als ich; indessen schlossen sie sich so fest an mich an, als brauchten sie über alles, was sie wußten, meine Bestätigung. Die mathematische Methode ist in der Philosophie abgekommen, und ist die Mathematik heut zu Tage, da alles, was nur einen halben Kopf hat, studirt, zum Soldaten nöthiger, als Gesinnungen, als Grundsätze? Wer kann denn den Franzosen ihre Kriegskunst abstreiten? – Bücher sind nur ein Beweis für das, was in uns ist. Ihr Geist gibt Zeugniß unserm Geiste, daß wir richtig wandeln. Wie leicht wird uns manches durch Umgang, was im Buche so schwerfällig war. Ueber den Fuß, auf dem ich mit diesen jungen Helden umging, waren sie ausgelassen. Mich sollte verlangen, fing der eine an, was er von meinem Aufsatz sagen wird! – Ich durfte nur überall Natur hineinbringen! Alles war schwer von Kunst beschlagen. Ich brauchte nur den Kopf zu schütteln und alles ward glatt ausgelöscht. Gnade dem Gott, der sich unterstand, um den Deutschen [208] zu verargen! Die Russen ziehen selten aus dem Kern etwas groß. Alles wird mit der Wurzel verpflanzt! – All' mein Lebtage denke ich an einen Vormittag, wo meines Vaters Geist auf mich fiel, und wo meine beiden Freunde ausnehmend zufrieden mit mir schienen.

Wir sprachen vom obersten Commando, wozu wir die Gelegenheit nicht weit suchen durften. Nicht wahr, es sollte nach der Staatsform geformt werden? Ist die monarchisch, aristokratisch, demokratisch, so auch das Commando. Der hat sehr über den Soldaten gewonnen, der ihm einbilden kann, er wäre zu Hause! – Die Maxime ist gar nicht unüberdacht, daß man den Soldaten das Heirathen verbietet. Da merken sie es gleich, daß sie nicht zu Hause sind, wenn sie ihre Weiber nicht bei sich haben! Ein Weib und ein Schlafrock scheint einem Soldaten gleich unpassend.

Soll ein Prinz das Commando haben? Gustav Adolph und Karl der XII. scheinen fast auf ein Nein zu bringen; Peter der Erste, König Friedrich würden es bejahen.

Zum Beschluß tranken wir dem Drosselpastor zu Ehren: Vivat Academia! Es lebe Romanzow!

Meine beiden Schüler waren jung und konnten nicht umhin, sehnlichst zu wünschen, daß Lustbarkeiten, Bälle und Theater im Felde erlaubt wären! Ich schlug es ihnen rund ab. Nicht eines? Der keines, lieben Freunde! Der Kampf der Ehre und Liebe macht den fünften Actstod so schön, daß man mit Geschmack sterben will! – Im Felde muß man den Tod nehmen, wie er kommt – da hilft keine Herz-Mutter! Dieß brachte uns auf die lieben Franzosen, die ihren Feld-, Tanz- und Fechtboden, ihr Feldtheater und andere Feldplaisirs mehr haben! – Feldbibliotheken ja nicht zu vergessen! – Die guten Herren! Da sie zu sich selbst kein sonderliches Zutrauen fassen können, haben sie Zutrauen zu Festungen! Ich bin für Soldaten von deutschem Schrot und Korn. [209] Im Felde muß man Flinten blitzen sehen, und Soldaten-Volkslieder singen hören. Ein Marsch, ein Feldgeschrei, das ist alles, was von Instrumental- und Vocalmusik erlaubt ist. Laßt den Schäfer ins weiche Bett des Grases sich legen, laßt ihn beiher die Nachtigall aus einem Blüthenbaum schlagen hören! Wir haben vom Stoicismus Handgeld genommen. Wahrlich, die erhabenste philosophische Secte! Laßt uns mit der königlichen Frau Mutter so umgehen, wie Alexander mit Madame Darius, und ich mit der Babbe, welche zum Leidwesen meiner Mutter über der königlichen Würde die Grütze versalzte! Gute Mannszucht ist Empfehlung zur Huldigung! – Mannszucht ist Strenge! – wo die nicht ist, wie kann da Güte seyn? Liebe ohne Gerechtigkeit ist ein Unding! – Welche Nation denn die tapferste wäre? – Die russische, sagten meine beiden Jünger. – Leute aus bergigen Orten, fiel ich ein, sie sind allen Elementen ausgesetzt, und wer die aushalten kann, was hat der seines Gleichen zu fürchten? Die Gallier jagten den Römern wegen ihrer Größe Schrecken ein, und man sage, was man will, Friedrich Wilhelm hatte mit seinen Potsdamern in der Regel so recht, als sein Sohn, diese Riesen in alle Welt gehen zu lassen! Große Leute sind wie Mauern und Wälle. Zu ersteigen ist alles! Wie viel brechen aber darüber den Hals, ehe sie oben sind? Ich war von Jugend an sehr für Berge. Große Menschen sind Berge! Befehlshaber dürfen nicht nur nicht groß seyn, sondern hier wird oft die Größe schädlich. Höhere Wesen, wenn sie erscheinen sollten, würden sich in ein mittelmäßiges Menschenkleid einkleiden. Kein großes Genie hat Riesenhöhe! – Starke ausgewachsene Männer sind die bescheidensten! – Ich wollte mit der goldenen Regel schließen: Ein weiser Mann ist stark und ein vernünftiger Mann ist mächtig an Kräften; allein man wollte noch mehr von der Furcht, dem Hauptfeinde des Soldaten.

Ich hatte geäußert, daß man durchaus retiriren lernen müßte; [210] bei diesem einzigen müßte man im Kriege an strenge Regeln gebunden seyn. Den Feind zu weit verfolgen, heißt ihn zur Verzweiflung bringen, und dann kehrt sich auch der Feigste als Held um. Konnte nicht ein so unbekannter Mensch, als Herostrat, den Tempel zu Ephesus anstecken? Mich ärgert, wenn man seinen Namen ausspricht. Das wollte er nur. Ein einziger Strahl, so macht der Flüchtling Halt! ist feuerfest – ist Mauerbrecher!

Man hat so viel, fing ich an, von der Furcht gesagt, daß gewiß der kleinste Theil richtig seyn kann! Die Deutschen gingen nie zum Rath, nie zum Fest unbewaffnet. Sie schlugen auf ihre Waffen, das hieß Ja! Die Waffen waren ihr Sprachrohr. Dieß alles nicht aus Furcht, sondern um mit den Waffen bekannt zu werden. Ordnung treibt so sehr die Furcht aus, daß ich eben hier den weisen, tiefweisen Grund des Exercirens entdeckte, das ohne diese Rücksicht Kinderspiel wäre! Eben weil es wie Kinderspiel aussieht, wird es auch von allen Kindern, sobald sie Soldaten sehen, nachgemacht! Man muß sich dicht halten, wieein Mann, ist eine Folge dieser Regel. Ein takthaltender Marsch ist Beweis einer Phalanx. Der Mensch braucht was Unsichtbares, an das er sich hält, und das ist die Ordnung. Sobald etwas Unregelmäßiges, eine Lücke, sich vorfindet, steht der Feind, daß sein Gegner nicht mehr für einen Mann steht. Sem Muth wächset – er wagt! Er siegt! Die Furcht siegt öfter, als Grundsätze der Herzhaftigkeit. Die Furcht schützet Königreiche. Sie ist eine Kunst, wodurch wir andere glauben machen, wir fürchteten uns für nichts. Daher so viele Thrasonen, so viele Donner ohne Blitze! – Enthalte dich von allem Gewissensvorwurf, wenn du wider deine Feinde ausziehst: das ist wahrlich kein Feldpredigertext, sondern ein theures, werthes Wort! Ist's ein Gott, der uns entgegen ist; wir haben eine gerechte Sache. Ist es ein Mensch; wir sind das, was er ist. Was meinen Sie, meine Herren! würde sich Aristander [211] bedenken, die Phalanx über diese Worte in beliebter Kürze und Einfalt von den Gesinnungen eines Helden zu unterhalten? Ich wünschte, er ließe die Predigt drucken!

Die Furcht ist wahrlich ein größeres Uebel, als das, wofür man sich fürchtet! Was ist es denn, worüber dir die Zähne klappern, als Störche, worüber dir die Sporen zittern, als wollten sie einen Ton angeben? Tritt ihm doch näher; es ist dein Schatten! Die Arznei ist ärger, als die Krankheit! Junker Gotthard (bei seiner Eheverbindung kann ihm dieser Umstand weder Schaden noch Leides thun) fürchtet sich in – – in einem Zimmer allein zu schlafen, wo Alexander der Große gemalt war! Es waren doch noch andere Bilder da, sagte ich ihm, Bruder! die du, im Fall der Noth, zu Hülfe rufen können. Er war getroffen, fuhr Gotthard fort, als wollte er mit mir sprechen. Immer gerade zu auf mich! Da wandelte mich auf einmal die Vorstellung an: wie leicht kann er lebendig werden! Bruder, hast du ihm denn ins Gesicht gesehen? – Ein preußischer Corporal mit einem Stutzbart, gut getroffen, würde eher zu fürchten seyn. Alexander hat, so wie alle seines Gleichen, etwas von einer Kinderwärterin, von einer Amme, im Gesicht. Bei mir hieß es, in Rücksicht auf meine Herzensgeschichte: die Liebe treibet die Furcht aus. In Wahrheit! ein wahres Wort! Der ist unschuldig, der keine Furcht hat, der ist nicht furchtsam, dergar nichts fürchtet! Die Flamme, welche der Wind anfacht, verfliegt bald! – Wer nach Grundsätzen herzhaft ist, wer nicht schnöden Gewinnstes, oder Zeitungsewigkeit halber, die Waffen ergreift, was kann den stören? Widrige Vorfälle! Sind die nicht überall? Mars und Venus halten es mit allen. Ist Mars Zweifelhaft, so ist Venus wahrlich nicht sicher. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, würde meine Mutter sagen. In allen Sachen Herz zeigen, heißt ein großer Mann seyn.

Hand in Hand ging ich mit meinen beiden Kriegskameraden!

[212] Bialograd verglich sich. – Desto besser für mein Auge. Ibrailof ward von den Türken verlassen! Bukarest! – Bukarest!

Mit welchem Herzen schreib' ich diesen Namen! Einer meiner Jünger starb hier einen schönen Tod vor meinen Augen. Gott! welch einen Blick er mir gab! – Du Hast mir den Unterricht herrlich bezahlt. Ein unaussprechliches Honorarium. Kein König kann so lohnen! – So nimmt ein wohlgerathener Sohn Abschied von seinem Vater. Seinem Milchbruder konnte er noch die Hand reichen; mir nicht. Wir waren zu weit auseinander. Soll ich's sagen? er wollte mir seine Liebe noch sterbend beweisen! Wird mein gebrochenes Auge hierzu Kraft haben? Er warf mir eine Handvoll Blut zu mit einer Art, die gesehen werden muß! Den Abend vorher sprachen wir kein ander Wort, als vom Tode! Er war der froheste unter uns! Gern hätte ich den hochgebornen Todtengräber hergewünscht, um diese und so manche Sterbensscene zu besichtigen. Lieber Graf! hier ist der Tod ganz ein ander Wesen. Wer ihn nicht anders, als aus der Kammer kennt (und wäre da gleich ein Observatorium angelegt), weiß hier nicht, daß man stirbt. So wie die große Welt von Provincial-Flecken, so Tod von Tod. Zwar sind Sie der Meinung, der Heldentod, der Feldtod, wo der Mensch nicht Zeit und Raum hat, sich in Ordnung zu legen, eh' er dahin fährt, sey keiner Observation werth; allein Sie irren, lieber Graf. – Hier ist die große Welt des Todes.

Ich will dem Grafen nicht mit Bemerkungen das Licht halten wahrlich! ich könnte sein Schatzkästlein bereichern!

Warum aber Obst, eh' es reif ist? Warum durch's Schwert eines Türken? Mir war es, als fielen unsertrefflicher Jüngling und der, so ihn schlug! Freund und Feind. Der Türke, der ihm das Leben nahm, wäre werth, bei dem Grabe Christi auf [213] die Wache zu ziehen, wie der Hauptmann unterm Kreuz. Was haben die Großen, die prädicirten Götter der Erden, mehr als den Bindeschlüssel! Der Löseschlüssel ist ihnen nicht behändigt.

Weint um meinen Edlen, ihr Jungfrauen im Lande! – Leib und Seele hätten um den Vorzug streiten können, wer schöner sey, wären sie nicht so stimmige Freunde gewesen! Wehe dem Feueranleger! Es muß Aergerniß kommen, doch wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt. Was trug sein Mund für mich, der endlich sank, wie unter einer Last, die ihm zu schwer ward? Blumen waren es nicht, die bald welken; Gesinnungen, die ewig sind, wie er! Ich habe dich verstanden, Edler! dein ganzes Gesicht war leserlich! Du hättest die Handvoll edles Blut nicht verschwenden dürfen. Es fiel auf kein gutes, dir werthes Land. Was kann man sich im Kriege mehr wünschen, als einen edlen Feind? Mich dünkt, dieß Ziel Hast du erreicht! – Verzeih Sterbender! daß ich nur ein halbes Auge auf dich verwenden konnte! ich hatte drei Viertel hochnoth für die Feinde!

Gott! wann kommt dein Reich? wann wird Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen? Jeder Irrthum hat seine Schule, sein Auditorium. Keiner kann so übertüncht werden, als die Idee vom Kriege. Wahrlich! ein übertünchtes Grab! Nicht meine Leser würden es mir vergeben, nicht ich selbst, wenn ich mich nicht selbst über diesen Edlen vergessen hätte!

Bukarest – schrecklicher Name! – war der Ort, wo auch ich den Tod fand! – ich erhielt tödtliche Wunden! – Guter Türke! ich verzeih' dir alles, auch den Stich, da ich nicht mehr den Arm bewegen konnte, der etwas türkisch war, und den du bleiben lassen können! – Sey glücklich! – Alles gab mein Leben auf. Mein andrer Lehrling starb acht Tage darauf. Sein Sterbelager war vier Schritte von dem meinigen. Für mich eine halbe Welt. Der Arzt verbot mir sogar allen Trost! Wie könnt' ich [214] ihn aber ohne den sterben lassen? Oft wenn er lechzte, wie gern hätt' ich ihm ein Glas Wasser gereicht! Könnt' ich? – Da lag ich noch ärger, als todt. So etwas, Freunde, wer kann es erzählen? Leset den Homer. Ich bitt' euch! – Ich kann nicht mehr.

So viel sey euch noch unverholen, daß ich den Sterbenden mit dem Prinzen Wilhelm von Braunschweig am meisten aufrichtete, der ein Schwestersohn König Friedrichs war! Auch er, sagt' ich, starb im Kriege. Eben so wenig unmittelbar. An den Nebenumständen des Krieges starb er, die, so Wie die Krankheiten, ärger als der Tod sind. Ich werde auch als Held auferstehen, sagte er in einer Nacht. Wie denn anders? antwortete ich, und hatte eine Thräne in den Augen. Er starb.

Was konnte ich mehr verlieren! Meine beiden Freunde! Mich selbst! Ich lag vier Wochen ohne alle Hoffnung! Ist's Sünde und Schande, in solcher Lage die Lebensschnur selbst abreißen, die ein Arzt mit solchen unaussprechlichen Schmerzen anknüpfen will? Hält die Schnur da, wo sie angeknüpft ist, am längsten, und ein eisern Band da, wo es brach, und durch Feuer und Schlag zusammengeschmiedet war? Keine dieser Fragen stellten in meiner Leidenszeit mich zur Rede, Ich hatte nicht Zeit, im Allgemeinen zu fragen.

Der Civilsterbende wollte durchaus auf dem Schlachtfelde eingescharrt werden. Auch ich mußte ihm versprechen, eben da den Krieg ausschlafen zu wollen. Sein Testament ist erfüllt, was ihn selbst betraf! Ich zwar wache noch; allein ein Theil meines Lebens ist auf dem Schlachtfelde bei Bukarest verscharrt! Ich liege in deiner Nachbarschaft, edler Jüngling! – Deine Wünsche sind erfüllt!

Romanzow, wie er gehört was vorgefallen, soll höchst zufrieden mit meinem Unterricht gewesen seyn, und soll den Edlen [215] und mir eine Leichenrede gehalten haben, die kürzer und dringender gewesen, als die ungebetene des Organisten in L – bei Minchens Grabe. – Kommt er auf, war der Schluß dieser Leichenrede, ist er Brigadier. Ich war schon seit einiger Zeit Major worden!

Wahrlich, Freunde! dieß war ein Examen trotz dem beim Professor Großvater. Was ist ein Blitz einer Hausmütze durchs Stubenritzchen gegen Kriegsblitze? – Zwar lebt jeder seines Lebens, zwar stirbt jeder seines Todes, jedem ist sein Pfund Leben und sein Pfund Tod zugewogen, wie der hochgeborne Todtengräber sehr einsichtsvoll behauptet; doch glaube ich, daß mancher dieß Pfund ins Schweißtuch vergraben, und mancher damit wuchern kann. Der Kriegswucher, was meinen Ew. Hochgeboren, ist er nicht der reichlichste? Er trägt tausendfältig und zwar Leben und Tod. Kaum lebt man, wenn man den Tod nicht in der Nachbarschaft hat. Die weisesten Leute haben von jeher Todesbetrachtungen für Lebensregeln gehalten. Wo ist der Tod bei lebendigem Leibe dem Gefunden, dem Starken so nah, als im Kriege?- Wo kann man ihn mit mehr Leibes- und Seelenkraft denken, als eben hier? Ihr Weisen des Alterthums, und ihr der neuern Zeit, warum habt ihr nicht über Kriegstod geschrieben? – Sie hochgeborner Todtengräber, warum nicht über den Kriegstod eine Redeübung angestellt? Weil der Krieg eine von den Künsten ist, welche die Menschen gesucht haben, die von Gott aufrichtig gemacht find! Wahr! allein auch wahr, daß jeder Weise im Privatkreise alles zum Guten lenkt, so wie Gott der Herr es pro Publico thut!

Prahle nicht, lieber Reiter! Herz haben und im Kriege seyn, ist solch ein Unterschied, wie Grundsätze haben und nach Neigungen verfahren – handeln und sich mit einem Gewebe von Empfindungen behelfen! – Jedermann, der ein gutes Gewissen hat, und sich bewußt ist eins haben zu können, kann von sich sagen: das that ich!

Auch ich, Freunde! würde es sagen, wenn ich wirklich gethan [216] und nicht bloß gelitten hätte. Glaubt nicht, ihr Kleingläubigen, jenen Schreihälsen, jenen Zahnärzten, jenen Nachtwächtern, die nicht aufhören können. Schlachten zu malen, als wären es Thaten! Der commandirende General allein hat gethan; alles, was nicht er selbst oder sein Rath ist, leidet! – Mit Vielen kriegen, mit Wenigen zu Rath gehen! Wer kann mir sagen, daß ihn nicht Schauder ergriffen, wenn er zwei Heere, auftreten gesehen, und sich mitunter? Ihr, die ihr bis jetzt dafür hieltet, daß es Todesfurcht sey, habt euch, wie mich dünkt, Hintergangen, denn auch mich schauderte! Es ist eher Menschenfurcht, Mangel der Lebensart, als Schrecken des Todes! Seht einen Haufen Menschen bei einander, ist es nicht die nämliche Anwandlung? Sie ist so angreifend nicht; vorhanden ist sie. Wenn ich schwach bin, bin ich stark, könnte man hier sagen. Wenn ich allein bin, fürcht' ich mich, falls ich gesund bin, vor keinem. Junker Gotthard, der sich vor dem Alexander dem Großen im Bilde fürchtet, macht keinen Einwand. Frische und gesunde Leute sind sogar geborne Freidenker! – Ich würde sie Fleisch- und Blutphilosophen heißen. – Frische und gesunde Leute, sag' ich; denn, wenn ich einen Spötter sehe, dessen Körper wie ein zerrissenes Kleid aussteht, weiß ich, daß seine letzten Stunden zu seiner Zeit im Druck erscheinen. Wie kommt's, daß der Mensch, der doch die menschliche Schwäche kennt, sich vor nichts so sehr als Menschen fürchtet? Der Mensch hat keine natürliche Rüstung und Waffen, das, was außer ihm ist, sich vom Halse zu halten. Nicht Element, nicht Thier kann er allein zwingen, und doch ein Kronprinz der Natur. Vereinigt aber steht alles für einen Mann. Tausend Köpfe, tausend Arme, sind Ein Kopf, Ein Arm! – Ists Wunder, daß er blaß wird, wenn er den Feind sieht? Zwar befindet er sich auch in guter Gesellschaft; allein die Furcht sieht immer ins Weite; was nah' ist, ist vor ihren Augen verborgen! Die Furcht hat ein Perspektiv, die Hoffnung ein Vergrößerungsglas. [217] Sonst sind sie Töchter einer Mutter. Kommt man sich näher, wird man auf einander erbittert. Man schlägt, weil man geschlagen wird. Gehört denn dazu Herz? Der Lärm, der sehr wohlbedächtig erregt wird, läßt die Vernunft zu keinem Gedanken! – Man stirbt, man weiß nicht wie! Ist das ein schwerer Tod? Hunger, Durst, Hitze, Frost sind schwer; die Schlacht ist's nicht, bis auf die Invalidenfurcht, an die kein braver Soldat denkt. Kommt es denn nicht in Anschlag, in Gesellschaft zu sterben?

Beim Seetreffen thut's der Wind. Bei Landschlachten sind Berge, Thäler und, außer diesen großen Dingen, oft die unbeträchtlichsten Kleinigkeiten, die wie ein Irrlicht den Feind verführen, daß er einen Schritt rückwärts thut. Dieß seinem Volke nur einbilden, dieß ihm nur vortaschenspielen, heißt die Schlacht gewinnen.

Der gemeine Soldat muß jung seyn; der Befehlshaber, sagt man, alt! Ich glaub' es selbst. Nur nichtzu jung, nicht zu alt. Ziska commandirte und war blind. Ein Commandeur braucht nichts, als Kopf! Ein Vorurtheil thut hier oft Wunder! Richelieu will zwar einen herzhaften General; allein Richelieu war ein Geistlicher. Wie kommt's, daß kluge Leute so sehr viel auf herzhafte Leute halten, und daß sie unter einander sich nicht sonderlich ausstehen? Sie sehen zu sehr ein, daß man mit dem Verstände eben nicht weit kommen kann, und wollen doch wo den Menschen stark finden! O ihr kluge, liebe, gute Herren! Laßt euch sagen, auch das menschliche Herz ist ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?

Es ist ein altes Sprüchwort: Wer zum erstenmal nach Rom reist, suchet den Schalk. Zum zweitenmal findet er ihn. Zum drittenmal bringt er ihn mit.

Ei, wenn ich das auf den Krieg beuten würde!

Ich hoffe, große Kriege werden abkommen; so wie man dem [218] dreißigjährigen über einige hundert Jahre nicht mehr Glauben beimessen wird. Wozu sind auch Kriege, selbst noch ehe das Reich Gottes kommt, wozu? – So wenig durch Disputationen die Wahrheit ausgemacht wird, so wenig entscheiden Siege. Darf ich rathen? Hohe Herren, denkt mehr, eure Unterthanen zu mehren! So viel liebe Getreue im Lande, so viel Festungen. Die Bevölkerung ist, wie die Gottseligkeit, zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens!

Mit einem Statu morbi kann wohl keinem ein Dienst geschehen, sonst könnte ich damit aufwarten. Die Herren α, β, γ, von welchen Herr α der Kopfhalter war, würden mir diesen Liebesdienst gern erweisen. Es war kritischen Sammlern kein alltäglicher Fall. Eine Quetschung an der Seite, eine Zerschmetterung des rechten Armknochens!

Die unaufhörliche Versicherung der Wundärzte, nie mehr dienen zu können, war mir mehr als alles. Diesen Trost hätten die kunsterfahrnen Herren bei sich behalten können, da ich es selbst so sehr fürchtete.

Der Gedanke, obgleich er sehr natürlich war: was wirst du essen, was trinken, womit dich kleiden? beunruhigte mich keinen Augenblick. Er hat mir wenig Kummer in dieser Welt gemacht. Als Mensch kann jeder leben, wenn gleich nicht jeder als Major.

Romanzow ließ mich bei aller Gelegenheit Proben seines Wohlwollens empfinden, und das war freilich Oel und Wein in meine Wunden! Der Gedanke, in der Lehre bleiben zu sollen, schlug diesen Aufblick nieder! – Bei dem ersten Anklang der Sterbensglocke, die ich freilich nur in der Einbildung hörte, war ich auch in der Einbildung bei meinem guten Pastor zu L – in Preußen! Mine hatte ihre Ansprüche auf mich geltend gemacht! – Ich fand, daß die Liebe, solch eine Liebe wie die unsrige, durchaus nur auf gewisse Lebensperioden paßt, und doch ist, nach unserm [219] Weltlauf, so zu lieben wie wir, Tugend, hohe Aufopferung seiner selbst! Weite Ueberwindung der Natur! – Mein Leben war ein lebendiger Tod, und dieß ist eben der Zustand des Menschen, wo eine dergleichen Liebe ihr Feuer und Herd hat. Man kann nicht anders sagen, als daß auch solch eine Liebe ihre schönen Tage habe. Daß Böse hat auch sein Gutes, sagte Herr v. G., und es liegt göttliche Weisheit in diesem Ausspruche.

So war das Ende meiner kriegerischen Laufbahn. Folge, dachte ich, dem Wink deines rechten Armes. Er hat Abschied genommen, nimm du ihn auch! und so mußte ich denken. Meine Gesundheit war äußerst zurückgesetzt. Du Hast, dachte ich, was du wolltest – ein paar große Schritte näher zu Minen; allein ich widerlegte mich selbst. Wohlgehen steht vor lange leben im vierten Gebot, und krank seyn ist nicht leben, nicht sterben. Fast ists ein Mittelding, bei dem jedem ein fallen muß: o daß du kalt oder warm wärest! Es gab eine Zeit, wo ich den Tod schlechthin aussuchte, und stehe da, ich hatte weder ihn gefunden, noch das Leben behalten.

Ich erhielt meinen Abschied nicht, sondern einen Auftrag zu einer wichtigen Reise. »Ich weiß keinem dieß Geschäft zu übertragen, der es so, wie Ihr, betreiben könnte,« schrieb die Kaiserin, und ihr Wunsch, daß die Veränderung der Luft meine Gesundheit wieder herstellen möchte, war mir das, was jeder Rausch ist. Ich fühlte keinen Schmerz und reiste nach Petersburg, und sodann –

Wie bald ich von meinem Jesuitenräuschchen wieder nüchtern worden, darf ich nicht bemerken!

Wer meinen Auftrag näher kennen lernen will, dem dient zur Antwort, daß er geheim war, wer wohin? frägt, kann gründlicher beschieden werden. Freund! da, wo man früher, als in Rußland, eine Pfeife im Grünen raucht, früher Spargel ißt, und den Wein aus der ersten Hand hat. Wegen der Manschetten muß [220] ich, um die reine Wahrheit zu sagen, bemerken, daß ich sie nicht länger, wie die hiesigen gefunden! – Moden ändern sich!

Obs nicht gut wäre, kränkliche Leute zu Gesandtschaften, und was ihnen anhängt, zu brauchen? Eine Frage, die nebenher auffällt. Ich richtete treulich und sonder Gefährde aus, wozu ich gesandt war; allein meine Gesundheit hatte durch die Luftveränderung noch mehr gelitten! Ich glaubte schon, ich würde lau zu seyn aufhören, und kalt werden. – Wohl dem, der es wird! Eine so geschwinde Rückreise, als es die Geschäfte wollten, hätte mich wirklich zu Minen gebracht, da kam – mein Freund, und entledigte mich meiner Bürde! So sey es dir wieder, mein Geliebter, wenn du, lebenssatt und müde, suchest, wo du dein Haupt hinlegst. Er konnte sich nur eine einzige Nacht aufhalten, die wir durchwachten! – und wie es doch immer geht, wir dachten nicht an uns, sondern an andere. Er hatte meine beiden Anbefohlenen sehr genau gekannt! Warum, Freund! nur eine Nacht? Er konnte nicht. Armer Freund! der Schlaf wäre dir gesünder gewesen, als solch eine Todtenwache! – Gehe hin in Frieden! in Frieden!

Jetzt, Freunde! hätte ich zum Andreas-Orden gesagt: Geh mir aus der Sonne! Der gnädigste Brief der Kaiserin selbst konnte mir in dieser Lage keine frohe Stunde verleihen!


»Ich entlasse Euch aller Dienste, und, da Ihr durchaus nicht mehr als Major seyn wollt, so bleibt, was Ihr seyd, mit der Versicherung, daß Mir Eure seltene Bescheidenheit zum Wohlgefallen gereicht.

Ich wünschte, daß dieser Brief Euch nicht aus dem Wege zu Bädern träfe, wenn sie anders Eurer Gesundheitsverfassung dienlich sind. Ich schenke Euch – – Gern würde ich es sehen, wenn Ihr in Liefland – –

Wenn Ihr Eures Adels wegen Ansprüche befürchtet, so ertheile [221] ich Euch hiermit den Adel mit allen seinen Vorzügen, und soll Euch das Diplom, sobald Ihr es verlangt –

Lebet so glücklich, als Ihr es verdient, und als es wünschet

Eure gnädige Kaiserin

Katharina


Wenn solch ein Brief keine frohe Stunde mehr verleihen kann, wie lebensmüde muß man seyn! Gott! was kann solch ein Brief!

Allerdurchlauchtigste! – Nein –

Gute Kaiserin, Mutter eines Staats, der nach einer strengen Vaterregierung Peters des Großen einer Mutter nöthig hatte, um das zu werden, was er unvermerkt wird – –

Wenn diese Monarchin mit dem Könige von Preußen ein Paar worden: Welt! was meinst du?


* * *


Ich folgte dem Winke, den mir der Gnadenbrief gab, und ging nach Pyrmont. Schon die Reise schlug bei mir an. Wie gar anders ist's doch, reisen müssen, und reisen wollen. Jeder kann diese Erfahrung beim ersten besten Spaziergange anstellen! Auch selbst die Gesundheitssorge muß man dabei verlieren, sonst ist schon kein feiner Zwang dabei, den die frische Luft nicht vertragen kann!

Mit meiner Wiederauflebung meine uninteressirte Leser, die Spaziergänger bei dieser Schrift, aufzuhalten, wäre unverzeihlich. Gerne erzählte ich sie, aber den Kunstrichtern, die von Amtswegen die Sonne auf-und untergehen sehen, und die den grünen Grund im Naturgewande nicht ohne den albernen Gedanken ansehen können: Ei, wenn er weiß wäre! O ihr Thoren und trägen Herzens, zu glauben alle dem, was in der Natur geschrieben ist!

Ich blieb den Winter hindurch in Süden, lernte je länger je mehr den kaiserlichen Brief empfinden, bis ich endlich so hergestellt war, als [222] ein Invalide es seyn kann, dessen Körper ein immerwährendes Wetterglas ist. – Eben ein Stich im Arm, der mir den Wunsch abzwingt, daß meine Leser dergleichen Stiche nicht von selbst bemerkt haben möchten! Was geht's meinen Leser an, daß ich im Felde gewesen?

Bei meiner Hinreise ging ich durch Königsberg, wie Mine. Ich sah keinen, als Postbediente; allein was ich empfand, weiß der, der Herzen und Nieren Prüfet! – Ich müßte mich sehr irren, wenn es nicht Se. Spectabilität gewesen, die mir, da ich schon im Postwagen war, so heiter ausfielen, als gingen Sie zu Weine! – Kann gewesen seyn; denn bei meiner Rückreise erfuhr ich, daß die Hausmütze Todes verblichen sey – und daß der gute Großvater, da er keinen Blick durchs Ritzchen weiter zu befürchten hatte, gar lustig zu jubiliren angefangen. Alles in Ehren, versteht sich. Jetzt wieder in Königsberg. Ich wiederholte hier meine Studia. – Mein erster Gang war zu Sr. Spectabilität, nach dem signo depositionis. Ich fand den Großvater auf dem Sprunge zu einem Clubb, zu dem er mich mitnahm. Wie man sich doch noch als Großvater ändern kann, wenn man keinen Ritzenblick mehr zu fürchten hat! Er war seiner Bande entledigt und jetzt ungestört so froh, als wenn seine Tochter den nämlichen Tag hätte taufen lassen, als wenn der Täufling ein Söhnlein sey, und noch obenein nach dem Großvater genannt wäre. Setzen Sie sich an meine grüne Seite, sagte der Professor (eine preußische Redensart, die zur Rechten bedeutet). Ich setzte mich, und machte an dieser grünen Seite eine Anmerkung, die ich meinen Lesern nicht verschweigen kann. Der gute Großvater war kein Religionsfreund, obgleich die Bibel so wenig, wie Homer, bestäubt war. Selten ist ein Professor Großvater ein Religionsfreund. Woher, Freunde? Weil er das Wahre in seiner Lehre aus Gottes Wort geschöpft hat, und weil er einsieht, daß, wenn er seine Wissenschaft aufs Volk herabstimmen [223] solle, man nicht anders lehren würde, als Christus, der Professor des ganzen menschlichen Geschlechts.

Zu diesem Weil noch ein Paar: weil alle wahre Philosophie in Zweifel besteht, weil viel Unphilosophisches in die Religion hineingekommen, zu der jeder vernünftige, lautere Christ zu sagen gewohnt ist: »Freund, wie bist du hereingekommen und hast kein hochzeitliches Kleid an?« Solch eines Gastes halber aber die ganze Hochzeitfreude aufzuheben, ist sündlich! O ihr guten Philosophen! macht ihrs wohl wie die Engel, die das Unkraut vom Weizen trennen? Ihr reißt beim Jäten Unkraut und Weizen aus, so daß die Erde ohne Hemde nackt und bloß da ist, als wär's Wintertag, wenn der Wind allen Schnee weggetrieben! – Mich friert!

Was wollt ihr, hochgelahrte Nichtswisser! von den Concilien und den jetzigen Winkelzwiespalten in der Kirche? Fasset doch in euren eignen Busen! Wie lange ist's, daß in Deutschland alles demonstrirt ward? Man hat mir vom großen Wolf als eine sehr wahre Anecdote erzählt, daß, als ihn einer seiner Zuhörer um ein Demonstratiönchen angetreten, das er keinem abzuschlagen gewohnt war, er gleich auch jetzt damit fertig gewesen. Da der Impetrant den Aufsatz beim Lichte besah, fand er, daß sein Pythagoras das Gegentheil von seinem erwünschten Satze demonstrirt, oder zu deutsch, sonnenklar gemacht hatte. Da stand der arme Jüngling wie Butter in der Sonne! Der Lehrer nahm ihn bei der Hand. Was mehr? fing er an. Man kann alles demonstriren. Flugs demonstrirte er ihm, was zu erweisen war. Man sagt, der Jüngling sey nicht gerechtfertigt in sein Haus gegangen! Ich, wäre ich Jüngling gewesen, ich hätte es mit der ganzen Philosophie gebrochen. Die Demonstrirzeiten haben, Gott sey gelobt! aufgehört. Jetzt observirt man. Man geht auf die Jagd – – – Pulver und Schrot wird verschossen; selten trifft man. So geht alles im Cirkell Lieben Herren, wenn die Glocke zwölf geschlagen, geht's auf eins, bis [224] es wieder an zwölf kommt. – Bald Vernunft, bald Sinne! Die Philosophie ist ein Wortkram! Ich läugne es nicht, daß manches Wort abgebrannt ist, und die wüste Stelle wohl verlohnte, bebaut zu werden. Nur vergeßt nicht, Freunde Großväter, daß ihr keinen Fischzug Petri gehabt, wenn ihr hie und da Altflickereien von Schuldefinitionen angebracht, ob so oder so. – Was habe ich denn, wenn ich weiß, daß geschwind, behend, schnell, nur von leblosen Sachen, z.B. Kugel; rasch, hurtig hingegen von lebendigen gebraucht wird? Ihr legt dem Menschen Daumenschrauben an, und wenn man sich recht umsieht, ist man Tag und Nacht gefahren und immer in die Runde, und auf Einem Fleck geblieben. Schwindlich oben ein.

Unser Großvater, der wahrlich die Bibel gelesen, die dem Homer zur Seite lag, glaubte vigore commissionis kein Wort in her Bibel; allein jedes Wort in den Reisebeschreibungen war ihm heilig! Theater, Poesie mit allen At – und Pertinentien waren ihm unausstehlich; wenn aber die Reisebeschreibung auch noch so poetisch, noch so schön war, so daß man gleich beim ersten Blick sah, die Beschreibung und nicht die Reise sey die Hauptsache bei dieser Arbeit; sie war ihm Ja und Amen! Aber, lieber Großvater! – Aber, lieber Major! Mag es beim Aber bleiben, und jeder lebe seines Glaubens!

Ich kann mich irren; allein mich dünkt, mein Vater besaß das, was die Griechen ἀποφϑεγματικὴν βραχυλογίαν καὶ λακωνικὴν nannten. Herr v. G., der Selige, pflegte, um dem frühen Spargel und der Pfeife im Freien meines Vaters nicht zu nahe zu kommen, zu sagen, er sey aus Lacedämon. Herr v. G. ehrte meines Vaters Wortgriffe. Schade, sagte mein Vater, daß ich nur auf Worte herabgesetzt bin. – Zum Gluck auf Volksworte, wie ich zu Gott hoffe. Freund, sagte Herr v. G., kommen Sie, wenn's Gelegenheit gibt, auf die Bärenjagd! Mein Vater zeigte auf seine Reverende. Jagd, fügte er hinzu, um kein Wort schuldig [225] zu bleiben, ist nur Thatenspiel, Ballschlag! Zum Worte Funken selbst gehört Stahl und Feuerstein! – Pastor! beschloß Herr v. G., Sie Stahl! ich Kiesel!

Mein Vater war kein Freund von Sprüchwörtern, von faulen Knechten, von stummen Dienern, wie er zu sagen Pflegte, wohl aber von Volkssprüchen. Vox populi, sagte er, vox Dei. Ein Volksspruch ist die Unterlage zur Handlung, behauptete mein Vater. Bei Sprüchwörtern und Sentenzen guckt ein sauber gedrucktes Buch hervor!

Ehrlicher Großvater! du thust wohl, daß du zu Weine gehst; darf ich dir indessen des Herrn v. G. letzte Stunden empfehlen? Je mehr du Menschen sehen wirst, je mehr wirst du finden, daß es auf eine Definitionsspitze nicht ankommt. Lebe wohl! – Trink auf meine Gesundheit! Schreibst du, so ist dein Buch gewiß in meinem Büchervorrath. Verzeihe, daß ich unser Examen auf Muthwillen gezogen, und so manches, was du für ein Ehrenkleid hieltest, so lange noch die Ritze war!

Wer wird nicht gern mit zum königlichen Rath kommen mit der offenen, weit offenen Stirn, schwarzem Haar und einem Auge, in dem man ihn im Kleinen – allein doch ganz sieht. Ich überfiel ihn, wie er sagte, und da er keiner Erschütterungen gewohnt war, sondern immer seinen geraden Weg ging, selbst wenn er auf dem Gottesacker weinte – so kostete ihm, wie er mir den folgenden Tag versicherte, dieser Besuch eine Nacht. Niemand war von unserm Kränzchen mehr übrig als der Prediger, der aber, wie meine Leser es ziemlich deutlich gemerkt haben werden, nur zum Collektsingen und Segensprechen gebraucht werden konnte. Er war verwandt mit dem königlichen Rath, sonst hätte er nicht Sitz und Stimme erhalten! – Alles todt! Auch der Kreisrichter, wo ich den königlichen Rath kennen gelernt, und seine Frau, die schon bei meiner Abreise ihr Gehör verloren. Er, eher wie sie, an einer [226] Brustkrankheit, so wie er sich selbst prophezeit hatte! – Junker Gotthard hatte die Frau Kreisrichterin noch am Leben gefunden, und als gewesener Hausoffizier seine Schuldigkeit bei der Durchreise beobachtet. Sie hatte ihn vorgelassen. Schade! auch der Reiter todt! Der königliche Rath versicherte mich, daß dieser Offizier so sehr mein Freund gewesen, daß er bei meinem Entschluß, Soldat zu werden, sobald er erschollen, nichts weiter zu tadeln gefunden, als daß ich nicht sein College geworden.

Auch der Professor todt, der eine so vortreffliche Deklamation selbst im gemeinen Leben besaß, daß man seine Stimme eine Prosaische Melodie nennen konnte. Der letzte Zank, den er mit unserm Reiter gehabt, war über die Zeitungen, die der Reiter in hohen Ehren hielt; er aber so wenig, daß er sich der verächtlichen Bemerkung bediente: er brauche sie nicht anders, als wenn beim Rasiren ein Einschnitt sich etwa zugetragen. Sie wußten nicht, sagte der königliche Rath, daß sie beide in einer Woche in die Zeitung kommen würden! – Ich konnte den kleinsten von diesen Zügen nicht ohne ganz besondere Aufmerksamkeit hören. Alles nahm ich zu Herzen. Wir erinnerten uns so manchen Streits. Der Reiter behauptete, daß nach dem neuen Testament die Zeitungen den ersten Platz verdienten, und daß eben sie die jetzige Welt vor Barbarei schützen würden. Setzen Sie den Fall: man schriebe aus –, es hätte sich da ein Gespenst hören und sehen lassen, würde man nicht gleich aus Berlin antworten: kein wahres Wort –? Die Avancements waren indessen unserm Reiter das Hauptstück, die nun freilich weniger Interesse für die Welt haben, als wenn ein Gespenst sich sehen und hören lassen sollte. Ich ließ unverhohlen, daß eben der Zeitungs-Panegyrist Schuld daran wäre, daß ich in russische Dienste gegangen.

Der königliche Rath hatte die abgegangenen Stellen wieder besetzt, indessen hatte er, um mir die eingebüßte Nacht nicht schuldig [227] zu bleiben, außer dem Stammhalter, dem Prediger, die als ordentliche Mitglieder eingeführten Männer, den Offizier, den königlichen Rath, den Professor und noch einen verabschiedeten preußischen Offizier gebeten, der als Zöllner versorgt war. Dieser Zöllner und ich sahen uns an, und wie aus einem Munde, Alexander! Darius! Wer hätte das gedacht!

Es war im ersten Augenblick alles Du und Du. Da aber Darius hörte, ich wäre Major gewesen, beschied er sich den Augenblick, und ich hatte viel Mühe, ihn wieder an Ort und Stelle zu bringen. Benjamin? Ja er selbst? – Auch Benjamins Geschichte will ich Extrapost erzählen. Wir verließen Benjamin in einem schrecklichen Zustande.

Mine, die ihm aufgetragen, ihre Reise nach Mitau vorzubereiten, fand ihn selbst reisefertig zur andern Welt und ging von seinem Bette, betrübt bis in den Tod; Benjamin erholte sich zwar, indessen konnte er in einem halben Jahre zu keiner Fassung kommen. Man gab die Hoffnung auf, daß er je ganz zu sich selbst rückkehren würde. Endlich war er im Stande, die Scene mit seiner Schwester zu verstehen, die ihm aber wegen der so langen Zeit mit vielen Zusätzen und Verstümmelungen beigebracht ward. Meister und Meisterin hatten keine Schuld an ihm. Der alte Herr hatte keine Taube seines Sohns halber versandt, und der Meister war so voller Beobachtung der Regel: was dich nicht angeht, davon laß deinen Fürwitz, daß er, um den Darius'schen Ausdruck beizubehalten, seinen Prügel viel zu lieb hatte, um ihn unter die Hunde zu werfen. Vorerst war es auf eine Heirath mit des Meisters einziger Tochter, Christine, angelegt. Es wird doch, sagte der Meister, keine Mißheirath seyn. Da aber Christinchen sich unversehens so sehr verlaufen, wie Darius sagte, daß kein ehrlicher Mann sie aufzusuchen im Stande war, so ließen die betrübten Eltern Benjamin ziehen in Frieden. Beim Abschiede, [228] sagte Benjamin, lief es mir eiskalt übern Rücken. Es waren sehr gute Leute. Benjamin zog nicht eher Nachricht von Minen ein, als bis sie todt war! – Ich aß eben, sagte er, Brod in frische Milch eingebrockt, da ich die erste sichere Nachricht von ihrem Tode erfuhr, und ich hätte, so hungrig ich war, den Löffel nicht an den Mund bringen können, um wie vieles! – Auf meiner Wanderschaft, sagte er, hat mich manch harter Sturm erschreckt, o! wie manche rabenschwarze Nacht habe ich belebt, und wie oft bin ich ganze Tage gegangen, ohne einen Hüttenrauch zu entdecken! An einen Kirchenthurm war ohnedieß nicht zu denken.

Er kam in eine preußische Stadt, wo er dem Commandeur vorgeführt wurde! – Benjamin erschrak gewaltig, da er vom Soldaten hörte, den ihm der Offizier so süß vorpfiff! – Es ward ihm indessen alles überlassen. Eben weil er nicht gezwungen, sondern sich selbst überlassen ward, bot er sich nach vier Wochen von selbst an. Die Meisterin des Orts, wo auf kein Christinchen Rücksicht zu nehmen war, hatte ihn ohne Ursach chicanirt, und nun glaubte er, sie wieder chicaniren zu müssen. Ich warf den Plunder weg, sagte er, und ward Soldat! Das Dariusspiel hat viel dazu beigetragen. Benjamin zeigte keine kleine Geschicklichkeit im Schreiben, und da er im ganzen Städtchen privilegirter Briefsteller und Berechner war, so stand er sich so vortrefflich, daß er auf Standeserhöhung dachte, die ihm auch nicht fehlschlug. Er ward namhafter Corporal. Wie war's, wenn es aus Feuer ging? fragte ich ihn. Mußte gut seyn! erwiederte er. Freilich hatte ich noch keine Flinte, bis auf den Tag, da ich Menschenjäger ward, losgedrückt, und außer einem Taschenpuffer kein Knall- und fallendes Gewehr in meiner Hand gehabt; indessen fand sich alles nach und nach. Vorerst ward mir dann und wann eins angehangen, und vorzüglich habe ich meines Fußes halber manchen Spaß gehabt. Kommts nicht heute, kommts morgen, dachte ich, und es kam morgen! – [229] Du pflegtest mir zu sagen, daß in jeder Sache außer dem, was ins Auge fällt, noch etwas Unsichtbares wäre, außer dem, was da ist, noch ein Geist, der webt. Beim Soldatenstand ist dergleichen Geist nicht, wohl aber, wie du selbst wissen wirst, so mancher blaue Dunst, den man machen kann. Was fehlt meinem Bein? – Ich unterrichtete beim Oberstlieutenant die Kinder. Du? meinst du Nein! Jeder Mensch hat im Regiment geglaubt, ich hätte studirt; da habe ich manchmal gedacht: ich wäre schon so aus der Erbliteratenfamilie! – Der Prediger hielt mich für einen Juristen, der Auditeur für einen Theologen! – Die Herren Geehrten müssen doch selbst nicht so recht wissen, woran sie sind.

Darius ward auf Werbung vermöge ganz besonderer Empfehlung gesandt, und da er hier Gelegenheit hatte, sich ausnehmend hervorzuthun, vom Könige unmittelbar zum Lieutenant ernannt. Meine Feinde sagen: es sey ein Mißverständniß im Namen vorgefallen – und der König soll sich auf einen Corporal gleiches Namens besonnen haben, der, vor seinen Augen, wie ein Bär im Kriege gethan. Auf einmal erscholl ein Gerücht, daß alle bürgerlichen Offiziere, die nicht zu dieser Ehrenstelle während dem Kriege gekommen, in Gnaden entlassen und nach Bewandtniß der Umstände untergebracht werden sollten. Das Glück ging mir nach diesem Unglück bald wieder auf. Anfänglich nur in Gestalt eines halben Mondes; ich hatte nur eine halbe Glückswange. Dieses Halbglück war ein Mädchen, das mir wohlwollte. Es ward meine Frau. Bald darauf erschien der volle Mond. Ich bekam eine Stelle bei der Zoll- und Acciseverwaltung, wo ich außer einer Aergerniß, die mir viel zusetzt, ehrlich und ordentlich lebe! – Zur Aergerniß gab ein ganz besonderer Vorfall Gelegenheit. Benjamin Hauptmann, der nicht so gut schrieb und rechnete, wie Benjamin Darius, ward als sein Subaltern angesetzt. Der arme Mann hatte Feldzüge mitgemacht, und Darius nichts weiter, als [230] Werbdienste gethan. Natürlich, daß dieser wunderliche Wechsel den Herrn Hauptmann schmerzen mußte, und dieß um so mehr, da er sich von Adel hielt, woran indessen auch gezweifelt ward. Bruder, fügte er hinzu: es ist ein Literatusadel, den ich mir auch zuzueignen im Stande wäre. Ich konnte mich nicht des Lachens enthalten.

Benjamin unterhielt mich mit dem Für undWider, den Adel des Herrn Hauptmanns betreffend, länger, als ich selbst wollte. Das ärgste ist, sagte er, daß unser Hauptmann von Capernaum aus einem guten Hause geheirathet und eben darum sich Anhang zusammengesprengt hat. Alles hausarm; allein desto fester halten die Kletten. Da findet denn sich hoch wo ein gnädiger Onkel, der einen Einfluß hat. So viel kannst du glauben, fuhr Darius fort, ich vergebe mir nichts. Ehre verloren, alles verloren. Da ich der Sache näher trat, oder eigentlicher, treten mußte, war der anomalisch adliche Hauptmann so wenig ein Subaltern des Darius, daß er bloß eine kleinere Stelle besaß. – Meinst du? fragte er mich.

Allerdings! und die Hitze des Subordinationsfiebers legte sich.

Freilich fürchte ich, es werde eine Palliativcur seyn. Meine Frau – – geheirathet? Ja! Ein Sohn und eine Tochter.

Benjamin ließ nicht nach, mir daß Versprechen abzufordern, daß ich bei ihm Nachtlager nehmen möchte. – So sieht er doch, fügte er hinzu, daß auch ein Major bei mir einkehren kann! Da haben wir das Subordinationsrecidiv. Ich lernte eine recht artige gute Frau Lieutenantin oder, wie sie lieber hieß, Inspektorin kennen. (Der Hauptmann war nur Einnehmer.) Sohn, und Tochter! Ein Paar liebe Kinder! Ich erschrak, an der Tochter einen entfernten Zug von Minen zu treffen, und da ich ihm nachspürte, fand ich ihn auch am Vater, und was noch mehr war, an der Mutter.

[231] Meine selige, in Gott ruhende Mutter behauptete Stein und Bein, wie sie sprach, daß Mann und Weib ein Leib wären, das heißt, was ähnliches hätten, sonst, setzte sie hinzu, würden sie sich nicht geheirathet haben. Das ist der Abdruck des Himmels, in dem bekanntlich Ehen geschlossen sind. Ich muß frei bekennen, daß ich diese Bemerkung oft bestätigt gefunden. Mag wohl immer seyn, wenn Neigungen Ehen binden! – Man liebt sich selbst im andern! – Desto angenehmer war mir der Abend!

Wir blieben spät in die Nacht zusammen. Die beiden Kleinen, die von Schlaf umfielen, mußten nicht von der Wache. Hab' ich mir nicht, sagte der Herr Inspektor, mehr im Kriegsdienst gefallen lassen? und konnte ich denn dafür, daß während der Zeit kein Krieg war? Sprach man doch jede Revue vom Marsch! – Wir wollen doch sehen, mein Kind! bemerkte die Frau Inspektorin, wer von den Kindern den Preis erhalten wird, ob unsere, oder des Einnehmers? Ich freute mich, daß Madame es auf diese Probe aussetzte, und sah wohl ein, daß die Subordinationsstreitigkeit eigentlich bei der Weiberinstanz vorlag! – So nagt doch immer, fing die Frau Inspektorin nach einer kleinen Weile an, etwas am Mark des Lebens! – Eine gute Frau bis auf die kleine Affektation, hie und da etwas, das gehen sollte, tanzen zu lassen. Ein Capriolchen nahm sie sich nicht übel. Sie las viel Romane, die alle vortrefflich gebunden waren. Sie kleidete sich sehr mit Geschmack – Ich fand sie im allerliebsten Negligé! Was sie spricht (die Frau Einnehmerin nämlich), sagte die Frau Inspektorin, ist mit welkgewordenen Blumen einer Metapher bekränzt! – Solch ein Kranz! Er ist nur auf wenige Stunden. Im Wasser halten sich die Blumen am schönsten! »Liebe Frau Inspektorin! muß aber kein Springwasser seyn!«

Meine Frau, sagte Darius, nicht wahr? geht rund herum; ich steige gleich aufs Dach! Sie stellt's zur Schau aus; ich hänge [232] es geradezu hin, wo es hängen soll! – Mein Kind! sagte sie, bei einer andern Gelegenheit, wie er heirathete (der Hauptmann nämlich),verschwand der letzte Stern von Hoffnung. Aber, erwiederte er, der Major sagt – – Mag immer, lieber Herr Major! Weibersehnen entstricken sich eher.

Unfehlbar glaubte sie ihrem Stande durch einen dergleichen Ausdruck nachzuhelfen. Mag wohl literatadlich seyn; natürlich ist er nicht. Mir wenigstens kann kein Naturstück aufstoßen, wo ich nicht etwas Aehnliches entdecke, Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch.

Sie erkundigte sich sehr herzlich nach ihrem Schwiegervater, und wollte von mir eine Beschreibung von einem Literatus, welche sie bis dahin noch nicht von ihrem Manne nach der Tablatur, wie sie es nannte, erküssen können. Ich ließ den Hermann bei Ehren! Hätte der Hauptmann von Capernaum, pro tempore Acciseeinnehmer, die Abkunft des Inspektors erfahren, Subordination! – wo wärst du geblieben? Wenn mein Mann wider seinen Vater etwas hat, was gehts mich an? Man sehe doch das galllose Schäfchen! Ernst! Ein gutes Weib! Man lasse ihr doch die welkgewordenen Blumen einer Metapher! – Was thut es denn dem Manne, wenn seine Frau in so etwas Unschuldiges verliebt ist? – Zehnmal versicherte sie mich, wahre Freundschaft daure noch, wenn gleichalle Kronen Urnen geworden! – Und alle Worte Gedanken, wollte ich schon sagen. – Ihrem Manne machte das Tulpenbeet seiner Frau, in zierlichen Ausdrücken dargestellt, keine geringe Freude, obgleich er selbst bei seiner Weise blieb, geradeswegs aufs Dach zu steigen. Freilich mußte das Dach nicht zu hoch seyn – da Benjamin Darius origetenus auf schwachen Füßen stand.

O der wunderbaren Vermischung der Denk- und Handlungsart der Menschen! und doch wieder so allzusammen eins, daß man [233] weiter gehen könnte, als meine Mutter. Nicht bloß Mann und Weib, sondern alle Menschen haben einen gemeinschaftlichen Zug – alle etwas vom Vater Adam und Mutter Eva, denen, sie mögen gewesen seyn wie sie wollen, doch Kindespflicht eignet und gebühret.

Amalia war mit dem Krämer ehelich verbunden, und glücklich genug gewesen, fünf Kinder mit ihm zu erzielen. Junker Gotthard hatte sie nicht besucht, worüber sie sich beklagte, ohne daß der Krämer ein Wort darüber verlor!

Ich erneuerte alle meine alten Bekanntschaften, die heilige Geiststraße und den Roßgärtschen Kirchhof nicht ausgeschlossen. Die Straße, die zu meiner Zeit beim Abzuge des Malers, dessen Quartier wir bezogen, illuminirt war, soll, wie man sagt, nicht aus der Illumination herauskommen. Was die Mütter thaten, thun die Töchter nach ihnen.

Schließlich übergab ich dem Darius und vorzüglich seiner Frau, Minens Grab in L. Ich that es in Gegenwart ihrer Kinder, und so feierlich, daß alles weinte, nur der gewesene Herr Lieutenant nicht, dem man in Hinsicht der Thränen nicht so leicht aufs Dach steigen konnte. Sie gab mir das feierliche Versprechen, künftige Woche zum guten Pastor nach L. zu fahren, wo sie schon bekannt war, um ihren Kindern das Grab zu zeigen! Gern wäre sie jetzt gleich mitgekommen, wenn ich es ihr nahe gelegt; ich wollte mir aber durch kein Gewürz ein gesundes natürliches Essen verderben! Auf diesen Ausdruck bringt mich die Frau Inspektorin selbst. Sie sprach von einem Ausdruck, den sie das vor Fäulniß bewahrende Salz nannte. – Wenn die Speisen nur nicht versalzen werden, wie die königliche Frau Mutter es schon drei Tage vor dem königlichen Auftritt zu thun gewohnt war!

Darius dankte mir, wiewohl insgeheim (wer mag gern in Gegenwart seiner Frau in die Flucht geschlagen werden), für die [234] schönen Tage, die er bei einem Haare, wie die Dorfjungen, Talken genannt hätte, wenn ich ihn nicht in Zeiten ins Griechische gebracht. Ich habe diesen Kriegen, sagte der Herr Inspektor, viel zu danken. Nimmermehr würde ich seyn, was ich bin, wenn ich nicht Darius gewesen! Freilich kann wohl aus Darius nichts natürlicher als Accise-Inspektor werden! Alexander aber und Major! ist da Verhältniß, kunstrichterlicher Leser? Nicht wahr, eine versalzte Frage!

Ich fand Fronspergers Kaiserliches Kriegsrecht beim Darius, und Benjamin versicherte mich, daß ihm das Werkchen viele gute Dienste gethan. Freunde! Darf ich's wiederholen: beim Spiel eine ernsthafte Miene gemacht, so ist's Ernst; beim Ernst eine komische Miene, so ist's Spiel! Entweder ist alles Spiel, oder alles Ernst in der Welt! – Wie man es drauf anlegt! – Und nun, wenn anders meine Leser keine Tücke auf Benjamin haben, wer hätte gedacht, daß diese linke Hand sich so herausarbeiten würde. Ist ihm die Nothtaufe anzusehen? Schneider, oder Literatus, sagte seine liebe selige Mutter.

Der Major, der uns nach Königsberg brachte, war todt. Schade! Eben da ich sein College war! Der Junker war Lieutenant geworden, Benjamins Amtsbruder, nur mit dem Unterschiede, daß Benjamin ein stehendes, sein College aber ein fließendes Wasser war! Wie weit kann er's nicht noch bringen! Der fließende Lieutenant, wie er sich darüber freute, daß ich Soldat geworden! Noch lieber hätte er und der verstorbene Reiter, wirkliches Mitglied des gelehrten Kränzchens (wenn letzterer nämlich noch gelebt), gesehen, daß ich bei der Cavallerie gestanden!

Beim Abschiede gab ich dem Herrn Inspektor den Brief der Kaiserin, den ich, außer dem königlichen Rath, keinem gezeigt hatte. Dem Professor Großvater wäre, wie mich dünkt, am wenigsten damit gedient gewesen. Da war Benjamin wieder aus dem Du-Geleise [235] und bat um Verzeihung, so sehr die Subordination beleidiget zu haben. Ich hatte Mühe, ihn ins Du zurück zu bringen. Stelle Dir vor, sagte er zu seiner Frau, ohne daß ich es verhindern konnte, daß er dießmal zu Dach stieg: unser Gast ist auch geadelt und ein Gutsbesitzer. – Ihr Gesicht – wahrlich etwas zur Schau! – Gut, daß es beim Schluß war!

Lebe wohl, Königsberg, auf ewig!

Nach L – nach L –.

Ich zog durch einen andern Weg, und obgleich ich nichts that, als mich gierig nach dem heiligen Grabe umsehen, fand es doch mein Auge nicht. Der gute Pastor! Mich ärgern alle die Verzierungen, die man beim guten gemeinen Leben anbringt. Da will man seine vorigen Bekannten rathen lassen, wer man ist! Da läßt die Frau, ohne daß der Herr Gemahl es weiß, zu seinem Geburtstage ein Mahl anrichten. In der Josephsgeschichte selbst gefällt mir der Zierrath nicht. – Warum nicht gleich: ich bin Joseph, euer Bruder! – Geradezu gab ich mich dem Pastor zu erkennen, wie seinem Bruder, dem königlichen Rath, der es einen Ueberfall nannte, und der darüber um eine Nacht kam, ich weiß nicht wie. Wie es mit Minens Grabe stände, war meine erste Frage, in die sich unser Pastor nicht finden konnte. Ich umarmte ihn, und ohne ihn zur Antwort zu lassen, die er von der Ueberlegung borgen wollte, nahm ich ihn bei der Hand und da waren wir! – Nach der Zeit hat er mich versichert, daß ihm noch selbst auf dem Wege alles wie ein Traum gewesen! Da, sagte er, liegt mein Weib, Minens Nachbarin! Es war kurz vor Ostern und schon war Minens Grab so grün! so schön!

Der Pastor verließ mich, um, wie ich nach der Zeit sah, von Haupt zu Fuß sich umzukleiden. Ich sah gen Himmel, warf mich auf die Erde, auf die heilige, Minen geweihte Erde! Ich konnte nicht weinen! – Mine! Mine! war alles, was ich konnte. Ich [236] warf mich mit einer Heftigkeit aufs Grab, die kein Wort aufkommen ließ, die es erdrückt haben würde, wie ein Grausamer einen Wurm, der sich krümmt – und stehe da! so wie ich hinstürzte, fiel das Grab ein! Ein anderer wäre aufgesprungen; allein ich erschrak darüber so wenig, als ich mich über den kaiserlichen Brief erfreute. Wer kann etwas in solchen Umständen! Nach einer kleinen Weile war es mir so, als der lebendige Odem aus ihrer Nase, woraus wir ihre Rückkunft ins Leben erprobten! Gott! schrie ich und sah nun ein, daß der Sarg nachgelassen und die Erde ihm gefolgt war, als ob sie mir Platz machte! dachte ich. Ich komme bald! sagte ich so laut, daß ich's wiederhallen hörte; wo es wiederhallte, weiß ich noch nicht: allein dieß Bald im Wiederhall, wie es mich ergriff, das kann ich nicht sagen, nicht denken! Empfinden – kann ich's. In solchen Fällen laßt der Empfindung ihren Werth, ihr Empfindungsstürmer! Noch jetzt hat es mich erschüttert! Bald! Amen! bald! Amen!

Nach einer Weile fiel es mir wie ein Blitz ein, das Ende meines


ἀνέχου καὶ ἀπέχου


zu machen. Schnell riß ich die letzten Siegel auf und las:

»Du bist ein geborner Edelmann, ich heiße – –. Einen einzigen Buchstaben habe ich im Namen geändert. Wirfst du den weg, bist du, was deine Vorfahren seit undenklichen Jahren gewesen. Mein ältester Bruder, der mich verfolgte, ist Schuld an diesem allen. Wie wenig ist dieses alles. Ein geänderter Buchstabe, ein einziger, was will das sagen? Die Beilage ist die Asche von den Papieren, die im Brande drauf gingen, der sich zutrug, da du krank warst. Sie muß gelten, wenn du sie geltend machen willst. Gott segne und behüte meinen Bruder und die Seinen für und für! Auch dich segne er mit und ohne den Buchstaben – –«

[237] Mehr konnte ich vorerst nicht lesen und auch meine Leser wissen genug in meinem Lebenslauf. Das übrige gehört zum Lebenslauf meines Vaters, wovon der vierte Theil bergauf handelt. Die Beilage Asche hatte die Buchstaben so unleserlich gemacht, daß alles wie schwärze Kunst aussah.

O Freunde! Die Scene, wie ich beide Adelbriefe zusammennahm und sie auf Minens Grab legte zu ihren Füßen, könnte ich sie doch mittheilen! Ob sie gemalt im Zimmer sich ausnimmt, weiß ich nicht; aber fürs Herz! – Ich kann nicht! – Sie brachte mich zu Thränen, zu sanften, süßen Thränen. Mine war mir Welt, Leben, Alles!

Sieh! Minens Schutzgeist, steh! der du ihr das Bald so warm wiedergebracht hast, als es das Echo, das Sprachrohr der Geister, dir zubrachte! Sieh diese Treue! Sie war Minens werth! Was sollen mir diese Gnadenbriefe ohne sie? O du lieber, seliger Vater! Dank sey dir, daß du diesen Pomp in Asche verwandelt und sie zur Beilage gemacht hast! Wir sind Staub und Asche!

Der Pastor kam ganz herrlich verziert, und wollte mich seiner Entfernung halber um Vergebung bitten. Da er aber sah, was vorging, war er Willens zu bitten, daß ich ihm seinen Ueberfall verzeihen möchte. Herr Major, fing er an (dieß hatte er schon von meinem Bedienten erkatechisirt), das hat nie ein Major gethan, so lange die Welt steht! – So hat er auch keine Mine gehabt, so lange die Welt steht! – erwiederte ich, nahm ihn wieder bei der Hand, und führte ihn zu dem Grabe seines Lindenweibes. Hanna wollte durchaus, sagte er, Minens Nachbarin seyn, und wir alle wollen's seyn. Meine Tochter hat sich dieses von ihrem Manne schriftlich versprechen lassen, und er von ihr! – Hat Mine es doch dem Nathanael vergeben, lieber Major! Sie würden sich gewiß vertragen – gut begehen, hätte ich bald gesagt! – Freund, antwortete ich (selbst weiß ich nicht, wie ich dazu kam), da sind Türk' [238] und Russe Brüder! – O, lieber Herr Major! vom Türkenkriege zu reden! – Freilich hier nicht, aber doch! Ja! Ich drückte ihm die genommene Hand. Freund! das Grab Ihrer Hanna ohne Linden! – Eine wollte ich ihr geben, ausgegangen! drei Jahre nach einander gesetzt und ausgegangen! Wie todt geschlagen! Ohne Leben und Odem! Mehr als eine mochte ich nicht! Warum sollte ich Ihrer Mine die Sonne entziehen? – Die Linden nehmen sich viel heraus, wenn sie ins Wachsen kommen. Sie sind sehr sonnengeizig, ungerecht gegen alles, was unter ihnen wächst.

Nach dieser Scene gingen wir in die Kirche. Siehe! ich komme bald; halt was du hast, daß niemand deine Krone nehme, rief mir jede der vier Gegenden zu, Osten, Süden, Westen, Norden! Alles war mir so gegenwärtig, als ob es vorginge. Minens Begräbniß, Gretchens Eheverbindung!


Was Gott thut, das ist wohlgethan;

Es bleibt gerecht sein Wille!

und

Drum laß ich ihn nur walten!


Warum denkt man so gern an gehabte frohe Stunden? Wahrlich, weil das Leben so kummervoll ist, und weil wir ihm durch dergleichen Kunstgriffe förderlich und dienstlich seyn wollen. Wahrlich, die überall gütige Natur hilft auch hier, so wie in allem, unserer Schwachheit aus. Wir erinnern uns froher Tage fast eben so froh, oft froher, als wir es waren, da wir sie lebten. Die Zurückerinnerung an traurige Vorfälle geht von langen zu kurzen Tagen über und wird schwächer.

Alles war uns von Gretchens Hochzeit sichtbarlich: die Verschwendung des Puders von Seiten Nathanaels, das Kleid mit den goldbesponnenen Knöpfen des Amtmanns selbst, womit der Amtmann sich bloß ausstaffiren wollte, und das nicht zum Vorschein kam, war uns gegenwärtig.

[239] Der gute Pastor hätte nicht die Frage aufwerfen dürfen: Wie wäre es, wenn wir Gretchen besuchten? Hätte ich ihr so nahe seyn können, ohne sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen? Miß ich denn nicht ihr und ihrem Manne für die treue Pflege danken, die sie Minens Grabe angedeihen ließen? (Die Zeit hatte meinen Schmerz über Minen in Poesie gebracht, wie sie es immer thut, o! so sanft lyrisch!) Bin ich Gretchen denn nicht die Heimführung schuldig?

Es ward verabredet, zuerst Gretchen und ihren gepuderten Mann, und nach diesem den hochgebornen Todtengräber & Compagnie zu besuchen. Ich habe schon bemerkt, daß ich keine Maskeraden liebe. Warum auch die Mummerei? Da steige ich lieber den Leuten, wie der Herr Lieutenant, aufs Dach, als daß ich ihnen (auch ein Ausdruck des Herrn Inspektors) was ins Maul schmieren sollte. – Wie das absticht, der Herr Inspektor und die Frau Inspektorin:

Mein Gott! wie sich Gretchen freute! auch Nathanael!

Sie küßte mich wieder so herzlich, als wie ich zur Hochzeit kam, und den Justizrath zur Frage:Wenn? brachte. Der arme Mann mußte jetzt viel dieser Eifersucht halber ausstehen! – Jetzt war er so weit vom Wenn, daß er selbst gern darüber lachen mochte. Er hatte sich ungemein auf die Politik gelegt, und wollte durchaus die Karte herbeiholen, da sich der Herr Schwiegervater an den Türkenkrieg erinnerte. Der gute Nathanael war immer mit marschirt, hatte immer mit gekriegt und mit gesiegt. Er war, so wie sein Schwiegervater, wohlbedächtig russisch, obgleich sonst jeder Mensch eine Neigung hat, sich des Unterdrückten anzunehmen. Ist's Wunder? Es ging ja gegen die Türken! Die Anlage zur Politik, welche der Prediger bei Gelegenheit der verlornen Schildwache zeigte, hatte freilich noch nicht ihren Geist aufgegeben; indessen übertraf Nathanael seinen Schwiegervater in der Politik bei [240] weitem. Gretchen war dagegen so unpolitisch, daß sie recht geflissentlich diesem Blutvergießen auswich. Ein politisches Weib ist wahrlich das unausstehlichste unter allem aus der siebenten Bitte. Fast sollten sie das Wort Krieg nicht auszusprechen, nicht über ihr Herz zu bringen vermögen. Ein anderes, ging's um die schöne Helena! oder wenn sich ein Paar um das blaue Augenpaar der Huldgöttin der Stadt schlügen! In solchen schönen Fällen erlaube ich ihnen auch ein Wort über Krieg und Kriegsgeschrei zu sprechen!

Gretchen, du hast den besten Theil erwählt, das soll nicht von du und deinen Töchtern genommen werden ewiglich! Wie du in Reisekleidern ausgingst, liebenswürdiges Geschöpf, und mit verweinten Augen zurückkamst! – Gott lohne dich mit seinem reichlichen Gegen! – Sein Antlitz hebe Er aus dich, und sey dir gnädig!

Es war ein gutartiger, allerliebster Frühlingstag. Wir kamen früh an und frühstückten auf einem Haufen. Mir kommt das Frühstück als die natürlichste Mahlzeit vor, das sich auch die englische, die natürlichste Nation, nicht nehmen läßt. Omen Morgen, lieber Engländer!

Ich setzte mich ins Gras, und die fünf Kleinen (so viel hatte Nathanael aufzuzeigen) um mich her. Dieß brachte mir ein Vergißmeinnicht, jenes nahm mir den Hut ab; die beiden kleinsten Mädchen ergötzten sich an den blanken Knöpfen meiner Uniform!

Der gute Prediger sah diese Gruppe und sagte: »Simon Johanna, hast du mich lieb?« Weide meine Lämmer! Ich hielt diesen Spruch an, und auch noch schallt er mir ins Herz: »Weide meine Lämmer!«

Leopold, willst du ins Grüne?

Eben wollte ich bitten.

Komm!

Ohne Strohhut?

Versteht sich –

[241] Gretchen sowohl, als Nathanael behaupteten, der dritte von oben hätte viel Aehnlichkeit von mir! Ich fand es nicht. Vater und Mutter hatten ihn am liebsten. Schade, daß er nicht Alexander hieß, sagten die Eltern, der älteste hieß so! Das erste Kind war eine Tochter und hieß Mine! – Wie ich dieß liebe Mädchen an mein Herz gedrückt! Es war es, das mir Vergißmeinnicht brachte! Ich ließ mir von Gretchen das Ende ihrer Mutter erzählen, wo sehr starke Stellen darin vorkommen. Ich will meine Leser, denen ohnehin eine Todesfahrt bevorsteht, mit den nähern Umständen nicht aufhalten. – Sie starb sehr heiter. Ihr Tod war kein Lindentod. Wer nicht von dieser ihrer Krankheit gewußt hätte, würde sie in Wahrheit aus den letzten vier Wochen ihres Lebens nicht ersehen haben. Ihre Einbildungskraft war wieder eingezäunt. Ihr Auge hatte jene Wildheit nicht mehr; – es strahlte nicht, es schien nur. – In ihren Segnungen paarte sie mich noch mit Gretchen; das heißt: sie segnete mich so inbrünstig als sie, obgleich Nathanael und seine Kinder hiebei nicht zu kurz kamen. Auf den Enkel Alexander legte sie beide Hände, auf jedes andere ihrer Kinder nur eine. – Was sie froh war, sagte Gretchen, Minen zu sehen! – Gehe ein zu deines Herrn Freude!

Kaum hatte Gretchen diese für mich so rührende Geschichte vollendet, so marschirte Nathanael schon wieder zum Türkenkriege, und wollte ich wohl oder übel, ich mußte erzählen. – Gretchen bestellte während des Türkenkrieges ein natürlich schönes Mahl. Bei Tische war der Justizrath nicht von Bukarest zu bringen, bis ihn endlich Gretchen wie einen Türken schlug. Die kleine, liebe Russin! Sie vergoß über meine zwei liebe Kriegskameraden bittere Thränen! und mehr, als die Geschichte dieser jungen Helden, wollte sie nicht. Der Prinz Wilhelm von Braunschweig war ihr zu vornehm, um an ihm Theil zu nehmen.

Rechten und Fechten, sing die Lose an, und zeigte mit [242] Fingern auf Nathanael. Er gleich fertig:brummen, verstummen! und zeigte auf Gretchen! Ich gab dem Justizrath einen Blick, als wollt' ich sagen: ich bitte, meine Mutter ruhen zu lassen in Frieden!

Was Gretchen wohl ansteht, gebührt eben einem so puderreichen Manne nicht. Nathanael fühlte, daß er zu weit gegangen, und ward so still, daß ich ihn selbst mitleidsvoll durch eine Türkengeschichte aufmunterte. Wer kann immer fechten; ich fing also zu rechten an. »Ich will mich selbst richten,« schrieb Nathanael an seinen Schwiegervater, »und den Krieg Rechtens mit mir selbst anfangen.« Ein schön Stück Arbeit! Nathanael hatte redlich Wort gehalten. Nie sprach er ein Urtel über andere aus. Sich selbst hielt er in Ordnung. Vielleicht fiel er eben darum auf's Politische. Durch eine Schadenfreude über die Türken konnte er freilich keinen Schaden thun. – Wenn er ja noch mit einer Beurtheilung sich hören ließ, so war es wider die Gesetze selbst. Wider die Türken und wider die Gesetze sollte wahrlich jedem Christenmenschen ein Wort zu seiner Zeit erlaubt seyn.

Die Gesetze, sagte der Justizrath, scheeren alle Menschen über einen Kamm! Unfehlbar dachte er ans Promemoria. Wenigstens fiel es uns allen ein, obgleich wir es nicht sagten. Der Gerechte und Ungerechte wird nach einer Form behandelt, und ein gelehrter Jurist ist der, welcher aus einer Tasche nimmt, und es in die andere legt; aus der Ausgabe in die Hauptcasse! – Und unsere Philosophen, sagt' ich, was thun sie mehr? Wenn es köstlich gewesen, schlagen sie die Zinsen zum Capital. Und dann, fuhr der Prediger fort, geben sie es an einen unsichern Ort. Und dann, beschloß der Justizrath, holt der Teufel alles.

Der gute Nathanael erschrak selbst über den Teufel, da er ihn citirt hatte, so wie über's Brummen und Verstummen! Er hatte in diesen Tagen ein klein Capitälchen verloren, das er vielleicht [243] auch, wie die Philosophen, von Zinsen gesammelt! Solch Geld soll überhaupt nicht viel Segen haben.

Warum Scheltwort wider die Gesetze? sagte der Prediger. Ihr Herren habt ein gewisses Phlegma, das ihr Diensteifer nennt. Alles nur so nach dem es scheint, nichts, nach dem es ist.

Ihr Bruder! fing ich an –

Ist nicht phlegmatisch von Natur –

Ein wahrer Menschentreffer.

Mag! allein das beste Auge wird müde! –

Ich. Und furchtsam, wenn es ein paarmal fehlgeschossen.

Justizrath. Man hat so viel Mühe, sich selbst zu treffen, und hat sich doch immer vor der Nase!

Prediger. Aber nicht vor den Augen.

Ich. Vielleicht trifft man sich mehr, als es scheint. – Man publicirt uns das Urtel nicht. Es bleibt uneröffnet. Jeder Schelm weiß, daß er's ist, der kleine schielende Revisor so gut, wie ein anderer. – Die Justizform in England –

Justizrath. Freilich die beste! Die lieben Dicasteria. Laßt den Nachbar über den Nachbarn urtheilen; so wie bei uns Soldat über Soldat, Unteroffizier über Unteroffizier, Offizier über Offizier! Wenn nur das Desertionsedikt nicht wäre! – Dicasteria sind gemeinhin Hospitäler, wo viel geredet und wenig gethan wird! – Kommt einmal ein großer Kopf herein, stößt er ihn sich wund Das edle Geschöpf Gottes hatte nicht Raum in dieser Herberge!

Sollte man wohl nach diesen Datis glauben, der Justizrath habe keinen Dienstverstand? – Die Herren Rechtsgelehrten lernen die Gesetze; allein selten den Menschen. Es gibt Leidenschaften, die jeder billiget, weil sie mit ihm selbst stimmig sind. Wer zürnt über den Zorn, wenn der Eifer über eine Beleidigung kommt, die ins Allgemeine geht? Ein dergleichen Eiferer heißt ein Patriot! – [244] Trifft der Eifer einen Lehrer, der ein falscher Münzer ist, der Worte für Sachen verkauft, Schiffszwiebacke für Manna ausgibt, oder auch einen solchen, der seinem moralischen Vortrage durch seinen Lebenswandel widerspricht, dann ist dieser Eifer ein Eifer für des Herrn Haus. Bei dieser Gelegenheit, da wir dem, was ins Allgemeine schlägt, Gerechtigkeit widerfahren ließen, fing der Prediger an: Es ist so eine Sache mit dem lieben Allgemeinen! Wir wollen nur Thatsachen, die aufs Allgemeine gehen. Je allgemeiner die Benennung ist, womit man uns belegt, je weniger will man sich so benennen lassen. Mensch! kann zur Probe dienen. Ein allgemeiner Geist zieht in seinem Privathause gemeinhin den Kürzern.

Nathanael versicherte, und auch dieß war wahrlich nicht der kleinste Beweis von seinem Dienstverstande, daß er in seiner langen Praxi nie gefunden, daß ein gutdenkender Mann auf einen Dieb böse gewesen, wenn er das Seinige wieder erhalten. Wir Menschen, denk' ich, sehen es zu sehr ein, daß wir alle gleiche Rechte in der Welt haben, und danken Gott, wenn wir nur bei solchen Gelegenheiten ungeschlagen davonkommen.

Der Prediger, der noch kein Wort von seiner Sünde wider den heiligen Geist gesagt, vielmehr seinem Herrn Schwiegersohn, weil er Justizrath war, obgleich ein in Gnaden verabschiedeter, die Vorhand gelassen, holte jetzt alles ein, schlug Zinsen zum Capital, und bemerkte jedes Wort, das er in der zweiten Ausgabe dazu und davon gethan. Er sprengte, da es Nathanael ihm zu lang machte, übern Zaun, und der Schwiegersohn mußte ihm das Wort abtreten, obgleich er Justizrath war. Man kann sich um den Hals reden, – auch um den Gedanken! – Der gute Prediger fing nicht zu seiner besten Stunde an. Gretchen kam, und ich ließ den Justizrath (Gelehrsamkeit gegen Gelehrsamkeit) bei der Frage: »ob auch jemand mit der linken Hand schwören, und ob, wenn er falsch [245] geschworen, ihm die Finger abgehauen werden könnten?« und den Pastor bei der Antwort: »daß er sehnlichst wünschte, einen Sünder wider den heiligen Geist seiner zweiten Ausgabe in Kupfer vorstechen zu lassen.« Mögen sie rechten und fechten!

Gretchen und ich gingen spazieren; ein Sohn und ein Töchterchen mit uns. Eins für mich, eins für Sie! sagte die gute Hausmutter. Wer Gretchen mit ihren Kindern sahe, und nicht Luft bekam zu heirathen, hatte kein Gefühl von Unschuld. Sie zeigte mir dort eine neue Anlage zum Spaziergang, hier ein vortreffliches Grasstück. – Den Acker rahden und der Gegend zur Aber lassen, wie Gretchen es nannte, oder einen Graben ziehen, überließ sie dem Herrn Gemahl; – sie nannte das Milchdepartement ihr beschiedenes Theil, und nöthigte mich in ein allerliebstes Büdchen, ihren Thron, wie sie sagte. Allerliebst! So schön sitzt kein Monarch, als Gretchen in ihrer Milchbude. Hier ward oft frische Milch gegessen, und die schönste Wiese, die das Gütchen vermochte, lag vor'm Auge.

Wer fehlt mir, Freund, als Mine? sagte Gretchen und weinte so sanft, als man in einer Milchbude weinen muß. Sie beklagte sehr, keine Freundin in ihrer Gegend zu haben. Allein ich habe einen lieben, sehr lieben Mann! fügte sie hinzu. Wer hätte das dem Nathanael, dem Justizrath, ansehen sollen? Wenn's geregnet hat, sagte sie, wie schön ist es hier! und gab mir die Hand. Das gute Gretchen! Warum nicht alle Kinder? fragt' ich Gretchen. Gern möcht' ich mich mit diesen Kleinen ins Gras setzen! »Ich wollte mehr mit Ihnen allein seyn!« Wahr ist's, drei kleine Kinder Zusammen ist wie eine große Gesellschaft. Gretchen hatte keine andere Gesellschaft, als ihre Kinder. Zuweilen kam der Graf, und sie waren noch öfter bei ihm. Gretchen war nicht ganz für diesen Geruch des Todes zum Tode. Die Sache genau genommen, ist auch der Geruch des Lebens zum Leben, Leib und Seele gesünder. [246] Eine Person von ihrem Herzen konnte nicht anders, als tödtlich gerührt vom Grafen heimfahren. Nathanael ließ sie vorzüglich, wenn sie gesegnet war, nicht zum Grafen. Alles gut! sagte Gretchen, das hiesige Leben ist doch auch nicht zu verachten, und es ist Pflicht, zu genießen und Trost zu hoffen. Was fehlt uns denn in dieser Milchbude?

Die Milch, Gretchen.

Wollen Sie?

Ich lächelte: Nein!

Der siebenmal sieben liebe Graf! – Ist denn nicht mein Stubenornat besser, hatte er jüngst zu Gretchen gesagt, als wenn ich meine Zimmer mit geilen Bildern behangen hätte, deren jedes Feuer streut, wodurch so viele junge liebe Herzen in Brand gerathen? Viele lügen, sagt' ich, weil die Wahrheit was gewöhnliches ist! Der Graf ist nicht besonders, weil er es seyn will, sondern weil er einen Lebensconcurs gemacht hat. – Ich wußte wohl, mit wem ich sprach; Gretchen hatte aufs Haar gelernt, was ein Concurs sey.

Ich habe einen sehr lieben, lieben Mann, wiederholte Gretchen von freien Stücken. Der Concurs kann ihr unmöglich hiezu Gelegenheit gegeben haben. Mein Mann liebt mich, fuhr sie fort, und seine Kinder, ist gerecht gegen jedermann, und verlangt vom Glücke keinen Dreier mehr, als es ihm zugewendet. – Wir verloren ein kleines Capitälchen und zweimal haben wir in der Lotterie gewonnen, so daß sich alles ziemlich heben wird.

Es war Gretchen zu kalt. Sie zeigte bei aller Gelegenheit eine schwache Brust. Wenn nur die Lindenkrankheit ihrer Mutter ihr nicht den Stoff zur Hektik eingepflanzt! Schonen sie sich, Gretchen; hören Sie? schonen Sie sich! Ein großer Theil meiner Leser vereinigt seine Bitte mit der meinigen: Schonen Sie sich!

Ich wendete mich zum Wege, aus dem wir gekommen waren; [247] allein Gretchen zog mich seitwärts, um mir einen Gang zu zeigen, der nach einem meiner Vornamen hieß. Auch einen Minchenberg gab es, wo wir uns wenige Augenblicke niedersetzten. Daß wir doch nicht Geister sehen können! sagte Gretchen. Der Graf glaubt zwar drei Seelen bei ihrem Ausflug mit einem Blick erhascht zu haben. – Im Fluge, Gretchen, trügt das Gesicht am meisten. – Zum Collationiren, sagte sie, gehört Original und Copie! Liebes Gretchen, erwiederte ich, reden Sie doch wie eine wahre Justizräthin.

Wir kamen zurück und fanden den Herrn Schwiegervater und Sohn noch in gelehrten Streitigkeiten. Der Justizrath sprach über die Frage: »Ob jemand mit der Todesstrafe zu belegen, der einen Missethäter eine halbe Stunde vor des Todesurtels Vollstreckung ermordet?« und der gute Prediger: »Ob es nicht billig, daß der Verleger den Titelbogen für voll bezahle, wenn gleich nur ein Blatt beschrieben sey.« Ists doch der Titel!

Was meinen meine Leser von einem Sünder wider den heiligen Geist in Kupfer? Sollte nicht eine Silhouette mehr anzurathen seyn?

Keinen stärkern Beweis konnte wohl Nathanael ablegen, nicht mehr eifersüchtig zu seyn, als eben den, daß er sein liebes treues Weib mir anvertraute. Hat der Herr Major alles gesehen? Ja, lieber Nathanael,alles! Tausend Dank für Gang und Berg! Ich will gleiches mit gleichem vergelten, wenn mir Gott an Ort und Stelle hilft! Gretchen war mir lieb als Gretchen, und lieb ist sie mir als Frau Nathanael!

Herr Major, sagte Nathanael, sie ist Minens Schülerin!

Wer kann wohl glauben, daß es nicht drei Minuten dauerte, da wir von Gretchens Milchbüdchen bis Bukarest waren!

Dießmal waren Gretchens Brüder meine Retter. Sind sie noch, fragte ich, in Poesie-Compagnie? Vier Augen sehen mehr als zwei, sagte Gretchen und lächelte. Wie Sie doch so gütig sind, [248] fiel der Prediger ein, sich selbst an diese Maskopie zu erinnern! Denken Sie noch daran, wie ich Ihnen meine Abhandlung zum erstenmale anvertraute? Sollte ich nicht? erwiederte ich und lenkte wieder auf die beiden Compagnons ein, wovon einer in Curland Hofmeister war, der andere in dem nämlichen Ehrenamt in Preußen stand! Der Prediger empfahl mir den Curländer, wenn er wo mit v, E – s. in Collision käme! – Ich antwortete mit einem Händedruck.

Den folgenden Tag reiseten wir zum Grafen. Ich wünschte, daß Gretchen mit käme, allein ich bat sie, nicht mitzukommen, da ich wußte, daß der Geruch des Lebens zum Leben ihr lieber war. – Ich glaube je länger je mehr, weil sie die Folge der mütterlichen Lindenkrankheit selbst fühlte, und nicht fühlen wollte. Das liebe Gretchen! – Sie kam von selbst, die gute Grete. Wir fuhren alle viere! – –

Der Graf freute sich über alle Maßen. Ein Sterbender allein hätte ihn mehr erfreuen können. Man schrieb mir aus Königsberg, Sie wären da, sagte der Graf, und ich wäre fast in die Verlegenheit gekommen, Sie zu bitten, Ihren alten Freund nicht zu vergessen. – Desto besser, daß Sie ohne das gekommen sind.

Meinen Lesern ist es bekannt, wie viel der Graf von Künftigkeiten zu bestimmen gewohnt war. Es fiel ihm mancher Umstand wie aus dem Aermel. Wer wird denn wohl im dreißigsten oder vierzigsten Jahre wissen wollen, ob er es bis siebenzig oder achtzig bringen, oder eher sterben werde? Und wem ist überhaupt damit gedient, da Vorhänge aufzuziehen wo die Hand der Vorsicht sie wohlbedächtig angebracht hat? Warum soll man die Kunst lernen, fast immer die Zeit und Stunde zu wissen, wenn es mit dem Patienten aus seyn werde? Gut, keinen medicinischen Tod zu sterben; indessen würde ich es eben so ungern sehen, wenn ich wüßte: ich sterbe und ein anderer observirt mich! Wer läßt sich [249] gern observiren? Eben darum trifft der Maler am besten, der die Gestalt stiehlt! – Die Welt ist ein Garten im Norden, wie der Graf sagt, wo wenig reif wird. So wir das wissen, selig sind wir, wenn wir darnach thun! – Wie kommt das, daß ich Gretchen unvermerkt in Rücksicht ihres Geruchs beitrat? Ich weiß keine andere Ursache, als weil ich auch vierzig Jahre trage. Der Graf schien es selbst zu merken, daß ich den Antheil an seinen Anstalten nicht nahm, den ich vor diesem genommen. Dießmal, sagte er sehr fein, werden Sie nicht in – krank werden! Weil ich es bin, erwiederte ich, und, wie mich dünkt, war meine Antwort eben so richtig als seine Frage. Sie haben ein größeres Sterbehaus gesehen, Herr Major, sagte er, als das meinige! Der Justizrath und der Prediger waren froh, um vielleicht manches noch vom Türkenkriege zu hören, worüber ich, wie sie wähnten, den Grafen nicht abschlägig bescheiden würde; allein sie kamen wieder von Bukarest zurück, ohne mehr zu wissen. Ohnmöglich kann den lieben Herren solch eine schnelle Reise gut thun! Der Graf hielt sich bloß über die Frage auf: Ob man wohl im Felde, ohne seiner Pflicht etwas abzukürzen, observiren könnte? – Ich hatte ihn schon überzeugt, daß es viel Gelegenheit zu Observationen im Felde gebe, und ihm eine ganz neue Aussicht eröffnet.

Der Inspektor und seine Frau. – Sie waren zum Prediger nach L. gekommen und von L. zum Grafen, ob sie es sich gleich erst die künftige Woche zu thun vorgesetzet. Ich war Major und von Adel, und freilich hätte die Subordination gelitten, wenn Benjamin, wie er sich ausdrückte, ermangelt hätte – – Wie machst du es mit deiner Stelle? Er hatte den Einnehmer damit belehnt, lieber Major! erwiederte die Frau Inspektorin für den Herrn Inspektor. Das heißt wohl sein Amt an den Nägel hängen. Noch dasselbe Gesicht zur Schau, das die Frau Inspektorin beim Gutsbesitzer und Edelmann aufschlug! – Er selbst auch noch die [250] nämliche Subordination. Bei ihm wirkte der Edelmann, bei seiner Frau der Gutsbesitzer! – Er war aus Curland, sie aus Preußen. Bei diesen Schaugesichtern war es kein Wunder, daß die Sache weiter ging und an den Grafen kam, dem die Nachricht eben so, wie der Frau Inspektorin auffiel. Ihnen, lieber Graf! der Sie täglich sterben? – Gretchen allein war wie vorhin! – Der Justizrath räusperte sich ein wenig, da er zum erstenmal mit dem adelichen Major, dem Erbherrn auf – sprach. Dem Prediger war nichts anzumerken. Der Graf, den der Türkenkrieg bloß des Observationsstübchens halber interessirt hatte, wovon ich ihm einige Winke gegeben, nahm an meinem Adel so viel Antheil, daß die Observation jetzt auf meiner Seite war. Mein Gott! wie kann doch jemand, der täglich stirbt, an dergleichen Kleinigkeiten Theil nehmen! Vorurtheile gegen die doch der Mann, der sich vom Haufen unterscheidet, angehen soll, können die auch solch einen Mann – so beherrschen? Es ging mir nahe, diese Bühne aufgezogen zu sehen! Sein erster Blick that gleich zehn Fragen an mich, und so lieb es mir war, den Herrn Inspektor noch zu sehen, so war ich doch im ersten Augenblick nahe daran zu wünschen, daß er lieber mit seiner Hausehre beim Herrn Hauptmann geblieben, als uns gestört hätte.

Der Graf wollte die Lebensläufe aller meiner Ahnen. Lieber Graf! ich weiß sie selbst noch nicht, und suche noch hie und da Lücken auszufüllen. Zeit bringt Rosen! Wenn Sie Geduld haben, die jedem noth ist, und Gott Ihnen das Leben fristet, so sollen Sie im dritten Theil meinen Vater und im vierten meinen Großvater von oben ab sehen! Gleich ein Unterschied zwischen mir und der andern Gesellschaft. Lieber, warum das? warum die weißen Federbüsche, und die Wappen und die gräfliche Krone? Der gute Pastor in L – sagte, auf den Punkt versteht der Graf keine Brüderschaft. Da ist das Krönchen leicht gebrochen. Der Graf kannte meine Familie – sollt' er nicht? – und nichts war ihm [251] im Wege, als meine Mutter, die doch bürgerlichen Standes gewesen. Sie ist todt, lieber Graf! Freilich hebt der Tod viel, es ist nur der Ahnentafel und der Stiftsfähigkeit wegen. Ich versicherte die gräfliche Krone, weder an eine Ahnentafel zu denken, noch auf Stiftsfähigkeit je Anspruch zu machen; allein er drückte mir die Hand mit einem sehr bedeutenden: Kommt Zeit, kommt Rath! – Da Gretchen alles sah, was vorging, schien sie selbst einen Subordinationszug einführen zu wollen, den ich aber sogleich bei der Thür abwies. – Die Frau Inspektorin fand vollkommen ihre Rechnung. Sobald sie bemerkte, daß es hier auf Paar und Unpaar ankam, ging sie bei sich selbst zu Rathe, ob und in wie weit ihr der Rang über Gretchen zustände? Sie übertrug dem Herrn Inspektor hiebei Sitz und Stimme; da sie aber zu ihrem Leidwesen erfahren mußte, daß ihm der Fall zu wichtig sey, nahm sie ihres Herrn Gemahls Verfahrungsart an, stieg Gretchen zu Dache, und drängte sich der lieben Unschuldigen vor, die indessen bei dem allerersten Blick des Vordrangs so nachgebend war, daß die Frau Darius nur ein sehr kleines Dach zu steigen hatte.

Der Graf hatte die ganze Gesellschaft elektrisirt. Alles war geschlagen, bis auf Gretchen, ihren Vater und mich. Elektricität ist ein Naturblatt, auf dem viel steht, pflegte mein Vater zu sagen. Wenn wir den Altar kennten, von dem diese glühende Kohle, dieser göttliche Funke genommen ist, wären wir weiter!

In der Naturlehre, lieber Vater! Wenn du aber hier in dieser geschlagenen Gesellschaft gewesen; was für ein Feld zu moralischen Anmerkungen wäre dir da offen gewesen! Wie doch dem Menschen der Zwang so eigen werden kann! Ein kleiner Schlag, und alles gerade wie auf Drath gezogen!

Gretchen gewann bei meiner Standeserhöhung am meisten; [252] denn der Todtengeruch war sehr zum Geruch des Lebens zum Leben übergegangen.

Der Graf bat es sich zur Freundschaft aus, sobald ich mich mit meiner Familie in Verkehr gesetzt haben würde, ihm über diesen und jenen Punkt, wo seine Familienkenntnisse nicht zureichten, Auskunft zu ertheilen. Dieser und jener Punkt waren Federbusch, Wappen und dergleichen Dinge mehr! – Hie und da eine Anekdote von dem und dem in der Familie! Das war alles? Wie ich sage, keinen Tritt weiter. Ist's möglich, ein Mann, der einen Mann ohne Wappen zum Lebens-, alle Sterbende zu Sterbens-Brüdern und Schwestern annahm? – Was anderes, wenn's Leute thäten, die dem hiesigen Leben den Eid der Treue geleistet.

Ich konnte das Andenken an jene Grabschrift nicht abwehren:


Hier liegt der lebendig Todte!


Bei diesen Umständen hätten Sie die Blätter, die von der Reise zum Grafen handeln, nicht überschlagen dürfen, meine gnädige Frau! Zwar nahm ich mir die Freiheit, bei Gelegenheit der Sterbensumstände unserer guten Hanna, diese Reise eine Todesfahrt zu nennen; allein, geruhen Ew. Gnaden die Fräulein Schwester zu fragen, der es gestern, als Vestalin, auf dem Balle recht gut stand, ob nicht diese Blätter unbedenklich mitgenommen werden können?

Hier oder dort waren die letzten Worte, die ich mit dem Grafen beim Abschiede wechselte, da ich ihn beim Geruch des Todes besuchte! – Wer hätte geglaubt, daß das Hier eintreffen sollte, und zwar ein recht eigentliches Hier, voll Geruch des Lebens. Wie sich die Luft erfrischt hatte, bloß weil ich Edelmann war! – Da wir im heiligen römischen Reiche meines Adels halber waren, kamen wir, ich weiß nicht wie, auf Karl V., der sich bei lebendigem Leibe begraben ließ, um zu sehen, wie es ihm lassen würde. Ich glaube, sagt' ich, diese Probe hat sein Ende befördert. Ich[253] nicht! erwiederte der Graf, der alle Vierteljahre eine Nacht in seinem Sarge schlief; Karl V. starb aus Reue und Leid seiner niedergelegten Kronen halber! Und ohne ein Komma zu machen, war der Graf bei der Frage: ob mein Adel älter wäre, als Kaiser Karl V. glorreichen Andenkens, der, eh' er 1558 starb, sich Probe begraben ließ? Das ich nicht wüßte, erwiederte ich.

Wenn doch, dachte ich, was Sterbendes vorhanden gewesen, um den Grafen wieder einzulenken – wenn noch Eins eingeläutet würde!

Jetzt Abschied auf ewig, so wie ich ihn auf ewig vom heiligen Grabe in dieser glorreichen Gegend nehmen werde. Dort, lieber Graf, dort!

Laßt mich, lieben Leser, Abschied nehmen! Ich bitte, laßt! Gesundheittrinken ist, wie ihr wißt, ein Sinnbild des Lebens, Abschiednehmen ein Sinnbild des Todes. War es Wunder, daß der Graf beim Abschiede wieder in seinen ihm eigenen Ton fiel? Darum soll ich böse werden, weil es Nacht und Tag in der Welt ist? Vielleicht schmeckt alles süß, was schlecht bekommt. Zucker schleimt, sagt mein Hauptarzt. Vielleicht schmeckt alles widerlich, was uns eigentlich wohlbehagt! Zwischen Schein und Seyn, wie der Drosselpastor ganz recht hat, welche eine Kluft! Weil wider dieses Uebel die China nicht hilft, darum bist du böse? Gibt es nicht Hausmittel, warum China? Können denn nicht außer der Hauptstraße viele Nebenwege seyn? Sind überhaupt Uebel in der Welt? Ist es nicht alles, je nachdem man alles stellt? Genau genommen, sind bei allen Dingen die nämlichen Ingredienzen. Mütterlich hat die Natur für uns gesorgt. Wahrlich, mütterlich! – Die Hoffnung ist was Geistiges, was Unsichtbares. Sie ist Geist vom Geist. Sie ist selbst ein Geist, der uns lehret, weise zu leben und froh zu sterben. Siehe! wenn der Körper stirbt, fängt ihr Leben in Gott an. – Man nehme dem Genuß die [254] Vorstellung, die Weise, alles, was man gern hat, sich weit vorzüglicher zu denken, als es da ist, allem ein poetisches Kleid umzuhängen! – Was ist denn der Genuß? Er ist nicht Aufhebens werth! – –

Dieß war unsere Unterredung beim Scheiden. Hätte mir der Graf nicht mit den Worten die Hand gedrückt: Die bewußten Nachrichten! wahrlich, ich hätte glauben müssen, es wären zwei Grafen. – Was meint ihr? dem allem unerachtet, ein weiß Federbüschchen kann man ihm verzeihen! – Der Herr Inspektor sowohl, als die Frau Inspektorin, schienen über unsere letzte Unterredung sehr erbaut. Sie sahen die Kronen Urnen werden, und die Urnen wieder Kronen. Gretchen und den lieben Ihrigen war nichts neu. – Minchens Verwandte in Mitau vermied der Graf so sorgfältig, daß kein Zweifel übrig ist, er sey der Wohlthäter. – Doch ein hochgeborner lieber Mann! Nicht wahr? Das übel angebrachte weiße Federbüschchen thut wenig oder gar nichts zur Sache. Wir Menschen incliniren so zu zwei Principien, daß es mich nicht wundert, wenn man ein gutes und böses Wesen angenommen, die auf dem Weltthron Sitz und Stimme haben. Freilich, wenn man erwägt, daß eines das andere herunterstoßen müßte: so sieht man wohl, daß die Vernunft hiebei Anstöße findet; wo kann aber auch die Vernunft durch, ohne daß man sich den Kopf stößt? – Eine große Maschine! sagt man von einem ungewöhnlich großen Menschen. Warum Maschine? Könnte man diesen Ausdruck nicht weit eher von der Vernunft brauchen, wenn sie gleich übrigens recht sein aussieht, und sich so rein gewaschen, wie möglich? – –

Bei der rechtlichen Abstellung der beiden Principien kann man freilich dem Ausspruch der Vernunft nichts entgegen stellen; indessen haben wir doch einen, Gott dem Herrn untergeordneten, Bösen noch bis jetzt in unsern Glaubensbüchern, worüber meine Mutter singt:


[255]

Vor dem Teufel uns bewahre!


Extrapost! – In L. leutschändete ich ein wenig mit Gretchen über die Frau Inspektorin, doch so, daß diese Krone und Urne es in hoher Person anhören können. Gretchen versicherte, den Grafen von dieser Seite zwar vermuthet, noch nie aber so in Lebensgröße gekannt zu haben. – Wer hat nicht, liebes Gretchen, sein weißes Federbüschchen? Die Frau Inspektorin so gut wie der Graf, sagte Gretchen. Und der Herr Inspektor? fragte sie. Der steigt zu Dach, erwiedert' ich. Ganz böse ist der Teufel selbst nicht! Weiß Gott, ob er sich nicht noch einmal erholt, wie mancher Baum, der, wenn er ganz weggehauen ist, frisch an der Wurzel ausschlägt.

Ich ermahnte den Inspektor seinen Vater ja nicht zu vernachlässigen, wenn gleich Hermann keine Taube nach ihm ausgesandt. Die Frau Inspektorin, die hiebei den Klingklang vom Literatus vermißte, bereicherte meine Aufmunterung mit ein paar schönen Redensarten, womit sie das Herz des Herrn Gemahls, wie sie sagte, zur Sanftmuth bethauen wollte. Wenn wir am schönen Abend, sing sie an, Hand in Hand dahinschleudern, und der Mond sich in meinen Thränen bespiegelt, wenn ich an so manche heilige Schauer zurückdenke, die ich in – – beim Grafen empfand, da er Abschied nahm – wenn – Sie wollte fortfahren, allein Darius fiel ihr ins Wenn. Man seh' doch! sagt' er, auch du bemühst dich, mein Kerbholz zu vergrößern und den Major aufzuwiegeln? Noch blieb Madame in ihrer Fassung. Leute von gewissem Stande, fuhr sie fort, sollten sich durch Zuthätigkeit gegen ihre Verwandten auszeichnen. Ein Ast, der den andern überwachsen will, setzt sich der Gefahr aus, daß der Bube ihn bricht, oder der Gärtner ihn wegschneidet. – Bei den meisten Menschen sind die Farben nicht recht angebracht, roth die Augen, schwarz die Zähne! – (Ihre Augen und Zähne waren, die Wahrheit zu sagen, ohne Tadel.) Jetzt stieg der [256] Herr Inspektor der Frau Inspektorin wirklich zu Dache, und sie, die sich bei dieser Gelegenheit durch Sanftmuth auszeichnen sollen, überwuchs ihren Gemahl so zusehends, daß man sie nicht wieder kannte. Ein Sonntagskleid wird am Ende ein Alltagskleid. Anstatt daß sie ihren Mann sanft, wie der Zephyr die Rosen, küssen sollen, machte sie ein Geschrei, als wenn die Hühner auffliegen wollen. Wahrlich, die Farben waren auch nicht recht angebracht! Roth die Augen, schwarz die Zähne. Der Inspektor, wie behutsam er vom Dache stieg! Er bewies sich als einen wahren Darius, der auf der Werbung Lieutenant geworden, und war, wie er sich ausdrückte, in die Pfanne gehauen. Er versprach, seinen Vater nicht zu verlassen, und ich bot mich als Mittler an, welches von beiden, vorzüglich von der Frau Inspektorin, dankbarlich aufgenommen ward.

Was machen Sie da, Gretchen? Ich kann mit dem Tuche nicht zurecht kommen. – Ich hatte Gretchen die Art gewiesen, wie sich das schöne Geschlecht in Rußland ein Tuch um den Kopf bindet. Allerliebst, sagte Gretchen. Ich wette, sie geht noch alle Morgen so, bis auf den heutigen Tag!

Ueber die Sprache der Frau Inspektorin sagte mir Gretchen so was Treffendes, daß ich es durchaus meinen Lesern mittheilen muß. Ein großer Unterschied, wenn der Himmel begießt, und wenn es die Hand des Gärtners thut! Die Blumen wissen gut, wo es herkommt!

Ich übergab Minens Grab, segnete die ganze gelobte Gegend und schied.

Ich werde es nicht mehr wiedersehen, sagte ich zu Gretchen, und zeigte aufs Grab, nachdem die Ceremonie vorbei war. – Die Frau Inspektorin hatte wie ein Kind geweint, und kein Gedanke war ihr angewandelt, ihren Rang mit dem Rang einer Justizräthin in die Schale zu legen.

[257] Am jüngsten Tage, sagte Gretchen; wenn die ganze Erde, setzte die Frau Inspektorin hinzu, nur ein Grab ist? – Der Pastor umarmte mich und bückte sich tief. – Der Inspektor sah auf sein lahmes Bein, als wollt' er sagen, dieß Dach ist mir zu hoch.


* * *


Der Drosselpastor war nicht mehr in –. Ich wollte mein Pfand einlösen, und mich ihm aufbringen; allein er war weit weggezogen, und sein Nachfolger hielt keine Leichenpredigten nach Art des vorigen. Er war seiner Esausstelle angemessen, und ein gewaltiger Drosselfänger.

Meine Absicht war, so schleunig als möglich nach meiner Heimath zu gehen, das heißt, nach Liefland auf das Gut, so die Kaiserin mir verehrt. Ich hatte meinen Rechtsfreund nach Mitau citirt, um da mit ihm alles fein zu berichtigen. Mitau, nach Junker Gotthards Meinung, die Hauptstadt der Welt, nahm ich aus, sonst wollt' ich Curland ansehen wie eine Herberge, wo man durchs Fenster steht, ob das zerbrochene Rad nicht wieder im Stande ist. War denn Lot nicht todt, Abrahams Verwandter? Und Junker Gotthard? den hatt' ich sein säuberlich gleichfalls nach Mitau beschieden, um sich hier zu rechter früher Tageszeit einzufinden! – Die Gräber der Eltern ma chen keine Gegend zur gelobten. Wenn ich gelegenere Zeit habe, dacht' ich. – Ihre Seelen, die in Abrahams Schooß von den Engeln getragen sind, werden mir immer wie gegenwärtig vor Augen schweben!

Gotthard fand ich nicht. – Der Rechtsfreund, der wohl wußte, was eine Citation war, hatte die Tagfahrt eingehalten; ein junger Mann mit einer unbefangenen Stirn. Meine Leser würden ihm ihre Rechtssachen ohne Bedenken übertragen. Ich gab ihm eine Quittung für sich, seine Erben und Erbnehmer, wegen meiner wohlbesorgten Erbschaftsangelegenheit. Was es mir angenehm ist, [258] eine Quittung zu geben und eine zu nehmen! – Das ist der Abschied in Rechtsgeschäften.

Eben wollt' ich den – –, der die russischen Angelegenheiten in Mitau betreibt, besuchen, da er selbst zu mir kam und mir ein Cabinetsschreiben übergab. Es enthielt einen Auftrag, den ich öffentlich bekannt machen könnte, wenn ich wollte. Warum sollt' ich? Dieser Auftrag erforderte eine Reise ins Land, die ich unverzüglich antrat. Ich wollte meinem lieben Gotthard von Liefland aus Vorwürfe machen und ihm die Kosten zur Last legen, mich eben dort zu besuchen, und so wollt' ich aus meiner Heimath mein Versprechen erfüllen, das ich der Frau Inspektorin in Rücksicht ihres Herrn Schwiegervaters gethan. Jetzt änderten sich diese Vorsätze, und ich hatte so wenig Ursache, die Hoffnung aufzugeben, Gotthard, den alten Herrn und wer weiß wen mehr zu sprechen, daß ich ihnen vielmehr entgegen reiste.

Ich hatte das Glück gehabt, dem Geschenke der Kaiserin durch den Ankauf eines kleinen benachbarten Gutes eine so beträchtliche Verbesserung zuzuwenden, daß, nach den Beschreibungen meines dortigen Geschäftsträgers, mich ein nicht völlig unangenehmer Aufenthalt erwartete. In dieser Rücksicht war mir der kaiserliche Auftrag im Wege, in vielem andern Betracht aber unaussprechlich willkommen.

Ich ging ohne Anstand von Mitau nach –, und sollte nach dem mir vorgezeichneten Reiseplan in – Nacht halten. Meine Sache war es nie, den Herrn des Gutes zu überfallen, wo die öffentlichen Anstalten für Dach und Fach gesorgt hatten, so sehr solch ein Ueberfall auch Sitte in Curland ist. Ich ward bei einem Amtmann eingebracht, der nach vielen Complimenten meinen Schein ansah und mein Seyn abfragen wollte. Natürlich erfuhr der Ehrenmann nur so viel, als nöthig war. Wie ich aber so wenig neugierig seyn konnte, zu fragen, wer seine hochwohlgeborne[259] Herrschaft wäre, weiß ich noch bis diesen Augenblick selbst nicht. Mein Vater war ein Fremdling in Curland, und ich war so wenig zu Wurstreisen, zu Krippenritten angeführt, daß ich, wie er, in Curland gleichfalls nicht zu Hause gehörte. Auch selbst jetzt hätt' ich, wie ich schon bemerkt, nur einen Durchzug gehalten, wenn nicht der Auftrag mich auf andere Gedanken gebracht. So viel nahm sich mein lieber Herr Amtmann die Erlaubniß, gleich zu bemerken, daß die einzige Baronesse Tochter seiner hochwohlgebornen Herrschaft morgen priesterlich verlobt werden sollte. – Da ich daran keinen Antheil nahm, vielmehr sehr zufrieden war, dieses Haus in seiner hochzeitlichen Freude nicht gestört zu haben: so verschwand mein lieber Herr Amtmann und kam mit einem Livreebedienten zurück, der sich noch die eben angelegten Manschetten und Halsbinde zurecht zog. Beide stimmten gegen einander ein Duett von Bitte an, von Sr. Hochwohlgebornen ein Nachtlager anzunehmen. Diese Art hätte mich ohne Nachfrage darauf bringen können, wo ich war. Soll ich es meinen Lesern noch besonders anzeigen, daß Herr v. W. hier sein Feuer und Herd hat? Ha, dacht' ich, nun weiß ich, warum mein guter Gotthard sich nicht in Mitau eingefunden. Er hat ein liebes Weib genommen, darum konnt' er nicht kommen, und freute mich, daß Fräulein Tinchen – (so ward sie seit einiger Zeit genannt, weil ein Lorchen in dieser Gegend kein gutes Lorchen war. Lorchen v. W. hatte gar viele Namen, die der Herr Vater ihr bloß aus Höflichkeit beilegen lassen) – also Tinchen und Junker Gotthard ein Herz und eine Seele worden! Freilich hätte ich auf dieß Duett eine Antwort auf Noten setzen sollen; allein sobald ich wußte, wo ich war, und mir Gotthards Verlobung mit dem lieben Tinchen dachte, war ich unverzüglich im Hofe. Ich wußte., wo ich die Ehre hatte zu seyn. Mein Herr Wirth und die lieben Seinigen wußten nur, daß ihr Gast ein Major sey.

[260] Ich kann sehr kurz seyn, wenn ich meinen Lesern die Gesellschaft präsentire, in die ich sie führe.

Den Herrn v. W. und die liebenswürdige Frau v. W. kennen sie. Fräulein Tinchen sind wir auch im Hofe des seligen Herrn v. G. inne geworden. Sie hatte einen Bruder, der Mücken mordete. Fräulein Tinchen ließ sich Blut von Mücken abziehen und wünschte wohl zu bekommen. – Daß der einunddreißigste Julius, an welchem Benedictus der Erste, der sechste römische Papst, nicht minder Ignatius Lojola, im 65sten Jahre gestorben, in dieser Familie denkwürdig waren, gehört so füglich nicht hieher, und kann es, wie mich dünkt, meinen Lesern sehr gleichgültig seyn, daß der verstorbene Junker Casimir v. W. am nämlichen einunddreißigsten Julius die ersten Zahnsprossen erhalten und acht Tage darauf Todes verblichen. Auch zweifle ich, daß meine Leser, die nicht selbst etwa wo einen Beinbruch erlitten, den Umstand so innigst beherzigen werden, daß der Mutter Bruder des Herrn v. W. gleichfalls am einunddreißigsten Julius ein Bein gebrochen. Wer wird sich aber nicht freuen, daß ich ihn daran erinnere, wie Fräulein Tinchen den 18. April (eben heute, da ich dieses schreibe) geboren ist, am Tage, da Alexander Magnus gestorben und Diogenes aus Sinope, der Alexander unter den Philosophen!

Kurz, ehe ich im Hofe war, befragte mich der Livreebediente, der jetzt mit Manschetten und Halsbinde völlig in Ordnung war, nach einer tiefen Bitte, es nicht auf die Rechnung strafbarer Neugierde zu schreiben, ob ich wirklich als Major gestanden, oder nur meinen Abschied als Major erhalten? Nach der Zeit erfuhr ich, daß dieser Umstand, so klein er auch scheinen dürfte, in der Etikette des Herrn v. W. einen beträchtlichen Unterschied machte. – Er lief mit der Antwort voraus, und der Herr v. W. empfing mich, einen Fuß über die letzte Stufe zum Hause gesetzt. Hätte ich es weiter gebracht, würd' er den andern Fuß gefälligst nachgezogen [261] haben! wäre ich nicht wirklich Major gewesen, würde auch der eine Fuß diese Vorbeugung nicht gemacht haben.

Ich freute mich wahrlich, den guten Herrn v. W. so fern von allen Waldhörnern zu sehen! Man sah ihm eine gewisse Zufriedenheit an, die nicht von ungefähr entstanden, sondern durch eine fröhliche Begebenheit veranlaßt war. Herr v. W. war nicht gewohnt, sich ungewöhnlich zu freuen. – Heute aber hatte sein wohlseliger Herr Großvater ein vortreffliches Geschenk von des Herzogs Durchlauchten erhalten, das noch bei her Familie aufbewahrt wurde, und in einem Porträt des Herzogs, in Gold gefaßt, bestand. Morgen war der frohe Tag, da eben dieser selige Herr Großvater, ruhmwürdigen Andenkens, sich mit der seligen Frau Großmutter ehelich verbunden. – So sehr die gute Frau v. W. die Arten und Unarten ihres theuren Herrn Gemahls mit Stillschweigen zu übergehen pflegte, war sie doch, da ihr Herr v. W, eröffnete, wie seine Tochter an dem nämlichen Tage verlobt werden sollte, ins alte Volkslied ausgebrochen:


Als der Großvater die Großmutter nahm,

War der Großvater der Bräutigam!


worüber der Herr Gemahl gewiß aus der Melodie des damaligen Freudenfestes gekommen wäre, wenn er nicht so melodiefest gewesen. Er war eigentlich nur Melodie!

Eben wie Herr v. W. den einen Fuß (ich lasse ungesagt, ob es der rechte oder der linke gewesen) nach mir ausgesetzt, war dieses herzogliche, in Gold gefaßte Geschenk, welches, wie Herr v. W. sich ausdrückte, als eine Sonne dieses Tages geleuchtet, untergegangen, und ins Freudennaturalienkabinet, wie Frau v. W. es auch in einer frohen Stunde genannt, gelegt, so daß ich auch diese Gnadengabe nicht zu Gesicht bekommen. Wer wird, fragte Herr v. G., am Pfingsttage singen: Vom Himmel hoch, da komm' ich her; und zu Weihnachten: Wer recht die Pfingsten feiern will.[262] Der heilige Abend des Verlobungsfestes war eingetreten und den brachte Herr v. G. als Brautvater mir so sichtbarlich entgegen, daß ich mich nicht entbrechen konnte, zu sagen: Man könnte aus dem Untergange der heutigen Sonne sehen, was für ein schöner Tag uns morgen erwarte! Seine Kleidung ganz fröhlich und guter Dinge. Herr v. G. sagte dem guten Herrn v. W. bei einem seiner Halbstfeste: Bruder, du bist wie ein Damenbrett gekleidet! Guter, lieber G., heute hättest du den Brautvater sehen sollen!

Ich ward ins Gastzimmer gebracht, wo ich die Hand der Frau v. W. nicht verkannte. Wie natürlich schön! – Da der Herr v. W. kein Wort an Junker Gotthard dachte, den ich doch so gewiß als zweimal zwei vier den Tag vor seiner Verlobung in – erwarten konnte, ging ich auch von meiner Regel ab. Zwar stieg ich nicht, wie der Herr Inspektor Darius, zu Dach; allein es war mir nie möglich, auch in gutem Sinn mich unter die Bäume im Garten zu verstecken, und mir Schürzen von Feigenblättern zuzuschneiden. Jetzt vergalt ich Gleiches mit Gleichem, that so zurückhaltend, wie Herr v. W. es war. So gern ich also vom guten Junker Gotthard und vom Fräulein Tinchen ein lebendiges Wort gesprochen; so zwang ich mich doch, dem Herrn v. W. gefälligst nachzugeben, der mich unterrichtete, warum ohne weiße Strümpfe kein Gallakleid stünde. Das that freilich mehr noth, als von meinem guten Gotthard reden zu hören. Beim weißen Strumpf, sagte Herr v. W., ist der Fuß dicker, beim schwarzen schrumpft er vor Ihren sichtlichen Augen ein. So wie beim langen Bart, fuhr er fort, das Auge immer trübe und klein ist, dagegen wie heiter, wenn der Bart abgenommen worden. Er stand bei dem Worte: abnehmen, lange an, unfehlbar um dem Barte nicht zu viel zu thun! Abnehmen ist ein so wohlgewähltes Wort, daß kein königlicher Bart dagegen etwas sagen könnte! – Daß mich Herr v. W. nicht kannte, war das größte Feigenblatt, so ich bei meinem Wiedervergeltungsrecht [263] anwendbar fand! – Von einem Manne, der nie gegenwärtig ist, sondern hin-oder zurückdenkt, wie kann man erwarten, daß er den Retter seiner Tochter, dem er bei der Abreise mit steifem Arm zu umarmen die Ehre erwies, da er vor ihm stand, kennen sollte? Ich fand ihn in allem wieder, das griesgrämische Gesicht nicht ausgenommen, auf das ich mich sehr lebhaft besann. Daß Sie nur ja nicht glauben, mein Herr Major, daß ich täglich in weißen Strümpfen gehe! – Alle Einerleiheit beschwert, Wechsel erleichtert, sagte mir ein gewisser Pastor – (mein Vater) ein gelehrter Mann, der aber, wie die meisten Gelehrten, zu wenig Welt hatte; und wer hat sie hier zu Lande? Man hat hier Curland; allein nicht Welt!

Wenn immer Tag wäre und immer Nacht, so wollte ich lieber kein Mensch seyn! – Freude und Traurigkeit, Sommer und Winter, das ist das menschliche Leben! Heute König, morgen todt! – Wer geht denn immer mit einem Hemde? damit ich mich dieses Wortes mit Ihrer Erlaubniß bediene. Wer wechselt denn nicht im Sommer täglich? Zwar, fuhr er fort, und zog sich eine Viertelelle länger als vorhin, liegt freilich etwas Erhabenes, etwas Großes in einem gewissen Einerlei; allein das ist nicht für jedermann! So ist Gott der Herr immer derselbe! Und was meinen der Herr Major von der schwarzen Farbe? Sie ist römisch kaiserlich! – man nenne mir aber nach ihr eine einzige Farbe, die Stich hält! – Gottes Alltagszimmer, wie oft verändert es sich! – Ich meine diese Erde! Alle Augenblicke andere Mobilien! Freilich in seinem Hauptschlosse, im Himmel, wird sich alles nach ihm richten.

Der Herr Major werden verzeihen, fuhr Herr v. W. fort, daß ich Sie mit meinen Lieblingsideen unterhalte!

Nach einigen ausgewechselten Complimenten, wobei ich die morgende Tagesfreude des Herrn v. W. sich lichterloh vermehren [264] sah, konnt' ich mich nicht länger halten, nach dem Bräutigam der Fräulein Tochter zu fragen und ein Stück von meiner Feigenblattschürze einzureißen. Wissen Sie ihn hier? erwiederte der Brautvater. Ich sollte denken, antwortete ich. Sie kennen unsere Curländer noch nicht, wie ich sehe. Die Herren wissen von keinem heiligen Abend und von keinem Fastnachttag. Brautnacht ist die Losung! – In dieser Beschreibung verkannte ich meinen gutenGotthard so wenig, daß ich ihn vielmehr augendeutlich vor mir sah, obgleich er noch nicht da war. – Ich hatte gar keine Neigung die Braut zu sehen und welch eine Mannsperson sieht eine Braut gern? Herr v. W. und ich waren aus der wohldekorirten Gaststube in ein Zimmer gegangen, wo er mir eine allerliebste Aussicht zeigen wollte, und da kamen Mutter und Tochter, bis uns noch im andern Zimmer glaubten. Man sah es ihnen an, daß sie uns hier nicht vermutheten. Tinchen in einem weißen lichten Gewande, wo sie beinahe wie ein Leibnitzsches Körperchen aussah! – Hätt' ich's nicht gewußt, ich hätte sie nicht wieder gekannt! – Sie mich aber auf den ersten Blick. Die Mutter war fast unverändert. Sie aber fand mich sehr verändert, wie sie sagte. Wer hatte nun Recht? Tinchen und ich sahen einander, und die Fassung schien uns beide im Stich zu lassen. Obgleich noch mehr da waren, kam es uns doch so vor, als wären wir unter vier Augen. Im Augenblick verloren wir den Faden. Ich fand ihn zwar wieder in der andern Secunde, Tinchen aber schien sich nicht fassen zu können. – Was fehlt der Braut? fragte Herr v. W. Etwa der Bräutigam? Kennst du denn nicht deinen Gast? Tinchens Retter, erwiederte Frau v. W. Herr Major! Herr v. W. O des frohen Tages! sagte der gütige Wirth, und bald darauf: Sind Sie denn wirklich Major? Wirklich. Herr v. W. Da ich schon aus dem Rufe in Rücksicht meines Auftrags bekannt geworden und hiernächst dem Herolde meine[265] Wirklichkeit versichert, so war die Frage fremd. Nebenher, was meinen meine Leser, ziemlich unhöflich! Ich begrüßte die gute Frau v. W. mit so vieler Achtung als Empfindung, nahm Tinchen bei der Hand, die sie sehr nachlässig weggeworfen, und wollt' ihr zum heutigen heiligen Abend und morgenden Verlobungstage Glück wünschen, da ich bemerkte, daß Mutter und Tochter einen geheimen Kummer hatten, der tiefer lag, als Herr v. W. ihn kurz zuvor anzugeben für gut fand! – War doch Tinchen fast so außer sich, als wie sie ins Wasser gefallen, und alsLuischen: rett! rett! rief. O wie gern hätte ich das arme Mädchen wieder aus diesem Wasser der Anfechtung gezogen, wenn es in meinen Kräften gewesen wäre! – Endlich erholte sie sich wieder, und Herr v. W. konnte nicht vor dem Bitten um Vergebung Luft und Kraft schöpfen. Fürs erste, daß er mich verkannt, sodann daß seine Frau so unvorbereitet erschien, hiernächst, daß die Braut sich so wie ins Wasser gefallen aufgeführt. An die Frage: ob ich denn auch wirklich Major wäre? dachte er nicht, obgleich er billig dieser Frage wegen die erste Bitte um Vergebung anbringen sollen. Was hast denn du getroffen? fragte mich Junker Gotthard, da ich mit meiner Jagdprobe so schlecht in seinen Augen bestand. Dieß edle Geschöpf, war meine Antwort, die ein Blick aufTinchen geleitete. Diese unschuldige Frage und Antwort fiel mir jetzt so sehr auf, daß ich nahe war, laut daran zu denken! Nicht wahr, Sie hätten Tinchen nicht gekannt, Herr Major? fragte mich die gute Mutter. Nein, erwiederte ich sehr aufrichtig. Und woran würde es gelegen haben, an Bild oder Rahmen? An beiden sagte ich, gnädige Frau. Tinchen war nicht gegenwärtig. – Herr v. W. hatte sich auf ganz kurze Zeit beurlaubt, und die liebe Frau v. W. entdeckte mir, daß Tinchen schon von lang her etwas in ihrem Herzen getragen; in ihrem Gewissen, fügte sie hinzu, wahrlich nicht. Sie ist so, so unschuldig, als wie sie ins [266] Wasser fiel, wie sie Ihnen den Abschiedskuß gab. Tinchen, fuhr sie fort, konnte anfänglich nicht aufhören, Ihr Lob zu verkündigen, und die Geschichte mit Mine, wie viel Ehre haben Sie damit eingelegt! – Seit einiger Zeit hat Tinchen Sie und alles vergessen, mich dünkt, auch sich selbst! – Sie ist still! – tief – was weiß ich, wie sie ist, was weiß ich, was sie ist!

Natürlich!

Nicht ganz!

Sie liebt ihre Mutter, die sie verläßt.

Die sie aber im Auge behält, wenn gleich nicht an der Hand!

Gnädigste, die Hand ist bei einer zärtlichen Liebe die Hauptfache! Unter Mutter und Tochter unentbehrlich!

Sie kann es mit so manchem Lebensvorfall aufnehmen, ihre Entfernung ist's nicht.

Ihr Bräutigam ist rauh, allein bieder und gut.

Fast sollt' ich's auch glauben.

Gewiß, Gnädige, gewiß! und solch ein Mann ist behaglicher als einer, der vorerst kriecht und nachher sein Weib verläßt, wie es hier zu Lande zu meiner Zeit Sitte war – und noch ist.

Desto glücklicher diese Wahl!

Nicht Raupe, nicht Schmetterling ist für ein Herz wie Tinchen. – Gnädige Frau, ich kenne es.

Kaum in aller seiner Feinheit. Man weiß, wie junge Leute sind; allein er hätte wenigstens bedenken sollen, was Tinchen zu ertragen vermag und was ihr zu schwer ist! – Jugendliebe – –

Nichts als Jugend-, Helden- und Eulenspiegelstreiche! Tinchen und Amalchen thun nichts zur Sache! Jagd ist die Losung!

Da kam der Herr v. W., der da anfing, wo er's gelassen hatte, mit einer Bitte um Vergebung! – Er nahm Antheil an unserer Unterredung, und obgleich er wider seinen Eidam allerdings [267] so manche Bedenklichkeit hatte, so war er doch der Meinung, daß Güte des Herzens und Biedersinn über eine gewisse Zärtlichkeit gingen, woran in Curland bloß darum so viel Mißwachs wäre, weil die Höflichkeit nicht betrieben würde, die zu allen Dingen nütze sey! – Glücks genug, wenn man heut zu Tage einen Mann ohne Schulden findet, der zu seiner Zeit ein Mahl zu Ehren anrichten kann; einen Mann ohne Eigensinn, der Arten begreifen will; einen Mann, der Verstand hat und Arten zu fassen versteht! – Wieder eine Bitte um Vergebung, und warum? Weil ich Sie so lange von meinem künftigen Schwiegersohn unterhalten habe!Er ist mein Freund!

Desto besser, sagte Frau v. W. Sie bleiben doch morgen? fügte sie hinzu.

Ich bleibe.

Herr v. W. kleidete sein Gesuch, daß ich morgen noch bleiben möchte, in ein so feines Compliment, daß es zugleich für seine Gemahlin und mich Weisung enthielt, weil wir die Sache so kurz und gut berichtigt. – Man hat's, sagte er, wiewohl bei einer andern Gelegenheit, für ein Geld! – Warum sollte man nicht ein wenig Gewürz dran legen?

Es hebt.

Macht aber Hitze!

Nach dem das Gewürz ist!

Wir gingen zu Tische, und Tinchen war sehr heiter. Vater und Mutter schienen ausnehmend mit ihr zufrieden. Was mir vorzüglich auffiel, war die gütige Art, mit der sie sich gegen mich benahm! – Sie erinnerte sich an die geringste Kleinigkeit, die zu der Zeit, da ich nach Königsberg ging, vorgefallen war. Herr v. W. hatte Mühe, uns von einander zu bringen, und wenn wir anstanden, mündlich zu sprechen, waren unsere Augen in einer immerwährenden Unterhaltung; ich rettete Tinchen, und sie dankte [268] mir! – Tinchen richtete den Salat an, und ich nahm mir die Erlaubniß, sie an das examen rigorosum zu erinnern, das sie in – – überstand. Mir kam es vor, daß des strengsten Augeninnersten und Händegewichts unerachtet, womit Tinchen sonst begabt war, diesesmal die Salatingredienzien nicht nach richtigem Maß und Gewicht gemischt wurden. Zu viel Salz! – zu wenig Essig!

Die Deutschen, Herr Major! hielten auf ehrliche Geburt: alle ihre höheren Titel laufen auf geboren heraus.

Ehrenfest, Hochedel und Wohledel, Gestreng, sind noch mehr originaldeutsche Titel, als das liebe Geboren!

Erlauben der Herr Major, sagte Herr v. W. Der Franzos sagt Monsieur; wie gehts aber mit dem Geboren? Ich glaube, in Frankreich kennt selten der Sohn den Vater!

Sie haben etwas, die Franzosen, in der Sprache und in allem, was man ihnen nicht nehmen kann; nur dasGeboren nicht! – Wie dreist ist ein Franzose bei aller seiner Sprachfeinheit! – Ein dummdreister Mund und ein liebliches Wort! – Man sehe nur, wie die Franzosen ihren mes Dames begegnen! Sie verstehen, in Feinheit grob zu seyn. Sie gehen, als wenn sie einen guten Freund auf der Schulter balancirten, oder wie der letzte Taschenspieler, der eine Pfeife auf der Nase tanzen ließ. Zur Höflichkeit, zur Festlichkeit, gehört auch ein Körper, der etwas auf sich nehmen kann. Ein gewisser Wuchs ist schon an sich festlich, und wenn sich ein Zwerg bückt, ist das höflich? – Da fällt mir immer der Bericht ein, den ein General dem verstorbenen Könige von Preußen über Paris erstattete: Alles Ausschuß, allergnädigster Herr! Kein Hofcavalier, der Sieben mißt! – Was ich den Franzosen nicht gönne, ist das Wort Servante. Das deutsche Dienerin ist nicht hin, nicht her; und Magd! Pfui übers Kopftuch! Wir hielten über diese Materie ein Gespräch, an dem ich [269] wie der Inhalt es zeigen wird, wenig Antheil nahm. Ich sah lieber Tinchen im Wasser, als daß ich das Fest der Deutschen wiederholte.

Der Franzose ist auswendig gelernt; der Deutsche nimmt sich, wie er sich findet; der erste Blick ist immer der beste, das sieht man beim Villard.

Was geben die Franzosen, wenn sie einen zu Gaste nöthigen? Die letztbeklatschte Comödie zu lesen, oder die heutige Zeitung; eine Limonade oben ein! – Sie sind geselliger als die Deutschen; allein ihre Gefälligkeit schränkt sich aufs Reden ein. Ists Wunder, daß in ihren Worten mehr Geschmack, als bei uns ist? Wenns aber auf Thaten ankommt, heraus! ihr Herren! wenn ihr Herz habt! Mir gefällt jener Deutsche, der, wie alle seine Landsleute, nie allein trank. Wenn dieser Biedermann keinen hatte, mit dem er Gläser anstoßen konnte, nahm er sein Stammbuch und leerte Seite vor Seite aufs Wohl seiner Freunde sein Glas! – Daß es dir wohlbekomme, ehrlicher Deutscher!

Der Engländer vergräbt alles in sich; zuweilen gräbt ers auf, um diesem oder jenem Todten den Ring vom Finger zu ziehen. Man sieht aber fast immer noch am Ringe ein Stück vom Finger!

Noch eine sehr feine Bemerkung, die Herr v. W. machte, ihm zum immerwährenden Andenken.

Man sagt: mein Röschen. Niemand mein Nelkchen! meine Lilie! meine Hyacinthe! Da sieht man doch, daß jedes Ding sein Hochwohl- und Hochedelgeboren hat, wenn man es nur nimmt, wie es zu nehmen ist!

Möchten Sie doch, liebes Tinchen, glücklich in Ihrer Ehe seyn! Wer Sie nicht auf Händen trägt, verdient keine Hand zu haben? – Junker Gotthard hat zwei Hände.

Wir standen von der Tafel auf. Ich sprach mit Tinchen; allein ohne daß sie und ich an ihren morgenden Verlobungstag dachten!

[270] Wie kam das? Um vieles hätte ich sie nicht daran erinnern können.

Herr v W. hatte die Gewohnheit, alle Abende mit seinen Leuten eine Betstunde zu halten. Es war, wie er's nannte, ein schuldiger Gottesdienst! Die Frau v. W. sagte mir diese Gewohnheit mit einer so herzlichen Art, daß ich diese Abendstunde um vieles nicht verlieren wollte. Herr v W. legte es, da die Betglocke geschlagen, so geflissentlich an, mich eben so gern hinaus zu complimentiren, als ich bleiben wollte. Endlich kam es zum Wortwechsel. Warum wollen Sie sich incommodiren? fing er an, als ob das Gebet eine Beschwerde wäre, als ob es den Herrn v. W. anginge. Ich ließ nicht nach und fand, daß Herr v. W. durchs Gebet mit dem lieben Gott complimentirte, und offenbar bewies, daß er das Gespräch nicht angehört, welches zwischen meinem Vater und dem Herrn v. G. bei der Ankunft in – in dem Hause des Herrn v. G. vorfiel.

Wir gingen in das Betzimmer, wo auch, wenn das Wetter zu schlecht war, um in die Kirche zu fahren, eine Predigt gelesen ward, und Tinchen nahm mit einer Unschuld, die über alles ging, ein in schwarz Corduan gebundenes Buch, und las ein Gebet mit einer solchen Herzlichkeit, daß es mir durch die Seele ging! – War es mir doch, als wenn sie Gott sähe! Meine in Andacht trunkene Seele fand in Tinchens Herzen, Mund und Händen das ganze Ideal einer erhörten Beterin!

»Du weißt, was uns bevorsteht, und wir wissen, daß du unser Vater bist! Vater, in deine Hände befehlen wir unsern Geist! – Dein Geist! – lieber Vater, gibt Zeugniß unserm Geist, daß wir deine Kinder sind! – Geister sind so alle zusammen verwandt, und unsere Leiber hast du durch deinen lieben Sohn an Kindesstatt angenommen. Ganz sind wir dein!«

Noch eine Stelle!

[271] »Lehre du uns mit deiner Welt zufrieden seyn, die du gemacht hast sehr gut. Laß uns nie vergessen, daß es an uns liegt, wenn sie uns nicht sehr gut ist! Wenn sie uns nicht sehr gut vorkommt! Dein Wille geschehe!«

Hier brach sich ein Thränchen, das Tine so lange zurückgehalten, hervor. Man hörte es an ihrer Stimme. Gehen konnte es keiner; so weit ließ Tinchen es nicht! – Wie rührend! – Jedes von uns hatte eine Thräne im Auge. Herrn v. W. allein ausgenommen, der nur nach vorgeschriebenen Noten weinte.

»Dein Wille geschehe!« Hundertmal möchte ich diese Worte hersetzen, vielleicht träfe Eine meiner Leserinnen Tinchens Ton! – »Dein Wille geschehe!«

Herr v. G. der Aeltere soll gesagt haben, den Willen hat sich der liebe Gott vorbehalten, vom Verstand hat er uns ein gutes Stück abgebrochen, und als er sagte, brach er sich Brod ab, welches er, wie wir wissen, ungern schnitt!

Mein Vater ist dagegen der unvorgreiflichen Meinung gewesen, daß dem Menschen viel Willen anheimgestellt wäre, den Verstand aber hätte sich Gott der Herr vorbehalten.

Endlich haben sie sich auf den Satz vereinigt, daß der Verstand eine herrliche Gabe Gottes sey, wenn nur nicht der Unverstand seine Lobrede übernehme!

Liebhaber, hast du je deine Geliebte beten gehört und gesehen? Lieber Gotthard! wie hättest du hier alles, alles vergessen, was nicht deine Tine ist, wenn du sie gesehen und gehört hättest! Wer verdenkt dem Gottfried seine Liebe zur in Gott andächtigen Jungfrau?

Jener Arme, der einen reichen Mann um Geld ansprach, erwiederte, da ihn der Reiche fragte: Gegen was für Sicherheit? – Ingrossation auf den Himmel! – Der Reiche gab ihm nichts, [272] weil auf diese Güter schon zu viel intabulirt wäre, wie der Reiche glaubte.

Das Gebet, Freunde! ist wahrlich eine gerichtliche Verschreibung auf die unsichtbare Welt!

Dem Wille geschehe, sagte Tinchen, und die letzten Worte:

»Dann liegen wir in unserm Grabe und schlafen unbekümmert den süßen Schlaf des Todes, und ein Bote des Herrn geht mit einem: Gesegnet seyst du dem Herrn, vorüber, bis wir eingehen zum ewigen himmlischen Reiche, das bereitet ist denen, die Gott lieben!«

Wir schieden sehr still von einander! – Die versammelte Gemeinde näherte sich (alles in gewissen Tempos) zu den Knieen des Herrn v. W.; die Frau v. W. wünschte bloß eine gute Nacht. Das Fräulein Tinchen sahen die Leute so an, als dächten sie, schön gebetet! – Niemand rührte sie an, als wäre sie ein Engel Gottes, den niemand tasten kann!

Was meinen der Herr Major, sagte Herr v. W. zu mir, das Forte piano und pianissimo weiß meine Tochter zu halten. O des Erzcomplimentisten, mit seinem Forte piano und pianisimo.

Ich konnte die Nacht kein Auge schließen. War es Wunder?

Tinchen, wie ihre Mutter des andern Tages versicherte, hatte eine noch ärgere Nacht gehabt! Die Nacht vor der Verlobung, ist sie nicht wirklich, wie meine Mutter bei Gelegenheit ihres Romans, den sie mit meinem Vater gespielt, sie nennet, eine arme Sündernacht?


In welcher Nacht ich lag so hart,

Mit Finsterniß umfangen.


Ich weiß nicht, was mir war! Schlafen konnte ich nicht, gewacht habe ich auch nicht!

Der Verlobungstag erschien, an welchem der Herr Großvater [273] des Herrn v. W. mit der Frau Großmutter sich ehelich verbunden, und ward mit einer Feierlichkeit eingeläutet, die ihres Gleichen nicht hatte. Daß Herr v. W. mit einem dicken Fuß wegen der frisch angelegten weißseidenen Strümpfe paradirte, bedarf keiner Anmerkung.

Ich sahe zeitig aus meinem Fenster, das ich öffnete. Wahrlich, ich betete, so voll war ich! Bei aufgestoßenem Fenster versteht sich. Ich weiß nicht, ob meinen Lesern noch das Vaterunser beiwohnt, da mein Vater und ich im Hofe des Herrn v. G. ausgeschlafen hatten. Wir sahen zum Fenster hinaus, und da ich Abschied in diesem so seligen Hofe von ihm nahm (es war das letztemal, daß ich meinen Vater sah!), stieß Er ein Fenster mit einer Heftigkeit auf, die mir noch auffällt. »Mein Vater! mein Vater! Wagen Israels und seine Reiter!«

Ist sie es? Sie ist es! Ich sah durch mein Fenster Tinen an einem Teiche mit einem Mädchen herumgehen, und immer in den Teich sehen. Sollte sie, dachte ich, da ihr Herr Aeltervater mit der Frau Aeltermutter sich ehelich verbunden, und auch sie Gottharden auf ewig die Hand zu geben in dem Herrn entschlossen ist, sollte sie da daß Andenken des Wasserfalls feierlich begehen? Und gleich unterdrückte ich diesen stolzen Gedanken! – Wir thaten, als sähen wir uns beide nicht, und doch sahen wir uns beide! – und wünschten es, daß wir uns sähen!

Sie verschwand!

Eine feierliche Stille im ganzen Hause! Mehr als ein Pianissimo!

Bald hätte ich zu bemerken vergessen, daß Herr v. W. mir des Abends das Geleite gegeben und des Morgens früh nach meinem Wohlseyn sich erkundigen lassen. – Frühstück ward jedem in sein Zimmer gebracht, und es kann Zehn gewesen seyn, da Herr v. W. zu mir kam in vollem Staat und mir die Visite gab. Es ward [274] mir auf den Aermel geheftet, daß ich sie ihm wiedergeben müßte; das that ich, und nun war bis zum Verlobungsmittag alles nach Ortsgebrauch berichtigt!

Man gab mir zu verstehen, ob ich nicht Luft und Liebe hätte, das Verlobungszimmer anzusehen. – Ich hatte nicht Luft und Liebe! – Da ich indessen merkte, daß diese Anregung höheren Ortes sich herschrieb, ging ich und fand ein Zimmer, wo ein Sopha stand, carmoisinroth beschlagen, darüber Großvater und Großmutter so unaufgeräumt gemalt, daß es mir vorkam, als wäre dieß gute Paar unwillig, daß man sie aus dem Schlafe störe.

Man öffnete zwei Flügelthüren, und ich fand eine solche allerliebste Uebereinkunft, daß es schien, als freuten sich die Zimmer, daß sie einander sähen. Man sah es recht, daß eins ins andre kam! Wenn eine Saite angeschlagen wird, tönt die andere, falls die Instrumente gleich gestimmt sind. Ueberall fand ich die liebe, liebe Frau v. W.

Schwerlich, dachte ich, wird es Junker Gotthard so empfinden, als ich!

Es war alles bereitet, und niemand fehlte, als der Bräutigam. Freilich bei der Verlobung ein wichtiges Stück! Da rasselte ein Wagen! und da lief alles, was nur von Domestiken laufen konnte, auf den Posten. Herr v. W. war nicht Willens, seines Schwiegersohns halber die letzte Stufe der Treppe zu beschreiten, um den Ankömmling entgegen zu nehmen; denn vorerst war er der Schwiegersohn, sodann verstand er nicht, was heiliger Abend war, und selbst an seinem Ehrentage hatte er viel zu lange auf sich warten lassen.

Wo sind denn die Damen? schrie Herr v. W., der in seine Rolle gesehen hatte. Sie hatten sich noch nicht sehen lassen, außer daß ich Tinchen am Wasser erblickte.

So erschrak Luise nicht über den unzeitigen Flintenschuß, als ich, da ich hörte, Tinchen wäre wie todt. – Ich hörte das [275] Wie nicht, und doch hat ein dergleichen Wie eine große Bedeutung! – Herr v. W. wollte nicht aus der Rolle weichen, und das war ihm in den Jahren nicht zu verdenken! Er hatte zu viel zu behalten, um sich völlig auf sein Gedächtniß verlassen zu können! – Todt! Herr v. W.todt? Was hilft der Bräutigam, wenn die Braut fehlt? Dieser Gedanke muß ihm, wie ich vermuthe, einen Stoß gegeben haben. Er war wirklich aus dem Concept, und ging zu seiner Tochter, die, wie es bald darauf hieß, immer schlechter würde. Soll denn, sagte Herr v. W., da er aus Tinens Zimmer kam, aus dem Tag der Freude ein Tag des Trauerns werden? Alles lief durch einander! Die Mutter hörte ich rufen: Meine Tochter! meine Tochter! so kläglich, als die Rett's und die Hier's von Luisen, schallten sie mir, und o! was ist in solchen Fällen der Wohlstand? Das schrecklichste, was ich weiß! Wird Gotthard, der eben gekommen, es nicht so machen, wie ehemals, und eher die Flinte abzuschießen bereit seyn, als seiner Kranken die Hand zu reichen?

Nach einem langwierigen, unverständlichen Mischmasch kam alles an Ort und Stelle. Der Herr Bräutigam hatte sich entschuldigen lassen. Sein Fürsprecher war Junker Peter, der Mückentodtdrücker, Tinchens Bruder, der mit feurigen Ross' und Wagen angekommen war. Man hörte es den Pferden an, daß sie bei einem Bräutigam im Dienst sind, sagte Herr v. W., und that sehr zufrieden, daß der Herr Schwiegersohn in Rücksicht der Pferde die Etikette als Bräutigam nicht verfehlt; was aber ihn selbst betraf, o! das war ihm zu unerträglich, als daß er über diese curische Denkart seinen Unwillen nicht äußern sollen. Die Stimme ist Jakobs, die Hände Esau's, sagte der gute Herr v. W., ohne zu bedenken, daß er dem Jakob, den er mit den kecken Bräutigamspferden verglich, eben keine sonderliche Ehre erwies. Wie doch alles in der Welt durch Mißverständnisse geschlängelt wird! Ich weiß [276] nicht, ob meine Leser sich noch an den sonst unbeträchtlichen Umstand des vermeintlichen Todes des Dr. Saft erinnern, welchen meine betrübte Sündenfallskrankheit im vierzehnten Jahre veranlaßte, und was für Kreuzwege gingen nicht aus dieser meiner Krankheit aus, bis sie alle zusammen in den zweiten Discant meines Vaters zusammentrafen:


Gott eilet mit den Seinen,

Läßt sie nicht lange weinen!


Du wirst dich so vergessen, sagte Frau v. W. zu ihrem gedrückten Manne, der wahrlich seine Jakobsstimme eingebüßt hatte, daß du deinen Gast aus dem Gesicht zu verlieren im Begriffe stehst! – Gleich ein Platzregen von Bitten um Vergebung, und doch hinter diesen wieder Glossen über Curland und Semgallen, die mein Vater nicht unhöflicher machen können! Freilich war es arg, daß die Sonne am großväterlichen Verlobungstage so unverrichteter Arbeit untergehen sollte, und ohne daß sie ein Enkelpaar begrüßt hatte! – Ein Trost fiel mir ein, der noch am heilsamsten anschlug! Wer Thorheit mit Klugheit verbessern will, gebe ja das ganze Geschäft auf. Thorheit muß Thorheit heilen! Gleich und gleich! – Großväterlicher Hochzeitstag, sagen Sie? Ja doch, Hochzeitstag! erwiederte Herr v. W., der, unter uns gesagt, sein unhöfliches Doch ersparen können, dessen ich mich nicht gewärtig war. Indessen ging es nicht mich, sondern seine unbedachtsamen Voreltern an, die zwar den Hochzeits-, nicht aber den Verlobungstag in die Archive von gelegt und in die Familienakten verzeichnet hatten, welches Herr v. W. bei dieser Gelegenheit sehr empfindlich rügte. – Nun nahm ich mir die Erlaubniß zu bemerken: Ihr Herr Vater hat auch einen Hochzeitstag gehabt? Freilich, erwiederte Herr v. W., allein wie schön wäre alles zu stehen gekommen, wenn an diesem Tage – das Beilager, griff ich ein, und an [277] jenem die Verlobung gehalten wäre? Darf ich aber Ihren selbst-eigenen Hochzeitstag, weil doch die Verlobungstage in der Familie in etwas vernachlässigt zu seyn scheinen, wenigstens nicht ahnenreich sind, darf ich – Herr v. W. merkte auf und begriff, wo ich hinaus wollte; er schien sich zu fassen, obschon er nicht umhin konnte, dem Worte Beilager einen Brandmark zu geben, und, wie er sagte, mich höchlich zu bitten, zur Ehre der Deutschen dieß Wort bis aufs Blut zu verfolgen; welches ich ihm, um seinen patriotischen Absichten nicht den Weg zu vertreten, versprach!

Tinchen genas, und die Familie versammelte sich zu einem zwar etwas spätern, allein desto einträglicheren Mittagsmahl, aus welchem indessen zwei Schüsseln, nach Anordnung des Herrn v. W., ungegessen abgetragen werden mußten, weil, wie er sagte, sie origetenus Verlobungsgerichte wären. Die eine war, dünkt mich, Kälbermilch. Herr v. W., um nicht die Regeln der Lebensart zu übertreten (er verzieh mir den harten Beilagerausdruck), verbiß seine Bitterkeit. Die Frauenzimmer schienen so zufrieden, daß selbst von Tinchens Krankheit nicht viel gesprochen wurde. Ein Wasserfall, sagte sie, da ich mich darnach erkundigte. Wenn man einmal auf'm Trocknen ist, was ist mehr? So schien sie mir auch wirklich! – Frisch, wie nach dem kalten Bade. Und die Mutter? Auch sie brauchte so wenig wie Luischen, meinen Hut voll Wasser. Die Zufriedenheit ihrer so liebenswürdigen Tochter hatte sie hinreichend getröstet!

Von Tinchens Bruder, vom Mückenhelden, bin ich noch die Beschreibung schuldig. Dieser junge Mann war auf eine so höfliche Art von seinem Herrn Vater erzogen, daß nichts darüber ging. Wen er lieb hat, den züchtigt er, scheint mir noch immer die Hauptregel der Erziehung zu seyn. Ich weiß, daß man es heut zu Tage darauf anlegt, durch gute Worte gute Plätze zu suchen. Wenn's nur ohne Nagelbohrer gehen wird!

[278] Meine liebe selige Mutter schrieb meine Krankheit im vierzehnten Jahre auf die Rechnung des betrübten Sündenfalls.

Extrapost! Die Festlichkeit und Höflichkeit, welche unser theurer Herr v. W. so brüderlich zu vereinigen wußte, floß, die reine Wahrheit zu sagen, aus der Quelle des Stolzes! – Hierin folgte der Herr Sohn dem Vater buchstäblich, und da es ihm nicht verborgen bleiben konnte, daß eben die Höflichkeit das Wort Melchisedech war, welches seinem Herr Vater rings umher, in einem solchen Lande, wie Curland, übel ausgelegt ward; so machte er sich noch eine gewisse Heuchelei eigen, die weit unartiger hervorschoß, als wenn sie bloß aus der Wurzel der Fest- und Höflichkeit entsprossen wäre! – In seines Vaters Hause war er höflich und festlich, und zwar gegen seinen Vater; ungezogen curisch in aller Rücksicht, sobald er ins Freie kam. Alles von dieser Verfahrungsart konnte dem Vater unmöglich verborgen bleiben; indessen schrieb er dieß flugs der großen Kunst zu, sich in die Zeit zu schicken. Ueberhaupt glaubte der Herr Vater einen wohleingeschlagenen Sohn in Junker Petern vorzeigen zu können, und hatte nie etwas dagegen, wenn es dem jungen Herrn einfiel, seinen Vergnügungen Thür und Thor zu öffnen. Die gute Mutter, die kein doppeltes Gesicht ausstehen konnte, weil das Gesicht das Patent des Herzens, des Gemüths ist, hörte nicht auf einzulenken; allein da war der Herr Sohn, so wie es die Zeit mitbrachte, oft höflich, wie gegen seinen Vater, oft rauh und curisch, wie mit seinen Brüdern!

Was ich einen sich immer gleichen Charakter liebe! Und wahrlich, zu diesem Gleichlaut den Menschen zu bringen, kann nicht schwer halten, wenn man ihn von der Bahn der Ausdrücke, der Worte, zu Handlungen, zu Thaten, von dem Wege der Empfindungen auf den Weg der Grundsätze und der Regeln leitet! Wer kann das zu oft sagen! Wahrlich, es wäre gut, den Menschen [279] von allen Neigungen abzuhalten, die sich nicht aus der Naturschule herschreiben! – Man lasse das Kind, wie Herr v. G., der Selige, der Meinung war, essen, wenn es hungert, man lass' es zu Bette gehen, wenn es schläfert! – Man überlass' es sich in solchen Dingen so sehr, daß man jedes Gängelband verabscheue! – Es hat gute Wege. Wenn der Finger verbrannt ist, wird man das Licht scheuen, und wenn sich das Kind den Kopf gestoßen, wird es dem Fall ausweichen. – Die Erziehung geht nicht diesen, sondern einen ganz andern Weg. Man sehe doch, wie Gott den Menschen zu erziehen sich bemüht, da der Mensch sich in die Unnatur stürzte und in seinem Blute lag.

Neigungen, Angewohnheiten schränken die Macht der vernünftigen Bewegungsgründe, der Grundsätze ein, und überhaupt, was macht uns unglücklich in der Welt? Wahrlich nicht der Mangel der Sache. Der Mensch kann sich ohn' alles behelfen. Selbst ohne die Hoffnungen der andern Welt kann man Gutes thun. Der Appetit, Freunde! die Neigung zu etwas, das entweder gar nicht da ist, oder schwer erhalten werden kann, macht uns unglücklich! – Mensch, du bist ein geborner Diogenes! Lerne dich selbst kennen!

Ob und in wie weit der Mückenheld diese Lection verdient habe, die ich ihm gelesen, sey meinen Lesern zu beurtheilen überlassen!

Jetzt zur Geschichte, und damit ich meinen Lesern doppelt einbringe, was sie bei dieser Nutzanwendung eingebüßt, so sey mir gleich mit der Anzeige anzufangen erlaubt, daß Junker Gotthard nicht Tinens Bräutigam war. Wie das möglich ist? und wie ich denn auf Trinchen und Amalchen in meiner Unterredung mit der lieben Frau v. W. fallen können? Wohlgesprochen! Aber ich frage wieder: Wie man glauben können, daß Dr. Saft todt sey? Und ob nicht jedes der Meinung seyn müssen, Junker [280] Gotthard wäre der Bräutigam? Wer anderer Meinung ist, blättre das griesgrämische Gesicht des Herrn v. W. auf, da er die heißesten Wünsche seinem Schwiegersohne bei der academischen Wanderung auf den Weg gab, daß der große Gott ihn auf seiner Reise begleiten, seine Studia zu seiner Ehre und des Vaterlandes Nutzen segnen, und ihn zu seiner Zeit in die Arme seiner kleinen Braut gesund zurückbringen wolle! – Und das war nur ein Theil, der kleinste, von seiner Schwiegervaterempfindung.

Junker Gotthard war's nicht? Warum nicht? Daran wird weniger liegen, als an der Frage: Wer es denn sonst gewesen? Ich will versuchen, beide Antworten unter einen Hut zu bringen.

Junker Gotthard hatte in Göttingen und Königsberg so wenig Aufmunterung zur heiligen Ehe gefunden, daß ihm vielmehr seine Trine je länger, je schmucker vorkam, und was ihm den Rest gab, kann wohl die Art gewesen seyn, wie Tine v. W. ihm bei seiner ersten Aufwartung begegnete! – Herr v. W. mit offnen Armen. Frau v. W. reicht' ihm die Hand. Tinchen benahm sich dabei so, als wenn sie nur zum Zusehen da wäre! – Erbarmung, dieß Mittelstück der Liebe, wenn Erbarmung rechter Art ist, sieht aufs Unglück, nicht auf die Person; und die Liebe? Sagt ihr, die ihr geliebt habt, hat nicht jede Liebe einen Götzen, den sie anbetet? Idol, oder Ideal, ist hier nicht weit auseinander. Alexander bringt das Bild seiner Mine auf die Welt, und Mine das Bild Alexanders. Die Sinnen bringen nur auf etwas, was schon da ist. Sie decken nur den Tisch, um die fertigen Schüsseln aufzutragen, und noch jetzt, wenn gleich die Eheangelegenheiten ihre sieben magern Jahre angetreten, gibt's doch noch Adams- und Evasehen.

Junker Gotthard empfand, daß er gekommen, gesehen und nicht gesiegt hatte, und ging gerechtfertigt in sein Haus! – Er sah ein, daß hier keine Aussicht für ihn wäre, wenn er mit gutem [281] Gewissen verfahren sollte, und es kostete ihm wenig Mühe umzusatteln, um aus seiner Sprache ein Wort anzubringen. Ich glaube, daß er nie mit dem ernsten Gedanken zu Tinchen gekommen, seine alten Rechte geltend zu machen, und da er fand, daß das Wasser im Teiche Bethesda sichtbarlich nicht für ihn, sondern für einen andern bewegt ward, hoffte er nach der Liebe, daß, wenn ihm ja nach der Eheklause eine Sehnsucht anwandeln sollte, ihm sein Kämmerchen nicht fehlschlagen würde.

Tinchen und Gotthard fanden bei diesem Auftritte vollkommen ihre Rechnung; nur Tinchens Vater und Mutter waren nicht sonderlich erbaut, welches Gotthards mindester Kummer war. – Ein Glück für Junker Gotthard war es (denn sonst würde ihn Herr v. W. mit Höflichkeit verfolgt haben), daß er bei dieser Gelegenheit alle Regeln der Höflichkeit gegen den Herrn Schwiegervater übertreten. Kein Wunder, daß er diesen Ehrenmann, der mit seiner Tochter nicht verlegen war, in Harnisch jagte, und daß die fehlgeschlagene Hoffnung dem Herrn v. W. keine Minute verdarb! – Fast hätte man glauben sollen, Tinchen und Gotthard hätten sich aus bloßer Liebe verlassen, so schien es, da sie sich einander los waren. Tinchen legte indessen ein Jahr nach dem andern zurück, und was noch mehr ist, so war sie so sehr in sich gekehrt, daß die Eltern ihrethalben fürchteten. Es kann sich wohl auch ein Dr. Saft mit einem Heirathsrecipe obenein gemeldet haben, worauf um so mehr Rücksicht genommen ward, als ein Lorchen, wie schon erwähnt worden, in der Gegend sich so herabgesetzt, daß sogar Tinchen nicht mehr Lorchen genannt wurde. In dieser Lage ward Tinchen von einem reichen Junker gesehen, der nicht aus dem Lande gekommen war. Auge auf, Beutel auf, sagte Herr v. W., und interessirte sich fast gröblich für diese Heirath. Herr v. W. bewies, daß, wenn gleich die Höflichkeit zu allen Dingen nütze wäre, das Geld ihr nur etwas weniges nachgebe, [282] und da er Festlichkeit mit der Höflichkeit paarte, wie sie denn sich gegen einander wirklich verhalten, wie Mann und Weib, so war es sehr natürlich, daß er das Vermögen des reichen Junkers in eine der Sache gemäße Erwägung zog. Tinchens Freier unterstützte den Mückenhelden mit Vermögen zu allerlei Vergnügungen, und dieser ihn mit Empfehlungen im väterlichen Hause. So hoben sich die Brüche, und selbst die gute Frau v. W. war, wie wir gehört haben, eben nicht wider diese Heirath.

Tinchen allein sah die Sache von einer ganz andern Seite an. Sie wollte nicht fremdes Feuer auf einen Altar bringen, der einem unbekannten Liebhaber geweiht war, und eben in dieser Rücksicht sielen ihr tausend Dinge an ihrem Liebhaber auf, die andere Leute nicht bemerkten. Selbst ihre seine Mutter nicht. Die Liebe entschuldigt, die Abneigung tadelt alles – und wahrlich, Tinchen hatte nicht Ursache, bei dieser Tadelsucht sich anzustrengen. Tinchens Werber, Herr v. K., damit ich den ersten Buchstaben gebe, hatte sich nicht bloß auf eine schmucke Trine eingeschränkt, sondern auf jedem seiner Dörfer und Vorwerke war eine dergleichen schmucke Person, die er begnadigte (ein lettischer Ausdruck, den ich nur sehr unkräftig verdolmetscht habe). Der Mückenheld war in Absicht dreier dieser Trinchens in Compagnie getreten, wo aller Schaden auf Herrn v. K., der Vortheil aber zu wenigstens gleichen Theilen ging; juristischLöwengesellschaft genannt. v. K. war ein Verschwender, und geizig – er liebte und haßte auf eine so uncivile, ungesittete Art, daß freilich bei der Verbindung mit Tinchen keine sehr glückliche Ehe abzusehen war. – Was solche Leute ekelhaft sind! – Ich trinke darum ungern Punsch, weil er, wie Herr v. E. und Herr v. K., sich widerspricht. Indessen ward Tinchen endlich eingeschläfert, im Schlafe aufgesprengt, und da hatte sie den Kopf nach vorn genickt, wie alle gute Leute, wenn sie schlafen, nach vorn den Kopf zu neigen pflegen. Dieß Nicken hieß [283] beim Herrn v. W. um so mehr Ja, als, nach seinen Regeln der Höflichkeit, er keinem Mädchen in ein deutliches Ja! auszubrechen gestattete; höchstens konnte sie es verlieren. Eben darum hätte er das Trauungsformular, trotz dem zweigliederigen Segen, gern reformirt, wenn es in seiner Macht gewesen wäre. Die gute Mutter empfand desto mehr, daß Kopfnicken und deutlich Ja sagen verschieden wären. Sie sah ihre Tochter so oft ganz Gott ergeben vor dem Altare dienen, wo freilich nur das Fest des unbekannten Liebhabers gefeiert wurde; indessen ist die Liebe der Einbildung die gefährlichste!

Kind! fing sie an, und Tinchen erwiederte: Mutter!

Liebes Kind!

Liebe Mutter!

Einzige Tochter!

Einzige Mutter!

Das war alles, Was verhandelt ward. Du hast gewollt! Ja, liebe Mutter! Ungern? Ja, liebe Mutter! Gott wird helfen! Tinchen blickte gen Himmel! – Ihre Mutter führte sie auf so manche Höflichkeitsscene, durch welche sie sich durchdrängen müssen, auf die Abneigung, die sie für alles, was sich biegt, gehabt und noch hätte, und dann unterbrach diese Lieben derMückenheld, oder sein Herr Vater, und Tine empfand die Unannehmlichkeit in ihrem ganzen Umfange, von diesem des Herrn v. K. halber geliebkost und von jenem aufgefordert zu werden! – Alle Zudringlichkeit ist, bei Gemüthern, die selbst zu wissen glauben, was zu thun ist, unausstehlich, es kleide sich diese Zudringlichkeit schwarz oder weiß.

Herr v. K., der wohl wußte, daß Geld bei ihm die Losung sey, bot seiner Braut auf eine recht curische Art ein Geschenk in baarem Gelde an, um nach ihrem weltberühmten Geschmack, wie er sagte, selbst davon Gebrauch zu machen. Wer kann das so, wie [284] Sie, setzte der galante Herr v. K. dazu! – Weltbekannt, erwiderte Tinchen, – kehrte den rothen Netzbeutel zurück und fügte auf eine Art hinzu: Wir sind beide nicht aus Curland gewesen! daß Herr v. K. selbst es verstand. Das muß doch eine sehr deutliche Art gewesen seyn! – Herr v. W., der höfliche Herr v. W. wußte selbst diese Geschenkmanier zu Gunsten des Herrn v. K. auszulegen, obgleich Geschenke in Geld so was Widerstehliches an sich haben, daß kein guter, edler Mensch sie mit offenen Augen nehmen kann. Geschenke machen die Weisen blind! – Herr v. W. hatte dem Junker v. K. den Hochzeitstag seines Herrn Großvaters verziehen; wie sollte er ihm ein Geschenk in Geld übel deuten? Geld war des Junkers v. K. Losung.

Geschenke in Geld heißen Geschenke in originali, sing Herr v. W. an. Präsente, in Sachen bestehend, heißen Geschenke in authentischer Copie. Alle Originale sind hart, oft widerlich, gestrichen und mit Fähnchen versehen. Eine vidimirte Copie wird gemeinhin schön geschrieben, fällt weicher ins Auge. Original ist indessen Original und bleibt Original.

Tinchen war endlich wirklich entschlossen, Ja in den Augen von ganz Curland und Semgallen zu nicken, bis sie den Tag vor meiner Ankunft solche Beklemmungen erhielt, daß ihre Mutter ihrethalben besorgt war. Ihr Vater hielt es für ein Kapitel aus der Weiberpolitik, und klatschte, daß sie ihre Rolle so schön spielte. – Auf Schauspiele hätte sich doch Herr v. W. besser verstehen sollen!

Auf diese Rechnung gehörten die herzlichen Worte: »Dein Wille geschehe!« und das Pianissimo beim Schluß:

»Dann liegen wir in unserm Grabe, und schlafen unbekümmert den süßen Schlaf des Todes, und ein Bote des Herrn geht mit einem: Gesegnet seyst du dem Herrn, vorüber!«

Meine Ankunft war ihr so etwas Wunderbares, daß sie völlig aus dem Zusammenhang kam. Sie extemporirte. Wer denkt beim [285] Extemporiren viel an das, was vorhergeht und was nachflogt? Wer glaubt nicht Wunder, wenn er liebt? Und bald hätte ich gefragt: Wo geschehen in diesen wundergeizigen Zeiten anders Wunder, als in der Liebe? Im alten Bunde versandte Gott Engel; jetzt macht er gute Menschen zu Commissarien! Kommen Sie mir doch wie ein Engel, sagte ich zu meinem I – – s, da er mich zum letztenmal heimsuchte, und wahrlich! Du warst mir ein Engel, guter I – – s!

Da die Bräutigamspferde ansprengten, fiel Tinchen in Ohnmacht. – Warum? Als ob man bei einer Ohnmacht warum fragen könnte? Des Morgens, wie wir alle wissen, war sie gesund und heil aus Wasser gegangen.

Die Bräutigamspferde brachten nur den Junker Peter, unbepackt mit Entschuldigungen, die freilich, wenn gleich sie noch so schwer gewesen, an einem solchen Tage unbefriedigend geblieben wären. War es denn nicht der Verlobungstag des Herrn Großvaters Hochwohlgeboren? Konnte denn aber Peter nicht wenigstens vorgeben, Herr v. K. wäre sterbenskrank geworden, und dem Dr. Saft einen Brief an die Braut übertragen? Junker Peter schien nicht undeutlich zu verstehen zu geben, daß der Ton beim Präsent in originali viel zu dieser Führung beigetragen. Den folgenden Morgen kam ein Brief vom Herrn v. K., worin er alle Unterhandlungen unterbrach, Herr v. W. gab mir in der ersten Hitze diesen Brief zu lesen. Gewiß würde er's nicht gethan haben, war' es nicht in der ersten Hitze gewesen. Herr v. K. hatte seinem Freunde keinen unhöflichen Blick von seinem Vater zuziehen wollen, der aber mit 300 Thlr. Alb. herausrücken sollte!

Man bat mich, zu bleiben; ich blieb. Der Ton schien überhaupt in diesem Hause zu Hause zu gehören. Ueberhaupt gehört er zum Weiberdepartement. Fast würde ich behaupten, daß alle Declamation Weiberwerk sey.

[286] Lieschen war bis jetzt Tinchens Vertraute geblieben, und da ich mich ihrer so lebhaft und oft erinnerte, ward sie herbei geholt. Sie war an einen Amtmann verheirathet. Sie hatte keine Kinder. – Frau Luischen kam und freute sich so, mich zu sehen, daß nichts drüber ging. Sie fand, daß ich alt geworden, und daß mein Arm schwerlich ein Fräulein Lorchen mehr aus dem Wasser holen würde. Ein Fräulein Tinchen noch weniger, setzte sie hinzu. Frau v. W. und ihre Tochter fanden der keines. – Die Frau Amtmännin besuchte mich öfters auf meinem Zimmer, wenn ich allein war, und unser einziger Text war Tinchen. In der Nutzanwendung kam Herr v. K. vor, und da ward er behandelt, wie man die Sünder in der Nutzanwendung zu behandeln pflegt.

Noch vier schöne Tage lebte ich in –, und da sich meine Commission nicht länger verschieben ließ, ging ich mit dem Versprechen ab, nach geendigtem Geschäfte wieder zu kommen.

Beim Abschiede wieder der Ton! Wie ich den Ton liebe und alles Kopfnicken hasse, wenn der Kopf gleich nach vom fällt! – Nur beim Tode nicht. Herr v. G. starb nach vorn! Nur beim Schlaf nicht; denn er ist des Todes leiblicher Bruder.

Junker Peter hatte sich gegen mich ziemlich fremd benommen, und ich bezahlte ihn mit gleicher Münze; indessen muß ihm der Abschied, den Tine und ich nahmen, aufgefallen seyn, ohne daß eben der Ton, der freilich ein zu gutherziges Kapitel für ihn war, dazu etwas beigetragen haben kann. Wenn? fragte Tine. O, wie anders, als Nathanael, als er sein Gretchen sehen wollte! – Auch die liebe Mutter dieses edlen Geschöpfes fragte: Wenn? Herr v. W. konnte sich nicht aus dem Strudel herausarbeiten. Oft kam er in die Complimente, die er seinem Schwiegersohne zugedacht hatte und die er für nichts und wieder nichts gelernt – und nun verlernen mußte! – Wie er dann abbrach, wenn er auf einmal merkte, es sey ein Wort des Schwiegervaters zum Sohne! – [287] Wer sieht nicht gern schwimmen, wenn ein Kunstverständiger im Wasser ist?

Die Frau Amtmännin konnte nicht umhin, mich weit dringender, als das ganze Haus, zu bitten, wieder zu kommen. Aber, liebe Frau Amtmännin, mein Arm ist nicht mehr in den Umständen, Lorchen aus dem Wasser zu ziehen! Kommen Sie doch, Herr Major!

Ob Herr v. K. durch seine abschlägige Antwort die Absicht gehabt, Tinchen weichherziger zu machen, das Präsent in originali anzunehmen, um das Lämmchen anzugewöhnen, aus seiner Hand zu essen, oder ob er ihren Vater zu einer andern Eheverschreibung auffordern wollen, oder ob er sich, was weiß ich, in der Gegend, wo man ihn mit Tinchens Sprödigkeit aufzuziehen anfing, wieder in Credit zu bringen gedacht, oder ob er es seinem Herrn Schwager bloß zu Gunsten gethan, um seinen Herrn Vater bei dieser erwünschten Angelegenheit des Hauses so geschmeidig im Geben zu machen, als der Herr Sohn es im Reden war, das sind kitzliche Fragen, die ich meiner Aeltermutter überlassen würde, wenn sie noch am Leben wäre.

Junker Peter, ohne einen Auftrag selbst vom Vater zu haben, reiste von selbst wieder, wo er gekommen, und erzählte dem Herrn v. K., was er gesehen und gehört und was er zu glauben Ursache hätte; erhielt auch sogleich von ihm Macht und Gewalt, sobald ich wieder einträfe, mich zur Rede zu stellen, wie ich zu der Dreistigkeit käme, in einem Hause mich aufzudrängen, wo er Regent wäre?

Mein politischer Auftrag ging so von statten, als noch kein Geschäft mir je von statten gegangen? Den Türkenkrieg nicht ausgenommen! Ich kam? fand Tinen so, wie ich, sie gelassen; ihre Mutter deßgleichen. Ihr Vater hatte etwas Rückhaltendes angenommen, obgleich er nicht verfehlte, in Absicht der Treppe mich so zu empfangen, als zuvor!

[288] Warum Nebenumstände, da ein einziger alles entscheidet? Bis jetzt hatte ich an Tine nicht anders als an ein liebes, gutes Mädchen gedacht. Den Abend, als ich zurück kam, ging ich weiter. Was war es, was mich weiter brachte? Ein Ungefähr? O ihr Kleingläubigen! Ich ehre jedes Ungefähr als göttlichen Fingerzeig. Es ist etwas, das eine unsichtbare, im Stillen wirkende Hand thut, und was sie thut, ist wohlgethan! Was ist's denn hier? Ich kam in mein Zimmer, und da war's wie eine Stimme, die zu mir sprach: Mine! Schnell lief ich zu ihren Papieren und fand die Stelle! – Groß geschrieben:

»Nun meine feierlichste Bitte, mein Beschwur! Ich bitte dich vor Gott und nach Gott! Ich beschwöre dich bei allem, was heilig ist, im Himmel und auf Erden, und nach diesem hohen Schwur bei meinem letzten, letzten Seufzer, bei meinem letzten Todesstoß, bei meinem letzten warmen Hauch – dich zu seiner Zeit ehelich zu verbinden. Gott segne dein Weib und die Kinder, die er dir schenken wird!«

Wie mir dabei war, weiß Gott! Ich konnte kein Wort mehr lesen. Schnell legte ich mich nieder, um keine Zeit zu versäumen. Als ob ich nicht schon zum voraus wußte, ich würde nach dieser Stelle keine Stunde schlafen. Ich schlief wirklich keine Stunde, und doch hatte ich ausgeschlafen! Mein Entschluß war, alles dem Ungefähr zu überlassen, mich nicht um Tinen zu bewerben, allein ihrer Hand auch nicht auszuweichen. Daß mir Tine schon zuvor nicht gleichgültig gewesen, läugne ich nicht; mich aber so gegen sie zu benehmen, war das Werk dieses Abends, welches der in mir wirkte, der Wollen und Vollbringen gibt nach seinem Wohlgefallen.

Ein Traum? wird der gelehrte Kunstrichter fragen, und wenn er bitter ist, bemerken, daß dieß ein Hauptstück eines regelmäßigen Trauerspiels sey! Mein Vater sagte an einem dunkeln Tage: Wenn ja Arzneien genommen werden sollen, ist's gleichviel, was [289] für welche. Auf die Art, wie? auf den Glauben kommt's an. »Solch einen Glauben,« konnte man wohl hinzufügen, »habe ich in Israel nicht gefunden.«

Mehr als einmal hat mich eine dergleichen Stimme eines Unsichtbaren aufgefordert. Noch nie hat es mich gereut, diesen Seelenappetit befriedigt zu haben.

Wie ich Tinen und das Haus ihrer Eltern gefunden, wissen meine Leser schon, und eben diese Aufnahme machte mich empfänglich, das Wort Mine zu fassen! – Ich ging mit Tine in den Garten, und eben an der Stelle, wo sie am Wasser herumirrte, fragte ich sie, was sie zum Wechsel zwischen dem Herrn v. K. und mir sagen würde? Daß es kein Wechsel ist. Wie so? Fragen Sie das? Mit einer Art, daß ich alles wußte. Ich nahm ihre Hand und sie legte ihr Gesicht auf meine Schulter. Wir weinten beide.

Gott ist die Liebe! Ist es denn Schande, zu lieben? Alles, was nur diesen süßen Namen führt und mit ihm in Verbindung ist, stammt von ihm, ist seines Geschlechts! Gott ist die Liebe!

»Jenes korinthische Mädchen zog Striche um den Schatten ihres schlafenden Liebhabers, in denen sie sein Bild sah! Ihre Einbildung füllte mit einem wohlgerüttelten und überfließenden Maß diesen Schattenumriß aus.« – So ging es mir mit Ihnen, nur daß meine Einbildungskraft auch alle die Striche zog. – Liebe Tine!

Was man auch immer von Silhouetten sagen mag, Personen, die man kennt und liebt, sollte man nicht malen! Da hat die Einbildung zu viel Muße! Bei einer Silhouette arbeitet sie mit, sie füllt die Striche aus, bringt Colorit an. – Um unsere Lieben der geehrten Nachwelt zurückzulassen? ist ein Gemälde nöthig!

Wir waren so eins am Wasser, daß alles Er und Sie, Sie [290] und Er war. Warum wir uns nicht duzten, weiß ich bis diesen Augenblick nicht.

Ihre Mutter?

Weiß alles.

Gott Lob!

An Herrn v. W. dacht' ich nicht.

Ich sprach die gute Mutter, die keinen Schatten von Bedenklichkeit fand; allein sie wünschte, daß ich mich an ihren Mann oder wie sie sagte, an Herrn v. W. wenden möchte.

Ich that's, und merkte, daß er sich herzlich freute, eine Gelegenheit zu haben, von seiner Complimentensammlung Gebrauch zu machen. Nachdem ich aber alles sichtete, fand ich unendlich mehr Spreu als Körner, und was noch Korn war, lief auf die wohlhergebrachte Landesmanier heraus, daß man ein Vierteljahr seiner Geliebten die Aufwartung machen, und nach so mancherlei Beiurteln endlich die Definitivsentenz abwarten müsse. Hiezu kam, daß Herr v. K.; doch, warum soll ich all die Umwege bemerken? In diesem Schattenriß kann jeder die Striche machen, ohne den Herrn v. K. gekannt zu haben. Da darf man nur den Menschen kennen, und dieß Zutrauen hab' ich zur Zeitwelt, und weit, weit zuversichtlicher zur Nachwelt.

Wer will nicht das haben, wornach er einen andern ringen sieht? Wer hätte nicht ein Landgut, ein Haus gern, wenn es eben verkauft ist? Geht auf die erste beste Auction, um euch hievon zu überzeugen!

Das schlimmste bei dem gegenwärtigen Falle war, daß Herr v. W. fest entschlossen war, wenn Herr v. K. nur irgend ernstlich wollte, auch zu wollen. Seine Meinung war, es zu machen wie meine Großmutter, da mein Vater nach meiner Mutter ging. Herr v. W. wollte seine Tochter auf keine Weise einem Major geben, dessen Vater Pastor in Curland gewesen; er mochte nun in [291] seiner Jugend Alexander gespielt haben, oder nicht! – Man muß, sagte Herr v. W., freilich nicht Fleisch und Blut Männern von Verdienst vorziehen; allein Ehre und Geburt sind die Wurzel alles Guten! O des verfehlten Wurzelmannes! Wie kam dieser Blätterliebhaber selbst aufs Wort Wurzel, das nur dem Herrn v. G. zustand, den ich bei dieser Gelegenheit vermißte? Ich hatte freilich mein Auskommen; allein Junker v. K. war reich.

Das korinthische Mädchen, Tine, wäre nun wohl bereit gewesen mit ihrem Liebling zu ziehen, wie und wo er's verlangt; allein wer wollte das Licht mit dem Finger auslöschen, wenn Putzscheeren vorhanden? Wer wollt' es ausblasen und Gestank zurücklassen? sagte Herr v. W. bei einer andern Gelegenheit, und hatte nicht Unrecht, obgleich, wenn es eine reine schöne Wachskerze ist, der angebliche Gestank Geruch heißen könnte. Wer weiß überhaupt, wie dieß zum Geruch und jenes zum Gestank gekommen? Zwar mußte Petrus sein Schwert einstecken, fuhr Herr v. W. bei dieser andern Gelegenheit fort, allein dem Adel gebührt es, sich zu gürten, wenn sich der Unadel etwas herausnehmen will. Ein Edelmann ist ein verstärkter Mann, er präsentirt sich und seine Vorfahren. Wer hätte wohl solchen Till und Kümmel vom festlich höflichen Herrn v. W. erwartet?

Da kam Junker Peter im Harnisch gejagt! Ja wohl gejagt, mit Entschlüssen, die nicht Fleisch, nicht Fisch waren. Er schnitzelte am Rahmen, noch eh' das Bild angefangen war. Stolz, daß er seinen Vater Hochwohlgeboren gesattelt fand, verzog er seinen Mund, als wollt' er Hohn sprechen, und empfing mich so unartig, daß ich, weil er Tinens Bruder war, nichts anders thun konnte, als ihn großmüthig übersehen! – Zum Mückenfänger war ich nie aufgelegt. War ich dazu zu kräftig, oder zu gut, das weiß ich nicht. Ich gab auf alle seine Reden, die er entweder vor sich, oder gegen andere richtete, kein Wort. Da aber dieß Wüschen eben hiedurch [292] dreister ward, und sich gerad' an meine Stirn klebte, sah ich mich gedrungen, es wegzuscheuchen. Unfehlbar hatte unser Held einige Romane gelesen, wo der Zweikampf in einer Kinderlehre abgehandelt wird! – Ihr lieben Herren! Wenn ihr den Menschen da bessern wollt, so habt ihr eben nicht das rechte End' ergriffen. Vorwärts, ihr Herren! zu allen Zeiten stehe oder falle, was da will! Unser Mückenheld erwartete eine Katechismusantwort, und sah mich über Hals und Kopf blank. Was wollen Sie, junger Mensch? Ihre Schwester? Die werd' ich nicht nehmen, wenn Tine nicht selbst will, und wenn Tinens Eltern nicht wollen, Vater und Mutter. Was haben Sie für Rechte auf Ihre Schwester, so lange Ihre Eltern leben, und so lange Tine selbst denken und handeln kann? Unser Held steckte sein Schwert so nothdürftig in die Scheide, daß er den Namen v. K. stammelte und sich eben nicht in der besten Ordnung zurückzog. – Wie er sah, daß auch ich nachließ, fing er seine Vorbehalte an. – Wollen Sie mehr, als ich versprochen? erwiederte ich. Haben Sie denn versprochen, meine Schwester dem Herrn v. K., dem sie eigenet, ungestört zu lassen?

Nein.

Aber sie gehörte ihm.

Hat er sie nicht aufgegeben?

Hat er sie nicht wiedergenommen?

Da sie nicht mehr frei war.

Hur v. K. that, oder war wirklich unerträglich verliebt. Er bereute seine Uebereilungen, wie es hieß, und schrieb und sandte Boten ohne Ende. Herr v. W., der schon an sich entschlossen war, dem Herrn v. K. zu verzeihen und, außer dem Versöhnungsfest, noch auf so mancherlei rechnete, was diese Anwerbung begünstigte ging ihm mit zuvorkommender Huld entgegen. Zu allem diesem wissen wir die Beweggründe.

Der Vater Pastor!

[293] Lieber Mann, der Sohn Major!

Aber, liebe Frau, beim Adel gilt der Vater immer mehr als der Sohn.

Will denn Tine den Vater?

Wenn sie aber auch Sohn, Vater, Großvater und so weiter in der Person des Sohnes heirathen kann?

Dann ist's Blutschande!

Herr v. W. ward über die Blutschande böse und fing pathetisch an: ein anderes ist ein Siegel mit dem Lindwurm am Taschenmesser, ein anderes ein wohlhergebrachtes Wappen, ein anderes die feinsten Spitzen, ein anderes Judenkanten, ein anderes Prinzmetall, ein anderes ächtes gediegenes Gold; ein anderes ein Kratzfuß, ein anderes eine Verbeugung. Wer wird sich denn die Finger verbrennen, wenn man sein Kind mehr ist?

Allgemach legte sich dieser Ahneneifer, an welchen? Junker Peter vielen Antheil hatte! – Der Mückenheld hatte mich blank gesehen und so mochte er seinen Schwager, wohl aus mehr als einer Ursache, nicht sehen!

Die Frau v. W. nahm Gelegenheit, ihrem Gemahl ans Herz zu legen, was sie gehört, daß ich nämlich von gutem alten Adel wäre und Tinchen also auch Vater, Großvater, Aeltervater und so weiter in mir vereinigt heirathen würde. Warum, fuhr sie fort, ihm Luft und Athem abschneiden, ehe man noch die Gränzen seines Seyns kennt? Der Schein betrügt –

Er stammt von Melchisedech.

Der war ein König und Priester!

Warum diese Ahnentafelunterredung, die das Alltägliche enthält? Sie hatte indessen die Folge, die ich meinen Lesern schuldig bin.

Frau v. W. nahm mich bei der Hand und zwar so, daß diese Art mir Bürge wurde: es sey wie es sey; Sie sind Tinens [294] und Tine ist die Ihre! – Sie wußte nicht, wie sie es recht anfangen sollte und fing endlich, nachdem sie mich lange bei der Hand gehalten., allein, wie mich dünkt, viel zu entfernt an: der Schleier der Bescheidenheit gibt jedem Gesichte, jeder Tugend einen größern Werth!

Ja, Gnädige! der Beleg ist Tine!

Da war sie wieder weiter zurück wie zuvor. Sie nahm mich aufs neue bei der Hand, und ohne daß sie blitzte, mein Schlag!

Gnädige! Sie wollen was sagen – Fragen! erwiederte sie.

Die Liebe, das einzige, was die Natur uns noch zurückgelassen, sollte freilich über alle Kunst hinaus seyn – bei einem Haar wäre sie wieder vom Wege gekommen. – Wer ist aber heut zu Tage natürlich? Mein Mann? Sie kennen ihn! – Können Sie sich so viel von Ihrer Denkart auf einen Augenblick abmüßigen und ihm in der Nähe zeigen, was so viele von weitem gesehen? Jedes Auge trägt nicht gleich weit. Sind Sie ein Edelmann?

Eine Ehre ist der andern werth. Um wie vieles hätt' ich das Vergnügen nicht gegeben, erst Tinen zu heirathen und ihr sodann zu beweisen, daß sie von dieser Seite keine Ungezogenheit vom adlichen Pöbel zu fürchten hätte.

Das Wort: ein Gewisser könnt' ich selbst von meinem Eidam nicht leiden, um wie vieles! fuhr Frau v. W. fort.

Das traf! Frau v. W. hatte Recht. Ein Gewisser, so vortrefflich das Wort gewiß sonst ist, welch ein erniedrigendes Wort! Ein Gewisser heißt Einer, der wegen seiner Existenz besorgt zu seyn Ursache hat und eine Tafel aushängen muß: hier wird Seife gesotten! Es ist ein in einem kleinen Enkel bloß Bekannter, ein Kleinstädter, der will und nicht kann! Fast scheint es, daß es mit dem Menschen nicht aufs Gewisse angelegt ist – Liebe gnädige Frau! Ich will alles thun, um mich aus dem Gewissen [295] ins Ungewisse zu setzen! Der vorliegende Fall ist von der Art, daß ich's kann. Ich wollte der Frau v. W. zeigen; allein wie doch die Weiber sind, das Siegel war ihr genug! – Sie ging zu ihrem Mann, der aber bei der ganzen Erzählung, das Siegel mit eingerechnet, so ungewiß als möglich blieb. Tine war mir so werth, daß ich selbst Gelegenheit nahm, dem Herrn v. W. zu zeigen, wovon seine Gemahlin nur das Siegel gesehen, und da er weniger erfahren in Familienregistern als der hochgeborne Todtengräber war, so konnt' ich ihm zwar von meinem uralten Adel nicht so überzeugende Beweise geben, indessen sah er eben darum die Sache größer als sie war! – Er fand in der Dunkelheit so etwas Festliches; daß er den Pastor drüber vergaß. Er sah über die Hütte hinweg und heftete sein Auge an die Kirchenmauern. Die rechte Saite in seiner Seele war getroffen. Die Glücksumstände des Herrn v. K. konnten mir nicht den Weg vertreten, da ich ihn vom Geschenk der Kaiserin und dem dazu gekommenen glücklichen Kauf unterrichtete!

Alle Geschenke erniedrigen, nur Geschenke der Großen nicht, da gilt ein Band mehr als man glauben sollte. Wie doch alle Leidenschaften Nachbarskinder sind! – Stolz und Furcht sind außer der Nachbarschaft verwandt. Herr v. W. fürchtete den Junker v. K. und seinen leibeigenen Sohn, der es mit Junker v. K. hielt. Sie wissen, fing er an, und suchte Kraft zum Athemholen! – wie es in Curland geht! Die Wahrheit zu sagen, ich bin froh, daß eins von meinen Kindern aus diesem Waldhornstaat, aus diesem Du-Lande erlöst wird! – Wer ist hier vor ein paar Pistolen sicher? Jeder, der Herz hat, erwiederte ich. Nicht immer! Herr Major! Es gibt unter den Krippenrittern Leute, die ihr Leben keinen Pfeifenkopf werth halten. Was haben sie denn in dieser Welt zu gewinnen und zu verlieren? und wenn Herr v. K. es dazu anlegt, so ist mein Haus belagert und ich mit Mann und [296] Maus verloren. Junker v. K. hat Geld, das will in Curland viel sagen. Freilich, wer's Glück hat, führt die Braut heim. Der verstorbene Herr v. G. hatte sie weit von sich entfernt. Sie kamen! Er begegnete ihnen nicht wie hochwohlgebornen Brüdern, sondern wie bettelnden Schneidergesellen! – Den Pferden und Waffenträgern dieser Don-Quischoten noch übler. Einer unter diesen Krippenrittern nahm das Ding unrecht und forderte den Schlüssel zum Gastzimmer, und weil sich der Gerechte auch seines Viehes erbarmt, zum Stall. Hier ist der Schlüssel, sagte Herr v. G. und zeigte auf den Degen. Freilich hätte er hier sind sie sagen sollen, da zwei Schlüssel gefordert worden, einer zum Stall und einer zum Gastzimmer, und alsdann hätte er auf die Pistolen weisen können, die verheirathet sind und die man nicht anders als paarweise hat – Mag! – Sein Haus ist von dieser Zeit an von der ägyptischen Plage der curischen Heuschrecken verschont blieben. Das nenn' ich aber tolldreist. Zwar hab' ich es, beschloß Herr v. W., mit meiner Höflichkeit so weit nicht gebracht, indessen kann ich auch nicht bittre Klagen führen!

Ich versicherte ihn, daß dieses mein geringster Kummer wäre und er schien wirklich die Meinung von mir zu fassen, daß mir nicht leicht das Haar zu Berge stünde!

Sie versprechen, sagte er, mein Herr Major! bei allem, was Gott geben, die Seele denken, das Herz wollen, der Mund sprechen, die Hand greifen kann, meine Tochter zu lieben, bis der Tod sie scheidet? Ich verspreche! – Wohlan! so will ich den Verlobungstag festsetzen, an dem ich mich mit meiner Frau verlobte!

Nach dieser Feierlichkeit fiel ihm, das sah ich, mein Vater ein; allein konnt' er nach diesem festlichen Auftritt von diesem Einfall Gebrauch machen?

Wenn ich nicht durchaus mir vorgesetzt, nicht in den alten Geschmack von Gefechten zu fallen, sondern der reinen klaren Liebe [297] getreu zu bleiben, so könnte ich wirklich mit einigen Vorfällen aufwarten, die niemanden als dem Herrn v. W. schwer fielen! – Gotthard! wer sollte das denken, legte alle diese Neckereien bei und alles war wie abgeschnitten oder abgehauen! – Gotthard? er ganz allein! Ein Tauber hält sich Vögel und freut sich, daß sie springen, wenn gleich er sie nicht singen hört, und Gotthard war im Stande, in Curland solche Strahlen zu sprühen, daß alles wie vom Blitze gerührt stand.

Gotthard, den mein Brief nicht getroffen, hatte durch viel Mühe erfahren, daß ich in – wäre und flog in meine Arme. Entzückt über alles, was vorging, versicherte er mich auf Ehre, daß er Tinen mir aufrichtig gönne! und nur dann, fügte er hinzu, wäre keine Schlacke unterm Golde, wenn ich mit meiner Frau in Curland bliebe! – Was sich Gotthard freute! – Aus lichterloher Freude war er gegen den Herrn v. W. höflich, der ihm wegen der Befehdungen seine Noth klagte, worauf er ihm seinen kräftigsten Beistand versprach. »Bruder?« Ich! erwiederte er, da gehen viele auf der Heerstraße, andere über Stock und Stiel, viele durch Blumenbeete, andere über Felsen, durch Dornen und Disteln. – Nicht auf den Weg, Bruder, sondern aufs Ziel kommt's an.

Bruder!

Was ich dir sage!


Junker Gotthard löste diese Räthsel und es ergab sich, daß er seine Helfershelfer hatte, die er besoldete, um andere Helfershelfer abzuhalten. Wer hier Geld hat, Bruder! fügte er hinzu, ist schußsicher! Er hält sich seine Leibwache, und Trotz dem geboten, der sich erfrecht, ihm zu nahe zu kommen und nicht drei Schritte vom Leibe zu bleiben. Jetzt macht mich nichts wild! – Herr v. W., der zum Theil von diesen Haustruppen unterrichtet war, nahm [298] dieses Anerbieten mit vielen Complimenten an, das ich aber kurz und gut abschlug.

Bruder! fuhr Gotthard fort, die Kerls, so dich anfallen wollen, sind keine Türken, sind keines Tropfens Christenblut werth. Solchen Lumps auszuweichen ist Ehre.

Herr v. W. trat dieser Behauptung bei, ich nicht völlig. Es sey indessen, daß Herr v. W. mit Junker Gotthard eine geheime Allianz geschlossen, oder daß seine Anwesenheit im Hause schon die gegenseitige streitführende Macht durch Furcht in die Flucht geschlagen, genug, wir waren so ruhig wie möglich.

Der Mückenheld selbst, da Junker Gotthard mit ihm allein gesprochen und ihm vielleicht eine Bürgschaft wegen der nächst zu bezahlenden Schuld und etwa eine schmucke Trine zugesagt, hatte andere Saiten aufgezogen, und so waren wir dahin gediehen, daß wirklich in der folgenden Woche das Verlobungsfest ohne zu fürchtende Belagerung gefeiert werden konnte!

Junker Gotthard wich nicht von dannen und war mir ein so angenehmer, lieber Gast, daß Tine selbst so viel Vergnügen in seinem Umgange fand, als sie zuvor Mißwillen geäußert hatte.

Ich weiß nicht, wie mir der einige Ausdruck Busenfreund entfuhr, den mir Herr v. W. entsetzlich übel nahm.

Das Wort Busenfreund, fing Herr v. W. an, ist das zweideutigste, was man brauchen kann, so bald man zur heiligen Ehe schreitet. Ist man Junggesell, wo ist ein besseres zu Freund, als Busen!

Junker Gotthard umarmte mich brennend und zeigte mir, wie man auch bei der größten Rauhigkeit bieder und gut seyn könne. – Kein großer Mann, sagte er zum Herrn v. W., hat sich in sein Hauptwerk allein verliebt. (Es war eine Anmerkung seines lieben seligen Vaters, die er aber besonders lenkte; unfehlbar dachte er an seine schmucke Trine.) Er sucht ein Nebenwerk und findet [299] es. Er sieht die Beklommenheit, die Eingeschränktheit seines Hauptwerks ein und will der schwachen Menschheit durch Abänderung aushelfen! Kein Mann, der sich von andern unterscheidet, ist daher groß in seiner Hauptkunst. Im Nebenwerk bringt er's oft weiter – welches auf die Rechnung des Freiheitstriebes gehört, der überall ausschlägt und schöne Zweige zeigt.

Bruder! sagt' ich ihm, von Anbeginn ist es so nicht gewesen! – Vortrefflich fiel Herr v. W. ein, bis auf das Wort: Bruder, das ihm, wie er sagte, zu kahl, zu entblättert da stünde! – Wenn nur nicht unsaftig, erwiederte ich. Gern hätt' es Herr v. W. gesehen, wenn Gotthard und ich das Du gestrichen; allein das ging nicht, und da ich den Herrn v. W. versicherte, daß nur Gotthard und Darius meine Dus waren, die ich in der Welt hätte, und daß ich selbst meine beiden Kriegskameraden, die bei Bukarest im Herrn ruhen, nicht Du genannt; so begab er sich. Froh legte er unsere Hände in einander und sprach: Was Gott zusammengefügt, soll der Mensch nicht scheiden! – Und nun nahm er mich allein. Gelt, fing er an, zum Eherath würde ich den Herrn v. G. nicht vorschlagen? Und ich nicht nehmen, war meine Antwort.

Er. Sie lieben Tinen!

Ich. Herzlich!

Er. Einzig?

Ich. Bis in den Tod.

Griechen und Römer, fing er zu uns beiden an (im Wiederhall des Festes der Deutschen), wo ist jene edle Einfalt, die, wenn gleich sie geradezu ging und mit Gott und mit Menschen gleich sprach, doch so viel Feinheit anbrachte, daß man kein Du merkte, so wie es noch in keiner wohlgesetzten Poesie zu merken ist! Ist wohl eine neuere Sprache ohne Erbsünde? Was lästert ihr Nachbaren über unser Hoch- und Wohlgeboren, Hochedelgeboren und [300] Hochedlen, da doch auch ihr: Ew. Majestät wird erlauben, Ew. Excellenz denkt zu gerecht, sprecht? Wie man da von hinten kommt! Wie ein Politikus! Wo ist eine Sprache, die nicht dergleichen Flecken oder Runzeln, oder deß etwas hätte? – (Mir fiel das Wort Monsieur aus dem Garten Eben des seligen v. G. ein.) Utinam viveret!

Ich nahm das Wort und bemerkte, daß die Deutschen Ew. Durchlauchten, Hochgeboren, Hochwohlgeboren, Hochgelahrten, Hochbenamten, Hochweisen, Gestrengen, vielleicht als eine Satyre über die andern Sprachen auf- und angenommen! Wie! fiel mir Herr v. W. ein, so würden Sie auch mich nicht für einen höflichen Mann gelten lassen, sondern für einen Swift über die Höflichkeit halten? Ich bückte mich so, daß Herr v. W. völlig mit mir ausgesöhnt ward, und da er nicht lange darauf anfing:

Lieber Major, Ihre Meinung, als wäre die deutsche Sprache eine Satyre über andere Sprachen, stieß mir so auf; so erschrak er selbst über den harten Ausdruck: stieß mir auf, daß Herr v. W. sich selbst aufstieß. – Es hob sich Credit und Debet und wir waren eins.

Die Verlobung kam dem Herrn v. W. sehr hoch zu stehen. Umstände verändern die Sache. Ein anderes übers Evangelium, ein anderes über die Epistel! – Wir sahen ihn so oft allein und mit sich selbst zu Rathe gehen, wobei wir, die Wahrheit zu sagen, nichts an Rath verloren!

Unausstehlich würde es meinen Lesern seyn, wenn ich ihnen die ganze Procession dieses Verlobungsfestes erzählen sollte. Nur ungesuchte Züge, wie sie fallen!

Gern wollte Herr v. W., daß ich auf Knien Ja sagen sollte. Es war ihm so etwas Ritterliches, so etwas Altadeliches drin. Da ich ihm indessen das Ungewöhnliche zu Gemüth führte, so mancher Mißdeutungen er wähnte, welche hiedurch zum Vorschein [301] kommen würden, ließ er mich auf den Füßen, nachdem er von mir das Versprechen abgenommen, meiner Prinzessin diese schuldige Ehre inter privatos parietes zu erweisen.

Bei so viel Natur, die bei der Verlobung herrschte, in so weit sie zum Departement der Frau v. W. gehörte, stach die Unnatur des Herrn v. W. so ab, daß man keine Abstufung sah, sondern hier gleich und eben ging, und dort auf dem Sprunge war!

Unter andern war Herr v. W. so parfümirt, daß jeder einen Schlagfluß befürchten mußte, der ihm zu nahe kam. Zwar duftete er jederzeit, noch nie aber so, wie heute. – Kurz vor der Ceremonie hatte er sich so wohlriechend gemacht.

Junker Gotthard konnte nicht umhin, darüber ein Wort zu verlieren, allein Herr v. W. führte ihn an Stelle und Ort, indem er ihn belehrte, daß Christus der Herr selbst für wohlriechendes Wasser gewesen, indem er sich von einer Dame mit eau de Lavande besprengen lassen.

Die Verlobung fing mit einer Rede an, die Herr v. W. übernahm, indessen schloß er dabei, wie bei der Redeübung am Fest der Deutschen, zu kurz. SeinAllerseits nach Stand und Würden Hochwohlgeborne Versammlung verlor keine Sylbe, und eine Thräne, die ihm allemal zu Diensten stand, wenn ihm ein Wort versagte, bewegte mich so, als ob er zum erstenmal geweint hätte. Wir sagten, ohne daß wir gefragt wurden, Ja, und küßten einander so herzlich, daß jeder glaubte, der uns ansah, er hätte nichts von der Rede verloren. Da Herr v. W. selbst nicht aus und ein gewußt und darüber, wie mir vorkam, verlegen schien, so ließ er's geschehen, daß alles über und über ging, und eben dieß über und über, wie schön war es! – Wie der Lenz ist die Verlobung! Das Beilager ist ein schöner Sommertag dieses die Sonne im Glanz, jene Aurora!

Tine warf sich ihrer Mutter in die Arme und bat um ihren [302] Segen. Herr v. W. lenkte diesen zu natürlichen Armwurf so künstlich ein, daß die Frisur dabei nicht litte. – Bei solchen Vorfällen, bemerkte er, muß man schon zuweilen fünfe gerade gehen lassen!

Bei Tafel bemerkte Herr v. W., daß man durchaus etwas auf dem Teller liegen lassen müsse. Bin ich beim Vornehmern, wie ich, sagt er, lasse ich das beste zurück, um zu zeigen, daß auch das schlechteste für mich das beste ist! – Selbst in meinem Hause mache ich meiner Frau dieß Compliment, welches auch dießmal beobachtet ward!

Mein lieber Gotthard blieb noch acht Tage bei uns und reiste mit der Versicherung ab, so lange er lebe unser Freund zu seyn! – Herr v. W., der ihn bis dahin als einen Commandanten angesehen, nahm ihn beim Abschiede allein. Unfehlbar gaben sie sich die Parole; wenigstens konnte man dieß aus den Worten schließen, womit Junker Gotthard aufbrach: Es ist besser, sein Roß an des Feindes Zaun binden, als daß der Feind es an unsern Baum anstrickt! Gute Nachbarschaft, erwiederte Herr v. W., ist die beste Mauer; und ich: Muth der leichteste Harnisch! Peter und Gotthard sprachen wieder geheim. Bald hätte ich vergessen zu bemerken, daß sich Peter bei dem über und über an meinem Verlobungstage artig genug benahm!

Ich blieb noch drei Tage in –. Tine und ich waren so seelenfroh, daß alles, was uns sah, Theil dran nahm! – Die Liebe ist wahrlich die Sonne des Lebens. Durch sie leben und sind wir! Du bist nicht werth, daß dich die Sonne der Liebe bescheint, ist eine Injurie, welche die größte ist, die je ausgesprochen worden! – Sinai's Fluch ist dagegen Segen!

Meine Uebernahme in – ward von einem Tage zum andern ausgesetzt. Herr v. W. bat aus Höflichkeit, meine Tine und ihre Mutter herzlich!herzlich! meiner Tine Leibwort!

[303] Es war die höchste Zeit, daß ich nach – ging. Manche kleine Einrichtung wartete auf mein Auge. Tine sah selbst die Nothwendigkeit meines Hingangs, und doch ließ sie mich ungern hingehen. Ich hatte die geringste Kleinigkeit mit ihr überlegt. Die Liebe macht alles wichtig, was die Liebenden betrifft – außerhalb ihrer Grenze ist eine Krone des Aufhebens nicht werth! – Da sollte ein Sopha, dort ein Nähtischchen, hier ein Schränkchen seyn – da eine blaue und wieder da eine rothe Tapete zu stehen kommen!

Nur an die Schlafkammer ward nicht gedacht. Die bleibt immer dem Geschmack des Bräutigams und der Schwiegermutter anheimgestellt. Nachdem nun alles und jedes bis auf die letzten vier blinkenden Nägel, die meine Mutter, da sie am Kupferstich eines Eierreformators angebracht wurden, für Sterne hielt, verabredet war, kam die Frage zur Erörterung: ob ichMorgens oder Nachmittags reisen sollte? – Was darüber für und wider verhandelt ward, ist unaussprechlich. Wahrlich, die Andacht und die Liebe sieht alles für Sterne an, wenn gleich sechs für einen Vierding zu haben sind. Ich ließ nur fallen, daß, wenn ich früh in mein Land zöge, ich schwerlich mehr als zwei ganzer Tage zur Reise nöthig haben würde. Herr v. W. glaubte, so frühe nicht mit allem fertig werden zu können, was doch der Wohlstand bei dieser Gelegenheit mit sich brächte. Der Fall war eigen. – Endlich kamen die Präliminarien in Richtigkeit, früh des Morgens. So sehr ich darauf drang, daß niemand sich sehen lassen möchte, so war doch Herr v. W. der Meinung, daß dieses auf keine Weise Styli werden könnte. Um indessen eine Finte anzubringen, ließ er mich halb und halb in Ungewißheit. Er wollte dadurch der Sache einen Anstrich von Unerwartung und einen desto größeren Werth beilegen. – Ich war um vier Uhr Morgens in Reisekleidern, und eben, da ich mich durch den Saal schleichen wollte, kam [304] mir Herr v. W. entgegen, der, wie ein wachsamer Chef, eine Viertelstunde vor der bestimmten Zeit auf dem Platze witterte. – Meine Schuld ist es nicht, fing er an. – Und was konnte ich wohl bei diesen Umständen anders, als Compliment über Compliment machen? – Tinchen kam am letzten, nicht weil sie am spätsten aufgestanden war, sondern weil ihr Vater es ihr vorgezeichnet. Auch bei der zärtlichsten, herzlichsten Liebe muß der Wohlstand nicht aus den Augen gesetzt werden, sagte Herr v. W., da er ihr ihre Rolle übergab. O dieser Morgen! – Was ist alles im menschlichen Leben, wenn man es nur zu nehmen versteht! Niemand, selbst Herr v. W. nicht, war völlig in pontificalibus (wie ers nannte). Der Morgen, bemerkte er, muß anzusehen seyn. Diese edle Nachlässigkeit, die jedes Blatt zeigt, ehe es ausgeschlafen hat, wie schön! – Mag wohl seyn, weil der Mensch wirklich nicht da ist, um auf Draht gezogen zu werden, wäre es selbst durch Arbeit. – Wie es alles dahinschlenderte! – Die Milch, noch von keiner Sonne getroffen. Alles so frisch! – Tine kam zu mir, sobald in ihrer Rolle der lange Monolog zu Ende war, und gab mir, obgleich es nicht vorgeschrieben stand, die Hand, die ich in die meinige einschloß. – Ein Handkuß würde die Sonne verdorben haben. Da kam ihre Mutter und legte sich auf meine Schulter. Selbst Junker Peter, dem der Morgen am meisten anzusehen war, fragte zweimal, wenn er mich wieder sehen würde? Solch eine Morgengruppe, ich kann sie nicht malen! –Tine verlangte aufs genaueste zu wissen, wo ich jeden Mittag essen und jede Nacht schlafen würde.

Alles trank Kaffee, bis auf mich. Ich blieb bei Milch, die mir verordnet war. Herr v. W. würde mich ohne diese Rücksichten nicht vom Kaffee losgelassen haben. Er versicherte, daß der Kaffee so etwas Festliches hätte, daß selbst seine Farbe, wenn die Milch oder die Wäsche, wie ers nannte, gut wäre, gewiß keinen geringen [305] Rang verdiene. Eines seiner Hauptstaatskleider war kaffeebraun, doch so, daß die gute Milch durchschien. Warum sind Bäder so nutzbar? Warum ein Frühstück so wohlschmeckend? Weil wir mit dem Morgenkleide den Menschen angezogen und den Staat nicht begrüßt haben, dessen Sklavereiuniform unser Feierkleid ist.

Versucht es einmal, ihr, die ihr so etwas zu versuchen versteht, des Morgens Abschied zu nehmen! Ists nicht rührender, wenn ein blühender junger Mensch stirbt, als wenn dieß Loos einen Greis trifft?

Her v. W. hatte sich auf einige Augenblicke entfernt, unfehlbar auf die letzte Oelung zu studiren, und da waren wir, Tine und ich, mit einem so herzlichen Kuß zusammen, daß kein Wort Platz fand; es wäre erstickt. Herr v. W. blieb wieder, wie Absalon, an einer Eiche hangen, nur mit dem Unterschiede, daß ich ihm zeitig zu Hülfe kam und sein langes Haar losriß. – Junker Peter wollte darüber spötteln, allein weder seine Schwester noch ich gaben einen Blick, geschweige ein Wort darauf.

Je weniger Saiten bei einem Instrument, je weniger Luxus! Mit diesem Plan kam ich nach –, wo alles meine Erwartung übertraf. Hier, dachte ich, wirst du Ruhe athmen und wie Fabricius Rüben ernten! Weisheit cum omni causa ist so kurz und gut, daß jeder Mensch sie fassen kann, wenn er will. In den meisten Fällen hat sie aber zwei Aeste, von denen ihr einer inoculirt ist. – Gott wird uns ins Paradies helfen, wo das Einäugige verboten ist. – Das Wort: Stille! Stille! hat schon so etwas von Silberglockenton. Diese Glocke läutet zum Himmel. Ruhe ist hart gegen Stille. – Alles ist in uns, alles thun wir aus uns, und je nachdem wir bloß Sonnen- oder Jupiters-Trabanten sind, je nachdem machen wirs um uns helle oder dunkel. – Was will man mehr, als sich? – Das ist Eigenliebe, die Gott [306] wohlgefällig ist. Sie ist die Liebe im ganzen Umfange; denn wahrlich, der Nächste kommt dabei nicht im mindesten zu kurz.

Ich richtete alles nach dem mit Tine verabredeten Risse ein, wovon ich ihr auf der Stelle getreuen schriftlichen Bericht erstattete. Viel Anlage zum Garten; Bäume und Wasser, das die Bäume unvermerkt belauschte. Wie ich über dieß alles fröhlich und guter Dinge ward! Da stellte ich mir so lebhaft vor, was da noch alles werden sollte; und das ist immer schöner, als was schon da ist.

Zwei meiner Nachbarn waren Leute, mit denen es der Mühe verlohnte umzugehen. In Rücksicht der andern, die mich begrüßten, war mein Entschluß gefaßt, daß es beim Begrüßen verbleiben sollte. Einer von den Auserwählten behauptete, noch nie ein Glas Wein allein getrunken zu haben. Ich weiß nicht, ob man ein besseres Zeugniß eines guten Herzens für sich haben kann. Der andere Auserwählte stritt sich mit einem der bloß Grußnachbarn wegen der schlechten Zeiten. Die Klagen über die schlechten Zeiten sind so alt, wie die Zeit, sagte der Auserwählte, und der Grußnachbar fand, daß dieß nicht klappte, und sah es sogar als einen Anstoß an. Es wurde nun zwar alles auf eine Art beigelegt, daß niemand darüber aus der Welt ging; wer sollte aber denken daß der Grußnachbar bei einer Sache etwas Befremdendes finden sollte, die bekannt, wie ein Kind im Hause ist? – Der Koch wird vom Geruche satt, sagte der Auserwählte in der Stille zu mir. Schickt euch in die Zeit, erwiederte ich, denn es ist böse Zeit. Der Auserwählte hatte diesem händelsuchenden Grußfreunde ein Anlehn, wie Rechtens, abgeschlagen, und dieß war die Ursache, daß er ihm so unzeitig auf's Wort merkte.

Den ersten Platz, den ich in meinem Hause aussuchte, war eine Altarstelle für Tinen, ein Betkämmerlein, eine Zelle für diese Beterin! – – und von dieser Einrichtung ging ich zu der andern über. In dieser Capelle sollte Minens Bild hängen! –

[307] Einige meiner Leserinnen werden ganz unfehlbar die Anmerkung in ihrem guten Herzen haben aufkeimen lassen, wie ich über der zweiten Ehe die erste so bald und so tief vergessen können? Freilich dachte weder Tine noch ich, von der Zeit, da wir öffentlich eins waren, laut an Minen; allein in unserm Herzen ward ihr kein Schritt von der Grenze entzogen. Ich liebte Minen in Tinen! – Das menschliche Herz ist ein wunderliches Ding. Warum vermieden wir den Namen Mine? War es, weil Tine befürchtete, ihre Vorgängerin im Amte würde ihr Abbruch thun? War es, weil ich befürchtete, daß Tine dieses befürchten könnte, oder was war es?

Oft weiß der Menschenkenner, der Menschentreffer, ganz pünktlich, was der andere denkt, und läßt ihn dabei, ohne im allergeringsten etwas dagegen zu haben; sobald dieser andere aber seine Gedanken in Worte auswechselt, weg ist die Fassung! Ich vergaß über Minen nicht meine Tine, und über Tinen nicht Minen. Sie waren mir eins. Wunderbar! Freilich wunderbar! Was ist aber die Liebe? (Das natürlichste, was in der Welt ist). Was ist sie worden? Wenn sie köstlich gewesen, was ist sie anders, als Schwärmerei. Wir sind so weit gediehen, daß diese Schwärmerei allerliebst steht? Nicht wahr? Allerliebst!

Die erste Nacht, die ich in – schlief, war's mir doch, als sprach ein Engel mit Minen über meine Verbindung. Nicht wollte er Einspruch thun, sondern über Dinge sprechen, die kommen sollten. Da kamen Rück- und Hin- und Seitensichten zum Vorschein. Mine trat mich so feierlich ab, daß ich drüber Thränen vergoß; – und endlich wurden unsere beiden Geister, Tinens und der meinige, zusammengegeben. Es soll eine Himmelehe werden, sprach ein Erzengel. – Eine Himmelehe!

Herr v. W. war ein solcher Tagewähler, daß jeder Tag, wie wir wissen, seine eigene Plage oder seine Freude hatte. So ward [308] der Hochzeittag nach der Anlage des Verlobungstages bestimmt. – Sehr natürlich!

Wer etwas fassen will, sieht es zuerst im Ganzen, und wählt, sobald es zum Zergliedern kommt, nicht die größern hervorragenden, sondern die etwas versteckteren Stellen. – So mit dem Menschen. Die guten Herren, die ihn so beschrieben, wie er aus des Modeschneiders, Modefriseurs Händen kam, recht als ging er zum Ball, haben ihn wenig getroffen. Sie treffen den Puder und die Kleiderfalten. Wir sind dieselben, wenn wir in Gallakleidern sind oder im Schlafrock. – Sagt aufrichtig, haben wir nicht höchst selten den Menschen im Buche gesehen? Einen Theatermenschen, schön geschmückt, als ging er zur Bühne, als wollte er sich zeigen, als wollte er populo esse spectaculo! Den Menschen mit einer gewissen Lebensart so vorzuschieben, als ein Bild am optischen Kasten – o, dergleichen Menschen ohne Ende und Ziel! – Jede Bibliothek hat Vorsetzbilder von Menschen dieser Art die schwere Menge. Die meisten Menschenmaler bilden ihn, in so fern er repräsentirt. – Eben darum, wie froh ist man, wenn ein Autor nur so thut, als wählte er die kleinern ungesuchtern Stellen, als riefe er: Adam, wo bist du? – als riss' er ihm die Feigenblattsschürze ab.

Ob ich bei dieser Tafel ins Schwarze getroffen, mögen die beurtheilen, die es wollen, wenn sie können.

Herr v. W. bestand darauf, ohne daß er nöthig hatte, darauf zu bestehen, weil ihm niemand widersprach, – Hermann sollte zur Hochzeit gebeten werden; – und dieß war die Tonangabe, daß Tine und ich wieder von Minen sprachen. Das pythagorische Stillschweigen war größtentheils gehoben, und Mine war nicht mehr so, wie vorhin, geflissentlich vermieden.

Hermann ward einige Tage zuvor geholt, und ich fand ihn so wie ich ihn gelassen! Sein Auge zeigte indessen eine gewisse Scham über seine begangene Sünden, eine gewisse Buße. Dem Büßenden [309] muß man nicht mehr auflegen, als er sich selbst aufgelegt hat. Da er sah, wie gut ich ihn aufnahm, so kam er zwar mehr in sein voriges Geleise, indessen blieb etwas im Auge, das man ein Cainszeichnen nennen konnte! O dergleichen haben viele!

Herr v. W., der ihn zum Adjutanten so nöthig hatte, gab ihm die erforderliche Instruktion, und hiebei fiel eine Geschichte mit dem Staatsringe vor, die nicht possierlicher seyn konnte. Herr v. W. wollte dem Hermann diesen Ring vorstrahlen.

Schön! schrie Hermann, indem Herr v. W. die einem solchen Ringe zustehenden Ueberzüge und Bemäntelungen abzog. – Tine (die dabei stand und schon wußte, wie winterlich der Ring bezogen war) ganz nach ihrer Art: Herr Hermann, es kommen noch zwei Futterale! – Mir fielen diese zwei Futterale, auf welche Hermann bei seinem Schön nicht gerechnet hatte, so auf, daß ich laut lachen mußte, allein Herr v. W. schien zu glauben, daß Hermann der Sache nicht zu viel gethan, und schon im Geist etwas beklascht hätte, so wie man einem Schauspieler oft das Opfer bringt, sobald er kommt und ehe er noch den Mund geöffnet.

Hermann hatte einsehen gelernt, daß die Liebe zum Leben die ergiebigste Quelle sey, Complimente zu schöpfen. – Einem Sterbenden würde er gesagt haben: Er sehe aus wie ein Hochzeiter! Wer dem Kinde sagt, es sehe für seine Jahre weit älter aus, und dem Manne, er sehe weit jünger aus, verbindet sich beide gar höchlich. Beides ist dem Lebensdurst zuzuschreiben; das Wort Lebenshunger kann man nur im Hospital brauchen.

Hermann versicherte, daß ich mich verjüngt hätte, und da ich ihn versicherte, daß ich vom Gegentheil überzeugt wäre, so blieb er nicht nur bei seiner Meinung, sondern wußte sie so trefflich zu beschönigen, daß Tine ihm beizutreten Willens schien. Herr v. W. brachte die Sache ins Reine, und bemerkte, daß der Mensch erst in die Höhe, dann in die Dicke wüchse und im dreißigsten Jahre mündig [310] würde. Dieß ist das Jahr, da jeder redet, wenn gleich mancher noch schweigen sollte.

Herr v. W. hielt eine lange Unterredung vor der Hochzeit wegen der Kleidung mit mir, und da er wohl von selbst einsah, daß ich meiner Uniform nicht untreu werden könnte, so bemerkte er, daß bis Einförmigkeit in der Kleidung zwar was Gesetztes (ganz gehorsamster Diener!) anzeige, allein es wäre nichts Fröhliches, nichts Aufmunterndes, nichts Schönes dabei. – Immerhin!

Mit den lieben Schönleuten! Ich liebe sie nicht, sie mögen Schöndenker, Schönschreiber, Schönfärber seyn.

Tine hatte sich ganz russisch gekleidet. Sie trug, wie sie sagte, meine Uniform. Ich zeigte ihr, wie Gretchen, die russische Art beim Negligé, ein Tuch um den Kopf zu binden. – Stchy, ein russisches Originalgericht, kam oft auf die Tafel. Herr v. W. fand es den Umständen angemessen, da ich russischer Major wäre. Kiengis (Pelzschuhe) verehrte ich meiner Braut, und sie zeigte solch eine Freude darüber, daß sie solche stehenden Fußes anzog. Sie schien sie anbehalten zu wollen. Für den Winter, fing ich an, liebe Tine! Für den Winter? sagte Tine. Ja, liebe Tine!

Herr v. W., der auch diese und andere russische Trachten meinethalber großmüthigst gestattet hatte, gab seiner Tochter den Wink, daß, da nun bald der tabelnoi prasznick einfiele, sie auf ihren Brautschmuck denken sollte. So sehr ich auch Gretchens Hochzeit empfahl, so fand ich doch sein Gehör und gab gern nach.

Mit den lieben Ehepakten! Ich habe sie nie recht ausstehen können; indessen war ich ihnen eben so wenig als dem Brautschmuck entgegen. Nachdem sie unterschrieben und besiegelt waren, bat ich eine Abänderung, welche darin bestand, daß ich meiner künftigen Frau Gemahlin die Herrschaft abtreten wollte, in bester Form Rechtens. Zwar, fuhr ich fort, nennt Dr. Martin Luther dergleichen Männer verba anomala: allein den Herrn Dr. Martin Luther in [311] Ehren, ich trat die Herrschaft ab, und wenn ich mir ja was ausbitte, ist's, daß es nicht zu merklich sey. Ich sprach im Ernst. Tine kam nicht aus dem Lachen. Sie warf sich in meinen Arm, als ob sie mir gern huldigte. Herr v. W. und sein Waffenträger nahmen diesen Verzicht so hoch, daß sie es für das feinste Compliment erklärten, das ich meiner Braut hätte machen können. Indessen hielt Herr v. W. nach gepflogenem Rath es doch fürs beste, daß diese Abtretung nicht in Schriften verfaßt würde. Ein ehrlicher Mann hält Wort. Tine, hab' ich Wort gehalten? Ich schreibe Ja oder Nein, was du willst. Schreib Ja und Nein. Da steht's.

Zur Hochzeit hatte Herr v. W. noch einen Adjutanten gebeten. Ein Gesellschafter für Hermann, ein Märtyrer der deutschen Sprache. Dieser Ehrenmann hatte als Privatsecretär gedient, und sein Unglück gemacht, weil er durchaus nicht Herr Capitän, sondern Hauptmann schreiben wollen. Wahrlich, darum verdient er zur Hochzeit gebeten zu werden!

Diese Märtyrer-Geschichte brachte den Herrn v. W. geradeswegs auf das Wort Herr, womit er so ganz wegen der zwei erren nicht zufrieden schien; da ich ihm aber erwiederte, daß ein deutscher Herr und französischer Monsieur zwei sehr unterschiedene Leute wären, so gab er nach. Ein deutscher Herr ist ein Herr mit einem Zähnezusammenbiß.

Mein guter Gotthard brachte einen Hochzeitgast mit, auf den niemand gerechnet hatte; er commandirte sein Corps, und war ein so toller Hund, wie er ihn nannte, daß nichts drüber war. – Stolz, barsch. – Zum Glück bekam dieser Barsche einen Auftrag und konnte nicht bleiben, so daß seine Gastrolle eben nicht stark war. – Vielleicht dien' ich vielen meiner Leser, die solch ein curisches Original in meinem Buche gesucht und nicht gefunden. [312] Der Commandeur ließ schießen, wenn es donnerte, nicht um die Dünste zu zertheilen. Ein Herr begrüßt den andern, sagte er.

Den lieben Gott hat er förmlich zu Gevatter gebeten. Der Pastor loci mußte ihm einen Insinuationsschein ausstellen, und den lieben Gott wirklich als Taufzeugen aufführen.

Seinen Hund machte er zum Wacker! Die Bauern mußten den Hut vor ihm abziehen.

Bei der Taufe seiner Kinder mußte der Pastor fragen: Wollen Ew. Hochwohlgeboren getauft werden? und beim Abendmahl: Befehlen Ew. Hochwohlgeboren auch vom andern? Seine Beichte fing an: Ich von Gottes Gnaden, Erbherr auf – – – diesen Augenblick vor Gott allein, nicht aber vor dem Pastor, ein armer Sünder!

Ich glaube, meine Leser werden es gerne sehen, daß dieser tolle Curländer abgerufen worden. Wie Oel und Wasser paßt' er zu uns allen, am wenigsten aber zum armen Herrn v. W., der wohl lieber ein Waldhorn vor den Willen genommen hätte, wenn ihm die Wahl wäre überlassen worden.

Bruder! wie kommst du zu dem Menschen? – Es sind deren etliche unter meinem Regiment; der ehrlichste Kerl, den du denken kannst! – Den lieben Gott zu Gevatter zu bitten? Sieh, Bruder! Er hat nicht viel, und will sich doch zeigen! – Der Herr Gevatter verzehrte einen Wildbraten, zwei Bouteillen Franzwein und eine Ungarisch, gab uns allen die Hand und zog seine Straße, fröhlich, wie es schien. Starke, gesunde Kinder! sagte er zu mir. Ich: Eine glückliche Reise!

Gottlob, daß ich in Liefland wohne! So etwas war mir in Curland noch nicht vorgekommen, obgleich kein Zug unrichtig, nicht einmal verstellt ist. – Alles wie es war! Herr v. W. kannte ihn, wie er sagte, par renommée, bemerkte indessen, daß er dergleichen Schlag Menschen vor den Tod nicht ausstehen könnte! Ich [313] auch nicht so ganz, sagte Junker Gotthard. Was muß man aber nicht, um Frieden zu haben? Nur daß ich ihn mitgebracht, hält dir den Herrn v. K. und seine Spießgesellen zehn Meilen vom Leibe. – Wie kann ihm aber, fragt' ich, der Pastor einen Empfangschein geben? Ei müssen! Bruder! du glaubst nicht, wie viel Pastors es gibt, die sich hier mit dem Edelmann messen wollen. Solch ein Empfangschein schadet ihnen nicht!

Herr v. W. war gezwungen, dem Junker Gotthard für dieses Meteor den verbundensten Dank zu sagen; indessen dankt' er ihm noch weit mehr dafür, daß er die Hochzeit von diesem feuerspeienden Drachen auch wieder befreit hätte. Er ist nüchtern so unausstehlich nicht, als wenn er was im Krönchen hat, sagte Junker Gotthard, und hätten Sie ihn durchaus nicht länger haben wollen, ich würd' ihn schon zum Aufbruch gebracht haben, ohne daß er abgerufen wäre. Einigen gelingt's in Curland, ohne dergleichen Helfershelfern, sich die Landplagen der Krippenritter vom Halse zu halten; indessen hat sich mein Vater doch fünfmal schießen müssen – und Ihnen, Herr v. W., kostet es gewiß manches Compliment. – Ich liebe nicht, mich herum zu schießen; warum sollt' ich's, so lang ich so abkommen kann? Dieser Gottes-Gevatter ist arm, hat eine mäßige Pension von mir und von meinen Brüdern meines Gleichen, die sich nicht schießen mögen. Ein alter Edelmann ist er, und sein Vermögen hat er mit guten Kerls aufgegessen und aufgetrunken.

Den Tag vor der Hochzeit war ein erschreckliches Regenwetter. Man konnte sagen, die Fenster des Himmels thäten sich auf. Dieß brachte dem Herrn v. W. keine kleine Sorge zuwege. Er hatte durchaus schönes Wetter auf die Hochzeit invitirt, und mancherlei Vergnügungen gar darnach eingerichtet. Die ganze Nacht an keinen Stern, der Aufklärung verkündigte, zu denken! Den Morgen klärte es sich auf, und wir hatten einen so heitern, einen so schönen Tag, [314] daß Herr v. W. diesen Umstand zum heutigen Feste verzeichnete. Er war es werth, daß er zum Protokoll genommen ward.

Unter vielen Ceremonien nur einige:

Die Trauung war in eine Rede eingeschaltet, welche der Pastor der Gegend über die Worte hielt!

Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird es wohl machen! zu reden aus dem fünften Vers des sieben und dreißigsten Psalms Königs und Propheten Davids.

Wahrlich kein Gedanke, der auch nur eine Pflanzengröße übertraf; indessen traf so mancher mein Herz.

Meine Tine gab mir mitten unter der Rede bei einer Stelle, die ihr auffiel, die Hand, und obgleich ihr Herr Vater diesen Vorfall so übel vermerkte, daß er uns gern aus einandergeschlagen hätte, so blieb es doch bei diesem Hand in Hand, bis wir sie von Trauungs wegen aus einander nahmen, damit sie der Herr Pastor zusammenlegen, und: was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden, darüber sagen konnte.

Wie solch eine Kleinigkeit, zum wahren Beweise, daß die Natur über die Kunst geht, bis ins Innerste dringt!

Nach der Trauung warf sich Tine in meine Arme. Dein! sagte sie, ohne daß wir ein Du verabredet hatten, und von Stund an war es du und du, dem Herrn v. W. nicht zur kleinen Aergerniß, der dieses auch unter Eheleuten nicht so leicht erlaubte. – Wir brachten ihm anderswo ein, was hier drauf ging.

Keine von allen diesen Ceremonien rührte mich mehr als die Wallfahrt, die der Herr v. W. in Begleitung unserer und einiger ausgesuchten Hochzeitgäste, wozu auch Hermann und der Herr Hauptmann gehörten, anstellte.

Er allein mit einem Theeschälchen in der Hand, das mit grünen Blättern bedeckt war. Es ward so feierlich getragen, und [315] die ganze Ceremonie sah fast so aus, als wie meine Mutter und ich den Eierheiligen verewigten.

In der Opferschaale lagen zwei Pomeranzenkörner, die er mit einer großen Feierlichkeit zur Hand nahm und in zwei dazu schon gemachte Töpfe setzte. – Seyd fruchtbar, sagte er, und mehret euch! Jedem, meiner Tine sowohl, als mir, ward ein Glas Wasser gegeben, womit wir diese eingeackerten Pomeranzenkörner begossen. – Gott, sagte er, gebe das Gedeihen! – Er hatte überhaupt die Gewohnheit, die Körner von Pomeranzen und Citronen, die er zu Papst, Kardinal, Bischof und Punsch an festlichen Tagen verbraucht hatte, zum Andenken des festlichen Tages zu pflanzen. So hatte seine ganze curische Orangerie festliche Geburtstage. Er glaubte der Frucht dadurch ein Andenken zu stiften und ihr eine Art von Erkenntlichkeit zu beweisen. Mein Vater dachte in Absicht der Pomeranzen- und Citronenkörner anders. Dafür war er ein Kernmann, Herr v. W. aber ein Blättermann.

Bei Tafel war Herr v. W. der gefälligste Wirth, den man sich nur denken kann.

Er fing eine Unterredung an, oder brach sie schnell ab, je nachdem es Zeit und Gelegenheit wollten.

Den guten Pastor, der heute alles wohlgemacht hatte, brachte er in die Enge, indem Herr v. W. den undeutschen Anfang des Vater unsers auf die Rechnung der Höflichkeit schrieb. Das Substantivum sollte überhaupt vor dem Adjectiv zu stehen kommen.

Eine Unterredung fiel mir sehr auf, die Herr v. W. so recht aus dem Innersten seines Herzens geschöpft zu haben anschien. Grobe Leute, sagte er, sind glücklicher, als die Höflichen. Vor Groben fürchtet sich jedermann. Man freut sich, wenn sie ein Lächeln wo leuchten lassen. – Ich habe Leute gekannt, die sich durch Grobheit als Gelehrte, als Herzhafte, als – – alles was man will, ins Geschrei gebracht. Indessen ist erspartes Geld, [316] fügte Herr v. W. wohlbedächtig hinzu, besser, als erworbenes, und kommt ein harter Stein zum andern, so steht der hinterste im Genitiv. Die selige Mutter meines Herrn Schwiegersohns würde gesagt haben: zwei harte Steine mahlen selten reine.

Unser Jupiter, unser Gottes-Gevatter hätte sich, wie mich dünkt, bloß bei dieser Unterredung erholt, alles andere wären Schaubrode für ihn gewesen, bei denen er nun freilich weit dreister, wie David, zu Werke gegangen. Selbst aber diese Dreistigkeit, würde sie nicht allen, die zu Tische saßen, unerträglich gewesen seyn? Der geschickteste Mann, sagte Junker Peter, um grob und fein zu seyn, bei den besten Kohlen und recht gesunden Funken: fehlt ihm Wind, das heißt, eine gewisse Art – Gefälligkeit, Gelindigkeit – er wird in der Geburt ersticken. – Gewünscht hätte ich, daß den Junker Peter ein Maler gesehen hätte, wie seine Herzhaftigkeit in der Geburt erstickte, da der Commandeur an ihn kam, um ihm die Hand zu reichen, die er uns allen beim Abschiede reichte. Jupiter ließ es dabei nicht, sondern drohte ihm mit den Vorderfingern der rechten Hand. Im Spaß, versteht sich. Wie fuhr aber Junker Peter im Ernst zusammen!

Meine Leser werden ohne meinen Fingerzeig bemerken, daß ich dem Herrn v. W. bei der Tafel das Heft in Händen ließ. Sein Refrain war, daß Festlichkeit die Freude leite und führe auf ebner Bahn, so wie sie auch die Betrübniß in Schranken setze! Wahrlich, ein theures werthes Wort!

Ich hatte mit Tinen Herzensangelegenheiten, die über alles gingen. Wir sprachen von unserer Trauung, von der wir alle beide nicht sonderlich erbaut waren. Ich freue mich, sagte ich, liebe Tine, daß sie pompreicher und weniger herzlich ablief, als Gretchens – Schwerlich würde ich sie sonst ausgehalten haben.

Tine hatte, wie sie sagte, eine Bitte über alle Bitten an mich – und diese war, daß ich sie nicht mehr Albertine, sondern [317] Mine nennen sollte! – O Tine! das ist mehr als die ganze Trauung. Es war mit mir geschehen! – Diese Firmelung brachte mein ganzes Herz aus seiner Fassung. Mine! sagte ich, und drückte sie an öffentlicher Tafel so fest an mein Herz, daß Herr v. W. aufschrie, und mitten in der Höflichkeit sich hart verging. Er faßte sich, und hätte eben so laut um Vergebung gebeten, als er aufgeschrieen, wenn ich die Sache weiter treiben wollen. – Sie selbst, als ob sie nun nichts weiter nach der priesterlichen Einsegnung zu fürchten hätte, sprach ohne Ende von Minen. Nun war die Zunge völlig gelöst. Einmal hatte Tine sie gesehen. – Ich habe sie gemalt, setzte sie hinzu. Auswendig weiß ich sie. Du sollst ihr Bild sehen! – Ueber der Rüstkammer von ihren Sachen, die du ihr zum Andenken aufbewahrest, soll es hängen!

Heiß ich Mine?

Du heißest Mine!

Junker Gotthard, dem die Geschichte von meiner seligen Mine nicht verborgen geblieben, und der diesen mir ewig süßen Namen jetzt nennen hörte, warf sich, so wie er da ein Hochzeitgast war, zur Rache wider v. E. auf, die er aber wohlbedächtig durch seinen Jupiter üben lassen wollte.

Friede! sagte ich ihm, Bruder! Ich höre, fuhr er leise fort, und hielt die Serviette vor, als ob er die Frage mit der Serviette verhängen wollte; ihr duzet euch?

Mine lächelte und Junker Gotthard konnte nicht umhin, ihr überm Tisch die Hand zu reichen, und ein Glas Wein darüber umzustürzen. – Nicht das Glas, sondern die Handgabe war ein Greuel in den Augen des Herrn v. W., der aber nicht einmal aufschrie wie oben, da ich Minen an mein Herz nahm. – Wie gütig!

Ich darf es wohl nicht bemerken, daß, außer dem wohlgemachten Pastor, wenig Leute da wären, die einen Begriff vom [318] Zusammenhange in Gesellschaft hatten. Herr v. G. der Selige! was meinen meine Leser, war er nicht geboren, in eine Gesellschaft Geist und Ordnung zu bringen, – und selbst Waldhörnern den Kammerton beizulegen? Ich wette, Jupiter wäre unter seinem Vorsitz ein angenehmer Gesellschafter worden, und behaupte, daß in der Conversation, da wir auf seinem Gute waren, so viel Einheit, so viel Stimmung liege, daß es ein Concert heißen könnte, wenn der Kunstrichter es so erlauben will.

Wahrheiten, die jeder sieht und hört, wer kann sie aushalten? Es regnet, es hat geregnet, es wird regnen! – Wer einen Garten anlegt, muß für Schatten sorgen. Wagen gewinnt, wagen verliert. Wenn ich gehe, komm' ich weiter. Solcher Augenscheinlichkeiten drängten sich in schwerer Menge zum Vorschein; wer kann aber daran Theil nehmen? Wer über Einfälle der nämlichen Art lachen? Ist's Wunder, daß sich unsere Redner geflissentlich bemühen, den gemeinsten Hut nach der Mode zu stutzen? So wasserklar waren auch die Hochzeittischreden, und das Gedicht, welches Minens gewesener Informator zusammengewürfelt hatte. Das Gedicht lief allen an Wasserklarheit den Rang ab. Ein Reim nahm die Erklärung des andern über sich. – Wie Herr und Knecht war einer gegen den andern.

Ein alter Edelmann unterschied sich durch den Brauch, nach Noten zu gähnen, und hielt dabei ordentlich Melodie. Anfänglich fiel uns diese Musikneigung auf; indessen nahm Herr v. W. in eigener Person seine Vertheidigung über, und Hermann, der nur auf dieß Kommando gewartet hatte, behauptete, daß das Gähnen die Erfindung der Cadenzen wäre, die doch heutzutage so trefflich beklatscht würden. Man bewunderte sogar die Euphonie unseres Gähnenden. Versteht sich, daß er sich desto öfter sehen und hören ließ. – Herr v. W. hätte seinen so freigebigen Beifall, sobald unser Edelmann es zur förmlichen Tafelmusik anlegte, gar zu [319] gern widerrufen; wie konnte sich aber Herr v. W. widersprechen? Freilich war er sonst die leibhafte Katachresis, eine Figur in der andern. Er war ein Trauerfröhlicher. Die Figur ließ sich indessen nicht bei dem vorliegenden Fall anbringen.

Auf der Hochzeit zu Cana in Galiläa gebrach es an Wein; hier gebrach es an mehr! An etwas, das kein Wein geben kann; wenn gleich tausendmal jenes paulinische Recept: Trinke ein wenig Weins, deines schwachen Magens halber, in Ausübung gebracht wird.

Darf ich noch bemerken, daß es bei der Mahlzeit, in so weit es überhaupt das Departement der Martha betraf, das sich Herr v. W. in hoher Person zugeeignet, nicht fehlte an irgend einem Guten? – Wohl aber war von allem etwas drüber; ein Compliment stach überall durch! – Ist das nicht etwas drüber?

Der Cadenzgähner brachte, wiewohl in unmaßgeblichem Vorschlag, Hamburger Pulver zum Desert; indessen fand er keinen Beifall. Herr v. W. selbst meinte, das würde heißen: Zum Bußtage gratuliren.

Unter einem Märtyrer stellt man sich einen thätigen, hervorragenden Mann vor, der einen Kopf zu viel hat, oder der einen Kopf größer wie der Hause ist. Was aber den unsrigen betrifft, so war er so leidend wie möglich. Wo studirt, Herr Hauptmann?

In Königsberg.

Auch ein Collegium über den deutschen Styl?

Beim Professor – – gehört.

Das dachte ich wohl! beim Professor, Feldherr anstatt General.

Ein Märtyrer also vom Hörensagen.

Beide, Hermann und unser Hauptmann, saßen an einem kleinen Tische, der an unsere Tafel grenzte. Ich hätte sie zur Tafel gezogen, auch meine Mine hätte es, wenn es auf uns angekommen wäre.

[320] Wegen einer aus dem Alter genommenen und auf curischen Grund und Boden verpflanzten Geschichte wäre der Herr Pastor, der sonst alles wohl machte, bei einem Haar übel angekommen. Auf die schriftliche Anfrage: wie viel jährlich für einen einzigen Junker? hätte ein Hofmeister, nach der Erzählung des Herrn Pastors, hundert Thaler Alb. gefordert. Wir werden nicht Handelsleute, erwiederte der Edelmann, dafür halte ich meinem Sohne zeitlebens zwei deutsche Bediente, und da hat er Verstand und Dienst obenein. Facit, erwiederte der Hofmeister, drei Schlingel. – Dieß unschickliche Wort, welches eben, weil ein Junker mit darin begriffen war, desto härter auffiel, brachte alles in Bewegung, obgleich es nicht auf die Rechnung des Pastors, sondern des Hofmeisters gehörte. Wenn nicht Hermann die Sache ins Geleise gebracht, wer weiß, ob nicht selbst der Cadanzmacher aus der Weise gekommen wäre. Richtig, sagte Hermann, und der Cavalier beschloß: Eins zu drei thut vier. Schriftlich oder mündlich? fragte ein anderer. Schriftlich, erwiederte der Pastor; der Hofmeister war noch zur Zeit in Preußen. Das war dem Schlingel zu rathen. Ich dächte, der Pastor hätte die Geschichte weglassen und der Märtyrer hätte Capitän statt Hauptmann schreiben sollen!

Noch hatte der gute Herr v. W. zwei Reden auf dem Herzen.

Die Begleitungsrede ins Schlafgemach und die Strohkranzrede! Und wo war bei so vieler Verwirrung Zeit, auf diese Arbeiten zu denken – und sie anzuordnen?

Solche zehn Reden, wenn sie auch alle zehn so geglückt wären, als die beim Schlafengehen verunglückte, waren nicht den Segen werth, den unsere gute Mutter auf ihre Tochter legte. Sie verließ uns mit dem Leichentext meiner Mutter: Selig sind die reines Herzens sind, denn sie wer den Gott schauen!

Mehr, dünkt mich, war nicht nöthig anzuführen, als daß diese [321] Schlaftrunksrede verunglückt sey, um zugleich zu bemerken, daß Herr v. W. sie selbst übernommen!

Die Strohkranzrede ausgenommen, fiel nichts vor unserer Heimführung vor, was bemerkungswürdig gewesen wäre.

Ob nun Herr v. W. wieder befürchtet, daß er seinen Mund an einen Stein stoßen würde, oder ob er in Erwägung gezogen, daß eine Strohkranzrede sich für keinen Vater schickt, wenn gleich dieser Vater zum Complimentiren oder zum Redehalten (das ist sich wohl nicht viel aus dem Wege) geboren ist, weiß ich nicht. Dieses Geschäft war indessen einem jungen Edelmann übertragen, dem der Hermann soufflirte!

Zu Hermanns Ehre ein Wort: er weinte ungesehen, da ich mit Minen zu Bette ging –ungesehen!

Und warum war die Frau v. G. nicht bei der Hochzeit?

Ich bat die gute Seele der Frau v. W., außer dem Gewöhnlichen, noch ein Wort des Vertrauens an sie zu senden, ihres Seligen und Bruder Gotthards wegen. Warum kam sie dieses Worts des Vertrauens unerachtet nicht? Weil mein adliches Blut durch das poetische Blut meiner Mutter Schaden gelitten, und weil meines Vaters Adel dadurch, daß er die Kanzel bestiegen, einen unauslöschlichen Fettfleck erhalten. – Junker Gotthard! Deine Mutter, warum? – – Wäre sie meine Mutter nicht, würde ich mir die Freiheit nehmen, zu sagen: Warum? – Guter Junge!

Herr v. W. und Frau v. W. geleiteten uns bis zu unserer Heimath. Besonders, daß keine Thräne bei allen diesen Abschieden vorfiel. Junker Peter blieb zu Hause; er hatte sich zu einem Abschiede vorbereitet, der zu lang war, um nur herzlich zu scheinen.

Ohne Umstände, Peter!

Darf ich –

Sie sind der Bruder meines Weibes, wollen Sie auch mein Bruder seyn?

[322] Ernst?

Wahrer!

Können Sie vergeben?

Was denn?

Vergessen ist mehr als vergeben! Bruder!

Junker Gotthard gab meinem Weibe und mir die Hände. Jedes von uns erhielt eine. Wir küßten ihn beide. Desto besser, sagt' er. Gott lass' es euch wohlgehen! Meine Trine wird mir die ersten vierzehn Tage kein Leckerbissen seyn, da ich euch gesehen!

Er gab uns sein Ehrenwort, uns alle Jahr' einmal zu besuchen. Sind Jagden in – –? – Versteht sich! – Lebt wohl!

Auch du, guter Gotthard! ich liebe dich herzlich!

Ich halte, was ich versprochen, sagte Gotthard zum Bruder Peter, der sich verbindlichst verbeugte. – Noch wollte Peter mit Gottharden in der Stille sprechen. Es bleibt! schrie ihm Gotthard zu.

Ehemann also? der Mann eines Weibes, das mich liebt, und das ich wieder liebe! – Komm, liebes Weib! Tine! Mine genannt, komm! schreib selbst – damit meine Leser wissen, was an dir ist.

Was soll ich schreiben?

Von der Zeit an, da ich ins Wasser fiel, bis diesen Augenblick.

Ich liebte meinen Mann von dem Augenblick, da die Rett's und die Wo's vorfielen, ohne daß ich wußte, was Liebe sey. Meine Liebe äußerte sich durch meinen Hang, von ihm ohne Aufhören zu reden. Alle meine Kinderfragen auf die Manier, wie: Sehen Sie doch, Gnädige! wie hoch der Baum ist; der Babylonische Thurm war wohl weit höher?

Meine liebe Mutter ward nicht müde, mir Mutterantworten zu geben. Ich weiß den Tag noch, da ich nicht mehr über ihn [323] kinderfragte, und von dieser Zeit an verwandelte er sich in ein Ideal, das mit mir ging und kam, und aß und trank, das mich zuweilen froh machte, wenn ich glaubte, ich könnte sein werden, und zuweilen betrübte, wenn es mir einfiel: und wenn dieß Ideal ein ander Ideal hätte? Dieß Ideal verdrängte meinen Alexander, und doch war es mein Alexander, als wenn er gesessen hätte.

Minens Andenken war mir nicht im mindesten im Wege. Nie kam der Gedanken in meine Seele: Ihr Tod ist dein Leben. Ihr Alexander war nicht der meinige. Der ihrige war da; der meinige war ein Seelenalexander! – Es war alles, ich weiß nicht wie. Ich hätte einen andern, der diesem Bilde nicht ähnlich war, heirathen können; allein aus blindem Gehorsam gegen meine Eltern. Ein dergleichen Isaaksopfertag erschien, und ein Engel brachte mir den zu, den ich liebe und lieben werde bis in den Tod! Wenn ich jetzt an meine Hirngespinnstperiode zurückdenke, kommt es mir vor, ein Mädchen, das über fünfzehn ist, könne nur zweierlei, entweder ein solch Ideal haben, oder – sich lieben lassen und sich verlieben, wie das arme Lorchen, derentwegen ich diesen meinen Namen in Tine verwandelte, der jetzt in Mine verändert ist. – Es thut mir recht leid um den Namen Lorchen, den ich verlor; Tine hab ich gern verloren.

Es ist eine ganz andere Liebe vor, und eine ganz andere nach der Hochzeit. Bei dieser ist mehr Seyn, bei jener mehr Schein, wie der Drosselpastor sich erklären würde, den mein Alexander bei seinem Heimzug nicht gesprochen hat. – Was mir das leid thut!

Von dem Augenblick, da ich den Namen Mine erhielt, und ich meinen Alexander du nannte, trat die Vesper ein, das

Nach der Hochzeit – –

Ich bin ein so glückliches Weib, als man es in einer Welt seyn kann, die ein Sonnabend ist, und auf die der Sonntag folgt. Meine selige Mutter (dasSchwieger kann ich nicht schreiben, es [324] ist nicht kalt, nicht warm) war nicht allein ein Sonnabend. Alles in der Welt ist es! Alles! Unsere Liebe selbst, das vollständigste was ich kenne, ein Sonnabend! – Wollt ihr mehr von unserm Eheleben?

Was ich mir nur merken lasse, thut mein Alexander. Fast aber sollte ich denken, seiner Herrschaftsabtretung unerachtet würd' er nicht thun. was ich will. Wie kann ein Weib wollen?

Unsere Trauungseinsegnung wäre freilich anders ausgefallen, wenn sie der Pastor aus L. übernommen. Wie sie mir aber noch lebhaft sind die Worte (alle Fragen haben was Feierliches für mich): Wollen Sie mit diesem Manne ziehen, Glück und Unglück mit ihm theilen, und sich nicht eher von ihm trennen, als bis ein, Gott geb! seliger Tod Sie scheidet? – Mein Vater hatte mir Ja vorpräludirt; allein mein Herz hielt so wenig Melodie, daß ich laut Ja sagte, und so laut, so herzlich sag' ich es noch jetzo, bis der Tod uns scheidet. Ja, ja! Amen, Amen! Hörst du, Alexander? Ja!

Mein Mann kann mir keinen größern Beweis von seiner Liebe geben, als daß er mir eine Aehnlichkeit mit Minen zuschreibt. Zwar hab' ich sie nur ein einzigesmal in ihrem kummervollen Leben zu sehen das Glück gehabt, so wie auch vor diesem die frömmsten Leute nicht alle Tage Engel sahen; allein auch dieß einemal macht sie mir auf ewig wie gegenwärtig. Da steht sie! Auch dort werd' ich sie gleich kennen.

Sie hängt in unserm Hause nicht bloß über den Kleinigkeiten, die sich mein Mann zum Andenken erkoren: überall hängt sie in Oel, in Pastell und Silhouetten ohn' Ende. – Sie lebt und schwebt mir vor Augen. Dank lieber Schutzgeist! daß du mir sie präsentirt hast, da ich mich auf die paar Züge nicht besinnen konnte! – Jetzt darf ich dich nicht mehr beschweren.

Mein Alexander ist sehr geradezu. – Meine Mutter liebt [325] ihn wie eine Mutter ihren Sohn. Mein Bruder fängt sich so sehr nach ihm zu bilden an, als es einem äußerst verdorbenen Menschen nur immer möglich ist. – Mein Vater selbst ist mit diesem Geradezu so zufrieden, als ich es nie gedacht habe. Aeußerst zufrieden mit meinem Manne, behauptete er jüngst, daß ein gewisses edles Geradezu die allerfeinste Höflichkeit wäre. Aufs Einkleiden kommt's an, setzte er hinzu, und eben das Einkleiden scheint meines Alexanders Sache eben nicht zu seyn. Mein Vater fängt mehr an über die Höflichkeit und Festlichkeit zu speculiren, als sie zu üben. Ganz wird er diesen Schmuck nicht ablegen, und warum sollt' er? Mein Mann steigt nicht zu Dache. Sein Geradezu ist ein edles Geradezu.

Die Liebe ist kühn und schüchtern im Großen und im Kleinen. – Mein Vater will nicht leiden, daß ich meinem Alexander unters Kinn greife. – Warum nicht, lieber Vater? Ein Eheweib darf nichts Entehrendes finden, als ein Schelmstück, und da sey Gott vor! – – Wahrlich eine gewisse unzeitige Scham hat unser Geschlecht unter dem Vorwande es zu heben, so heruntergebracht, daß die wenigsten wissen, was sie thun.

Dem guten Vater fällt oft was auf die Nerven, was andere keinen Augenblick anhält.

Ehrenthalber, sagt mein Mann, ist der unausstehlichste Ausdruck, den ich kenne, und beim Kratzfuß des alten Herrn pflegt er zu sagen: Warum verstellst du deine Geberde?

Der alte Herr ist, so oft er kommt, ein mir sehr lieber Gast! Was mir das leid thut, daß er am Hochzeittage am kleinen Tische aß! So oft er kommt, muß er mir: Ich hab' mein Sach' Gott heimgestellt etc. spielen, und da sing' ich es dann so herzlich, daß ich ihn noch jedesmal weinen gesehen! Auch ich weine. Es ist ein Regenlied.

Mein Mann beschuldigt mich, daß ich zu spitzig bin. Noch [326] hab' ich keinem als mir selbst mit einer Nadel Schaden gethan! Wie Alexander da lacht! Sollt' ich wieder wo zu nadelspitz gewesen seyn? – Fürs Lachen eine Klage!

Mir ist äußerst schwül zu Muthe, wenn ich die Zimmer kehren und aufputzen lasse! Freilich sagt mein Mann kein Wort darüber; allein wenn sein Blick diese meine Thaten bestreicht, ist nur's so, als sage er etwas. Seine Schreibstube wird fast gar nicht geläutert. Weiß der Himmel, es ist wenig Staub drin, aller der Bücher unerachtet, von denen sich manche recht nach Staub zu sehnen scheinen, – wie er selbst sagt.

Ehegestern sah er sehr steif an einen Ort und war so tief in Gedanken als man in keinen Schlaf sinken kann. Da hab' ich dich gesehen, sagte Alexander, wie du einst alt und wohlbetagt seyn wirst! – Recht so! Sobald die Mienen, wenn man so sagen soll, ohne steife Wüste zusammenfallen, sieht man alle die Ansätze zu Runzeln, die man einst haben wird, wenn keine Ermunterung, keine Aufraffung diese Linien, diese Falten mehr zu verlöschen im Stande ist.

Mein Mann ißt stark, lauter natürliche Speisen, trinkt wenig Wein, allein immer aus der Quelle! – Ich lege vor – er gießt ein! – Alles was bei Tische nur gebraut und angerichtet werden kann, wird öffentlich gebraut und angerichtet. Er macht Punsch und Bischof, ich Salat – oft ein Ragout aus freier Faust. – Man gewinnt viel, sagt mein Mann, wenn man was werden sieht! Ich glaube selbst. Was muß es dem lieben Gott nicht angenehm gewesen seyn, so alles entstehen zu sehen! – Ich will schon gern nicht nach den Sternen sehen können, aber Gras und Bäume wachsen möcht' ich gern sehen! – Wer kann es beschleichen!

Noch einen Beweis der zärtlichsten Liebe meines Alexanders! Mein Leopold hat viel Züge von mir. Er küßt mich in ihm! [327] O! das sind Küsse, sagt er selbst, wenn man sein Weib in seinem Sohne küssen kann! Sage noch einmal, das sind Küsse! Ich fühle jeden, den du deinem Sohne gibst!

Wie sehr hab' ich mich gescheut, einen Vorfall anzuzeigen, welcher der wichtigste meines Lebens ist; kein Wunder, daß ich ihn bis auf die letzt gespart!

Ich bin die Mutter nur von einem einzigen Sohne, Alexander Leopold genannt. Er heißt im gemeinen Leben Leopold, weil mein Mann da Alexander heißt. Dieß waren meine ersten und letzten Wochen.

Nach einem der vergnügtesten Jahre empfand ich alle Bitterkeiten des Ehestandes und den Fluch, der auf unsere Allmutter Eva gelegt ward: Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären. – Verzeiht den Seufzer, den ich tief hole! und diese Thränen, die auf dieses Blatt fallen. – Mein Mann konnte die Scene nicht aushalten. Er ging davon, da er sie nur anfangen sah. In meiner Sterbensnoth ging er nicht davon! – Nun bin ich allein! – Vielleicht dreister! Es kam bei der Geburt meines Einzigen auf die Frage an, ob das Kind oder ich geopfert werden sollte. Mein Mann sollte entscheiden, der Arzt und die Hebamme setzten es darauf aus. Mein Gott, was für Vorfällen kann der Mensch ausgesetzt werden! Führ' uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von allem Uebel! Gott, unser Vater – Ich kann nicht weiter.

Nach einem sehr harten Kampfe blieben zwar Mutter und Kind, ich und Leopold leben, allein weh mir! – Ich kann nicht mehr Mutter werden!


* * *


Ich habe geendigt in dieser Welt! – Ich bin in ein Kloster gegangen. Als Kloster in ein sehr glückliches! Mein [328] Mann liebt mich wie seine Freundin. Mein Leopold, der Lohn meines Kampfes, ist der beste Junge, der in der ganzen Welt ist. – Was will ich mehr?


Einen guten Kampf hab' ich

auf der Welt gekämpfet –

– – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – –

daß ich meinen Lebenslauf

seliglich vollendet,

und mein arme Seel' hinauf

Gott dem Herrn gesendet.


* * *


Daß ich meiner seligen Mutter nicht völlig im Gesang gleich komme, ergibt sich, dünkt mich, aus meiner Erzählung. Wenn ich aber in meiner Lage ein Lied anstimme, wo mein Mann, seinem Vater gleich, im zweiten Diskant einfällt, wie wohl ist mir!

Ich bin der Welt im eigentlichsten Sinn abgestorben! und finde in der Hoffnung der künftigen Welt so viel Trost, daß es wohl der Mühe lohnt, hier nicht ganz glücklich zu seyn! – Ich wollte um wie vieles nicht mein Theil in diesem Leben haben, um wie vieles nicht! – Wie du willst, Herr, wie du willst, schick' es mit mir! – Wahrlich, wir sind zur Hoffnung geboren. Mit dem Genuß will es nicht recht fort. – Ich weiß nicht, ich kann keinen Menschen so recht ausstehen, der es sich geflissentlich angelegen seyn läßt zu genießen, dem man es anmerkt, daß es ihm so recht schmeckt!

Man sagt, daß es die Wehemutter bei meiner Niederkunft versehen haben soll. Ich verzeih es ihr herzlich – herzlich. – Gott tröste sie! Sie ist nach der Zeit öfters tiefsinnig – Mein Mann und ich, das weiß Gott, haben nichts dazu beigetragen, [329] daß sie tiefsinnig worden. Gott tröste sie und alle, die dieß lesen, bei ihren Leiden mit dem Troste des bessern Lebens, das Gott geben wird denen, die ihn lieben!

Tine, genannt Mine.


Damit ich dich ablöse. Mine ist eine Dichterin. Hier ist eine Probe von ihr, die sie nicht lange nach unserer Heirath lieferte. Man wird noch immer das Fräulein Lorchen drin finden, das spitzige Mädchen! obgleich sie es nicht haben will, und öffentlich behauptet, sie hätte noch keinem andern, als sich selbst, mit der Nadel Schaden gethan. Aus Lorchen ist Tine, und aus Tinen ist Mine worden! – Dieß ist die letzte Verwandlung, bis der Tod sie und mich verwandeln wird, und das Sterbliche anziehen wird die Unsterblichkeit. – Wär' es doch auf Einen Tag, auf Eine Stunde!


* * *


Komm, mein Geliebter, hier ans Kamin, damit ich den Unterschied desto mehr empfinde, in deinem warmen Arm zu seyn und mich am Kaminfeuer zu wärmen. Welch ein Abstand zwischen Feuer und Feuer! gemein und Opferbrand! Deine Hand, deine beiden Hände, in allem schlägt ein Schlag der Liebe, und wenn du deine Hand in meine legst, ist's so, als würden unsere Nerven in einander gestrickt, unsere Adern zusammengebunden! Wir sind eins! Wie fremde es klingt, Er und Sie! Mine und Alexander! du und ich!Zwei Du's sind wir, zwei Ich's. Außer dir ist nichts und außer mir ist nichts!

Welch ein Schauder! Noch einer! Was seh' ich! Sieh Geliebter! an die Fensterscheibe, vor deinen sichtlichen Augen, malt sich ein Vergißmeinnicht! Sieh! Sieh! im Zuge M und A! Fühlst du es so, wie ich! Mine war's, der Engel Mine! der es malt! Mine, die mich an dich in der Welt abtrat, die dich im Himmel wieder fordern wird. Das war nicht die Hand der Natur, [330] die diese Züge herausspielte. Dieses M und A im weißen Damast! Genäht ist's nicht. – Da ist kein Stich zu kennen! – Wie schön, himmlisch schön! wo auch kein Stich zu kennen ist! – O Geliebter, verzeih diesen Seufzer! Wenn ich dich im Himmel zu verlieren denke, wie ist mir! der Himmel und Verlust! – Wen willst du wählen? wen? O der zwei Sieen! Sie oder mich? Mich oder Sie? – Mine, die immer ein Engel war, oder Mine, die Fleisch und Bein hatte, und die werden wird, was Mine immer war! Engel Mine! Ist's möglich, schreibt's bei hellem Mondschein ans Fenster, wenn mich ein Herzbeben ergreift, das mir das Naheseyn eines Geistes verkündigt. Du oder ich? – Verzeih, Himmlische! diese Erdenfrage! Großmüthige, verzeih! – Du bist mein Geliebter! – du bleibst mein Geliebter! – Mine, die Göttliche, wie sie mich dir läßt! – Komm in meinen Arm, komm ans Kaminfeuer! Wir sind Ein Herz und Eine Seele, wir sind Eins für Himmel und Erde! – Höre, wie das Feuer im Kamin in Jubel ausbricht! Das ist kein gemeines Geprassel! – Und auch jene sanftere Stimme, wie harmonisch! – Kohlen vom Heiligthum geben dem stummen Wasser Leben und Sprache. So kocht kein schlechtes Wasser, wie dieß da, das sich mit dem Geprassel des Kaminbrandes in Melodie setzt, – das sich vordrängt, um gehört zu werden. Alles spricht: Du und Ich! Wir beide Du's, wir beide Ich' s! Großmüthiger Engel Mine! – Unaussprechliche Himmlische! – Wenn ich ein Engel werde, wie du es immer warst, will ich dir danken!


* * *


Tine, genannt Mine, ist äußerst fromm! – Sie betet alle Abend, so wie sie es in ihres Vaters Hause zu thun gewohnt war. – Selbst hat sie Gebete aufgesetzt, die, wenn gleich sie auch nicht Bild und Ueberschrift: Volksgebete, verdienen, doch von [331] einem Herzen zeigen, in dem Gott sein Werk angefangen hat. Er wolle es in ihr durch seinen heiligen Geist bestätigen und vollführen bis zu seinem Tage. Amen! Ich will das


Gebet für den Sonnabend


hersetzen.

Dieser Tag, in Parentheft, ist meines Weibes Liebling, so wie es der Tag meiner Mutter war; allein aus verschiedenen Ursachen. Mit mir, sagt mein liebes Weib, ists Sonnabend! – Gute Seele! – Unsere Wege sind nicht Gottes Wege. Unsere Gedanken sind nicht Gottes Gedanken. So hoch der Himmel über der Erde, so sind auch Gottes Wege höher denn unsere Wege, und Gottes Gedanken höher denn unsere Gedanken.


Am Sonnabend.


Gottlob! wieder eine Woche! Wie sie war und nun nicht mehr ist! Ich glaube, es wissen viele Leute nicht, wenn sie sterben, daß sie gelebt haben. O selige Kürze der Zeit, einziger lebendiger Trost bei allen Leiden dieser Welt! die eben deretwegen zeitlich und leicht sind, und doch schaffen sie eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, nicht auf den Leib, sondern auf die Seele, nicht auf die Welt, sondern auf Gott, den Anfänger und Vollender, den Höchsten, so wie der Menschen Geist vielleicht der niedrigste ist. – – Es geht mit der Zeit so, wie mit allem, was gut ist. Wir schätzen es nicht eher, als bis wir es nicht mehr haben! – Nichts ist weniger habhaft zu werden, als die Zeit. Ich stelle mir vor, sie verwandelt sich in Ewigkeit, so wie wir in Engel. Wer kann alles begreifen, wie es zugeht! Ich fürchte mich nicht, wenn diese Woche auftritt und mich einst vor jenem Richterstuhl zur Rechenschaft fordert, wo wir alle werden offenbar werden, an diesem Sonnabend der Welt! Wer kann aber, Richter der Welt, wer kann vor dir bestehen, du Herzenskündiger, [332] du Gedankenkenner? Barmherzigkeit komme über mich und über alle, die sich bemühen, Barmherzigkeit zu üben und Gutes zu thun und in guten Werken zu trachten nach dem ewigen Leben!

Die Zeit vergeht, allein gute Thaten pflanzen sich fort, und ihre Geschlechter dauern bis zum Ende der Tage. – Jede gute That hat mehr als einen Sohn, hat viel Erben; und diese Kinder haben wieder Kinder. – Wer wollte nicht gut seyn, um ein Vater, eine Mutter von so guten lieben Kindern zu werden, die sich selbst erziehen?

Der Schluß der Woche kann der Anfang zur Besserung seyn. Ich gelobe und wills halten, mein Fleisch und Blut niederzuschlagen, wenn der Eigendünkel mir einbilden will, ich wäre besser, als ein anderer; wenn die Härte mir ins Ohr zischt: Verdient es auch der Arme? will ich antworten: Bei Gott gilt der gute Wille; was würde sonst aus uns allen werden? So will ich leben, damit ich einst froh sterben kann. Wann werde ich? Das weiß Gott, der Herr des Lebens! Wohl mir, daß er nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen ist! Wohl mir, daß er mir den Trieb zum Leben so tief eingepflanzt hat! Je älter wir werden, je mehr Lust zum Leben wandelt uns an. Diesen Trieb zum Leben sollte ich haben und doch sterblich seyn? Nein, wahrlich! wahrlich! Ich glaube es, nimmermehr werde ich sterben, es wird nur so scheinen, als stürbe ich! – Der liebe Gott würde sich geirrt haben, wenn er den Lebensplan in den Menschen gelegt hätte, falls der Mensch ihn auszuführen außer Stande wäre. Gott begeht keinen Irrthum! Ist der Tod nicht Ende? Wie glücklich, daß wir sterben! Erwachen wir nicht, nach einer Nacht voll Schlaf, frisch zu einem schönen Morgen? Die Nacht ist ein Bild des Todes, der Morgen ein Bild der Wiedergeburt, die uns allen bevorsteht. – Herr, lehre du mich bedenken, daß ich sterben muß, lehre es mich in jeder Dämmerung, lehre es mich am Sonnabend [333] vor allen Dingen! Mache es mit mir, wie du willst – und ist der Sonnabend meines Lebens vorhanden, helfe mir Gott, der helfen kann, wenn alle menschliche Hülfe verzweifelt! – Wenn kein Trunk mehr unsere gedorrten Lippen labt, erquicke uns der Trost der Unsterblichkeit. Wenn die Unsrigen unsern Segen fordern, und wir segnen wollen und nicht mehr können, vollende das Werk; Abba, lieber Vater! du hast mehr als Einen Segen. Laß unsere Lieben bedenken, daß wir sie alle wiederfinden werden an einem schönen Sonntage, mit Feierkleidern angethan! – Halleluja! – Vollbracht! sey unser letztes Wort, Gnade! unser letzter Seufzer.

Da denke ich eben an die, so eben jetzt, da ich um ein sanftes, seliges Ende bete, wenn mein Stündlein vorhanden ist, ihr Haupt zum Tode zurecht legen! Möchte doch ihr Sterbekissen ihnen leicht seyn! – so wie uns allen einst die Erde! Wir sind ja alle aus deinem Hause, lieber Vater! Kinder der Todesangst unseres sterbenden Bruders, unserer entschlafenen Schwester. Laß den guten Geist, der sie in dieser Welt leitete, ihre Seele geleiten zu den Wohnungen der Gerechten! – Sie sterben an einem schönen Tage! Erbarme dich ihrer und unser aller! – Kürze die Noth eines jeden, die er auch seinem Vertrautesten nicht entdeckt, der Mann nicht seinem Weibe! – Erhöre jeden Wunsch, wenn es auch dein Wunsch ist! Amen! In deine Hände befehle ich meinen Geist! Amen!


* * *


Ich habe die Gewohnheit beibehalten, daß sie alle Abend in Gegenwart der Leute betet und auch ein Lied nach dem Gebete anstimmt, das wir alle singen. Ihr gebührt die Wahl, und ich habe oft die Freude, durch diesen oder jenen Gedanken eines Liebes herzinniglich überrascht und selig erquickt zu werden. – Würde sich meine selige [334] Mutter über eine solche Tochter nicht freuen, wenn gleich sie nicht aus dem Stamme Levi ist, und ich nicht Superintendent worden! Aus dem Liede sehe ich, wie mein liebes Weib gestimmt ist:

Gestern Abend sangen wir:


Warum sollt' ich mich denn grämen?


Gott! wie sang sie den Vers:

Kann uns denn der Tod wohl tödten?

Nein! er reißt

meinen Geist

aus viel tausend Nöthen;

schließt das Thor der schweren Leiden, –

und macht Bahn

himmelan!

zu dem Sitz der Freuden.


Heute singen wir ein Loblied, das sehe ich ihr an; alle Sonnabend einen Sterbegesang, das weiß ich schon! Meiner seligen Mine Regenlied: Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt, ist auch ihr Seelenlied. – Ich wünschte, daß manche edle Seele von meinen Leserinnen den Hermann spielen und mein Weib singen hören könnte. – O des guten Weibes!

Unserm Leopold habe ich in diesem Buche sein Kind- und Pflichttheil berichtigt! Ich habe ihn beim Publico eingeschrieben; mehr gebührt ihm nicht. So viel indessen zur Nachricht, daß er ein lieber, lieber Junge ist, der seinen Lebenslauf zu seiner Zeit schon ohne seines Vaters Beihülfe schreiben wird. – Es hat gute Wege mit ihm; Fähigkeiten seltener Art!

Junker Gotthard besucht uns alle Jahre, so wie er uns sein Wort gegeben. Noch ist er nicht Ehemann. – Seine Ja Jagdliebhaberei nimmt täglich zu. – Sein Herz ist untadelhaft. Man [335] mag sagen, was man will, er ist doch immer das beste Wild in allen seinen schönen Wäldern.

Seine Mutter kann es sich noch nicht vorstellen, daß ich die Tochter eines benachbarten Edelmanns geheirathet, und freut sich herzlich, daß nicht die Sonne in Curland diesen unerhörten Fall bescheine. – Käme es auf sie an, sie würde unsere Ehe noch bis diesen Augenblick ungültig erklären. – Sie zahlt zehn Ahnen mehr, als nach Sethi Calvisii Berechnung (der doch auch sein Exempel zu rechnen wußte) die Welt gestanden. O, der stifts- und turnierfähigen Frauen! – Doch, warum von ihr Auskunft, da mir noch jemand weit näher ist?

Der alte Herr hat jetzt seine Freistatt beim Herrn v. W. Seine dürftigen Umstände erforderten Beihülfe, und wer wird sich nicht freuen, daß Hermann, der nach dem betrübten Sündenfall den Apfelbaum aus seinem Garten rottete und der tugendbelobten Jungfer Dene einen Scheidebrief ertheilte, nicht Noth leidet? Herr v. W. konnte aber auch sich selbst nicht besser rathen, als auf diese Weise.

Hermann ging nach Minens Tode krumm und gebückt, und meine Mutter fand sich verpflichtet, ihm Nahrung und Kleider zuzuwenden. Diese Sorgfalt versprach sie, so lange sie lebte, für ihn zu haben. Sie hielt mehr, als sie versprochen, und noch nach ihrem Tode empfand er ihre milde, kalte Hand. In die Stelle ihrer Gutherzigkeit trat das Legat der Frau v. – b –; indessen war Hermann noch nicht völlig aus aller Leibesnoth, aus welcher ihn Herr v. W. völlig setzte. Der Herr Inspektor fand sich auch mit hundert Thalern preuß. ein, die Hermann zum Bratenrock verwendete. Indessen hat Darius so wenig Lust, seinen Vater, als der Vater den Herrn Inspektor zu sehen. Diese Pension von hundert Thalern preuß. will Darius jährlich fortsetzen.

[336] Man sagt, Schulmeister werden darum so sehr alt, weil sie immer mit jungen Leuten umgehen. Diesen Kunstgriff haben viele Alte, um sich zu verjüngen, wie die Adler. – Freude steckt an. Man darf hier nicht bloß auf die Ausdünstung Rücksicht nehmen, auf die es vielleicht bei dem Kebsweibe des Königs David angesehen war. – Hermann hatte nun wohl schon längstens das Schulhandwerk aufgegeben; indessen hatte er ein Temperament, das hier mehr galt, als der Umgang mit der Jugend.

Wenn er zur Treppe heruntergeworfen wird, sagte Herr v. G. der Selige, kommt er zuverlässig, seinen Hut zu holen. – –

Hast du, lieber Leser, je einen observirt, der dem andern zu Gefallen lacht oder weint? Beides ist häßlich! Unendlich lieber aber will ich, jemanden zu Gefallen, weinen als lachen sehen. Wie Ekel, wenn man jemanden zu Gefallen freundlich thut! – Hermann war ein dergleichen Klag- und Freudenweib. Er gibt, wie Herr v. G. der Selige sagte, wie ein Teich, nasse und trockene Nutzung.

Der Stolz ist zweierlei, innerlich und äußerlich. Leibes- und Seelenstolz. So kann man stolz seyn auf seine Nase, Augen, Ohren, aufs Zifferblatt; allein auch aufs Werk selbst, auf die Seele. Dieser innerliche Stolz, wenn er übel angebracht ist, heißt Aufgeblasenheit. Dieß war Hermanns Fehler, den er beim Herrn v. W. abzulegen schwerlich Gelegenheit finden wird. Von seinem Schnupftuche hängt ein großer Theil aus der Tasche. Er schmückt sich gern mit einem lateinischen Wörtchen, welches wie ein Schönfleckchen absticht.

Herr v. G. selbst indessen, wenn er noch lebte, würde dem Hermann, dieses Schönfleckchens und des herausragenden Schnupftuchs unerachtet, das Zeugniß der Besserung in sehr vielen Stücken nicht versagen. – Wir wollen uns nur der stillverweinten Thräne zurückerinnern, da ich mit Minen zu Bette ging!

[337] Seine Einfälle freilich hat er noch nicht gelassen; wer läßt aber auch Busensünden so leicht? Sie sind Parderflecken.

Herr v. G. der Selige nannte seinen Witz des Satans Engel, der ihn mit Fäusten schlüge, und wahrlich mit Recht! Seine Einfälle? Sind sie denn Einfälle? Kaum! Es sind Gypsabgüsse von Witz.

War es Wunder, daß Hermann wieder zu Kräften kam, da ihm Herr v. W. mit Rath und That so höflich beistand? Der Tremulant ward zwar noch zuweilen gezogen; indessen ließ von Zeit zu Zeit der Trompetenzug sich hören.

Lange hungern, ist nicht Brod sparen, sagte Junker Gotthard, der gute Junge. Er hatte eine gewisse Antipathie wider den Hermann von seinem Vater geerbt. – Jüngst sah er mich an, und liebängelte mir auf Rechnung meines Schwiegervaters und seines Waffenträgers zu. Das Wetter, sagte er, kennt man am Winde. Als Hermann von seinen ausgestandenen Unglücksfällen anfing, machte ihn Gotthard mit der Bemerkung still: was ein guter Haken werden will, krümmt sich in Zeiten. Hermann erzählte eine Beleidigung, die ihm ohne sein Verschulden zugefügt worden. – Da hielten Sie wohl ein Schnupftuch vor, und sagten: Mir blutet die Nase? fragte Junker Gotthard.

Hermann hatte die Art, wenn ihn jemand seines Gleichen was fragte, nicht zu antworten, sondern recht, als fürchtete er etwas, anstatt der Antwort wieder zu fragen: Wie so? Er begegnete der Frage durch ein andere Frage, und so wie kluge Leute, wenn sie nach gothischer Weise examinirt werden, die schwere Pflicht zu antworten sehr weislich auf den Frager schieben; so machte es auch Hermann, und eben hiedurch gewann er Zeit, erhielt sich bei Ehren, und suchte sich, wie alle Leute seiner Art, zu präserviren.

Dem Junker Gotthard, der doch wahrlich nicht seines Gleichen [338] war, begegnete Hermann auf gleiche Weise; indessen gewöhnte er ihm sein: wie so? auf eine so auffallende Art ab, daß Hermann sich bei jeder Frage verscheute, wenn gleich sie nicht: wie so? war.

Das ist so platt, daß es keine Nase hat, sagte Hermann zum Herrn v. W. über einen Ausdruck des Junkers Gotthard; allein er fand keinen Beistand, vielmehr ward er auch vom Herrn v. W. auf eine Art angelassen, daß, um seinen gewöhnlichen Ausdruck beizubehalten, ihm die Ohren klangen. Da verdienen Sie eine Nase, erwiederte Herr v. W. und freute sich, daß bei seinem Scheltwort wenigstens ein Wohllaut, wie er dafür hielt, anzubringen gewesen. – Wohllaut Herr v. W.?

Die Gewohnheit, die Hermann, seit so lange ich ihn kenne, hatte, seine Weste mit Nadeln zu bestecken, daß sie wie mit goldenem Rundschnur besetzt aussah, hat ihm Herr v. W. glücklich abgewöhnt. – Versteht sich, mit Höflichkeit.

Vor kurzem nahm mein Schwiegervater bei Gelegenheit der Nase die Sache des Junkers Gotthard; jetzt rettete er Hermanns Ehre, als Gotthard ihm den Schneider vorrückte. Federschneider wollen Sie sagen, fiel ihm Herr v. W. ein. Freilich hätte Gotthard bedenken sollen, daß Hermann ein Häusling des Herrn v. W ist. Gotthard war gewohnt, dem Herrn v. W. nachzugeben. Es blieb beim Federschneider. Viele nannten den Hermann Sekretär, und man ließ sie, ohne daß sie zurechtgeholfen wurden, dabei.

Um die Zeit, wenn der Inspektor seinem Vater das Jahrgeld sendet, ist Hermann so tief in Gedanken, daß Herr v. W. alle Mühe hat, ihn zu zerstreuen. – Er könne sich, sagt Herr v. W., vor Unruhe nicht bergen. – Wie das kommen mag! Wenn es nur nicht mit Hermann zum Ende geht! sagte Herr v. [339] W., da er mich zum letztenmal besuchte. – Jetzt fängt er an, so tief in Gedanken zu fallen, wenn er nur etwas anlegt, das von dieser Pension gekauft worden! Den Bratenrock zieht er gar nicht mehr an. Gott sey seiner Seele gnädig!

Der Schwager Peter hat ein Weib genommen, darum kann er nicht kommen, sagt Junker Gotthard, das heißt: Der gute Junker Peter hat die Herrschaft in seinem Hause nicht abgetreten; allein er ist so wenig Herr, daß seine Frau sogar den Stab Wehe über ihn führt. – Herr v. K. nahm ihn in Anspruch, und forderte alles Geld, das er ihm geschenkt, oder mit ihm gemeinschaftlich reichmännisch durchgebracht hatte. Es war nur, schreibt ihm Herr v. K., auf die Hand gegeben. v. K., der ehemals ein Verschwender war, ist jetzt in einen solchen Geizsumpf gefallen, daß er sich entsetzlich besudelt. – Jeder Redliche im Lande flieht ihn. Wer hat aber nicht seinen Anhang in Curland, der auch mit v. K.'s vor den Willen nimmt. Junker Peter konnte sich in der Noth, da er vom v. K. in Anspruch genommen ward, und bei dieser Gelegenheit so mancherlei und manches ans Licht brach, nicht anders als durch ein Eheverbündniß helfen. Wie oft decken Ehen der Sünden Menge! Fast immer sind sie heut zu Tage Sündendiener.

v. E. hat eine sehr liebenswürdige Frau, und von ihr drei Söhne, die dem Bilde ihrer Mutter ähnlich sind. Ich hab' ihn seit der Zeit nicht gesehen, da er in Königsberg König eines Freudenmahls war. Warum bracht' ich die Nacht, da Herr v. E. mit Extrapost von Königsberg ging, schlaflos zu? Seine Zuschrift, nachdem er von meiner Ankunft in Curland Nachricht eingezogen, will ich so wenig mittheilen als meine Antwort. Wir wissen alle, daß er Franzos und Curländer war, daß er kriechen und sich ein Paar Zog höher heben konnte, als er gewachsen war. Ob seine Frau ihn nicht wenigstens auf Eins einschränken, und entweder [340] zum Curländer oder zum Franzosen bringen wird? muß die Zeit lehren. Wie es zugegangen, weiß ich nicht; allein v. E. hat den v. K. gefordert. Wie gewöhnlich, haben sie sich nichts gethan. Da hat jeder seinen heißhungrigen Jupiter, und dergleichen Gevatter wetzen die Scharten aus.

Diesen Augenblick erhalt' ich vom Herrn v. W. die Nachricht, daß Hermann in wirklichen Wahnsinn gefallen. Welch ein Unterschied gegen eine Lindenkrankheit! – Die Höflichkeit des Herrn v. W. erlaubt es nicht, ihn von sich zu entfernen. Und auf der andern Seite, bemerkt er, bin ich äußerst mit ihm geplagt. – Sich selbst kann Hermann nicht überlassen werden.

Sein Sohn hat ihm dieses Jahr hundert und fünfzig Thaler gesandt. Ob ihm diese Erhöhung völlig den Kopf verrückt, oder die Bitte, die Benjamin der Zusage beigefügt, ihn in Preußen zu besuchen, weiß Herr v. W. nicht.

Die Frau Inspektorin sey in gesegneten Umständen, und trüge ein so großes Verlangen (schreibt Darius) ihren Schwiegervater zu sehen, daß er auf das dringendste bitten müßte – Müßte, das glaub' ich selbst! Einen andern Vater würde dieß entzückt haben, und Hermann – –

Ist todt! – Ein Brief von meiner lieben Mutter. – Drei Tage vor seinem Ende ist er vernünftig gewesen. In den Anfällen der Raserei hat er sehr lautBenjamin gerufen! Mine aber so hohl, als dürft' er nicht. Inspektor! Inspektor! jetzt könnt' es dir leid thun, daß du deinen Vater nicht noch gesprochen hast! Gute Wochen deiner Frau! Eben meld' ich ihm den väterlichen Tod. In der Beilage dieses Briefes erfolgten 350 Reichsthaler preuß., die Hermann unerbrochen weggelegt hat. Unerbrochen! Das Ehrenkleid, das er von der Pension des ersten Jahres berichtigt, ist ihm mit ins Grab gegeben, auf sein ausdrückliches[341] Verlangen. Ich will es anziehen, hat er gesagt, wenn ich Minen sehe!

Roth wird seinetwegen kein Tag im Kalender des Herrn v. W. gefärbt werden, dafür steh' ich; so wie ich weiß, daß er seinen Tod herzlicher, als den Tod so vieler anderer Rothgefärbten bedauern wird!

Junker Gotthard soll Bräutigam seyn! Das wäre viel! – Alles, was ich sonst noch auf meinem Herzen und Gewissen habe, in die Nutzanwendung!

Schluß.

Endlich! wird ein großer Theil meiner wohlmeinenden Leser, wie ich wünsche und hoffe, sagen, und diesem Endlichsagen setz' ich aus dem Innersten meines Herzens Gottlob entgegen. – Gottlob!

Also hätten wir in den gegenwärtigen Theilen abgehandelt, ob kürzlich, weiß ich nicht, einfältig aber gewiß, meinen Lebenslauf, bis auf eine sächsische Frist vor der Messe, nebst drei Beilagen, A, B, C., denen ich am Thor ein vielleicht zu stolzes Prognostikon gestellt habe. Nichts ist wahrer, als jene Bemerkung: nulla tam odiosa narratio, quam sui ipsius laus, welches Junker Gotthard sehr schön: Eigenlob stinkt, verdolmetschen würde. Darius würd' es noch handgreiflicher geben. Damit also nur ja niemand auf den unrichtigen Gedanken falle, als hätt' ich mir selbst dieses Monument errichtet, so sey es mir erlaubt, zu bemerken, daß solches bloß der lettischen Muse, dem Organisten in L. und dem guten Gottfried zu Ehren prangt, und daß der vierte und [342] fünfte Theil mehr durch meine Feder, als durch meinen Kopf gehen werde. Qui bene distinguit, bene docet.

Dank dir, Deutschland, an das meines Schwiegervaters Hochwohlgeboren tausend Empfehlungen mit gehen, daß du mir nicht manum de tabula, die Hand vom Schreibtisch! zugerufen. Schuldig bin ich noch (da ich dieses Werk mit einer Hand verglichen, ob rechte oder linke? hab' ich wohlbedächtig unbestimmt gelassen) den Goldfinger und Ohrfinger. Getreulich und sonder Gefährde hab' ich die drei ersten oder die Schwurfinger dargereicht, den Daumen oder den Kopf der Hand, den Zeige- und Mittelfinger. – Zu Abtragung meiner Schuld nur eine kurze Frist.

Frist!

Ich weiß so gut, wie Nathanael, versprechen macht Schuld? und wer mehr verspricht, als er zu halten im Stande ist, kann zur Ersetzung des Schadens ex L. Aquilia angehalten werden. Schaden? Vortheil soll euch mein Anstand zuziehen und landübliche Zinsen tragen. Es fehlen nur noch einige Nachrichten, meines Vaters Jugend und meines Großvaters Alter betreffend, um allen respektive Frag- und Verwunderungszeichen zu entgehen. Ein Kind, wenn es sich die Finger verbrannt, pflegt das Licht zu scheuen, obgleich mein Leopold es noch lange erst versuchen würde, ob die Finger mit der Zeit nicht stärker als das Licht seyn würden.

Kurze.

Ich habe nicht nöthig zu fragen: Meinst du, daß diese Gebeine wieder lebendig werden? Es liegt alles bis auf einen Hauch da! – Es ringt nach Leben.

Da seht, meine Ehrlichkeit! – Hätt' ich denn nicht meiner Länge, wo nicht eine ganze Eile, so doch ein Viertel, und da ich Soldat gewesen, ein Paar Zoll zusetzen und behaupten können, daß [343] mich ein anderes gelehrtes Werk abhielte? Ich habe aber nie auf den Zehen in diesem Buche gestanden, oder mich durch einen hohen Absatz vergrößert. Warum sollt' ich's? Warum sollt' ich sagen, daß mich eine andere gelehrte Arbeit beschäftige, und daß ich zwei Herren diene? Bloß bin ich im Dienst der Wissenschaften, und diese meine hochgebietende Herren sind so geneigt, wie Gott der Herr, ihren Dienst einzurichten. Wir dienen nicht Gott, sondern uns, und so geht's auch mir mit den Wissenschaften.

Ich glaube nicht, daß ein Speisemeister vom andern und dritten Theile zu sagen Ursache gefunden: Jedermann gibt zuerst den guten Wein, und wenn die Gäste trunken sind, den geringen. Dieß sey die Bürgschaft, die ich bei meinen Lesern in bester Rechtsform wegen der Fortsetzung einlege, und sollte hie und da ein Speisemeister diese Klage wider mich rechtlich führen zu können des Dafürhaltens seyn; so wisse er, daß ich nicht Jedermann bin, und daß ich in Wahrheit es nicht zum Betrinken angelegt. Freiheit ist meine Losung bei Tisch, als Schriftsteller – überall. – Ein Jesuiterräuschchen hat bei den trüben Tagen des Lebens nichts zu sagen. – Zwar hab' ich mich bemühet, allen einschläfernden Erweiterungen auszuweichen. Was ist aber ganz vollendet? Alles, was vollendet ist, ist dem Menschen nicht auf seinen Leib, oder eigentlich auf seine Seele gemacht. Selbst ihr Unsterblichen, du, Newton, und du,Copernikus! wißt ihr denn auch gewiß, daß alles so ist, wie es euch in einer glücklichen Nacht träumte? – Das rechte Wort zu allen Empfindungen. – Könnt' ihr sagen, es ist vollendet? Ihr, die ihr selbst nicht vollendet, sondern nur Numero sieben seyd. Maulwürfe, können die vollenden? Homer undMilton, Vater und Sohn; was meint ihr? – Ach Gott! du allein, Unbegreiflicher, du allein bist vollständig, vollkommen. Alle Erfindungen, so hoch man auch kommt, lehren nur den Menschen, wie weit er noch vom Ziel sey. Die Hauptmenschen in der [344] Welt verdienen nur den Namen Propheten. Sie sagen, was künftig seyn wird.

Es würde die vires haereditatis übersteigen heißen, wenn sich irgend ein Mensch einbilden wollte etwas zu schreiben, wovon er behaupten könnte, es wäre so ganz da, wie er! Ein andres Schöpfer, ein andres Geschöpfe! Niemand kann sagen: er sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war alles sehr gut.

Ein Fragment ist mir aus diesem Gesichtspunkt ein angenehmes Wort. Es ist ein Menschenwerk. Der Mensch selbst kommt sich in dieser Welt nur als ein Fragment vor, so ganz er gleich da ist. Heil ihm, daß er eben von diesem Ganzen schließen kann, daß er selbst sich in allen Rücksichten begreifen, von allen Zipfeln einst fassen werde, in der Fortsetzung seines Lebens, – in der andern Welt!

Das, was meinem Herzen von meinem Leben am meisten aufgefallen, hab' ich mitgetheilt – und was die Zukunft betrifft – was kann mir künftig (beim Licht die Sache genommen) viel mehr begegnen, als der Tod? – und da hoff' ich zu dem, der in mir angefangen hat das gute Werk, er werde es durch seinen heiligen Geist in mir bestätigen und vollführen, bis an diesen meinen jüngsten Tag, auf dieser Welt und in der neuen. – Ein doppelter jüngster Tag! – Sollten sich Umstände ereignen – wer weiß die Geschichte seines morgenden Tages, die eines Protokolls werth wären? – so trag' ich es hiermit meinem beim Publico als Autor eingeschriebenen Sohne Alexander Leopold auf, getreulich alles zu geben, wie er es empfangen hat. – Gott segne dich, lieber Leopold! und deine Mutter für und für! Amen!

Schone mich nicht, mein Sohn, ziehe vielmehr den Vorhang auf, wenn ich mich vor dem Publico geflissentlich in einem andern Lichte darstellte! Schreibe getrost; schone nicht: So war mein Vater nicht, so war er!

[345] Was soll ich von meinem Buche sagen? Wahrlich, es ist nicht ein olympischer Lauf nach einem Zeitungslob! – Ein unverwelktes Erbe war mein Ziel, zu trachten in guten Werken nach dem ewigen Leben, meine Hoffnung!

Ich schrieb den Menschen, oder bemühte mich, ihn zu schreiben. Jeder hat noch ein Aestchen aus dem Paradiese mitgebracht, und jeder hat etwas vom Apfel gegessen! – Die Menschen sind alle auf einen Fuß. Man darf sie nur aus dem gehörigen Gesichtspunkte nehmen, so sind sie als Einer, als Adam. Madam Eva war ja auch in ihm, in seiner Rippe. Solch ein Gesichtspunkt ist vorhanden; ob ich ihn getroffen, sey dem wachhabenden Officier, dem mit einem Achselbande zu Pferde, zu Fuß, von der Leibgarde, von der Garde der Gelehrtenrepublik, anheim gegeben! – Mit den Thorschreibern habe ich mich, wie erwecklich zu lesen, in dem Buche selbst ein Langes und Breites abgegeben.

Freilich ist zwischen Wächtern und Richtern ein Unterschied. Wie wenige verdienen aber den ehrwürdigen Namen Richter? Ein Richteramt ist ein schweres Amt. Nathanael wählte den besten Theil, da er's niederlegte, und wie wenig gibts Nathanaels und solche kunstrichterliche Justizräthe, wie er! Kleine schielende Revisionsknaben die Menge! – Die Herren α, β, γ möchte ich auch ungern darüber sprechen lassen.

Wer in den Charakteren nicht Präcision findet, kann jeden in Person kennen lernen, bis auf die, welche in diesem Buche selig entschlafen sind, und wer meiner Großmutter nachspottet, und mit gerümpfter Nase die Frage aufwirft: wie vielmal Amen in diesem Buche vorkommt? wisse, daß ich ein Liebhaber dieses Wortes bin. Ich liebe nicht Flittern, nicht Schminke, trage keinen Regenschirm, keinen Hermann'schen Glanzkittel. Eine Jahreszeit ist mir so, wie die andere. Alles, was aus Naturhänden kommt, ist Gottes Gabe! Geschmack? Ja freilich hat nicht jeder Lust zu lauter Milch [346] und Kuchen, und zum Stück vom zarten guten Kalbe, diesem Verlornensohnsbraten, obgleich Abraham himmlische Herrschaften damit bewirthete.

Wer nicht zuweilen Himmel und Erde in Eins gefühlt hat, Seele und Leib in einer Person; – wer nicht Muth gehabt, im dicken Walde die heiligem Schauer, aus seinem Grabe herausgestiegen, zu empfinden, und die Stimme der menschenfeindlichen Eiche verstanden: aus mir wird einst dem Sarg geschnitten! muß freilich ganze Bogen dieses Buchs unausstehlich finden. Wer aber dieses Gefühl kennt, das sich nicht untersteht, einen Ausdruck zu wagen, damit ihn nicht ein Bote Gottes ungewählt fände, mit dem gehe ich zusammen. Hebt sich dein Herz, wird dem Busen entzündet, komm in Charlottens Laube, und wo du sonst willst, hier ist meine Hand!

Ein Mensch, der zu empfinden weiß, daß er nicht mehr brauche, als zu leben, daß alle Reichthümer Schätze sind, die Motten und Rost fressen, und wornach die Diebe graben, um sie zu stehlen, erhält eine gewisse edle Art, ein wahres Geniegefühl, das allen hoch- und hochwohlgebornen Zwang verschmäht, sich entsattelt, und den Reiter verachtet, der sich ihm aufbürden will. Das ist ein Genie!

Muttermäler der Sinnlichkeit und Schönpflästerchen sind so unterschieden, als ein unschuldiges, frommes Mädchen und eine Nonne.

Wir verehren nicht gemeine Dinge und versündigen uns oft schwer an ihnen. Was selten ist, gefällt. – Man haßt den, der im Kleinen betrügt. Thut er's im Großen, so finden wir so viel nicht auszusetzen. Das Spiel verlohnt das Licht nicht! – Große Diebe laufen, kleine hängen. Der Beobachter wendet sich nur an kleine Züge, und überläßt gern die Hauptstücke Andern, bloß weil sie mehr ins Auge fallen. Das Gemüth, das Herz schlägt im [347] Winkel an seine Brust, wie der Zöllner, es will durchaus nicht gesehen seyn; allein jeder auch seinen Pharisäer bei sich, der geflissentlich bemüht ist, sich vorzudrängen, wenn man den Menschen malen will.

Gern, gern verzeihe ich allen, die mich trüglich behandelt, mit Lügen und mit falschem Gedicht, durchnotas selectas und variorum. Scire leges, non est verba earum tenere, sed vim et potestatem.

Der, der aller Welt Richter ist und recht richtet, der das rechte Recht spricht, das sich schlafen gelegt hat, weiß den innersten Gedanken meiner Seele und den Rath meines Herzens, Er weiß, wie ich ringe, die Menschen, die sich von ihm entfernt, zu ihm zu sammeln, und wie ich getrost ohne Menschenfurcht gerufen: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, und nach seiner Gerechtigkeit; so wird euch das andere alles zufallen. Vor ihm ist all' mein Begier, mein Seufzen ist ihm nicht verborgen, meine Thränen nicht, für Jerusalem: ach! wenn es bedächte zu dieser seiner Zeit, was zu seinem Frieden dienet, aber noch ist es vor seinen Augen verborgen, und mein Gebet: Dein Reich komme – – das alles weiß der Herzenskündiger!

Und doch hielten viele mein Buch, weil ich mit Zöllnern zu Tische saß, für einen Verführer des Volks. – Ihr, die ihr nur aufs Sichtbare seht und nicht aufs Unsichtbare, obgleich das Sichtbare zeitlich ist, und das Unsichtbare ewig! O ihr, Gottes Augendiener, die ihr Splitter im Nächstenauge seht, und euren Balken nicht bemerkt, was meint ihr wohl von Tugend und Religion, die ich entweiht haben soll? Werdet wie die Kinder, das ist die göttliche Lehre, deren Geist mich trieb, und ihr Pharisäer, die ihr nicht seyd wie andere Leute, Räuber, Abgötter, oder dieses Buch, dieser im Winkel stehende Zöllner, die ihr zwier in der Woche fastet, und gebet dem Armen von allem, was ihr habt, und die ihr dieß [348] alles gerade vor dem Altar laut sagt, glaubt ihr gerechtfertigt in euer Haus zu gehen? – Glaubt ihr, daß der Paukenschall allein gen Himmel reiche, und daß euer Odenwirbel dem ein süßer Geruch sey, der menschlich zu Menschen sprach, und allem was groß ist, Einfalt beilegte? Was schlecht und recht ist, ist ihm angenehm; nicht das Hohe, das sich bäumt und schwillt, nachdem es respective sich bäumen oder schwellen kann.

Ich will euch nicht namentlich darstellen, euch, die ihr Gottes Finger verkanntet, die ihr Steine wider mein Buch aufhobet, und ein Gesicht dabei schnittet, als thätet ihr Gott einen Dienst daran. Unser Herr und Meister schalt nicht wieder, da er gescholten ward, dräute nicht, da er litte, sondern stellte es dem heim, der da recht richtet; indessen konnte er nicht umhin, eine Geißel in die Hand zu nehmen und die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel zu treiben, und das seyd ihr! Ihr, die ihr Gott zu lieben vorgebt, den ihr nicht sehet, und euren Bruder nicht liebt, den ihr sehet. Ihr, die ihr einen Menschen, schnöden Gewinnstes, gallsüchtigen Neides halber, verfolgt, der dieLebensläufe in aufsteigender Linie schreibt, und am Sonntage Aehren ißt, wenn ihn hungert, auch, wenn ihm Gelegenheit gegeben würde, einen jeden Esel aus dem Brunnen ziehen würde am Sabbath – was habe ich euch gethan? Habe ich je einen Pharisäer und einen Sadducäer namentlich genannt? Habe ich nicht vom Laster geredet, wenn ich den Lasterhaften meinte? Mit dem einzigen Voltaire habe ich namentlich ein Gespötte getrieben, und ich versichre es euch auf Ehre, daß es mir leid thut, obgleich er gewiß den ersten Theil meines Lebenslaufs nicht gelesen hat, und also unmöglich daran gestorben seyn kann.

Fragt meine Eltern, Vater und Mutter, die alle in der Erde liegen und schlafen, ob ich sie nicht geliebt habe bis in den Tod; fragt dieß Buch; wenn gleich es die Wahrheit geschrieben, hat es [349] darum nicht Vater und Mutter geehrt? – Wahrlich, des vierten Gebots halber wird es ihm wohlgehen, und es wird lange leben auf Erden, und selbst, wenn es gekreuzigt würde, wird es auferstehen.

Entweder die Religion muß alles tingiren, oder es ist gar keine. Ist denn Gott nicht überall? Und glaubt ihr, Leutbetrüger, Gott sey wie ein Mensch, den ihr mit einem Gesichte voll Ergebenheit, wenn gleich das Herz fern von ihm ist, hinters Acht führen könnt? Mit gutem Herzen zu sagen: Es ist kein Gott – aus Tyrus und Sidon seyn, ist besser, als Gott heucheln, wie des Hiobs Freunde!

Willst du erlauben, lieber Herr α, daß ich dich ganz deutlich ins Gesicht frage: Verstehst du auch, was du liesest? Wenn meine Mutter nicht eine Originalchristin ist, möchte ich sagen, gibts kein Christenthum!

Biblische Worte und Wendungen. Ist denn die Bibel nicht werth, daß man ihr nachspricht? Fehlt es ihr wo an Lebensart, daß man sie nicht in Gesellschaft nehmen darf? Und die wohlgemeinte lutherische Uebersetzung, kommt sie nicht von Herzen und geht sie nicht zu Herzen? Wir haben schon anders den Grundtext, und wer steht uns dafür, daß Man Luthers Bibelübersetzung in der christlichen hochdeutschen Gemeine nicht verbietet; wird sie aber darum das Kindliche verlieren? Und haben nicht selbst einige dieser neuen Uebersetzer Luthers Stern und Kern, wie meine Mutter sagen würde, im Segen benutzet? Von einigen Stellen sollte man fast glauben, Christus, der Herr, würde solch Deutsch geredet haben, wenn er diese Sprache bei seiner Amtswanderschaft auf Erden gefunden.

Ist die Bibelsprache zu erhaben? zu heilig? Sollen wir denn nicht heilig seyn, wie Gott der Herr? und sind wir nicht seine Kinder? Nimmt denn Gott der Herr es übel, wenn wir in Liebe und Einfalt uns ihm auf den Schooß setzen? Kann ich mit ihm [350] umgehen wie die lieben Kinder mit ihrem lieben Vater, warum denn die affektirte Ehrerbietung gegen ein in schwarz Corduan gebundenes Buch mit goldnem Schnitt? Wo ist ein, selbst der Natur mehr nahekommendes Werk, das so sehr unter Menschen von allerlei Art bekannt ist? Kennen denn alle den Homer, welche die Bibel kennen? Und wo ist mehr wohlthätige Volksphilosopie, kindlich größere Natur, als in der Bibel? Prüft doch die Leute näher, welche die Bibel und eigentlich nicht sie, sondern das Kleid der Bibel, wie Schaubrode, wie Religion, behandeln. Der Mann da mit der frommen Miene besitzt sieben Hufen Nabotsacker, und jene Betschwester hat jedwedes Mitglied ihres Hofstaats mit einer Narbe beehrt, welche freilich eine heilige Wunde zurückgelassen; indessen war es doch Wunde, und ist doch Narbe. Sie wirft jedem, was ihr zu nahe kommt, mit der Bibel an den Kopf, der sie nachher das Blut abwascht und der sie mit einem Kuß abbittet. Judas, verräthst du des Menschen Sohn mit einem Kuß?

Was macht die Ungnädige? fragte ich jüngst, und der ehrwürdige Beichtvater antwortete: Sie geht herum nach 1 Petri 5. V. 8. Und diesen silberharigen Greis, diesen Mann Gottes, sollte ich seines 1 Petri 5. V. 8. wegen ansehen, wie Cain seinen Bruder Abel? weil er nicht, wie seine Amtsbrüder, am Wort und an der Lehre hält, weil er nicht mit jedem von und jedem und Abgötterei treibt, das in der Bibel steht? An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Du sollst nicht andere Götter haben neben mir, spricht der Herr, und aus diesem Herrn ist unser Vater worden, nach dem Unterricht des, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was durch Uebelverstand verloren war. Ich habe nichts dagegen, wenn Nathanael sich in den Pandekten den Titel de verborum significationibus bekannt macht; was ist aber Bild und Ueberschrift, wenn Barren da sind?

Mein Name? Was thut denn der zur Sache? Muß man [351] durchaus in Kupfer gestochen seyn, wenn man ein Autor ist? Und muß der Herr Kunstrichter, um sein Müthchen zu kühlen, noch den von Angesicht zu Angesicht kennen, den er mit Lob oder Tadel mißhandeln will? Du sollst keine Person ansehen noch Geschenke nehmen! Geschenke machen selbst die Weisen blind und verkehren die Sachen der Gerechten. Was recht ist, dem sollst du nachjagen. Kannst du denn nicht loben, Elender, als ins Gesicht? Der Name? Bin ich denn anders, seitdem ich Alexander war und russischer Major ward? seitdem mir mein Vater mit dem einen Buchstab ein Geschenk machte, und da ich dieß Geschenk noch nicht hatte? Alles auf Worte, auf Buchstaben! Kommt's denn in dieser Welt auf etwas mehr, als Grundsätze an? Gibt's nicht eine unsichtbare Kirche, für welche ich allemal viel Achtung gehabt? Freunde? – Auch euch nenn' ich' so, die ihr mir flucht und nachschmäht – es gibt sichtbare und unsichtbare Kirche, streitende und, Heil mir! triumphirende Kirche! – – –

Seht! ich hab' es dazu nicht angelegt, daß diese Schrift per honore di lettera aufgenommen werde!

Nur drei wissen meinen Namen, und Einer ist's, an den ich dieses Buch geschrieben habe! – Eine lange Epistel! Den andern beiden hab' ich meinen Namen ins Ohr gesagt, einem ins rechte, einem ins linke Was das angenehm ist, so manchen Schuster hinter dem Vorhange zu hören, der über seinen Leisten hinwegurtheilt und den ein Schneider verbessert, und mit dem ein Hutmacher das Garaus macht, da der Dummkopf sich sogar bis an den Kopf gewagt – Hut, wollt' ich sagen! Beim Leisten, Meister! beim Leisten!

Ich trinke lieber mit meiner lieben Mine und meinem Leopold frische Milch, als daß ich einem literarischen Reisenden zu Anekdoten und zu einer Sünde mehr wider den heiligen Geist Gelegenheit geben sollte!

[352] Christus der Herr verbot seinen Jüngern alles Studiren: Es wird euch zu der Zeit schon alles gegeben werden! Dieß ist eine Regel, die mit goldnen Buchstaben angezeichnet zu werden verdiente, über alle Bibliotheken in der Welt! – Ueber alle Autortische!

Es ist sehr natürlich, daß man sich wundern werde, wie ich. selbst nicht an Stelle und Ort bekannt worden, und bis jetzt allen feurigen Pfeilen der Bösewichter, auch der im Dunkeln schleichenden Anekdotensucht, so ritterlich entgangen.

Obgleich ich nun eben nicht nöthig hätte, eine Polemik, ehe mir dazu Gelegenheit gegeben wird, diesem thetischen Werke anzuhängen, und eher zu antworten als ich so naseweise gefragt worden; so habe ich lieber so viel Anstoßsteine, als ich nur sehen konnte, wegzuräumen, als sie im Wege zu lassen mir in dem Herrn vorgesetzet.

Wisse also, Opponens doctissime! daß Mitau zwar nur sieben Meilen von Riga liegt; allein diese sieben Meilen sind in Absicht der Sitten und Gebräuche nicht sieben, sondern siebenzigmal sieben. Es ist zwischen beiden Städten eine so große Kluft befestigt, daß die da wollten, konnten nicht. Wer liest in Curland? Wahrlich wenig sind, die diesen schmalen Weg finden. – Herr v. G. ist todt! Also hätte ich mir Curland mit leichter Mühe vom Halse geschafft.

An Ort und Stelle habe ich dreien braven Leuten, wie oben bereits gesagt worden (der Organist in L. würde sagen, dreien getreuen Nachbarn und deßgleichen), das Geheimniß entdecken müssen. Die guten Herren lasen, und schon beim dritten Blatte des ersten Theils waren sie mir so zu Dache, wie der Inspektor es nur immer seyn konnte. Das sind Sie ja mit Leib und Seele! Nun ja doch! Ich bins! Allein für jeden nicht! – Was braucht ein Vierter und Fünfter den Ringschlüssel zu tragen, und warum soll ich jedem Gecken erlauben, in meinem Hause gemächlich zu thun? Kann ich denn nicht auch, wie Herr v. G. der Selige, auf meinen [353] Degen schlagen, wenn der Krippenritter nach dem Schlüssel zum Gastzimmer und Stall fragt?

Behalte es bei dir! du mir liebes Triumvirat! bei dir! und wenn der – – mit dem rothen Bart, her immer Wasser auf seine Mühle sucht, seine Nase in euren theuren Rath (denn guter Rath ist theuer!) steckt, schlagt dem Bengel, der mir schon so oft gallenbittere Stunden gemacht, auf seine unbedeutende, herausgegohrene Nase, damit er das Stecken in anderer Leute Händel aufgebe und seine eigene Haustafel lerne, wo Rechenmeister, nur er nicht, wie am Pasquin, mit dürren Worten gelten haben: Land- und Leutebetrüger! O du Mückensauger, Kameelverschlucker! Lederdieb, um ein Paar Pantoffeln zu fertigen, das du dem Bettler gibst, wenn er nämlich eine Rohrdommelstimme hat und in allen Straßen singen kann:

Es ist das Heil uns kommen her!

Ich kenne dich – – mit deinen Klauen kenne ich dich, Raubvogel! und könnte ich diese Klauen einem klugen Physiognomisten in copia vidimata senden, er würde ex ungue nicht leonem, sondern – – kennen, und sie zur Warnungsanzeige drucken lassen, allen, die Gottes Finger und Menschenfinger kennen. Du, ein ärgerer falscher Zeuge, als Johann Peter Beifuß und Martin Jakob Kegler, um du! bist mein Alexander Schmidt, der dem ehrlichen Petrus viel Herzeleid zufügte und seinen Werken und Worten oft widerstand! Gott vergelte dir nicht nach deinen Werken, sondern schenke, wenn's möglich ist, dir schwarzes Haar im Bart, und statt der Nebucadnezarnägel menschliche – wenn es seinem heiligen und allezeit guten Willen nicht zuwider ist.

Gott weiß am besten, mit welchem schweren beklommenen Herzen ich dieses Buch geschrieben! Menschentreffer werden es ohne Wegweiser finden, und ich sollte noch obenein mir von diesem oder jenem Weibe, wenn ich in erlaubter Entfernung am Kaminfeuer [354] stehe und mich wärme, ins Gesicht sagen lassen: warest du nicht Einer? – –

Deine Sprache verräth dich! Ich mag nicht klätschern am Kaminfeuer, Rede stehen und Gecken das Verständniß öffnen, daß sie die Schrift verstehen. Hören sie Mosen und die Propheten nicht, so werden sie nicht glauben, wenn einer von den Todten auferstünde und das Reich Gottes predigte, welches nicht bestehet in Essen und Trinken, sondern in Liebe und Freude im heiligen Geist! – Kann wohl auch der Geduldigste die so boshafte Art, womit man Köpfen begegnet, ertragen? Kann er, wenn sein Name in allen Landen bekannt ist, einem Melchisedechs-Spottworte in seinem Lebenscirkel ausweichen? Gern sehe ich Wahrheit sich mit Kritik herausfordern; allein nicht pöbelhaft balgen!

Ein Burschenvivat oder Pereat ist nicht für mich. Ich verbitte beides! Und wer kann beidem entgehen, wenn man weiß, wo ich des Abends Licht brenne? Wenn nun an auch jetzt ein verzogener ungenannter Bube, der auf der Landstraße die Vorbeigehenden mit Schneebällen wirft, die er alle in seiner Hand gedrückt und gedrängt hat, eins auf mich abfeuert, laßt ihn doch, diesen Prophetenknaben, ohne ihm die Ruthe zu geben! Er ist zu petulant, um von ihm sagen zu können: Der Herr hat's ihm geheißen! Ist's doch auf der Landstraße, wo man mich auch nicht kennt. Ich sollte! – Nein! Das Bübchen wird seinen Schulmeister schon finden und das Birkenreis, wäre es auch ein Revisor!

Was willst denn du mit den kleinen Steinen? Könntest du sie schleudern wie David, und wäre eine Goliathstirn dir zu Diensten, so wär's eine Sache! – David hob anders seine kleinen Steine, wie du; und alle ihr! die ihr voll Wuth das Straßenpflaster zerstört und Steine nehmet, mich steinreich pöbelhaft zu überfallen, steinigt! Wißt, ich sehe den Himmel offen, und einen, der meinen Geist aufnimmt! Grabt mir Gruben! Ich singe mit meiner Mutter:


[355]

Wenn wir geschlafen haben,

Wird uns erwecken Gott. –


Und mit meinem Vater aus seinem Lieblingsliede, wo er zuerst den zweiten Discant anstimmte:

So ging's den lieben Alten! –


Ich werde nicht sterben, sondern leben bleiben – –

Nur dann, wenn das Wasser gerädert wird, wenn man es aufhält, macht's ein Geschrei. Was thue ich euch?

Roman?

Und wenn es denn einer wäre! Freilich bekam es dem guten Bischof Heliodorus nicht sonderlich, daß er in seiner Jugend einen Roman geschrieben, der noch unter dem Namen Aethiopica, wenn nicht blüht, so doch vorhanden ist. – Seine Herren Amtsbrüder sahen, daß sich junge Leute diesen Roman kauften und verlangten, daß der Bischof entweder diesen Roman öffentlich wie einen Sodomiten verbrennen oder seine Mütze abnehmen sollte. Der Schriftsteller ließ die Mütze fahren. – Gott sey gelobt! Ein Bischofthum habe ich nicht zu verlieren, und wer es genau nimmt, wird finden, daß alles in der Welt Roman sey. Hat je ein großer Herr das gemeine Leben, so wie es da gemein ist, gesehen? Wer kennt die Stadt, den Berg, das Thal aus der Beschreibung, wenn er an Stelle und Ort kommt? Curtius hat es nur ein klein wenig zu grob gemacht; welch ein Geschichtschreiber indessen hat ihn nicht in der Schule übersetzt? Man behauptete zu seiner Zeit: Philipp III, König von Spanien, sey Autor des Don Quixote, und Cervantes habe nur Hebammendienste verrichtet und den Druck besorgt. – Wäre mein Buch also ein Roman, warum sollte ich es zurückhalten? Was Philipp III, Könige von Spanien, anstand, kann sich ja wohl ein Major mit einem abgeänderten Buchstaben im Namen gefallen lassen!

[356] Seht ihr aber, ihr Romanhelden! seht ihr nicht in meinem Buche das gemeine Leben? Ist der Geist wahr, wie er denn wahr und wahrhaftig ist, was kümmert euch der Leib? Ein König von England sagte über einen Betrunkenen, der sich Freiheiten gegen ihn herausnahm, die den übrigen, die zu Tische saßen, nicht wohlgefielen: Laßt ihn! ein Betrunkener ist mein College! Wer geizig ist, um zur rechten Zeit drauf gehen zu lassen, kann der geizig heißen? und wer seine Zinsen verzehrt, ohne den Hauptstuhl anzugreifen, ist das ein Verschwender? Wo Holz gehauen wird, fallen Späne! Sparpfennige sind wie gute Feueranstalten, um gleich zu löschen, wenn es brennt!

Ich fühle es, Freunde! Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, forthin ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, nicht allein aber mir, sondern allen, welche die Erscheinung, welche den Advent des Reichs Gottes lieb haben! – – Komm, du schöne Freudenkrone!

Der zeitlichen Ehre will ich gern entbehren! – Du wollest mir nur die ewige gewähren, und wenn ich mir noch etwas zur Gefälligkeit erbitten darf, zeichnet mein Buch nicht durch Falten; könnt ihr nicht ohne Merkmal finden, wo ihr geblieben, nehmt Denkzettel! Solltet ihr euch aber auch nicht ohne die behelfen können? Ich habe keinen Sand auf das Manuscript gestreut, es ist durchweg durch die Sonne getrocknet! Und solltet ihr nicht ohne Zeichen lesen können?

Gott grüße euch! lieben Leser und Leserinnen! und lasse es euch nie mangeln an irgend einem Gute, das heißt: Er lasse es euch selbst erkennen, wie wenig der Mensch braucht, um alles zu haben!

Wenn ich zum vierten und fünften Theil schreite, sehen wir uns wieder. Ist's gleich nicht so nahe, sehen wir uns doch. – [357] Da kommts nur aufs Auge an. So wie ich meinen Tod wünsche, so plötzlich nehme ich Abschied. Lebt wohl!

Geschrieben zu – l –

Von Tr – – 1


Aus! Alles aus! Amen! Amen! Auf ewig lebt wohl, lieben Leser. Mein Leopold ist hin! – Sanft und selig ehegestern, den sechsundzwanzigsten März, des Abends um sieben Uhr. – – Bis heute konnt' ich kein Wort, und heute, was werd' ich können? Wenig oder gar nichts! Wie ruhig Pold starb! – Es war ein lieber, lieber Junge, einen Himmelszug um die Augen, welcher laut lehrte, Pold sey nicht von dieser Welt, sondern von jener! Fass' dich, armes liebes Weib! Wir werden alle sterben! Gott gebe, sanft und selig, wie Pold uns vorstarb! Kinder, die den Eltern gar nicht ähnlich sind, sind Gottes Bild, gehören ihm; Pold glich weder meinem Weibe, noch mir. Er ruhe wohl! wohl! – –

Geschrieben den neun und zwanzigsten, eben da es sieben schlägt. Polds Sterbestunde!

Mein Pold ist beerdigt, und ich bin gefaßter, als den neunundzwanzigsten um sieben Uhr Abends. Ich hoffe, daß ich Kraft haben werde, etwas von ihm zu schreiben. Nur eine Handvoll! – Ich hab' ihn in dieses Historienbuch einschreiben lassen; laßt mich, lieber Leser, laßt mich ihn ausstreichen! Mit ihm ist mein Stamm hin. Er war uns ein sehr theurer Sohn, ihr wißt wie! Daß er wie Clodius Albinus zur Welt gekommen, hab' ich gleich zu Anfange dieses Werkes gesagt. – Seine Geburt machte ihn aber zum Einzigen, zum Einzigmöglichen. Das arme Weib! Ich wählte die Mutter; Gott ließ mir den Isaak und sie zugleich. Gott! Er lieh mir den Isaak! Vollbracht! – Herr, wie du willst, dein Wille geschehe!

[358] Ihr gutherzig Rachsüchtigen! ihr Edelgestrenge, die ihr im Herzen darüber aufwallt, daß ich nach Minen der ersten, Minen die zweite lieben konnte, habt ihr denn Minens Testament vergessen, – den Beschwur vor und nach Gott, und das: So wahr dir mein Andenken lieb ist? Eben geht nur eine Stelle auf in Minens Testament. – Da ist sie:

Wenn dir ein Sohn stirbt, – schreckliche Ahnung! – sey er mein in der andern Welt! Ich will mich mit ihm verbinden und deine himmlische Schwiegertochter werden, ha kommen dir dann und deinem künftigen Weibe entgegen ich, meine Mutter, dein Sohn, und lehren dich in der Stadt Gottes die Häuser kennen. Hallelujah! Hallelujah! Amen!

Erfüllt! Aber, Mine, ich habe nur den Einzigen, kann nur einen Einzigen haben! Nimm ihn hin! Gott, dein Wille ist geschehen!

Ich habe geendigt! Mein schriftlicher Lebenslauf ist zum Ende! Auch ich bin es; ich bin auch zu Ende! Mein Weib zu Ende! Alles! Amen! Amen!

Ich kann nicht weiter, – so gern ich meinem Leopold parentirte. Es ist spät! Spät oder früh! Ich schlafe keine Minute diese Nacht!

Des Abends um eilf –

Da ich heute den Tag, des Morgens um sechs Uhr, lese, was ich ehegestern, des Abends um eilf Uhr, geschrieben, find' ich schon der Parentation Anfang, Der liebe Junge! so gern wollt' er ins Buch! Komm herein, du Gesegneter des Herrn, warum stehst du draußen? Deine Wünsche sollen erfüllt werden; die meinen bleiben unerfüllt. Ich wollte, daß du meinen Lebenslauf ergänzen, und wenn zwischen jetzt und meiner Sterbestunde sich noch ein Fall ereignete, der werth wäre in einem Postscript aufbewahrt zu werden, daß du ihn verzeichnen möchtest. Ich trug du eine Durchsicht [359] auf, so wie du sie vor deinem Gewissen zu verantworten gedächtest. – Du bist vollendet! Du bist bei Minen! – Da ruft deine Mutter, deren Schmerz lange stumm war, so, daß dieß Ansichhalten meine Seele betrübte: »Süßer Mondstrahl! Kommst du von Minen, kommst du von Pold? O bringe mich, bringe mich zu meinen Lieben! – Hinauf, hinaufleuchte mich, wenn diese Augen brechen. Dort oben, wo Ruhe ist!«

Wie bald ist's mit unsern Vergnügungen geschehen! Schnell, wie der Schnee auf der Straße, schmelzen sie weg und ihre Stätte ist nicht mehr! – Diese Welt ist erster Wurf! Man sieht den Meister; allein es bedarf Ausarbeitung. Dieß sind allgemein verlautbare Klagen, die, nachdem das Blut aufschlägt, oder wieder fällt, angestellt werden. Es gibt ein besonderes Licht, wenn die Nacht sich mit dem fernen Sternenlicht kreuzt. Das ist das treue Bild unseres Wissens, unseres Weissagens und unserer Hoffnung, welches die göttlichen Kabinetsbriefe, geschrieben auf Gottes allergnädigsten Specialbefehl, durch Männer, getrieben vom heiligen Geist, uns ertheilen. Dieß ist das Sehen durch einen Spiegel in einen dunkeln Ort. – Das Regale der Vernunft ist zu zweifeln; der geoffenbarten Kinderlehre zu glauben. Gott helfe meiner Schwachheit! Amen!

Pold war nicht kindisch, sondern kindlich. Ein paar Worte, bei denen meine Mutter einen himmelweiten Unterschied fand.

Es war ein lieber, sehr lieber Junge. Weiß und roth, Lilien und Rosen! Oft in Gedanken! Was hast du kleiner Mensch zu denken? Statt einer Antwort lächelt er.

Homer und Milton und all' ihr Menschenleser! – ihr seyd alle zu früh gestorben, denn ihr habt keine Fibel geschrieben! Wie sehr ich dieß Werk bei meinem Pold vermißt, ist unaussprechlich. Welch ein großer Geist wird einst die Kindlein zu sich kommen lassen und sie nicht zu klein finden, denn ihrer ist das [360] Reich Gottes! – In solche Schulen zu gehen würde so viel heißen, als eine Promenade ins Paradies machen. Jetzt haben sich auch hier Staatsgrundsätze eingeschlichen, und jedes Kind wird jetzt schon an eine Kette gelegt, als ein beißiger Hund.

Mensch, ist denn dieß das Reich Gottes? Wahrlich! ich sage euch, wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich Gottes eingehen!

Etwas von Aehnlichkeit haben die Kinder auch von unmittelbaren Eltern. Dieser Aehnlichkeitsflecken ist oft sehr versteckt. Mein Vater fand ihn sehr öfters in den Nägeln an den Fingern. – Die Probe dürfte meistentheils richtig seyn.

Gottlob! daß ich Polden nicht ins Treibhaus gebracht! Was hätt' es ihm geholfen, wenn er zu decliniren und zu conjugiren gewußt? Er ist zeitig reif worden, sagt meine Mine! Er wird es werden, meine Liebe!

Gedankenwerk ist Fachwerk – Bildung der Vernunft ist eigentliche Erziehung und Seelenbeschäftigung. Mein Vater hatte die Gewohnheit, über den: Kyrie eleison! auszurufen, der nicht griechisch verstand. Warum, lieber Vater? Er gab, so klein ich war, alle Tage ein griechisch Wort zur Parole aus.

Warum, lieber Vater? Wenn Plato nichts anders als griechisch weiß, kann mein Pold kein Wort mit ihm wechseln. Gewiß wird er nicht beim Griechischen geblieben seyn! – Mein Vater sagte, die hebräische Sprache sey die metaphysische, die deutsche die philosophische im allgemeinen Sinne; die französische die witzige, die englische die dichterische! Die englische die Genie-, die französische die Geschmackssprache!

Ich überließ Polden, wo ich nur wußt' und konnte, der Natur und entfernte ihn so wenig von den Kindern gemeiner Leute, daß ich ihn vielmehr in ihre Art kleidete. Sein Anzug war nur durch innern Werth, auf den kein Kind sieht, unterschieden. –

[361] Warum wie ein Holländer, wie ein Engländer, wenn man in Liefland wohnt?


* * *


Heraus schrie Pold einmal, da mein Schwiegervater kam, und alle Jungens traten ins Gewehr. Wie hoch dieß Herr v. W. aufnahm, kann ich nicht aussprechen!

Seine Mutter hatte ihm unfehlbar gelehrt, den Bohnen nachzuhelfen, und sie von den allerersten Blättern, die sobald gelb werden, zu befreien; das war sein Leben! – Meine Frau nannte dieß den Bohnen die Kinderschuhe ausziehen. – Meine beiden Minen mochten so gern der Natur einen Liebesdienst erweisen und ihr hülfreiche Hand leisten. – Sie konnten nicht einmal eine Pflanze leiden sehen.

Besonders! Pold selbst pflanzte nicht, durchaus nicht. Warum das, Pold? »Es könnte ja ausgehen!« Guter Junge! du bist nicht ausgegangen.

Ein Kind muß in seinem irdischen Vater den himmlischen Vater kennen lernen; in seiner Mutter seine künftige Geliebte, in andern Menschen sich selbst. – Die Mutter hatte unserm Pold kein: das Walt, kein: aller Augen gelehrt; so wie er mit mir sprach, betete er auch.

Er war sehr geneigt, für sich zu seyn. – Oft hab' ich ihn laut redend mit sich selbst gefunden. Alle fleißige Beter sind Selbstsprecher! Hat dir der liebe Gott schon einen guten Morgen gewünscht? hieß an einem schönen Frühlingsmorgen: Hast du schon die Sonne scheinen gesehen? – Der liebe Kleine sprach des Morgens und des Abends vor Tisch und nach Tisch so einfältig rührend mit dem lieben Gott, als ein liebes Kind mit dem lieben Vater.

Einen guten Mittag, da er noch jünger war, trat er hin nach Tisch und sprach: Ich danke dir, lieber Gott, für die schöne Kräu tersuppe und den Braten und den Kuchen! [362] Kuchen nicht! Gestern hatten wir Kuchen, und gestern hab' ich auch dafür gedankt!

Die Mutter wollte haben daß er die Hände unter die Decke beim Schlafen legen sollte; allein er schlief nie anders, als die Hände frei und über der Decke.

Aus Händefalten war er schwer zu bringen! Er hatte einen Gefangenen an Händen geschlossen gesehen. Sind wir denn des lieben Gottes Gefangene, sagte er, daß ich die Hände schließen soll? Wir sollen beten und arbeiten, sagte ihm die Mutter, darum zeigen wir dem lieben Gott die Hände. Das gute Weib hatte diese Erklärung freilich nicht selbst erfunden. Sie war für Polden beruhigend; er faltete die Hände. – Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brod essen, ist das beste Recept für alle Krankheiten.

Wie ich noch ein kleines Mädchen war, sagte der Kleine bei einer Erzählung, und meinte die Zeit, da er noch im langen Rocke gegangen.

Die Mutter ließ ihn nur acht Stunden schlafen. So lange soll er schlafen bis er acht Jahr ist, und nach der Zeit sieben Stunden. Sie hat Recht, daß man eben sowohl zu viel essen, als zu viel schlafen kann.

Einen Tag kam ich vom Felde, und Pold hatte das Bild der seligen Mine mit den ersten Blumen so bekränzt, wie eine Braut, sagte der Kleine, und sprang herum.

Die Geselligkeit ist nicht die Folge einer aufgeklärten Vernunft. Je klüger der Mensch, je weniger theilnehmend, je weniger gesellig ist er. Je mehr Cultur, je kleiner der Wirkungskreis! Es scheint, ein vernünftiger Mensch bilde sich ein, er sey so stark an Leibeskräften, als an Verstandesvermögen, und braucht keiner Gesellen!

Das schwerste ist, den Kindern einen Eindruck von Gott machen, ohne ihnen Gott zeigen zu können. Mit Gott in Gemeinschaft treten, ohne ihn zu sehen, ist schwer, und doch stehen [363] wir uns selbst im Licht, wenn wir gewisse Begriffe nicht in der Jugend gründen, und allmählich einen Damm von dieser zur künftigen Welt schütten, die unsichtbar ist, wie Gott der Herr.

Meine selige Mutter hielt viel auf eine Lade. Jedes im Hause hatte seine Lade. Ich auch die meinige. Mein Vater lachte darüber. Sie hatte dabei die Bundeslade in Gedanken. Schon das Wort war ihr heilig. Pold mußte nichts verschließen. Was hat denn Gott der Herr verschlossen, das wir brauchen?

Mein Vater pflegte zu sagen: Es wären fünf Wünschperioden beim Menschen:

Erstlich, Beinkleider.

Zweitens, Taschenuhr.

Drittens, Mädchen.

Viertens, Vermögen.

Fünftens Landgut! – Die fünfte Zahl, setzte er hinzu, ist bei dem Menschen nicht zu verachten, es ist die Körperzahl.

Meine liebe Mine, der das meiste auf diesem Blatte zugehört, will noch etwas mehr angefügt haben. Gern, liebes Weib!

Wie er klein war, sagte sie, ließ ich ihn so lange schreien, bis er aufhörte, ohne ihn zu herzen und zu küssen. Nie hat er in einer Wiege gelegen.

Da ging ich mit ihm spazieren nach dem Berge, wo die Bäume so stehen, als stiegen sie den Berg hinauf. Es war ein schöner Abend! Pold sagte: wie die Engel auf Jakobs Leiter!

Pold aß nicht süße Früchte; saure waren für ihn!

Da sah er einen Ast an dem Birnbaum geknickt, und nahm sein Strumpfband und band ihn an.

Liebes Weib! Wem kann das alles behagen?

Nur noch, wie er starb.

Meinethalben! Herzlich gern!

[364] Ich (mein liebes Weib nämlich) erzählte ihm viel von der seligen Mine, an die ich ihm, wie an eine Verwandtin unseres Hauses, eine Empfehlung gab.

Du wirst sie dort finden – sie wird dich aufsuchen. Auch sagte ich ihm, daß er keinen Bruder, keine Schwester mehr haben würde! Warum, liebe Mutter? Unser Nachbar und seine Frau haben sieben Söhne. Wir keinen, mein Kind! wenn du todt bist, keinen! Sag es Minen in meinem Namen, keinen! Auch in Vaters Namen? fragte Pold. – Ich stand an über diese Frage. Ja! erwiederte ich, auch in Vaters Namen! Hab' ich zu viel gesagt? Nein! liebes Weib, auch in meinem Namen! – Meine Mutter hatte nur mich! – Gottlob! daß sie dich behielt! sagt und schreibt Mine.


* * *


Mine wollte, daß ich Polden nach preußischer Manier begraben lassen sollte; allein ich thats nicht, sondern ließ ihn einen Morgen bei Sonnenaufgang begraben. Ich begleitete ihn mit einem meiner Freunde, den ich an diesen Ort bestimmt hatte. Sie weiß, wo er ruht, und noch heut hat sie Mutterthränen auf sein Grab geweint. – Weine nicht, Mine! – Weine nicht!

Gott, was ist das Leben?

Eben eine Antwort von unserer Mutter und ihrem Gemahl. Sehr verschiedenen Inhalts.

Zwar auch er scheint den Fall zu Herzen zu nehmen, der ihm so viel Gelegenheiten zu Freudenfesten genommen. Da er ihm aber doch ein Trauerfest verleiht, scheint er sich zu finden. Complimente machen kalt. Man löst sich ganz in Worten auf, und in abgemessenen Verstummungen. Wer es zu Worten bringt, ist getröstet: so wie ich es jetzt unendlich mehr bin, als zuvor. – – Ein Complimentist ist ein Klugredner! Meine liebe Mutter, Gott, was hat sie gelitten! Das Wort Sohn! gilt sonst nicht um die [365] Hälfte so viel bei der Großmutter, als der Mutter. Die Großmutter rechnet auf seinen Schutz nicht. – Pold aber war das einzige Großkind, und seine Großmutter war die Frau v. W. Soll ich aufhören, Großmutter zu seyn? schreibt sie und ringt die Hände; schriftlich ringt sie die Hände. Es ist ihrethalben zu fürchten – Isaak! der Eineinzige! – Ei du frommer und getreuer Knecht, schreibt die gewesene Großmutter, du bist über wenig treu gewesen; ich will dich über viel setzen! Diese Worte, so anstößig sie wegen des Knechts scheinen, beruhigen mich doch auf eine unbeschreibliche Art; ich fand sie so treffend. – Beim Trost muß man jede Gelegenheit benutzen, die ohnedem immer wie eine Sibylle ihre Waare ausbietet. Wer nicht zugreift, verliert die Hälfte davon und muß die andere Hälfte doppelt bezahlen.

Da der Mensch immer leidet, so hat auch Gott der Herr dafür gesorgt, daß er auf trostergiebigem Boden wandelt. – Der Trost hält Stich, wenn man alle zerstreute Züge in einem Brennpunkt zu vereinigen sucht. Er ist wie die Schönheit, die häßlich wird, sobald man sie zergliedert. Das dressirteste Pferd stolpert unter einem schlechten Reiter, und auch den härtesten Stein weiß der Künstler so weich darzustellen, so warm zu machen, daß man glaubt, es sey Blut in ihm.

Liebe Mutter! liebes Weib! faßt euch! wir werden zu ihm kommen! – Seht nicht auf die Person, sondern auf die Sache, und dann blickt euch um! Gehts anders in der Welt? Sind wir die Einzigen, die einen Pold verloren haben?

Beim Sonnenlicht besehen, was hat die ganze weite Welt, so lange der Mensch noch nicht auf seine eigene Hand lebt? Ohne durchs Schlüsselloch Entdeckungen zu machen, fragt den besternten Hofmann, wenn er des Tages Last und Hitze getragen, und gekrümmt nach Hause kommt, ob alles Gold sey, was man für Gold ausgibt? Der Würgengel geht keine Thür vorbei. Er hat [366] den Auftrag, sich überall an der Erstgeburt, am Markt des Lebens zu halten. – Vielleicht ist es noch am besten, den Exorcismus gebrauchen, den allgemeinen Klagen und allen Uebeln des Lebens durch eine Tollkühnheit widerstehen, den lieben Gott zu Gevatter bitten und Krippenreiten. Als ob die Spekulation etwas anderes wäre, als wenn ein Gevatterstand, den man dem lieben Gott ansinnt! – Wahrlich ein Krippenritt!

L. 3. Inst. quibus ex caus. manum. non lic. saepe de facultatibus suis amplius, quam in his est, sperant homines! – Laßt sie doch, die armen Menschen, wenn sie sich durch Selbstbetrug weiter bringen können; – ob so, oder anders!

Ehemals wirkte das Bewußtseyn der Mühseligkeiten dieses Lebens den Entschluß, der Welt zu entsagen, welcher noch bis jetzt in einer Kirche, wiewohl nur in den meisten Fällen pro forma, Stich gehalten, bei mir wirkt er das Gegentheil. Nachdem ich mich anders bedacht, fand ich mein Zoar, meine Bücherstube, der Lage nicht angemessen, in die ich versetzt war. Gibt es denn mit Zoars und Sodoms und Gomorras in der Welt? – So wie die Welt jetzt ist, was meint ihr? scheint sie uns nicht noch am allererträglichsten, wenn wir näher auf sie zugehen, und durch Wandel ohne Krümme ihr ein Beispiel zeigen, nachzufolgen unsern Fußstapfen?

Studium, wenn es Trost des Lebens seyn soll, kann nicht in einem platonischen optischen Kasten, oder in einer bessern Melodie auf den nämlichen alten Text bestehen. Und ist die Spekulation etwas anderes? Laßt euch doch nicht durch den Schall bethören! Der Text ist immer derselbe. Die Stoiker ließen sich, ihrer Philosophie unbeschadet, zu Weltgeschäften brauchen.

Christus war nur vierzig Tage und vierzig Nachts in einer Wüste, und nie wagte sich der Satan an den Heiligen als eben hier! Fleisch und Blut ist in der Einsamkeit so laut, als es die Thorheit in der Welt ist. – Wer kann mit Spekulation und wer [367] mit Weisheit zu Ende kommen? Mit Geschäften aber kommt man zum Ende. Und welch eine Freude, zum Ende zu kommen! Wer sich selbst Arbeiten auflegt, dispensirt sich auch selbst, färbt, ehe man sichs versieht, einen ganzen Monat roth im Kalender, und hat alle Augenblicke einen Heiligen, dem er nicht die Messe abschlagen kann.

Geschäften ist bei dem Uebergewicht des Menschen zur Trägheit nichts besser als ein Muß! – Wenn es schon auf Kunst angesehen ist, warum soll man nicht zu diesem kunstreichen Muß greifen? Wenn die Dienstjahre nur nicht länger als sechs Jahre dauern. Jakob diente sieben und sein Lohn war eine Lea. – Wie man schläft, wenn man was beendigt hat, ist unaussprechlich! Man ruht, man stirbt, man aufersteht wie neugeboren! Dem Pastor schmeckts am Sonntag am besten, dem Junker am Ernteschluß und dem Kaufmann am Posttage.

Ich überlegte alles mit meinem Weibe und sie fand es wie ich. Was findet dieß Mariengesicht nicht so?

Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, sagten wir einander, und ich entschloß mich, noch einmal mich in Geschäfte einzulassen, wozu ich mich so wenig gedrängt hatte, daß vielmehr die dringendsten Anträge mich zuerst auf den Gedanken brachten. Diese Stelle ist sechsjährig, sie ist wohlthätig für andere, und ohne alle andern Einkünfte als Diäten, zu denen ich noch einmal so viel legen muß, um in – – zu leben, wo alles kostbar ist.

Mein Weib, wünschte ich, möcht' einen Victualienzettel beilegen. Warum aber Beilage D, zu der ich mich nicht verbindlich gemacht? So muß man geschäftig seyn, wenn uns Geschäfte zerstreuen und hülfliche Hand leisten sollen! Wenn diese Capitulationsjahre geendigt sind, bin ich gegen fünfzig, und wer drüber geschäftig ist, glaubt nicht, was Herr v. G. herzlich mitsingen [368] wollte und nicht mehr konnte, was meine selige Mine mir noch zu guter Letzt schrieb:


Nach diesem Elend

ist uns bereit

dort ein Leben in Ewigkeit.


Ein Versuch! werden viele meine Leser sagen, und mein lieber – s deßgleichen. Freilich einVersuch, allein ein mißlungener Proceß in der Chemie brachte das Porzellan aus Tageslicht, welches zwar zerbrechlich ist, indessen doch schön aussieht. Das Berliner hat eine schönere Malerei als Porzellan anderer Orte!

Ein Baum ohne Zweige, ohne Kinder und Erben, schießt in die Höhe! Das will und werd' ich nicht. Mein Muth ist nicht zum Himmelstürmen und das Sechsjahrziel, wie bald verlaufen! Schon jetzt freu' ich mich auf die gütige, milde Ausspannung aus dem Jahre der Standesrücksichten und gewisser Etiketten, ohne die kein Amt ist, und die mir schon seit der kurzen Zeit, da ich eingespannt bin, so drückend sind! – Bei Geschäften, falls sie köstlich gewesen, ist alles eine authonianische Chrie, wenns noch so unpedantisch aussieht. – Auch wenn ich von dem Legat der Amazonin, der Frau v. – b-, Gebrauch gemacht, und Mantel, Rock und Kragen angelegt, wär' ich ohne authonianische Chrie abgekommen?


* * *


Jener Heide hörte: dein Sohn ist todt, da er den Göttern opferte und räucherte; ich nicht also!

Meine Stunde ist kommen, um von meinen Lesern, vielleicht auf ewig, vielleicht auf sechs Jahre, Abschied zu nehmen. Wer hätte das denken sollen, da ich über die Worte: kurze Frist commentirte. Natürlich bringt mich dieses: nach einem Endlich noch auf ein


letztes Endlich!


[369] Ich weiß, was für eine herrliche Sache es ist, den Schlußstein des ganzen Gewölbes zu entdecken und bei dieser Gelegenheit sich zu überzeugen, daß die Säulenbogen nicht nur schön, sondern auch sicher sind! Weisheit, Stärke und Schönheit an einem dergleichen Schwibbogen finden, ist so was Erwünschtes als etwas in dieser Welt, wo so selten der Schlußstein zu sehen ist, nur seyn kann! Ists aber meine Schuld? – Dacht' ich, Zoar je zu verlassen? Legt' ich es je zu einem Buchstaben so oder anders, mehr oder weniger, in meinem Namen an, um diese Namensveränderung mit mir sterben zu lassen? Kinderlos! bei einem so lieben, edlen Weibe! – Und was soll mir der Lebenslauf meiner Vorfahren in aufsteigender Linie, da keine absteigende vorhanden ist? – So hat es dem Herrn über Leben und Tod gefallen, und er allein weiß es, ob ich noch mein Wort erfüllen und die beiden fast fertig daliegenden Theile übersehen und ergänzen werde! In meinen Amtsjahren gewiß nicht. Was da alles aufs Wort merkt! – Gewiß nicht in den sechs Dienstjahren.

Verzeiht, lieben Leser, diesen Umschlag, den ich zu machen gezwungen bin.

Seht, ich gehe hinauf!

So wie ich einen jeden, weß Standes, Alters und Ehren er ist, hiermit feierlichst ersuche, nichts zu diesem Werke hinzuzuthun, und unter dem Scheine des Rechts meinen Vater und Großvater durch magische Künste zu citiren, so sey es mir auch erlaubt, zu bitten, nichts von diesen drei Theilen abthun zu dürfen, und das Bild und die projektirte Ueberschrift zum ewigen Andenken so zu lassen, wie beides da ist!

Hiermit lebet wohl!

Nach geendigtem Buche, lieber – es, noch etwas hinzufügen heißt die Einheit verletzen und der göttlichen Natur eines Buchs zu nahe kommen. Ich bin kein Freund, wenn schon letzte Worte da [370] sind, noch mehr letzte Worte und allerletzte letzte Worte beizufügen. Meinethalben! Ein paar Züge können freilich nicht helfen, nicht schaden.

Herr v. G. war fürs Einfache: Mein Vater hatte für Eins auch eine wahre Achtung; wäre er sonst ein Monarchenfreund gewesen? Im Skelett, sagte er, scheinen Mann und Weib einerlei. Je näher man der Natur tritt, je mehr überzeugt man sich, daß der liebe Gott alles vortrefflich rubricirt hat. Sein Hausbuch der Welt hat weniger Artikel als man glauben sollte. Drei Ingredienzen konnte mein Vater leiden, nicht aber mehr. Verträgt sich doch Oel und Essig. – Die neunte Zahl war meines Vaters Liebling. Dreimal drei ist neun.

Eisen war ihm in vielen Rücksichten besser als Gold! – Gold ist Wahn und Zufall, Eisen ist Wahrheit und wirklicher Werth.

Nur neulich erinnerte mich mein Schwiegervater, daß er wegen des Abschiednehmens mit meinem Vater ein Herz und eine Seele gewesen. So ganz nicht! Etwas kann seyn.

Mein Vater haßte armselige Allgemeinheiten. Wer Abschied nimmt, singt die Melodie des Todes; mancher pfeift sie!

Herr v. W. nannte einen kurzen Abschied, der, wie mich dünkt, der beste ist, den man nehmen kann, einen Schlagfluß; einen feierlichen Abschied, die Hektik, die sich in die Zeit zu schicken versteht.

Wer ohne Abschied aus der Gesellschaft scheidet, oder, wie man sich ausdrückt, sich unsichtbar macht, hat sich, wie mein Vater sagt, selbst umgebracht.

Mein Vater war kein Tagwähner, Tagfärber! Auf Tagezeiten hielt er sehr! So hab' ich ihn nie des Morgens lachen gesehen! Den Sommer hielt er für den Gelehrten weniger zur Arbeit tauglich als den Winter. So verkehrt ist die liebe Gelehrsamkeit! Man sagt, Milton, obschon er blind gewesen, soll im Winter bessere Verse gemacht haben.

Mein Vater war ernsthaft, hager und hielt sich gerade. Ein [371] gewisses Nachdenken, das wie Schwermuth aussah (so sieht das Nachdenken gemeinhin aus, vielleicht weil wir zu sehr wissen, daß wir nicht weit damit kommen), war in seinem ganzen Gesicht verbreitet. Er war sonst heiter und guter Dinge. Selten griff ihn etwas an. – Die Augen hatten ein besonderes Feuer. – Die Lerche singt im Fluge, so auch ächte Dichter. Der Philosoph steht. Oft, wenn er spazieren ging, blieb er stehen, die linke Hand auf seinen großen weißen Stock gelegt, und mit der rechten sich aufgestützt.

Da sehen die meisten Leute diese Welt als eine Spielgesellschaft an, wo die Klugen nichts weiter thun, als Partien machen. Einigen scheint sie, wie ein Schauspiel, wo sich der Zuschauer, bloß weil er seinen Platz bezahlt hat, über andere zu lachen berechtigt hält. Der Weltpatriot sieht dieß Leben als Zeit und Gelegenheit zu ernsthaften Dingen an, wenigstens hält er sich verpflichtet, Vorsätze hiezu zu fassen. Gott segne seine Studia.

Mein Vater stritt, ohne eben darauf auszugehen, Recht zu behalten. Jeder wird seines Glaubens leben, war sein Glaube. Meine Mutter pflegte zu sagen, er sey von der streitenden, nicht aber von der triumphirenden Kirche.

Ich möchte wetten, er hätte gern einen Ring getragen, wenn er nicht Pastor gewesen. Herr v. G. seliger gewiß nicht, um wie viel nicht.

Mein Vater setzte nichts ins Spiel, was er lieb hatte. Meine Mutter glaubte, man könne seine Zuneigung zu allem Leblosen nicht anders an den Tag legen, als wenn man es an einen Ehrenort setzte. Selbst war sie für Gewölbe, bis mein Vater sie davon, wie vom Kreuzschlage, abbrachte. Mein Vater brauchte alles, was er lieb hatte. Durchs Aufbewahren, bemerkte er, zerbricht alles leichter. Peinlichkeit schadet überall. Wenn man mit der Dose im Umgange ist, wird sie zuletzt ganz dreist mit uns, und so bekannt, daß sich keines vor einander scheut, weder ich noch [372] sie. Ist es nicht thöricht, sich Knoten ins Schnupftuch machen, um sich an dieß und das zu erinnern?

Was er doch über die Theilung von Polen gesagt haben würde, wenn er sie erlebt hätte?

Gern, lieber Freund! – – hätte ich gewünscht, Sie hätten meinen Vater, wenn nicht gekannt, so doch einmal gesehen. Er gehörte unter die sichtbaren und unsichtbaren Geschöpfe, und war in allen Rücksichten ein verehrungswürdiger Mann.

Männer seiner Art sieht man gern. Eine doppelte Persönlichkeit am Kern und Schale, Körper und Geist!

Es gibt Leute, an denen es auffällt, daß sie den Leib nur wie einen Schlafrock umgeworfen. – Er hängt so, wie ein Dieb am Galgen. – Meinem Vater war der Leib auf die Seele gemacht, so wie man vom Kleide sagt: Es ist auf den Leib gemacht. Es war ihm Maß genommen. Ein feiner Anzug! – Keine steife Leinwand, alles so locker und ädellose und doch anprobirt! Wie auf den Leib gegossen. Oft ging er für die Seele. Es gibt wirklich Seelenbewegung, wobei man ordentlich fühlt, daß der Leib keinen Antheil hat. Den Magen nannte er die Wurzel des Thieres; das Gehirn die Wurzel der Seele.

Zu orthodox? Er war freilich den Grundsätzen seiner Kirche treu; allein wahrlich, er würde den kindlichen Communionshunger des Johann Jakob Rousseau, welcher auch in meinem Buche Todes verblichen, gestillt haben. Meine Mutter, die eine Schutzpatronin der leidigen Erbsünde war, hätte ihn zwar ohne Gnade und Barmherzigkeit vom Tisch des Herrn gewiesen und wider seinen Zutritt in bester Rechtsform protestirt; allein mein Vater nicht. Wahrlich, wahrlich! ich sage es euch, er hätte ihm diesen Tisch gedeckt und einem so hungrigen und durstigen Mann das Brod gebrochen und diesen Kelch gegeben. Ihm, der Brüder und Schwestern suchte, und so viel Seelenmordbrenner und Gewissensvergifter [373] fand, daß er zuletzt meinem vierschrötigen Freunde Hume nichts Gutes ansah, und ein solch wunderlicher Seelen- und Leibesphysiognomist ward, daß sich Gott erbarme! Nie kann ich es vergessen, was mein Vater, der mit dem Apostel Johann Jakob nur nach meiner Zeit näher bekannt worden, meiner Mutter (aus dem Einhornschen Geschlecht) bei Gelegenheit, daß sie den Stab über den Herrn v. G. brach, dessen er sich in seiner Abwesenheit immer ritterlich annahm, zurief: Preußen! Holland! Toleranz hin, Toleranz her! Ein anderes ist Toleranz aus Commerciumabsicht, ein anderes von Gotteswegen. Ein anderes Holland, ein anderes (er nannte ein Land). – Glaube mir, mein Kind! wer würde in Holland und – dem Herrn Christo die Communion versagen, wenn er da wäre? Die Narren! ohne zu bedenken, daß er sie in der Nacht da er verrathen ward, eingesetzt hat. Nenne mir ein Land, liebe orthodoxe Seele, wo man ihn nicht kreuzigen würde? Wo er nicht noch in manchem seiner Jünger (Rousseau und –) gekreuzigt wird? Lieber Rousseau! Ich habe dich meinem Schwiegervater empfohlen, und er feiert deinen Sterbetag, obgleich du nicht von Adel bist. – Mehr vermag ich nicht. Meine Mutter hätte dir kein Monument in der Speisekammer errichtet? Ob mein Vater zum Eugen im Prunkzimmer zur rechten Hand unterm Spiegel gesagt: Weiche diesem! weiß ich nicht. Wenn ich erwäge, daß du, wie alle edle Menschen, nicht hattest wo du dein Haupt hinlegtest, und da dich dürstete, dir nichts gegeben ward, als Essig und Galle, so fällt mir der Spruch ein: Was ihr gethan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir gethan!

Geburt, sagte mein Vater, klebt an bis ins Grab. Wahrlich, er hatte Recht! Die wahre Religion ist die, in der man geboren und erzogen ist. Erziehung ist ein Stück von Geburt; Seelengeburt! Seht selbst Gelehrte, wenn sie von schlechtem Herkommen sind, wie sie sich nach ihres Geburtsgleichen sehnen! – Sie finden,[374] daß der gemeine Mann eben so klug ist, wie der Hofmann, nur daß ihm der Ausdruck fehlt, zu dem ihn doch zuweilen ein Gläschen über'n Durst bringt, und dann ist dieser Ausdruck immer treffender und wärmer, als der Ausdruck des Hofpapageien. Gelehrte von geringer Abkunft wollen nicht Engelaffen, sondern Menschen seyn. Thun sie ja, als wüßten sie auch, wie es bei Hofe zugeht, so steht's ihnen gewaltig übel. – Selten ist Geschmack in ihrer Kleidung, am wenigsten bei Perücke und Schuhen. Ein Schweinbraten kommt bei einer wirklichen Hofschüssel zu stehen. – Etwas wohlfeiles in ihrem Ausdruck, und dann zuweilen ein Schwung, daß man frägt: Wo sind sie geblieben? Sie nehmen sich des gemeinen Mannes an, und wollen es nicht seyn.

Ich weiß nicht, ob es meinen Lesern nicht aufgefallen, wie sehr mein Vater von je an Zeichen einer guten Geburt schimmern lassen. Er hatte wahrlich eine sehr feine Lebensart. Ein gewisses Selbstgefühl war ihm eigen, bei einer edlen Mittheilung auch immer ein gewisser Rückhalt, der Leuten von Stande eigen ist! – Aus diesem Gesichtspunkte wird man manches so nach und nach auflösen, was in seinem Charakter sich zu widersprechen anscheint, und sich nicht widerspricht. Nie wand sich das Licht in einem schwarzen Chaos, ehe es herausspritzte. Es spritzte nicht, es floß. – Er schrie nicht, er sprach, und es ward. Sein Ausdruck war nie gemein, allein auch nie schwer. Er war kein Tongeber, allein auch kein Tonnehmer. – Die Italiener bitten aufs Casino zu Gast. Sie wollen's zu gut in ihrem Hause machen, und lassen es lieber gar bleiben. Der ist geborgen, der schon bei ihnen im Saal ist. Licht ohne Ende. Allein auf der Treppe flößt man sich den Kopf.

Vielleicht hätten wir, ohne menschliche Seele, Anlage zu Hausthieren, sagte mein Vater; und dann wieder kaum!

Meine Mutter hatte die beliebte Pastor-Erklärungswendung: [375] Als wollte er sagen. – Wenn er Pastorin in – gewesen, fiel mein Vater ein. Die Commentatores empfehlen, was jetzt getragen wird. Sie machen aus einem Kopf- ein Kniestück und sticken ein Stück Leinwand an, das sie nach Gutdünken bemalen. – Schade um den alten guten Rahmen, aus dem sie den Kopf gehoben! Meinst du? Jammer und Schade um das Bild! Ein junger hohnsprechender Pastor, der von – kam, ließ sich aus: Er würde eine Vorsündfluths-Weltgeschichte schreiben und der Bibel Vorfluth schaffen. Mein Vater vermied so sehr als möglich, mit ihm zusammen zu seyn. Noch ist das Werk nicht heraus.

Mein Vater war nie verlegen über seine Predigten. Im gemeinen Leben schien er rednerisch; es war aber bloß ein lebensartiger Ausdruck. Die Redekunst macht seichte Köpfe, pflegte er zu sagen, und wenn einige seiner vernünftig milchlautern Collegen sich unter einander beschwerten, daß sie nichts mehr zu predigen wüßten, und daß sie sich ausgepredigt hätten, versicherten; so konnte er dieß eben so wenig begreifen, als daß irgend jemand die Zeit lang werden könne. Oft nahm er eine Blume, einen Ast aus der Sonntagslection, Evangelium oder Epistel, oft ging er sie ohne meiner Mutter: Als wollte er sagen, nach ihrer ganzen Länge durch. Kopf- blieb Kopf- – Kniestück Kniestück!

Wenn Christus, sagte meine Mutter, eine Bibel vom Himmel gebracht, wie doch die gewesen wäre!

Darstellung, sagte mein Vater, ist der nächste Weg zum Menschen. Wer durch die Speculationsthür kommt, ist ein Miethling!

Die Feierlichkeit, mit der mein Vater alles that, war so sehr von der Festlichkeit des Herrn v. W. unterschieden, daß ich behaupten kann, bei einem war der Leib, bei dem andern die Seele im Sonntagsgewand.

Meine Leser! (oder soll ich mich bloß zu dir, mein guter – – es! wenden?) werden dieses Sonntagskleid oft gefunden haben; [376] nie aber mehr, als wie er: Licht! rief. – Das Papier glühte so feierlich, sagte meine Mutter, als wenn einst Gott den Bogen Papier des Himmels am Licht anzünden wird.

Meine Mutter konnte ihm seine Kopfunterlage im Bette nicht hoch genug machen! Es war ein Berg aus lauter Matratzen. – Herr v. G. hatte fast nichts unterm Kopf.

Salbei ein Kraut, woraus die Alten viel machten, ward, meinem Vater zu Gunsten, an die meisten Schüsseln gelegt, die meine Mutter anrichtete.

Er schöpft die Natur so von oben, sagte meine Mutter, wie ich den Milchrahm; obgleich sie auch naturfinderisch war.

»Gleich das erste Jahr nach unserer Hochzeit ging ich mit ihm spazieren; wir sahen eine Eiche, die am Zaun stand. Sieh nur, sagte er, sie sieht auf den Zaun, dessen Kinder und Kindeskinder sie beleben wird.«

Von abgerissenen Blumen, die im Zimmer ihr Leben aufgaben, war er kein Liebhaber. – Man riecht den Todesschweiß, sagte er, und ihre Verwesung!

Meine Mutter konnte nicht vergessen, daß er die Frösche einst Dorfmusikanten genannt.

Wie die Blumen und Bäume da schlafen, sagt' er einen schönen Abend zu mir (alles aus dem Munde meiner Mutter), da uns der Mond herausgelockt hatte. Sieh! einige Blätter legen die Füße zusammen, andere legen sich ganz zu. Alles anders, als wenn es wacht! Zweige beugen sich, als wenn du in dem Stuhl eingeschlafen bist. Wie schön alles eingeschlummert ist! Gute Nacht! lieber Mond.

Was meines Vaters theosophischen Ausdruck betrifft, so hat uns Herr v. G., der selige, auf so manche Spuren gebracht, die meinem Vater zur Phyllobolie dienen können. Wasser ist Mutter, Feuer, Vater! sagt' er.

[377] Ueber die Liebe sprach er gern und gewaltiglich. Sie hat, versichert er, wenn er menschlich darüber sprach, die Adjectiva erfunden. Kam er auf die Epistel am Sonntage Quinquagesimä: Erste Corinther das dreizehnte Capitel; so wußt' ich nicht, wo ich war, sagte meine Mutter, und ob er mit Menschen- oder Engelzungen redete.

Meine Mutter hatte diese Liebessprache so zu Herzen genommen, daß auch sie in die Liebe verliebt war, wie die Priesterwittwe mit den fünfzig Thalern Alb. sich ausdrückte. Wahrlich! die Liebe ist ein Hauch Gottes, ein elektrischer Funken, ein Geheimniß, so gemein sie da aussieht. – Es gehört Kraft und Macht dazu, zu lieben, und geliebt zu werden. – Auch meine Mutter hatte Flügel der Morgenröthe, welche das Lied: Was willt du armes Leben, niederdrückten. Sie sprach, wie mein Vater, gewaltiglich über die Liebe.

Die Epistel am Sonntage Quinquagesimä hebt sich an:

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wär' ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle,

und schließt:

Nun aber bleibt Glaube! Hoffnung! Liebe! diese drei: Die Liebe ist die größte unter ihnen.

Am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis ging mein Vater, nach meiner Mutter Meinung, wie ein geistlicher Ritter gestiefelt und gespornt auf die Kanzel. – Herr v. G. Seliger hatte bemerkt, am Sonntage Quinquagesimä – wie ein Goldmacher. – Liebe ist die Firmelung der Seele, sagte mein Vater u.s.w.

Die heilige Eins meines Vaters ist uns bekannt, und seine heilige Drei deßgleichen.

Man muß Gott, sagt' er, nicht verkörpern und den Menschen nicht vergöttern. Statt Leib und Seele, sagte er oft: Meine Physik [378] und Metaphysik, und diese Ausdrücke sind noch in der dortigen Gegend gäng und gäbe bis auf den heutigen Tag.

Der Geiz sieht auf die Folge der Sache. Wenn andere spazieren fahren, denkt er, sie werden wieder zu Hause kommen, und dann sind sie eben so klug, als ich, der ich zu Hause geblieben. Ich könnte, denkt er, wenn ich wollte, auch traktiren, und gibt keinem Salz und Brod.

Mein Vater pflegte sehr artig die Christen aus diesem Gesichtspunkte des Geizes zu beschuldigen, die nur bloß bei ihrem Gutseyn (doch wer ist das, als Gott?), bei ihrem Bestreben gut zu seyn, auf die andere Welt sehen. – Er war kein Feind dieses Lebens, obgleich er mit einer seligen Fassung starb, und wirklich auch in der Hoffnung selig war eines künftigen Lebens.

Er ging mit der Sonne unter, wie ich schon gemeldet habe.

Er starb, sich vollständig bewußt, und nur in einer Stunde, in der er viel griechisch redete, schien die Einbildungskraft der Vernunft das Uebergewicht abgewonnen zu haben. Es währte indessen nicht lange, und alles war wieder an Stelle und Ort.

Er dachte an mich mit herzlichem väterlichem Segen.

Meine Mutter fragte ihn, ob es ihm leid thäte, daß ich Alexander hieße? Er lächelte. Gern, wie sie schreibt, hätte sie ihn wegen seines Vaterlandes und nach einer schweren Menge ihr unauflöslicher Dinge gefragt, wenn sie, wie sie anmerkt, Herz gehabt. Er sah so himmlisch aus, daß meine Liebe sich in Achtung verwandelte, schreibt sie. Liebe frägt, fuhr sie fort; Achtung merkt auf. Mein Vater starb mit den Worten: Nimm meinen Geist auf! – Er verstummte nicht, schreibt meine Mutter, dieser treue Lehrer! Er blieb nicht im Worte. Der Geist vertrat ihn und half seiner Schwachheit aus. Man hörte ganz vernehmlich: Nimm meinen Geist auf!

Sobald er kalt war, sang sie das Pfingstlied:


[379]

Nun bitten wir den heiligen Geist

Um den rechten Glauben allermeist,

Daß er uns behüte! an unserm Ende,

Wenn wir heimfahren aus diesem Elende!

Kyrie Eleison!


* * *


Auch dieß ist vollendet. Ein kleines Stück aus dem vierten Theil! – Weit weniger, als ein Fragment!

Daß ich schon in Jerusalem bin, wo ich hinaufging, will ich noch kürzlich bemerken. Ich will ausdauern, aber wahrlich niemanden rathen, ins Geschäftskloster zu gehen, um sich zu zerstreuen. – Lieber I – – es, laß dich nicht gelüsten!

Ein ehrbarer römischer Rathsherr ließ sich aufs Grab schreiben: Hier liegt Similis, ein alter Mann, der doch nur sieben Jahre gelebt hat. Sieben Jahre lebte er in Similis Höfchen – das andere von seinem Leben gehörte nicht ihm!

Sechs Jahre, weniger fünf Monat! Gott wird helfen! Amen!

Eben hat Mine mir wieder ein Pröbchen von ihrer Dichtungsgabe vorgelesen. Da ist es. – Es enthält eine treue Beschreibung meines Festungsgartens, den sie spottweise Alexandrien nennt. Meine Arbeitsstube geht in diesen Garten, so, daß ich ihn mir eigen mache.

[380] Alexandrien.

Ist die Welt denn etwas anderes, als ein Vogelbauer, wo man sich herumdreht, und, wenn es recht lustig hergeht, Sprosse auf Sprosse abspringt? Klage nicht über dein Gärtchen, das rings umher mit Häusern umgeben ist, so daß dir nur nach oben zu freie Aussicht übrig bleibt. Gibts eine andere freie Aussicht, als die nach oben gen Himmel? O die schöne Gipsdecke Gottes, so schön kann kein Künstler sie nachmachen! Alles können Maler und Zeichner nachbilden, nur den Himmel nicht. Wie kann man die Welt in eine Kammer bringen? Den großen Gott in ein Haus, wenn's auch einen Thurm hat? Sieh dich um in deinem Gärtchen, sind die nachbarlichen Mauern nicht grün behangen, und so schön von der Natur bewirkt, daß man die Festungsmauer ringsum nicht wahrnimmt? Willst du mehr, als diese augenstärkende, herzerfrischende grüne Tapete? Das Grasstück Wiese, und diese lebendige Wand, Wald; was hat die Erde herrlicher? Was war im Paradiese mehr, als Bäume und Gras? Und sieh nur jenen großen Baum! Er stammt geradeweges vom Baum des Lebens im Paradiese. Wie herrlich er da steht, sich verbreitet und sich einbildet, deinen ganzen Garten befassen zu können! Laß ihn groß thun, diesen Baum aus so gutem Hause, laß ihn groß thun! Es kostet ihm am meisten. Das Gras braucht Schatten und die Hecke Aeste, die ihr zu Hülfe kommen. Sieh! Wenn dieser Lebensbaum ihr nicht unter die Arme griffe und aushülfe, sie würde nicht bis oben zu die Mauer bedecken, die allem, was grün ist, so spinnenfeind ist. Auch würde die Sonne sonst dieser nur frisch gepflanzten Hecke das Kleid beflecken und es verderben, ehe der Herbst kommt und es Zeit ist. Klein ist dein Garten; allein merkst du nicht, wie alles sich bestrebt, sich darnach einzurichten? Die Biene sumset so laut nicht, um den Finken nicht zu stören, der deinen kleinen Garten sich zur Kapelle geheiligt hat, sein Morgenlied abzusingen [381] – und wenn die der Welt abgestorbene Philomele deine kleine Einsiedelei entdeckt, was sollte sie abhalten, hier ihr Klagelied anzustimmen und diese Einsamkeit dem vögelreichen, lärmvollen Walde vorzuziehen, welcher ihrer nicht werth ist! – nicht werth!

Sieh, wie der Sperling sich in der Stille paart, um durch sein galantes Zwitschern keinem gesitteten Bürger deines Gartens durch Ueppigkeit ein böses Beispiel zu geben!

Groß ist dein Garten dem Weisen, dem Guten, dem nichts zu klein ist, wie unserm Herr Gott! Einen so großen Erdschollen als der Mensch zum Grabe braucht, hat er auch nur nöthig. Froh zu seyn! – Wie weit mehr hast du! Du und dein Weib können in diesem Gärtchen begraben werden und selig ruhen, und doch bleibt noch Raum für einen Menschenfreund, dem Philomele beistimmt, wenn er unsern Tod beweint!


* * *


Eben ein Brief, daß meine Schwiegermutter außer Hoffnung sey. – So stirbt denn alles, was gut ist! – Vielleicht bessert sie sich! Gott geb' es! –

Meine Mine will den ältesten Sohn des Nathanael, Alexander genannt, erziehen. Mag sie sich wissen!

Hiermit lebet wohl! Das waren die Worte, in die mein Freund – – es griff. Jetzt, da ich auch ihn befriedigt, kann ich mit völlig entledigtem Herzen lebt wohl! wiederholen. Wenigstens habt ihr doch etwas von der aufsteigenden Linie, so daß Bild und Ueberschrift dieses Buchs zum kleinen Theil erfüllt ist. – Sterb' ich in den sechs Jahren, gönnt mir die Ruhe! – Laßt, was ich euch gesagt habe, im Segen bei euch bleiben. Ich lasse euch den Frieden, ich gebe euch den Segen des Friedens Gottes, der höher ist denn alle Vernunft! Nicht geb' ich euch den Frieden, wie die Welt gibt, die mit ihrer Lust vergeht. Euer Herz erschrecke nicht ob dem großen Gedanken vom Reiche Gottes und [382] fürchte sich nicht. Weiter, lieben Brüder! was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach! Der Gott des Friedens sey mit euch und meinem Geiste! Amen! –

Legt es dazu an, Freunde! daß wir uns einst wiederfinden in der Versammlung der Guten, nach dieser Zeit Leiden, wo so mancher seine Mine, seinenPold wiederfinden wird unter den Verklärten des Herrn!

Liebes holdes Mädchen! schäme dich der Thräne nicht, die dir entfiel! Deine Liebe zu dem Vertrauten deiner Seele war eine edle, gute Liebe. Du wirst ihn wiederfinden, deine Traurigkeit wird in Freude verkehrt werden. Du hast deinen Willen überwunden, der Welt halber, du hast über die Welt gesiegt, in welcher du Angst hattest! Sey getrost!

Auch du, kinderloser Mann! der du Kraft fühltest, dir Nachkömmlinge zu erwecken, der du jene astronomische Prophezeiung nicht zu hoch fandest, zähle die Sterne, kannst du sie zählen; also soll auch deine Nachkommenschaft seyn! – Du in deiner Kraft durch den Weltlauf erstickter edler Mann, nimm Trost aus meinem Beispiel! Sieh! ich werde, ohne mich fortzupflanzen, versammelt zu meinen fruchtbaren Vätern. Kein Sohn wird bei meinem Grabe gen Himmel sehen und sagen: Mein Vater! – Keine Tochter wird ihre Hände ringen und meine Gebeine begrüßen mit einem: Ruht wohl! Und sieh Freund! Du bist weiblos, und ich habe eine Mine und sie hat mich! – Weib meiner Seele! Wende dein Auge, ich seh' es brechen, wend' es! Ich bitte, ich flehe! Laß mich mit diesen Kinderlosen allein! Unser Pold sieht das Angesicht unseres Vaters im Himmel, der heute, nach einer so langen Dürre, regnen ließ. Blick' her, wie sich der Baum vor dem Fenster erholt hat. Unser Pold ist bei Gott. Die Gerechten werden weggerafft vor dem Unglück, und die richtig vor sich gewandelt, [383] kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern. –Freund! hast du sie gesehen? Hast du mich gehört? O danke Gott, daß du kinder- und weiblos bist, daß du nicht nöthig hast ein Weib zu trösten ihres einzigen Sohnes halber! Wie weit glücklicher bist du!

Die Freude an Gott und seinem Reich sey unsere Stärke. Bis unser Ende kommt, wollen wir nicht weichen von unserer Frömmigkeit. Vergiß, Lieber! was dahinten ist, und strecke dich nach dem, was da vorn ist: jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches verhält die himmlische Berufung. – Wandle würdiglich, dem Herrn zu gefallen, und sey fruchtbar in allen guten Werken, bis uns der Herr erlöst von allem Uebel und uns aushilft zu seinem himmlischen Reiche! Denk Einsamer! wenn du Kinder hättest, die deine grauen Haare in die Grube brächten? Kinder, deretwegen du wie Eli, der Priester, den Hals brächest, halsbrechende Söhne, Absalons, die die gerechte Seele quälen Tag und Nacht. Hat denn dein Bruder nicht einen Sohn? und ist sein paradiesnatürliches Weib nicht wieder gesegnet? Sey frohen Muths! Gott kann dir aus Steinen Kinder erwecken. Dein Leichenstein, wenn er glücklich gelegt ist, kann deinen Namen einem Seher ins Gesicht bringen, der dich in sein ewiges Buch schreibt: da lebst du dann so gut, als durch deine Nachkommen!

Soll ich euch, geliebtesten Leser! über sechs Jahre, wie ich hoffe, wiedersehen; so geb' es Gott, daß wir uns guten Muths treffen! Er, der mein Innerstes sieht, weiß, mit welchem Herzen ich von euch scheide! Meine Seele ist betrübt bis in den Tod! – Gott schenke euch viel Freude! – Dank euch drei Männern, die ihr mich geleitet habt! Der Engel des Herrn geleite euch wieder, und du, mein lieber – – es, dem ich dieß ganze Buch zu Gefallen geschrieben, danke nicht: Es ist gern geschehen.

Lebt alle, alle wohl, fromm und glücklich!

Steht auf und lasset uns von hinnen gehen.

Fußnoten

1 Daß dieß die Anfangsbuchstaben meines Namens sind, bekräftige ich hiermit mit Ja und Amen! –

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TextGrid Repository (2012). Hippel, Theodor Gottlieb von. Romane. Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Lebensläufe nach aufsteigender Linie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6A4A-A