Johann Gottfried Herder
Briefe zur Beförderung der Humanität

[5] Erste Sammlung

(1793)


[5][7]

1.

Mit Freude und Zustimmung, m. Fr., ist Ihr Vorschlag zu einem Briefwechsel über die Fort- oder Rückschritte der Humanität in älteren und neueren, am meisten aber in denen uns nächsten Zeiten von unsern sämtlichen Freunden aufgenommen und bewillkommet worden. »Ich bin ein Mensch,« sagte D., »und nichts, was die Menschheit betrifft, ist mir fremde. Mit jedem Jahr des Lebens fällt uns ein beträchtlicher Teil des Flitterstaats nieder, mit dem uns von Kindheit auf so wie in Handlungen, so auch in Wissenschaften, in Zeitvertreib und Künsten die Phantasie schmückte. Unglücklich ist, wer lauter falsche Federn und falsche Edelsteine an sich trug; glücklich und dreimal glücklich, wem nur die Wahrheit Schmuck ist und der Quell einer teilnehmenden Empfindung im Herzen quillet. Er fühlt sich erquickt, wenn andre, bloß Menschen von außen, rings um ihn winseln und darben; im allgemeinen Gut, im Fortgange der Menschheit findet er sich gestärkt, seine Brust breiter, sein Dasein größer und freier.«

»Sein Dasein größer und freier,« fiel L. ein, »denn indem er sich über den schleichenden, alltäglichen Gang der Dinge erhoben fühlet, atmet er ein reineres Element; er vergißt den niedrigen Kummer, der ihm da und dort das Herz drückte, wenn er den Strom der Zeit stockend und sich in einem stehenden Sumpf gesenkt glaubte. Der Strom der Zeit steht nie still; jetzt rieselt er sanft, jetzt rauscht er gewaltig; allenthalben aber wehet auf ihm Odem des Lebens.«

»In die Gedanken- oder Handlungssphäre andrer größerer Menschen gesetzt,« sagte B., »nehmen wir teil an ihrem Geist: [7] wir denken mit ihnen, auch wenn wir mit ihnen nicht wirken konnten, und freuen uns ihres Daseins. Je reiner die Gedanken der Menschen sind, desto mehr stimmen sie zusammen; die wahre unsichtbare Kirche durch alle Zeiten, durch alle Länder ist nur eine.«

»Und in diese wollen wir rein eintreten, meine Freunde,« fügte A. hinzu, »mit ungeteiltem Herzen, mit reinen Händen. Kein Parteigeist soll unser Auge benebeln, keine Schmeichelei unser Angesicht schänden. Unter uns ist, wie jener Apostel sagte, kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib; wir sind eins und einer. Indem wir an uns und nicht an die Welt schreiben, gehen wir aller eitlen Rücksichten müßig; warum sollten wir heucheln? Das lohnte der Mühe nicht, die Feder einzutunken; wir dürften sodann nur lesen.«

»Lesen!« sagte das ganze Chor und ging in ein Detail über das, was jener hier, dieser dort gelesen hatte; alle waren darüber einig, daß es der Seele eine Arznei sei, wenn sie vom zerteilten, vielfachen Lesen in sich zurückgezogen werde und wie durch ein Gelübde, oder vor einem heiligen Gericht, über das, was sie gehört, gelesen, gesehen hat, sich selbst redliche Rechenschaft gebe.

»Diese Rechenschaft wollen wir uns einander geben,« fügte ich hinzu; und so ward ein Bund der Humanität geschlossen, vielleicht wahrer, wenigstens unanmaßender und stiller, als je einer geschlossen ward. Fangen Sie nun an, mein Freund; unsre Freunde sind, wie Sie wissen, hie und da zerstreuet; alle sind bereit, sie warten auf Ihren Anklang. 1

[8] 2.

Endlich ist mir die Lebensbeschreibung eines meiner Lieblinge in unserm Jahrhundert, Benjamin Franklins, von ihm selbst für seinen Freund geschrieben, zu Händen gekommen; aber bedauren Sie's, nur in der französischen Übersetzung, und nur ein kleines Stück derselben, die früheren Lebensjahre des Mannes, ehe er völlig in seine politische Laufbahn trat. 2 Sollte die Politik der Engländer vermögend sein, das Übrige und Ganze in der Ursprache zu unterdrücken, so bedauren Sie mit mir den sinkenden Geist der Nation und lassen indessen dies Buch ja unter uns zirkulieren.

Sie wissen, was ich von Franklin immer gehalten, wie hoch ich seinen gesunden Verstand, seinen hellen und schönen Geist, seine sokratische Methode, vorzüglich aber den Sinn der Humanität in ihm geschätzt habe, der seine kleinsten Aufsätze bezeichnet. Auf wie wenige und klare Begriffe weiß er die verworrensten Materien zurückzuführen! Und wie sehr hält er sich allenthalben an die einfachen, ewigen Gesetze der Natur, an die unfehlbarsten praktischen Regeln, aus Bedürfnis und Interesse der Menschheit! Oft denkt man, wenn man ihn lieset: ›Wußte ich das nicht auch? aber so klar sahe ich's nicht, und weit gefehlt, daß es bei mir schlichte Maxime des Lebens wurde.‹ Zudem sind seine Einkleidungen so leicht und natürlich, sein Witz und Scherz so gefällig und fein, sein Gemüt so unbefangen und fröhlich, daß ich ihn denedelsten Volksschriftsteller unseres Jahrhunderts nennen möchte, wenn ich ihn durch diesen mißbrauchten Namen nicht zu entehren glaubte. Unter uns wird er dadurch nicht entehrt! Wollte Gott, wir hätten in ganz Europa ein Volk, das ihn läse, das seine Grundsätze anerkennte und zu seinem eignen Besten darnach handelte und lebte; wo wären wir sodann!

[9] Franklins Grundsätze gehen allenthalben darauf, gesunde Vernunft, Überlegung, Rechnung, allgemeine Billigkeit und wechselseitige Ordnung ins kleinste und größeste Geschäft der Menschen einzuführen, den Geist der Unduldsamkeit, Härte, Trägheit von ihnen zu verbannen, sie aufmerksam auf ihren Beruf, sie in einer milde fortgehenden, unangestrengten Art geschäftig, fleißig, vorsichtig und tätig zu machen, indem er zeigt, daß jede dieser Übungen sich selbst belohnet, jede Vernachlässigung derselben im Großen und Kleinen sich selbst strafe. Er nimmt sich der Armen an, nicht anders aber als daß er ihnen Wege des Fleißes mit überwiegender Vernunft eröffnet. Mehrmals hat er es erwiesen, wie hell und bestimmt er in die Zukunft sah, wie entwirrt die verworrensten Geschäfte der Leidenschaft in einfachen Resultaten vor seinem Auge lagen. Einen solchen Mann von sich selbst sprechen, am Rande des Lebens ihn seinem Sohn erzählen zu hören, wer er sei und wie er, was er ist, geworden – wen das nicht reizend belehrte! –

Hören Sie nun den guten Alten, und Sie finden in seiner Lebensbeschreibung durchaus ein Gegenbild zu Rousseaus »Konfessionen«. Wie diesen die Phantasie fast immer irreführte, so verläßt jenen nie sein guter Verstand, sein unermüdlicher Fleiß, seine Gefälligkeit, seine erfindende Tätigkeit, ich möchte sagen, seine Vielverschlagenheit und ruhige Beherztheit. Begleiten Sie ihn in diesem Betracht aus der Bude des Lichtziehers in die Werkstätte des Messerschmiedes, in die Buchdruckerei, von Boston nach Neu-York, nach Philadelphia, London u. f. und bemerken, wie er allenthalben zu Hause ist, sich zu finden weiß, Freunde gewinnt, überall ins größere Allgemeine blickt und in jedem Verhältnis einen fortstrebenden Geist zeiget. Die Galerie seiner Bekannten und Mitgenossen, die er dabei aufstellt, wie dieser hier verdirbt, dort jener zugrunde geht, und wie er dies oft voraussiehet und zu seinem Besten gebrauchet, ist äußerst lehrreich. Für junge Leute kenne ich fast kein neueres Buch, das ihnen so ganz eine Schule des Fleißes, der Klugheit und Sittsamkeit [10] sein könnte, als dieses. Und wie ruhig ist's gedacht! wie angenehm-scherzhaft erzählt der liebenswürdige Alte! Glücklich, wer auf sein Leben zurücksehen kann, wie Franklin, dessen Bestrebungen das Glück so herrlich gekrönt hat. Nicht der Erfinder der Theorie elektrischer Materie und der Harmonika ist mein Held (obwohl auch in diesen ruhmwürdigen Erfindungen ein und derselbe Geist wirkte), der zu allem Nützlichen und Wahren aufgelegte und auf die bequemste Weise werktätige Geist, er, der Menschheit Lehrer, einer großen Menschengesellschaft Ordner, sei unser Vorbild! Auch außer denen ihm freilich äußerst vorteilhaften Zeit- und Landesumständen mag er uns dieses sein; denn Franklins Geist fände sich überall zurecht, auch da, wo wir leben.

Zu diesem Zweck werden Sie in seinem Leben besonders bemerken, wie er sich, trotz seiner Armut und mechanischen Berufsart, selbst literarische Bildung gab, seinen Stil formte und jedes Mittel, auch die Buchdruckerei, dazu anwandte; wie er in dieser die popularsten Wege, Zeitungen, Kalender, einzelne Blätter, die gemeinsten und beliebtesten Einkleidungen auffand, um Ideen unter das Volk zu bringen und sich durch die Stimme der Nation zu belehren; wie endlich von frühen Jahren an er nicht sowohl gelehrte als belehrende Gesellschaften liebte, deren Mitglieder sich miteinander übten. Auch dieserhalb wünschte ich jedem gutartigen Jünglinge diese Jugendjahre Franklins in die Hände. Der Unbegüterte, der sich selbst nicht verläßt, wird finden, daß er von Gott durch dessen großes und vielfaches Organ, die Menschheit, nie verlassen werde; er wird auf das zurückgeführt, was der edle Jüngling Persius für den Zweck aller menschlichen Weisheit erkannte:


Quid sumus et quidnam victuri gignimur; ordo
Quis datus aut metae quam mollis flexus et unde;
Quis modus argento; quid fas optare; quid asper
Utile nummus habet; patriae carisque propinquis
[11]
Quantum elargiri deceat; quem te Deus esse
Jussit et humana qua parte locatus es in re,
Disce –

Nächstens sende ich Ihnen Franklins Plan zu einer seiner früheren Gesellschaften; lassen Sie unsre Freunde daraus oder dabei bemerken, was für uns dienet: denn das Philadelphia, für welches diese Gesellschaft gestiftet ist, kann überall liegen.

3.

Fragen zu Errichtung einer Gesellschaft der Humanität von Benjamin Franklin


»Haben Sie heut morgen die Fragen durchgelesen, um zu erwägen, was Sie der Gesellschaft über eine derselben zu sagen haben möchten, nämlich

1. Ist Ihnen irgend etwas in dem Schriftsteller, welchen Sie zuletzt gelesen, aufgestoßen, das merkwürdig oder zur Mitteilung an die Gesellschaft schicklich ist, besonders in der Geschichte, Moral, Poesie, Naturkunde, Reisebeschreibungen, mechanischen Künsten oder andern Teilen der Wissenschaften?«

(Mich dünkt, die Frage ist für uns geschrieben. Wie einst die Pythagoreer, so sollte jeder Rechtschaffene am Abend sich selbst fragen, was er, vielleicht unter vielem Nichtswürdigen, [12] heut wirklich Nützliches gelesen und bemerkt habe. Jeder gebildete Mensch wird sich auf diesem Wege in kurzem nach einem andern sehnen, dem er sein Merkwürdiges mitteile und der ihm das Seinige mitteile; denn das einsame Lesen ermattet: man will sprechen, man will sich ausreden. Kommen nun verschiedne Menschen mit verschiednen Wissenschaften, Charakteren, Denkarten, Gesichtspunkten, Liebhabereien und Fähigkeiten zusammen, so erwecken, so vervielfachen sich unzählbare Menschengedanken. Jeder trägt aus seinem Schatze vom Wucher seines Tages etwas bei, und in jedem andern wird es vielleicht auf eine neue Art lebendig. Geselligkeit ist der Grund der Humanität, und eine Gesellung menschlicher Seelen, ein wechselseitiger Darleih erworbener Gedanken und Verstandeskräfte vermehrt die Masse menschlicher Erkenntnisse und Fertigkeiten unendlich. Nicht jeder kann alles lesen; die Frucht aber von dem, was der andre bemerkte, ist oft mehr wert als das Gelesene selbst.)

»2.{ } Haben Sie etwa neuerlich eine Geschichte gehört, deren Erzählung der Gesellschaft angenehm sein könnte?«

(So gemein diese Frage scheinet, so ein fruchtbares Samenkorn kann sie in der Hand verständiger Menschen werden. Aus Geschichte wird unsre Erfahrung; aus Erfahrung bildet sich der lebendigste Teil unsrer praktischen Vernunft. Wer nicht zu hören versteht, verstehet auch nicht zu bemerken; und aus dem Erzählen zeigt sich, ob jemand zu hören gewußt habe. Franklins beste Einkleidungen gingen aus solchen verständig angehörten lebendigen Tatsachen hervor; von ihnen empfingen sie ihre gefällige Gestalt, ihre leichte Wendung. In Zeiten, da man viel hörte, viel erzählte und wenig las, schrieb man am besten; so ist's noch in allen Materien, die aus lebendiger Ansicht menschlicher Dinge entspringen müssen und dahin wirken. Schrift und Rede ist bei uns oft zu weit voneinander getrennt; daher sind Bücher oft Leichname oder Mumien, nicht lebendig-beseelte Körper. Griechen und Römer, auch unter Galliern und Briten die erlesenste Schriftsteller waren sprechende oder gar handelnde Personen; der [13] Geist der Rede und Handlung atmet also auch in ihren Schriften. Überhaupt äußert sich in den entscheidendsten Fällen der wahre Geist der Humanität mehr sprechend und handelnd als schreibend. Wohl dem Menschen, der in lobwürdiger und angenehmer lebendiger Geschichte lebet!)

»3.{ } Hat irgendeine Bürger nach Ihrem Bewußtsein neulich in seinen Verrichtungen Fehler begangen? und was war nach Ihrer erhaltenen Nachricht die Ursache davon?«

»4.{ } Haben Sie neulich vernommen, daß irgendeinem Bürger etwas besonders geglückt sei? und durch welche Mittel? Haben Sie z.B. gehört, auf was Weise ein jetzt reicher Mann hier oder sonst irgendwo zu seinem Vermögen kam?«

(Fragen, die in einem aufstrebenden jungen Handelsstaat von der nützlichsten Wirkung sein konnten und in keinem Staate unnütz sein werden, in dem Industrie, Erfindung, Unternehmung noch nicht gar ausgetilgt sind. Ein auf den Mitbürger neidisches Auge schadet sich selbst am meisten; wo findet dies aber mehrere Nahrung als in despotischen Verfassungen, wo von Schmeichelei, Gunst, Betrug und Willkür so vieles abhängt? In Verfassungen von freier Konkurrenz der Verstandes- und Gemütskräfte sowie der Kunst und des Fleißes ist das Auge der Mitkämpfer und Mitwerber gewiß nicht träger, aber verständiger aufeinander gerichtet. Man gewöhnet sich, Glück und Unglück, Reichtum und Armut, Verdienst und Trägheit natürlich anzusehen, forschet den Mitteln nach, wodurch jener sich hob, dieser sank; so lernt man von beiden. Schon der alte Hesiodus unterschied zwo Gattungen der Eifersucht, die böse und die gute; diese beschreibt er als nützlich, jene als niederträchtig und schädlich. Je mehr sich die Einrichtung menschlicher Dinge bessert, um so mehr muß auch der falschen Eifersucht Zaum und Zügel angelegt werden, indem nämlich die freie und edle Eifersucht emporkommt. Wer sollte sich nicht einen Zustand denken können, in welchem alle Handlungen und Vorteile der Menschen natürlich betrachtet, mithin auch also geschätzt und erworben werden? Da tritt sodann das Gute und Böse gleich [14] ans Licht; jeder darf frei darüber sprechen und daran lernen. Wie weit wir aber noch von diesem Ziele sind, mag nur der Markt der Wissenschaft zeigen. Wie selten urteilt ein Beurteiler fremder Werke nach der strengen Frage: »Welche Fehler hat mein Mitbürger begangen? und was ist die Ursache davon? Hat dieser, redlich betrachtet, seine Sache weitergebracht? wodurch ist's ihm gelungen? und was stehet andern Mitbürgern noch zurück?« Und doch ist diese Frage die einzig billige, nützliche und gerechte; sonst urteilen nur Sklaven oder Despoten. Von uns sei dieser Geist des kleinen Neides oder des übermütigen Stolzes gleich fern, aber die edle Eifersucht auf alles Gute, Nützliche und Schöne, dessen die menschliche Natur fähig ist, sei unsre Göttin!)

»5.{ } Ist Ihnen irgendein Mitbürger bekannt, der neulich eine würdige Handlung getan hat, welche Preis und Nachahmung verdienet? oder der einen Fehler begangen, welcher uns zur Warnung und zu dessen Vermeidung dienlich sein kann?«

»6.{ } Welche unglückliche Wirkungen haben Sie neulich an der Unmäßigkeit, Unvorsichtigkeit, an der Hitze oder irgendeinem Laster oder Torheit wahrgenommen? Welche glückliche Wirkungen hingegen haben Sie von der Nüchternheit, Klugheit, Mäßigkeit oder irgendeiner andern Tugend erfahren?«

(So fragt ein Lehrer der Humanität, so frage jeder Vater und Hausvater die Seinen. Wie weit wären wir gelangt, wenn über alle Fehler und Tugenden der Menschen, in Beziehung auf ihre Folgen, nur so klar und unbewunden gesprochen werden könnte, als wir bei uns gedenken. Was die falsche Bescheidenheit oder gar eine demütige Heuchelei hier verschweigt, das entdeckt und übertreibt dort eine kecke Lästerzunge desto ärger. So wird endlich der Sinn der Menschheit verrückt und das moralische Auge geblendet. Alles scheint uns natürlich, nur die Natur des Menschen nicht, deren Weisheit und Torheit mit ihren klaren Folgen uns unanschaubare Dinge, unaussprechliche Rätsel bleiben sollen. Und doch, welche Natur von außen und innen läge uns näher als die Natur des Menschen?)

[15] »7.{ } Sind Sie oder jemand Ihrer Bekannten neulich krank oder verwundet gewesen? Welche Mittel wurden gebraucht, und welches waren die Wirkungen?«

(So hoch die Arzneikunst gestiegen ist, so hat jeder geschicktere Arzt anerkannt, daß sie zum Wohl des Menschengeschlechts noch viel höher steigen könne und steigen werde. Daher die fast schon unzählbaren Bemerkungen einzelner Ärzte; daher die Bemühungen großmütiger Menschen, erprobte Mittel aus der Dunkelheit ans Licht zu ziehen; daher endlich die Bemühungen ganzer Gesellschaften, aus andern Weltteilen, wäre es auch von Wilden, dergleichen Heil- und Hülfsmittel zu gewinnen und in Europa zu verbreiten. Ist das Wort Humanität kein leerer Name, so muß sich die leidende Menschheit dessen am meisten zu erfreuen haben.)

»8. Fällt Ihnen etwas ein, wodurch die Versammlung dem Menschengeschlecht, Ihrem Vaterlande, Ihren Freunden oder sich selbst nützlich sein könnte?«

»9.{ } Ist irgendein verdienter Ausländer seit der letzten Zusammenkunft in der Stadt angekommen? und was haben Sie von seinem Charakter oder Verdiensten vernommen oder selbst bemerkt? Glauben Sie, daß es im Vermögen der Gesellschaft stehe, ihm gefällig zu sein oder ihn, wie er es verdient, aufzumuntern?«

»10.{ } Kennen Sie irgendeinen jungen verdienten Anfänger, der sich neulich etabliert hat und welchen die Gesellschaft auf irgendeine Weise aufzumuntern vermögend wäre?«

»11.{ } Haben Sie einen Mangel in den Gesetzen Ihres Vaterlandes neulich bemerkt, um deswillen es ratsam wäre, die gesetzgebende Macht um Verbesserung anzusprechen? Oder ist Ihnen ein wohltätiges Gesetz bekannt, was noch mangelt?«

»12.{ } Haben Sie neulich einen Eingriff in die rechtmäßigen Rechte des Volks bemerkt?«

»13.{ } Hat irgend jemand neulich Ihren guten Namen angegriffen, und was kann die Gesellschaft tun, um ihn sicherzustellen?«

»14.{ } Ist irgendein Mann, dessen Freundschaft Sie suchen [16] und welche die Gesellschaft oder ein Glied derselben Ihnen zu verschaffen vermögend ist?«

»15.{ } Haben Sie neulich den Charakter eines Mitgliedes angreifen hören, und auf welche Weise haben Sie ihn geschützt? Hat Sie irgend jemand beeinträchtigt, von welchem die Gesellschaft vermögend ist, Ihnen Genugtuung zu verschaffen?«

»16.{ } Auf was Weise kann die Gesellschaft oder ein Mitglied derselben Ihnen in irgendeiner Ihrer ehrsamen Absichten beförderlich sein?«

»17.{ } Haben Sie irgendein wichtiges Geschäft unter der Hand, bei welchem Sie glauben, daß der Rat der Gesellschaft Ihnen dienlich sein könnte?«

»18.{ } Welche Gefälligkeiten sind Ihnen neulich von einem nicht anwesenden Mann erzeigt worden?«

»19.{ } Ist irgendeine Schwierigkeit in Angelegenheiten vorhanden, welche sich auf Meinungen, auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit beziehen und die Sie gern auseinandergesetzt haben möchten?«

»20.{ } Finden Sie irgend etwas in den jetzigen Gebräuchen oder Verfahrungsarten der Gesellschaft fehlerhaft, welches verbessert werden könnte?«

(Ohne alle Anmerkung sprechen diese Fragen zum Herzen wie zum Verstande. Manche geheime Gesellschaft, die zur Besserung der Menschheit wirken wollte, mag auch dahingegangen sein; diese kann vor den Augen der Welt allenthalben als ein Bund der Edlen und Guten fortdauern, denn sie ist auf die Tugend selbst gegründet.)

Folgendes waren die Fragen, die jeder, der in der Gesellschaft aufgenommen werden wollte, die Hand auf seine Brust gelegt, beantworten mußte:

»1.{ } Haben Sie irgendeine besondre Abneigung gegen eins der hiesigen Mitglieder?«

»2.{ } Erklären Sie aufrichtig, daß Sie das Menschengeschlecht, ohne Rücksicht von welcher Hantierung oder Religion jemand sei, überhaupt lieben?«

»3.{ } Glauben Sie, daß jemand an Körper, Namen oder Gut, [17] bloß spekulativer Meinungen oder der äußerlichen Art des Gottesdienstes wegen, gekränkt werden müsse?«

»4.{ } Lieben Sie die Wahrheit um der Wahrheit willen und wollen sich bestreben, sie unparteiisch zu suchen und, wenn sie sie gefunden, auch andern mitzuteilen?«

Die Hand aufs Herz, meine Brüder! Ja, Amen.

4.

Glauben Sie nicht, m. Fr., daß Sie der einzige Liebhaber Franklins in unsrer kleinen Zahl sind. Alle Brüder reichen Ihnen die Hand auf seine Fragen, und von F. werden Sie nächstens ein Kästchen von amerikanischem Holz empfangen, in dem Sie eine Sammlung kleiner und größerer Aufsätze Franklins finden, unter welchen Ihnen wahrscheinlich manches neu sein wird. Freund F. hat sie mit vieler Sorgfalt zusammengesucht und glaubt daran einen moralisch-politischen Schatz zu haben. 3

Ist es nicht sonderbar, daß in alten und neuen Zeiten die höchste und fruchtbarste Weisheit immer aus dem Volk entsprungen, immer mit Naturkenntnis, wenigstens mit Liebe zur Natur und Ansicht der Dinge verbunden, immer von ruhiger Unbefangenheit des Geistes, von heiterm Scherz begleitet gewesen und am liebsten unter der Rose gewohnt hat? Doch warum nenn ich dies sonderbar, da es Natur der Sache selbst ist. Nur wer die Menschen kennet, kann für sie sorgen; nur wer durch das Bedürfnis geweckt, durch Not gereizt, in mancherlei Verhältnissen umhergetrieben, die süße Frucht der Mühe schmeckte, kann diese auf die bequemste Art andern zu kosten geben. Er hatsich die schwere Wahrheit leicht gemacht; so macht er sie auch andern angenehm und faßlich.

[18] Daß Franklins Leben ganz und im Original erscheinen werde, will ich nicht zweiflen. Dem bessern Teil der englischen Nation ist es bekannt genug, daß er kein Aufrührer gewesen, daß er zum Frieden und zur Aussöhnung die einsichtvollesten Vorschläge getan habe, die, wie Weissagungen eines Propheten, die Zeit genugsam bestärkt hat. Äußerst schwor ging er an den Gedanken, daß England und Amerika sich trennen sollten; er fand es diesem Lande selbst nicht vorteilhaft und hielt auch das für gefährlich, daß es zur Freiheit so bald gelangte. Da nun die Zeit hierüber mit einer gebietenden Stimme bereits entschieden und England auf andre Weise schadlos gehalten hat, so glaube ich, daß nur wenige Augen sich schließen dürfen, und Franklins Lebensgeschichte wird uns gegönnet sein und bleiben. Lesen Sie in beikommendem Nekrolog 4 die wenigen Fragmente seines politischen Lebens, und Sie werden den schönen Friedensstern, der in Franklin leuchtete, bis auf den Augenblick, da er in der westlichen Welt untergeht, segnen. Die letzte Rede, mit der er den Beitritt der widersinnigen Provinzen zur Konstitution bewirkte, so ganz in seinem Geist und Charakter, ist der scheidende Strahl dieses Sternes.

Aber ach, indem ich Ihnen den Nekrolog zusende, wie trübe sinkt mein Blick! Kein Stern mehr; ich wandle auf einem Kirchhofe und schaue traurig zur Erde nieder, insonderheit unter den deutschen Gebeinen. Die Pyramide hinten auf dem Umschlage dünkt mich Cestius' Pyramide zu Rom, neben welcher der Ausländer-Protestanten, meistens der Deutschen, Körper ruhn, verscharret hier in der Fremde. Welch eine niederschlagende Erinnerung gibt uns das Leben der meisten! 5 Arm geboren, fleißig, redlich, einesteils talent-, andernteils verdienstreich, kamen sie nicht weiter, als daß sie ihr Leben entweder mühsam durchlebten oder in der Hälfte desselben fast [19] unbemerkt niedergingen und starben. Loudon glänzt als ein Gestirn in diesem Totentale; aber lesen Sie, wie es auch ihm gegangen, wie schwer es ihm gemacht worden, und wie er zuletzt sein Grabmal von Trümmern einer unerstürmten Pforte sich selbst als ein castrum doloris aufgerichtet. Aus dem Wirtenberger Hahn, diesem wahrhaftig newtonischen Kopfe, aus Schäffer, Ferber, Reiz, Meier und so manchen andern, was wäre in England geworden? (Was aus Herschel nicht geworden wäre, wenn er in der hannoverschen Hofkapelle diente!) Und wie ging's dem verdienten Crollius in Zweibrück, dem guten Meggenhofen in Bayern! wie verschwand Crugot, dieser sanft- und helleuchtende Stern, so bald unter Wolken! Auf welche Irrwege ward Basedow geführt, und wie traurig schreitet der arme Ephraim Kuh seine Laufbahn danieder! – Diese liegen nun neben Joseph II., neben Elliot, Howard, Franklin, Kreittmayr hier begraben. Sie schlafen freilich nebeneinander allesamt in Frieden; aber der Name auf ihren Leichsteinen gibt mehr zu denken, als selbst in Grays »Elegie auf dem Landkirchhofe« ausgedrückt sein möchte. Dem Toten, meine Freunde, gebühret eine Träne; so manchem deutschen Toten gebührt mehr als ein Seufzer.

5.

Der Trübsinn, der Sie bei dem Nekrolog angewandelt hat, ist nicht ganz ohne Grund; lassen Sie uns diesen aber näher beleuchten. Sollte die Grabstätte selbst, die hier errichtet worden, daran nicht etwa mit schuld sein?

Der Name »Totenregister« ist schon ein trauriger Name. Laß Tote ihre Toten begraben; wir wollen die Gestorbnen als Lebende betrachten, uns ihres Lebens, ihres auch nach dem Hingange noch fortwirkenden Lebens freuen und eben deshalb ihr bleibendes Verdienst dankbar für die Nachwelt aufzeichnen. Hiermit verwandelt sich auf einmal das Nekrologium [20] in einAthanasium, in ein Mnemeion; sie sind nicht gestorben, unsre Wohltäter und Freunde; denn ihre Seelen ihre Verdienste ums Menschengeschlecht, ihr Andenken lebet.

Damit veränderte sich auch der Entwurf dieses Buches, und gewiß zu seinem Vorteil, wenn anders der Entwurf auszuführen wäre.

1. Nur deren Leben gehörte in diese Sammlung, die zum Besten der Menschheit wirklich beigetragen haben; und es wäre Hauptblick des Erzählers, wie sie dies taten, wie sie die wurden, die sie waren, womit sie zu kämpfen, was sie zu überwinden hatten, wie weit sie's brachten und was sie andern zu tun nachließen, endlich, wie sie ihr Geschäft, das Werk ihres Lebens, selbst ansahn. Eine treue Erzählung hievon, wo möglich aus dem Munde oder den Schriften der Entschlafnen oder von denen, die sie nahe gekannt und bemerkt haben, wäre wie eine Stimme aus dem Grabe, wie ein Testament des Verstorbnen über sein eigenstes Eigentum, über seinen edelsten Nachlaß.

2. Hieraus folgte, daß bei Männern der Wissenschaft man sich notwendig auf den Wert und die Wirkung ihrer Schriften, bei tätigen Geschäftsmännern auf den Beruf einlassen müßte, in welchem sie der Menschheit dienten. Bei Crugot z.B. sind seine »Predigten vom Verfasser des Christen in der Einsamkeit« nicht genannt, mit denen er doch, zumal im zweiten Teil, seinen Zeitgenossen so weit vorschritt. Crugots wenige Schriften verdienen zu bleiben, solange die deutsche Sprache bleibt; und es war mir ein angenehmer Umstand, hier zu finden, daß Carmer den »Christen in der Einsamkeit« zum Druck gefördert habe. Wie nun? sollte der helldenkende, liebenswürdige Mann, dessen Moral so ganz die reine Humanität Christi atmet, ohne hinterlassene, des Drucks würdige Schriften gestorben sein? Und sollte Carmer, sollten die zwei Prinzen und die Prinzessin, die, wie die Biographie sagt, ihren verdienstvollen Lehrer in ihm ehrten und liebten, sollten die Freunde, [21] die ihn näher kannten, dies Geschenk für Welt und Nachwelt verloren sein lassen? Ich hoffe nicht; denn nebst Sack und Spalding war Crugot nicht nur in jenen Gegenden, sondern für Deutschland überhaupt einer der ersten Verbreiter des guten Geschmacks und einer hellen Philosophie im Kreise seines Berufes. Er muß nicht tot sein, sondern er lebe!

3. Da schwerlich etwas Langweiligeres als ein unbestimmtes Leichenlob sein kann, so sind eben die zartesten Saiten des menschlichen Herzens auch hier, wie mich dünkt, aufs leiseste zu berühren. Familien-, Freundes-, Privatsituationen, wenn sie nicht auf einem hellen Detail beruhen, ertragen in allgemeinen Ausdrücken selten ein langes Lob; man überschlägt's oder ermüdet. Überhaupt ist das, was der Lehrer der Menschen vom Innern der Moralität sprach, auch in Absicht auf die Darstellung derselben wahr: »Was fürs Auge des Allsehenden allein gehöret und vor ihm getan ward, will nicht vor dem Auge der Menschen prangen, gesetzt, daß es auch der wahreste Freund des Verstorbnen vorzeigte.« Anders ist's mit bestimmten Tatsachen; die sprechen durch sich selbst, sie ermahnen, lehren, trösten.

4. Eingänge zu Lebensbeschreibungen durch einen Allgemeinsatz sind höchst mißlich. Welcher Allgemeinsatz erschöpft ein menschliches Leben? Welcher verführt nicht öfter, als er zurechtweiset? In den lateinischen memoriis sind solche Gemeinplätze hergebracht; hier, wünscht man, wachse die Bemerkung an ihrer natürlichen Stelle im Fortgange der Erzählung hervor, oder sie versiegle zuletzt den Eindruck des Ganzen. Über manches dieser Leben hätte viel Starkes können gesagt werden, bald mit einem strengen Blick, bald mit einem herzdurchdringenden Seufzer.

5. Denn freilich, m. Fr., ist's wahr: Deutschland weinet um manche seiner Kinder; es ruft: Sie sind nicht mehr, sie gingen gekränkt, beistand- und trostlos unter. Hier also auf dem Grabe des Verstorbnen, als auf einer heiligen Freistätte, müssen Wahrheit und Menschlichkeit, diese sanft und rührend, [22] jene unparteiisch und strenge, ihre Stimmen erheben und sprechen: »Dieser Mann ward unterdrückt, jener gemißbraucht, dieser verlockt und gestohlen. Ohne Recht und Urteil schmachtete er viele Jahre im Felsenkerker; das Auge seines Fürsten weidete sich an ihm; seine späte Entlassung ward Gnade, und nie bekam er die Ursache seines Gefängnisses zu wissen, bis an den Tag seines Todes.« 7 Wahre Begegnisse dieser Art müßten von Munde zu Munde, von Tagebuch zu Tagebuch fortgepflanzt werden; denn wenn Lebendige schweigen, so mögen aus ihren Gräbern die Toten aufstehn und zeugen.

Auf diese Weise geführt, was wäre lehrreicher und nützlicher als ein solches Register der Toten? Es ist kein Bösewicht auf der Erde, den nicht, wenn sein schuldloser oder gar edler Gegner mit hingestreckten Armen daliegt und die Totenglocke über ihm ertönet, das, wodurch er ihm im Leben wehe tat, jetzt im Herzen steche und nage. Die Schlangen der Rache, des Neides und Undanks entschlafen am Grabe des Toten und wenden sich gegen den lebenden Verbrecher. Hier also sitze, wie dort auf Ajax Grabe, Tugend und Menschenwürde und wäge und richte.

Ich weiß wohl, wie schwer dies alles auszuführen sei, zumal in Deutschland. Eben aber, daß Mösers patriotische Phantasie »Aufmunterung und Vorschlag zu einer westfälischen Biographie« hier in einem weiteren Umfange erfüllet werden könnte, daß, wenn sonst nirgend, wenigstens auf einem Gottesacker die verdienten Männer mehrerer und aller deutschen Provinzen sich zusammenfänden und endlich doch in der Erde sich als Landesleute, als Brüder, als Mitarbeiter an einem Werk des Menschenberufs erkennten; das allein schon sollte jeden Gutgesinnten aufmuntern, aus seiner Gegend, wie er weiß und kann, zur Vervollkommung des Ganzen mit beizutragen.

6. Vor allen Dingen aber wünschte ich eigne Biographien[23] erlesner merkwürdiger Menschen. Wie weit stehen wir Deutsche hierin andern Nationen, Franzosen, Engländern, Italienern, nach! Wir lebten, dachten, müheten uns; aber wir konnten nicht schreiben. Die rauhe oder ermattete Hand, die das Schwert, den Zepter, das Handwerk- und Kunstwerkzeug, wohl auch die breite Kanzleifeder führte, verachtete meistens die Reißfeder mühsamer Selbstschilderung; mit der alten Chronikenzeit ging auch das häusliche und Familiengefühl, für die Seinen und mit ihnen fortzuleben, großenteils zu Grabe. Was also von merkwürdigen alten Selbstbeschreibungen gerettet, was von neuen hie und da entdeckt werden kann, sollte gerettet und genützt werden, bis (ich weiß gewiß, daß die Zeit kommt) merkwürdige Geschäfte auch freiere Gesinnungen und diese den Geist einer edlen Publizität erwecken werden, bei dem alle Stände im Lichte wandeln. »Praecipuum munus annalium, ne virtutes sileantur; utque pravis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit.«

Der Patriot

Von allen Helden, die der Welt
Als ewige Gestirne glänzen,
Durch alle Gegenden bis an der Erde Grenzen,
O Patriot, bist du mein Held.
Der du, von Menschen oft verkannt,
Dich ganz dem Vaterlande schenkest,
Nur seine Leiden fühlst, nur seine Größe denkest,
Und lebst und stirbst fürs Vaterland.
Umsonst sucht von der Tugend Bahn
Der Eigennutz dich zu verdrängen,
Und führet wider dich, mit Jauchzen und Gesängen,
Die lockende Verführung an;
[24]
Und ihr Gefolg, die güldne Pracht,
Den stolzen Reichtum, mit der Ehre,
Die Pfauenflügel schwingt, und einem Freudenheere,
Das um die süße Wollust lacht.
Siegprangender als Cäsar war,
Schlägt sich durch diesen furchtbarn Haufen
Die große Seele durch, mit Gold nicht zu erkaufen,
Nicht zu erschüttern durch Gefahr.
Denn wie ein Fels, der unbewegt,
Wann Wogen sich auf Wogen türmen,
Im Ozeane steht und ruhig in den Stürmen
Den ganzen Zorn des Himmels trägt:
So stehest du mit festem Mut
Und trotzest, ohne Freund, verlassen,
Dem Grimm der Mächtigen, der Bösen, die dich hassen,
Und ihrer ungerechten Wut.
Das Vaterland beglückt zu sehn,
Ist dir die göttlichste der Freuden,
Ist dir Ambrosia, selbst in dem härtsten Leiden,
Wann Bürger dich undankbar schmähn.
Bis dich der Himmel wieder ruft,
Die lichte Wohnung wahrer Helden,
Und wer du warest, einst des Volkes Tränen melden,
Verströmt um deine stille Gruft.
Unrühmlich, unbeweint im Tod,
Vermodern in vergeßnen Höhlen
Die Bürger schlimmer Art, in deren kleinen Seelen
Nur niedrer Eigennutz gebot.
[25]
Die Schändlichen! Das Vaterland,
Das ihnen, was sie hatten, Leben,
Ruh, Ehr und Überfluß und sichre Lust gegeben,
Bat hülflos mit erhobner Hand;
Sie aber wichen scheu zurück,
Und nützten den erzürnten Himmel
Zu häßlichem Gewinn, und dachten im Getümmel
Nur sich und ihres Hauses Glück.
Ihr Haus entflieht der Rache nicht,
Die endlich den Verbrecher findet:
Was mit verruchter Hand ein Bösewicht gegründet,
Zerstört ein andrer Bösewicht.
Des Bürgers Glück blüht mit dem Staat,
Und Staaten blühn durch Patrioten.
Athen besiegten Stolz und Eigennutz und Rotten,
Noch eh es Philipps Ehrsucht tat.
Und so fiel Rom, die Königin
Der Könige von allen Zonen,
Von ihrem Thron gestürzt; und ihre güldnen Kronen
Nahm ein erkaufter Barbar hin.
Oft wann in schauervoller Nacht
Ihr Schutzgeist ihren Schutt umflieget,
Stillschweigend übersieht, wie Rom im Staube lieget,
In Trümmern seiner alten Pracht;
Und dann die großen Taten denkt,
Die sein geliebtes Volk vollbrachte,
So lang fürs Vaterland der Bürger Liebe wachte,
Von niedrer Absicht unbeschränkt;
[26]
Als alles fremden Goldes Feind,
Ein Curius und Scipione
Und die Fabricier und männliche Catone
Noch lebten, mit dem Staat vereint;
Dann klagt er laut: »Sie sind nicht mehr!«
Des Kolosseums öde Mauern
Beginnen, rund umher antwortend, mit zu trauern,
Tiefbrausend wie ein stürmisch Meer.
»Sie sind nicht mehr, und Rom starb nach!
Erhoben durch die Patrioten,
Fiel mein geliebtes Rom, als allen Bürgerrotten
Ein patriotisch Herz gebrach.«
Daß dieser Fall der großen Stadt
Die sicher-stolzen Völker lehre,
Der größte Staat sei schwach, der ungezählte Heere,
Doch keine Patrioten hat.

6.

Ein Athanasium, ein Mnemeion Deutschlands! Wahrlich, unser Vaterland ist zu beklagen, daß es keine allgemeine Stimme, keinen Ort der Versammlung hat, wo man sich sämtlich höret. Alles ist in ihm zerteilt, und so manches schützet diese Zerteilung: Religionen, Sekten, Dialekte, Provinzen, Regierungen, Gebräuche und Rechte. Nur auf dem Gottesacker kann uns etwa eine Stelle gemeinsamer Überlegung und Anerkennung gestattet werden.

Aber warum nur hier? Arbeiten nicht in allen, vom höchsten bis zu den niedrigsten Ständen, sichtbare und unsichtbare Kräfte, diese gemeinsame Überlegung und Anerkennung zu erleichtern, zu bewirken? Ein Teil Deutschlands hatte sich vor dem andern mit unleugbaren Vorschriften ein großes [27] Voraus gegeben; der andre Teil eifert ihm nach, und wir können bald an der Stelle sein, ein Ebenmaß zu finden. Jeder biedre Mensch muß sich bestreben, dieses zu fördern, und glücklicherweise scheinen mir diejenigen, die die biedersten Deutschen sein sollen, die Fürsten, auf denselben Weg zu treten. Gewiß, der Unterschied der Religionen macht es nicht, denn in allen Religionen Deutschlands gibt es aufgeklärte, gute Menschen. Der Unterschied von Dialekten, von Bier- und Weinländern macht es auch nicht, was uns voneinander hält und sondert; ein leidiges Staatsinteresse, eine Anmaßung mehreren Geistes, mehrerer Kultur auf der einen, auf der andern Seite mehreren Gewichts, mehreren Reichtums u. f. war es, was uns entzweiet; und dem, dünkt mich, muß und wird die allmächtige Zeit obsiegen.

Denn sagen Sie, was hindert uns Deutsche, uns allesamt als Mitarbeiter an einem Bau der Humanität anzuerkennen, zu ehren und einander zu helfen? Haben wir nicht alle eine Sprache, ein gemeinschaftliches Interesse, eine Vernunft, ein und dasselbe menschliche Herz? Der Philosophie und Kritik hat man nirgend den Weg versperren können; sie arbeitet sich überall durch; sie wird in allen guten Köpfen rege. Ihre Regeln sind allenthalben dieselbe; ihr Zweck allenthalben nur einer. Auch der Wetteifer verschiedner Provinzen gegeneinander kann nicht anders, als diesen Zweck befördern.

Ruhm und Dank verdienet also ein jeder, der die Gemeinschaft der Länder Deutschlands durch Schriften, Gewerbe und Anstalten zu befördern sucht; er erleichtert die Zusammenwirkung und Anerkennung mehrerer und der verschiedensten Kräfte; er bindet die Provinzen Deutschlands durch geistige und also die stärksten Bande.

Daß uns eine Hauptstadt fehle, tut zu unsrer Sache gewiß nichts. Der Ausbildung des Geschmacks mag ihr Mangel eine Hindernis sein; und auch der Geschmack kann durch sie ebensowohl verderbt und gefesselt werden, als sie ihm anfangs Politur und Flügel verleihen mochte. Einsichten aber, ruhige Überlegungen, tätige Versuche, Empfindungen und [28] Äußerungen dessen, was örtlich und allenthalben zu unserm Frieden dienet, sie verschmähen die Mauern einer Hauptstadt und suchen das freie Land; ihre Werkstätte ist das gesamte Deutschland. Je mehrere und leichtere Boten allenthalben her, allenthalben hin gelangen, desto mehr wird die Mitteilung der Gedanken befördert, und kein Fürst, kein König wird diese zu hemmen suchen, der die unendlichen Vorteile der Geistesindustrie, der Geisteskultur, der gegenseitigen Mitteilung von Erfindungen, Gedanken, Vorschlägen, selbst von begangenen Fehlern und Schwächen einsieht. Jedes dieser Stücke kommt der Menschennatur, mithin auch der Gesellschaft, zugut; der Fehler wird entdeckt, der Irrtum wird gebessert, Gedanke weckt Gedanken, Empfindungen und Entschlüsse regen und treiben. Denn das ist eben die große und gute Einrichtung der menschlichen Natur, daß in ihr, wenn ich so sagen darf, alles im Keim da ist und nur auf seine Entwickelung wartet. Entschließet sich die Blüte nicht heute, so wird sie sich morgen zeigen. Auch alle möglichen Antipathien sind in der menschlichen Natur da; jedem Gift ist nicht nur sein Gegengift gewachsen, sondern die ewige Tendenz der waltenden lebendigen Kraft geht dahin, aus dem schädlichsten Gift die kräftigste Arznei zu bereiten. Ach, die Extreme liegen in unsrer engebeschränkten Natur so nahe, so dicht beieinander, daß es oft nur auf einen geschickten Fingerdruck ankommt, aus dem Einfalls- den Absprungswinkel zu machen, da unabänderlichen Gesetzen nach beide in ihrem Verhältnis einander gleich sind. Gedanken zu hemmen, dies Kunststück hat noch keine irdische Politik erfunden; ihr selbst wäre es auch sehr unzuträglich. Aber Gedanken zu sammlen, zu ordnen, zu lenken, zu gebrauchen, dies ist ihr, für alle Zeiten hinaus, unabsehlicher großer Vorteil.

Doch die Seite des Verstandes ist's nicht allein, in Absicht welcher ich Deutschland einen gemeinsamen Zusammenhang wünschte; vielmehr ist's die Seite des Charakters, der Entschlüsse, der Unternehmung. Wir wissen alle, daß die Deutschen von jeher mehr getan, als von sich reden gemacht [29] haben; das tun sie auch noch. In jeder Provinz Deutschlands leben Männer, die ohne französische Eitelkeit, ohne englischen Glanz, gehorsam, oft leidend, Dinge tun, deren Anblick jedermann schönen und großen Mut einspräche, wenn sie bekannt wären. Denen vollends wünsche ich keinen Hof, keine Hauptstadt; einen Altar der Biedertreue wünsche ich ihnen, an dem sie sich mit Geist und Herzen versammeln. Er kann nur im Geist existieren, d.i. in Schriften; und, o daß ausgezeichnet vor allen eine solche Schrift da wäre! An ihr würden sich Seelen entflammen und Herzen stärken. Der deutsche Namen, den jetzt viele Nationen gering zu halten sich anmaßen, würde vielleicht als der erste Name Europas erscheinen, ohne Geräusch, ohne Anmaßung, nur in sich selbst stark, fest und groß.

7.

Wir sind darüber einig, daß, wenn ein großer Name auf Europa mächtig gewirkt hat, es Friedrich gewesen. Als er starb, schien sein hoher Genius die Erde verlassen zu haben; Freunde und Feinde seines Ruhms standen gerührt; es war, als ob er auch in seiner irdischen Hülle hätte unsterblich sein mögen.

Sie denken leicht, wie begierig ich auf seine nachgelassenen Schriften 8 war: hier, sagte ich, lebt und spricht noch sein Geist nach dem Ableben seines alten vielgeübten Körpers. Briefe, Gespräche, ja Worte von ihm, die, solang er König war, als Ehre gesucht, als Schätze umhergetragen wurden, sind jetzt ein gemeines Gut. Man kann sie unerschrocken prüfen, im Zusammenhange seines langen Lebens beherzigen; man darf ihnen widersprechen und sie mit seinen Taten vergleichen.

Zuerst also griff ich nicht nach Werken, die er absichtlich für die Welt geschrieben hatte, sondern nach seinem Briefwechsel, [30] und unter diesem auf den längsten und interessantsten, mit Voltaire. Er erstreckt sich von 1736 bis 1777, also über vierzig Jahre, und zeigt die Seele des großen Königes in den verschiedensten Situationen seines Lebens. Ich will einige Züge und Stellen auszeichnen.

Ein Prinz von 23 Jahren, der Erbe eines königlichen Thrones, sucht in weiter Entfernung den Mann auf, den er für den ersten Schriftsteller seiner Zeit hält, in dem er, wie er selbst sagt, »nicht nur Schätze des Geistes, Stücke mit so viel Geschmack, Delikatesse und Kunst gearbeitet, daß ihre Schönheiten bei jedem neuen Lesen neu scheinen, sondern auch jenePhilosophie« findet, die unser königliche Jüngling insonderheit werthält. Er übersendet ihm seinen »Wolff,« erbittet sich dagegen seine Schriften, seinen Unterricht in Briefen und wird ein Schüler des Philosophen, nicht aus Eitelkeit, sondern ernst und bescheiden. »Autoren,« sagt er, »sind die Gesetzgeber des menschlichen Geschlechts; ihre Schriften verbreiten sich in alle Teile der Welt; sie manifestieren Ideen, die andre sich einprägen. Ist in ihnen Stärke des Gedankens mit Feuer des Ausdrucks vereinigt, so bezaubern sie und rühren. Bald atmet eine Menge Menschen die Liebe zum menschlichen Geschlecht, die sie ihr durch einen glücklichen Impuls einhauchten. Sie bilden gute Bürger, treue Freunde, Untertanen, die Aufruhr und Tyrannei in gleichem Grade verabscheun, voll Eifer, nur fürs allgemeine Beste. Ihnen, den Schriftstellern, ist man die Tugenden schuldig, die die Sicherheit und den Reiz des Lebens ausmachen; was ist man ihnen nicht schuldig?«

So sahe Friedrich die Wissenschaften an, und dies blieb sein Bekenntnis. Die Talente, die hiezu dienten, schätzte er an Voltaire, in seiner Jugend fast über die Maße, in seinem höheren Alter mäßiger; doch blieb ihm stets die hohe Achtung für einige große Stücke seines Lehrers, die er von andern sehr unterschied und ihm darüber offen seine Meinung sagte. Unter Waffen und im höchsten Alter hielt er die Wissenschaften nicht nur für sein schönstes Vergnügen, sondern auch[31] dem Staat und der menschlichen Gesellschaft unentbehrlich; ohne sie, meinte er, würden und blieben Fürsten, Stände und Völker Barbaren; Wissenschaften allein haben die Welt erleuchtet und einige auserwählte Seelen des Menschengeschlechts veredelt.


Blüht, ihr freundlichen Künste,
Blüht! Die goldenen Fluten
Des Paktolus benetzen
Euch in Zukunft die Wurzeln
Eures heiligen Hains.
Euch gebühret zu herrschen
Über schwächere Geister,
Und vor euren Altären
Alle Söhne des Irrtums
Feiernd opfern zu sehn.
In der Mitternacht hör ich
Oft den himmlischen Wohllaut
Eures Wettgesangs, höre
Polyhymniens Saiten
Und Uraniens Lied.
Und zerfließe vor Wonne:
Denn ihr singet die Taten
Der unsterblichen Götter,
Unterrichtet die Weisen
Und Regenten der Welt.
Angenehme Gefühle
Und mein Genius reißen
Allgewaltig mich zu euch,
Ketten ewig an euren
Siegeswagen mich an. 9

[32] Fast immer tönet diese Stimme um mein Ohr, wenn ich Friedrichs Schriften lese. Man wandelt in ihnen wie auf klassischem Boden; ein Gefühl für die Würde, den Wert, die Schönheit der Wissenschaften ist in seine kleinsten und größesten Aufsätze verbreitet.

Insonderheit lebt sein Geist in einer gewissenReihe erwählter größerer Seelen, die er, meistens aus dem Altertum, sich zu Lieblingsnamen seiner Phantasie, zu Vorbildern, an denen er gern verweilet, ausersehen hatte. In Handlungen des Krieges und des Friedens, in Geschäften der Regierung und in Beziehungen der Menschheit kommen sie ihm oft wieder, als alte Lehrer und Freunde; so wie es denn bekannt ist, daß er nur wenige Schriftsteller, diese aber immer von neuem las und in seine Gedanken prägte. Nach gewissen Jahren wollte ihm das Neue nicht mehr gnugtun; er fand eine Spitzfindigkeit oder einen mathematischen Kalkül in Schriften, wohin dieser nicht gehörte. Die alten großen Formen weniger Hauptgedanken lagen in ihm, von denen er sich ungern trennen mochte. In Sachen des Vortrags sah er Voltaire als die letzte Stütze des Geschmacks an, der unter Ludwig XIV. gewesen war und unter Ludwig XV. und XVI. freilich nicht mehr sein konnte. Dagegen sieht er seine eignen Aufsätze in Versen bloß als Reimereien zum Vergnügen, in Prose als Übungen zu Entwicklung seiner Gedanken an und spricht von ihnen ohn alle Anmaßung. Diese Bescheidenheit ist, wie man offenbar sieht, kalte Überzeugung; er fühlt, was ihm fehle und warum er nicht sein könne, was z.B. Voltaire war. Er will's auch nicht sein; denn er fühlt seinen größern Beruf, ob er gleich den andern, ein großer Schriftsteller zu sein, als angenehmer erkennet und in Augenblicken des Enthusiasmus fast zu beneiden scheinet. Bald aber setzt sein Geist sich ins Gleichgewicht: »Gesunder Verstand,« meint er, »ein edler Trieb zur Ehre und unausgesetzte Tätigkeit sei seine Gabe, die wolle und müsse er auf seiner Stelle ausbilden, anwenden und gebrauchen.«

Fast unglaublich ist's auch, wie weit er in diesen Punkten [33] nicht etwa nur Voltairen, sondern auch seinen sämtlichen korrespondierenden Freunden überlegen ist. Wenige, aber große Grundsätze liegen als unerschütterliche Fundamente in seiner Seele; wenige, aber feste Maximen sind seine treuen Gefährten, auf die er zuletzt, und als König oft mit sehr leichter Mühe, alles zurückführt. Einige derselben wollten ihm im Siebenjährigen Kriege zuweilen untreu werden; er nimmt aber seine große Seele zusammen und verbeißt die verachtende Bitterkeit, mit der er insonderheit die Regierungen der Welt, ihre Unterhändler und Werkzeuge, wohl auch den größeren Teil des menschlichen Geschlechts ansieht. Ganz scheint er indessen von dieser zu langen und großen Überstrengung sieh nie wieder erholt zu haben; sein Geist kehrte, nach Endigung des Siebenjährigen Krieges, zu seinen früheren Vergnügen zwar zurück, war heiter, fest und wirksam, aber er blieb strenger und ernster. Mit Bewunderung habe ich (wenige Vorurteile ausgenommen) die fast allgemeine Billigkeit, Mäßigung und Enthaltsamkeit des großen Königes in seinen Urteilen von Sachen, Begebenheiten und Personen mir ausgezeichnet. Es war eine selbständige, große Seele.

Und daß sein Herz den Empfindungen der Humanität, der Freundschaft, der Bruder- und Schwesterliebe, dem Zuge zu allem Großen und Guten, nicht verschlossen gewesen, zeigen hundert Stellen seiner Schriften, tausend Momente seines Lebens. In jüngern Jahren hatte er einen Brief über die Humanität geschrieben, von dem er viel zu halten scheint, den ich aber in seinen Schriften nicht finde; er sagt von ihm:

»Es scheint, man stärke sich in einer Gesinnung, wenn man seinem Geist alle Gründe vorhält, die sie unterstützen. Und dies bestimmte mich, über die Humanität zu schreiben. Sie ist, nach meiner Meinung, die einzige Tugend und soll insonderheit denen als Eigentum zugehören, die ihr Stand in der Welt unterscheidet. Ein Landesherr, er sei groß oder klein, soll als ein Mensch angesehen werden, dessen Beruf es ist, menschlichem Elende abzuhelfen, soviel er kann; er ist ein Arzt, die mancherlei Unfälle seiner Untertanen zu heilen.

[34] Die Stimme der Unglücklichen, das Seufzen der Elenden soll zu ihm gelangen. Sei es aus Mitleid mit ihnen oder aus einer Rückkehr des Gedankens auf ihn selbst, so muß ihn die traurige Lage der Leidenden rühren, und wenn sein Herz irgend Empfindung hat, werden sie Hülfe bei ihm finden.

Ein Fürst ist gegen sein Volk, was das Herz dem Körper ist. Dies empfängt das Blut aus allen Gliedern und stößt es mit Gewalt bis an ihre äußersten Enden zurück. Der Fürst empfängt die Treue und den Gehorsam seiner Untertanen; er gibt ihnen Überfluß, Glückseligkeit, Ruhe, und was irgend zum Wachstum und zum Wohl der Gesellschaft tun kann, wieder.

Dies sind Maximen, die im Herzen jedes Menschen von selbst entspringen müssen; das Gefühl gibt sie, wenn man nur etwas nachdenkt; man hat keinen großen Kursus der Moral nötig, um sie zu lernen.

Tyrannen betrachten die Sache anders. Sie sehen die Welt als für sie geschaffen an; und um über gewisse gewöhnliche Unglücksfälle erhoben zu sein, verhärten sie ihr Herz vor denselben. Wenn sie ihre Untertanen unterdrücken, wenn sie hart, gewalttätig und grausam sind, so kommt dies daher, daß sie das Böse nicht kennen, das sie verüben; sie haben es nie selbst gefühlt, darum gehen sie so leicht darüber. Sie sind nicht im Fall des Mucius Scävola gewesen, der vorm Porsenna die Hand ins Feuer steckte und dadurch die Wirkung des Feuers auf seine Hand wohl kennenlernte.

Mit einem Wort. Die ganze Haushaltung des menschlichen Geschlechts ist eingerichtet, um Menschenliebe einzuflößen. Die Ähnlichkeit der Menschen untereinander; die Gleichheit ihres Loses und das unentbehrliche Bedürfnis, das einer vom andern hat; Unglücksfälle, die die Bande des Bedürfnisses noch stärker anziehen; die natürliche Neigung, die man zu seinesgleichen hat; unsre Selbsterhaltung, die uns Humanität predigt; die ganze Natur scheint sich zu vereinigen, um uns eine Pflicht einzuprägen, die unser Glück macht und täglich neue Annehmlichkeiten auf unser Leben verbreitet.«

[35] Wenn Friederich immer so gefühlt und getan hat, als er hier schreibt (und es war gewiß sein Ernst, da er es schrieb; auch wurden ihm in den unhumansten Situationen seines Lebens diese Gesinnungen nie ganz fremde), so wollen wir ihn als einen Heiligen anrufen, daß er uns seinesgleichen humane Denker, väterliche Regenten, Ärzte und Herzen des Volks erbitten helfe. Auch wollen wir wünschen, daß alle Fürsten und Prinzen die meisten seiner Werke (sie sind ja französisch geschrieben) lesen mögen, und zwar also, als ob sie den großen König selbst hörten.

8.

Wenn König Friederichs Lob auf die Humanität Ihnen gefällig gewesen, so lassen Sie sich einige kürzere Gedanken und Maximen vortragen, die ich in diesen angenehmen Briefen bezeichnet.


»Traurige Folge der menschlichen Hinfälligkeit! der Mensen ist nicht alle Tage sich selbst gleich. Oft zerstören sich ihre Entschlüsse ebenso schnell, als sie sie faßten. Der Spanier sagt sehr vernünftig ›Dieser Mann ist brav gewesen‹. Könnte man nicht ebensowohl sagen, daß große Männer es nicht immer, nicht allezeit sind?«


»Wenn ich etwas wünschte, so wäre es, gelehrte und gescheute Leute um mich zu haben; ich glaube nicht, daß eine Sorge um sie sich nicht sehr belohnte. Zuerst ist es eine Achtung, die man ihrem Verdienst schuldig ist, sodann ein Bekenntnis des Bedürfnisses, das man hat, von ihnen Licht zu bekommen. Ich komme kaum von Erstaunen zurück, wenn ich denke, daß eine kultivierte Nation, die, vom Genie unterstützt, im Besitz des guten Geschmacks ist, den Schatz nicht kennet, den sie in ihrem eignen Schoße trägt.«


[36] »Meine jetzige Muße läßt mir Zeit, mich zu beschäftigen, wie ich will. Sie soll mir also nützlich und eine weise Muße werden, indem ich Philosophie und Geschichte studiere und mich mit Poesie und Musik vergnüge. Ich lebe jetzt als Mensch und ziehe dies Leben der majestätischen Gravität und dem tyrannischen Zwange der Höfe unendlich vor. Überhaupt kann ich keine Lebensart, nach der Elle abgemessen, ausstehn; nur die Freiheit hat für mich Reize.«


»Wenn Personen von einem gewissen Range die Hälfte ihrer Laufbahn erreichen, so urteilt man ihnen den Preis zu, den andre nur erhalten, wenn sie die ganze Laufbahn zurückgelegt haben. Woher dieses? Entweder wir sind weniger fähig, das recht zu machen, was wir tun sollen, oder es sind niedrige Schmeichler, die unsre kleinsten Handlungen geltend machen und zum Himmel erheben. Der verstorbne König von Polen rechnete große Summen ziemlich leicht; alle Welt pries seine hohe Kenntnis der Mathematik, von der er doch kein Wort verstand. Mehrere Beispiele mag ich nicht anfahren. In unsern Tagen hat es durchaus keinen großen Fürsten gegeben, der wirklich unterrichtet war, als Peter den Ersten.« (Und auch bei diesem macht Friedrich in der Folge mit Recht große Ausnahmen.)


»Wie verschieden ist ein betrachtendes von einem handelnden Leben! Ein Mann, der sich nur mit Denken beschäftigt, kann gut denken und sich übel ausdrücken; ein handelnder Mann, wenn er sich auch mit aller ersinnlichen Grazie ausdrückte, darf nie schwach handeln; wie man z.B. dem Könige von England, Jacob I., vorwarf, daß er nie etwas Schlechtes gesagt, nie etwas Lobwürdiges getan habe. Es füget sich oft, daß die, die gegen Handlungen andrer am meisten deklamieren, es schlechter als sie machen, wenn sie sich in den nämlichen Umständen befinden. Daß es ja mir nicht also gehe! Denn leichter ist's freilich zu tadeln, als zu tun; leichter, Lehren zu geben, als sie auszuüben. Und dann lassen Menschen [37] sich ja so leicht verführen, bald durch Anmaßung, bald durch den Glanz ihres Standes oder durch Hinterlist der Bösen, daß ihr Gewissen bestrickt wird, auch wenn sie die reinsten und besten Absichten von der Welt hätten.«


»Ich habe wenig Verdienst und Gelehrsamkeit, aber viel guten Willen und eine unerschöpfliche Achtung und Freundschaft für Personen von entschiedenem Wert. Dabei bin ich alle der Beständigkeit fähig, die die wahre Freundschaft fodert.«


»Könige ohne Freundschaft und ohne Erkenntlichkeit scheinen mir dem Könige gleich zu sein, den Jupiter den Fröschen gab. Ich kenne die Undankbarkeit nur insofern, als ich selbst durch sie gelitten habe, und kann, ohne Affektation fremder, mir unnatürlicher Gesinnungen, behaupten, daß ich jeder Größe entsagen würde, wenn sie die Freundschaft ausschlösse.«


»Ich verachte die Jesuiten zu sehr, als daß ich ihre Schriften lesen sollte; ein schlechtes Herz verdunkelt bei mir die Fähigkeiten des Geistes. Überdem leben wir nur so kurze Zeit und unser Gedächtnis ist so schwindend, daß nur das Ausgesuchteste uns unterrichten sollte.«


»Die deutschen Prinzen verachten gemeiniglich die Gelehrten. Die unmodische Kleidung, der Bücherstaub, der diesen etwa anhangt, und das wenige Verhältnis, das zwischen einem kenntnisreichen Kopf und dem leeren Hirn dieser Herren stattfinden kann, macht, daß sie sich über ihr Äußeres aufhalten und den großen Mann ohne Hofkleid ganz und gar nicht gewahr werden. 10 Der Höfling hält das Urteil des Fürsten zu hoch, als daß er anders als er zu denken sich getrauen sollte; sie affektieren also auch, die zu verachten, die tausendmal [38] mehr als sie selbst wert sind. O Zeiten! o Sitten! Ich, der ich mich überhaupt nicht für das Zeitalter geschaffen fühle, in dem wir leben, mag dem Beispiele meiner Herren Mitbrüder nicht nachfolgen; ich predige ihnen unaufhörlich, daß der Gipfel der Unwissenheit Hochmut sei, und glaube, daß ein großer Mann, der über mir ist, auch meine Achtung verdiene.«


»Das lebhafteste Vergnügen, das ein vernünftiger Mensch in der Welt haben kann, ist, neue Wahrheiten zu entdecken; das nächste nach diesem ist, alter Vorurteile loszuwerden.«


»Die meisten Prinzen haben eine besondre Leidenschaft für die Stammbäume, eine Art Eigenliebe, die bis auf die entferntsten Vorfahren hinaufsteigt, ja die sie nicht nur für Vorfahren in gerader, sondern auch in jeder Seitenlinie interessieret. Ihnen sagen, daß unter ihren Ahnen schlechte, mithin verächtliche Menschen gewesen, hieße ihnen ein Schimpf, den sie nie verzeihen; und wehe dem profanen Autor, der in das Heiligtum ihrer Geschichte verwegen dränge und die Schande ihres Hauses unter die Leute brächte! Wenn diese Delikatesse sich bloß auf den guten Ruf ihrer Ahnen mütterlicherseits erstreckte, so wäre er noch zu entschuldigen, aber verlangen, daß fünfzig, sechzig Vorfahren, alle nach der Reihe, die honettsten Menschen von der Welt gewesen sein, das heißt die Tugend in eine Familie bannen und dem menschlichen Geschlecht unrecht tun. Eines Tages hatte ich die Unbedachtsamkeit, in Gegenwart jemandes zu behaupten, daß ein Herr von – so etwas getan habe, das einem Kavalier nicht gezieme; unglücklicherweise war dieser Herr von – zweites Geschwisterkind mit dem, in dessen Gegenwart ich dies sagte. Er formalisierte sich sehr darüber, und als ich ihn um die Ursache fragte, mußte ich erst durch einen langen Stammbaum passieren, um meine Beleidigung zu erfahren. Da war nun kein andrer Rat, als dem Unwillen meines Beleidigten alle meine Vorfahren preiszugeben, die[39] etwa nicht verdient hätten, es zu sein. Man tadelte mich; ich rechtfertigte mich aber damit, daß jeder Mann von Ehre, jeder honette Mann meines Stammes sei und daß ich sonst keinen dafür erkennte.«


»Gern würde ich unter einem gemäßigten Klima leben, gern als Privatmann die Freundschaft und Achtung würdiger Menschen verdienen und dem entsagen, wornach die meisten lüsten und streben; aber ich fühle zu sehr, daß, wenn ich nicht Prinz wäre, ich wenig sein würde. Euch reicht euer Verdienst zu, geachtet, beneidet, bewundert zu werden; ich habe Ahnen, Wappen, Titel, Einkünfte nötig, um die Augen der Menschen auf mich zu ziehen. Ein großer Fürst fiel einmal in die Hände seiner Feinde; er sahe seine Hofleute um sich her weinen, verzweifeln ›Ach‹, sagte er, ›an euren Tränen merke ich, daß ich noch König bin!‹ Wenige Worte, aber voll großen Sinnes!«


»Brüssel und fast das ganze Deutschland ist seiner alten Barbarei noch nicht los; die Künste werden in ihm wenig geachtet, also auch wenig kultivieret. Der Adel dient unter den Truppen, oder mit sehr leichten Studien tritt er in Collegia und spricht das Recht, daß es eine Lust ist. Edelleute mit Renten leben auf dem Lande, oder vielmehr in den Wäldern, wo sie denn auch so wild werden als die Tiere, die sie jagen. Der Adel unsres Landes gleicht zwar im ganzen dem andern deutschen Adel; doch hat er mehr Lust, sich zu unterrichten, mehr Lebhaftigkeit und, wenn ich sagen darf, mehr Genie als der größere Teil der Nation, insonderheit der westfälische, fränkische, schwäbische, österreichische Adel. Dies gibt Hoffnung, daß die Künste einst auch hier, aus der untern Klasse gezogen, gute Häuser und Paläste bewohnen werden. Berlin hat (wenn ich mich so ausdrücken darf) Funken aller Künste in sich, man sieht das Genie von allen Seiten hervorglimmen, und es bedürfte nur eines glücklichen [40] Hauchs, um das Leben den Wissenschaften wiederzugeben, die Athen und Rom einst berühmter machten als ihre Eroberungen im Kriege. Ich freue mich, diese glücklichen Produktionen meines Vaterlandes zu sehen: sie sind Rosen, die unter Dornen und Disteln wachsen, Funken des Genies, die durch die Asche hervorblicken, mit denen sie unglücklicherweise bedeckt sind.« (Geschrieben im Jahr 1739.)


»Eben hatte ich einen Brief angefangen über die Mißbräuche der Mode und der Gewohnheit, als die Gewohnheit des Erstgeburtrechts mich auf den Thron rief und mir meinen Brief wegzulegen befahl. Gern hätte ich ihn in eine Satire gegen diese Gewohnheit umgeändert, wenn nicht Satire aus dem Munde der Fürsten verbannt sein müßte.«


»Gewöhnlicherweise macht man sich in der Welt von den großen Revolutionen der Reiche eine abergläubige Idee; wenn man in den Kulissen ist, sieht man, daß die größten Zauberszenen durch die gemeinsten Triebfedern, durch Taugenichte hervorgebracht werden, die, wenn sie sich öffentlich, wie sie sind, zeigten, nur den Unwillen des Publikum auf sich ziehen würden. Betrug, Hinterlist, Doppelsinn, Treulosigkeit sind unglücklicherweise der herrschende Charakter der meisten Menschen, die an der Spitze der Nationen stehen und ihnen Exempel sein sollten. In solchen Fällen ist's demütigend, das menschliche Herz kennenzulernen; tausendmal schon habe ich meine liebe Einsamkeit, meine Studien, meine Freunde, meine ehemalige Unabhängigkeit zurückwünschend bedauret.« (1742.)


»Meine Ode auf den Krieg enthält meine wahren Gedanken. Man unterscheide den Stand des Mannes von ihm selbst, man kann Krieg führen aus Gründen, ein Staatsmann sein aus Pflicht und ein Philosoph aus Neigung. Fast nie sind die Menschen an Plätzen, die sie sich selbst wählen würden, daher gibt's so viele schlechte Schuster, schlechte Priester, schlechte Minister und Fürsten.« (1749.)

[41] »Hier ist eine Apologie der armen Könige, über die jedermann glossieret; und doch beneidet jeder ihr vorgegebnes Glück hundertmal. Die Versifikation ist unvollkommen; dies Studium erfordert einen Menschen ganz; mich ziehen tausend Pflichten, tausend Beschäftigungen auseinander. Ich bin ein angeketteter Galeerensklave auf dem Schiff des Staats oder ein Pilot, der weder sein Steuer verlassen noch einschlafen darf, ohne Furcht, das Schicksal des unglücklichen Palinurs zu haben. Die Musen fodern Stille und eine gänzliche Gleichheit der Seele; keine von beiden ist mein Teil. Es gibt auch gewisse privilegierte Seelen, die im Tumult der Höfe sowohl als im Gefängnis der Bastille oder auf dem Strohsack der Reise dichten können; die meinige ist nicht von dieser Zahl. Es ist eine Ananas, die nur im Treibhause fortkommt, an frischer Luft aber verdirbt.« (1749.)


– – Doch ich ermüde Sie mit Vorzeigung ausgerissener Blumen, die eigentlich nur auf der Stelle, da sie stehen, in der Situation, die sie hervorbrachte, den schönsten Reiz haben. Stünde mir die Versifikation eines Jacobi zu Gebot, und ich hätte Ihnen die eingestreueten Verse in der leichten Manier des Originals mitgeben können, freilich, da wäre es anders!

9.

Sie wollen also, daß ich meine Blumenlese auch in den reiferen, schwereren Jahren des Königs fortsetze; Ihr Wille geschehe. Fast mit jedem Jahre wächst meine stille Bewunderung des großen Mannes, und in den Zeiten des Siebenjährigen Krieges steigt sie fast zum hohen tragischen Mitleid. Eine Seele, die zum Genuß, zur schönsten Wirksamkeit in Zeiten der Ruhe und des Friedens geschaffen war, die in jugendlichen Jahren ihren ersten und zweiten Ausflug nach dem Kranz kriegerischer Ehre gleichsam nur in der Begeisterung des Augenblicks, gelockt oder aufgelodert von Staats [42] gründen, von sogenannten Rechten und der damaligen Lage Europas, rasch und glücklich getan hatte, muß jetzt diesen leicht erworbenen Kranz schwer und teuer erkaufen. Alle Mächte Europas vereinigen sich, den schwachgeglaubten, einzelnen Mann zu erdrücken, und seine unglaubliche Tapferkeit, sein unerschütterter Mut fodert, statt ihre Rache zu besänftigen, diese nur mehr auf. Er sieht die niedrigen Urheber und Werkzeuge seines fast schon unvermeidlichen Unglücks; mehr als ein Ungewitter zieht er mit künstlich-kühner Hand auf seine Feinde selbst hernieder; und doch sammeln sich die Wolken immer furchtbarer über ihn zusammen. In diesen Augenblicken der Gefahr, des Sieges, der größeren Gefahr und des fast unvermeidlichen Untergangs sind tief aus der Seele des Helden geschriebene Briefe Dinge, die wir bei keiner andern Nation, weder bei alten noch neueren, finden. Aus Cato, Cäsars, Brutus, Otho Seele haben wir nichts dergleichen; keiner von ihnen hat auch die Gefahren bestanden, aus denen Friedrich sich, vielleicht in Jahrtausenden unerreichbar, herauszog. Da wird's merkwürdig, was dieser starke, friedliche Mann jetzt über Menschen, über das Schicksal der Welt dachte.

Sogleich der erste vortreffliche Brief (9. Oktob. 1757), der sich mit den Worten endigt:


Pour moi, menacé du naufrage,
Je dois, en affrontant l'orage,
Penser, vivre et mourir en Roi

und mehrmals übersetzt ist, enthüllet die Denkart des Königes. In andern sind fürchterliche Ausrufe mit gefaßter Stärke: »Ich kann meinen Feinden sagen, wie Demosthenes den Atheniensern: ›Wohl dann! wenn Philippus tot ist, was wäre es, ihr Athenienser? Ihr würdet euch bald einen andern Philippus [43] machen.‹ O Östreicher, euer Hochmut, eure Sucht, alles zu beherrschen, würden euch bald andre Feinde machen; der Freiheit Deutschlands und Europas wird es nie an Verteidigern fehlen!«

Indessen betrübt ihn der Tod seiner Schwester aufs zarteste, »für die er sein Leben unter dieser Unglücksfällen gern würde hingegeben haben«.

Er wird geschlagen und sagt wie Franz: »Alles ging verloren, nur nicht die Ehre.«

»Je älter man wird, je mehr überredet man sich, daß die heilige Majestät, der Zufall, drei Vierteile dieser elenden Welt regieret und daß die, die sieh die Weisesten zu sein einbilden, die größten Narren der Gattung sind, die ohne Federn auf zwei Füßen gehet, zu der wir zu gehören die Ehre haben.«


»In den großen Bewegungen, denen ich entgegengehe, habe ich nicht Zeit, zu wissen, ob jemand Pasquille gegen mich schreibt in Europa; das weiß ich und dessen bin ich Zeuge, daß meine Feinde, mich zu erdrücken, alle Kräfte aufbieten. Ich weiß nicht, ob es der Mühe lohnet.«


»Es scheint, man vergißt in diesem Kriege, was Wohlstand: sei. Die poliziertesten Nationen kriegen wie wilde Tiere. Ich schäme mich der Menschheit; ich erröte über das Jahrhundert. Lasset uns die Wahrheit gestehen: Philosophie und Künste verbreiten sich nur auf eine geringe Zahl Menschen. Die große Masse, das Volk und der gemeine Adel bleiben das, wozu sie die Natur gemacht hat, boshafte Tiere.«


»Ihr habt der Sorbonne ein Grab gemacht; baut auch dem Parlament ein Grabmal. Es radotiert so stark, daß es mit ihm bald aus sein muß.«


»Ihr wünschet Frieden; wendet euch an die, die ihn der Welt geben können. Das sind aber Leute, die ihren Kopf voll hochmütiger Projekte haben; sie wollen eigenmächtige [44] Schiedsrichter der Regenten sein, und das mögen Menschen, die wie ich denken, nicht leiden. Ich liebe den Frieden, aber keinen andern als einen guten, standhaften, ehrenvollen Frieden. Sokrates und Plato hätten wie ich gedacht, wenn sie auf dem verwünschen Punkt gestanden hätten, den ich in dieser Welt einnehme.

Glaubt ihr, daß es ein Vergnügen sei, dies alberne Leben fortzuführen? Menschen, die man nicht kennt, um sich sterben sehen und sie dem Tode selbst zu überliefern, Tag für Tag seine Bekannte und Freunde zu verlieren, seinen Ruf dem Eigensinn des Ungefährs unaufhörlich ausgesetzt zu sehen, das ganze Jahr durch in Unruhe und scheuer Erwartung zuzubringen, ohne End und Maß sein Leben und Glück; aufs Spiel zu setzen?

Gewiß, ich kenne den Wert der Ruhe, die Annehmlichkeiten der Gesellschaft und die Freuden des Lebens; auch ich wünsche glücklich zu sein, wie irgend jemand. Sosehr ich aber diese Güter begehre, sowenig mag ich sie durch Niederträchtigkeit und Ehrlosigkeit erkaufen. Die Philosophie lehrt uns, unsre Pflicht tun, unserm Vaterlande selbst mit unserm Blut treu dienen, ihm unsre Ruhe, ja unser ganzes Dasein aufopfern.«


»Trotz aller Schulen der Philosophie wird der Mensch immerhin das bösartigste Tier der Welt bleiben; Aberglaube, Eigennutz, Rache, Verrat, Undankbarkeit werden bis ans Ende der Zeiten blutige, traurige Szenen hervorbringen, weil Leidenschaften uns beherrschen, selten die Vernunft. Immer wird's Kriege, Prozesse, Verwüstungen, Pest, Erdbeben, Banqueroute geben; um solche Dinge drehen sich die Annalen der Welt. Für Unglücksfälle ist die Ägide des Zeno ge macht; die Kränze aus dem Garten Epikurs sind für das Glück.«


»Ich stehe auf dem Punkt, mich mit den Russen zu setzen; es bleiben mir also nur die Königin von Ungarn, die Mandarinen des heil. Reichs und die lappländischen Räuber fürs [45] künftige Jahr übrig. Mein Herz hat mich diesen Gang tun heißen, ein Gefühl der Menschlichkeit, das gern die Ströme Bluts versiegen machen möchte, die beinah unsre ganze Sphäre überschwemmen, das gern den Mördereien, Barbareien, Mordbrennereien und allen den Abscheulichkeiten ein Ende machen möchte, die Menschen gegeneinander ausüben und durch die unglückliche Gewohnheit, sich im Blute zu baden, Tag für Tag wilder werden. Dauret dieser Krieg fort, so muß Europa in die Finsternis der Unwissenheit zurückfallen, und unsre Zeitgenossen werden wilde Tiere. Es ist Zeit, diesen Scheußlichkeiten ein Ende zu machen. Alle dies Unglück ist eine Folge der Ehrsucht Österreichs und Frankreichs. Laß sie ihren ungeheuren Projekten Grenze setzen; laß, wenn die Vernunft sie nicht weise machen kann, sie durch die Erschöpfung ihrer Finanzen, durch den übeln Zustand ihrer Sachen weise werden! Erröten mögen sie, wenn sie hören, daß der Himmel, der die Schwachen gegen den Anfall der Starken unterstützt hat, den ersten auch Mäßigung gnug verlieh, um von ihrem Glück keinen Mißbrauch zu machen und diesen den Frieden anzutragen. Das ist alles, was ein armer, ermatteter, gereizter, gekratzter, gebissener, hinkender, geknickter Löwe Euch sagen kann.« (1759.)


»Schwert und Tod haben unter uns abscheulich gewütet, und, was das Traurigste ist, wir sind noch nicht am Ende der Tragödie. Ihr könnt leicht denken, was so grausame Stöße auf mich für Wirkung gehabt haben; ich hülle mich in meinen Stoizismus, so gut ich es kann. Fleisch und Blut empören sich oft gegen die tyrannische Herrschaft der Vernunft; sie müssen aber nachgeben. Wenn ihr mich sehen solltet, würdet ihr mich kaum wiedererkennen: ich bin alt, verfallen, greis, voll Runzeln, ich verliere Zähne und Lustigkeit. Wenn das fortwährt, wird an mir nichts überbleiben als die Tollheit, Verse zu machen, und eine unverletzbare Anhänglichkeit an meine Pflichten und an die wenigen tugendhaften Menschen, die ich kenne. Meine Laufbahn ist schwer, voll Dornen und [46] Disteln. Ich habe allen Gram erprobt, der irgend die Menschheit kränken kann und mir oft die schönen Verse wiederholet:

Beglückt, wer in der Weisen Tempel u. f.«

»Ihr eifert gegen Jesuiten und Aberglauben. Es ist gut, gegen den Irrtum zu streiten; glaubt aber nicht, daß die Welt sich je ändern werde. Der menschliche Geist ist schwach, mehr als drei Vierteile der Menschen sind zu Sklaven des ungereimtesten Fanatismus geboren. Die Furcht vor Hölle und Teufel benebelt ihnen die Augen; sie verabscheuen den Weisen, der ihnen Licht schaffen will. Der große Haufe unsres Geschlechts ist dumm und boshaft. Umsonst suche ich in ihm das Bild der Gottheit, das ihm, wie die Theologen sagen, aufgeprägt worden. Jeder Mensch hat ein wildes Tier in sich; wenige wissen es zu bändigen, die meisten lassen ihm den Zügel, wenn die Furcht der Gesetze sie nicht zurückhält.

Vielleicht findet ihr mich zu menschenfeindlich. Ich bin krank; ich leide; und habe mit einem Halbdutzend *** und *** zu tun, die einen Sokrates und Antonin selbst außer Fassung bringen möchten. Ihr seid glücklich, dem Rat des Candide zu folgen und euren Garten zu bauen; nicht jedermann in der Welt kann es so gut haben. Der Ochs muß den Pflug ziehen wie die Nachtigall singen, der Delphin schwimmen und ich Krieg führen.«


»Je mehr ich dies Handwerk treibe, desto mehr überrede ich mich, daß das Glück die größeste Rolle dabei spiele. Ich glaube nicht, daß ich es lange treiben werde; meine Gesundheit nimmt zusehends ab, und es kann leicht sein, daß ich bald in das Land wandre, wo Gram und Schmerz, wo unsre Vergnügen und Hoffnungen uns nicht mehr folgen, wo man sich in dem Zustande findet, in dem man vor der Geburt war Vielleicht belustigt ihr euch bald mit meiner Grabschrift und gebt Rechenschaft von mir, wie Babouc dem Engel Ithuriel von Paris gab – –«

[47] Gnug. Muß man nicht unwillig werden, wenn man sieht, wie ein blühender Baum, eine so große, schöne Seele, nicht vom Sturme des Schicksals, sondern von giftigen Winden und Stürmen einer herrschsüchtigen Politik weniger schlechter Menschen so gebeugt und zerknickt wird? Die feste Eiche daurete aus; der schöne Palmbaum erhob sich; seine fröhliche, jugendliche Gestalt kam ihm aber nie ganz wieder. Friedrich tat seinem Lande wohl, wie sein Geist im großen ganzen es erforderlich und nötig hielt; aber hart zu sein, hatte er wider Willen in einer schweren Schule gelernet. Er sahe die Gefahr seiner Länder, seiner Krone, die Fortdauer seiner Macht; denn er hatte sie gegen ganz Europa behaupten müssen Wie anders, als daß er fortan ernst und strenge an die Zukunft dachte und der von ihm gegründeten Monarchie wenigstens das zum Schutz ließ, was er ihr lassen konnte, Gerechtigkeit, innere Ordnung, Kriegsheere und Geld. Man verzeihe ihm, wenn er für diese Dinge auch auf harten Wegen sorgte. Die böse Politik, die leider das Staatssystem Europas ausmacht, zwang ihn dazu, und freilich gingen manche zartere Zweige der Humanität, die der an sich selbst fühlbare, fröhliche Charakter Friederichs gewiß würde angebauet haben, dabei verloren. Hat überhaupt die Menschheit in Europa einen größeren Feind als diese Politik der Höfe in jenem sogenannten großen Staatensystem nebst allem, was dazu gehöret? 11

10.
An den Kaiser

Den Priester rufst du wieder zur Jüngerschaft
Des großen Stifters, machest zum Untertan
Den jochbeladnen Landmann, machst den
Juden zum Menschen. Wer hat geendet,
[48]
Wie du beginnest? Wenn von des Ackerbaus
Schweiß nicht für ihn auch triefet des Bauren Stirn,
Pflügt er nicht Eigentum dem Säugling,
Seufzet er mit, wenn von Erntelasten
Der Wagen seufzt: so bürdet Tyrannenrecht
Dem Unterdrückten Landeserhaltung auf,
Dienst, den die blut'ge Faust des Stärkern
Grub in die Tafel. Und die zerschlägst du.
Wen faßt des Mitleids Schauer nicht, wenn er sieht,
Wie unser Pöbel Kanaans Volk entmenscht!
Und tut der's nicht, weil unsre Fürsten
Sie in zu eiserne Fessel schmieden?
Du lösest ihnen, Retter, die rostige
Engangelegte Fessel vom wunden Arm;
Sie fühlen's, glauben's kaum. So lange
Hat's um die Elenden her geklirret.
Wir weinten Unmut, daß uns der Römer Rom
Zwar nicht beherrschte, aber doch peinigte;
Und blutig ist die andre Träne,
Daß uns der Römlinge Rom beherrschet,
Daß Deutschlands Kaiser Bügel des Zelters hielt,
Daß Deutschlands Kaiser nackt um die Teufelsburg
Herging, erfror, wenn nicht Mathildis –
Aber du kommst kaum und siehst, so siegst du.
Nun mag der dreikrontragende Obermönch
Mit allen seinen purpurbemäntelten
Mönchlein das Kanonsrecht, wie weit es
Walte, beschielen: denn du wirst sehen!

[49] So bewillkommte Klopstock den Kaiser Joseph auf seinem Kaiserthrone; mit welcher sonderbaren Empfindung lasen wir die Ode, die ich vorher nicht gekannt hatte, eben jetzt nach seinem vernommenen Tode. Es entspann sich darüber zwischen meinem Freunde und mir eine Art elegischen Gesprächs, das ich Ihnen hersetzen will, soweit ich mich dessen erinnere.

Gespräch
nach dem Tode des Kaiser Josephs II.

A.{ } Ein sonderbares Ding ist der Tod eines Monarchen. Wir sahen ihn bei Joseph vorher, wir wußten, daß der Kranke sich ihm nahte; und jetzt, da über ihm die Totenglocken tönen, welch eine andre Empfindung! Ohne ihn gekannt und von ihm eine Wohltat genossen zu haben, hätte ich weinen mögen, da ich die letzten Umstände seines Lebens las. Vor neun Jahren, da er auf den Thron stieg, ward er als ein Hülfsgott angebetet und von ihm das Größeste, Rühmlichste, fast das Unmögliche erwartet; jetzt trägt man ihn als ein Söhnopfer der Zeit zu Grabe. Hat je ein Kaiser, hat je ein Sterblicher, möchte ich sagen, mehr gewollt, sich mehr bemühet, mehr angestrebet, rastloser gewirket alser? Und welch ein Schicksal, vorm Angesichte des Todes in den besten Lebensjahren die Erreichung seiner Absichten nicht nur aufgeben, sondern die ganze Mühe und Arbeit seines Lebens förmlich widerrufen, feierlich ausstreichen zu müssen, und so zu sterben! Mir ist kein Beispiel in der Geschichte bekannt, daß es einem Monarchen so hart gegangen wäre.

B.{ } Das war das Schicksal des Monarchen; setzen Sie noch das Verhängnis hinzu, das ihn als Menschen traf. Das einzige, was er in seinem Hause mit Zärtlichkeit liebt, der letzte Gegenstand seiner Familienhoffnung wird ihm genommen – und damit der Schmerz so empfindlicher sei, eben nach dem Aufblick der Freude, unerwartet genommen! Sein[50] Liebling muß so dicht vor ihm das Opfer des Grabes werden, daß seine Leiche die ihrige aus dem Kaiserhause gleichsam wegdrängt und sein Leben sich nur solange zu fristen scheint, damit vor seinen Augen noch dessen letzte Freude zerknickt werde! – »Begrabet sie,« sprach er, »damit für meine Leiche Platz werde!« Ein einziges Schicksal!

A.{ } Der Unglückliche konnte zuletzt nicht sagen: »Ich kam, ich sah, ich siegte!,« kaum: »Ich kam, ich sah, ich wollte!«

B.{ } Beruhigen Sie sich. Auch darin schon liegt viel, wie er sagen zu können: »Ich sah und wollte!«

Er hat viel, sehr viel, und weniges müßig gesehen. Allenthalben, wo es in andern Ländern besser war, oder ihm besser zu sein schien, sammlete er mit rastloser Tätigkeit Gedanken, Entwürfe in seine Seele –

A.{ } Die der Tod ihm jetzt alle raubet! – Ja, ja! er hat vieles, fast zu vieles gesehen. Nicht mir die Länder Europas, die er bereisete, nicht nur das Innere seiner Länder, die er als Erbe und Mitregent früh und lange genug bis zum kleinsten Detail kennenlernte, nicht dies nur! Er sah eben damit auch Gruben des Schlammes, die ihn erbitterten, Pfützen und Moräste von Untreue, Schwelgerei, Üppigkeit, Trägheit, Unordnung, die er mit Gewalt ausfüllen und zum gesunden Garten machen wollte und in deren Abgrunde er erliegt. Der Unrat schlägt über ihm zusammen, und vielleicht kommt die ganze alte Verfassung wieder.

B.{ } Das wollen wir nicht glauben. Er bekommt einen Nachfolger, der ein geprüfter Haushälter, ein versuchter Regent ist, von dem Joseph selbst zum Teil gelernt und geborgt hatte –

A.{ } Und doch wollte er, fast ohne Ausnahme, der letzten Absicht nach, lauter Billiges, Nützliches, Gutes! Oft war, was er wollte, nur erste Pflicht der Vernunft, der Humanität, der gesellschaftlichen Rechte; an etwas Außerordentliches und Überfeines war während seiner Regierung lange noch nicht zu denken. Dennoch erregt er in allen Provinzen und Ländern, auch bei Ständen, denen er am meisten helfen [51] wollte, murrende Unzufriedenheit; er stirbt beim Ausdruck eines allgemeinen Ungewitters, des Aufruhrs in seinem weiten Reiche –

B.{ } Wollen wir nicht, m. Fr., diesen Ort verlassen, wo die Totenglocken uns übertäuben? Was hilft über einen Unglücksfall das bloße Staunen? Wir wollen freie Luft suchen und uns darüber frei unterreden.

(Wir gingen auf eine angenehme Höhe, auf der die zahlreichen Dörfer der ringsum liegenden Ebene ein angenehmer Anblick waren. Die Totenglocken, die von den Landkirchtürmen in der Entfernung tönten, machten eine sanftere Harmonie, und unser Gespräch knüpfte sich bald von neuem an.)

B.{ } Woher glauben Sie denn, daß das ungewöhnliche Schicksal Josephs gekommen sei? Alle Dinge in der Welt haben ihre Ursache.

A.{ } Wie mich dünkt, stand er dem großen Friedrich zu nahe; und es war Natur der Sache –

B.{ } Wieso zu nahe? Friedrich hat ihm doch nicht geschadet. Er hat ihm zu einem größern Schlesien, den Königreichen Galizien und Ludomirien geholfen; aus dem Bayrischen Sukzessionskriege gegen Friedrich kam Joseph auch mit fast unerwarteter Ehre. Überdem hat Friedrich von ihm meistens sehr günstig geurteilt, und der alte König glaubte wohl nicht, daß Joseph ihm sobald nachfolgen würde.

A.{ } So meine ich's nicht. Denken Sie sich die Lebensgeschichte des Kaisers. Mit ihm als einem Säuglinge mußte seine Mutter nach Ungarn flüchten und ihn als einen Gegenstand des Mitleidens den Ständen zeigen; vor wem flüchtete sie? gegen wen erbat sie sich Mitleid und Beistand? Was war also natürlicher, als daß der Name Friedrichs dem Kinde und Jünglinge oft genannt werden mußte; denn eben auch die Jahre, in denen der Geist des Menschen aufwacht, fielen bei Joseph in die Zeit des Siebenjährigen Krieges –

B.{ } Dem er dazu nicht beiwohnen durfte!

A.{ } Notwendig ward Friedrich ihm als Nachbar, als Feind [52] seines Hauses, noch mehr aber als der König und Kriegsmann, für den er damals mit einem ganz einzelnen Glück und Ruhm galt –

B.{ } Und immer gelten wird! –

A.{ } Ein Gegenstand der dringendsten Nacheiferung.

B.{ } Und worin eiferte er ihm zuerst nach?

A.{ } In allem. Er wollte selbst regieren, wie Friederich.

B.{ } Das Selbstregieren ist ein erhabener Gedanke; wäre es aber vom Alleinbefehlen nicht sehr unterschieden? Friedrich teilte die Geschäfte, die auszuführen waren, mit großem Bedacht nicht nur ein, sondern auch aus. Er verrichtete, was für ihn gehörte, mit Leichtigkeit und überließ andern, was sie tun sollten.

A.{ } Das tat Joseph auch. Haben Sie das Reglement nicht gelesen, das er bei seiner zweiten Reise nach Italien den Chefs aller seiner Departements nachließ? Er wollte nur befohlen haben, und sie sollten ausführen; sie sollten seine Befehle selbst nach Ort und Stelle modifizieren.

B.{ } Das ist mehr, als ein Gesetzgeber sonst zu verstatten pflegt. Aber auf die Geschäfte und die Geschäftigkeit des Monarchen selbst wieder zu kommen, Friedrich sah nicht nur, sondern er übersah auch vieles, sobald er nur seinen Hauptzweck erreichte.

A.{ } Ob dieses ein uneingeschränktes Lob wäre?

B.{ } Dafür gebe ich es auch nicht; genug, als ein einzelner Mensch erreichte er damit seinen Endzweck. Er blickte in das Detail der Dinge nicht zu tief, damit er sich nicht verwirrte.

A.{ } Die Ersparung würde Joseph mit der Zeit auch gelernt haben.

B.{ } Friedrich fing nicht zuviel, nicht alles auf einmal an.

A.{ } Joseph tat's, weil für ihn so viel, ja alles zu tun war. Vielleicht ahndete er, daß er nicht lange leben würde; zudem verwickelte ihn eins ins andre; er glaubte, nichts könne ganz gesehenen, wenn nichtalles begonnen würde. Hatte er darin so ganz unrecht?

[53] B.{ } Nicht unrecht, aber es ging über Menschenkräfte. Überdem zerstreuete Friedrich sich nicht, er reisete nicht –

A.{ } Dem Kaiser waren diese Zerstreuungen Belehrung; sie waren ihm das einzige Vergnügen, seiner Gesundheit selbst unentbehrlich.

B.{ } Friedrich, der in jüngern Jahren zu reisen außerordentliche Lust hatte, entsagte, sobald er Regent war, allen Reisen in fremde Länder; er betrachtete sich als Steuermann auf dem Schiff seiner Staaten. So angenehm er in Gesellschaften hätte werden können, so begnügte er sich dennoch an einer Gesellschaft weniger erlesenen Freunde und wählte sieh eine andre noch einsamere Ergötzung, die er unausgesetzt, obwohl sehr regelmäßig trieb, ja die ihm bald so unentbehrlich ward als den Morgenländern das Opium –

A.{ } Sie meinen die Lektüre?

B.{ } Die Lektüre und Schriftstellerei, das Lesen und Schreiben; beide sind voneinander auch vielleicht unzertrennlich. Durchs Schreiben lernt man lesen und hören, durchs Hören lernt man schreiben und wird dazu getrieben, begeistert.

A.{ } Ob das aber einen Regenten nicht zu sehr zerstreuen möchte? Kaiser und Autor!

B.{ } Autor muß ein Kaiser und jeder Regent unausbleiblich werden, indem er Gesetze, Verordnungen bekanntmacht. Soll er also nur vor fremde Werke seinen Namen schreiben, so schreibet er ihn meistens nur vor Werke, deren er sich selbst schämet.

A.{ } Das war Josephs Fall nicht. Er schrieb selbst Gesetze.

B.{ } Und großenteils vortreffliche. Glauben Sie aber, daß das ewige Gesetzschreiben einem Regenten genug ist, zur geistigen Erheitrung, zur Verjüngung seiner Seele? Friedrich las und schrieb bloß und allein zu Bildung seines Geistes, zur Erfrischung und Ordnung seiner Gedanken: dann vergaß er Politik und Staatssorgen. Er lebte unter den Alten, dachte mit ihnen, mit großen Männern einer edlern Zeit. Er stärkte sich damit in jener hohen Einfalt fester Grundsätze und der Erfüllung seiner Pflichten; er ward selbst ein Alter –

[54] A.{ } Welches alles freilich dem immertätigen Joseph entgehen mußte! –

B.{ } Ihn, scheint es, hatte die Muse, als er geboren ward, mit ihrem himmlischen Auge nicht gesegnet. Jesuiten hatten ihn nicht gelehrt, was Friedrich in der schweren Schule seiner Jugend durch eignen Aufschwung seines Geistes sich selbst lehrte.

A.{ } Von Schriftstellern soll er überhaupt nicht groß gedacht haben.

B.{ } So wenig groß, daß er den ganzen Bücherhandel für einen Käsehandel ansah. Ihm war also die Hauptquelle der innern höheren Freude und Ermunterung versagt, aus welcher Friedrich schöpfte. Er wußte nur in unsrer Zeit zu leben; daher auch sein Zeitalter unklassisch geblieben.

A.{ } Es hat indessen doch vortreffliche Schriftsteller in Wien, in Böhmen, selbst in Ungarn unter ihm gegeben.

B.{ } Unter ihm, aber nicht durch ihn.

A.{ } Bei Friedrich mochte das derselbe Fall sein.

B.{ } Friedrich fand die Literatur seiner Länder auf einem Fuß, daß sie sich selbst forthelfen konnte. Sie war sogar gegen die Barbarei seines Vorgängers bestanden; mithin, sobald er nur die Freiheit zu denken nachließ und selbst einen großen, edlen Geschmack zeigte, so eiferte man nach, ja man flog voran.

A.{ } Auch Joseph verstattete die Freiheit zu denken.

B.{ } Vortrefflich! und noch edler, daß er sie nie zurückrief, wenn die Freiheit gleich Frechheit ward und ihn selbst antastete. Möge dieser große Geist sich auf seine Nachkommen fortbreiten! Damit aber erfüllte Joseph die Hoffnungen lange nicht, die man fast unglaublich von ihm hatte –

A.{ } Überspannte Hoffnungen!

B.{ } Nicht überspannte, weil alles für ihn bereitstand und nur auf seinen Wink wartete. Welch ein Zeitalter hätte Joseph erwecken können, für sich und für andre! Bei dem unendlich vielen, was er sah, übersah er dieses.

[55] A.{ } Der deutschen Sprache und Schaubühne indes hat er doch genutzet.

B.{ } Ich glaube es. Und wieviel andern hätte er mit der leichtesten Mühe nutzen können, wenn ihm von Kindheit auf der Geschmack daran beigebracht wäre! Unglücklich ist ein künftiger Regent, dem in seiner Jugend der Quell verschlossen oder trübe gemacht wird, der ihm in seiner künftigen, ewig zerstreuenden und ermüdenden Laufbahn doch allein die schönste Erquickung geben kann und muß. Nur durch die Wissenschaften gewinnt ein Regent das Maß seiner selbst, eine Sammlung seiner Gedanken, ein geistiges Organ, die Dinge anzusehen und zu genießen. Ohne Liebe zur Wissenschaft bleibt er ein sinnlicher Mensch, dem bei aller seiner Tätigkeit von außen in entscheidenden Fällen dennoch das innere Auge, das innerste Herz zu fehlen scheinet.

(Hier verbreitete sich unser Gespräch auf einzelne verdiente Männer in den österreichischen Staaten, auf die reiche. Ernte, die in diesem weiten Felde für die künftige Zeit zu erwarten stehet; endlich beschieden wir uns auf den morgenden Tag zu dieser Stunde wieder auf diesen angenehmen Hügel. Und wir setzten das Gespräch fort:)


B. Mich dünkt, aus unserm gestrigen Gespräch erhellete, daß Joseph dem alten Könige nicht in allem, nicht im Vornehmsten nachgeeifert habe; wissen Sie etwas anderes, worin dieser ihm schädlich gewesen?

A.{ } In dem Kriegs-, in dem Eroberungsgeist, den er ihm wider Willen einflößte.

B.{ } Friedrich ihm? Soviel ich weiß, war seit dem Siebenjährigen Kriege dem großen Könige die Lust zu kriegen ganz vergangen; er suchte und predigte Frieden. Zur Teilung Polens tat nicht er den Vorschlag; und als er ihn annahm, begnügte er sich mit dem kleinsten Teil des Erwerbes. Seinetwegen hätte Joseph immer in Ruhe regieren und seine Staaten ordnen können; ja, als er nach Bayern griff, [56] setzte eben Friedrich sich seinem Ländererwerb bloß in der Absicht entgegen, daß künftig ein so böser Zunder zu Kriegen, der Ländererwerb, in Deutschland nicht mehr statthaben sollte. Mich dünkt, dieser Habgeist dorfte Joseph nicht eben anderswo herkommen; leider war er ja die ererbte Politik des Habsburgischen Hauses. Joseph dachte, wie bekannt ist, an die Länder, die Östreich hatte aufopfern müssen, und vergaß, wie es zu manchen Ländern gekommen sei. Offenbar war auch, wenigstens im damaligen Moment, der Zeitgeist für dergleichen Erwerbe nicht gestimmt. Mit seinen Ansprüchen auf Bayern und die Schelde verlor der Kaiser das Zutrauen Europas; mit Anmaßungen in Deutschland verlor er das Zutrauen des Reichs, vielleicht mehr, als er's verdiente. Mit dem traurigen Türkenkriege endlich –

A.{ } Denken Sie nicht an diesen Krieg. Feldherrn, Freunde, Gesundheit, Ruhe und Leben opferte der zu freigebige Bundsgenoß einem Feldzuge auf, der ihm vielleicht hätte fremde sein mögen

B.{ } Und fremde sein müssen, da die innere Einrichtung seines Reichs, sein männlich großes Werk, alle seine Kräfte foderte. Jetzt, indem er die Krim durchwanderte, wohin nie ein römischer Kaiser gekommen war und nie einer zu einem solchen Zweck hätte kommen mögen, fingen die Niederlande an zu glühen.

A.{ } Und im unglücklichen Türkenkriege loderten fast alle Provinzen in hellen Flammen auf. Verwünscht sein überhaupt alle Eroberungskriege! Aus dem zivilisierten Europa wenigstens sollten sie durch einen allgemeinen Fürstenbund alle verbannt sein. König Friedrich mit seinem eroberten Schlesien, das er durch seinen Siebenjährigen Krieg schwer gnug verteidiget hat, möge die Reihe der Eroberer, als beinah unübertrefflich, schließen!

B.{ } So werden auch in Friedenszeiten die deshalb gemachten drückenden Anstalten aufhören. Glauben Sie, m. Fr., reine Bemühungen zum Besten der Menschheit können in einem [57] Staat schwerlich gedeihen, solange der Eroberungsgeist die Fahne schwingt und die erste Staatslivrei träget. Wir sind sodann und bleiben, was wir bereits zu Tacitus' Zeit waren, »auch im Frieden zum Kriege gewaffnete Barbaren«.

A.{ } Das Lob des Kriegshelden gebe ich gern auf und beklage vielmehr, daß Joseph diesen Dienst auch persönlich sich so sauer werden ließ, als selten ein gemeiner Soldat tun würde.

B.{ } Friedrich war nie Soldat; er war Feldherr.

A.{ } So wollen wir denn lieber von Josephs Feldzügen gegen den Aberglauben, gegen die Intoleranz und Pfäfferei reden. Hier ist doch sein Verdienst unstreitig.

B.{ } Unstreitig; ich hoffe, auch unsterblich.

A.{ } Es ward ihm auch sauer gnug. Die Hyder gewann immer neue Köpfe. Und doch war im meisten seine Absicht ebenso unverkennbar als gerecht, nützlich, unentbehrlich. Was war z.B.{ } rechtmäßiger, als daß er die Geistlichkeit seines Landes fremder Gerichtsbarkeit, die Sünden seines Landes fremder Dispensation entnahm?

B. Oder billiger als die Freiheit, die er der Bücherzensur gab?

A.{ } Oder pflichtmäßiger, als daß er die Klöster verminderte und den Unterricht des Volks vermehrte?

B.{ } Oder rühmlicher, als daß er alle Religionsparteien vor Bedrückungen schützte? Aber, m. Fr., wer hatte ihm bei diesem allen die Hände binden können?

A.{ } Sie kennen die Hyder nicht!

B.{ } Wenn der Kaiser es unverrückt gewollt, wenn er bei jedem Schritt, den er tun wollte, die Folgen überdacht, die Auskunft gegen sie zum voraus bestimmt, soviel möglich alle Ärgernisse vermieden, sodann aber auch ruhig den Bann oder das Interdikt erwartet hätte.

A.{ } Dazu wäre es wohl nie gekommen; die innern Verdrießlichkeiten und Unordnungen aber waren desto größer.

B.{ } Lassen Sie es uns gestehen: an denen der Kaiser zum Teil selbst schuld war. Durch Nachgeben, durch Ärgernisse, durch unvorgesehene Folgen u. f. Überhaupt scheinet es, [58] daß er bei der Religionsänderung auf keinen festen Grund gebauet habe; alles blieb schwankend, und die harte Behandlung der Deisten in Böhmen –

A.{ } Diese war eine Übereilung!

B.{ } Nein! es war eine Folge des Unwillens, daß sich diese Leute von ihm selbst nicht bekehren lassen wollten. Ein andrer Regent hätte sich gefreuet, ein Völkchen solcher Art zu finden; und wenn er's mit seinem Schutze beehrt hätte, würde er hie und da vielleicht nicht unverwerfliche Funken erweckt haben. Jetzt ward der Name, den jeder hochschätzen muß, er sei Christ, Jude, Türk, Heide, der Name Deist vom toleranten Joseph gemißhandelt, das tut mir weh, für ihn selbst und zum Besten der Menschheit.

(Hier verbreitete sich das Gespräch abermals auf mehrere Anstalten des Kaisers, auf die Beschaffenheit und die Verteidiger seines Kirchenrechts u.f.; am folgenden Tage endlich kamen wir zu den Hauptmerkwürdigkeiten seiner Regierung.)

A.{ } Daß Joseph sich des unterdrückten Landmanns annahm, wird also wohl sein größester Ruhm bleiben.

B.{ } Sein größester, und wahrlich ein humaner Ruhm. Golden sind die Grundsätze, die er in mehreren Befehlen äußert: »Ist es nicht Unsinn zu glauben,« sagt er, »daß die Obrigkeiten das Land besessen, bevor noch Untertanen waren, und daß sie das ihrige unter gewissen Bedingungen an die letztern abgetreten haben? Müßten sie nicht auf der Stelle vor Hunger davonlaufen, wenn niemand den Grund bearbeitete? Ebenso absurd wäre es, wenn sich ein Landesfürst einbildete, das Land gehöre ihm und nicht er dem Lande zu; Millionen Menschen sein für ihn und nicht er für sie gemacht, um ihnen zu dienen.«

A.{ } Ähnliche Stellen sind in allen seinen Befehlen. Er kannte den Quell des Verderbens und nahm sich seiner bis auf den Grund an. Jede Saite des menschlichen Elends hat er berühret.

B.{ } Daß Joseph dies tat, bleibt sein ewiger Ruhm, wenn er [59] gleich nicht allenthalben durchdrang. Seine Verordnungen gegen die Leibeigenschaft, über Majorate, Steuern u. f. enthalten so viel Merkwürdiges, daß eine spätere Zeit gewiß besser und sichrer verfolgen wird, was er hie und da übereilt angab. Vielleicht trauete er gelesenen Theorien zu Sehr, tat große Schritte und lebte nicht lange gnug, seine Schritte zu behaupten.

A.{ } Welchen Widerstand hat er auch hierin erfahren!

B.{ } Einen größeren, als ihm selbst die Pfaffen inihrem Kreise entgegensetzen konnten. Der Widerstand wird immer wiederkommen, sobald ein Regent sich des Landmanns annimmt, zumal in denen von slawischen Nationen bewohnten Ländern. Hier gilt's aber, was Kaiser Siegmund sagte: »Wer über ein Ding nicht springen kann, muß drunter wegkriechen.«

A.{ } Das dünkte Joseph nicht der königliche Weg.

B.{ } Drum ist er auch dem Sprunge erlegen. Alles, m. Fr., läßt sich in der Welt nicht auf einmal, nicht mit Gewalt ausführen, dazu ohne Gehülfen, ohne Werkzeuge, woran es dem Kaiser sehr fehlte.

A.{ } Das wundert mich indes, daß er auch das Volk nicht mehr gewann, gegen welches er doch so popular war. Er Suchte das Beste desselben so entschieden! –

B.{ } Stieß aber dabei auch das Volk in manchem so vor die Stirn, beleidigte unschuldige, ja angenehme Vorurteile desselben so sehr, daß der arme Haufe von Pfaffen und andern sich gegen seinen eignen Wohltäter selbst ins Netz jagen ließ.

A.{ } Welche unschuldige Vorurteile des Volks hat er beleidigt?

B.{ } Aus vielen führe ich nur wenige in; zuerst dasVorurteil der Sprache. Hat wohl ein Volk, zumal ein unkultiviertes Volk, etwas Lieberes als die Sprache seiner Väter? In ihr wohnet sein ganzer Gedankenreichtum an Tradition, Geschichte, Religion und Grundsätzen des Lebens, alle sein Herz und Seele. Einem solchen Volk seine Sprache nehmen oder herabwürdigen heißt ihm sein einziges unsterbliches [60] Eigentum nehmen, das von Eltern auf Kinder fortgeht.

A.{ } Und doch kannte Joseph mehrere dieser Völker persönlich und sehr genau.

B.{ } Um so mehr ist's zu verwundern, daß er den Eingriff nicht wahrnahm, den er sich damit in ihre beliebtesten Rechte erlaubte. »Wer mir meine Sprache verdrängt (glaubt der Idiot nicht ungründlich), will mir auch meine Vernunft und Lebensweise, die Ehre und Rechte meines Volks rauben.« Wahrlich, wie Gott alle Sprachen der Welt duldet, so sollte auch ein Regent die verschiednen Sprachen seiner Völker nicht nur dulden, sondern auch ehren.

A.{ } Er wollte aber eine schnellere Betreibung der Geschäfte, eine schnellere Kultur bewirken.

B.{ } Die beste Kultur eines Volks ist nicht schnell; sie läßt sich durch eine fremde Sprache nicht erzwingen. Am schönsten und, ich möchte sagen, einzig gedeihet sie auf dem eignen Boden der Nation, in ihrer ererbten und sich forterbenden Mundart. Mit der Sprache erbeutet man das Herz des Volks, und ist's nicht ein großer Gedanke, unter so vielen Völkern, Ungarn, Slawen, Wlachen u.f., Keime des Wohlseins auf die fernste Zukunft hin ganz in ihrer Denkart, auf die ihnen eigenste undbeliebteste Weise zu pflanzen?

A.{ } Was brauchte Joseph dazu für Hände! Ihm schien es ein größerer Gedanke, alle seine Staaten und Provinzen womöglich zu einem Kodex der Gesetze, zu einem Erziehungssystem, zu einer Monarchie zu verschmelzen.

B.{ } Ein Lieblingsgedanke unsres Jahrhunderts! Ist er aber ausführbar? ist er billig und nützlich? Brabanter und Böhmen, Siebenbürger und Lombarden, stehen sie auf einer Stufe der Kultur? gehören sie also in ein Institut der Erziehung? in einen Kodex der Gesetze und Strafen? Gott selbst hat sich eine solche Zusammenschmelzung nicht erlaubt; daher er jedes Volk nach seiner Weise unterrichtet.

A.{ } Leider war der ganze Normalzuschnitt der Kollegien und Schulen ein exjesuitischer, armer Begriff! –

[61] B.{ } Der indessen ganze Völker aufbrachte. Über Armseligkeiten solcher Art empörte sich die Universität Löwen, die Niederlande machten dem erregten Feuer gerne Platz; so griff es weiter! –

A.{ } Und doch meinte es auch hierin Joseph gut mit den Völkern. Was er ihnen gab, war freilich nicht das Beste, aber doch ein Besseres, als sie besaßen. Er war selbst nicht besser erzogen worden

B.{ } Und seine Gesetzbücher?

A.{ } Mit denen ging er freilich etwas schnell zu Werk.

B.{ } In einer notdringenden Sache mußte die Bahn gebrochen werden. Was ich dabei am meisten bedaure, ist, daß Joseph durch manche Gesetze seinen eignen Absichten völlig entgegenzuarbeiten schien.

A.{ } Zum Beispiel?

B.{ } Zum Beispiel in seinem Kriminalkodex die Häufung der Verbrechen gegen den Staat.

A.{ } Dagegen er ja aber die Verbrechen der beleidigten Majestät aufhob.{ }

B. Geringe Aufopferung gegen ein viel größeres Un heil, dem Platz gemacht wurde. Zum Verbrechen gegen den Staat kann alles, auch das kleinste Vergehen gegen die Polizei gemacht werden. Denn was wäre nicht gegen den Staat, sobald man statt der sichtbaren, doch nur leibhaften Majestät dies willkürliche, unbestimmte Phantom auf den Thron erhöbe?

A.{ } Freilich, auch die mitleidswertesten Krankheiten der Natur können sodann zu Rebellen gegen den Staat gemacht werden, z.B.{ } der unglückliche Selbstmord. Der Ärmste der Menschen hat sich dem Staat entzogen; mithin müssen alle körperliche Beschimpfungen, die niedrigsten Schläge sein Los sein. Was die gütige Natur selbst nicht verhindern konnte, will der Monarch im Namen des Staates durch knechtische Beschimpfungen nicht verhindern, sondern rächen und strafen.

B. Schweigen Sie, Freund. Die Vernachlässigung, ja ich möchte [62] sagen, die Vernichtung des Gefühls für Ehre und Schande hat mich in Josephs Gesetzgebung ganz irre gemacht. Vernichte das Gefühl der Ehre, den Namen der Familie und Verwandten, die den Toten gebührende Achtung u.f.; womit willst du es ersetzen? Die Natur selbst sträubt sich gegen solche Einrichtungen, die Joseph daher bald selbst einschränken, einstellen mußte oder auch bald unglücklicherweise nicht einstellte. In wenigen Jahren hätte er auf Straßen und Gassen zwischen lauter Verbrechern gegen den Staat wandeln müssen, ein fürs Volk, für den Regenten und für alles, was Mensch oder Halbmensch ist, abscheulicher Anblick! –

A.{ } Ich weiß selbst nicht, wie Joseph bei seinem übrigens guten Herzen zu diesem Mangel an Mitempfindung und Delikatesse kam.

B.{ } Ein Wort würde Ihnen dies erklären. Können Sie es leugnen, daß bei Joseph der Schein derSelbstherrschaft das meiste, ja alles verderbte?

A.{ } Kaum wage ich's zu leugnen. Er wollte das Beste, aber er wollte es als Despot. Selbst in dem schönen, ich möchte sagen, väterlichen Aufsatze, den er an die Chefs seiner Kollegien schrieb, von dem wir gesprochen haben, sind davon Spuren.

B.{ } Und die willkürliche Verkürzung zugesicherter Gehalte? könnte manche derselben auch die äußerste Not entschuldigen?

A.{ } Kaum.

B.{ } Und die Benutzung der Waisengelder für den Staat? Und die Art der Klosteraufhebung und der Veräußerung geistlicher Güter? Und die Verwaltung der Religionskassen? Und die Konduitenlisten? Und die Verfügungen auf dieselbe? Warum ließ er sich in Ungarn nicht krönen? warum entzog er den Ungarn ihre Krone? Ich könnte noch lange so fragen.

A.{ } Und doch war er in seinem mühseligen Leben nichts weniger als ein Sardanapal. Er diente dem Staat als Taglöhner, als unablässiger Werkmann.

[63] B.{ } Wie gefährlich ist's, auf der oder jener Stelle, aus der oder jener Fürstengattung zum Thron, zu Thronen geboren zu sein! Eine unglückliche Fee bringt an der Wiege des Prinzen einen unauslöschlichen Querstrich in die Seele des Kindes und gibt ihm die schreckliche Verwünschung mit, daß nach Verhältnis der besten Bemühungen des unglücklichen Halbgotts der Querstrich für ihn selbst und andre unzerstörlich wachse.

A.{ } Unglücklich!

B.{ } Wem unterlag also Joseph? Nicht der Schwachheit der menschlichen Natur, sondern der geglaubten und von Kindheit auf genährten Allgewalt des Selbstbeherrschers. Nicht das Schicksal, die Natur der Dinge, der Wille seiner Untertanen hat ihn gebeuget.

(Natürlicherweise ging das Gespräch hier auf eine Menge einzelner Umstände seines Lebens und Todes über, die mein Freund wußte; es erhob sich endlich wieder:)

A.{ } Seine Fehler hat Joseph schwer gebüßet –

B.{ } Und in sein Grab genommen; das Gute, das er gewollt und anfangsweise bewirkt hat, wird, ob wohl einesteils in zerfallenden Resten, bleiben und dereinst glücklicher an den Tag treten; denn es ist dem größten Teile nach ein reines Gute zum Ertrage der Menschheit. Er hat es seinen Nachfolgern schwer gemacht –

A.{ } Ich dächte, leicht gemacht: sie dürfen nur seiner Bahn folgen.

B.{ } Vorderhand schwer gemacht. Er hat an allen Säulen gerüttelt und den Staat beweget. Wer künftighin eine Säule nur angreift, wird die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen, und man wird ihn durch Liebkosungen und Schreckbilder von dem Werk abzuziehen suchen, das Joseph begann und unmöglich endigen konnte. Er hat die Bedürfnisse seiner Staaten tiefer gekannt als vielleicht kein Regent unsrer Zeiten.

A.{ } Und emsiger besorgt als vielleicht kein Regent unsrer Zeiten.

[64] B.{ } Oft ist der Wille größer als die Tat, das Unternehmen edler als die Ausführung. Ich weiß nicht, ob viele nach seinem Tode viel zu seinem Lobe schreiben werden; aber was man dazu aus Ansicht der Dinge schreibt, wird die billigere Nachwelt gutheißen, seinen Schatten ehren und nicht mehr mit Bedauren, sondern mit frohem Erstaunen einst sagen: »Auch er schon sah dies und wollte!«

A.{ } Kennen Sie seinen Brief, den er im Jahr 1784 an die Stadt Ofen schrieb, als sie ihm eine Ehrensäule setzen wollte? Hier ist er:

»Wenn die Vorurteile werden ausgewurzelt und wahre Vaterlandsliebe und Begriffe für das allgemeine Beste werden beigebracht sein; wenn jedermann in einem gleichen Maße das Seinige mit Freude zu den Bedürfnissen des Staats, zu dessen Sicherheit und Aufnahme beitragen wird; wenn Aufklärung durch verbesserte Studien, Vereinfachung in der Belehrung der Geistlichkeit und Verbindung der wahren Religionsbegriffe mit den bürgerlichen Gesetzen; wenn eine bündigere Justiz, Reichtum durch vermehrte Population und verbesserten Ackerbau; wenn Erkenntnis des wahren Interesse des Herrn gegen seine Untertanen und dieser gegen ihren Herrn; wenn Industrie, Manufakturen und deren Vertrieb, die Zirkulation aller Produkte in der ganzen Monarchie unter sich werden eingeführt sein, wie ich es sicher hoffe: alsdann verdiene ich eine Ehrensäule, nicht aber jetzt.«

B.{ } Wenn dies alles geschehen ist, bedarf der großeWollende keiner Ehrensäule mehr; sein Unternehmen, sein schwerer Anfang ist ihm allein schon ein Koloß für die Nachwelt.

So endete unser Gespräch; und die Glocken verhallten. Wünschen Sie nicht auch mit mir ein Leben Josephs zur Lehre für die Nachwelt?

[65]

11.

Wie kommt es, m. Fr., daß unsre Poesie, verglichen mit der Poesie älterer Zeiten, an öffentlichen Sachen so wenig teilnimmt? Die Poesie der Hebräer in den heiligen Büchern ist ganz patriotisch; die Poesie der Griechen nach ihren Hauptarten nahm in den besten Zeiten sehr vielen, die Poesie der Römer einen bei weitem schon geringeren Anteil an öffentlichen Begebenheiten und Geschäften. Seitdem endlich die Barden und Leiermänner ziehender Heere Trompetern und Paukern ihre Stellen überließen, seitdem –

Doch sofern beantworte ich mir die Frage selbst, auf die ohnedem andre bereits geantwortet haben. Wie kommt's aber, daß auch seitdem die Dichterei gedruckte Kunst ist, ihr Anteil an der gemeinen Sache zu verschiedenen Zeiten so ungleich gewesen und jetzt so gar gering zu sein scheinet? Mehrere tapfere Gedichte auch aus unserm Vaterlande von Luther, Opitz, Logau und nach einem großen Sprunge der Zeiten von Kleist, Gleim, Uz, Klopstock, Stolberg, Bürger u.a. sind uns in Herz und Seele geschrieben; ist diese Muse anjetzt entschlafen? Oder hat sie, wie Baal, etwas anderes zu schaffen, daß sie vom Geiste der Zeit nicht erweckt, das Geräusch um sich her nicht höret?

Mich dünkt, so ist es; sie hat etwas anderes zu schaffen. Schlagen Sie darüber die neueren Dichter nach. Und doch erwarten wir, wenn wir von einem neuen Dichter hören, zuerst und vor allem ein Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut der allgemeinen Stimme, des Wunsches und Strebens der Nationen, den Hauch und Nachklang des mächtigen Zeitgeistes.

Der göttliche Mund der Muse ist in aller Welt gepriesen. Sie darf Dinge sagen, die die Prose nicht zu sagen wagt, und flößet sie unvermerkt in Herz und Seele. Gab sie der Fabel einst jenen lieblichen Ton, jene Süßigkeit, nach welcher wir auch nach Jahrtausenden noch wie nach einer Erquickung lechzen; wie? und sie sollte der auf uns dringenden Wahrheit [66] wenigstens einen gefälligen. Anzug, eine einladende Gestalt nicht zu geben vermögen?

Oft beunruhigen mich in meiner Einsamkeit die Schatten jener alten mächtigen Dichter und Weisen. Jesaias, Pindar, Alcäus, Äschylus stehen als gewaffnete Männer vor mir und fragen: »Was würden wir in euren Zeiten gedacht, gesagt, getan haben?« Luthers edler Schatte schließet sich an sie an, und wenn die Erscheinung vorüber ist, finde ich um mich Öde.

Gewiß, meine Freunde, wir wollen auf alles merken, was uns der göttliche Bote, die Zeit, darbeut. Keiner ihrer edlen Laute soll uns entschlüpfen.

Glauben Sie nicht, daß ich damit die armselige Zunft jener Tyrannenbändiger und Regentenwürger zurückwünsche, die vor einigen Jahren ihre Wut ausließ. Es war Geschrei, darum ist's verhallet, ein Nachklang ohne Kraft und Wesen. Die wahre Muse ist sittsam, »lene consilium, et dat et dato gaudet alma«; diesen sanften Ratschluß empfing sie vom Himmel und haucht ihn dem Geiste der Zeit ein –


Finire quaerentem labores
Aonio recreat antro.

[67] Hold und schön klingen mir hierüber die Töne der Alten, und ich wünschte, daß wie einst dem Horaz so auch mir die Muse des Simonides, Alcäus, Stesichorus noch ertönte. 12 Aber sie liegt im Staube, und wir müssen uns nur an dem, was der Vergessenheit entrann, den Geist erheben und das Herz stärken. Mit unbeschreiblicher Freude habe ich in diesen Tagen jenes feine Echo der Griechen, den Horaz, gelesen und wieder gelesen. Er lebte in einer kritischern Zeit, als wir leben, war mit Glück und Person an August und Mäcen gefesselt; und wie edel, wie stolz und unterrichtend ist seine Muse! Sie bricht die Blüte der Zeit und schwebt auf den Fittichen ihres reinsten Lufthauches.

12.

Mich dünkt, Ihre Fragen über den geringen Anteil, den die heutige Dichtkunst an den Händeln der Zeit nimmt, haben Sie sich selbst beantworten können; denn der Stoff dazu liegt völlig in Ihrem Briefe.

Schaffen Sie uns den Zustand der Griechen wieder, und Alcäus, Pindar, Ächylus sind mit ihnen auch da. In vielerlei Rücksicht aber würden wir diese Zeiten nicht wünschen und uns dagegen an unserer dichterischen Unteilnehmung begnügen. So wäre es auch in Ansehung der Zeiten Horaz' oder gar der Kreuzzieher und Harfner. Opitz und Logau fühlten die Drangsale des Dreißigjährigen Krieges; wider ihren Willen mußten sie an dem Elende, das er verbreitete, [68] teilnehmen; der Widerschein seiner Flammen glänzt in ihren Gedichten. Kleist, Uz und Gleim trafen auf die Zeiten der preußisch-österreichischen Kriege; alle drei fanden darin unverwelkliche Lorbeern, der erste aber auch bei vieler Not, die er als Krieger mit bedrücktem Herzen sah, seinen blutigen Tod. Was diese Dichter uns aus teurer Erfahrung sangen, warum müßte es uns, durch neue Erfahrung teuer erkauft, wieder gesungen werden? Tönt uns Kleists Stimme nicht noch? 13


Ihr, denen zwanglose Völker der Herrschaft Steuer vertrauten,
Führt ihr durch Flammen und Blut sie zur Glückseligkeit Hafen?
Was wünscht ihr, Väter der Menschen, noch mehrere Kinder? Ist's wenig,
Viel Millionen beglücken? Erfordert's wenige Mühe?
O mehrt derjenigen Heil, die eure Fittiche suchen,
Deckt sie, gleich brütenden Adlern. Verwandelt die Schwerter in Sicheln,
Erhebt die Weisheit im Kittel und trocknet die Zähren der Tugend.

Die rührende Stimme seines »Grab- und Geburtsliedes,« seine »Sehnsucht nach Ruhe,« sein »Abschied« hinter »Cissides und Paches« tönt noch jedem Leser ins Herz, nachdem der Dichter die Gesinnungen seiner Seele mit Leben und Blut versiegelt. So ist's mit den patriotischen Oden Uz', Klopstocks; und der preußische Kriegssänger ist ebensowohl Volks-, Friedens-, Staatssänger geworden, hat bis auf die neuesten Zeiten fast an jeder großen Angelegenheit Anteil genommen, die seinem Gesichtskreise irgend nur nahe lag – 14 [69] Aber, m.F., nach unsrer Lage der Dinge halte ich das zu nahe, zu starke Teilnehmen der Dichter an politischen Angelegenheiten beinahe für schädlich. Zu bald nimmt der Dichter einseitige Partei und tut der besten Sache (geschweige einer schwachen, wankenden) mit dem besten Willen Schaden. Dadurch schwächt er die gute Wirkung seiner Gedichte selbst; denn in kurzem ist die Situation der Zeit vorüber; man siehet die Dinge anders an; man behandelt ihn als einen abgekommenen Barden. Also bleibe die Poesie in ihrem reinen Äther, der Sphäre der Menschheit,


Coetusque vulgares et udam
Spernat humum fugiente penna.

In diesem höheren, freieren Raume begegnen sich alle politische Meinungen als Freundinnen und Schwestern; denn im Elysium wohnt keine Feindschaft.

Sehr gut also, daß unsre Musenalmanache äußerst wenige politische Oden mit sich führen. Bald würden zween gegeneinander im Streit liegen, und überhaupt ist's doch nur Spiel, wenn Genien mit Waffen der großen Götter spielen.

Das aber glauben Sie, daß die Poesie als eine Stimme der Zeit unwandelbar dem Geiste der Zeit folge; ja oft ist sie eine helle Weissagung zukünftiger Zeiten. Lesen Sie in Stolbergs »Jamben,« 1784 gedruckt, (S. 66) den »Rat« und mehrere Gedichte, lesen Sie mehrere, frühere und spätere Oden Klopstocks und leugnen noch, daß auch auf deutschen Höhen oder in ihren Tälern ein prophetischer Geist der Zeiten wehe. Schade nur, daß er nicht vernommen wird; denn, um aller deutschen Redlichkeit willen, welcher Mann von Geschäften läse ein Gedicht, um in ihm die Stimme der Zeit zu hören! –

Wir, meine Freunde, wollen den Garten der Grazien und Musen in der Stille bauen. Verständiger Homer, edler Pindar und ihr sanften Weisen, Pythagoras, Sokrates, Plato, Aristoteles, [70] Epikur, Zeno, Mark Antonin, Erasmus, Sarpi, Grotius, Fénelon, St. Pierre, Penn, Franklin, sollt die heiligen Mitwohner unsrer friedlichen Gärten werden. Das aufschießende Korn bedarf mancherlei Witterung; die Saat in der Erde will Ruhe und milden, erquickenden Regen.

13.

Milden erquickenden Regen wünschet die keimende Saat der Humanität in Europa, keine Stürme. Die Musen wohnen friedlich auf ihren heiligen Bergen, und wenn sie ins Schlachtfeld, wenn sie in die Ratskammern der Großen treten, entbieten sie Frieden. Eine edle, würdige Tat zu loben ist ihnen ein süßeres Geschäft, als alle Flüche Alcäus' oder Archilochus' auf taube Unmenschen herabzudonnern.

Wenn es z.B. in unsern Zeiten einen Regenten gäbe, der an seinem Teil dem barbarischen Menschenerkauf im andern Weltteil entsagte und damit andern Staaten zu ihrem Erröten ein Beispiel gab; wenn er nach Jahrhunderten der erste wäre, der die Sklaverei willkürlicher Fronen und andre erdrückende Lasten seinem Volk entnahm und ein andres seiner Völker von ebenso drückenden Einschränkungen im Handel befreiete; wenn dieser Regent ein hoffnungsvoller königlicher Jüngling und Einrichtungen dieser Art nur das Vorspiel seiner Regierung wären: Heil dem Dichter, der solche Taten ohne alle Schmeichelei würdig und schön darstellte! Heil jedem Leser und Hörer, der diesem Sänger einer reinen Humanität mit reinem Herzen zujauchzte! Dänemark ist das friedliche, glückliche Land, dem dieser Stern aufgehet: sein Kronprinz ist der königliche Jüngling, der seine Laufbahn also beginnet, und F. L. Stolberg der Dichter, der ihm hierüber würdig danket.

[71] An den Kronprinzen von Dänemark

Noch nie erscholl ein Name der Mächtigen
Zu meiner Leier, Jüngling; ich weihte sie
Den Freunden nur Und Gott, und süßem
Häuslichen Glück, und der Liebe Tränen,
Und Dir, Natur, im Hain und am Meergestad,
Und Dir, o Freiheit! Freiheit, du Hochgefühl
Der reinen Seelen! Deinen Becher
Kränzt ich mit Blumen des kühnen Liedes.
Und werd ihn kränzen, weil eine Nerve mir
Noch zucket! werd ihn kosten mit zitternder
Und blauer Lippe, wenn des Todes
Hand mir ihn reichet in hehrer Stunde.
Nun wind ich junge Blumen im Kranze dir,
O Jüngling, weil du früh es nicht achtetest,
Zu herrschen über Sklaven, weil du
Forschetest, hörtest, beschlossest, tatest!
Das Joch des Landmanns drückte Jahrhunderte;
Du brachst es! Hör es, heiliger Schatte du
Von meinem Vater, der das Beispiel
Diesseit der Eider und dann am Sund gab. 15
Du brachst es, Jüngling! wandtest errötend dich
Vom Dank des Landes, sahst auf dem Ozean
Der Handlung Bande, die des Neides
Hand und der Habsucht im Finstern knüpfte:
[72]
Zerrissest leicht wie Spinnengewebe sie,
Daß nicht die stolze Fichte des Normanns mehr
Dem Bruderhafen huldigt, eh sie
Schwellende Segel dem Ostwind öffne. 16
Nicht gleiche Gaben spendet des Vaters Hand
Den Völkern. Eisen starret im Schachte dort,
Hier wanken Ähren, unsres Tisches
Freude gedeihet auf fernen Bergen.
Zum freien Tausche ladet der Vater ein;
Doch schmiedet, hart und klügelnd, der blinde Mensch
Dem Tausche Zwang; der biedre Normann
Kaufte sein Brot auf verengtem Markte.
Nun reifen fremde Saaten für ihn, wenn früh-
Erwacht der Winter auf dem Gebürge sich
Ausstrecket und von starrer Schulter
Glanzende Flocken in Täler schüttelt.
Ich sah dich handeln, Jüngling, und freute mich,
Doch nur mit halber Freude. Lud Danien
Nicht häufend noch auf seine Schulter
Fluch des zertretnen, zerrißnen Volkes,
Uneingedenk der heiligen Lehren und
Für jene Ader fühllos, die Gottes Hand
Im Herzen spannte, daß sie klopfend
Unrecht und Recht und Erbarmen lehre?
Von Menschen kaufte Menschen der Mensch, und ward
Ein Teufel! – Wer vermag den getrübten Blick
Zu heften auf des armen Mohren
Elend und Schmach und gezuckte Geißel?
[73]
Aufs schwangre Weib, das jammernd die Hände ringt
Am krummen Ufer; – Tränenlos starret sie
Dem fernen Segel nach; noch schallt ihr
Dumpf in den Ohren das Hohngelächter
Des Treibers, noch der klirrenden Kette Klang,
Und ihres Mannes Klage, das Angstgeschrei
Der jüngsten Tochter, die der Wütrich
Ihr aus umschlingenden Armen losriß. –
Du setzest Ziel dem Greuel, ein nahes Ziel!
Errötend staun und ahme dem Beispiel nach
Der Brite, will er wert der Freiheit
Sein, die auf Weisheit und Recht sich gründet.
Gott setze deinen Tagen ein fernes Ziel,
O Jüngling! keins dem Segen, der dein einst harrt.
Sei deinen Tausenden noch lange
Bruder! Nur einer ist aller Vater.

F. L. Gr. z. Stolberg


Wenn mehrere solcher Gesänge über Anlässe solcher Art uns zukommen, meine Brüder, so wollen wir einander unsre Freude ja mitteilen; denn besangen Horaz und Pindar je ein edleres Thema edler?

[74]

Zweite Sammlung

(1793)


[75][77]

14.

Mehrmals finde ich in Ihren Briefen den Geist der Zeit genannt; wollen wir uns einander nicht diesen Ausdruck aufklären?

Ist er ein Genius, ein Dämon? oder ein Poltergeist, ein Wiederkommender aus alten Gräbern? oder gar ein Lufthauch der Mode, ein Schall der Äolsharfe? Man hält ihn für eins und das andre.

Woher kommt er? wohin will er? wo ist sein Regiment? wo seine Macht und Gewalt? Muß er herrschen? muß er dienen? kann man ihn lenken?

Hat man Schriften darüber? Wie lernt man ihn aus der Erfahrung kennen? Ist er der Genius der Humanität selbst? oder dessen Freund, Vorbote, Diener?

15.

Warum sollte ich Ihnen auf Ihren lakonischen Brief nicht ebenso rätselhaft antworten, als Sie gefragt haben?

»Was ist der Geist der Zeiten?« Allerdings ein mächtiger Genius, ein gewaltiger Dämon. Wenn Averroës glaubte, daß das ganze Menschengeschlecht nur eine Seele habe, an welcher jedes Individuum auf seine Weise, bald tätig, bald leidend teilnehme, so würde ich diese Dichtung eher auf den Geist der Zeit anwenden. Wir stehen alle unter seinem Gebiet, bald tätig, bald leidend.

»Ist er ein Schall der Äolsharfe? ein Lufthauch der Mode?« Die flüchtige Mode ist seine unechte Schwester; er ist ihr [77] nicht gewogen, lernt aber auch von ihr und hat mit ihr zuweilen lehrreichen Umgang. Desto entschiedner hasset er seinen wahren Feind und Verleumder, den Geist des Aufruhrs, der Zwietracht, den unreinen, abgeschmackten Pöbelsinn und Wahnsinn. Wo dieser sich hören läßt, in welchen Gesellschaften und Kreisen er ihn auch nur vermutet, fliehet er vor ihm und verachtet selbst die Lehre aus seinem Munde. Die Stimme des geläuterten Zeitgeistes ist verständig, überredend, sanft, freundlich. Bald lässet er sich wie ein Laut auf der Äolsharfe hören; bald tönt sie in vollen Chören. Der geläuterte Geist der Zeiten (möchte ich mit jenem alten Buche sagen) ist »heilig, einig, mannigfalt, scharf und behende, rein und klar, ernst und frei, wohltätig, leutselig, fest, gewiß, sicher. Er vermag alles, siehet alles und gehet durch alle Geister, wie verständig, lauter und scharf sie sind«.

»Woher kommt er?« Wie sein Name sagt, aus dem Schoß der Zeiten. Der menschlichen Natur einwohnend, hatten ihn einst in unserm rauheren Klima die Pfäfferei und der wilde Kriegsgeist lange unterdrückt gehalten; sie schlossen ihn ein in Höhlen, Türme, Schlösser und Klöster. Er entkam; die Reformation machte ihn frei; Künste und Wissenschaften am meisten aber die Buchdruckerei gaben ihm Flügel. Seine ernste Mutter, die selbstdenkende Philosophie, hat ihn, zumal an den Schriften der Alten, unterwiesen; sein ernster Vater, der mühsame Versuch, hat ihn erzogen und durch die Vorbilder der würdigsten, größten Männer gereift und gestärket. Er ist kein Kind mehr, wiewohl er bei jeder neuen Begebenheit ein Kind scheinet; alle Erfahrungen voriger Zeiten sind in seine Seele gedrückt, sind auf seine Glieder verbreitet.

»Wohin will er?« Wohin er kommen kann. Er hat aus den vorigen Zeiten gesammlet, sammlet aus den jetzigen und dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht ist groß, aber unsichtbar; der Verständige bemerkt und nutzt sie, dem Unweisen wird sie, meistens zu spät, nur in erfolgten Wirkungen glaubhaft.

»Muß der Geist der Zeit herrschen oder dienen?« Er muß [78] beides an Stelle und Ort. Der Weise gibt ihm nach, um zu rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine sehr behutsame, sichre Hand gehöret. Indessen wird er offenbar gelenkt, nicht von der Menge, sondern von wenigen, tiefer als andre blickenden, standhaften und glücklichen Geistern. Oft leben und wirken diese in der größesten Stille; aber einer ihrer Gedanken, den der Geist der Zeiten auffaßt, bringt ein ganzes Chaos der Dinge zur Wohlgestalt und Ordnung. Glücklich sind die, denen die Vorsehung solch einen erhabnen Platz gab, in welchem Stande sie auch leben; selten wird dieser Platz durch Mühe erstrebt, selten durch lautes Geräusch angekündigt, meistens nur in Folgen bemerkt; oft müssen die großen Lenker auch viel wagen, viel leiden.

»Hat man Schriften über den Geist der Zeiten?« Das weiß ich nicht; am besten lernt man ihn aus Geschichten, die im Geist ihrer Zeiten geschrieben sind, und aus der Erfahrung kennen, wo eins das andre erläutert. Ohne nachdenkende Erfahrung versteht man die Bücher nicht; diese wiederum machen uns auf den lebendigen Geist der Zeiten aufmerksam. Das Rad rollet fort, ist immer dasselbe und zeigt immer eine andre Seite.

»Geist der Zeiten, ist er der Genius der Humanität selbst oder dessen Freund, Vorbote, Diener?« Ich wollte, daß er das erste wäre, glaube es aber nicht; das letzte hoffe ich nicht nur, sondern bin dessen fast gewiß. Daß er ein Freund, ein Vorbote, ein Diener der Humanität werde, wollen auch wir an unserm unmerklich kleinen Teile befördern.

16.

Schwerlich wird unser Freund mit der rätselhaften Auflösung seines Rätsels befriediget sein; also darf ich in einem offenern, wenn auch etwas schwereren Tone fortfahren.

Was Geist ist, läßt sich nicht beschreiben, nicht zeichnen, nicht malen; aber empfinden lässet es sich, es äußert sich [79] durch Worte, Bewegungen, durch Anstreben, Kraft und Wirkung. In der sinnlichen Welt unterscheiden wir Geist vom Körper und eignen jenem alle das zu, was den Körper bis auf seine Elemente beseelet, was Leben in sich hält und Leben erwecket, Kräfte an sich zieht und Kräfte fortpflanzet. In den ältesten Sprachen also ist Geist der Ausdruck unsichtbarer strebender Gewalt, dagegen Leib, Fleisch, Körper, Leichnam entweder die Bezeichnung toter Trägheit oder einer organischen Wohnung, eines Werkzeuges, das der einwohnende Geist als ein mächtiger Künstler gebrauchet.

Die Zeit ist ein Gedankenbild nachfolgender, ineinander verketteter Zustände; sie ist ein Maß der Dinge nach der Folge unsrer Gedanken; die Dinge selbst sind ihr gemessener Inhalt.

Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebnen Ursachen und Wirkungen sich äußern. Die Elemente der Begebenheiten sehen wir nie; wir bemerken bloß ihre Erscheinungen und ordnen uns ihre Gestalten in einer wahrgenommenen Verbindung.

Wollen wir also vom Geist unsrer Zeit reden, so müssen wir erst bestimmen, was unsre Zeit sei, welchen Umfang wir ihr geben können und mögen. Auf unsrer runden Erde existieren auf einmal alle Zeiten, alle Stunden des Tages und Jahres, vielleicht auch alle Zustände des menschlichen Geschlechts; wenigstens können wir voraussetzen, daß sie existiert haben und existieren werden. Alle Modifikationen wechseln auf ihr, haben gewechselt und werden wechseln, nachdem der Strom der Begebenheiten langsamer oder schneller die Wellen treibet.

Wenn wir uns demnach auf Europa bezirken, so ist Europa auch nur ein Gedankenbild, das wir uns etwa nach der Lage seiner Länder, nach ihrer Ähnlichkeit, Gemeinschaft und Unterhandlung zusammenordnen. Denken wir uns das einst oder jetzt katholische oder überhaupt das christliche Europa, so ist auch in ihm nach Ländern und Situationen der Geist [80] der Zeit sehr verschieden. Er ändert sich sogar mit Klassen der Einwohner, geschweige mit ihren Bedürfnissen, Neigungen und Einsichten. Ein einziger Umstand, eine viel leicht falsche oder übertriebene Nachricht, kurz, ein Wink und Wahn stimmt oft die Denkart und Meinung eines ganzen Volkes.

Wenn also unser Freund vom Geist der Zeiten als einem verständigen, scharfen, klaren Wesen sprach, so kann er damit nur die Grundsätze und Meinungen der scharfsichtigsten, verständigsten Männer gemeint haben. Sie machten sich vom Wahne des Pöbels los und lassen sich nicht nach jedem Winke lenken. So wenig ihrer hie und da sein mögen, um so fester sind sie sich selbst, um so standhafter hangen sie miteinander zusammen und bilden allerdings eine Kette im Fortgange der Zeiten. Das Lesen der Alten und Neuern, Gespräche und eine gemeinschaftliche Bemerkung dessen, was vorgegangen ist und täglich vorgeht, binden sie fest und fester aneinander; sie machen wirklich eine unsichtbare Kirche, auch wo sie nie voneinander gehört haben. Diesen Gemeingeist des aufgeklärten oder sich aufklärenden Europa auszurotten ist unmöglich; wozu wäre aber auch die unnütze Mühe? Je aufgeklärter er ist, gewiß desto weniger ist er schädlich Wo er irrt, kann er nur durch Wahrheit, nicht durch Zwang gebessert werden; denn Geist allein kann mit Geist kämpfen.

Erlauben Sie mir zu Ende meines Briefes auch ein Rätsel. Irre ich nicht, so sind drei Hauptbegebenheiten oder Epochen Europas, an denen dieser europäische Weltgeist haftet. Eine ist längst vorüber, sie dauerte fünf- bis achthundert Jahre und kommt hoffentlich nie wieder. Die zweite ist geschehen und geht in ihren Wirkungen fort; ihr Wert ist anerkannt und muß, der Natur der Sache nach, immer mehr anerkannt werden. Über der dritten brütet der Weltgeist, und wir wollen ihm wünschen, daß er in sanfter Stille ein glückliches Ei ausbrüten möge. Es ist aber ein gewaltig großes Straußenei; der glühende Sand und die allmächtige Sonne mögen es ihm ausbrüten helfen!

[81] 17.

Lassen Sie uns zusehen, ob ich Ihr Rätsel innehabe. Die erste Begebenheit, an welcher der europäische Zeitgeist haftet, ist die Bepflanzung unsres Weltteils nach den römischen Zeiten, die politische und religiöse Organisation der Völker, die jetzt Europa bewohnen. Sie ist der Einschlag zum Gewebe; die meisten zweifelhaften Fragen der folgenden Zeiten bezogen sich auf die Einrichtung, die damals gemacht ward. Einen Teil dieser Fragen hat die zweite große Begebenheit, die Wiederauflebung der Wissenschaften und die Reformation, aufgelöset; vom eilften bis zum sechzehnten Jahrhunderte hat die Zeit über vieles entweder schon entschieden und entscheidet noch, oder sie sammlet Kräfte und Atem um künftig entscheiden zu können. Wahrscheinlich ist das die dritte Begebenheit, von der Sie reden.

Merken Sie sich aber, m. Fr., eins. Bei der Reformation war größtenteils von bloß geistigen Gütern, von Freiheit des Gewissens und Denkens, von Glaubensartikeln und Religion die Rede; denn an den Gebrauch der Kirchengüter wollen wir nicht, können auch nicht allemal mit billigendem Vergnügen denken. Die fortgehende Kultur des Menschengeschlechts, die aus der Erweckung der Wissenschaften entsprang, ist auch ein geistiges Gut; man kann ihren Fortgang hemmen, aber nicht vernichten.

Eine andre Beschaffenheit scheinet es mir mit der Reformation zu haben, von der jetzt die Rede sein soll; wie wäre es, wenn wir darüber den alten Reformator selbst hörten?


Luthers Gedanken

von der Regimentsänderung


»Des weltlichen Regiments Werk und Ehre ist, daß es aus wilden Tieren Menschen macht und Menschen erhält, daß es nicht wilde Tiere werden.

[82] Meinest du nicht, wenn die Vögel und Tiere reden könnten und das weltliche Regiment unter den Menschen sehen sollten, sie würden sagen: ›O ihr Lieben, ihr seid nicht Menschen, sondern Götter gegen uns.‹ Wer will dies Regiment nun erhalten, ohne wir Menschen, denen es Gott befohlen hat und die sein auch selbst wahrlich bedörfen? Die wilden Tiere werden's nicht tun, Holz und Steine auch nicht. Welche Menschen aber können's erhalten? Fürwahr nicht allein, die mit der Faust herrschen wollen, wie jetzt viel sich lassen dünken; denn wo die Faust allein soll regieren, da wird gewiß zuletzt ein Tierwesen draus, daß wer den andern übermag, stoße ihn in den Sack, wie wir vor Augen wohl Exempel gnug sehen, was Faust ohne Weisheit und Vernunft Gutes schafft. Darum sagt auch Salomo: ›Weisheit müsse regieren und nicht die Gewalt. Weisheit ist besser denn Harnisch oder Waffen. Weisheit ist besser denn Kraft‹, daß kurzum nicht Faustrecht, sondern Kopfrecht regieren muß unter den Bösen sowohl als unter den Guten.«

An einem andern Ort sagt er: »Ehe das geschehen wird, daß Kaiser, Könige und Fürsten mit dem ganzen Reich dazu täten, das Regiment zu bessern, wollen wir den obersten Herrn aller Herren oben in den Wolken sehen kommen und mit ihm davonfahren. Indes mag das Regiment, der böse Pelz, ein plumpes Regiment bleiben und (das Personat ungemenget!) Gott befohlen lassen sein, welchen er will hervorziehen und erheben. Änderung der Regiment und Rechte gehen ohn groß Blutvergießen nicht ab, wie alle Historien zeugen; und ehe man in Deutschland eine neue Weise des Reichs anrichtete, so würde es dreimal verheeret.«

»Wiewohl mich auch zuweilen dünkt, daß die Regiment und Juristen wohl auch eines Luthers bedürften; aber ich besorge, sie möchten einen Müntzer kriegen; darum ich nicht hoffen kann noch will, daß sie einen Luther kriegen werden. Es ist nicht zu raten, daß man es ändere, sondern flicke und pletze daran, wer kann, weil wir leben, strafe den Mißbrauch [83] und lege Pflaster auf die Blattern. Wird man die Blattern ausreißen mit Unbarmherzigkeit, so wird den Schmerzen und Schaden niemand mehr fühlen, denn solche kluge Barbierer. Ändern und Bessern sind zweierlei. Eines steht in der Menschen Händen und in Gottes Verhängen, das andre in Gottes Händen und Gnaden.«

Ferner sagt er: »Wenn das natürliche Recht und Vernunft in allen Köpfen steckte, die Menschenköpfen gleich sind, so könnten die Narren, Kinder und Weiber ebensowohl regieren und kriegen als David, Augustus, Hannibal und müßten Phormionen so gut sein als Hannibals; ja alle Menschen müßten gleich sein und keiner über den andern regieren. Welch ein Aufruhr und wüst Ding sollt hieraus werden? Aber nun hat's Gott also geschaffen, daß die Menschen ungleich sind und einer den andern regieren, einer dem andern gehorchen soll. Zween können miteinander singen (d.i. Gott alle gleich loben), aber nicht miteinander reden (d.i. regieren). Einer muß reden, der andre hören. Darum findet sich's auch also, daß unter denen, die sich natürlicher Vernunft und Rechts vermessen und rühmen, gar viel weidliche und große natürliche Narren sind; denn das edle Kleinod, so natürlich Recht und Vernunft heißt, ist ein selten Ding unter Menschenkindern.«

»Aber das ist der Teufel und Plage in der Welt, daß wir in allen Dingen, an leiblicher Stärke, Größe, Schöne, Gütern, Gesicht, Farbe, untereinander ungleich sind; und allein in der Weisheit und Glück alle wollen gleich sein, da wir doch am allerungleichsten untereinander sind. Und was noch wohl ärger ist, ein jeglicher will hierin über den andern sein und kann den schändlichen Narren und Klüglingen niemand nichts rechts tun, wie Salomon spricht: ›Ein Narr dünkt sich klüger sein denn sieben Weisen, die das Recht setzen.‹

Also schreibt auch Plato, es sei zweierlei Recht, Naturrecht und Gesetzrecht; ich will's das gesunde Recht und das kranke Recht nennen. Denn was aus Kraft der Natur geschieht, das gehet frisch hindurch, auch ohn alles Gesetz, reißt auch wohl [84] durch alle Gesetze. Aber wo die Natur nicht da ist und soll's mit Gesetzen herausbringen, das ist Bettelei und Flickwerk, geschieht gleichwohl nicht mehr denn in der kranken Natur steckt. Als wenn ich ein gemein Gesetz stellete: man soll zwo Semmel essen und ein Nösel Wein trinken zur Mahlzeit. Kommt ein Gesunder zu Tisch, der frisset wohl vier oder sechs Semmel und trinket eine Kanne oder zwo und tut mehr denn das Gesetz gibt. Kommt ein Kranker dazu, der ißt eine halbe Semmel und trinkt drei Löffel voll und tut doch nicht mehr an solchem Gesetz denn seine kranke Natur vermag oder muß sterben, wo er soll das Gesetz halten. Hier ist's nun besser, ich lasse den Gesunden ohn alles Gesetz essen und trinken, was und wieviel er will; dem Kranken gebe ich Maß und Gesetze, wieviel er kann, daß er dem Gesunden nicht nachmüsse.

Nun ist die Welt ein krank Ding und eben ein solcher Pelz, da Haut und Haar nicht gut an ist. Die gesunden Helden sind selten, und Gott gibt sie teuer, und muß doch regiert sein, wo Menschen nicht sollen wilde Tier werden. Darum bleibt's in der Welt gemeiniglich eitel Flickwerk und Bettelei, und ist ein rechter Spital, da es beide, Fürsten und Herrn, und allen Regierenden fehlet an Weisheit und Mut, d.i. an Glück und Gottes Treiben, wie den Kranken an Kraft und Stärke. Darum muß man hie flicken und pletzen, sich behelfen aus den Buchstaben oder Büchern, mit der Helden Recht, mit Sprüchen und Exempeln, und müssen also der stummen Meister (d.i. der Bücher) Schüler sein und bleiben Und machen's doch nimmer mehr so gut, als daselbst geschrieben stehet, sondern kriechen hienach und halten uns dran als an den Bänken oder Stecken, folgen auch daneben dem Rat der Besten, so mit uns leben, bis die Zeit kommt, daß Gott wieder einen gesunden Helden oder Wundermann gibt, unter dessen Hand alles besser gehet oder ja so gut als in keinem Buch stehet, der das Recht entweder ändert oder [85] also meistert, daß es im Lande alles grünet und blühet, mit Friede, Zucht, Schutz, Strafe, daß es ein gesund Regiment heißen mag, und dennoch daneben bei seinem Leben aufs höchste gefürchtet, geehret, geliebt und nach seinem Tode ewiglich gerühmet wird. Und wenn's ein Kranker oder Ungleicher demselben wollt nachtun und gleich oder besser sein, den hat Gott gewiß zur Plage der Welt geschickt, wie die Heiden auch schreiben: ›Der Helden Kinder sind eitel Plagen.‹

Denn was hilft große, hohe Weisheit und trefflich herzlich guter Mut oder Meinung, wenn's nicht die Gedanken sind, die Gott treibt und Glück dazu gibt? Es sind doch eitel Fehlgedanken und vergebliche Meinungen, ja auch wohl schädliche und verderbliche. Darum ist's sehr wohlgeredt: ›Die Gelehrten, die Verkehrten.‹ Jt.: ›Ein weiser Mann tut keine kleine Torheit.‹ Und zeigen alle Historien auch der Heiden, daß die weisen und gutmeinenden Leute haben Land und Leute verderbet. Welches alles gesagt ist von den Selbstweisen oder kranken Regierenden, die Gott nicht getrieben, noch Glück dazu gegeben hat; und haben's doch wollen sein. Also ist ihnen das Regiment zu hoch gewest, haben's nicht können ertragen noch hinausführen, sind also drunter erdruckt und umkommen, als Cicero, Demosthenes, Brutus, die doch aus der Maßen verständige und hochweise Leute waren, daß sie mochten heißen Licht in natürlichem Recht und Vernunft, und haben zuletzt das elende Klagelied singen müssen: ›Ich hätt es nicht gemeinet.‹ Ja Lieber! das gute Meinen macht viele Leute weinen. Summa, es ist eine hohe Gabe, wo Gott einen Wundermann gibt, den er selbst regiert; derselbe mag ein König, Fürst und Herr heißen mit Ehren, er sei selbst Herr oder Rat zu Hofe. Darum spricht auch Salomo: ›Zu laufen hilft nicht schnell sein; zum Streit hilft nicht stark sein; zum Reichtum hilft nicht klug sein; angenehm sein, dazu hilft nicht alles wohl können; sondern es liegt alles an der Zeit und am Glück.‹ Was ist das anders gesagt, [86] denn soviel: Weisheit mag da sein, hohe Vernunft mag da sein, schöne Gedanken und kluge Anschläge mögen da sein; aber es hilft nichts, wenn sie Gott nicht gibt und treibt, sondern gehet alles hinter sich.« Soweit Luther.

18.

Luther war ein patriotischer großer Mann. Als Lehrer der deutschen Nation, ja als Mitreformator des ganzen jetzt aufgeklärten Europa ist er längst anerkannt; auch Völker, die seine Religionssätze nicht annehmen, genießen seiner Reformation Früchte. Er griff den geistlichen Despotismus, der alles freie, gesunde Denken aufhebt oder untergräbt, als ein wahrer Herkules an und gab ganzen Völkern, und zwar zuerst in den schwersten, den geistlichen Dingen, den Gebrauch der Vernunft wieder. Die Macht seiner Sprache und seines biedern Geistes vereinte sich mit Wissenschaften, die von und mit ihm auflebten, vergesellschaftete sich mit den Bemühungen der besten Köpfe in allen Ständen, die zum Teil sehr verschieden von ihm dachten; so bildete sich zuerst ein populares literarisches Publikum in Deutschland und in den angrenzenden Ländern. Jetzt las, was sonst nie gelesen hatte; es lernte lesen, was sonst nicht lesen konnte. Schulen und Akademien wurden gestiftet, deutsche geistliche Lieder gesungen und in deutscher Sprache häufiger als sonst gepredigt. Das Volk bekam die Bibel, wenigstens den Katechismus, in die Hände; zahlreiche Sekten der Wiedertäufer und andrer Irrlehrer entstanden, deren viele, jede auf ihre Weise, zu gelehrter oder popularer Erörterung streitiger Materien, also auch zu Übung des Verstandes, zu Politur der Sprachen und des Geschmacks beitrug. Wäre man seinem Geist gefolgt und hätte in dieser Art freier Untersuchung auch Gegenstände beherzigt, die zunächst nicht in seiner Mönchs- und Kirchensphäre lagen, daß man nämlich auf sie die Grundsätze anwendete, nach denen er dachte und handelte! – Doch was [87] nützt es, vergangne Zeiten zu lehren oder zu tadeln? Lasset uns seine Denkart, selbst seine deutlichen Winke und die von ihm ebenso stark als naiv gesagten Wahrheiten für unsre Zeit nutzen und anwenden! Ich habe mir aus seinen Schriften eine ziemliche Anzahl Sprüche und Lehren angemerkt, in denen er (wie er sich selbst mehrmals nannte) sich wirklich als Ecclesiastes, als Prediger und Lehrer der deutschen Nation darstellt Neulich führte ich an. was er von der Regimentsveränderung dachte; lasset uns jetzt hören, was er vom Pöbel und von den Tyrannen hält.


Luthers Gedanken

vom Pöbel und von den Tyrannen


»Die Heiden, weil sie nicht erkannt haben, daß weltliches Regiment Gottes Ordnung sei (denn sie haben's für ein menschliches Glück und Tat gehalten), die haben frisch darein gegriffen und nicht allein billig, sondern auch löblich gehalten, unnütze, böse Obrigkeit abzusetzen, zu würgen und zu verjagen. Es ist aber dahinten eine böse Folge oder Exempel, daß, wo es gebilligt wird, Tyrannen zu morden oder zu verjagen, reißt es bald ein, und wird ein gemeiner Mutwille daraus, daß man Tyrannen schilt, die nicht Tyrannen sind, und sie ermordet, wie es dem Pöbel in Sinn kommt, als uns die römischen Historien wohl zeigen, da sie manchen feinen Kaiser töteten allein darum, daß er ihnen nicht gefiel oder nicht ihren Willen tät und ließ sie Herren sein. Man darf dem Pöbel nicht viel pfeifen, er tollet sonst gern; und ist billiger, demselben zehn Ellen abbrechen, denn eine Hand breit, ja eines Fingers breit einräumen in solchem Fall; dem der Pöbel hat und weiß keine Maße, und steckt in einem jeglichen mehr denn fünf Tyrannen. ›Die Rache ist mein,‹ sagt Gott, ›ich will vergelten!‹ Ein böser Tyrann ist leidlicher, dann ein böser Krieg; welches du mußt billigen, wenn du deine eigne Vernunft und Erfahrung fragst. Gott läßt einen [88] Buben regieren um des Volks Sünde willen. Gar fein können wir sehen, daß ein Bube regiert; aber das Will niemand sehen, daß er um des Volks Sünde willen regieret. Laß dich nicht irren, daß die Obrigkeit böse ist; es liegt ihr die Strafe und Unglück näher, denn du begehren möchtest.«

– »Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei Dinge, so weit voneinander als Himmel und Erde. Ändern mag leichtlich geschehen, bessern ist mißlich und gefährlich. Warum? Es stehet nicht in unserm Willen und Vermögen, sondern allein in Gottes Willen und Hand. Der tolle Pöbel aber fragt nicht viel, wie es besser werde, sondern daß es nur anders werde; wenn es denn ärger wird, so will er abermals ein anderes haben. So kriegt er denn Hummeln für Fliegen und zuletzt Hornisse für Hummeln. Und wie die Frösche vorzeiten auch nicht mochten den Klotz zum Herren leiden kriegten sie den Storch dafür, der sie auf den Kopf hackte und fraß sie. Es ist ein verzweifelt, verflucht Ding um einen tollen Pöbel, welchen niemand sowohl regieren kann als die Tyrannen; dieselbigen sind der Knittel, dem Hunde an den Hals gebunden. Sollten sie bessererweise zu regieren sein, Gott würde auch andre Ordnung über sie gesetzt haben denn das Schwert und die Tyrannen. Das Schwert zeigt wohl an, was es für Kinder unter sich habe, nämlich eitel verzweifelte Buben, wo sie es tun dörften.«

– »Desgleichen will ich und kann auch nicht getröstet haben unsre Nephilim, die Tyrannen, Wuchrer und Schelmen unter dem Adel, die sich lassen dünken, Gott habe uns das Evangelium darum gegeben, daß sie mögen geizen, schinden und allen Mutwillen treiben, ihre Fürsten pochen, Land und Leute drücken und alles in allem sein wollen, das ihnen nicht befohlen, sondern verboten ist. Diese sind es, so dazu helfen, daß Gottes Zorn den Türken zum Drescher über uns, über sie selbst auch schicket, wo sie nicht Buße tun werden. Denn unmöglich ist's, daß Deutschland sollte stehenbleiben, auch unträglich und unleidlich, wo solche Tyrannei, Wucher, Geiz, Mutwille des Adels, Bürgers, Bauers und aller Stände so [89] sollten bleiben und zunehmen; es behielte zuletzt der arme Mann keine Rinde vom Brot im Hause und möchte lieber oder ja so gern unter den Türken sitzen als unter solchen Christen. Es stellen und zieren sich fast der mehrere Teil des Adels so lästerlich und so schändlich, daß sie damit dem gemeinen Mann böses Blut und argen Wahn machen, als sei der ganze Adel durch und durch kein Nutze.«

– »Woher werden Tyrannen? Weil sie ihr Vertrauen auf ihre Macht setzen. Alle Weltweisen haben geklagt über die Beschwerung, so im Regiment ist; und daher pflegen auch die Tyrannen zu kommen, welche, wenn sie sehen, daß ihre Ratschläge und ihr Tun, das alles sehr fein verordnet, keinen Fortgang oder Glück haben oder daß ihnen andre Widerstand tun, so werden sie gar toll und unsinnig und werden aus frommen Fürsten Tyrannen, die mit Gewalt und andrer Leute Schaden (welche sie meinen, daß sie ihnen im Wege liegen) sich unterstehen hindurchzubrechen und damit ihre Gewalt zu erhalten; denn es sind nicht tapfere Helden, die sich selbst zwingen könnten, sondern hangen und folgen ihren Begierden nach.«

– »Also werden auch zur Zeit des Antichrists etliche sein, welche so genau auf den Frommen Achtung geben werden, ob er etwas aus Unvorsichtigkeit rede oder tue, das sie entweder mit Gewalt oder mit List können verdrehen oder gewaltsamerweise auf so einen Verstand ziehen, der wider den heiligen Sitz der Bestie sei, damit sie alsobald nach Gewohnheit unsrer Papisten schreien können: ›Zum Feuer!‹, da doch derjenige, der es gesagt, entweder niemals daran gedacht oder es doch niemals hat öffentlich vorbringen wollen. Ja wenn auch der Fromme etwas mit aller möglichsten Vorsicht geredet hat und sich keiner Gefahr befürchten können, so wird doch dieses der Gottlosen Amt sein, die besten Reden zu verlästern und in den unschuldigen Silben Gift, wie die Spinne in den Rosen, zu finden. Dieses tun sie ihrem Bedünken nach nicht aus unweiser Absicht (sintemal sie dieses aus der Erfahrung als eine gewisse Sache haben, daß es um [90] ein tyrannisches Reich nicht gar zu sicher und glücklich stehe), wenn sie nur diejenige zugrunde richten, die entweder als Schuldige können überwiesen oder doch der fälschlichen Anklage können verdächtig gemacht werden, sondern man müsse auch allen andern zum Exempel und Schrecken diejenigen plagen, die sich nichts weniger befürchtet, als daß sie einmal in dergleichen Fallstricke und Netze verfallen Sollten. Daß also niemand ist, der sich nicht für einem Tyrannen zu fürchten habe, wenn er sich gleich auf sein gut Gewissen verlassen kann und sich keines bösen Anschlags wider den Tyrannen bewußt ist.« Soweit abermals Luther. Bewahre der Himmel uns vor solchen Zeiten! denn leider es ist nur ein Ding, Pöbelsinn und Tyrannei, mit zwei Namen genannt, wie die rechte und linke Seite.

19.

Treu und Glaube ist der Eckstein aller menschlichen Gesellschaft. Auf Treu und Glaube sind Freundschaft, Ehe, Handel und Wandel, Regierung und alle andre Verhältnisse zwischen Menschen und Menschen gegründet. Man untergrabe diesen Grund: alles wankt und stürzt, alles fällt auseinander.

Es gibt keine einseitigen Pflichten und einseitige Rechte. Pflichten und Rechte gehören zusammen wie die obere und untere, wie die rechte und linke Seite. Was hier konvex ist, ist dort konkav und bleibt dieselbe Sache, derselbe Körper.

Lasset Staaten, lasset Stände gegeneinander Treu und Glauben verlieren; wer seinen Pflichten entsagt, verliert die Rechte, die der Pflicht anklebten; er täuscht und wird getäuschet; er handelt einseitig, so wird man auch gegen ihn handeln.

Manche Vorzüge des Geistes und der Lebensweise hat man unsrer Nation absprechen wollen; das Lob, das man ihr, das man ihren braven Männern, ihren guten Regenten und Helden durch alle Zeiten zugestand, war die sogenannte deutsche [91] Biederkeit, Treu und Glaube. Ihre Worte galten mehr als gesiegelte Briefe und Eidschwüre; der Herr bauete auf seine Untertanen, Untertanen auf ihren Herren; wenigstens ist dieses der Schild, den die meisten alten Sprüche und Apophthegmen der Deutschen vor sich tragen.

Lasset uns hören, was zu seiner Zeit der alte Luther darüber saget:


Deutsche, Deutschland


Es ist zwar eine gemeine Klage in allen Ständen und Leben über falsche verlogne Leute, wie man spricht: ›Es ist keine Treu noch Glauben mehr.‹ Die alten Römer haben solch Laster an den Griechen getadelt, wie auch Cicero sagt: ›Ich gebe den Griechen, daß sie gelehrte, weise, kunstreiche, geschickte, beredte Leute sind; aber Treu und Glauben achtet das Volk nicht.‹ Wohlan, es hat auch solch untreu falsch Volk itzt lange her seine Strafe gelitten vom Türken, der sie auch bar überbezahlet. Welschland hat es nachher auch gelernet, daß sie dörfen zusagen und schwören, was man will, und darnach spotten, wenn sie es halten sollen. Darum haben sie auch ihre Plage redlich und müssen beide, Griechen und Walen, Exempel sein des andern Gebots Gottes, da er spricht: ›Er solle nicht ungestraft bleiben, wer Gottes Namen mißbraucht.‹ Uns Deutsche hat keine Tugend so hoch gerühmet und, wie ich glaube, bisher so hoch erhoben und erhalten, als daß man uns für treue, wahrhaftige, beständige Leute gehalten hat, die da haben Ja ja, Nein nein lassen sein, wie des viel Historien und Bücher Zeugen sind. Wir Deutsche haben noch ein Fünklein (Gott wolle es erhalten und aufblasen) von derselben alten Tugend, nämlich daß wir uns dennoch ein wenig schämen und nicht gerne Lügner heißen, nicht dazu lachen, wie die Walen und Griechen, oder einen Scherz daraus treiben. Und obwohl die welsche und griechische Unart einreißet, so ist dennoch gleichwohl noch das übrige bei uns, daß kein ernster, greulicher Scheltwort jemand reden oder hören kann, denn so er einen Lügner schilt oder gescholten wird. Und mich dünkt (soll es dünken heißen), [92] daß kein schädlicher Laster auf Erden sei, denn Lügen und Untreu beweisen, welches alle Gemeinschaft der Menschen zertrennet. Denn Lügen und Untreue zertrennet erstlich die Herzen; wenn die Herzen getrennet sind, so gehen die Hände auch voneinander; wenn die Hände voneinander sind, was kann man da tun oder schaffen? Darum ist auch in Welschland solch schändlich Trennen, Zwietracht und Unglück. Denn wo Treu und Glauben aufhöret, da muß das Regiment auch ein Ende haben. Gott helf uns Deutschen!«

20.

Ist Ihnen eine Ode Klopstocks zu Gesicht gekommen, die während des letzten nordamerikanischen Seekrieges erschien und auch schon damals in der Art, diesen fürchterlichen Krieg zu führen, Spuren einer zunehmenden Humanität bemerkte? Sie wird Ihnen angenehm sein, auch nur als ein poetischer Traum, als das Gemälde einer Glück weissagenden Phantasie, gewiß aber noch mehr als eine Prophetenstimme der Zukunft betrachtet:

Der jetzige Krieg

O Krieg, des schöneren Lorbeers wert,
Der unter dem schwellenden Segel, des Windes Fluge
Jetzo geführt wird, du Krieg der edleren Helden,
Dich singe die Leier, die keine Kriege sang.
Ein hoher Genius der Menschlichkeit
Begeistert dich!
Du bist die Morgenröte
Eines nahenden großen Tags.
Europas Bildung erhebt sich mit Adlerschwunge,
Durch weise Zögrung des Blutvergusses,
[93]
Durch weisere Meidung,
Durch göttliche Schonung
In Stunden, da, den Bruder tötend,
Der erhabene Mensch zum Ungeheuer werden muß:
Denn die Flotten schweben umher auf dem Ozean
Und suchen sich und finden sich nicht.
Und wenn sie verwehet oder verströmt sich endlich erblicken,
So kämpfen sie länger als je
Den vielentscheidenden Kampf
Um des Windes Beistand.
Und muß es denn zuletzt doch auch beginnen,
Das Treffen, so schlagen sie fern. Fürchterlich brüllet
Ihr Donner; aber er rollt
Seine Tod, in das Meer.
Kein Schiff wird erobert, und keins, zu belastet
Von der hineinrauschenden Woge, versinkt;
Keins flammt in die Höh und treibet,
Scheiter, umher über gesunknen Leichen.
Der Flotten und der Schiffe Gebieter
Schlagen so, ohne gegebenes Wort.
Was brauchen sie der Worte? Die tieferdenkenden
Männer, sie handeln, verstehn sich durch ihr Handeln.
Erdekönigin, Europa, dich hebt bis hinauf
Zu dem hohen Ziele deiner Bildung Adlerschwung,
Wenn unter deinen edleren Kriegern
Diese heilige Schonung Sitte wird.
O denn ist, was jetzo beginnt, der Morgenröten schönste:
Denn sie verkündiget
Einen seligen, nie noch von Menschen erlebten Tag,
Der Jahrhunderte strahlt
[94]
Auf uns, die noch nicht wußten, der Krieg sei
Das zischendste, tiefste Brandmal der Menschheit.
Mit welcher Hoheit Blick wird, wen die Heitre
Des goldnen Tages labt, auf uns herabsehn!
Bist du wahrer Zukunft Weissagerin,
Leier, gewesen? Hat der Geist, der dich umschwebt,
Göttermenschen, oder hat er
Vernichtungsscheue Gottesleugner gesehn?

Was Klopstock beim Seekriege bemerkt, ließe es sich prosaisch nicht auch beim Landkriege, noch mehr aber beim Handel, bei jeder Art des Gewerbs und Fleißes, selbst in der Art der Erhebung öffentlicher Gefälle und Lasten, bei Behandlung stehender Heere zu Friedenszeiten (diesem entsetzlichen Druck der Menschheit), bei Einrichtung öffentlicher Gebäude, insonderheit der Gefängnisse und Krankenhäuser, bei Behandlung der Krankheiten und einer der ärgsten Krankheiten unsres Weltteils, der Rechtshändel und rechtlichen Strafen, noch klärer endlich in Behandlung der Wissenschaften, Einrichtungen der Polizei, öffentlichen Religion, Erziehung und des ganzen häuslichen Lebens bemerken? Durch Not gezwungen, wider unsern Willen müssen wir einmal, Gott gebe bald, vernünftigere, billigere Menschen werden.

21.

Verzeihen Sie, meine Freunde, daß ich Ihrem hoffnungsvollen Glauben an den Geist der Zeiten nur furchtsam und zweifelnd beitrete. Denn sobald man dem Wort seine magische Gestalt nimmt, was bedeutet es mehr als die herrschenden Meinungen, Sitten und Gewohnheiten unsres Zeitalters; und sollten diese eines so hohen Lobes wert sein? Sollten sie so große und sichre Hoffnungen für die Zukunft gewähren?

Mir ist wohl bekannt, was für schönklingende Worte seit [95] geraumer Zeit in Schriften und Gesellschaften im Umlaufe sind; sehen Sie aber auf die Grundsätze der Menschen, die in Handlungen zur täglichen Lebensweise übergehen, was finden Sie da? Alle wahre, tätige Gesinnungen zum Besten des Ganzen sind ihrer Natur nach mit Aufopferung verbunden; und wer opfert zu unsrer Zeit gern auf? Versuchen Sie's einmal und bringen die kleinste Sache, die Mühe, Geld, Entsagung von Privatvorteilen, am meisten von der Eitelkeit fodert, zustande, und Sie werden gewahr, daß Sie ein saitenloses Klavier spielen. Die lautsten Patrioten sind oft die engherzigsten Egoisten; die wärmsten Verteidiger des Guten sind nicht selten die kältesten Seelen, Adler in Worten, in Handlungen Lasttiere der Erde.

Hoffen Sie viel, sehr viel von aufgeklärten, guten Fürsten; das Unmögliche aber hoffen Sie nie. Auchsie sind Menschen, und nach ihrer gewöhnlichen Erziehung ist's oft zu bewundern, daß sie es noch blieben. Sie tragen die Fesseln ihres Standes; die engste Fessel ist ihre eigne von Kindheit auf gewonnene Denkart. Selten gibt es einen Friederich, der sich über das Gewohnte seiner Zeit früh und doch mit Weisheit hinaussetzt; selten! Zudem bedürfen sie als Regenten gnugsame Kenntnis der Dinge, Überlegung mit andern, zur Ausführung Werkzeuge. Wenn sie diese nun nicht finden, wenn diese sie hintergehen und täuschen, wenn sie endlich aus Mißtrauen zu diesen unschicklicherweise selbst zur Sache greifen, so wird die Geschichte Josephs II. daraus, der mit den reinsten, notwendigsten, besten Absichten von der Welt im Hafen selbst scheiterte. Ach, es muß ein Gott vom Himmel kommen oder außerordentlich gute und große, das ist wahrhaftig göttliche Menschen senden, oder die Verbesserung der Welt auf dem gewöhnlichen Wege der Zeit geht sehr langsam.

Lassen Sie mich die herrschenden Gesinnungen andrer Stände und Innungen nicht durchgehn. Jede Zunft hat ihren Zunftgeist; der fesselt, zumal in unsern Zeiten, auch den besten Gemütern Herzen und Hände. Man fühlt die Wände des alten Systems erschüttert und fürchtet den Fall des ganzen [96] Gebäudes; um so mißtrauischer hält man sich also an jeden Balken, an jeden Span des Balkens und glaubt, mit ihm schon gehe alles verloren. Das alte Schwert ist verrostet; desto ängstlicher putzt man Griff und Scheide.

Ans Volk wollen wir eher mit Bedauren und Großmut als mit Stolz und Zuversicht denken. Jahrhundertelang ist's unerzogen geblieben; daß es erzogen werde, kann unser einziger Wunsch sein, nicht daß es herrsche, nicht daß es gebiete und lehre. Die Besserung muß vom Haupt kommen, nicht von Füßen und Händen; ich kenne nichts Abscheulicheres als eines wahnsinnigen Volks Herrschaft.

Lassen Sie sich auch die Stimmen unsrer Philosophen nicht bis zur Täuschung bezaubern; die wärmsten sind nicht immer die hellesten Köpfe. Von ihren Wünschen, vom Anschein der guten Sache eingenommen, vom tätigen Leben und von der wahren Gestalt der Dinge entfernt, gefallen sie sich in Spekulationen oder, als der zarteste, empfindlichste Teil des Publikums, trösten sie sich über das, was nicht ist, mit Träumen, was sein sollte, also auch sein wird. Der kranke, zarte, fast nur in der Einbildung lebende Rousseau hat er mit seinen stark ausgedrückten, rege gefühlten Visionen mehr Nutzen oder mehr Schaden gebracht? Ich wage es nicht zu entscheiden.

Wie ich fürchte, strebt der Geist unsrer Zeiten vorzüglich zur Auflösung hin. Dem einen Teil der Welt sollen alle Bande aufhören; alles soll leicht und lustig werden, weil wir des Alten satt, träge und erschlafft sind. Der andre Teil der Menschen, der sich im Besitz, leider auch oft mit Härte und Übermut, fühlet, verachtet die Beschwerden der andern und scheint die Trommeten vor Jericho zu erwarten. Ein nicht erfreulicher Zustand. Ich kenne keine schlimmere Jahrszeit als die, in welcher alle Elemente gegeneinander zu sein scheinen, wenn Kälte, Regen und Sturmwinde toben.

Selten hat eine Verfassung, welche es auch sei, vom Grundgesetz ihrer Entstehung sich so weit abbiegen können, daß sie ohne Sturz ihre Basis hätte verlassen mögen. Die Staaten [97] Europas sind auf ein System kriegerischer und religiöser Eroberung gegründet; die Pfeiler dieses Systems wanken; die Zeit nagt an ihnen; stürzen sie, so, fürchte ich, geht unter den Trümmern des Schlechteren auch das Beste mit unter. Vergönnen Sie mir also, daß ich vom Geist unsrer Zeiten hinwegsehe und mich noch etwas weiterhin an einige Gedanken des alten Philosophen zu Sanssouci halte, der auch die Welt kannte.


Fortsetzung einiger Gedanken Friedrichs II.


»Ich bin durch ein Land gereiset, wo die Natur gewiß nichts gespart hat, den Boden fruchtbar, die Gegend lachend zu machen; aber es scheint, daß sie sich an Bildung der Pflanzen, Hecken und Flüsse, die die Gegend verschönen, erschöpft und nicht Kraft gnug gehabt habe, unser Geschlecht daselbst auch so vollkommen zu machen. Ich habe fast ganz Westfalen auf unsrer Reise gesehen; und gewiß, wenn Gott seinen göttlichen Hauch dem Menschen verlieh, so muß diese Nation davon wenig bekommen haben, daß man fast fragen möchte, ob diese Menschengestalten denkende Menschen sind oder nicht?« (1738)


»Ihr habt recht, daß die, die am konsequentesten handeln sollten, d.i. die Königreiche regieren und miteinem Wort über das Glück und Unglück der Völker entscheiden, oft die sind, die sich am meisten dem Ungefähr überlassen. Das macht, diese Könige, Fürsten, Minister sind Menschen wie andre; der ganze Unterschied, den das Glück zwischen sie und Leute von geringerem Range gesetzt hat, ist, daß sie wichtigere Geschäfte betreiben. Ein Strahl Wasser, der drei Fuß, ein andrer, der hundert Fuß hoch steigt, sind beides Wasserstrahlen, nur mit verschiedner Kraft emporgetrieben. Eine Königin von England, mit einem weiblichen Hofe umgeben, wird in ihrer Regierung immer etwas Weibliches zeigen, Phantasien und Launen.« (1738)

[98]

»Nichts zeigt so sehr die Verschiedenheit unsrer von den alten Zeiten als die Art, wie das Altertum große Männer behandelte und wie wir sie behandeln. Große Gesinnungen, Erhabenheit der Seele, Festigkeit gelten jetzt für chimärische Tugenden. ›Er will den Römer machen‹, sagt man, ›davon ist man zurückgekommen, das ist außer der Zeit.‹ Desto schlimmer! Die Römer, die sich dieser Tugenden anmaßten, waren große Männer; warum sollten wir sie nicht nachahmen in dem, was Lob verdienet?« (1738)


»Unter Hunderten, die zu denken glauben, ist kaumeiner, der selbst denkt. Die andern haben nur zwei oder drei Ideen, die sich in ihrem Hirn umherdrehen, ohne neue Formen zu erhalten; und auch dieser eine unter den Hunderten denkt vielleicht, was ein andrer gedacht hat; sein Genie, seine Einbildungskraft ist nicht schaffend. Ein schöpferischer Geist vervielfältiget Ideen, faßt zwischen Gegenständen Beziehungen auf, die der unaufmerksame Mensch kaum bemerket.Stärke des gesunden Verstandes ist, nach meiner Meinung, der wesentliche Teil eines Mannes von Genie. Mitteilen läßt sich dies kostbare und seltne Talent nicht; die Natur scheint damit zu geizen; um eseinmal zu verleihen, nimmt sie sich ein Jahrhundert Frist.«


»Der Vizegott der sieben Berge hat Avignon wiederbekommen; ein solcher Zug von Freigebigkeit ist selten bei den Regenten. Ganganelli wird darüber in die Faust lachen und bei sich selbst sagen: ›Auch die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen!‹ Und das geschieht im philosophischen, im achtzehnten Jahrhundert! Wohlan nun, ihr Herren Philosophen, bestrebt euch, bestreitet den Irrtum, häuft Gründe auf Gründe, um ihn in Staub zu legen; wie werdet ihr es verhindern, daß nicht viele Schwache über wenige Starke den Sieg davontragen sollten. Werfet die Vorurteile zur Tür hinaus, sie kommen zum Fenster hinein. Ein Andächtler an der Spitze des Staats, ein Ehrsüchtiger, den sein Interesse mit dem [99] Interesse der Kirche bindet, wirft an einem Tage um, was zwanzig Jahre eurer Arbeiten kaum vollführt haben.« (1771)


»Ich wünsche euch zum neuen Minister des allerchristlichsten Königes Glück. Man sagt, es sei ein Mann von Geist; wenn er es ist, wird er weder die Imbezillität noch die Schwachheit haben, Avignon dem Papst zurückzugeben. Man kann ein guter Katholik sein und doch dem Statthalter Gottes seine zeitlichen Besitztümer nehmen, die ihn zu sehr von seinen geistlichen Pflichten zerstreuen und ihn oft in Gefahr seiner Seligkeit setzen. Wie fruchtbar auch unser Jahrhundert an Philosophen sein möge, die unerschrocken, wirksam und eifrig Wahrheiten verbreiten, so muß man sich doch nicht verwundern, daß der Aberglaube auch sein Werk forttreibet. Seine Wurzeln haben alles umschlungen; er ist ein Kind der Furcht, der Schwachheit und der Unwissenheit; diese Dreieinigkeit herrscht in gemeinen Seelen so allgewaltig als eine andre in den Schulen der Theologen. Welche Widersprüche vereinigen sich nicht im Gemüt des Menschen! Laß einen Schelm sich vornehmen, Menschen zu betrügen; er wird Glaubende finden. Der Mensch ist zum Irren gemacht; Irrtum kommt von selbst in seinen Geist; einige Wahrheiten entdeckt er nur durch unendliche Mühe.« (1771)


»Die Welt wird von Gevattern und Gevatterinnen regiert; manchmal, wenn man gnug Data hat, kann man die Zukunft erraten, oft betrügt man sich aber.«


»Als ein echter Schüler der Enzyklopädisten predige ich den allgemeinen Frieden, wie wenn ich ein Apostel des Abts St. Pierre wäre, und vielleicht werde ich nicht mehr ausrichten als er. Ich sehe, daß es den Menschen leichter wird, Böses als Gutes zu tun; ich sehe, daß eine unglückliche Verkettung der Umstände uns wider unsern Willen dahinreißt und mit unsern Projekten spielt wie der Sturmwind in dem fliegenden Sande. Indessen geht der ordentliche Gang der Dinge fort.« (1773)

[100] »Ich habe den Artikel Krieg in den ›Enzyklopädischen Fragen‹ gelesen. Wie? ein Fürst, der seine Truppen in blaues Tuch kleidet und ihnen Hüte mit weißen Schnüren gibt, der sie sich kehren läßt rechtsum und linksum, kann er sie ehrenhalber einen Feldzug tun lassen, ohne den Ehrentitel eines Anführers von Taugenichten zu verdienen, die nur aus Not gedungene Henker werden, um das ehrbare Handwerk der Straßenräuber zu treiben? Die Philosophen müssen Missionare auf Bekehrungen ausschicken, um unvermerkt die Staaten von den großen Armeen zu entladen, die sie in den Abgrund stürzen, daß nach und nach keiner übrig sei, der sich schlage. Kein Landesherr, kein Volk wird sodann die unglückliche Leidenschaft zu kriegen mehr haben, deren Folgen so verderblich sind; jedermann wird eine Vernunft äußern, so vollkommen als eine geometrische Demonstration. Ich bedaure sehr, daß mein Alter mich eines so schönen Anblicks beraubet, von dem ich nicht einmal die Morgenröte erleben werde. Beklagen wird man mich und meine Zeitgenossen, daß wir in einem Jahrhundert der Finsternis lebten, an dessen Ende zuerst die Dämmerung der vervollkommeten Vernunft anbrach. Alles hängt ja von der Zeit ab, in der ein Mensch auf die Welt tritt.« (1773)


»Gegen das viertägige Fieber und gegen den Krieg deklamieren ist gleich vergebliche Arbeit. Die Regierungen lassen die Philosophen schreien und gehen ihren Weg; das Fieber nimmt davon auch keine Kunde. Es hat Kriege gegeben, solange die Welt ist, und wird Kriege geben, wenn wir nicht mehr hier sind. Ein Arzt muß das Fieber wegschaffen, nicht darüber satirisieren.«


»Ludwig XV. ist nicht mehr. Es war ein guter Mann, der nur einen Fehler hatte, daß er König War. Lasset seinen Schatten in Friede. Man darf empfindlich sein über das Unrecht, das man leidet, man muß aber auch zu verzeihen wissen. Die finstre, gallichte Leidenschaft der Rache ziemt [101] nicht für Menschen, die so kurz existieren. Wir müssen wechselseitig einander unsre Torheiten vergessen und uns auf den Genuß des Glücks einschränken, das unsre Natur uns gönnet.«


»Wenn Turenne und Louvois die Pfalz in die Asche legten, wenn der Marschall von Belle-Isle im letzten Kriege den Vorschlag tat, ganz Hessen zu verwüsten, so sind solche Ausschweifungen ein ewiger Vorwurf der französischen Nation, die, so artig sie ist, sich zuweilen Grausamkeiten erlaubt hat, die nur für die ärgsten Barbaren gehörten. Ludwig XV. indessen verwarf den Vorschlag des Marschall Belle-Isle und zeigte sich hierin größer als sein Vorfahr.«


»Beim Leben der Könige ist schwerer über sie zu urteilen als nach ihrem Tode; ein einziger Umstand verändert oft die Sache so, daß man billigen muß, was man vorher verdammte. Ludwig XIV. ward bei seinen Lebzeiten getadelt, daß er den Sukzessionskrieg unternahm; jetzt läßt man ihm Gerechtigkeit widerfahren, und jeder Unparteiische gestehet ein, daß er niedrig gehandelt hätte, wenn er das Testament des Königes von Spanien nicht hätte annehmen wollen. Jeder Mensch macht Fehler, also auch die Fürsten; der wahre Weise, der Stoiker und der vollkommene Fürst haben nicht existiert und werden nicht existieren. Fürsten wie Karl der Kühne, Ludwig XI., Alexander VI., Ludwig Sforza sind die Geißeln ihrer Völker und der Menschheit; solche Fürsten aber existieren jetzt nicht in unserm Europa. Wir haben schwache Regenten, nicht aber Ungeheuer, wie im 14. und 15. Jahrhundert. Schwäche ist ein unverbesserlicher Fehler; man muß sich deshalb an die Natur, nicht an die Person halten. Ich gebe zu, sie tun aus Schwachheit Böses; in Erbreichen ist's aber einmal ein notwendiges Übel, daß auch solche Wesen an der Spitze der Nation stehen denn in keiner Familie folgen große Männer ineiner Reihe unverrückt aufeinander. Glaubt mir! menschliche Einrichtungen werden nie zu einem gewissen [102] Grade der Vollkommenheit kommen; man muß sich mit dem Beinahe gnügen und gegen unabänderliche Mißbräuche nicht gewaltsam deklamieren.«


»Ich wünsche der französischen Nation Glück über die Wahl, die Ludwig XVI. an Ministern gemacht hat. ›Die Völker‹, hat ein Alter gesagt, ›werden nicht glücklich sein, als wenn Weise ihre Könige sein werden.‹ Die französischen Minister, wenn sie gleich nicht Könige sind, gelten doch für dieselben an Ansehen und Gewalt. Euer König hat die besten Gesinnungen von der Welt, er will das Gute; nichts ist für ihn mehr zu fürchten als die Pest der Höfe, die ihn mit der Zeit umkehre und verderbe. Er ist jung; er kennt die Listen und Feinheiten nicht, dadurch die Hofleute ihn in ihr Interesse zu ziehen, ihn für ihren Haß oder ihre Ehrsucht einzunehmen suchen werden. Von Kindheit an ist er in der Schule des Fanatismus und der Imbezillität gewesen; dies muß fürchten machen, daß er sich nicht getraue, selbst zu untersuchen, was man ihn verehren gelehret hat.«


»Was ihr von unsern deutschen Bischöfen sagt, ist nur zu wahr; sie werden fett von den Zehnten aus Zion. Aber im Heiligen Römischen Reich machen das Herkommen, die Goldne Bulle und dergleichen alte Torheiten die eingeführten Mißbräuche ehrwürdig. Man siehet sie, zuckt die Schultern, und die Sachen gehen ihren Gang fort. Den Fanatismus zu vermindern, muß man an die Bischöfe noch nicht rühren; aber die Mönche, insonderheit die Bettelmönche, muß man vermindern. Damit wird das Volk kühler und wird den Mächtigen überlassen, die Bischöfe allgemach zum Besten des Staats zu disponieren. Dies ist der gangbare Weg. Allmählich und ohn alles Geräusch das Gebäude der Unvernunft untergraben heißt es selbst fallen machen. In der Lage, in welcher der Papst ist, muß er Bullen und Breve geben, wie seine geliebten Söhne sie irgend verlangen; diese Macht, auf den idealischen Kredit des Glaubens gebauet, mindert sich, [103] wie sich der Glaube mindert, und wenn an der Spitze der Nationen nur einige Minister sind, die sich über die gemeinen Vorurteile erheben, so macht der Heil. Vater banquerout. Schon sind seine Wechsel und Papiere zur Hälfte im Mißkredit. Ohne Zweifel wird die Nachwelt den Vorteil genießen, frei denken zu können und keine Auftritte mehr zu sehen, wie sie Toulouse und Amiens zeigten«


»Ich kenne weder Turgot noch Malesherbes; wenn sie wahre Philosophen sind, sind sie an ihren Platz. Weder Vorurteil noch Leidenschaft gilt in den Geschäften; die einzige erlaubte Leidenschaft ist fürs gemeine Beste. So dachte Mark Aurel, und so soll jeder Regent denken, der seine Pflicht erfüllen will.«


»Die Regierung in Pennsylvanien, wie sie jetzt eingerichtet ist, gefällt Euch; sie ist nur ein Jahrhundert alt; laßt sie noch fünf oder sechs Jahrhunderte fortdauren, und ihr kennet sie nicht mehr. So wahr ist es, daß Unbestand eines der beständigsten Gesetze der Welt sei. Laß Philosophen die weiseste Regierung gründen, sie wird dasselbe Schicksal haben, und sind die Philosophen vor Irrtum immer gesichert gewesen? Sie haben ihn selbst oft auf die Bahn gebracht, wie des Aristoteles substantielle Formen, der Galimathias des Plato, Descartes' Wirbel und Leibniz' Monaden zeigen. Was ließe sich nicht von den Paradoxen sagen, mit denen Rousseau (wenn man ihn unter die Philosophen rechnen kann) Europa beschenkt hat; und doch hat er manchen guten Vätern das Hirn so weit verrückt, daß sie ihren Kindern die Erziehung seines Emils geben. Aus allen diesen Beispielen folgt, daß, ohngeachtet der guten Absichten, ohngeachtet aller angewandten Mühe, die Menschen in keiner Sache zur Vollkommenheit gelangen werden.«


»Ich wünsche euch zu eurer guten Meinung von der Menschheit Glück; ich, der ich aus Pflicht meines Standes diese Gattung Geschöpfe auf zwei Beinen ohne Federn sehr [104] gut kenne, muß euch voraussagen, daß alle Philosophen der Welt das menschliche Geschlecht von dem Aberglauben nicht frei machen werden, an dem es hängt. Die Natur hat dieses Ingrediens in die Komposition der ganzen Gattung gemischt; eine Furcht, eine Schwäche, eine Leichtgläubigkeit, eine Übereilung des Urteils ziehet die Menschen durch einen natürlichen Hang in das System des Wunderbaren; und es gibt nur wenig philosophische Seelen, die stark genug gebauet sind, um die tiefen Wurzeln der Vorurteile, die die Erziehung in sie schlug, zu zerstören, Diesen hat sein gesunder Verstand von einigen Volksirrtümern losgemacht, er empörte sich gegen Ungereimtheiten; jetzt kommt der Tod ihm näher, und aus Furcht fällt er in den Aberglauben zurück; er stirbt als Kapuziner. Bei jedem hängt seine Art zu denken von einer guten oder übeln Verdauung ab. Es ist also nicht gnug, Menschen den Trug zu entnehmen; man müßte ihnen auch eigne Stärke des Geistes einhauchen können, oder Empfindlichkeit und der Schrecken des Todes werden auch über die stärksten, nach aller Methode vorgetragenen Vernunftlehren triumphieren. Ihr glaubt, weil Quaker und Socinianer eine einfachere Religion festgestellet haben, man diese noch mehr simplifizieren und auf solchen Grund einen neuen Glauben aufführen könnte; ich komme aber auf mein Voriges zurück und bin überzeugt, daß, wenn diese Herde Neuglaubender angewachsen wäre, sie in kurzem einen neuen Aberglauben in die Welt stellen würde, es sei denn, daß sie nur aus Seelen, frei von Furcht und Schwachheit, bestünde. Und diese sind nicht die gemeinsten. Das glaube ich indes, daß die Stimme der Vernunft, wenn sie sich gegen den Fanatismus immer stärker erhebt, die zukünftige Generation duldsamer, als die jetzige ist, machen kann; und auch das ist schon viel gewonnen.«

[105] 22.

Gern geben wir Ihnen den größesten Teil Ihrer Zweifel, die Sie mit dem Ansehen des großen Königs unterstützt haben, zu; aber was folgt daraus? Sollen wir, wenn wir auch Ursache hätten, an der höchsten Vollendung des edelsten Werks zu zweifeln, dies Werk deswegen aufgeben und an der guten Sache verzweifeln? Das wollte der große König nicht; er blieb seiner Pflicht getreu und ließ die Hand nicht vom Steuer, wenn er gleich wußte, daß er sein Schiff nicht ewig regieren könnte. Zu dieser Tätigkeit munterte er seine Freunde auf, hielt seine Untertanen an; sie war ihm die Seele des Lebens. Auch sahe er wohl, daß die Zeit fortrückte. »Es scheinet (sagt er im Jahr 1777), daß Europa jetzt im Zuge ist, sich über alle Gegenstände, die auf das Wohl der Menschheit am meisten Einfluß haben, aufzuklären, und man muß Euch das Zeugnis geben, daß Ihr mehr als einer unsrer Zeitgenossen dazu beigetragen habt, es mit der Fackel der Philosophie zu erleuchten.« Wenn er auf seinem Standpunkt, dazu im höchsten Alter, nicht in jede brausende Hoffnung der »Enzyklopädie« einstimmen konnte, so war dies nicht nur ihm verzeihlich, sondern sehr vernünftig. Der Menschheit zuviel und zuwenig zutrauen wollen, beides ist schädlich.

Daß es zu unsrer Zeit edle, gute, große, selbst aufopfernde Seelen gebe, diesen Glauben wird mir niemand rauben; denn ich habe ihn durch Erfahrung bewähret. Daß selbst diese Großmut aber, wie alles andre, das Gewand der Zeit tragen müsse, kann uns nicht unerwartet sein. Weil wir so gar viel bedürfen, sind wir von gar viel Fesseln gebunden; daß diese drückenden Fesseln aber wenigstens der Großmut loser gemacht werden möchten, wer wünschet dies mehr als die echte Humanität selbst? Fast kann sie ihres Wunsches auch nicht ungewiß sein, da bei dem immer wachsenden unersättlichen Bedürfnis die Natur der Dinge selbst einen neuen Anfang herbeizuführen scheinet. Wenn jeder einzelne fühlt, er könne [106] in seinem jetzigen Verhältnis der leidenden Menschheit nicht zu Hülfe kommen, wie er sollte, so werden, so müssen sich diese Verhältnisse mit der Zeit ändern. Die Natur selbst arbeitet daran, und keine menschliche Kraft kann es hindern. Ist das Salz, das den Körper würzen soll, abgeschmackt, wozu ist es nach dem Evangelium nütz, als daß man es hinauswerfe und lasse es die Leute zertreten?

Auch darüber wollen wir uns also nicht wundern, wenn gewisse alte Aste und Zweige unserer Verfassung nicht mehr so viel Kultur erhalten als ehmals. Man fühlt, daß sie dürre Aste sind, und wünscht junge Sprossen an ihre Stelle. Lasset uns die beklagen, die als fruchtbare Zweige auf einem dürren Ast stehen; lasset uns die tadeln, die den Ast verdorren ließen oder ihm seinen Saft entzogen; die Achtung und Meinung der Zeit aber kann sich nur nach dem, was da ist, nicht, was es ehemals war oder künftig sein wird, gestalten. Jedes der Menschheit erwiesene Unrecht rächet aufs fürchterlichste sich selbst; und wehe, wem der Glaube oder Nichtglaube hieran mit Spott und Verachtung in die Hand kommt.

Stände veralten; mithin verjüngen sich auch Stände Es ist ein und dasselbe Gesetz der Natur, das diese Seite des Rades hinunter-, jene emporkehrt. Neuen Most, sagt das Evangelium, fasse man in neue Schläuche, so werden sie beide erhalten.

Was hilft es, gegen die Vorurteile der Erziehung Klage erheben? Man beßre die Erziehung, so fallen die Klagen weg. Philosophie aber kann dies nicht allein tun; sie ist nur der linke Arm, Regierung ist der rechte Arm der Menschheit. Nur mit beiden läßt sich das große Werk, und alsdann sehr leicht, vollführen.

Was nützt es, über ungeschaffene oder halbgeschaffene Menschen zu klagen, deren Ausbildung ja uns allein überlassen ward? Dem trägen Erdkloß hauche Odem des Lebens ein; er wird sich munter bewegen und dir fröhlich danken.

Ist's gnug, auch in der Regierung der Völker Übel zu bedauren, die wir heilen, denen wir zuvorkommen können?

[107] Lasset Stände, lasset Menschen in allen Ämtern und Bedienungen human und gerecht, groß, gut und billig denken; der Regent kann nicht anders, als mit und gleich ihnen denken. Denn nur aus einzelnen Teilen besteht das Ganze; verbessern sich die Teile und halten zusammen, das Ganze wird gut, ehe man's merket.

Tadeln Sie mir also nicht meine Philosophen, auch bei ihren kränklichen Klagen oder bei ihren überspannten Wünschen. Ist nicht der kränkliche Teil des Körpers der Witterung am meisten empfindlich? Der Hygrometer muß zart, das Quecksilber muß in einer gläsernen Röhre verschlossen sein, wenn sie ihr Amt tun sollen. Andernteils muß, wer andre ermuntern, entflammen will, selbst warm und munter sein. Der kältere Beobachter oder Geschäftsmann wird ihn schon zurechtweisen.

Welch ein Unglücksprophet sind Sie aber, daß Sie das barbarische Kriegs- und Eroberungssystem für die unerschütterliche Grundfeste Europas halten? Das hat der große König nicht gemeint, so manchen Einfall er sich zumal in jüngern Jahren über den guten Abt St. Pierre erlaubte. Wäre diese traurige Behauptung wahr, was könnte man anders sagen als: zum Wohl der Menschheit gehe das unglückliche Europa unter! Hat es nicht lange gnug sich selbst und die Welt beunruhigt? Triefen nicht alle Länder vom Blut derer, die es erschlug, vom Schweiß derer, die es als Sklaven quälte? Auf den Tafeln der Natur stehet das große Gesetz der Billigkeit und Wiedervergeltung geschrieben: »Man mache gut, was man böse gemacht hat, oder büße durch eigne Verbrechen.« Ich hoffe das erste. Europa wird gutmachen, was es im Taumel der Leidenschaft, unter den Hüllen des Aberglaubens und der Barbarei, unter dem Joch der Vorurteile und des Despotismus böse gemacht hat, und die ganze Menschheit wird sich seiner kläreren Vernunft, seiner gesetzteren Billigkeit, seines richtigern Kalküls freuen.

Denken Sie sich eine Gattung Tiere, die nicht Bedürfnisses, sondern des Vergnügens, der Kunst, der Raserei eines einzigen ihrer Art wegen sich selbst aufriebe; was würden Sie [108] vom Urheber der Natur sagen? Sich selbst zu regieren, einander zur Glückseligkeit zu helfen, dazu ist das menschliche Geschlecht gemacht, nicht, einander zu sieden, zu braten und künstlich zu morden.

Der große Friederich nannte die Kriege »Fieberanfälle der Menschheit«. Dem Fieber ruft man einen Arzt; auch dies Fieber wird seinen Arzt finden, der seine Anfälle wenigstens lindre und mindre. Denn das Menschengeschlecht dauert fort; was eine Zeit nicht tun konnte, kann die andre. Plus ultra, ist der Spruch der Menschheit, plus ultra! Kein Herkules hat an ihre letzten Säulen gereicht; niemand wird sie erreichen.

23.

Ist's Bragas Lied im Sternenklang,
Ist's, Tochter Dvals 17, dein Weihgesang,
Was rings die alte Nacht verjüngt
Und mich, ach! meinen Staub durchdringt? –
– Kann dies die Stätte sein, wo wir
Ins Tal des Schweigens flohn? –
Wie reizend, wie bezaubernd lacht
Die heitre Gegend, wie voll sanfter Pracht!
In schönrer Majestät, in reiferm Strahle
Glänzt diese Sonne. Milder fließt vom Tale
Mir fremder Blüten Frühlingsduft,
Und Balsamgeister steigen durch die Luft. –
– – Ha! nicht also in festlichem Gewand
Grüßt ich dich einst, mein mütterliches Land.
Unfreundlich, ungeschmückt und rauh und wüste
In trübem Dunkel schauerte die Küste.
Kein Himmel leuchtete mild durch den Hain,
Kein Tag der Ähren lud zu Freuden ein.
In Höhlen lauschte Graun und Meuterei,
Und was am Ufer scholl, war Kriegsgeschrei. –

[109] In sanfter, ätherischer Musik schallten diese Worte um mein Ohr, indes mein schlummerndes Auge im Traum ein sehr erfreuliches Gesicht sahe. An der Hand eines ehrwürdigen Barden erschien ein altdeutscher Druide. Der Druide suchte vergebens seinen längst zerstörten heiligen Hain, seine zertrümmerte Opferstätte. Der Barde suchte die verlornen Fußtapfen seiner Helden; er sah neue Gesetze, neue Anstalten für Ruhe, Ordnung, Recht und Wohlstand der Menschen; Gärten und Fluren lachten um ihn her; neue Lieder erklangen, nicht blutige Heldenlieder. Da ergriff er seine längst verstummte Harfe; er sang die Töne, deren einzelne Laute ich eben aus der Erinnerung angeführt habe, und das Gesicht zog vorüber. 18


Nur die zauberische Gegend blieb vor meinem Auge; ich wachte und träumte. Was ich sah, war die jetzige Welt und die Zukunft; ich glaubte (so mischen wir im Traum die Dinge untereinander!) mit physisch-morali schen Geist von der unmittelbarsten Gegenwart der Dinge auf ihre Folgen zu schließen, oder vielmehr nicht zu schließen, weil in der wachenden Erscheinung Gegenwart und Zukunft nur eins war. Es war die Blume in voller Gestalt; es war der Baum mit allen seinen Früchten. Ach, sprach ich zu mir selbst, Ephemeren, die wir glauben, mit uns gehe Himmel und Erde unter! Blinde, die so selten gewahr werden, woran sie selbst arbeiten und was sich vor ihnen entwickelt. Die Gegenwart ist schwanger von der Zukunft; das Schicksal der Nachwelt ist in unsrer Hand wir haben den Faden geerbt, wir weben ihn und spinnen ihn weiter.

Wollen Sie, m. Freunde, etwas aus diesem meinem wachenden Traume wissen? Hier sind einige Züge, von denen ich Ihnen künftig genaue Rechenschaft zu geben hoffe 19; denn, wie Sie wissen, Träume werden nur aus Erfahrungen, und [110] das Grundgewebe dieser Hoffnungen sind sehr überdachte Gedanken.

Ich stellte mir den Zustand der künftigen Literatur aus dem Zusammenhange der jetzigen und der vergangenen vor; ich sah die Morgenröte eines schönen werdenden Tages. Was erfindsame, fleißige Geister unsrer Zeit und der Vorzeit Nützliches versuchten, begannen, taten, sah ich von der Nachwelt gebraucht und übertroffen. Sie berichtigte Erfindungen, auf Anlagen bauete sie; sie schuf sich gleichsam neue Organe; die ganze Ansicht der Dinge war verändert.

Unsre Bemühungen, die Alten in ihrem Geist zu lesen, waren nichts weniger als verkannt; ich hörte den Namen einiger meiner Freunde mit Liebe und Hochachtung nennen. Man war aber weiter gekommen; man dachte und schrieb wie die Alten. Zeiten, denen ähnlich, in denen die edelsten Griechen und Römer schrieben, waren erschienen; man schrieb, was man sah und tat, und schrieb merkwürdige Dinge. Der Feldherr und Bürger, der Philosoph und Staatsmann trennten sich nicht voneinander.

Zeiten waren gekommen, in denen nicht Strafen allein, sondern auch öffentliche Ehren und Belohnungen waren. Da lebten Künstler, da sangen Dichter. Es war Griechenland und war es auch nicht; denn drittehalb Jahrtausende waren nicht umsonst verflossen in dem immer aufeinanderbauenden Tempel der Zeiten. Mein Herz erhob sich, da ich aus meinen Tagen einzelne Laute meiner Bekannten und Freunde hörte.

Ich sah ein Theater, wie ich's zu unsrer Zeit nicht gesehen hatte, dem griechischen sehr ähnlich. Sogar der Chor erschien auf demselben wieder, als Zeuge einer allgemeinen Teilnehmung an dem, was verhandelt ward, unserer Zeit fremde.

Ich bemerkte den Zustand der Philosophie; Männer, die mir teuer gewesen waren, erblickte ich als Gesetzgeber und Einrichter der Nachwelt. Meine ganze Seele war wie in den Tagen meiner Jugend.

[111] Gesetze endlich, Regierungen, der Zustand der Menschheit waren so, und so leicht verändert, daß ich mich wunderte wie wir das alles gewußt, gekannt und nicht angewandt haben konnten. Auch hier nannte man mir heilige, verehrte Namen meiner und der Vorzeit, die ich geliebt hatte. Allenthalben, auch im Tempel der Religion, verehrte man eine Göttin, aber nicht mit Worten, sondern in Taten und Seele, die Humanität. Indem auch ich sie anbeten wollte, riß mich ein neues Traumgesicht fort.


Durch Sturm und Wellen, über Felsen und Wüsten kam ich zum Sitze des alten Menschenfreundes Prometheus. Er war nicht mehr an seinen Felsen geschmiedet; kein Adler zehrete mehr an seiner nimmerverzehrten Leber. Gewalt und Stärke, die ihn einst angeschmiedet hatten, dieneten ihm; die vom Stachel der Liebe umhergetriebene Jo saß in menschlich-göttlicher Gestalt ruhig zu seiner Seite. Der alte Ocean auf seinem geflügelten Roß und die Oceaniden auf ihrem Wagen, alle menschenfreundlichen Nymphen und Pflegerinnen der Erde waren um ihn versammlet, und er sprach:

»Meine Vorsicht konnte mich nicht trügen, denn ich wußte, was ich den Menschen gegeben hatte mit meinem Geschenk. Unsterblichkeit ist nicht für sie auf Erden; aber mit dem Licht, das ich ihnen vom Olympus holte, hatten sie alles. Träge Geschöpfe, daß sie so lang in der Dämmerung gingen; endlich haben sie das Mittel gefunden, das in ihnen selbst lag, dieVernunft. Sie gibt das Maß und die Waage, sich selbst zu regieren, Leidenschaften, auch die stärksten und härtesten, zu überwinden und allein meiner Mutter Themis zu gehorchen. Lange litt ich mit ihren Leiden; darum war ich an den Felsen geschmiedet, dieZeit und ein edler Göttersohn, der Sohn meines ärgsten Feindes, haben mich befreiet.« Das Traumbild verschwand, und ich erwachte.


[112]
Multa renascentur quae iam cecidere, cadentque
Quae nunc sunt in honore –
Alter erit tum Tiphys, et altera quae vehat Argo
Delectos heroas: erunt etiam altera bella,
Atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles.

24.

Ich fürchte, Ihr armer Prometheus wird lange noch die Fesseln tragen, die ihm Gewalt und Stärke anlegten. Um indessen nicht alte Zweifel zu wiederholen, lege ich Ihnen nur noch eine, aber eine Hauptfrage vor:

Wäre die ganze Idee einer fortgehenden oder fortschreitenden Vervollkommung des Menschengeschlechts nicht ein bloßer Traum? Prometheus wußte seinen armen Kranken kein anderes Heilmittel zu geben als die täuschende, blinde Hoffnung.

Welche andre Gattung der Geschöpfe läßt sich vervollkommen? Und für wen? für sich oder für andre? Welchen Beruf also, welche Sicherheit darüber hätte der einzige Mensch für sich?

Und wo steht sein Ziel der Vollkommenheit? Die Linie dahin, ist sie eine Asymptote? eine Ellipse? eine Zykloide? oder welch eine andre Kurve?

Das menschliche Geschlecht besteht nur in einzelnen Menschen. Werden wir vollkommner geboren als unsre Vorfahren? vollkommner erzogen? Und wenn dies auch wäre, der [113] einzelne Mensch wächst, kulminiert und geht rückwärts. Ein andrer tritt an seine Stelle, wächst, kulminiert und geht rückwärts. Er nimmt, was er etwa erworben hatte, ins Grab; der andre hat neue Mühe im Erwerben und ebenden Ausgang.

Was heißt Vervollkommung? Heißt's Vermehrung der Kräfte? Diese bleiben in dem den Menschen von der Natur bestimmten Maß und Kreise. Der Mensch, sooft man ihn auch einen Gott oder einen Engel nennete, kann nie ein Gott oder ein Engel werden.

Oder wäre Vervollkommung eine Vermehrung von Werkzeugen und Mitteln zum Gebrauch menschlicher Kräfte? So kommt es immer doch darauf an, ob sie gut gebraucht werden; denn in den Händen des Bösewichts sind vermehrte Mittel vermehrte Übel.

Also veränderte sich die Frage dahin: Wird das menschliche Geschlecht (nicht kultivierter, sondern) moralisch besser? Besser in Neigungen? in Grundsätzen? in Anwendung dieser Grundsätze zu Ordnung der Neigungen? zu Bezwingung der Leidenschaften? zu mehrerer und schwererer Tugendübung? Getraueten Sie sich, dieses zu behaupten?

Und woher behaupteten Sie's? Aus der Natur der Sache? aus dem Wesen der Menschheit? aus der Geschichte und Erfahrung?

Ziehen Sie die Zusammenordnung der Menschen auf unserm Erdball klimatisch, lokal, politisch, und wie Sie ferner wollen, in Erwägung; bemerken Sie den Wechsel der Dinge in Reichen, in Staaten, in Familien, in Ständen; allenthalben werden Sie zwar Macht, Reichtum, Trieb, Leidenschaft blinde Neigung herrschend finden, aber auch erleuchtete Vernunft, Weisheit, Güte? und zwar nach dem Fortgange der Zeiten mit wachsendem Lichte?

Chronologisch und genealogisch hängt freilich das Menschengeschlecht zusammen oder rücket fort, aber auch dynamisch? rationell? moralisch?

Und verlöre unser Geschlecht dabei, wenn es nicht fortrückte? Der einzelne Mensch nicht; denn der lebt auf seiner [114] Stelle und kommt nicht wieder. Das Ganze auch nicht; dies lebt nur in einzelnen Teilen. Die wachsende Vollkommenheit des Ganzen wäre ein Ideal, das keinem zugut kommt, das nur in einem alles übersehenden Geist existieren könnte, etwa im Geist des Schöpfers, und was wäre für diesen ein solches Spielwerk?

Vergönnen Sie also, daß ich mit Lessing den ganzen Traum von wachsender Vollkommenheit unseres Geschlechts für einen heilsamen Trug annehme. Der Mensch muß nach etwas Höherem streben, damit er nicht unter sich sinke. Er muß vorwärts getrieben werden, damit er nur von der Stelle komme und nicht in Trägheit ermatte. Der Wahn einer Perfektibilität und der Trieb dazu scheinet ihm nur als Verwahrungsmittel gegen die Untätigkeit und Verschlimmerung gegeben. Er geht wie in der Mühle das blinde Pferd oder wie die kletternde Ziege.


–Oh man, proud man,
drest in a little brief authority,
most ignorant of what he is most assur'd,
plays such fantastic tricks before high heav'n
as make an angel weep.

Shakesp.

[115]

25.

Alle Ihre Fragen über den Fortgang unsres Geschlechts, die eigentlich ein Buch erforderten, beantwortet, wie mich dünkt, ein einziges Wort: Humanität, Menschheit. Wäre die Frage, ob der Mensch mehr als Mensch, ein Über-, ein Außermensch werden könne und solle, so wäre jede Zeile zuviel die man deshalb schriebe. Nun aber, da nur von den Gesetzen seiner Natur, vom unauslöschlichen Charakter seiner Art und Gattung die Rede ist, so erlauben Sie, daß ich sogar c.

Über den Charakter der Menschheit

1.


Vollkommenheit einer Sache kann nichts sein, als daß das Ding sei, was es sein soll und kann.

2.


Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also, daß er im Kontinuum seiner Existenz er selbst sei und werde daß er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat, daß er damit für sich und andre wuchere.


3.


Erhaltung, Leben und Gesundheit ist der Grund dieser Kräfte; was diesen Grund schwächet oder wegnimmt, was Menschen hinopfert oder verstümmelt, es habe Namen, wie es wolle, ist unmenschlich.


4.


Mit dem Leben des Menschen fängt seine Erziehung an; denn Kräfte und Glieder bringt er zwar auf die Welt, aber den Gebrauch dieser Kräfte und Glieder, ihre Anwendung, [116] ihre Entwicklung muß er lernen. Ein Zustand der Gesellschaft also, der die Erziehung vernachlässigt oder auf falsche Wege lenkt oder diese falschen Wege begünstigt oder endlich die Erziehung der Menschen schwer und unmöglich macht, ist insofern ein unmenschlicher Zustand. Er beraubt sich selbst seiner Glieder und des Besten, das an ihnen ist, des Gebrauchs ihrer Kräfte. Wozu hatten sich Menschen vereinigt, als daß sie dadurch vollkommenere, bessere, glücklichere Menschen würden?


5.


Unförmliche also oder schiefausgebildete Menschen zeigen mit ihrer traurigen Existenz nichts weiter, als daß sie in einer unglücklichen Gesellschaft von Kindheit auf lebten; denn Mensch zu werden, dazu bringt jeder Anlage gnug mit sich.


6.


Sich allein kann kein Mensch leben, wenn er auch wollte. Die Fertigkeiten, die er sich erwirbt, die Tugenden oder Laster, die er ausübt, kommen in einem kleinern oder größeren Kreise andern zu Leid oder zur Freude.


7.


Die gegenseitig wohltätigste Einwirkung eines Menschen auf den andern jedem Individuum zu verschaffen und zu erleichtern, nur dies kann der Zweck aller menschlicher Vereinigung sein. Was ihn stört, hindert oder aufhebt, ist unmenschlich. Lebe der Mensch kurz oder lange, in diesem oder jenem Stande, er soll seine Existenz genießen und das Beste davon andern mitteilen; dazu soll ihm die Gesellschaft, zu der er sich vereinigt hat, helfen.


[117] 8.


Gehet ein Mensch von hinnen, so nimmt er nichts als das Bewußtsein mit sich, seiner Pflicht, Mensch zu sein, mehr oder minder ein Gnüge getan zu haben. Alles andre bleibt hinter ihm, den Menschen. Der Gebrauch seiner Fähigkeiten, alle Zinsen des Kapitals seiner Kräfte, die das ihm geliehene Stammgut oft hoch übersteigen, fallen seinem Geschlecht anheim.


9.


An seine Stelle treten junge, rüstige Menschen, die mit diesen Gütern forthandeln; sie treten ab, und es kommen andre an ihre Stelle. Menschen sterben, aber die Menschheit perenniert unsterblich. Ihr Hauptgut, der Gebrauch ihrer Kräfte, die Ausbildung ihrer Fähigkeiten, ist ein gemeines, bleibendes Gut und muß natürlicherweise im fortgehenden Gebrauch fortwachsen.


10.


Durch Übung vermehren sich die Kräfte, nicht nur bei einzelnen, sondern ungeheuer mehr bei vielen nach- und miteinander. Die Menschen schaffen sich immer mehrere und bessere Werkzeuge; sie lernen sich selbst einander immer mehr und besser als Werkzeuge gebrauchen. Die physische Gewalt der Menschheit nimmt also zu: der Ball des Fortzutreibenden wird größer; die Maschinen, die es forttreiben sollen, werden ausgearbeiteter, künstlicher, geschickter, feiner.


11.


Denn die Natur des Menschen ist Kunst. Alles, wozu eine Anlage in seinem Dasein ist, kann und muß mit der Zeit Kunst werden.


[118] 12.


Alle Gegenstände, die in seinem Reich liegen (und dies ist so groß als die Erde), laden ihn dazu ein; sie können und werden von ihm, nicht ihrem Wesen nach, sondern nur zu seinem Gebrauch erforscht, gekannt, angewandt werden. Niemand ist, der ihm hierin Grenzen setzen könne, selbst der Tod nicht; denn das Menschengeschlecht verjünget sich mit immer neuen Ansichten der Dinge, mit immer jungen Kräften.


13.


Unendlich sind die Verbindungen, in welche die Gegenstände der Natur gebracht werden können; der Geist der Erfindungen zum Gebrauch derselben ist also unbeschränkt und fortschreitend. Eine Erfindung weckt die andre auf; eine Tätigkeit erweckt die andre. Oft sind mit einer Entdeckung tausend andre und zehntausend auf sie gegründete, neue Tätigkeiten gegeben.


14.


Nur stelle man sich die Linie dieses Fortganges nicht gerade, noch einförmig, sondern nach allen Richtungen, in allen möglichen Wendungen und Winkeln vor. Weder die Asymptote noch die Ellipse und Zykloide mögen den Lauf der Natur uns vormalen. Jetzt fallen die Menschen begierig über einen Gegenstand her; jetzt verlassen sie ihn mitten im Werk, entweder seiner müde oder weil ein andrer, neuerer Gegenstand sie zu sich hinreißt. Wenn dieser ihnen alt geworden ist, werden sie zu jenem zurückkehren, oder dieser wird sie gar auf jenen zurückleiten. Denn für den Menschen ist alles in der Natur verbunden, eben weil der Mensch nur Mensch ist und allein mit seinen Organen die Natur siehet und gebrauchet.


[119] 15.


Hieraus entspringt ein Wettkampf menschlicher Kräfte, der immer vermehrt werden muß, je mehr die Sphäre des Erkenntnisses und der Übung zunimmt. Elemente und Nationen kommen in Verbindung, die sich sonst nicht zu kennen schienen; je härter sie in den Kampf geraten, desto mehr reiben sich ihre Seiten allmählich gegeneinander ab, und es entstehen endlich gemeinschaftliche Produktionen mehrerer Völker.


16.


Ein Konflikt aller Völker unsrer Erde ist gar wohl zu gedenken; der Grund dazu ist sogar schon geleget.


17.


Daß zu diesen Operationen die Natur viel Zeit, mancherlei Umwandlungen bedarf, ist nicht zu verwundern; ihr ist keine Zeit zu lang, keine Bewegung zu verflochten. Alles, was geschehen kann und soll, mag nur in aller Zeit wie im ganzen Raum der Dinge zustande gebracht werden; was heute nicht wird, weil es nicht geschehen kann, erfolgt morgen.


18.


Der Mensch ist zwar das erste, aber nicht das einzige Geschöpf der Erde; er beherrscht die Welt, ist aber nicht das Universum. Also stehen ihm oft die Elemente der Natur entgegen, daher er mit ihnen kämpfet. Das Feuer zerstört seine Werke; Überschwemmungen bedecken sein Land; Stürme zertrümmern seine Schiffe, und Krankheiten morden sein Geschlecht. Alles dies ist ihm in den Weg gelegt, damit er's überwinde.

[120]

19.


Er hat dazu die Waffen in sich. Seine Klugheit hat Tiere bezwungen und gebraucht sie zu seiner Absicht; seine Vorsicht setzt dem Feuer Grenzen und zwingt den Sturm, ihm zu dienen. Den Fluten setzt er Wälle entgegen und geht auf ihren Wogen daher; den Krankheiten und dem verheerenden Tode selbst sucht und weiß er zu steuren. Zu seinen besten Gütern ist der Mensch durch Unfälle gelangt, und tausend Entdeckungen wären ihm verborgen geblieben, hätte sie die Not nicht erfunden. Sie ist das Gewicht an der Uhr, das alle Räder derselben treibet.


20.


Ein Gleiches ist's mit den Stürmen in unsrer Brust, den Leidenschaften der Menschen. Die Natur hat die Charaktere unseres Geschlechts so verschieden gemacht, als diese irgend nur sein konnten; denn alles Innere soll in der Menschheit herausgekehrt, alle ihre Kräfte sollen entwickelt werden.


21.


Wie es unter den Tieren zerstörende und erhaltende Gattungen gibt, so unter den Menschen. Nur unter jenen und diesen sind die zerstörenden Leidenschaften die wenigern; sie können und müssen von den erhaltenden Neigungen unsrer Natur eingeschränkt und bezwungen, zwar nicht ausgetilgt, aber unter eine Regel gebracht werden.


22.


Diese Regel ist Vernunft, bei Handlungen Billigkeit und Güte. Eine vernunftlose, blinde Macht ist zuletzt immer eine ohnmächtige Macht; entweder zerstört sie sich selbst oder muß am Ende dem Verstande dienen.


[121] 23.


Desgleichen ist der wahre Verstand immer auch mitBilligkeit und Güte verbunden; sie führet auf ihn, er führet auf sie. Verstand und Güte sind die beiden Pole, um deren Achse sich die Kugel der Humanität beweget.


24.


Wo sie einander entgegengesetzt scheinen, da ist's mit einer oder dem andern nicht richtig; eben diese Divergenz aber macht Fehler sichtbar und bringt den Kalkül des Interesse unsres Geschlechts immer mehr zur Richtigkeit und Bestimmtheit. Jeder feinere Fehler gibt eine neue, höhere Regel der reinen allumfassenden Güte und Wahrheit.


25.


Alle Laster und Fehler unsres Geschlechts müssen also dem Ganzen endlich zum Besten gereichen. Alles Elend, das aus Vorurteilen, Trägheit und Unwissenheit entspringt, kann den Menschen seine Sphäre nur mehr kennen lehren; alle Ausschweifungen rechts und links stoßen ihn am Ende auf seinen Mittelpunkt zurück.


26.


Je unwilliger, hartnäckiger, träger das Menschengeschlecht ist, desto mehr tut es sich selbst Schaden; diesen Schaden muß es tragen, büßen und entgelten; desto später kommt's zum Ziele.


27.


Dies Ziel ausschließend jenseit des Grabes setzen, ist dem Menschengeschlecht nicht förderlich, sondern schädlich. Dort kann nur wachsen, was hier gepflanzt ist, und einem Menschen [122] sein hiesiges Dasein rauben, um ihn mit einem andern außer unsrer Welt zu belohnen, heißt, den Menschen um sein Dasein betrügen.


28.


Ja, dem ganzen menschlichen Geschlecht, das also verführt wird, seinen Endpunkt der Wirkung verrücken, heißt, ihm den Stachel seiner Wirksamkeit aus der Hand drehn und es im Schwindel erhalten.


29.


Je reiner eine Religion war, desto mehr mußte und wollte sie die Humanität befördern. Dies ist der Prüfstein selbst der Mythologie der verschiednen Religionen.


30.


Die Religion Christi, die er selbst hatte, lehrte und übte, war die Humanität selbst. Nichts anders als sie; sie aber auch im weitsten Inbegriff, in der reinsten Quelle, in der wirksamsten Anwendung. Christus kannte für sich keinen edleren Namen, als daß er sich den Menschensohn, d.i. einen Menschen, nannte.


31.


Je besser ein Staat ist, desto angelegentlicher und glücklicher wird in ihm die Humanität gepfleget, je inhumaner, desto unglücklicher und ärger. Dies geht durch alle Glieder und Verbindungen desselben von der Hütte an bis zum Throne.


32.


Der Politik ist der Mensch ein Mittel; der Moral ist er Zweck. Beide Wissenschaften müssen eins werden, oder sie sind schädlich widereinander. Alle dabei erscheinende Disparaten indes müssen die Menschen belehren, damit sie wenigstens durch eigenen Schaden klug werden.


[123] 33.


Wie jeden aufmerksamen einzelnen Menschen das Gesetz der Natur zur Humanität führet – seine rauhen Ecken werden ihm abgestoßen, er muß sich überwinden, andern nachgeben und seine Kräfte zum Besten andrer gebrauchen lernen –, so wirken die verschiedenen Charaktere und Sinnesarten zum Wohl des größeren Ganzen. Jeder fühlt die Übel der Welt nach seiner eigenen Lage; er hat also die Pflicht auf sich, sich ihrer von dieser Seite anzunehmen, dem Mangelhaften, Schwachen, Gedruckten an dem Teil zu Hülfe zu kommen, da es ihm sein Verstand und sein Herz gebietet. Gelingt's, so hat er dabei in ihm selbst die eigenste Freude; gelingt's jetzt und ihm nicht, so wird's zu anderer Zeit einem andern gelingen. Er aber hat getan, was er tun sollte und konnte.


34.


Ist der Staat das, was er sein soll, das Auge der allgemeinen Vernunft, das Ohr und Herz der allgemeinen Billigkeit und Güte, so wird er jede dieser Stimmen hören und die Tätigkeit der Menschen nach ihren verschiednen Neigungen, Empfindbarkeiten, Schwächen und Bedürfnissen aufwecken und ermuntern.


35.


Es ist nur ein Bau, der fortgeführt werden soll, der simpelste, größeste; er erstrecket sich über alle Jahrhunderte und Nationen; wie physisch, so ist auch moralisch und politisch die Menschheit im ewigen Fortgange und Streben.


36.


Die Perfektibilität ist also keine Täuschung; sie ist Mittel und Endzweck zu Ausbildung alles dessen, was der Charakter unsres Geschlechts, Humanität, verlanget und gewähret.

[124] Hebet eure Augen auf und sehet. Allenthalben ist die Saat gesäet; hier verweset und keimt, dort wächset sie und reift zu einer neuen Aussaat. Dort liegt sie unter Schnee und Eise; getrost! das Eis schmilzt, der Schnee wärmt und decket die Saat. Kein Übel, das der Menschheit begegnet, kann und soll ihr anders als ersprießlich werden. Es läge ja selbst an ihr, wenn es ihr nicht ersprießlich würde; denn auch Laster, Fehler und Schwachheiten der Menschen stehen als Naturbegebenheiten unter Regeln, und sind oder sie können berechnet werden. Das ist mein Credo. Speremus atque agamus.

26.

Neulich sprach jemand von einer Gesellschaft, von der er sonderbare Dinge behauptete. Er sagte, »ihre wahre Taten sein so groß, so weit aussehend, das ganze Jahrhunderte vergehen könnten, ehe man sagen dürfte: ›Das haben sie getan!‹ Gleichwohl hätten sie alles Gute getan, was noch in der Welt ist (›Merke wohl‹, sagte er, ›in der Welt!‹), und führen fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird (›Merke wohl‹, sagte er, ›in der Welt!‹). Und, setzte er hinzu, die wahren Taten dieser Gesellschaft zielen dahin, um größtenteils alles, was man gemeiniglich gute Taten nennt, entbehrlich zu machen.«

Wer war begieriger über dieses Rätsel als ich? Und hier ist ungefähr unser Gespräch darüber.

Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft

Er: Wofür hältst du die bürgerliche Gesellschaft der Menschen?

Ich: Für etwas sehr Gutes.

[125] Er: Ohnstreitig. Aber hältst du sie für Zweck oder für Mittel? Glaubst du, daß die Menschen für die Staaten erschaffen worden oder daß die Staaten für die Menschen sind?

Ich: Jenes scheinen einige behaupten zu wollen, dieses aber mag wohl das Wahrere sein.

Er: So denke ich auch. Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats. Außer dieser gibt es gar keine. Jede andre Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts. –

Ich: Gut also! Das bürgerliche Leben des Menschen, alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit. Was weiter?

Er: Nichts als Mittel, und Mittel menschlicher Erfindung, ob ich gleich nicht leugnen will, daß die Natur alles so eingerichtet, daß der Mensch sehr bald auf diese Erfindung geraten müssen. Nun sage mir, wenn die Staatsverfassungen Mittel, Mittel menschlicher Erfindungen sind, sollten sie allein von dem Schicksale menschlicher Mittel ausgenommen sein?

Ich: Was nennest du Schicksale menschlicher Mittel?

Er: Das, was unzertrennlich mit menschlichen Mitteln verbunden ist, daß sie nicht unfehlbar sind. Daß sie ihrer Absicht nicht allein nicht entsprechen, sondern auch wohl gerade das Gegenteil davon bewirken.

Ich: Ich glaube dich zu verstehen. Aber man weiß ja wohl, woher es kommt, wenn so viel einzelne Menschen durch die Staatsverfassung an ihrer Glückseligkeit nichts gewinnen. Der Staatsverfassungen sind viele; eine ist also besser als die andre; manche ist sehr fehlerhaft, mit ihrer Absicht offenbar streitend; und die beste soll vielleicht noch erfunden werden.

Er: Das ungerechnet! Setze die beste Staatsverfassung, die [126] sich nur denken läßt, schon erfunden; setze, daß alle Menschen in der ganzen Welt diese beste Staatsverfassung angenommen haben: meinst du nicht, daß auch dann noch, selbst aus dieser besten Staatsverfassung, Dinge entspringen müssen, welche der menschlichen Glückseligkeit höchst nachteilig sind und wovon der Mensch in dem Stande der Natur schlechterdings nicht gewußt hätte?

Ich: Es würde dir schwer werden, eins von jenen nachteiligen Dingen zu nennen –

Er: Die auch aus der besten Staatsverfassung notwendig entspringen müssen? Oh, zehne für eines.

Ich: Nur eines erst.

Er: Wir nehmen also die beste Staatsverfassung für erfunden an; wir nehmen an, daß alle Menschen in der Welt in dieser besten Staatsverfassung leben; würden deswegen alle Menschen in der Welt nureinen Staat ausmachen?

Ich: Wohl schwerlich. Ein so ungeheurer Staat würde keiner Verwaltung fähig sein. Er müßte sich also in mehrere kleine Staaten verteilen, die alle nach den nämlichen Gesetzen verwaltet würden.

Er: Und jeder dieser kleineren Staaten hätte sein eignes Interesse? Jedes Glied desselben hätte das Interesse seines Staats?

Ich: Wie anders?

Er: Diese verschiedenen Interesse würden öfters miteinander in Kollision kommen, so wie jetzt; und zwei Glieder aus zwei verschiedenen Staaten würden einander ebensowenig mit unbefangenem Gemüt begegnen können, als jetzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet.

Ich: Sehr wahrscheinlich.

Er: Das ist: wenn jetzt ein Deutscher einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer begegnet, so begegnet nicht mehr ein bloßer Mensch einem bloßen Menschen, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die ihrer verschiedenen Tendenz sich bewußt sind, welches sie [127] gegeneinander kalt, zurückhaltend, mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste miteinander zu schaffen und zu teilen haben.

Ich: Das ist leider wahr.

Er: Nun so ist es denn auch wahr, daß das Mittel, welches die Menschen vereiniget, um sie durch diese Vereinigung ihres Glücks zu versichern, die Menschen zugleich trennet. Tritt einen Schritt weiter. Viele von den kleinern Staaten würden ein ganz verschiedenes Klima, folglich ganz verschiedene Bedürfnisse und Befriedigungen, folglich ganz verschiedene Gewohnheiten und Sitten, folglich ganz verschiedene Sittenlehren, folglich ganz verschiedene Religionen haben?

Ich: Das ist ein gewaltiger Schritt.

Er: Hätten sie das, so würden sie auch, sie möchten heißen, wie sie wollten, sich untereinander nicht anders verhalten, als sich unsre Christen und Juden und Türken von jeher untereinander verhalten haben. Nicht als bloße Menschen gegen bloße Menschen, sondern als solche Menschen gegensolche Menschen, die sich einen gewissen geistigen Vorzug gegeneinander streitig machen und darauf Rechte gründen, die dem natürlichen Menschen nimmermehr einfallen könnten.

Ich: Allenfalls dächte ich doch, so wie du angenommen hast, daß alle Staaten einerlei Verfassung hätten, daß sie auch wohl alle einerlei Religion haben könnten. Ja, ich begreife nicht, wie einerlei Staatsverfassung ohne einerlei Religion auch nur möglich ist.

Er: Ich ebensowenig. Auch nahm ich jenes nur an, um dir deine Ausflucht abzuschneiden. Eines ist zuverlässig ebenso unmöglich als das andre. Ein Staat, mehrere Staaten. Mehrere Staaten, mehrere Staatsverfassungen. Mehrere Staatsverfassungen, mehrere Religionen. – Nun sieh da das zweite Unheil, welches die bürgerliche Gesellschaft ganz ihrer Absicht entgegen verursacht. Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen, nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern [128] durch sie hinzuziehen. Laß mich noch das dritte hinzufügen. Nicht gnug, daß die bürgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen teilet und trennet. Diese Trennung in wenige große Teile, deren jeder für sich ein Ganzes wäre, wäre doch immer noch besser als gar kein Ganzes. – Nein, die bürgerliche Gesellschaft setzt ihre Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins unendliche fort.

Ich: Wieso?

Er: Oder meinst du, daß ein Staat sich ohne Verschiedenheit von Ständen denken läßt? Er sei gut oder schlecht, der Vollkommenheit mehr oder weniger nahe, ohnmöglich können alle Glieder unter sich das nämliche Verhältnis haben. – Wenn sie auch alle an der Gesetzgebung Anteil hätten, so können sie doch nicht gleichen Anteil haben, wenigstens nicht gleich unmittelbaren Anteil. Es wird also vornehmere und geringere Glieder geben. – Wenn anfangs auch alle Besitzungen des Staats unter sie gleich verteilet worden, so kann diese gleiche Verteilung doch keine zwei Menschenalter bestehen. Es wird bald reichere und ärmere Glieder geben.

Ich: Das versteht sich.

Er: Nun überlege, wieviel Übel es in der Welt wohl gibt, die in dieser Verschiedenheit der Stände ihren Grund nicht hätten.

Ich: Wenn ich dir doch widersprechen könnte! Aber was willst du damit? Mir das bürgerliche Leben dadurch verleiden? Mich wünschen machen, daß den Menschen der Gedanke, sich in Staaten zu vereinigen, nie möge gekommen sein?

Er: Verkennest du mich so weit? Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet werden kann, ich würde sie auch bei weit größern Übeln noch segnen.

Ich: Wer des Feuers genießen will, muß sich den Rauch gefallen lassen.

Er: Allerdings. Aber weil der Rauch bei dem Feuer unvermeidlich [129] ist, durfte man darum keinen Rauchfang erfinden? Und der den Rauchfang erfand, war der darum ein Feind des Feuers? Sieh, dahin wollte ich.

Ich: Wohin? Ich verstehe dich nicht.

Er: Das Gleichnis war doch sehr passend. – Wenn die Menschen nicht anders in Staaten vereinigt werden konnten als durch jene Trennungen, werden sie darum gut, jene Trennungen?

Ich: Das wohl nicht.

Er: Werden sie darum heilig, jene Trennungen?

Ich: Wie heilig?

Er: Daß es verboten sein sollte, Hand an sie zu legen.

Ich: In Absicht...

Er: In Absicht, sie nicht größer einreißen zu lassen, als die Notwendigkeit erfordert. In Absicht, ihre Folgen so unschädlich zu machen, als möglich.

Ich: Wie könnte das verboten sein?

Er: Aber geboten kann es doch auch nicht sein, durch bürgerliche Gesetze nicht geboten. Denn bürgerliche Gesetze erstrecken sich nie über die Grenzen ihres Staats. Und dieses würde nun gerade außer den Grenzen aller und jeder Staaten liegen. – Folglich kann es nur ein opus super erogatum sein, und es wäre bloß zu wünschen, daß sich die Weisesten und Besten eines jeden Staats diesem operi super erogato freiwillig unterzögen.

Ich: Recht sehr zu wünschen.

Er: Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, die über die Vorurteile derVölkerschaft hinweg wären und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend zu sein aufhöret.

Ich: Recht sehr zu wünschen!

Er: Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, die dem Vorurteil ihrer angebornen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, daß alles notwendig [130] gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.

Ich: Recht sehr zu wünschen!

Er: Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staat Männer geben möchte, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt, in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herabläßt und der Geringe sich dreist erhebet.

Ich: Recht sehr zu wünschen!

Er: Und wenn er erfüllt wäre, dieser Wunsch? Nicht bloß hier und da, nicht bloß dann und wann. Wie wenn es dergleichen Männer jetzt überall gäbe? zu allen Zeiten nun ferner geben müßte?

Ich: Wollte Gott!

Er: Und diese Männer nicht in einer unwirksamen Zerstreuung lebten? nicht immer in einer unsichtbaren Kirche?

Ich: Schöner Traum!

Er: Daß ich es kurz mache. Und diese Männer die *** wären? (Hier nannte er mir den Namen der Gesellschaft, doch ohne mich im mindesten zu ihr einzuladen. Er, der aufrichtigste Mann, gestand selbst, daß die genannten Absichten zu ihrem Geschäftnur so mit gehörten, daß »dies Geschäft nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches, sondern etwas Notwendiges sei, darauf man durch eignes Nachdenken ebensowohl verfallen könne, als man durch andre darauf geführt wird, daß Worte, Zeichen und Gebräuche, daß die ganze Aufnahme in diese Gesellschaft nichts Notwendiges, nichts Wesentliches sei«; und durch diese Winke geleitet, war ich auf sicherm Wege Es begann zwischen uns ein zweites Gespräch, ohngefähr folgendermaßen:)

Ich: Wenn es auch außer deiner Gesellschaft eine andre, freiere Gesellschaft gäbe, die das große Geschäft, wovon wir sprachen, nicht als Nebensache, sondern als Hauptzweck, nicht verschlossen, sondern vor aller Welt, nicht in Gebräuchen und Sinnbildern, sondern in klaren Worten und Taten, nicht in zwei oder drei Nationen, sondern unter allen aufgeklärten [131] Völkern der Erde triebe: nicht wahr, so entließest du mir die Aufnahme in deine kleine Gesellschaft?

Er: Herzlich gern. Das Nitrum muß ja wohl in der Luft sein, ehe es sich als Salpeter an den Wänden einer dunkeln Kammer ansetzt.

Ich: Zumal wenn ich in dieser Gesellschaft, die zu allen Zeiten existiert hat und existieren wird, längst gelebt und in ihr mein Vaterland, meine innigste Freunde gefunden hätte?

Er: Desto besser.

Ich: Und in meiner Gesellschaft nichts von dem zu befürchten wäre, was ich in der deinigen immer noch besorgen muß: wo nicht Trug für Wahrheit, so wenigstens pädagogische Anleitung, Pedanterie des Herkommens, Aufhalt?

Er: Ganz nach meinem Sinn; aber nenne mir deine Gesellschaft.

Ich: Die Gesellschaft aller denkenden Menschen in allen Welt teilen.

Er: Groß genug ist sie, aber leider eine zerstreute, unsichtbare Kirche.

Ich: Sie ist gesammelt, sie ist sichtbar. Faust oder Guttenberg war, wie soll ich sagen, ihr Meister vom Stuhl oder vielmehr ihr erster dienender Bruder. Ich treffe in ihr alles an, was mich über jede Trennung der bürgerlichen Gesellschaft erhebt und mich zum Umgange nicht mit solchen und solchen Menschen, sondern mit Menschen überhaupt, nicht nur einführt, sondern auch bildet.

Er: Ich verstehe dich wohl. Seitdem die Buchdruckerei ihre Worte und Zeichen in alle Welt sendet, sollte es, meinst du, keine geheime Worte und Zeichen mehr geben. Indessen stiftet auch die Buchdruckerei nur eine idealische Gesellschaft.

Ich: Wie es in diesen Dingen sein muß. Über Grundsätze können sich nur Geister einander erklären; die Zusammenkunft der Körper ist sehr entbehrlich, wenn sie nicht zugleich auch meistens sehr zerstreuend und verführerisch [132] wäre. Im Umgange mit Geistern, auf Fausts Mantel bleibt meine Seele frei; sie kann jedes Wort, jedes Bild prüfen.

Er: Und sie heben dich über alle Vorurteile der Staaten, der Religion, der Stände?

Ich: Völlig. Entweder denke ich bei meinen Gesellschaftern Homer, Plato, Xenophon, Tacitus, Mark Antonin, Baco, Fénelon gar nicht daran, zu welchem Staat oder Stande sie gehörten, welches Volkes und welcher Religion sie waren, oder wenn sie mich daran erinnern, geschiehet's gewiß mit weniger Störung, als es in deiner sichtbaren Gesellschaft je geschehen kann und mag.

Er: Gewiß.

Ich: Und kann darauf rechnen, daß sich in dieser Gesellschaft, an eben diesen Grundsätzen und Lehren alle edlen Geister der Welt mit mir vereinigen.

Er: Und du kannst selbst mit ihnen sprechen, dich ihnen vernehmlich und hörbar machen auf eben dem Wege.

Ich: Wenn ich's wie du könnte! Ich sprach mit deinem Geist, ehe ich deine Person sah; ich kannte dich, ohne von einer geheimen Gesellschaft zu sein, am Wort, am Griff, am Schlage. Deine und andrerTaten haben längst und sicherer bei mir bewirkt, was Gebräuche und Zeichen nur sehr unsicher und langsam bewirken könnten: sie haben mich über jedes Vorurteil von Staatsverfassung, angeborner Religion, Rang und Ständen längst erhoben.

Er: Welche Taten?

Ich: Poesie, Philosophie und Geschichte sind, wie mich dünkt, die drei Lichter, die hierüber Nationen, Sekten und Geschlechter erleuchten: ein heiliges Dreieck! Poesie erhebt den Menschen durch eine angenehme, sinnliche Gegenwart der Dinge über alle jene Trennungen und Einseitigkeiten. Philosophie gibt ihm feste, bleibende Grundsätze darüber, und wenn es ihm nötig ist, wird ihm die Geschichte nähere Maximen nicht versagen.

Er: Ob aber auch diese Grundsätze, diese Maximen und Anschauungen [133] Taten wirkten? Gäbe nicht die Gesellschaft einen Antrieb mehr?

Ich: Ich nehme dir deine eignen Worte aus dem Munde. »Sage mir nichts von der Menge der Antriebe. Lieber einem einzigen Antriebe alle mögliche intensive Kraft gegeben! Die Menge solcher Antriebe ist wie die Menge der Räder in einer Maschine. Je mehr Räder, desto wandelbarer.«

Er: Und was wäre dein einziger Antrieb?

Ich: Humanität. Gäbe man diesem Begriff alle seine Stärke, zeigte man ihn im ganzen Umfange seiner Wirkungen und legte ihn als Pflicht, als unumgängliche, allgemeine, erste Pflicht sich und andern ans Herz, alle Vorurteile von Staatsinteresse, angeborner Religion und das törichtste Vorurteil unter allen, von Rang und Stande, würden –

Er: Verschwinden? Da irrest du dich sehr.

Ich: Nicht verschwinden, aber gedämpft, eingeschränkt, unschädlich gemacht werden, was deine genannte und vielleicht verdienstvolle Gesellschaft ja auch nur bewirken konnte, wenn sie es bewirkenwollte. Weißt du es nicht besser als ich, daß alle dergleichen Siege über das Vorurteil von innen heraus, nicht von außen hinein erfochten werden müssen? Die Denkart macht den Menschen, nicht die Gesellschaft; wo jene da ist, formt und stimmt sich diese von selbst. Setze zwei Menschen von gleichen Grundsätzen zusammen; ohne Griff und Zeichen verstehen sie sich und bauen in stillen Taten den großen, edlen Bau der Humanität fort. Jeder, nachdem er kann, in seiner Lage, praktisch; er freuet sich aber auch am Werk andrer Hände, weil er überzeugt ist, daß dies unendliche, unabsehliche Gebäude nur von allen Händen vollführt werden kann, daß alle Zeiten, alle Beziehungen dazu erfordert werden, mithin ein jeder einen jeden nicht einmal kennen darf, kennen soll, geschweige, daß er ihn durch Eidschwüre, durch Gesetze und Symbole bände.

Er: Du bist auf dem rechten Wege; auf ihm gibt esfreie Arbeit. Kein wahres Licht läßt sich verbergen, wenn man es [134] auch verbergen wollte; und das reinste Licht sucht man nicht eben in den Grüften.

Ich: Alle solche Symbole mögen einst gut und notwendig gewesen sein; sie sind aber, wie mich dünkt, nicht mehr für unsre Zeiten. Für unsre Zeiten ist gerade das Gegenteil ihrer Methode nötig,reine, helle, offenbare Wahrheit.

Er: Ich wünsche dir Glück. Glaubst du aber nicht, daß man auch dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde?

Ich: Das wäre sehr inhuman. Wir sind nichts als Men schen; sei du der Erste unsrer Gesellschaft. 20

[135][137]

Dritte Sammlung

(1794)


[137][139]

27.

Sie fürchten, daß man dem Wort Humanität einen Fleck anhängen werde 21; könnten wir nicht das Wort ändern? Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe?

Menschen sind wir allesamt und tragen sofern dieMenschheit an uns, oder wir gehören zur Menschheit. Leider aber hat man in unserer Sprache dem WortMensch und noch mehr dem barmherzigen WortMenschlichkeit so oft eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit, Schwäche und falschem Mitleid angehängt, daß man jenes nur mit einem Blick der Verachtung, dies mit einem Achselzucken zu begleiten gewohnt ist. »Der Mensch!« 22 sagen wir jammernd oder verachtend und glauben einen guten Mann aufs lindeste mit dem Ausdruck zu entschuldigen, »es habe ihn die Menschlichkeit übereilet«. Kein Vernünftiger billigt es, daß man den Charakter des Geschlechts, zu dem wir gehören, so barbarisch hinabgesetzt hat; man hat hiemit unweiser gehandelt, als wenn man den Namen seiner Stadt oder Landsmannschaft zum Ekelnamen machte. Wir also wollen uns hüten, daß wir zu Beförderung solcher Menschlichkeit keine Briefe schreiben.

Der Name Menschenrechte kann ohne Menschenpflichten nicht genannt werden; beide beziehen sich aufeinander, und für beide suchen wir ein Wort.

So auch Menschenwürde und Menschenliebe. Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch [139] sein wird, hat seinem größesten Teil nach keine Würde; man darf es eher bemitleiden als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden. Das schöne Wort Menschenliebe ist so trivial worden, daß man meistens die Menschen liebt, um keinen unter den Menschen wirksam zu lieben. Alle diese Worte enthalten Teilbegriffe unseres Zwecks, den wir gern mit einem Ausdruck bezeichnen möchten.

Also wollen wir bei dem Wort Humanität bleiben, an welches unter Alten und Neuern die besten Schriftsteller so würdige Begriffe geknüpft haben. Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unsrer Übungen, unser Wert sein; denn eine Angelität im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unserm Geschletcht ist also Bildung zur Humanität; alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erziehung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, gleichsam die Kunst unsres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß, oder wir sinken, höhere und niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.

Sollte das Wort Humanität also unsre Sprache verunzieren? Alle gebildete Nationen haben es in ihre Mundart aufgenommen; und wenn unsre Briefe einem Fremden in die Hand kämen, müßten sie ihm wenigstens unverfänglich scheinen; denn Briefe zu Beförderung der Brutalität wird doch kein ehrliebender Mensch wollen geschrieben haben.

[140] 28.

Gern nehme ich mit Ihnen das Wort Humanität in unsre Sprache, wenigstens im Kreise unsrer Gesellschaft, auf; der Begriff, den es ausdrückt, noch mehr aber dessen Geschichte scheint ihm das Bürgerrecht zu geben.

Solange der Mensch, dies wunderbare Rätsel der Schöpfung, sich seinem sichtbaren Zustande nach betrachtete und sich dabei mit dem, was in ihm lag, mit seinen Anlagen und Willenskräften, oder gar mit äußern Gegenständen der daurenden Natur verglich, so ward er auf das Gefühl der Hinfälligkeit, der Schwäche und Krankheit zurückgestoßen; daher in mehreren morgenländischen Schriften dieser Begriffe dem Namen unsres Geschlechts ursprünglich beigesellet ist. Der Mensch ist von Erde, eine zerbrechliche, von einem flüchtigen Odem durchhauchte Leimhütte; sein Leben ist ein Schatte, sein Los ist Mühe auf Erden.

Schon dieser Begriff führte zur Menschlichkeit, d.i. zum erbarmenden Mitgefühl des Leidens seiner Nebenmenschen, zur Teilnahme an den Unvollkommenheiten ihrer Natur, mit dem Bestreben, diesen zuvorzukommen oder ihnen abzuhelfen. Die Morgenländer sind so reich an Sittensprüchen und Einkleidungen, die dies Menschengefühl als Pflicht einschärfen oder als eine unserm Geschlecht unentbehrliche Tugend empfehlen, daß es sehr ungerecht wäre, ihnen Humanität abzusprechen, weil sie dies Wort nicht besaßen.

Die Griechen hatten für den Menschen einen edleren Namen: ανϑρωπος, ein Aufwärtsblickender, der sein Antlitz und Auge aufrecht empor trägt, oder, wie Plato es noch künstlicher deutet, einer, der, indem er sieht, auch überzählt und rechnet. Sie konnten indessen ebensowenig umhin, in diesem aufrechtblickenden, vernunftartigen Geschlecht alle die Mängel zu bemerken, die zum bedaurenden Mitgefühl, also zur Humanität und zur Gesellung führen. In Homer und allen ihren Dichtern kommen die zärtlichsten Klagen über das Los der Menschheit vor. Erinnern Sie sich der Worte Apolls, wenn er die armen Sterblichen beschreibt:


[141] »Wie sie, gleich den Blättern des Baums, jetzt grünen und frisch sind,
Von den Früchten der Erde sich nährend; dann aber in kurzem
Welken und fallen entseelet dahin –«

Oder wenn Jupiter selbst die unsterblichen Rosse Achills bedauret, die um ihren Gebieter trauren:
– Er sprach im Innern der Seele
»Arme, warum doch gaben wir euch dem Könige Peleus,
Einem Sterblichen, euch, die niemals altern und sterben?
War's, mit den unglückseligen Menschen euch leiden zu sehen?
Denn elender ist nirgend ein Wesen, als es der Mensch ist;
Keines von allen, die über der Erde sich regen und atmen.« –

In demselben Ton singen ihre lyrische Dichter.

Nächst der Selbsterhaltung ward es also die erste Pflicht der Menschheit, den Schwächen unserer Nebengeschöpfe beizuspringen und sie gegen die Übel der Natur oder die rohen Leidenschaften ihres eignen Geschlechts in Schutz zu nehmen. Dahin ging die Sorge ihrer Gesetzgeber und Weisen, daß sie in Worten und Gebräuchen den Menschen diese unentbehrlichen heiligen Pflichten gegen ihre Mitmenschen anempfahlen und dadurch das älteste Menschen- und Völkerrecht gründeten. Religion war's, vom Morde sich zu enthalten, dem Schwachen beizuspringen, dem Irrenden den rechten Weg zu zeigen, des Verwundeten zu pflegen, den Toten zu begraben. In Religion wurden die Pflichten des Ehebundes, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder gegen die Eltern, des Einheimischen gegen die Fremden eingehüllet und allmählich dies Erbarmen auch auf Feinde verbreitet. 23 Was Poesie und gesetzgebende [142] Weisheit begonnen hatten, entwickelte die Philosophie endlich; und wir haben es insonderheit der sokratischen Schule zu danken, daß in Form so mannigfaltiger Lehrgebäude die Kenntnis der Natur des Menschen, seiner wesentlichen Beziehungen und Pflichten das Studium der erlesensten Geister ward. Was Sokrates bei den Griechen tat, brachten bei andern Völkern andre zustande: Konfuzius z.B. ist der Sokrates der Sineser, Menu der Indier worden; denn überhaupt sind die Gesetze der Menschenpflicht keinem Volk der Erde unbekannt geblieben. In jeder Staatsverfassung aber hat sie nach Lage und Zeit das sogenannte Bedürfnis des Staats teils befördert, teils aufgehalten und verderbet.

Unter den Römern also, denen das Wort Humanität eigentlich gehört, fand der Begriff Anlaß gnug, sich bestimmter auszubilden. Rom hatte harte Gesetze gegen Knechte, Kinder, Fremde, Feinde; die obern Stände hatten Rechte gegen das Volk u. f. Wer diese Rechte mit größester Strenge verfolgte, konnte gerecht sein, er war aber dabei nicht menschlich. Der Edle, der von diesen Rechten, wo sie unbillig waren, von selbst nachließ, der gegen Kinder, Sklaven, Niedre, Fremde, Feinde nicht als römischer Bürger oder Patrizier, sondern als Mensch handelte, der war humanus, humanissimus, nicht etwa in Gesprächen nur und in der Gesellschaft, sondern auch in Geschäften, in häuslichen Sitten, in der ganzen Handlungsweise. Und da hiezu das Studium und die Liebe der griechischen Weltweisheit viel tat, daß sie den rauhen, strengen Römer nachgebend, sanft, gefällig, billigdenkend machte, konnte den bildenden Wissenschaften ein schönerer Name gegeben werden, als daß man siemenschliche Wissenschaften nannte? Gewiß war von ihnen die Philosophie nicht ausgeschlossen 24; vielmehr war sie dieser bildenden Wissenschaften Erzieherin und Gesellin, bald ihre Mutter, bald ihre Tochter gewesen.

[143] Da bei den Römern also die Humanität zuerst als eine Bezähmerin harter bürgerlicher Gesetze und Rechte, als die eigentliche Tochter der Philosophie und bildenden Wissenschaften einen Namen gewonnen hat, der sich mit diesen nachher weitervererbte, so lassen Sie uns ja Namen und Sache ehren. Auch in den abergläubigsten, dunkelsten Zeiten erinnerte der Name humaniora an den ernsten und schönen Zweck, den die Wissenschaften befördern sollten; diesen wollen wir, da wir menschliche Wissenschaften doch nicht wohl sagen können, mit und ohne dem Wort Humanität, nie vergessen, nie aufgeben. Wir bedürfen dessen ebensowohl als die Römer.

Denn blicken Sie jetzt weiterhin in die Geschichte; es kam eine Zeit, da das Wort Mensch (homo) einen ganz andern Sinn bekam, es hieß ein Pflichtträger, ein Untertan, ein Vasall, ein Diener. 25 Wer dies nicht war, der genoß keines Rechts, der war seines Lebens nicht sicher; und die, denen jene dienende Menschen zugehörten, waren Übermenschen. Der Eid, den man ihnen ablegte, hieß Menschenpflicht (homagium), und wer ein freier Mann sein wollte, mußte durch den Mann-Rechtsbrief beweisen, daß er kein homo, kein Mensch sei. Wundern Sie sich nun, daß dem Wort Mensch in unsrer Sprache ein so niedriger Begriff anklebt? Seiner Abstammung selbst heißt es ja nichts anders als ein verachteter Mann, Mennisk, ein Männlein. 26 Auch Leute, Leutlein wurden nur als Anhängsel des Landes betrachtet, das sie bebauen mußten, auf welchem sie starben. Der Fürst, der Edle war Herr und Eigentümer über Land und Leute, und seine Säckelträger, Kanzlisten, Kapellane, Vasallen und Klienten waren homines, Menschen oder Menschlein, mit mancherlei [144] Nebenbestimmungen, die ihnen bloß das Verhältnis gab, nach welchem sie ihm angehörten. 27Lassen Sie uns ja zum Begriff der Humanität bei Griechen und Römern übergehen, denn bei diesem barbarischen Menschenrecht wird uns angst und bange.

29.

Das Hauptgut wollen wir ja nicht vergessen, das uns die tiefere Betrachtung der Menschennatur für alle Zeiten erworben hat; es ist die Erkenntnis unsrer Kräfte und Anlagen, unsres Berufes und unsrer Pflicht. Eben in dem, wodurch der Mensch von Tieren sich unterscheidet, liegt sein Charakter, sein Adel, seine Bestimmung; er kann sich davon sowenig als von der Menschheit selbst lossagen. Dies ist das wahre studium humanitatis, in welchem uns Griechen und Römer vortrefflich vorgegangen sind; Schande, wenn wir ihnen nachbleiben wollten!

Der Mensch hat einen Willen, er ist des Gesetzes fähig; seine Vernunft ist ihm Gesetz. Ein heiliges, unverbrüchliches Gesetz, dem er sich nie entziehen darf, dem er sich nie entziehen soll. Er ist nicht etwa nur ein mechanisches Glied der Naturkette, sondern der Geist, der die Natur beherrscht, ist teilweise in ihm. Jener soll er folgen; die Dinge um ihn her, insonderheit seine eigne Handlungen, soll er dellt allgemeinen Principium der Welt gemäß anordnen. Hierin ist er keinem Zwange unterworfen, ja er ist keines Zwanges fähig. Er kostituieret sich selbst; er konstituiert mit andern ihm Gleichgesinnten nach heiligen, unverbrüchlichen Gesetzen eine Gesellschaft. Nach solchen ist er Freund, Bürger, Ehemann, Vater, Mitbürger endlich der großen Stadt Gottes auf Erden, [145] die nur ein Gesetz, ein Dämon, der Geist einer allgemeinen Vernunft und Humanität beherrschet, ordnet, lenket.

Doch warum spreche ich? und lasse nicht lieber den menschenfreundlichen Kaiser sprechen, der in seinen Betrachtungen über sich selbst mehr als in seiner Statue vor dem Kapitol als Gesetzgeber der Welt dem Menschengeschlecht sanftmütig-groß gebietet.


Mark Antonin über sich selbst


»Von Apollonius habe ich gelernt, frei zu sein und ohne Wankelmut unbeweglich, auf nichts anders, auch mit dem kleinsten Seitenblick, hinzusehen als auf die Vernunft, immer derselbe zu sein, unter den heftigsten Schmerzen, beim Verlust eines Kindes, in langwierigen Krankheiten. Wie in einem lebendigen Muster habe ich an ihm deutlich ersehen, wie derselbe Mann sehr strenge und doch auch nachgebend sein könne. Ich habe von ihm gelernt, wie man von Freunden sogenannte Gefälligkeiten annehmen könne, daß man ihnen weder verhaftet werde noch solche gefühllos zurückweisen dürfe.«

»Vom Sextus lernte ich Wohlwollen; ich empfing das Muster einer väterlichen Hausverwaltung und den Sinn, nach der Natur zu leben. Ich lernte, ernst sein ohne Steifheit, mich in Freunde schicken ohne Laune, Unwissende und vom Wahn Geleitete dulden. An ihm sah ich, was Gefälligkeit gegen jedermann sei; denn sein Umgang war angenehmer als alle Schmeichelei, und doch blieb er zu ebender Zeit bei allen in Achtung.«

»Von meinem Bruder Severus lernte ich Verwandte, Recht und Wahrheit lieben. Durch ihn lernte ich einen Thrasea, Helvidius, Cato, Dion und Brutus kennen; ich empfing die Idee eines Staats, der nach gleichen Gesetzen und Rechten verwaltet wird, einer Regierung, die der Freiheit ihrer Untertanen die höchste Achtung erweiset. Von ihm lernte ich standhaft [146] und ohne Scheu die Philosophie hochschätzen, guttätig sein auf die beste, reichste Weise, jederzeit das Beste hoffen und auf die Liebe der Freunde trauen, es ihnen gestehen, worin man mit ihnen unzufrieden sei, was man wolle oder nicht wolle, sie nicht erraten lassen, sondern es ihnen klar sagen.«

»Haben wir den Verstand miteinander gemein, so ist uns auch die Vernunft gemein, durch die wir vernünftig sind. Ist dieses, so ist uns auch die Vernunft gemein, die vorschreibt, was wir zu tun und nicht zu tun haben. Ist dies, so haben wir auch ein gemeinschaftliches Gesetz. Ist das, so sind wir Bürger und nehmen an einem gemeinschaftlichen Staate teil. Dieser Staat ist die Welt; denn was für einen andern Staat könnte jemand nennen, an dem das ganze Menschengeschlecht teilnehme? Aus diesem gemeinschaftlichen Staat also haben wir alle denselben Verstand, dieselbe Vernunft, dieselbe gesetzgebende Vernunft; denn woher hätten wir sie sonst? Wie das Irdische an mir, das Feuchte, das Luftige, das Feurige jedes aus der Quelle seines Elements kommt und dahin gehöret, so muß auch der Verstand irgendwoher sein und dazu gehören.«

»Was dir füglich ist, o Weltall, ist auch mir bequem Nichts kommt mir zu frühe, nichts zu spät, was dir recht ist. Alles ist mir Frucht, o Natur, was deineHoren mir bringen. Aus dir kommt alles, in dir ist alles, in dich kehrt alles zurück. Wenn jener sagte: ›O du geliebte Kekrops-Stadt‹, sollte ich nicht sagen: ›O du geliebte Gottes-Stadt!‹«

»Der Geist des Weltalls ist ein Gemeinheit-Stifter. Das Schlechtere hat er des Bessern wegen hervorgebracht, das Bessere harmonisch zueinander geordnet. Du siehest, wie er unter-, wie er zusammenordnete, wie er jedem Dinge nach Würde das Seinige zuteilte und die edelsten Wesen zum einstimmigen Wohlwollen, zum Gleichsinn gegeneinander verknüpft hat.«

»Stehest du des Morgens ungern auf, so ermuntre dich mit dem Gedanken: Ich erwache zum Werk des Menschen! Sollte [147] ich mit Unwillen dran gehen, das zu tun, deshalb ich geboren, dazu ich in die Welt kommen bin? ›Die Ruhe ist aber angenehm.‹ Bist du zum Genießen geboren? oder nicht vielmehr zum Tun, zum Wirken? Siehest du nicht, wie Gewächse, Vögel, Ameisen, Spinnen, Bienen die Welt auf ihrem Platze mitzieren? und du, ein Mensch, wolltest deinen Menschenberuf nicht erfüllen? Du eilst nicht zu dem, was deine Natur von dir fodert? Du liebst dich also nicht selbst, da du deine Natur und ihr Gesetz nicht liebest. Andre, die ihre Kunst lieben, zehren sich in Ausübung derselben ab, sie vergessen Speise und Trank; du aber schätzest deine Menschennatur geringer als der Drechsler die Drehekunst, der Tänzer die Tanzkunst, der Geizige das Geld, der Ehrsüchtige ein wenig Ehre. Scheinen dir Arbeiten zum gemeinsamen Wohlsein zu geringe, als daß sie gleichen Fleißes bedürften?«

»Siehe zu, daß du nicht verkaisert werdest; nimm die Tinktur nicht an. Denn das geschieht leicht! Erhalte dich einfach gut, unverfälscht, ernsthaft, prachtlos, rechtliebend, gottverehrend, sanftmütig, liebend die Deinigen, tapfer zu jedem wohlanständigen Werk. Kämpfe, daß du der bleibest, zu dem dich die Philosophie machen wollte. Verehre die Götter, erhalte die Menschen. Kurz ist das Leben, und es gibt nur eine Frucht des irdischen Lebens: ein heiliges Gemüt und zum Wohl der Gesellschaft dienende Werke.«

»Glaube nicht, daß, wenn dir etwas schwer dünkt, es dem Menschen unmöglich sei, und was dem Menschen je möglich war, das halte auch dir möglich.«

»Gegen unvernünftige Tiere, überhaupt auch bei allen vorkommenden vernunftlosen Dingen und Geschäften betrage dich als einer, der Vernunft hat, großmütig und frei. Gegen Menschen aber, als gegen vernünftige Wesen, betrage dich mit gemeinschaftlicher, geselliger Vernunft.«

»Die Menschen sind um einander willen da. Belehre sie also, oder ertrage sie.«

»Fange endlich einmal an, ein Mensch zu sein; hüte dich aber ebensowohl, den Menschen zu schmeicheln, als über sie [148] zu zürnen. Beides ist wider die Pflicht der Gesellschaft, beides ist schädlich.«

»Welche Macht und Würde hat der Mensch! Nichts zu tun, als was die Gottheit selbst billigen würde, und alles aufzunehmen, was ihm Gott anweiset.«

»Mensch! Du warest in diesem großen Staate Gottes ein Mitbürger; was kümmert es dich, daß du es nur fünf Jahre lang warest? Was nach Gesetzen geschieht, tut niemandem unrecht. Was ist denn schreckliches darin, daß dich nicht ein Tyrann noch ein ungerechter Richter, sondern die Natur wegruft, die dich in diesen Staat einführte? eben wie den Schauspieler, den der Prätor dung, der Prätor auch von der Schaubühne entläßt. – ›Aber die fünf Akte des Stücks sind von mir noch nicht geendet, sondern nur drei.‹ Wohl! Im Leben sind drei Akte auch ein Stück. Was ein Ganzes sein soll, bestimmet der, der einst Kompositeur, jetzt Auflöser des Spiels ist. Du bist keins von beiden. Geh also zufrieden fort, auch er entläßt dich zufrieden.«

– So spricht Mark Antonin auf allen Blättern. Wir wollen nicht sagen: »Heiliger, bitte für uns,« sondern: »Menschlicher Kaiser, sei uns ein Muster.«

30.

Wer vermag der Würde von solchen Dingen, dem Geiste
Ihrer Erfindung gemäß, ein Lied zu dichten? Und wer hat
Kraft im Busen und Worte der Zunge, zu strömen ein Loblied
Jenem vortrefflichen Mann, der solche Schätze der Wahrheit,
Die sich sein Herz erworben, uns zum Geschenke gelassen?
Möcht es auch einer wagen, von sterblichem Blute geboren?
Wenn der Dinge Gewicht, die sein hoher Geist uns entdeckt hat,
Ihren vortrefflichen Wert wir bedenken, so war er ein Gott uns,
[149] Ja ein Gott war's, ruhmvoller Memmius! welcher zuerst uns
Jenen erhabenen Weg des Lebens gezeiget, den jetzt wir
Weisheit nennen und der, durch ihre Hülfe, das Leben
Aus dem Dunkel der Nacht, aus wogenden Fluten gerettet
Und in den friedlichen Port, in klares Licht es gestellt hat.
Nimm die Erfindungen andrer, die man für göttlich erkannt hat;
Ceres pflanzte die Ähren; es lehrte die Sterblichen Bacchus
Den gekelterten Most aus der Rebe drücken, da dennoch
Ohne Gebrauch von diesen Dingen das Leben bestehn mag,
Wie man's an Völkern ersieht, die jetzt noch ihrer entbehren.
Ist die Brust dir nicht rein, so suchst du vergebens ein Glück dir,
Denkest umsonst an Lebensgenuß. Drum scheint er ein Gott uns,
Und mit mehrerem Recht als jene, von dem in die Herzen
Aller Völker so süßer Trost für das Leben geflossen.
Sollte dir aber dünken, es gingen des Herkules Taten
Diesen weit noch voran, so würdest du gröber dich irren;
Denn was hat des Nemeïschen Löwen gefürchteter Rachen
Schreckbares jetzt für uns? und der Zahn des arkadischen Keilers?
Was aus Kreta der Stier? was des lernäischen Sumpfes
Giftige Pest, die Hydra, mit zischenden Nattern umgürtet?
Was kann die Riesenbrust des dreifachen Geryon, was die
Rosse, die Flammen schnauben, die über Thraziens Felder
Auf die bistonischen Fluren und auf die fruchtreichen Saaten,
Wo sich Ismarus hebt, Tod brachten und wildes Verderben?
Wodurch möchten der Stymphaliden gebogene Krallen
Uns noch fürchterlich werden? wodurch der hesperische Drache,
Der, um den Baum gewunden in ungeheuren Kreisen,
Tod aus den Augen blitzend, die goldenen Apfel bewachet?
[150] Was möcht dieser uns schaden an seiner atlantischen Küste,
An dem unwirtbaren Ufer, wo keiner von uns den Fuß hin
Setzet, das der Barbar selbst zu betreten sich scheuet.
Also verhält es sich auch mit den übrigen Abenteuern.
Hätte sie keiner bestanden, wer möchte sie jetzt noch bestehen?
Niemand, wie ich glaube. Was sollten sie Schaden uns bringen?
Noch ist voll die Welt von Ungeheuern, es herrschet
Noch in den Tälern, den Wäldern, den tiefen Klüften der Berge
Raubbegierige Wut; allein, was gehet sie uns an?
Aber welche Gefahr und welche tötende Zwietracht
Schleicht sich in eine Brust, die von Leidenschaften nicht rein ist!
Wie zerfleischen das Herz die ängstlichen, scharfen Begierden!
Wie zernaget die Sorge den Menschen! wie quälet die Furcht ihn!
Welche Verwüstungen richtet der Stolz nicht an und die Geilheit,
Und der Übermut, das Prassen, die niedrige Faulheit!
Alles dieses hat er, mit Waffen nicht, aber mit Worten,
Tief aus dem Herzen hinweggeräumet und selber gebändigt;
Und ihm gebührete nicht der Dank, der Göttern gebühret?
Ihm, dem Manne, der selbst mit Götterzunge von ihnen
Oft gesprochen und ganz der Dinge Natur uns enthüllt hat.
Auf die Spuren von seinem Pfade tret ich –

So pries ein römischer Dichter, Lukrez, einen seiner Lieblinge der Vorwelt, und er hat mehrere derselben als Genien unsres Geschlechts, als Götter und Sterne an den Himmel [151] gesetzt, weil sie Lebensweisheit und Humanität unter den Menschen gegründet oder befördert haben. Keiner seiner edeln Mitbürger ist ihm hiebei in Wort und Tat nachgeblieben.

Viele Oden des Horaz, noch mehr aber seine Sermonen und sogenannte Satiren sind feine Bearbeitungen der Menschheit; sie haben alle, wenigstens mittelbar, zum Zweck, einen Umriß in das rohe Gebilde des Lebens zu bringen, die Ideen und Sitten jener Person, dieser Stände nach dem Richtmaß des Wahren und Guten, des Anständigen und Schönen zu ordnen. Persius, Juvenal, Lucan und andre wirken dahin, jeder nach seiner Weise; vor allem aber bezeichnet Virgil, wo er kann, seine Gesänge mit einem zarten Druck der Menschenliebe. Unmöglich ist's, daß ein Mann oder Jüngling, dem das Innere dieser Heiligtümer aufgeschlossen wird, sein Inneres nicht durchdrungen und zu einer Form gebildet fühlte, die ihm vielleicht wenige neuere Schriften gewähren. Es ist, als ob jenen großen Autoren die Menschheit reiner vorstand oder als ob sie mehr Kraft gehabt hätten, auch unter allen Unarten der Zeit, ihre wahre Gestalt lebhafter anzuerkennen, stärker und reiner zu schildern, wozu denn, nebst vielem andern, auch ihre Sprache und der Begriff beitrug, den sie sich von Poesie machten.

Doch nicht bei Poesie allein blieb diese Bildung stehen; trotz alles Harten und Drückenden zeigt sie sich auch in der römischen Geschichte. Man lese im Cornelius des Atticus, in Sallust Catilinas, in Tacitus Agricolas Leben, vor allen aber den letzten, den wegen seiner dunkeln Härte so berüchtigten Tacitus, und man müßte ein entschiedner Barbar sein, wenn man in ihnen die tiefen Züge echter Humanität nicht bemerkte. Tacitus beschreibt die greuelvollsten Zeiten, die lasterhaftsten Charaktere; er deckt einen Abgrund von Sitten und einer Regierungsform auf, vor dem man schaudert; zeige man in ihm aber ein einziges Gemälde solcher Untaten und verderbten Seelen, das er nicht in das Licht gestellt hätte, dahin es gehöret! Livia, Tiber, Sejan, Caligula, Claudius, und wie[152] die Unmenschen weiter heißen; gegenteils jede unterdrückte Sprosse des Guten, die sich auf diesem abscheulichen Boden zeigte, alle sind von ihm, wenn auch nur mit einem Wort, in einem Zuge, dem unparteiischen Mit- oder Gegengefühl nahegebracht; sie stehen auf ewig in der Klasse menschlicher, halb-und unmenschlicher Wesen, wo sie stehen sollten. Wer uns keine Umschreibung, sondern eine Übersetzung dieses Geschichtschreibers ganz in seinen Umrissen, in seiner Physiognomie gäbe, könnte nicht anders, als den Sinn der Menschheit auch für unsre Zeit tausendfach erwecken und bilden.

Lassen Sie uns also glauben, daß jung und alt in beiden Geschlechtern, wenn es die Schriften der Alten in ihrem Geist lieset, nicht anders als zur Humanität bearbeitet werden könne. Die barbarische Rinde des Herkommens, die uns von außen angesetzt ist, muß einigermaßen gebrochen werden, wenn wir andre Menschen zu einer andern äußerst verderbten Zeit männlicher denken, würdiger sprechen hören. Wir werden aus unserm Todesschlafe geweckt und lernen in strengern Umrissen kennen:


Quid sumus, aut quidnam victuri gignimur, ordo
Quis datus, aut metae quam mollis flexus, et unde,
Quis modus argento, quid fas optare, quid asper
Utile nummus habet, patriae carisque propinquis
Quantum elargiri deceat, quem te Deus esse
Iussit et humana qua parte locatus es in re –
Discite, o miseri, et causas cognoscite rerum.
[153]

31.

Die Griechen hatten das Wort Humanität nicht; seit aber Orpheus sie durch den Klang seiner Leier aus Tieren zu Menschen gemacht hatte, war der Begriff dieses Worts die Kunst ihrer Musen. Ich bin weit entfernt, die griechischen Sitten und Verfassungen zu jeder Zeit und allenthalben als Muster zu preisen; das kann indessen nicht geleugnet werden, daß das


Emollit mores nec sinit esse feros


mittelbar oder unmittelbar der Endzweck gewesen, auf den ihre edelsten Dichter, Gesetzgeber und Weise wirkten. Von Homer bis auf Plutarch und Longin ist ihren besten Schriften bei einer großen Bestimmtheit der Begriffe eine so reizende Kultur der Seele eingepräget, daß, wie sich an ihnen die Römer bildeten, Sie auch uns kaum ungebildet lassen mögen.

Einzelne Blätter, die mir über die Humanität einiger griechischen Dichter und Philosophen in die Hände gekommen sind, sollen Ihnen zu einer andern Zeit zukommen; jetzt bemerke ich nur, daß, wenn in spätern Zeiten bei irgendeinem Schriftsteller, er sei Geschäftsmann, Arzt, Theolog oder Rechtslehrer, eine feinere, ich möchte sagen, klassische Bildung sich äußerte, diese meistens auch auf klassischem Boden, in der Schule der Griechen und Römer erworben, der Sprößling ihres Geistes gewesen. Wie die griechische Kunst unübertroffen und in Absicht der Reinheit ihrer Umrisse, des Großen, Schönen und Edlen ihrer Gestalten allen Zeiten das Muster geblieben, fast also ist's auch, weniges ausgenommen, mit den Vorstellungsarten des menschlichen Geistes. Was wir kraus sagen und verwickelt denken, gaben sie hell und rein an den Tag; ein kleiner Satz, eine schlicht vorgetragene Erfahrung enthält bei ihnen, wenn man's zu finden weiß, oft [154] mehr als unsre verworrenste Deduktionen; die Probleme, welche die neuere Staatskunst verwickelt vorträgt, sind in der griechischen Geschichte hell und klar auseinandergesetzt und durch die Erfahrung längst entschieden. Die Kritik des Geschmacks endlich, ja die reinste Philosophie des Lebens, woher stammen sie als von den Griechen? In den schönsten Seelen dieser Nation bildeten sie sich; hie und da hat sich ihr Geist schwesterlichen Seelen mitgeteilet. Solange uns also die Griechen nicht geraubt und da sie bisher dem Sturz der Zeiten, der Vertilgung wilder Barbaren und Schwärmer entronnen sind, wird wahre Humanität nie von der Erde vertilgt werden.

Immer wird mir wohl, wenn ich auch in unsern Zeiten einen reinen Nachklang der Weisheit griechischer und römischer Musen höre. Eine Ausgabe, eine Übersetzung, eine wahre Erläuterung dieses oder jenes Dichters, Philosophen und Geschichtschreibers halte ich für ein Bruchstück des großen Gebäudes der Bildung unsres Geschlechts für unsre und die zukünftigen Zeiten. Eine verständige Stimme, die über unsre jetzige Weltlage aus alter Erfahrung spricht, ist mir mehr, als ob ein Barde weissagte.

32.

Aus Ihren Briefen, meine Freunde, ziehe ich mir folgendes:

1. Das weiche Mitgefühl mit den Schwächen unsres Geschlechts, das wir gewöhnlicherweise Menschlichkeit nennen, macht die ganze Humanität nicht aus. Zu rechter Zeit, am rechten Ort ziert es den Menschen allerdings, da Sympathie in reinem Verstande, d.i. eine lebhafte, schnelle Versetzung in den Zustand des Fehlenden, Irrenden, Leidenden, Gequälten, der zarteste Kitt der Vereinigung ähnlicher Geschöpfe und unter Menschen das lindeste Band ihrer Verbindung ist. Nichts stößt mehr zurück als gefühllose, stolze Härte. Ein Betragen, als ob man höheren Stammes und ganz andrer oder [155] gar eigner Art sei, erbittert jeden und ziehet dem Übermenschen das unvermeidliche Übel zu, daß sein Herz ungebrochen, leer und ungebildet bleibt, daß jedermann zuletzt ihn hasset oder verachtet.

So notwendig indessen eine menschliche Lindigkeit und Milde gegen die Fehler und Leiden unsrer Nebengeschöpfe bleibt, so muß sie doch, wenn sie zu weich und ausschließend wird, den Charakter erschlaffen und kann eben dadurch die härteste Grausamkeit werden. Ohne Gerechtigkeit bestehet Billigkeit nicht; eine Nachsicht ohne Einsicht der Schwächen und Fehler ist eine Verzärtelung, die eiternde Wunden mit Rosen bedeckt und eben dadurch Schmerzen und Gefahr mehrt.

2. Auch ist Humanität Ihnen nicht bloß jene leichte Geselligkeit, ein sanftes Zuvorkommen im Umgange, so viel Reize dies auch dem täglichen Leben gewähret. Vielmehr ist sie, subjektiv betrachtet,

3. ein Gefühl der menschlichen Natur in ihrer Stärke und Schwäche, in Mängeln und Vollkommenheiten, nicht ohne Tätigkeit, nicht ohne Einsicht. Was zum Charakter unsres Geschlechts gehört, jede mögliche Ausbildung und Vervollkommung desselben, dies ist das Objekt, das der humane Mann vor sich hat, wornach er strebet, wozu er wirket. Da unser Geschlecht selbst aus sich machen muß, was aus ihm werden kann und soll, so darf keiner, der zu ihm gehört, dabei müßig bleiben. Er muß am Wohl und Weh des Ganzen teilnehmen und seinen Teil Vernunft, sein Pensum Tätigkeit mit gutem Willen dem Genius sei nes Geschlechts opfern.

4. Zum Besten der gesamten Menschheit kann niemand beitragen, der nicht aus sich selbst macht, was aus ihm werden kann und soll; jeder also muß den Garten der Humanität zuerst auf dem Beet, wo er als Baum grünet oder als Blume blühet, pflegen und warten. Wir tragen alle ein Ideal in und mit uns, was wir sein sollten und nicht sind; die Schlacken, die wir ablegen, die Form die wir erlangen sollen, kennen [156] wir alle. Und da, was wir werden sollen, wir nicht anders als durch uns und andre, von ihnen erlangend, auf sie wirkend, werden können, so wird notwendig unsre Humanität mit der Humanität andrer eins und unser ganzes Leben eine Schule, ein Übungsplatz derselben. »Was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich ist, was wohllautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dessen befleißigt euch,« sagt selbst ein Apostel.

5. Alle Einrichtungen der Menschen, alle Wissenschaften und Künste können, wenn sie rechter Art sind, keinen andern Zweck haben, als uns zu humanisieren, d.i. den Unmenschen oder Halbmenschen zum Menschen zu machen und unserm Geschlecht zuerst in kleinen Teilen die Form zu geben, die die Vernunft billigt, die Pflicht fodert, nach der unser Bedürfnis strebet. Daß die Wissenschaften, die man humaniora nennt, zum leeren Zeitvertreib oder zu eitelm Putz ausgeartet sind, ist ein Mißbrauch, den schon ihr Name strafet. Ursprünglich war dies nicht also. Vollends Künste und Wissenschaften, die den angebornen Stolz, die freche Anmaßung, das blinde Vorurteil, die Unvernunft und Unsittlichkeit stärken, verschleiern, schmücken, beschönen, sollte man brutalisierende Künste und Wissenschaften nennen, wert, von Sklaven getrieben zu werden, damit auf ihnen die menschliche Tierheit ruhe.

Es freuet mich, daß Sie den Dichter, der den unmenschlichen Achill besang, aus der Reihe humanisierender Weisen nicht ausschließen wollen; das Theater der Alten und ihre Gesetzgebung wird davon gewiß auch nicht ausgeschlossen sein. Das Gemüt läutert, hebet und stärkt sich durch die Betrachtung: »Wir sind Menschen. Nichts mehr, aber auch nichts Minderes, als dieser Name saget.«

[157] Nachschrift

Fragment eines Gespräches des Lords Shaftesbury


Theokles: Kann eine Freundschaft so heroisch sein als die gegen das menschliche Geschlecht? Halten Sie die Liebe gegen Freunde überhaupt und gegen unser Vaterland für nichts? Oder glauben Sie, daß die besondre Freundschaft ohne solche erweiterte Neigung und ohne das Gefühl der Verbindlichkeit gegen die Gesellschaft bestehen könne?

Philokles: Daß man Verbindlichkeiten gegen das menschliche Geschlecht habe, wird niemand leugnen, der auf den Namen eines Freundes Anspruch macht. Schwerlich würde ich dem nur den NamenMensch zugestehen, der nie jemanden Freund genannt oder nie selbst Freund geheißen hat. Aber wer sich als ein wahrer Freund bewährt, der ist Mensch genug und wird es der Gesellschaft an sich nicht fehlen lassen. Für meine Person sehe ich so wenig Großes und Liebenswürdiges an dem menschlichen Geschlecht und habe eine so gleichgültige Meinung von dem großen Haufen der Gesellschaft, daß ich mir sehr wenig Vergnügen von der Liebe zu beiden versprechen kann.

Th.: Rechnen Sie denn Güte und Dankbarkeit unter die Handlungen der Freundschaft und des Wohlwollens?

Ph.: Ohne Zweifel, sie sind ja die vornehmsten.

Th.: Gesetzt also, der Verpflichtete entdeckte Fehler an seinem Wohltäter, würde dies jenen von seiner Dankbarkeit lossprechen?

Ph.: Nicht im geringsten.

Th.: Oder macht es die Ausübung der Dankbarkeit weniger angenehm?

Ph.: Mich dünkt vielmehr das Gegenteil. Denn wenn mir's an allen andern Mitteln der Vergeltung fehlte, so würde ich mich freuen, wenigstens dadurch meine Dankbarkeit gegen meinen Wohltäter sicher zeigen zu können, daß ich seine Fehler als ein Freund ertrüge.

Th.: Und was die Güte betrifft, sagen Sie mir, mein Freund, [158] sollen wir denn bloß denen Gutes tun, die es verdienen? Etwa bloß einem guten Nachbar oder Verwandten, einem guten Vater, Kinde oder Bruder? Oder lehrt Natur, Vernunft und Menschlichkeit uns nicht vielmehr, einem Vater, bloß weil er Vater, einem Kinde, bloß weil es Kind ist, Gutes zu tun? Und so in jedem Verhältnis des menschlichen Lebens.

Ph.: Ich glaube, das letzte ist das richtigste.

Th.: O Philokles! Bedenken Sie also, was Sie sagten, da Sie die Liebe gegen das menschliche Geschlecht der menschlichen Gebrechen wegen verwarfen und den großen Haufen seines elenden Zustandes wegen verachteten. Sehen Sie nun, ob diese Gesinnung mit der Menschlichkeit bestehen kann, die Sie sonst so hoch schätzen und ausüben Wo kann Edelmut stattfinden, wenn nicht hier? Wo können wir je Freundschaft beweisen, wenn nicht an diesem Hauptgegenstande derselben? Gegen wen werden wir treu und dankbar sein, wenn nicht gegen das menschliche Geschlecht und gegen die Gesellschaft, welcher wir so stark verpflichtet sind? Welche Gebrechen oder Fehler können eine solche Unterlassung entschuldigen oder in einem dankbaren Herzen je das Vergnügen vermindern, welches aus liebevoller Erwiderung empfangener Wohltaten entspringt? Können Sie bloß aus guter Lebensart, aus einem natürlich-guten Temperament Vergnügen daran finden, Höflichkeit, Gefälligkeit, Dienstfertigkeit zu beweisen, Gegenstände des Mitleidens selbst aufsuchen und, wo es in Ihrer Macht steht, selbst Unbekannten dienen; kann es auch in fremden Ländern oder, wenn's Auswärtige betrifft, auch hier Sie entzücken, allen, die es bedürfen, auf die leutseligste, freundschaftlichste Art zu helfen, zu raten, beizustehen; und sollte Ihr Vaterland oder, was noch mehr ist, Ihr ganzes Geschlecht weniger Wohlwollen von Ihnen fodern können, weniger Achtung von Ihnen verdienen als einer von jenen Gegenständen, die Ihnen von ungefähr in den Wurf kommen? –

[159] Ph.: Ich befürchte, daß ich auf diese Art nie ein Freund oder Liebhaber werde. Eine Liebe gegen eine einzelne Person kann ich so ziemlich fassen; aber diese zusammengesetzte, allgemeine Art von Liebe (ich gestehe es, Theokles) ist mir zu hoch. Ich kann das Individuum, aber nicht die ganze Gattung, ich kann nichts lieben, wovon ich nicht irgendein sinnliches Bild habe.

Th.: Wie, Philokles? Sie könnten nie anders lieben als auf diese Art? War Palämons Charakter Ihnen gleichgültig, da er Sie zu dem langen Briefwechsel vermochte, der Ihrer neuerlichen persönlichen Bekanntschaft voranging?

Ph.: Ich kann dies nicht leugnen, und jetzt, dünkt mich, verstehe ich Ihr Geheimnis und begreife, wie ich mich dazu vorbereiten muß. Denn eben wie ich damals, als ich Palämon zu lieben anfing, mich genötigt sah, mir eine Art von materiellem Gegenstande zu bilden und immer ein solches Bild im Kopf hatte, sooft ich an ihn dachte, ebenso muß ich's in diesem Falle zu machen suchen –

Th.: Mich dünkt, Sie könnten immer soviel Gefälligkeit gegen das menschliche Geschlecht haben als gegen die alten Römer, in welche Sie, aller ihrer Fehler ungeachtet, doch immer verliebt gewesen sind, besonders unter der Vorstellung eines schönen Jünglings, der Genius des Volks genannt.

Ph.: Wäre mir's möglich, meiner Seele ein solches Bild einzudrücken, es möchte nun das menschliche Geschlecht oder die Natur bedeuten, so würde das vermutlich auf mich wirken und mich zum Liebhaber nach Ihrer Art machen Noch besser aber, wenn Sie es so veranstalten könnten, daß die Liebe zwischen uns wechselseitig würde, wenn Sie mich überreden könnten zu glauben, dieser Genius sei nicht gleichgültig gegen meine Liebe und fähig, sie zu erwidern –

Th.: Gut! ich nehme die Bedingung an. Morgen, wenn die östliche Sonne, wie die Dichter sagen, mit ihren ersten Strahlen den Gipfel jenes Hügels vergoldet, dann wollen wir, wenn's Ihnen beliebt, mit Hülfe der Nymphen des [160] Hains dieser unsrer Liebe nachspüren, erst den Genius des Orts anrufen und dann versuchen, ob wir nicht wenigstens eines schwachen, fernen Anblicks des höchsten Genius und der ersten Urschönheit gewürdigt werden. Sollte es Ihnen glücken, nur einmal diese zu sehen, so stehe ich dafür, alle jene widrige Züge und Häßlichkeiten sowohl der Natur als des menschlichen Geschlechts werden augenblicks verschwinden. Ihr Herz wird ganz mit der Liebe erfüllt werden, die ich Ihnen wünsche.


Soweit dies Gespräch. Wie Theokles seinen Zweck bewirkt habe, mögen Sie in der vortrefflichen Rhapsodie »Die Moralisten« beim edeln Shaftesbury selbst lesen. 28

33.

Mit Recht nennen Sie Shaftesbury einen edeln Schriftsteller; ob ihn gleich hie und da sein Stand, ich möchte sagen seine Lordschaft, übereilte. Sein zuweilen zwangvoller Stil, manche Späße, die er sich über die Geistlichkeit erlaubte, sein Einfall, »Witz und Humor zum Prüfstein aller, auch der ernstesten Wahrheit zu machen,« haben Tadler und Widerleger gnug gefunden; über seinen Kunstgeschmack wäre auch manches zu sagen. Die bessere philosophische Seele aber, die in ihm wohnte, sein honestum und decorum in der Moral, hundert feine Bemerkungen über Grundsätze, Sitten, Komposition und Lebensweise sind nach allem Tadel unwiderlegt geblieben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein unbefangener honetter Mann diesen Schriftsteller ohne innige Achtung aus der Hand legen sollte; und für Jünglinge wünschte ich [161] in unsrer Sprache zum übersetzten Shaftesbury eine Zugabe, »wie Shaftesbury zu lesen und was in ihm zu berichtigen sein möchte«. Wie Leibniz, so hielten Diderot, Lessing, Mendelssohn von diesem Virtuoso der Humanität viel; auf die besten Köpfe unsres Jahrhunderts, auf Männer, die sich fürs Wahre, Schöne und Gute mit entschiedner Redlichkeit bemühten, hat er auszeichnend gewirket.

Und doch, m. F., dünkt mir sein System der Moral unzureichend, sofern es sich bloß auf das decorum et honestum als auf ein Gefühl gründet. Es kommen starke Stellen darüber, auch als Pflicht, als Gesetz betrachtet, in ihm vor; im ganzen aber, scheint mir's, hat er, um seine Moral liebenswürdig zu machen, mit der menschlichen Natur etwas zu sehr getändelt. Hier muß man hinter allem doch endlich mit der stoischen Philosophie zum alten Wort Gottes zurückgehen: »Du sollt! Du sollt nicht!,« sofern uns dies nicht Konvenienz, Geschmack und Vergnügen, sondern Pflicht und Vernunft vorhält.

Neulich kam mir ein Lehrgedicht zu Handen, wo mir zuerst folgende Stelle in die Augen fiel:


Sei liebreich mit Vernunft; nur weise Huld ist echt,
Gibt jedem, was sie soll, und kränket keines Recht.
Kein Schimmer äußrer Macht, kein Geld, das Sklaven rühret,
Hält den Gerechten ab, zu tun, was ihm gebühret.
Gleich feurig zu dem Schutz des Edlen als des Knechts,
Ist er der treue Freund des menschlichen Geschlechts.
Unfähig zu der Kunst, die den Vertrag verdrehet,
Hält er dem Fürsten Wort wie dem, der nackend gehet;
Bei ihm ist, was du hast, so sicher als bei dir,
Das ihm geliehne Gut zieht er dem eignen für;
Im kleinsten Werk getreu, verschwiegen bis zur Bahre
Und zu des Freundes Dienst bereit bis zum Altare.
Hört, Bürger der Natur, den Inhalt aller Pflicht:
Lernt die Gerechtigkeit! vergesset Gottes nicht!

Gereizt durch diese Stelle schlug ich weiter zurück und fand die Geschichte der Humanität so vorgetragen:


[162] Vernunft, der Gottheit Strahl, der rohen Völkern schien,
Hieß aus des Waldes Nacht sie in die Städte ziehn;
Gab Ordnung und Gesetz, schuf Menschen aus Barbaren,
Gebot den Wilden selbst, Verträge zu bewahren.
Dies hob der Weisen Ruhm in Griechenland empor
Und rief aus Skythien den Anacharsis vor.
So war der Menschheit Recht der Leitstern alter Weisen;
Doch keiner wagte sich, es andern anzupreisen – –
Die Welt verdankt dir's nie, unsterblicher Sokrat!
Dein Fuß betrat zuerst den ungebahnten Pfad.
Der alte Philosoph, vertieft in Zahl und Sternen,
Erhielt von dir die Kunst, sich selbst beschaun zu lernen.
Es sah der Mensch das Licht, das längst in ihm gebrannt,
Und das, vom Wahn umwölkt, nur Trägheit nicht erkannt.
Da fühlte sich Athen und lernte Platons Lehren,
Des Weisen von Stagir, des Epiktets verehren,
Da tratest du auch auf, erhabner Epikur,
Der Tugend echter Freund und Kenner der Natur. –
Verehrungswürd'ges Rom! groß durch erfochtne Kronen,
Noch größer durch den Geist gepriesner Ciceronen,
O Rom, Europa selbst, von deiner Herrschaft Joch
Vorlängst entlediget, ehrt dein Gesetze noch
Aus Quellen der Natur sind deines Rechtes Lehren
Ursprünglich hergeführt; sie müssen ewig währen!
Die Nacht der Barbarei verfinsterte dies Licht,
Die Welt verwilderte und sah die Tugend nicht.
Ein schwarzes Wundertier, der Ketzereifer, siegte,
Der Dummheit Tugend hieß und mit der Wahrheit kriegte,
Bis ihr verstärkter Glanz der Welt mehr Einsicht gab;
Da fielen der Vernunft die schweren Fesseln ab.

Der Dichter nennt Baco, Grotius, Pufendorf u.a. mit verdientem Ruhm; er gehet die Pflichten durch gegen Seele und Leib, gegen Gott und andre. Über Irrtum und Unwissenheit, Klugheit und Torheit, über die Verbindlichkeit zur Wissenschaft und zu allgemeinen Begriffen, über Erfahrung, Vernunft, [163] Geschichte, Fabel, Selbsterkenntnis, als Mittel zu Besserung des Verstandes und Willens, enthält sein Gedicht schöne Stellen. Desgleichen über einzelne Pflichten, die Mäßigkeit, Sittsamkeit, Gnügsamkeit, Verbindlichkeit zur Arbeit, über Pflichten in Glück und Unglück, über die Dankbarkeit gegen Gott, das Vertrauen auf die Vorsehung, über gesellige Hülfe, Sanftmut, Großmut, Wahrheitliebe, Freigebigkeit u.f., wobei sowohl die entgegenstehenden Laster als die Grenzen der Tugend bemerkt oder geschildert werden. Es sind Lehren in ihm, die der Jugend Gedächtnissprüche werden sollten, indem sie die Grundfesten aller moralischen Wahrheit enthalten, z.B.:


Es ward ein gleicher Trieb in aller Herz gelegt
Und allen Sterblichen die Regel eingeprägt:
Du sollt das Gute tun, du sollt das Böse lassen;
In diesen Götterspruch läßt das Gesetz sich fassen,
Das die Natur uns schrieb. Er hält ein Recht in sich:
Beginne, denke, flieh, begehre, schweige, sprich.
Nicht Erz, das Rost verzehrt, nicht Blätter, die veralten,
Kein Stein hat dies Gesetz der Menschen aufbehalten!
Der Allmacht Tochter grub mit ewigheller Schrift
Es in die Seelen ein, die nie Verwesung trifft.
Ein ewiges Gebot, darin ich wandeln müßte,
Wenn, welches ferne sei! ich auch von Gott nichts wüßte! –

Zu wünschen wäre es, daß der Verfasser sich durchaus auf diesem strengen Pfade gehalten hätte. Da er aber das sogenannte System der Vollkommenheiten als Grund der Moral annimmt, so wird sein Gebäude hie und da schwankend. Allerdings vervollkommt uns die Ausübung der Pflicht; nicht aber müssen wir sie tun, um über Gewinn an Vollkommenheiten zu markten. Das Gebot heißt: »Du sollt!« nicht: »Du wirst!« welches bloß eine höfliche Bettelei wäre.

Sie halten vielleicht dies schöne Lehrgedicht für ein Manuskript; leider ist's seit seiner Bekanntmachung im Jahre 1758 [164] für viele ein Manuskript geblieben. Es heißt Lichtwers »Recht der Vernunft« und scheint unsrer poetischen Welt so veraltet wie Hallers, Hagedorns, Kästners, Uz', Witthofs, ja überhaupt die Lehrgedichte. Unser Publikum ist jung; es liebt Tändeleien der Jugend.

34.

Die Blätter über die Humanität Homers, die Sie zu sehen wünschen, nehme ich aus einer unvollendeten größern Schrift, die ihr Verfasser »Ionien« genannt hat, deren weitern Inhalt ich aber hier nicht zu verraten habe.


Über die Humanität Homers in seiner Iliade


Wir kommen allmählich wieder in die Zeiten zurück, da man von Homers Roheit nicht gnug reden konnte. In Frankreich warf man ihm vormals nur Mangel an Geschmack vor; in Deutschland scheint es ein Lieblingsgesichtspunkt zu werden, in den Sitten seiner Helden, mithin wohl gar in Homer selbst, Mangel anBildung, an moralischem Geschmack zu finden und dies unsterbliche Gedicht endlich nur als die »historische Tradition wilder Zeiten« zu behandeln, die, wie man sich ausdrückt, Homers glühende Einbildungskraft aufnahm und feststellte. Soviel Wahres dieser Gesichtspunkt in manchem Betracht zeigen mag, so zeigt er gewiß nicht alles Wahre und sein Weniges gewiß nicht auf die nützlichste Weise Dazu gehört keine Kunst, hie und da Übereinstimmung der Zeiten, die er besang, mit Völkern, die auf einer, wie uns dünkt, niedrigern Stufe der Kultur leben, zu finden, diese gefundene Ähnlichkeit zu übertreiben und dabei das Auge vor allem sittlichen Gefühl, insonderheit aber vor der Kunst und Weisheit zuzuschließen, die Homer unstreitig auf die Komposition seines Gedichts gewandt hat.

Bei jeder Kunstkomposition fragt man: Wozu hat sie der [165] Künstler komponiert, was war dabei seine Idee und wie setzte er die Teile seines Werks zusammen? Sind Homers Rhapsodien die rohe Stimme eines griechischen Barden, der einem rohen Volk Märchen aus roheren Zeiten vorsingt, um diese mit ihren Unförmlichkeiten ja nicht untergehen zu lassen; warum wandte man Jahrtausende hindurch auf ihn so viele Mühe? Waren die Griechen, die Römer und unter andern Nationen die feinsten Denker, waren unter den Griechen Gesetzgeber, Künstler, Weise, Dichter nicht abergläubig und blödsinnig, daß sie aus einer Tradition vergangener Unmenschlichkeiten so viel Wesens machten und einen unreinen Schlamm in so viel Bäche ableiteten? Das hieße ja die Unmenschheit oder Halbmenschheit um so gefährlicher festhalten, weil sie mit Homers Farben geschmückt war.

Fragt man bei jeder Geschichte, bei jedem Drama: »Wer spricht dies? wenn? wozu spricht er's? in welchem Charakter handelt er? wozu stellte ihn der Geschichtschreiber oder Dichter auf?« – wie? und bei der größesten Komposition der Welt wollte man nicht also fragen?

Was besingt Homer? Nicht den Trojanischen Krieg, nicht eine Geschichte alter Zeiten als solche, auch nicht Achilles Geschichte, sondern


Den Zorn, des Peleiden Achilles
Schädlichen Zorn, der tausend Jammer den Griechen gebracht hat
Und viel tapfere Seelen der Helden zum Orkus hinabstieß,
Ihre Leiber den Hunden und allem Gevögel zum Raube
Gab –

Wahrlich, das heißt doch den Unmut Achills, er möge gerecht oder ungerecht sein, nicht unbedingt preisen. Sogleich bezeichnet ihn der Dichter als eine verderbliche Plage der Götter, die um so bedaurenswürdiger war, weil sie bloß aus einem unseligen Zwist entstand, den sein Held mit dem Könige Agamemnon hatte –

[166] Und wer ist schuld an diesem Zwiste? Homer eröffnet sein Gedicht mit einer Erzählung, die keinen Leser oder Zuhörer im Zweifel lassen kann. Ein Vater, ein Priester Apolls, ein schonenswürdiger, unantastbarer Greis kommt unter dem Schutz seines Gottes, um seine geraubte Tochter zu bitten. Er spricht weder Mitleid noch Erbarmen an; er will sie nur, und zwar überreichlich, loskaufen. Seine kurze Bitte ist so geziemend, so artig; und welche harte, ungeziemende Antwort gibt der König der Griechen dem flehenden Alten:


Alter! Daß ich dich nie bei den hohlen Schiffen erblicke!
Treff ich ferner dich an, es sei, du weilest noch jetzo,
Oder du kehrest ein andermal wieder, so möchte der Goldstab
Mit dem Kranze des Gotts dich nicht mehr schützen. Die Tochter
Geb ich nicht los, bis einst in unsrer Wohnung in Argos
Sie, von ihrem Geburtsland fern, bei Spindel und Webstuhl,
Und mein Lager bedienend, veraltet. Du aber entfliehe!
Reize mich nicht zum Zorn, wenn noch dein Leben dir lieb ist.

Nicht den Vater, den Fremden, den Bittenden, den Greis beleidigt diese Antwort allein; sie beleidigt den Gott in seinem Priester und ist wirklich die Rede eines übermütigen Atriden.

Nun steigt der Gott vom Olymp; die Pfeile fliegen, die Menschen sterben, die Holzstöße flammen; Achill, den die Not des Heers jammert, ruft die Versammlung zusammen, um die Ursache auszukunden, warum ein Gott auf sie alle jetzt also ergrimmt sei. Kann Achill edler auf den Schauplatz gebracht werden als also? Der Hirte der Völker war durch seinen Trotz ihr Verderben worden; sein königliches Herz machte sich keinen Vorwurf, ob er vielleicht an ihrem Untergange schuld sei, noch suchte er Mittel dagegen; den großherzigen Achill allein kümmert die Sache des Ganzen.

[167] Als solcher erscheint er sofort in seinen Reden, unbefangen, wie es die Großherzigkeit ist, und gerade. Da der weiseste Seher sich nicht erkühnt zu sprechen, weil er sich vor dem Unwillen des Mächtigsten, dessen Gemütsart ihm bekannt ist, fürchtet, nimmt ihn Achill für das gemeine Beste in Schutz; worauf denn der Übermut des Königs zuerst auf den Seher, sogleich nach einer sehr billigen Rede des Achilles auf diesen herfällt. Und da Achill nicht geschaffen war, sich vor der Versammlung oder sonst schmähen, beleidigen, das Seine sich rauben zu lassen, am wenigsten aber vom stolzen Dünkel eines übermütigen Atriden, so entbrennet der Zwist, so folgt die Erbitterung, bei der (ich wage es zu sagen) Achill auch im wildesten Feuer gerecht bleibt. Pallas erscheint ihm zu rechter Zeit, ihn bei der blonden Haarlocke zu ergreifen, und als der unbesonnene Fürst, auch nachdem er Zeit zu besserer Überlegung gehabt hatte, sein unbefugtes Machtwort vollführet und ihm sein Eigentum, seine geliebte Briseis raubet, beträgt sich Achill gegen die Herolde mit einer hohen Mäßigung. Ungern wie Briseis dahingeht, sehn wir sie hingehn und setzen uns mit dem Gekränkten weinend ans Ufer. Da hören wir ihn der Mutter klagen und teilen mit ihr den Jammer um einen so herrlichen Sohn, den bei einem kurzen Leben, ohne seine Schuld, diese öffentliche Beleidigung, dieser Gram, dieser Unmut treffen mußte. Mit Freuden sehen wir den Vater der Götter den großen Wink tun und den Gekränkten in Schutz nehmen.

Wenn nun, ganze Gesänge der Iliade hindurch, unschuldige, tapfre, edle Männer, wenn liebe Söhne, junge Gatten, blühende Jünglinge fallen, wer ist an ihrem Tode, wer an der Trauer, den Tränen, dem Verlust ihrer Eltern und Gatten und Bräute schuld? Achilles nicht; er streitet bloß nicht mit und kann und darf, als ein öffentlich und ungerecht Gekränkter, nicht mitstreiten. Unmutig sitzt er in seinem Zelt, und seine Myrmidonen murren zuletzt um ihn her, daß er sie nicht zum Streit führe. Der übermütige König allein ist's, der dadurch die Völker stürzt, daß er nicht nur jenen Helden [168] beleidigte, sondern sogleich auch, im Wahn seines Ruhms, zu zeigen, daß er Achills nicht bedürfe, seine geliebten Völker zur Schlachtbank hinführt.

Unglaublich ist's, wenn man es nicht sähe, mit welcher moralischen Zartheit Homer dies alles einleitet und beschreibet. Ebendieselbe Mutter des Beleidigten, die den höchsten Gott anfleht, hatte dem Dichter Raum gemacht, einen falschen Traum vom Himmel kommen zu lassen, der dem Könige einbilde, er könne jetzt, dem Achill zum Trotz, Troja im Hui erobern.

Dagegen erhebt sich nun freilich der alte Nestor


– Und sagte mit Weisheit:

Hätte den Traum von allen Achäern ein andrer erzählet,
Würden wir sagen: Du lügst! und ihn unwillig verschmähen,
Aber ihn sah der König –

Und sogleich steht der König von seinem Sitz auf, stützet sich auf seinen über alles gepriesenen Zepter, hat sogar eine herrliche List erdacht, die Anhänglichkeit der Griechen an ihn, an seinen Bruder Menelaus und dessen Weib Helena zu prüfen, überzeugt, daß sie sich ihm nicht anders als zum Opfer geben wür den. Die königliche Persuasion mißrät; der kluge Ulysses mit dem noch unveralteten Zepter Agamemnons in der Faust kann sie kaum wieder zu ihren verlassenen Sitzen bringen, wo denn Thersites aufsteht und er allein, auf die unschicklichste Art, der Sache Achills erwähnet.

So mancherlei über diesen häßlich-lächerlichen Thersit geschrieben worden, so steht jedermann das vor Augen, daß den Edelsten der Schlechtste, den Herrlichsten der Häßlichste allein und aufs niedrigste verteidigt. Jeder gönnet diesem die Schläge des Ulysses; es ist aber große Weisheit des Homers, daß er sie dem Thersites zukommen läßt, indes alle Fürsten des Heers, deren keiner Agamemnons Betragen gegen Achill loben konnte, dazu schwiegen. Allen bekommt dies Schweigen, [169] die ganze Iliade hindurch, sehr unwohl, ihren Völkern aber noch übler.

Es wird in einem andern Kapitel davon die Rede sein, wie Homer, der überhaupt keinen Groll gegen ein menschliches Geschöpf, geschweige gegen den König seiner Griechen, heget, den Agamemnon allenthalben nicht nur geschont, sondern, wo er irgend konnte, königlich und festlich ausgeschmückt habe. Zum Treffen läßt er ihn ziehen:


Ganz an Augen und Haupt dem donnerbewaffneten Zeus gleich,
Um den Gürtel dem Mars, an Brust und Schultern dem Meergott;
Wie der führende Stier sich in der versammleten Herde
Ausnimmt; unter den Rindern der Erst' und Größte von Ansehn.

Er lässet ihn den tapfersten Kriegern, einem Diomedes sogar, Verweise geben; doch das alles tut nichts zur Sache. Nach vielen erlittenen Niederlagen muß der alte Nestor mit dem Bekenntnis doch heraus:


–Ich denke noch heute, so wie ich schon vormals
Dachte, zur Zeit, o König, als du die junge Briseis
Aus des erzürnten Achilles Gezelten gewaltsam entführtest,
Nicht nach unserm Ermessen; ich riet es mit vielen und starken
Gründen dir ab; doch du, vom hohen Mute bemeistert,
Kränktest die Ehre des Helden, der selbst von Göttern geehrt war,
Und noch hast du bei dir den Siegslohn, den du ihm raubtest.

Er schlägt zur Aussöhnung Geschenke und schmeichelnde Worte vor; Achilles schlägt sie aus und muß sie ausschlagen; [170] ja wäre Agamemnon selbst in sein Zelt gekommen, er hätte einen bösen Weg daraus gefunden. Nun hatte dieser Raum seine Wunder der Tapferkeit und Oberherrschaft zu erweisen, die aber alle dahinaus gingen, daß nach Niederlagen von allen Seiten die Mauer der Griechen erstürmt ward und Hektor, ans Schiff des Protesilaus greifend, ausrief: »Bringt Feuer!« – Hier war das Ziel. Nicht Agamemnons Geschenke, noch eines schlauen Ulysses Reden, Achilles eigner Entschluß, mit welchem sich seines Freundes Patroklus Tränen verbanden, hemmte die äußerste Gefahr des Heeres. Jetzt gab Achill dem Patroklus seine Waffen mit dem gemessenen Befehl, wie weit er gehen sollte. Als Patroklus diesen überschritten hatte und den Feinden erlag, als Hektor, in die Waffen Achills zu seinem eignen Verderben gekleidet, dastand und die Nachricht vom Tode des Freundes, endlich auch seine kaum noch erbeutete Leiche ins Lager kam, da war aller Groll dahin; im Himmel und auf der Erde war Friede. In neue Waffen gekleidet, erscheint er in der Versammlung, und wie klein ist gegen ihn Agamemnon, ob er sich gleich noch jetzt, zur Entschuldigung seines Fehlers, in einem Märchen von der Ate dem Jupiter gleichstellt. Wie groß dagegen ist Achilles und wie zart! zart in den Klagen um seinen Freund, in den Klagen an seine Mutter, groß in der Versöhnung mit seinem Feinde, in der Anordnung des Begräbnisses seines Freundes:


Laßt Patroklus' Gebein, des Menötiaden, uns sammlen
Mit sorgfältiger Wahl; es ist nicht schwer zu erkennen.
Dieses legen wir bei in goldner Urne, bis ich auch
Sinke zum Hause des Pluto – –
Dann erhöhn wir den Hügel zum Grabmal; aber ich wünsch ihn
Nicht von stolzer Größe, nur mäßig. Breiter und höher
Möget ihr, Freund', ihn künftig erbaun, so viele von euch mich
Überleben – –

[171] Groß endlich in den Kampfspielen, in der Überwindung sein selbst, da er den Leichnam Hektors zurückgibt, in der Behandlung Priamus' dabei, groß von Anfange des Gedichts bis zu Ende. Scherzend spricht er zu Priamus:


Greis, wie schläfst du so unbekümmert, kein Übel befürchtend,
Wenn dich allhier Agamemnon entdeckt und die andern Achäer! –

Dies ist das letztemal, da Agamemnons in der »Ilias« gedacht wird; wie tief steht er unter Achill, in dessen Zelte sein Feind ruhig schläft.

Ich weiß wohl, daß man die gedrohete Mißhandlung am Leichnam Hektors dem Achilles hoch aufnimmt; aber preiset sie Homer? und verhindern sie die Götter nicht selbst, denen Achilles sogleich wie ein Kind gehorchet? Und was hatte Hektor mit Patroklus, Leiche im Sinn, über die ein so hitziger Kampf war?

Man ist gewohnt, Achill und Hektor zum Nachteil des ersten zu vergleichen; nach welchem Maßstabe? Nicht nur waren es verschiedene Charaktere, und zu Achills Charakter gehörte, was er war, untrennbar, sondern Hektor war auch ein Trojaner. Daß in Troja, dem alten asiatischen Königssitze, ein größerer Reichtum, eine weichere Lebensart herrschte als in den meisten griechischen Staaten sein konnte, zeigt sich in mehreren Stellen der Iliade; der Charakter des ersten Trojaners mußte diesem Zustande gemäß sein. Der Spiegel Homers, in welchem sich alle Dinge der Welt gleich klar und rein darstellen, zeigt alle Gestalten gleich menschlich und milde. Bei völligen Gegensätzen scheint eine Vergleichung kaum möglich; und doch wirft Homer auf alle, wo irgend er kann, den milden Strahl der Menschheit.

[172] Sein Gedicht endet, ehe Troja erobert wird, ehe wir also die Greueltaten der Griechen in dieser eroberten Stadt gewahr werden. Selbst sein Held hatte das gute Schicksal, die schreckliche Folge seiner Tapferkeit nicht zu erleben; er fiel, wie wir aus andern wissen, im Tore von Troja. Und bei Homer, sobald Achill mit seinen neuen Waffen dahergeht, geht er zum Tode. Dies weissagt ihm seine Mutter, seine weinenden Rosse, der sterbende Hektor, und er selbst weiß es. Sein Leben ist an Patroklus, Leben geknüpft; ein Hügel soll sie decken und eine goldne Urne beider Asche am troischen Strande vereinen.

Was überhaupt der Glaube an ein Schicksal, was die Taten der Götter, ihre Hülfe und Feindschaft gegen Völker und Menschen in die Komposition Homers an Ruhe, Milde und hoher Ergebenheit bringen, ist unsäglich. Man nehme diese göttliche Farce, wie manche sie genannt haben (μωρον), aus seiner Iliade, und das Ganze wird widrig oder platt, wie fast alle politische Geschichte. Und doch ist alles Zuwirken der Götter bei ihm so menschlich, so natürlich! Nirgend ein zerstörendes Wunder; allenthalben nur der Gang des Menschengemüts, der Menschenkräfte, sofern es ans Zufällige, ans Unvorhergesehene, ans Unendliche reichet. Was zumal die Götter über die Sterblichen und über Achills Rosse sprechen, die einem Sterblichen dienen, ist seelezerschneidend.

Menschlicher Homer, wie liebe ich dich in allen deinen Formen und Gestalten! Auch Paris, auch die Sünderin Helena hast du nicht verschmähet und beide in das Schönste Licht gestellt, in welchem sie stehen konnten. Nicht vergessen sind ihre Brüder Kastor und Pollux, ihr Menelaus samt Ulyß sind mit allen Würden geschmückt, deren sie auf der Ebne vor Troja fähig waren. So Ajax, Diomed, Idomeneus, Nestor; jeder erscheint an seinem Orte, zu seiner Zeit in der Rennbahn des Ruhmes. Kurz oder lange leuchtet sein Schein; aber er geht nach Verdienst auf und nieder.

[173] Drei Lehren drückst du schweigend vor allen uns ins Herz:


1. »Discite justitiam, miseri, et non temnere divos,«

welches ich hier so übersetzen möchte:

»Lernt, ihr Fürsten, gerecht sein und treffliche Männer verehren.«


Dies lehrt uns mit seinem Übermut der prächtige Agamemnon in der ganzen Iliade. Er grenzt an alle Ausschweifungen, die Aristoteles, Ethik kannte, an dieHabbegierde (Akolasie), den Neid, die Schamlosigkeit und Beifallgebung, die Prahlsucht; doch grenzt er nur daran, denn der weise Homer hat ihn vor jedem Zuge des Verächtlichen bewahret. Er ist und bleibt bei ihm ein unsträflicher König. Achilles dagegen besitzt den Kern dessen, was die Griechen Tugend nannten, Großherzigkeit (μεγαλοψυχια) und edlen Stolz, hohes Selbstgefühl und die äußerste Wahrheitliebe. Er ist freigebig und auf eine anständige Artprächtig, höflich in seinem Zelt und bis zur Schambescheiden; dabei gebildeter als alle Griechen; denn er war Chirons Zögling und ergötzte mitten im Unmut sein schwerbeladnes Herz durch Töne. Der wärmsteFreund seines Freundes, an Stärke, Tapferkeit, Schönheit und Ruhmliebe über alle Griechen erhaben. Und an diesem gottgeliebten Sohn einer Göttin und eines Helden zeigt uns Homer μηνιν.

2. Die erschreckliche Plage des harten, obwohl gerechten Unmuts. Achill konnte ihm nicht entweichen; denn der Vorfall, der ihn dazu reizte, drang auf ihn, ohne daß er ihn suchte. Er kann, die ganze Iliade hindurch, als Achill nicht anders handeln, als er handelt. Das Unangenehme aber dieses Unmuts für ihn und für andre entwickelt der Sänger durch Worte aus des guten Phönix, ja aus Achills eignem Munde und durch Erfolge in lauter lebendigen Situationen. Sogar[174] das herbeieilende letzte Schicksal des Edelzürnenden sehen wir in diese Reihe der Dinge verflochten, in diesen ihm unvermeidlichen Unfall. Konnte ein zarterer Punkt des menschlichen Herzens und Lebens zarter behandelt werden, als es der Dichter getan hat? Gemeine Seelen wissen nichts vom edeln, göttlichen Unmut; wie manchem größeren Gemüt aber ist er die Klippe des Glücks, seiner Brauchbarkeit fürs gemeine Wesen, des häuslichen und täglichen Wohlseins, ja endlich des Lebens selbst worden! Mehr als ein Gekränkter hat die Klagen angestimmt, die Achill am Ufer des Meers seiner Mutter zuseufzte; er konnte aber keinen andern Trost hören, als jenem die Göttin selbst zu geben vermochte.

3. Endlich, welch eine böse Sache ist der Krieg! Und wie mißlich ist jede Regierungsart unter den Menschen, so unumgänglich sie ist im Kriege und Frieden! Beides hat uns Homer so vorzüglich und hell dargelegt, daß wir auch hier den Meister sehen, der in die rohesten Dinge Weisheit und Menschlichkeit brachte.

35.

Sohn! Dir werden die siegende Stärke, nach ihrem Gefallen,
Pallas und Juno verleihn; du aber bezähme des Herzens
Stolzaufwallenden Mut; denn gütige Triebe sind edler.

Diese Lehre läßt Homer den alten Peleus seinem Achilles auf den Zug vor Troja mitgeben, und die ganze Iliade ist eigentlich ein Lob der Philophrosyne, d.i. gefälliger, menschenfreundlicher Gesinnung; Unmut ist dem Homer eine Plage des Lebens, selbst wenn es ein gerechter, göttlicher Unmut μηνις wäre. Er frißt am Herzen und naget ab die Blüte des Lebens; bei den menschlichsten Gesinnungen wird der Gekränkte wider seinen Willen ein Unmensch. Die älteste [175] griechische Philosophie ging dahinaus, das Gemüt der Menschen vor jedem Äußersten zu bewahren; die älteste Philosophie der Griechen aber war bei den Dichtern. Mit Rechtschaffenheit, Ruhm und Gesundheit ein heiteres, frohes Leben führen zu können, stelleten sie als den höchsten Wunsch der Sterblichen dar und warnten vor jedem Übermaße, vor jeder zu hart angesessenen Neigung. Wie klar muß es in der Seele Homers gewesen sein, da er, sein ganzes Gedicht hindurch, gleichsam die Waage Jupiters in der Hand haltend, die Neigungen und Charaktere der Menschen gegeneinander im Streit und in Folgen abwog! Der Schild Achilles zeigt bei ihm, wie er sich die Welt dachte; unbefangen sah er ihre mancherlei, einander oft nahe entgegengesetzten Szenen, fröhliche und traurige, ruhige und stürmische Szenen, und schildert sie, wie dort Vulkan sie hammerte, glänzend und unvergänglich. Wem Homers Muse den Nebel vom Auge nimmt, gewinnet über die Dinge der Welt gewiß eine große, weise und am Ende fröhliche Aussicht.

Wie Achill mit seiner Leier den Unmut sich zu zerstreuen suchte, so war es das Amt der lyrischen Dichter, der Menschen Herz zur Mäßigung in Glück und Unglück zu stimmen und es zur Freude, Freundschaft und Heiterkeit zu ermuntern. Leider sind die meisten derselben untergegangen; die übriggebliebenen Reste aber zeigen diese Bestimmung. Pindar selbst, ob er gleich laute Siege besingt, hat so manchen Spruch in seinen Gesängen, der zur Mäßigung im Glück, zum behutsamen Gebrauch des Lebens einladet, so manchen, der dem Unmute zuvorzukommen sucht oder nach Erfahrungen desselben die Seele des Kämpfers edel erquicket.

Das feine Echo der Griechen (wie einer unserer Freunde ihn nannte), Horaz, tut ein Gleiches. Es wäre zu wünschen, daß er in seiner wohlgefälligen, einschmeichelnden Art auch uns eigen werden könnte; vielleicht ist dies aber unmöglich, denn die meisten seiner Oden sind zu künstlich eingelegte musivische Arbeit.

Mehrere derselben, wissen Sie, sind nach dem Lateinischen [176] in Musik gesetzt; ich wollte, daß auch aus den für uns nicht ganz brauchbaren Oden alle rein menschliche Strophen, alle beruhigende, tröstende, aufheiternde Sprüche und Empfindungen latein komponiert würden. Stellen aus Virgil desgleichen. Ich erinnere mich aus Luther, daß ihm einige Worte der sterbenden Dido in der Musik einen unvergeßbaren Eindruck gemacht hatten; wem würden nicht jene ewigen Sprüche der Alten, mit welchen sie im einfachsten, kräftigsten Ausdruck des Menschengemüt stärken, einen nach- und widertönenden Eindruck geben? Durch Musik ist unser Geschlecht humanisiert worden; durch Musik wird es noch humanisieret. Was dem Unmutigen, dem Lichtlos-Verstockten die Rede nicht sagen darf, sagen ihm vielleicht Worte auf Schwingen lieblicher Töne.

Wenn dies von Gesängen der Alten gilt, sollte es nicht viel mehr von Sprachen gelten, deren Genius uns vertraulicher und näher Laute des Trostes und der Weisheit zulispelt? Kein Zweifel. In den Dichtern der Italiener, Spanier, Gallier schlummern Töne, die, wenn sie durch Musik und Anwendung zur Weisheit des Lebens würden, Völker und Stände menschlich machen müßten.

Auch in unsern lyrischen Dichtern sind Strophen, die der Sokratischen Schule würdig sind; warum leben sie so wenig im Ohr der Nation? warum schlafen sie mit ihren Erfindern vergessen im Staube? Die Ursache ist leicht zu finden: Weil nur ein so kleiner Teil unsrer Nation kultiviert ist und bei einem andern die scheinbare Kultur zu einem falschen Schmuck fremder Üppigkeit geworden ist. Wir wollen es uns nicht bergen, man spricht viel von Kultur und Aufklärung; man affektiert und fürchtet sie sogar, vielleicht weil man an sich selbst weiß, daß sie nicht tief gehet, daß sie selten von rechter Art ist. Denn wirklich gebildete Gemüter (in dem Verstande, wie Griechen und Römer dies Wort uns zugebracht haben) können am Nutzen der echten Bildung nicht zweifeln.

Doch wo gerate ich hin? Lassen Sie uns schnell zu unsrer Materie, zu dem unverfänglichen Wunsch nach Kompositionen [177] schöner Stellen aus lateinischen Dichtern zurückkehren. Oft, gar oft, wenn ich geistliche Musiken über lateinische Mönchsworte hörte, regte sich das Verlangen in mir, auch altrömische Stellen mit solcher Musik begleitet zu hören; und als in Reichardts »Totenfeier auf Friederich« nach Lucchesinis Worten altrömische Tugenden, eine nach der andern, auf des Unsterblichen Grab auch in Tönen sich zudrängten, ward der Wunsch aufs neue in mir lebendig. Strophen aus Horaz (z.B. B. 1, Ode 7, V. 21–32; B. 2, Ode 10, V. 13–24) oder ganze Stücke mit zweckmäßiger Abwechselung (wie vielleicht B. 1, Ode 9, 24, 26; B. 2, Ode 3, 11, 14, 16, 19, 20; B. 3, Ode 2, 9, 21; B. 4, Ode 7, Epode 7) würden der Musik notwendig den eigentümlichen Schwung geben, der ihr bei unsern verbrauchten Silbenmaßen zu finden oft schwer wird. Der Hörer würde dadurch gewissermaßen in die römische Welt oder wenigstens in Zeiten seiner Jugend versetzt, in welchen er Horaz zuerst lieben lernte.

Wie glücklich war Überhaupt dieser Dichter! Nicht nur im Leben, sondern auch in der Reihe von Wirkungen, die ihm nach seinem Tode das Schicksal anwies. Die lyrischen Dichter der Griechen sind untergegangen; er fast allein hat uns mehrere Formen ihrer Gedanken, ihrer Empfindungen, ihres Ausdrucks, ihrer Silbenmaße in seinen Nachbildungen gerettet; und was damit für ein Schatz gerettet sei, hat die Zeitfolge erwiesen. Die pindarische Form, die Form der griechischen Skolien und Chöre war und blieb den Sprachen Europas unanwendbar; in der horazischen Form erhob sich die Ode, selbst zu einer Zeit, da die Nationalsprachen der europäischen Völker ungebildet dalagen. In allen Ländern schlossen sich die Geister des Gesanges dem Venusinischen Schwan an und drückten zuerst in der geliehenen lateinischen Sprache Gesinnungen aus, die sie in ihrer Landessprache noch nicht auszudrücken vermochten. Wie niedrig ist's, was Balde u.a. deutsch sangen; wie edler, wo sie das von Horaz geheiligte Werkzeug der Sprache anwenden konnten! Ohne ihn hätten wir keinen Sarbievius, dessen Oden, von Götz u.a. wiederum [178] in unsre Sprache übertragen, immer noch den römisch-griechischen Geist atmen. Gehen Sie in diesem Gesichtspunkt die Sammlungen durch, die Gruter u.a. von den lateinischen Dichtern der Italiener, Gallier, Belgen, Deutschen, Dänen, Schotten, Engländer u.f. gegeben haben; unter vielem Wortgeklingel werden Sie unstreitig wahre delicias finden. Jeder edlere Dichter vergaß gleichsam den Lauf der Dinge um ihn her; über die Vorurteile seines Landes, seiner Sekte, seines Ordens hinausgesetzt, mußte er gleichsam mit dem römischen Dichter auch römisch denken. Was späterhin in unsrer Sprache eben auch durch die horazische Form geweckt und in ihr vorgetragen sei, darf ich Ihnen aus Klopstock, Götz, Uz, Ramler u.a. nicht anführen. Horaz ist Sänger der Humanität gleichsam vorzugsweise, die Form seiner Gedanken ist das erwählte Lieblingsmaß der lyrischen Muse worden. O daß wir also schon Stellen wie solche: Vitae summa brevis – Nil desperandum – Tu ne quaesieris – Felices ter et amplius – Quod si Threicio – Linquenda tellus –

[179] Aequam memento – Rebus angustis – Eheu fugaces- Tecum vivere amem, tecum obeam libens – in lateinischer Sprache komponiert hörten!

Hier eine von Sarbievs unschätzbaren Oden auch in der Form des Römers:


An die Weisheit


Die du, höchste Vernunft, weise die Schickung lenkst!
Wie zuweilen der Ernst deiner Verfügungen
Uns ergetzet, ergetzen
So die menschliche Spiele dich?
Mit freigebiger Hand streuest du Güter aus.
Und wir raffen sie auf, wenn sie gefallen sind,
Wie die Jugend die Nüsse
Mit kurzweiligem Zanke rafft.
Wer jetzt Kronen erhascht, bricht sie; wer Zepter kriegt,
Sieht sie wieder entführt, eh er sie tragen kann.
Welt! so schwankst du, zerrissen
Von den Händen der Mächtigen.
Was das geizige Glück unter die Völker teilt,
Ist ein Pünktchen. O laß, Weisheit, ich flehe dir!
Mich, indes sie so zanken,
Mit dir lachen und fröhlich sein.
[180]

36.

Ein zweites Fragment aus der Handschrift »Ionien« handelt von der Humanität Homers in Ansehung des Krieges und der Kriegführenden seiner Iliade. Lassen Sie es jetzt statt meines Briefes gelten.


Selbst in dem Heldengedicht, das größtenteils Taten der Krieger besingt, dachte Homer über Krieg und Frieden menschlich. Nicht nur, daß er jenen so oft den tränenreichen, männerfressenden, verderblichen, harten, bösen Krieg nennet, er läßt keine Gelegenheit vorbei, ihn seiner Natur nach, mit allen begleitenden Übeln, durch Tatsachen zu schildern.

1. Die Iliade beginnt mit einem Greise, der um seine geraubte, liebe Tochter vergebens flehet; und bald wird es nicht verschwiegen, daß die Griechen alle benachbarte Küsten und Inseln geplündert, daß sie die neun Jahre her großenteils vom Raube gelebt haben. Schon faulet das Holz an ihren Schiffen, die Seile vermodern:


Ihre Weiber daheim und unerzogene Kinder
Schmachten, sie wiederzusehn –

Daher denn, als Agamemnon ihnen den Vorschlag tat, nach neun Jahren vergeblicher Arbeit wieder die Schiffe zu besteigen und


–zu fliehn zum werten Geburtsland,

so hatte er kaum das Wort gesprochen, als die Versammlung es in freudigem Ernst befolgte:

–Der Staub stieg unter den Füßen der Männer
Wallend empor, und einer ermahnte den andern zur Eile,
Daß sie die Schiff, erreichten und bald ins Wasser sie zögen.

[181] Nur durch vieles Zureden und durch den gebietenden Stab des Königs konnte die kriegssatte Schar wieder in die Versammlung, durch neue dringende Vorstellungen von Schande, Ruhm und Hoffnung wieder ins Feld gebracht werden.

2. Denn es hatte sich zur Last des Krieges auch diePlage der Pest gefunden; eben sie unterläßt Homer nicht im Anfange der Iliade schreckhaft zu zeichnen.


– Die Völker aus Argos

Fielen bei Haufen dahin; die scharfen Pfeile des Gottes
Flogen tötend umher im ganzen achäischen Kriegsheer,
Daß man täglich die Leichen, getürmt in Haufen, verbrannte.

Denn wem ist unbekannt, daß ansteckende Krankheiten das gewöhnliche Gefolge aller Kriegsheere sind und elender metzeln als das Schwert des Feindes?

3. Als die Göttin endlich im Busen der Griechen die Streitlust wieder erweckt,


Daß sie nach unablässigem Kampf und Schlachten sich sehnen,
und ihnen der Krieg wiederum viel süßer dünkt, – als vormals
Ihnen die Rückfahrt schien zum werten Lande der Heimat,

will der Dichter dem blutigen Gefechte noch durch eine billige Auskunft zuvorkommen. Menelaus undParis, deren Sache es eigentlich allein ist, um derenwillen Menschen hingeopfert werden, sollen durch einen Zweikampf den Zwist entscheiden.


–Ihn hörten mit Freude die Griechen und Trojer,
Hoffend, das Ende zu sehn des elendbringenden Krieges.

[182]

4. Da dies Mittel aber nicht gelang und die Heere gegeneinander ziehen müssen, von wem läßt sie der Dichter empören? Die Trojer von Mars, den sein Vater, Jupiter, selbst späterhin also anredet:


Wisse, dich haß ich am meisten von allen Bewohnern des Himmels:
Denn du findest nur Lust an Zank und Kriegen und Schlachten.
Ähnlich bist du der Mutter am unerträglichen Starrsinn,
Der nie weichet und kaum von mir durch Worte gezähmt wird.

Die Griechen regt Pallas auf, und mit beiden Aufregern sind

– Das Schrecken, die Furcht, die rastloswütendeZwietracht,
Schwester des menschenverderbenden Mars und seine Gehülfin,
Die erst klein sich immer erhebt, bis endlich ihr Haupt sich
Hoch in Wolken verbirgt, indem sie die Erde bewandelt;
Diese durcheilte die Heer, und säte zu beider Verderben
Streitgier unter sie aus und mehrte der Krieger Getümmel.

Sind diese Namen hier allegorische Kunstwerke? Gespenster sind's, die Homer eben deswegen schreckhaft einführet, weil durch Personen, die in bestimmten Umrissen erscheinen, die Wirkung nicht hervorzubringen war, die er hervorbringen wollte So scheint er zu andrer Zeit den Zorn, die Schadenfreude, das schrecklich ergreifende Todesverhängnis zu personifizieren, zu gleichem Endzweck, unsere Begriffe nämlich zu verwirren durch diese unumschriebene Wortlarven. Der Zorn ist ihm wie ein Rauch, und dieZwietracht erhebt sich [183] gleichergestalt zwischen Himmel und Erde. – Von allen Künstlerideen weggesehen, wie wahr und wie gräßlich! Aus einem Nichts entspringet die Zwietracht und wird in kurzem unermeßlich. Nie umschrieben in ihrem Wesen, kommt sie vielleicht aus einer Kammer hervor und durcheilt Staaten, durcheilt Heere, säet Verderben und Streitgier umher, immer das Haupt in hohen, unabsehlichen Wolken verborgen. Selten wissen die Menschen, weshalb sie streiten; je länger aber, desto hartnäckiger hadern sie; denn von Schritt zu Schritt wächst die unersättliche Eris.


5. Jetzo trafen sie nah auf einem Raume zusammen,
Schild und Lanzen begegneten sich und Kräfte der starken
Eisengepanzerten Männer. Sie stießen die bäuchigen Schilde
Wechselnd gegeneinander, und ward ein schrecklich Getöse.
Laut ertönte zugleich das Jammern und Jauchzen der Krieger,
Schlagender und Erschlagner; es strömte von Blute die Erde.

Da sich Homers Iliade einem großen Teil nach mit diesem Gemetzel beschäftigt, so wird das Menschengemüt des Dichters hier vorzüglich fühlbar. Seine Tote läßt er nie als Tiere fallen; er bezeichnet, soviel er kann, in einigen Versen als Menschenfreund ihr trauriges Schicksal. Dieser wird nie mehr zu seinen geliebten Eltern, zu seinen Brüdern. seiner Gattin, seinen Kindern wiederkehren; jener hat Reichtum, Wohlstand, eine glückliche Ruhe verlassen, die er nie mehr genießen wird. Einen andern zeichnet er als Künstler, als einen geschickten, schönen, gottbegabten Mann; seine Kunst ist dahin, seine Schönheit verwelket, der Götter Gaben werden mit der Asche begraben. Jenen hat falsche Hoffnung, eine trügliche Weissagung ins Feld gelockt; der Tod ergreift ihn,[184] schwarze Nacht umhüllet sein Auge. Und ferner. Mehrere dieser Erinnerungen sind so zart, daß sie Inschriften zu den Grabmälern der Erschlagenen sein könnten, wenn arme Kriegserschlagene Grabmal und Urne erhielten.

6. Merkwürdig ist hiebei, daß Homer dieses zärtliche Andenken am meisten den Trojanern schenket. Er, ein Grieche, der den Ruhm griechischer Helden verewigen wollte, war zugleich ein Asiat, ein Ionier, ein Mensch und, ich möchte sagen, ein Bedaurer des trojanischen Schicksals. Weit entfernt von der barbarischen Kleinmut, seine Feinde verunglimpfend zu belügen, zeichnet er ihr zarteres Gemüt, die größere Weichlichkeit ihres Klima, ihre Familienneigungen, ihre Künste, ihr Wohlbehagen zu Friedenszeiten in Zügen, an denen sich offenbar das Auge des Dichters selbst ergötzte. Die armen Trojaner sind ihm eine Herde Schafe, die von Wölfen angefallen wird; unter ihnen sind viele fremde Bundsgenossen, die am Schicksal der bedrängten Königsstadt nur aus nachbarlichem Mitleid teilnehmen. Uns den inneren Wohlstand Trojas zu zeigen, unser Herz für die Bedrängten mitfühlend zu machen, führt er seinen edlen Hektor im Anfange des Treffens in die Stadt zurück. Er zeigt uns Priamus und seiner Söhne Wohnungen, zeigt uns die Helena selbst in einer zwar erniedrigten, aber nicht unwürdigen Gestalt, so die Ältesten der Stadt, so endlich Andromache und ihr Kind. Rührender ist wohl kein Abschied geschildert worden, als den Hektor von ihnen beiden nahm, und es ist eine Überkritik der Grammatiker, daß in der Andromache Rede einige Verse zu allgemein und zuviel sein sollen. Bei dem Dichter spricht sie im Namen aller trojanischen Frauen, für sie und ihre verwaiseten, gefangenen Kinder. Auch hat sich Homer wohl gehütet, uns die Untaten selbst zu erzählen, die dieser traurige Abschied nur vorahnet, ob sich gleich der Grund seiner ganzen Odyssee, die unglückliche Rückfahrt der Griechen, großenteils auf sie bezog. Weder mit der Greueltat des Ajax vor dem Bilde der Pallas noch mit des Priamus, der Polyxena und andrer unwürdigem Morde hat seine Muse sich befleckt; [185] die Künstler und tragischen Dichter nahmen ihre Vorstellung dieser Szenen aus andern sogenannten zyklischen Dichtern. Hektors letzter Gang nach Troja ist bei Homer in jedem Schritte groß und heilig. Der Edle will die zornige Göttin versöhnen und seine geliebte Vaterstadt entsündigen; daher er auch den Missetäter Paris ins Feld fodert, bis am Skäischen Tore endlich, an diesem Unglücksorte, der traurige Abschied die Szene endet – –

Homer war keiner von denen, die ihrem Lieblingshelden die ganze Welt aufopfern. Seinen Achilles kleidet er in gottähnliche Größe, Hektor dagegen in alle Würde und Zierde des Verteidigers seiner Geburtsstadt. Beide Helden konnten in dem menschenverderblichen Kriege nicht auf einmal glänzen; indes jener also einige Tage ruhet, lässet er diesen sein Glück aufs höchste treiben, bis er durch Anlegung der Waffen Achills die Nemesis reizet und dem Tode ein Opfer dasteht. So übertrieb Patroklus seine Bestimmung und sank, nicht von Hektor, sondern zuerst von Apollo selbst rückwärts getroffen, daß Achills Waffen von ihm fielen. So sollte, hinter Homers Iliade, Achilles, da sein Ziel erreicht war, auch sinken. Das Schicksal aller Dreien, der edelsten Männer, ist ineinander verwebt und der Tod eines ein Verkündiger vom Tode des andern. Im Leben und Tode ehrt Jupiter den Hektor. Da er vom Zorn der Juno ihn nicht erretten kann, opfert er seinen eignen geliebten Sohn Sarpedon mit ihm zugleich auf, und seinen Leichnam entzieht er der Rache Achills auf die edelste Weise.

Und wie den Hektor, so hat Homer den alten Priamus und alle seine Kinder geehret. Deiphobus ist vom Apoll begeistert wie keiner im griechischen Heere; selbst Paris' Vorzüge werden bei allem Tadel, der ihm gebührt, nicht verschwiegen.

7. Warum untersagt Priamus bei dem Begräbnis der Erschlagenen seinem Heer die weinende Trauerklage? Offenbar lag dies Verbot in der Situation der Trojaner. Sie, eine Versammlung asiatischer, weicherer Völker, an die laut weinende Trauerklage mehr noch als die Griechen gewöhnet, sie, die in [186] der Nähe ihrer Verwandten, Kinder und Weiber vor Trojas Mauern ihre nächsten Freunde und Landsleute bestatten und in ihrem Tode ihr eignes Schicksal voraussahen, sie hatten ein solches Verbot nötiger als die härteren Griechen, die der angreifende Teil waren und fern von den Ihrigen nur ihre Mitstreiter begruben. Um Patroklus, Leiche weinen die Griechen, insonderheit die Myrmidonen, am heftigsten Achilles; auch Briseis weint und die übrigen Weiber, letztere aber


Um Patroklus zum Schein, im Grund um eigenes Elend.


8. Noch mehr zeigt die Menschlichkeit Homers sich in der Weisheit, mit der er über das Schicksal des Krieges dachte. Alles Kriegsunglück läßt er durch Fehler entstehen, durch Fehler und Leidenschaften der Götter und Menschen. Das alte Troja wird vom Jupiter dem Eigensinn eines unversöhnlichen Weibes aufgeopfert, die eine Reihe ihrer Lieblingsstädte hingeben will, wenn Jupiter hier nur ihren Willen erfüllet. Die keuscheste, stolzeste Göttin errötet nicht, ihre Umarmung zum Netz des Betruges zu machen, aus tiefem Groll lieblos Liebe zu heucheln, mit geborgtem Schmuck an offnem Tage aus der Gattin eine berückende Buhlerin zu werden, nur damit einige Trojaner mehr bluten, indes ihr bestochener Kämmerling, der Schlaf, dem schicksalwägenden Gott die Augen zuschließt. Das Äußerste der Rache eines Weibes! Gegen Troja stehen zwo Weiber, für Troja zwei Männer; wer zweifelt, wenn es auf Haß ankommt, welche Partei zum Ziel gelangen werde? Ging es in den hartnäckigsten Kriegen der Erde je anders?

In der menschlichen Szene hangen, wie vorher gezeigt worden, der Griechen Unfälle bei Homer lediglich vom Stolz und Wahn des Königes ab, dem keiner der ratgebenden Fürsten sich zu widersetzen getraute. Ein falscher Traum ist seine belehrende Gottheit; sonst erscheinet ihm keine (deren mehrere doch andern erscheinen) während der ganzen Iliade. Dieser falsche Traum heißt Dünkel, dem Agamemnon, schon seinem Namen nach ein Jupiter auf Erden, zum Verderben [187] seines Volkes gehorchet. Den ältesten Ratgeber besticht er damit, daß der Traum in seiner Gestalt erschienen sei; andre Fürsten schweigen oder wetteifern töricht mit Achilles Ruhme. So kommt durcheinen, durch wenige das ganze Heer an den Rand des Abgrundes. Zu spät wird gesprochen, zu spät geweinet; und unter diesem allen ist und bleibt Agamemnon der sorgsamste Hirte der Völker. O Homer, sooft ich von neuem deine Iliade lese, finde ich in ihr neue Züge der ordnenden Weisheit, Klugheit und Menschenliebe, mit der du wilde Verhältnisse eines rohen Zeitalters erzählest. Und keine Lehre, keine Warnung entfließt deinen Lippen, als ob sie die deinige wäre; jedes Laster, jede Torheit, jede Leidenschaft selbst lehret und warnet.


Diderot über die Einfalt in Homer


»Die Natur hat mir Geschmack an der Einfalt gegeben, und ich bemühe mich, diesen Geschmack durch das Lesen der Alten vollkommner zu machen.

O mein Freund, wie schön ist die Einfalt! Wie übel haben wir getan, uns davon zu entfernen!

Wollen Sie hören, was der Schmerz einem Vater eingibt, der jetzt seinen Sohn verloren hat? Hören Sie den Priamus. Wollen Sie wissen, wie sich ein Vater ausdrückt, der dem Mörder seines Sohns fußfällig flehet? Hören Sie eben den Priamus zu den Füßen des Achilles.

Was ist in diesen Reden? Kein Witz, aber so viel Wahrheit, daß man fast glauben sollte, man würde ebensowohl als Homer darauf gefallen sein. Wir aber, die wir die Schwierigkeit und das Verdienst, so einfältig zu sein, ein wenig kennen, mögen diese Stellen nur lesen, mögen sie mit Bedacht lesen und hernach alle unsre Schreibereien nehmen und ins Feuer werfen. Das Genie läßt sich fühlen, aber nicht nachahmen.« –

Was Diderot hier von Homers Einfalt sagt, möchte ich von seiner Humanität sagen. Man lese seine Beschreibungen [188] des Todes der Erschlagnen, man lese Hektors Abschied von seinem Weibe und Kinde, man bemerke jeden Zug, mit dem der Dichter des Achills erwähnet, insonderheit wenn er ihn selbst redend einführet, auch was er hie und da über das Glück und Unglück des menschlichen Lebens, über Reichtum, Ehre, Adel der Seele und des Geschlechts, über Gerechtigkeit, Tapferkeit, Geduld, Weisheit, Mäßigung, Sanftmut, Gastfreundschaft, Verschwiegenheit, Treue, Wahrheit, über die Verehrung der Götter, die Ergebung in den Willen des Schicksals und die ihnen entgegengesetzten Torheiten und Laster einstreuet: welch eine Schule der Humanität ist in ihm!

37.

Lessings »Emilia Galotti« hat mich wieder einmal ins Theater gelockt; wie zufrieden, ja gesättigt bin ich hinausgegangen! Ein Theaterstück muß gesehen, nicht gelesen werden; denn wenn es ist, was es sein soll, so ist ja eben auf die Vorstellung alles berechnet. Ich kann mir nicht einbilden, daß, wenn Stücke dieser Art (aber auch keine andre als solche) wöchentlich nur einmal auf die leidlich vollkommenste Weise gegeben würden und diese Stücke lauter Stände und Situationen unsrer Welt, wie dieses, enthielten, das Publikum ungebildet, unerleuchtet bleiben könnte.

Bei der zweiten Ausgabe des »Diderotschen Theaters« bezeugte Lessing diesem Schriftsteller öffentlich seine Dankbarkeit als dem Manne, der an der Bildung seines Geschmacks großen Anteil habe. »Denn,« fährt er fort, »es mag mit diesem auch beschaffen sein, wie es will, so bin ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne Diderots Muster und Lehren eine ganz andre Richtung würde bekommen haben. Vielleicht eine eignere, aber doch schwerlich eine, mit der am Ende mein Verstand zufriedener gewesen wäre.« Und setzt sodann weiter den Einfluß ins Licht, den Diderots Stücke, insonderheit sein »Hausvater,« auf das deutsche Theater gehabt habe.

[189] Sie wissen, wieviel Diderot darauf hielt, daß Stände aufs Theater gebracht werden sollten, und was Lessing in seiner »Dramaturgie« dabei zu erinnern fand. Natürlich können Stände ohne bestimmte Charaktere auf dem Theater keine Wirkung tun; aber bilden sich die Charaktere der Menschen nicht in und nach Ständen? und welcher Stand hätte auf den Charakter mehr Einfluß als der Stand eines Prinzen? Hier hatte also Lessing ein weites Feld, das philosophische Allgemeine, dadurch Aristoteles die Poesie von der nackten Geschichte unterscheidet, als Philosoph und Dichter zu bearbeiten. Er zeigt den Charakter des Prinzen in seinem Stande, den Stand in seinem Charakter, beide von mehreren Seiten, in mehreren Situationen. Nicht nur bringt er den Prinzen in seiner gegenwärtigen Gemütsstimmung mit den verschiedensten Personen, Männern und Weibern, mit Künstler und Kanzler, Kammerherr und Kammerdiener, mit einer Geliebten, die er jetzt nicht geliebt haben, und einer andern, die jetzt von ihm eben nicht geliebt sein will, mit dem Vater, der Mutter, dem Bräutigam derselben, ja mit sich selbst in Gespräch und Handlung; er unterläßt auch keine Gelegenheit, in jeder dieser Situationen eigentlich nach dem Ringe zu rennen und, wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, dasPrinzliche dabei zu charakterisieren. Niemand wird unverschämt gnug sein, deshalb das Stück eine Satire auf die Prinzen zu nennen; denn nur dieser Prinz, ein italienischer, junger, eben zu vermählender Prinz ist's, der sich diese Späße gibt und bei Marinelli andre zuläßt. Auch ist sein Stand, seine Würde, selbst sein persönlicher Charakter in allem zart gehalten und mit wahrer Freundlichkeit geschonet. Am Ende des Stücks aber, wenn der Prinz sein verächtliches Werkzeug selbst verachtend von sich weiset und dabei ausruft: »Gott! Gott! Ist es zum Unglücke so mancher nicht genug, daß Fürsten Menschen sind; müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?,« und die unschuldige Braut dabei im Blut liegt, der Vater, ihr Mörder, sich eben vor diesen Fürsten als vor sei nen Richter stellt, Marinelli, der Unterhändler [190] dieses Gewerbes, sich noch bedenkt, den Dolch aufzuheben: wer ist, dem, wenn in solcher Situation der Vorhang sinkt, nicht noch andre Gedanken außer dem, den der Prinz sagt, in die Seele strömen? Notwendig fragt man sich, wie wird das Gericht über den alten Odoardo ablaufen? Wie lange wird Marinelli entfernt sein, d.i. wie bald wird er, wenn sein Dienst abermals brauchbar ist, wiederkehren? u.f.

Es ist vielleicht das höchste Verdienst der Poesie, insonderheit des Drama, Stände und Charaktere aller Art (wenn mir das niedrige Gleichnis erlaubt ist) an dem feinsten Spieß, aufs langsamste am Feuer eigner Torheiten, Neigungen und Leidenschaften umzuwenden. In der Seele des Zuschauers werden diese Stände und Charaktere dadurch gar oder, mit einem edleren Ausdruck, geründet. Man siehet, was an der Figur Ernst oder Scherz, Wort oder Tat ist; man blickt auf den Grund hinunter und greift das Beständige oder Unstatthafte ihres Charakters, ihre Versatilität und innere Ehrlichkeit gleichsam mit Händen.

Die alte Tragödie ging darauf hinaus, durch Darstellung unerwartet-schrecklicher Königsunfälle und Katastrophen die Urteile der Menschen zu berichtigen, ihre Grundsätze zu sichern und das poco più und poco meno der Leidenschaften, der Furcht und des Mitleids, dem Zuschauer auf echter Waage vorzuwägen. Die neuere Tragödie, wenn sie gleich ihren Bogen nicht so scharf spannen und ihre Keule so rasch schwingen kann als die alte, hat dennoch mit ihr einerlei Endzweck Sie spricht zum innersten Gefühl, zur treuesten Ehrlichkeit des Menschen; die Übeltat kann sie auch jenseit der Gesetze verfolgen, so wie das Lustspiel die Torheit auch jenseit der Gesetze straft. Beide sind Sprecherinnen vor dem erhabensten Richterstuhl unsres Geschlechts, vor der Humanität selbst, und ventilieren, bescheinigen und gegenbescheinigen vor ihr auf die schärfste, freieste Weise.

Lessing kannte diesen Prozeß über die innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs genaueste; sein Tellheim ist ein von [191] allen Seiten geprüfter, militärischer Charakter; alles, was um ihn steht, was ihm begegnet, sichtet ihn das ganze Stück hindurch moralisch. Wen solche Komödien und Trauerspiele nicht bearbeiten können, der möchte durch Worte schwerlich zu bearbeiten sein.

Man rückt Lessingen vor, daß er die zarteste Weiblichkeit, das über allen Ausdruck Reizende je ne sais quoi des schönen Geschlechts nicht gekannt und solches ebensowohl in der Emilie als der Minna, der Recha als der Orsina verfehlt habe. Sie sind, sagt man, bei ihm Kinder oder Männer, Helden oder schwache Geschöpfe. – – Ich kann über diesen Punkt nicht entscheiden. Sollte es aber keinen Unterschied geben, wie ein weiblicher Charakter im Roman und auf der Bühne erscheinen darf? Das neuere Theater ist bei allen Völkern Europas, vorzüglich Spaniern und Franzosen, aus romanhaften Erzählungen und Sitten entstanden; sollte es diese nicht ablegen dürfen? ja sollte es sie endlich nicht ablegen müssen, da diese fremde Schminke aus der wirklichen Welt teils schon verbannet ist, teils in manchem offenbar ihrer Verbannung zueilet? Das Theater der Alten kannte diese romantische Schminke nicht, und doch waren ihre Weiber Weiber.

Wie dem auch sei, in diesem Stück getraute ich mir den Charakter der Emilie, Orsina, geschweige der Claudia völlig verteidigen zu können; ja es bedarf dieser Verteidigung nicht, da sich hier alles in der Sphäre eines Prinzen, um seine Person, um seine Liebe, Treue und Affektion drehet. Wer kennt die Übermacht dieses Standes beim schönen Geschlechte nicht? und wer darf es der Emilie in diesen Augenblicken einer solchen Situation verargen, wenn sie den Dolch ihres Vaters einer künftigen Gefahr vorziehet? Das flatternde Vögelchen (verzeihen Sie das naturhistorische Gleichnis) fürchtet nicht etwa nur den anziehenden Hauch der nahen großen glänzenden Schlange; es fühlet denselben schon, sieht ihren auf sie gerichteten Blick – oder ohne Gleichnis, sie [192] glaubt sich schon umschlungen von tausend feinen Netzen liebenswürdiger Eigenschaften, weiß, wie der Prinz ihre Empfindungen der Religion selbst vorm Altar störte, und wagt wie eine Heilige den Sprung in die Flut. Wie verstandvoll hat Lessing das Herz der Emilie mit Religion verwebet, um auch hier die Stärke und Schwäche einer solchen Stütze zu zeigen! Wie überlegt läßt er den Prinzen sie am heiligen Ort aufsuchen, sie in der Kapelle vor aller Welt anreden, und stellt die schwache Mutter, den strengen, grollhaften Fürstenfeind Odoardo neben sie. Ihr Tod ist lehrreich-schrecklich, ohne aber daß dadurch die Handlung des Vaters zum absoluten Muster der Besonnenheit werde. Nichts weniger! Der Alte hat ebensowohl als das erschrockene Mädchen in der betäubenden Hofluft den Kopf verloren, und ebendiese Verwirrung, die Gefahr solcher Charaktere in solcher Nähe wollte der Dichter schildern.

So erlaube ich auch der Orsina (die notwendig mit Mäßigung gespielt werden muß) ihre Verhöhnung des Marinelli, selbst ihre höllische Phantasie im siebenten Auftritte des vierten Akts. Wenn sie nicht den Mund öffnet, wer soll ihn öffnen? Und sie darf's, die gewesene Gebieterin eines Prinzen, die in seiner Sphäre an Willkür gewöhnt ist. Als eine Beleidigte, Verachtete muß sie anjetzt übertreiben und bleibt in der größesten Tollheit die redende Vernunft selbst, ein Meisterwerk der Erfindung.

So auch das Übereilen des Plans, das Hineintappen des Prinzen und vor allem seine unbescholtene Rechtfertigkeit, alles veranlaßt, gebilligt und am Ende doch, nachdem der Plan verunglückt, nichts befohlen, nichts getan zu haben. In wenigen Tagen, fürchte ich, hat er sich selbst ganz rein gefunden, und in der Beichte ward er gewiß absolvieret. Bei der Vermählung mit der Fürstin von Massa war Marinelli zugegen, vertrat als Kammerherr vielleicht gar des Prinzen Stelle, sie abzuholen. Appiani dagegen ist tot; Odoardo hat sich in seiner Emilie siebenfach das Herz durchbohret, so daß es keines Bluturteiles weiter bedarf. Schrecklich! –

[193] Als ich voll dieses Eindrucks nach Hause kam, fiel Diderot mir in die Hand, und zwar folgende Stelle:

»Der Schauplatz ist der einzige Ort, wo sich die Tränen des Tugendhaften und des Bösen vermischen. Hier läßt sich der Böse wider Ungerechtigkeiten aufbringen, die er selbst begangen hätte; hier hat er bei Unglücksfällen Mitleiden, die er selbst veranlaßt hätte; hier ergrimmt er gegen Personen von seinem eigenen Charakter. Aber der Eindruck ist geschehen, und er bleibt, auch wider unsern Willen; der Böse gehet also aus dem Schauplatze weit weniger geneigt, Übels zu tun, als wenn ihm ein ernster und strenger Redner eine Strafpredigt gehalten hätte.

Der Dichter, der Romanschreiber, der Schauspieler dringen verstohlnerweise ans Herz und treffen es um so gewisser und stärker, je weniger es den Streich vermutet, je mehr Blöße es folglich gibt. Die Unglücksfälle, durch die man mich rührt, sind erdichtet: was tut das? Sie rühren mich doch. Jede Zeile in dem ›Ehrlichen Manne, der sich der Welt entzogen‹, im ›Dechant von Killerine‹, im ›Cleveland‹ erregt in mir ein zärtliches Teilnehmen an den Unglücksfällen der Tugend und kostet mich Tränen. – Könnte es eine unseligere Kunst geben als die, die mich zum Mitschuldigen des Lasterhaften machte? Aber wo ist auch eine schätzbarere Kunst als die, die mich unvermerkt für das Schicksal des rechtschaffenen Mannes einnimmt, die mich aus der ruhigen und süßen Fassung, in der ich mich befand, reißet, um mich mit ihm umherzutreiben, mich in die Höhlen zu versetzen, in die er flüchten muß, mich zum Mitgenossen der Unfälle zu machen, durch die es dem Dichter beliebt, seine Beständigkeit auf die Probe zu stellen.

Wie sehr ersprießlich würde es für die Menschen sein, wenn sich alle Künste der Nachahmung einen gemeinschaftlichen Gegenstand wählten und sich einmal mit den Gesetzen dahin verbänden, uns die Tugend liebenswürdig und das Laster verhaßt zu machen! Des Philosophen Pflicht ist es, sie dazu einzuladen; er muß sich an den Dichter, an den [194] Maler, an den Tonkünstler wenden und ihnen auf das nachdrücklichste zurufen: ›O ihr von höheren Fähigkeiten, warum hat euch der Himmel begabt?‹ – Wird er gehört, so werden gar bald die Mauern unsrer Paläste nicht mehr von Gemälden der schändlichsten Wollust bedeckt sein; unsre Stimmen werden nicht länger die Verkündigerinnen des Lasters sein, und Geschmack und Tugend werden dabei gewinnen.

Ich habe manchmal gedacht, daß man gar wohl die wichtigsten Stücke der Moral auf dem Theater abhandeln könnte, ohne dadurch dem feurigen und reißenden Fortgange der dramatischen Handlung zu schaden.

Nicht Worte, sondern Eindrücke will ich auch aus dem Schauplatze mitnehmen. Das vortrefflichste Gedicht ist dasjenige, dessen Wirkung am längsten in mir dauert.

O dramatische Dichter! Der wahre Beifall, nach dem ihr streben müßt, ist nicht das Klatschen der Hände, das sich plötzlich nach einer schimmernden Zeile hören läßt, sondern der tiefe Seufzer, der nach dem Zwange eines langen Stillschweigens aus der Seele dringt und sie erleichtert. Ja, es gibt einen noch heftigern Eindruck, den sich aber nur die vorstellen können, die für ihre Kunst geboren sind und es vorauswissen, wie weit ihre Zauberei gehen kann, diesen nämlich, das Volk in einen Stand der Unbehäglichkeit zu setzen, so daß Ungewißheit, Bekümmernis, Verwirrung in allen Gemütern herrschen und eure Zuschauer den Unglücklichen gleichen, die in einem Erdbeben die Mauern ihrer Häuser wanken sehen und die Erde ihnen einen festen Tritt verweigern fühlen.« – –

38.

Als Swift über »Gullivers Reisen« brütete, schrieb er an Pope: »Ich habe ganze Nationen, ganze Professionen und Zünfte immer gehasset; meine Liebe gehet nur auf einzelne Personen. Zum Beispiel ich hasse die Zunft der Rechtsgelehrten, aber ich liebe den Rat N., den Richter N. N. So habe ich's [195] (von meiner eignen Profession nichts zu sagen) mit den Ärzten, mit den Soldaten, den Engländern, Schotten, Franzosen u.f. Vornehmlich aber hasse und verabscheue ich das Geschöpf, der Mensch genannt, obschon ich den Johann, den Peter, Thomas u. f. von Herzen liebe. An dieses System habe ich mich (unter uns gesagt) nun viele Jahre her gehalten und werde mich immer daran halten. Ich habe Materialien zu einer Abhandlung gesammlet, welche zeigen soll, daß man den Menschen unrecht durch ein vernünftiges Tier definiert und daß man bloß ein vernunftfähiges Tier setzen sollte. Auf dies starke und feste Fundament der Misanthropie (wiewohl nicht nach Timons Manier) gründet sich das ganze Gebäude meiner Reisen; und ich werde nimmer ruhig sein, bis alle ehrliche Leute hierüber meiner Meinung sind. Die Sache ist so klar, daß sie keinen Widerspruch leidet; ja, ich will hundert gegen eins setzen, daß Sie und ich in dem Punkte übereinstimmen.«

Diese Übereinstimmung war ein freundschaftlicher Wahn oder ein Kompliment, das der von seiner Meinung durchdrungene Swift sich selbst machte. Pope schien ihm recht zu geben, äußerte aber zugleich, daß er Maximen schreiben wollte, die Rochefoucaults Grundsätzen insgesamt entgegengesetzt wären, wogegen Swift in noch härteren Ausdrücken den »Rochefoucault« als seinen Liebling, in welchem er seinen ganzen Charakter gefunden, heftig in Schutz nimmt.

Bei Swift nämlich war diese Menschenfeindschaft nicht witzige Laune, sondern ein bittrer Ernst, wie seine Schriften, wie sein Leben es zeiget. Er hatte einen so tiefen Groll gegen die menschliche Gesellschaft gefaßt, daß selbst seine Meschenfreundschaft, seine strenge Sorge für die von der Natur und dem Staat verwahrloseten Unglücklichen sich in dies rauhe Gewand kleidete; er schien ein Zuchtmeister, auch wenn er ein wohlwollender Freund war.

Es hieße, Worte verschwenden, wenn man über das von Swift aufgestellte Paradoxon in der Form disputieren wollte; jedermann siehet, was in ihm wahr oder übertrieben sei.

[196] Eine andre oft aufgeworfene Frage, ob es besser sei, von den Menschen zu gut oder zu schlimm zu denken, d.i. den Menschen zu schmeicheln oder sie mit Schärfe zu behandeln, führt, wie mich dünkt, ihre Auflösung auch mit sich. Man muß keins von beiden, und eben hierin bestehet die Philosophie und Kunst des Lebens. Alle Übertreibungen sind ebenso unwahr als schädlich; meistens fallen sie auch zusammen und lösen einander auf. Young z.B., der in seiner Schrift »Über die Originalwerke« den armen Swift heftig und in der Gestalt des Menschenfreundes selbst menschenfeindlich angriff, hat sich gegen das von ihmverehrte Geschlecht ebenso versündigt, da er ihm in seinem jetzigen Zustande die Würde des Seraphs anschmeicheln, als Swift, da er es zum Yahoo erniedrigen wollte. Jener, um sein System zu verfolgen, ward gezwungen, den Lorenzo zu einem Teufel zu machen, damit der erdichtete Engel in sein Licht träte; dieser mußte seine vernünftigen Pferde mit allen Vollkommenheiten schmücken, die er doch nur im Menschengeschlecht kannte. Dem guten Rousseau ist es in seinen Übertreibungen nicht anders gegangen; in der Phantasie ein Idealist fürs Gute, mußte er in einzelnen Urteilen und im Betragen des Lebens ein leidendes Kind werden.

Zwischen zwei Äußersten gibt es keinen andern Weg der Vernunft und Rechtschaffenheit als die Mittelstraße Man sage soviel Gutes, man schreibe soviel Böses vom Menschen, als man wolle; lediglich kommt's auf den Gebrauch an, den man von beiderlei Urteilen macht, wie man sie durch tätige Güte und Weisheit zusammen vereinet.

Das edlere Schauspiel der Griechen hatte zum Zweck, zwischen beiden Extremen eine weise und tugendhafte Mitte im Menschen zu befestigen; o hätten wir Menanders und Philemons Schauspiele! Die übriggebliebenen wenigen Stellen und Sprüche zeigen, daß in ihnen der Mensch von allen Seiten betrachtet und zur Lehre aufgestellet worden, wie es denn auch Terenz, der halbierte Menander, klar an den Tag leget:


[197] Sprüche aus Philemon


Beschwerlich ist ein unverständiger
Zuhörer; vor dir sitzend, tadelt er
Aus Torheit nie sich selbst.
Viel leichter, eine Krankheit, als den Gram ertragen.
Der Seele Kummer wird durch Rede leicht.
Wer unter uns dort außerhalb der Stadt
Der Menschen Gräber sieht, der sage sich:
Auch jeder dieser sprach einst zu sich selbst:
»Ich werde, wenn die Zeit kommt, schiffen, pflanzen,
Die Mauer brechen und besitzen.« Jetzt
Besitzen sie ein Grab.
Ihr Götter, welch ein wohlgeartet Tier
Ist eine Schnecke. Kommt auf ihrem Gange
Sie einem bösen Nachbar nah; sie hebt
Ihr Haus und wandert weiter. Darum wohnt
Sie sorgenlos, weil sie die Bösen immer flieht.
Er ist ein Knecht, hat aber Fleisch und Blut
Wie du; denn keiner ward durch die Geburt ein Knecht;
Unglücklich Schicksal macht zum Sklaven nur.
Ein böser Diener wird der Strafe nicht entgehn;
Du aber sei der Strafe Büttel nicht.
Dein Wort, o Freund, hat deine schöne Tat
Geschmäht; des Reichen Tat hat Bettlers Wort vernichtet.
Rühmst du die Gabe selbst, die du dem Freunde gabst,
So warst in Taten du ein Feldherr und im Wort
Ein Mörder.
[198]
Sprich nicht: »Das will ich geben.« Denn wer spricht,
Der gibt noch nicht und hindert andrer Gaben.
Mit rechter Unterscheidung gib und nimm.
Das kleineste Geschenk, es wird das größeste,
Wenn du's wohlmeinend gibst.
Den Armen haß ich, der dem Reichen schenkt;
Er schilt das Glück, die Unersättliche!
Sei einem Alten, der da fehlt, nicht hart;
Ein alter Baum ist zu verpflanzen schwer.
Im Alter kommt der Reichtum uns zugut,
Er führt den Alten glücklich an der Hand.
Was grämest du dich, Freund? Du weißt es ja,
Daß, eben wenn das Glück den Menschen lacht,
Zu jedem Unglück es die Pforte finde.
Auch über keines Unglück freue dich;
Denn alles mischt und kehrt das Schicksal um.
Nie schilt das Glück. Du weißt, zu böser Zeit
Gehn auch der Götter Sachen selbst nicht wohl.
Gesundheit ist mein erster Wunsch; der zweite
Glück im Geschäft; der dritte Freude; dann
Noch einer: Keinem je verpflichtet sein!
Erst sieht, bewundert, dann betrachtet man
Und fällt in Hoffnung und zuletzt in Liebe.
»Sag an, wie soll ich Gott gedenken mir?«
Daß er, der alles sieht, unsichtbar sei.
[199]
»Was machst du, Syra? Wie befindst du dich?«
Kannst du noch also fragen einen Greis?
Ein Greis ist nimmer wohl. Man sagt mit Recht,
Und kann es sagen: »Auch der Tod ist gut.«
»Was ist es denn? warum will er mich sehn?«
Ist's, wie die Kranken, wenn der Schmerz sie quält
Und sie den Arzt erblicken, besser sind?
So der Betrübte: siehet er den Freund
Nur neben sich, gleich lindert sich sein Gram.
Auf Erden lebt kein Mensch, nicht einer lebt,
Der Böses nicht erfuhr, wie? oder noch
Erfahren wird. Nur wer, was ihm begegnet,
Aufs leichtste nimmt, nur der ist weis und glücklich.
Erkenne, was der Mensch ist, und du wirst
Doch glücklich sein. Hier hörst du einen tot;
Dort ist ein anderer geboren; diese
Gebar nicht, jenem ging es übel; der
Hat Husten, jener weint. Das alles bringt
Die Menschheit mit sich; fliehe nur den Gram.
Viel Unglück ist in vielen Häusern, das,
Wenn man es gut erträgt, uns Gutes bringt.
Der Menschen viele machen sich das Übel
Noch größer, als es ist. Dem starb ein Sohn;
Dem eine Mutter; dem, beim Jupiter!
Gar ein Verwandter. Nähm er's, wie es ist,
So starb ein Mensch. Das ist an sich das Übel.
Nun aber ruft er aus: »Das Leben ist für mich
Kein Leben mehr! Er ist dahin! Ich werd ihn
Nie wieder sehn!« Er sieht den Unglücksfall
Allein in sich und häuft auf Übel Übel.
Wer alles mit Vernunft betrachtet, wie
[200]
Es an sich selbst und nicht für ihn nur sei,
Empfängt das Glück und hält das Unglück fern.
In Traurigkeit sein selbst noch Meister sein:
Dies ist's, was mich erhält und was den Menschen macht.
Wir armen Menschen! Unser Dasein ist
Ein Leben ohne Leben. Meinungen
Beherrschen uns, seit wir Gesetze fanden,
Der Vor- und Nachwelt Meinungen. Wir suchen
Dem Übel zu entgehn und finden uns
Zum Übel Vorwand.
Wer, was er sagen soll, nicht saget, der
Ist immer lang und spräch er nur zwei Silben.
Wer gut sagt, was er saget, ob er viel
Und lang auch spräche, der spricht nie zu lang.
Sieh den Homer. Er schrieb viel tausend Worte,
Und wem schrieb er zuviel?
Wenn, was wir haben, wir nicht brauchen und,
Was wir nicht haben, suchen; ach, so raubt
Das Glück uns jenes, dieses wir uns selbst.
Gerecht ist nicht, der niemand unrecht tut;
Der ist's, der unrecht tun kann und nicht will.
Nicht der, der kleinen Raubes sich enthält;
Der ist's, der großen Raub mit Mut verschmäht,
Wenn er ihn haben und behalten kann.
Nicht der ist's, der dies alles nur befolgt,
Der ist's, der ungeschminkten, reinen Sinns
Sein ein Gerechter und nicht scheinen will.
So viele Künste es, o Laches, gab;
Kein Lehrer, alle lehrte sie die Zeit.
Nicht Körper nur; es wachsen mit der Zeit
Auch Dinge!
[201] Endlich den Hauptspruch:
Ανϑρωπος ων, τουτ' ισϑι και μεμνησ' αει.
Du bist ein Mensch; das wiß und denke stets daran.

39.

Neben den Griechen ist schwer zu stehen, und doch haben auch wir Stücke, die neben ihnen stehen können und dürfen.


Menschentugend


Die Ohren und die Herzen willig her,
Ihr Menschen! Euer Gott hat mich gelehrt,
Was Tugend sei; ich lehr es, Menschen, euch!
Dem Nackenden von zweien Linnen eins
Um seine Blöße selbst ihm schmiegen und
Von zweien Broten eins dem Hungrigen
Darreichen und aus seinem Quell dem Mann,
Der frisches Wasser bittet, einen Trunk
Selbst schöpfen, flöss' er noch so tief im Tal.
Ihr, meine liebe Menschen, Tugend ist:
Dem Hülfedürftigen zuvor mit Gold
Und Weisheit kommen; seine Seele sehn
Und seinen Kummer messen; und sich freun,
Daß etwa Gold und etwa Weisheit ihn
Der Freude wiederbringen; ihn auch nicht,
Wer seines Kummers Überwinder war,
Erfahren lassen.
Menschen, Tugend ist:
Und wenn die Bösen alle gegen euch
In ihrer Bosheit wüteten und sich
[202]
Verschworen hätten alle gegen euch,
Von Menschenliebe nicht zu Menschenhaß
Hinübergehen; immer, immer gut
Den Bösen sein; dem undankbaren
Mann Exempel werden edler Dankbarkeit.
Ihr, meine lieben Menschen, Tugend ist:
Dem Gotterschaffenen Erhalter sein,
Lebendigen das Leben fristen, rohen Stoff
Umwenden, so daß er durch euren Fleiß
Einst Leben zu dem Leben bringen muß.
Ihr, meine lieben Menschen, Tugend ist:
Die Summe jedes Guten, welches Gott
In seine Welt gelegt, an seinem Teil
Vermehren, wenn und wo und wie sie nur
Vermehret werden kann. Vermehrest du
Die Summe dieses Guten, dann, o dann
Sei König oder Bettler, du gefällst
Dem Schöpfer alles Guten, deinem Gott.
Du willst ihm nicht gefallen? wie? du willst
Des Guten Summe nicht vermehren? willst
Des Bösen, welches Gott in seiner Welt
Zum Guten lenkt, Vermehrer sein? Sei es!
Du wirst dich schämen einst und es bereun.

So unser Gleim in seinem »Halladat oder Roten Buche,« dem wir jetzt lieber einen andern Namen geben wollen; es enthält Blätter zum echten Koran der Menschengüte. Und dieser Lehrer spricht nicht nur, er tut auch also.

[203][205]

Vierte Sammlung

(1794)


[205][207]

40.

Neulich lernt ich in der Gesellschaft unsrer Unsichtbar-Sichtbaren 29 einen besondern Mann kennen, der sich Realis de Vienna nannte. Er nahm es als Deutscher mit allen Ausländern um den Preis der Wissenschaften und des Verstandes auf und tadelte mehrere Schriftsteller Deutschlands, daß sie die Ehre ihres Vaterlandes zu sehr verkannt, Fremde zu sehr gelobt, ihnen nachgeahmt, geschmeichelt haben. – Doch Sie sollen seine Behauptungen selbst hören:

»Deutschlands Vorzug bestehet in diesen vier Stücken, daß es nach der langen Nacht der dicken Unwissenheit die ersten, die meisten, die höchsten Erfinder gehabt und in 900 Jahren mehr Verstand erwiesen als die übrigen vier Meistervölker zusammen in 4000 Jahren. Man kann mit Wahrheit sagen, Gott habe die Welt durch zwei Völker klug machen wollen, vor Christi Geburt durch die Griechen, nach Christo durch die Deutschen. Die griechische Weisheit kann man das alte Vernunfttestament, die deutsche das neue nennen.«

»Durch zwei Stücke wird vornehmlich ein Volk herrlich, durch Ehrliebe und Verstand zusammen; Tapferkeit und alles andre, was dazu hilft, muß durch jene zwei eingerichtet werden; aus ihnen kommt Reichtum und Macht, aus allen miteinander endlich Ruhm, den alle Welt sucht. Die Deutschen sind aus Mangel der Großmütigkeit und Landesliebe, die übrigen Europäer (außer den berühmten fünf Hauptvölkern [207] aus Mangel der Erfinder und großen Weltweisen zurückgeblieben.«

»Verachtung kommt aus Feigheit, Niedertracht oder Dummheit; jede allein kann arm, ohnmächtig und verachtet machen Verstand aber allein oder Großmütigkeit allein machen nicht berühmt; sie müssen zusammen sein.«

»Aus Wahn von der ausländischen Klugheit fließt die deutsche Niederträchtigkeit; oder ist sie schon in uns, so wird sie greulich vermehrt und verhärtet. Hierauf folgt die unsinnige Äfferei, hieraus die Verstandesverfinsterung, Jugend- und Zeitverlust, die Schwindelreisen, die Geldverschleuderung und deutsche Armut, fremder Nationen Reichtum, ihre Macht, Stolz, Trotz, ihre Verleumdungen und der Deutschen Verachtung, das Märchen von der deutschen Dummheit, unsre Bettelei, daß wir der Ausländer Lohnsoldaten heißen, stetiges Kriegen und Blutvergießen, da wir auf unsre eigne Unkosten gepeitschet werden, Verlust so vieler Länder und Städte, Verlust der deutschen Vertraulichkeit, Aufrichtigkeit, Glückseligkeit, mit Vertauschung der hochgeachteten fremden Sitten, Lüderlichkeit und Blindheit. Alles dies hängt aneinander am Märchen von der ausländischen Klugheit und deutschen Einfalt.«

»Dies Märchen scheuet man sich ins Licht zu setzen wegen der angeerbten sklavischen Niedertracht, wegen Mangel der Wahrheitliebe, Seltenheit des gesunden Urteils, endlich aus Mangel der Geschichtkenntnis. Man begnügt sich mit Widersprechen, Wehklagen, Seufzen und Betteln: die Ausländer möchten uns doch mit in ihre Gesellschaft nehmen, wir gehörten auch unter die fünf klugen Jungfern u. f. Dies beweiset man, statt Erfinder anzuführen, mit Schulmeistern, Pfarrern, Sprachkünstlern und geduldig schwitzendem Volk, welche Fleiß für Verstand halten, mit Stopplern und Ausziehern, woraus eben die Ausländer unsre Dummheit beweisen wollen. Wir haben nicht einmal das Herz, unsre Erfindungen wider die Ausländer zu verteidigen; sobald sich derselben eine einer zuschreibt, so ist's damit aus, sie ist verloren.«

[208] »Was geht mich ein hochbegabt Volk oder der tugendhafteste Mensch der Welt an, wenn er mich schändet? Ich habe die Briefe von seiner Tugend, wenn er mich verleumdet. Tugend muß man zwar auch am Feinde loben, wo es der Wahrheit Ehre fodert; sonst aber muß man von seines Feindes Tugend stillschweigen, sonderlich wo sein Lob uns Schaden bringt. Doch wird ein Tugendhafter hochbegabte Leute nimmer schimpfen.«

»Bescheidenheit wird nur gegen ehrliche Leute erfordert; Irrende muß man unterrichten, nicht schimpfen mit harten Worten; Bosheit aber muß mit Beschämung gestraft werden, Unterricht hat da keine Statt. Will man vorsetzliche Bosheit ehrerbietig unterrichten, den Wolf bitten, die Schafe nicht zu fressen, so wird Bosheit durch die Ehre gestärkt und andre zu gleicher Bosheit gereizt; ›bonis nocet, malis qui parcit‹.«

»Wie unzeitige Barmherzigkeit der ärgste Grimm ist, so stiftet unzeitige Ehrerbietung weit mehr Unglück als unnötiger, allzu großer Zorn. Der Päpstler mörderischer Eifer hat mit Geißeln, Martern, Brennen die Welt nicht so verderbt als die heimliche Herrschsucht der bescheidnen Höflichen, der heiligen Heuchler tückische oder dumme Sanftmut. Wie die abgedroschne Predigt von der Freiheit eine Eitelkeit ist, so ist's mit dem Senf der Bescheidenheit ein herber Betrug, daran ein Aufrichtiger sich nicht kehret. Den Betrüger einen Betrüger zu nennen gehört nicht nur zur Aufrichtigkeit, sondern auch mit zur Freiheit; es ist eine notwendige Sache.«

»Unsre Ehrenretter, wenn sie am eifrigsten sind, werfen den Franzosen die lächerlichsten Kindereien vor, die gar nichts bedeuten. Also, wenn sie ihnen heftig wehe tun und sie mit Vorhaltung grober Fehler recht demütigen wollen, so zählen sie her, wie hie und da ein Franzos Wittenberg, [209] Altdorf, Rostock nicht gekannt und diese Städte für Personen gehalten. Nun ist zwar der Fehler grob genug, immittelst weil solche Unwissenheit aus Stolz und Verachtung unser herrührt, warum wollen wir damit ihre Dummheit beweisen? Ihre Sachen wieder verachten, nicht bewundern, anbeten, geschweige für Millionen kaufen, ihnen Urteil- und Sinnigkeitfehler, Erfindungsmangel und Dieberei vorhalten, war die rechte Rache; diese kann demütigen. Wie werden wir sie damit demütigen, woraus sie Ehre suchen, nämlich aus Verachtung der deutschen Sachen, woran wir selbst schuld sind, weil wir unsre Sachen selbst verachten.«

»Die Ausländer halten's für den ärgsten Spott, uns etwas nachzutun, das hernach an ihnen unser hieße, viel weniger werden sie es mit Prahlerei tun und uns dabei herausstreichen. Nehmen sie etwas von uns an, so tun sie es verstohlen, schämen sich der Annehmung und Nachahmung und leugnen, daß es unser sei, mit Zorn und Gift. Und der Deutschen Ehre soll die Affenkunst der Nachahmung sein und bleiben?«

»Lernen ist eigentlich der Kinder Amt und Eigenschaft, daher Kinder der Strafe unterworfen sind; sie müssen gehorchen. Erwachsnen Leuten ist's gar unanständig, lernen sollen, was sie selbst können sollten; weit unanständiger aber ist in einem ganzen Volk, einem andern Volk zu gehorchen. Nachahmen gehört entweder zum Lernen oder zur Knechtschaft.«

»Der Schüler ist allezeit unterm Lehrmeister, der Erfinder hat die Ehre vorm Nachmacher; Erfindung macht Naturherrn, Nachahmung Naturknechte.«

»Wenn ein ganz Haus mit allen Hausgenossen, alt und jung, sich gegen seinen Nachbar so anstellte, der Mann ahmete dem Nachbar, die Frau der Nachbarin, Töchter, Söhne, Knechte, Mägde ahmten den Töchtern Söhnen, Knechten, Mägden des Nachbars nach, würde nicht die ganze Stadt sagen: ›Das Haus ist voll Narren, die drin wohnen, sind alle unsinnig?‹ Und trieben sie die Haserei nur aus Unbedachtsamkeit, würden nicht alle Kinder auf der Gasse von diesen[210] tollen Klugen als Nichtswürdigen zu reden wissen? Was würde man aber sprechen, wenn diese Nachahmer den ersten noch Geld dazu geben, daß sie derselben Narren sein dürften? Von einem ganzen Lande nun ist es noch niedriger.« – –

In dem Ton sprach Realis de Vienna weiter. Er zeigte, daß die Nachahmung, zumal der Franzosen, den Deutschen schädlich und verderblich sei; durch sie versaure und verroste der Verstand, man versuche nichts und verzage an eignen Kräften. Mit Nachahmung sein die welsch-französischen Laster zu uns gekommen. Wir hätten das Nachahmen nicht nötig; ja, man müßte den Deutschen auch in nützlichen Dingen die Äfferei nicht zulassen, weil keine Grenze be stimmt werden könne, was, wieviel, wieweit nachzuäffen sei. Der Deutsche sei beim Nachahmen ungeschickt u. f. – Was dünkt Ihnen zu diesem Autor?

41.

Realis de Vienna ist keine erdichtete Person. Er lebte zu Anfange unsres Jahrhunderts, da die Kultur der höheren Wissenschaften durch Leibniz auch in Deutschland neuen Platz gewann; zugleich aber hatte sie damals mit dem elendesten Pedantismus der Hof- und Schulhasen (wie Realis sie nennt) zu streiten. An Höfen blühete eine französische Galanterie, von der wir uns kaum noch einen Begriff machen können; einige Schulpedanten wollten den Hofgecken nachahmen, so entstand die talandrische, die menantische, die weisische Schreibart. Der verdienstreiche Christian Thomasius selbst konnte sich diesem sinkenden Boden nicht entziehen und ward in manchem ein Hofphilosoph, allerdings nicht im besten Geschmack. Die Literargeschichte, die damals auch im Gange war, hinkte dem allgemeinen Geschmack nach, schmeichelte den Ausländern; der Schall von Ludwig XIV. hatte die Welt erfüllet, und in den deutschen Glocken sausete er in massiverem Ton um so länger nach.

Da erkühnte sich nun dieser Realis de Vienna, den Hof- [211] und Schulfüchsen deutscher Nation entgegenzusprechen, und schrieb eine »Prüfung des europäischen Verstandes durch die weltweise Geschichte«. Er schrieb sie; ich zweifle, daß sie je gedruckt worden. Das Manuskript muß sonderbare Schicksale gehabt haben; denn in der vorliegenden Schrift »Nachricht von Realis, de Vienna Prüfung« werden sonderbare Umstände lautbar. Die Handschrift (so sagt der Verfasser) sei 21 Jahre umhergegangen, seitdem sie Prof. Adam Rechenberg in Leipzig (Christian Thomasens Schwager) dem Buchführer im Jahr 1693 entführet. Dieser habe sie unter seinen Bekannten herumgeschickt, andre auch von dieser Sache zu schreiben angereizt, endlich sie Reimannen übergeben, der den Kern seiner Literaturgeschichte Deutschlandes ganz, aber äußerst kraftlos und unvollständig aus diesem Werk genommen und nur die elenden kindischen Schalen dazu getan habe u.f. Auch Kasimirs »Kanonik,« glaubt er, sei aus seiner sogenannten »Vernunfterstattung« gezogen u.f.

So anmaßend dies alles klingt, um so mehr verdiente das Werk und die Behauptung des Verfassers Aufmerksamkeit und Prüfung. Was er über Reimanns Geschichte, über Thomasius' »Hofphilosophie,« über den Streit zwischen Leibniz und Newton, über den Ursprung der Journale, die Sprachenmischerei, über die Nachahmungssucht und Demut der Deutschen gesagt hat, ist jetzt unser aller Urteil. Die Zeit hat dar über entschieden, und dieser unbekannte Gabriel Wagner 30 (ein Magister der Philosophie aus Quedlinburg, der viele Universitäten besucht hatte und in seinem Leben zu nichts kommen konnte) ist in mehreren Urteilen seiner Zeit so mächtig vorgeschritten, daß man es bewundert, wie sehr die Stimme der Wahrheit oft aufgehalten werden könne und wie langsam die Zeit schleiche. Seine »Prüfung des europäischen Verstandes« (der Beschreibung nach ein ausführliches Werk) muß seinem Inhalt nach um so merkwürdiger sein, da er nicht etwa nur die Hof- und Schulfüchsereien verachtet, [212] sondern auch den reellen Wissenschaften, der Mathematik, Philosophie, den höheren und nützlichen Erfindungen der Völker seine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben scheinet. Wenn also seine unterdrückte Handschrift sich irgendwo noch auffände (und ich zweifle daran um so weniger, da sie durch viele Hände gegangen ist und wahrscheinlich mehrere Abschriften veranlaßt hat), so wäre, mit Auslassung alles dessen, was für uns nicht mehr dienet, eine geläuterte Bekanntmachung derselben zu wünschen. In der Nachricht, die vor mir liegt, wurde das Werk bei Frobösen in Greifswalde liegend angezeigt und jedermann aufgefodert, es mit Verlag oder andrer Hülfe zu befördern; die damaligen Lichter Deutschlands mochten dieser Beförderung nicht hold sein, und so blieb es begraben. Mir wäre es kein unangenehmes Postpaket, wenn mir eine Fee dies irgendwo gewiß totliegende Mskr. oder eine Nachricht davon zuschickte.

Denn außer dieser »Prüfung des europäischen Verstandes« gedenkt der Verf. noch einer andern Schrift: »Geheimstube oder Velledenblätter,« 1692 in vier Büchern entworfen, deren Inhalt in manchem sonderbar genug ist.


A. Die Vernunfterstattung (die Europäer von der Viehheit, Quackerei und Aberglauben wieder zur Menschheit zu bringen und ihnen die fünf Sinne zu erstatten). Statt der Kapitel zeichne ich bloß einige Grundsätze aus:

1.{ } Es gibt Gewißheit; der Mensch kann viel Wahrheit wissen.

2.{ } Alle Gewißheit und Klarheit kommt aus rein mathematischem Grunde.

3.{ } Zur Wahrheitforschung braucht's keiner ersten allgemeinen Wahrheitsquelle (keines principii primi).

4.{ } Wahrheit ist heilsamer als Erdichtungen. (Diese Aufgabe, sagt Wagner, mit ihren Beifügungen ziehet ungewöhnliche neue Sätze nach sich und ist der Grund fast einer neuen Weltweisheit, die den Descartes, Hobbes, Spinoza, Pufendorf, Leibniz verbessert.)

[213]

5.{ } Aus Wahrheit folgt nimmer Unwahrheit, aus dieser nimmer Wahrheit.

6.{ } Alle Unwahrheit kann widerlegt werden, sie sei so subtil sie wolle.

7.{ } Der Wahrheit Tür, Ursprung und Boten sind die Sinne.

8.{ } Es ist nur eine Vernunft.

9.{ } Vernunft irrt nimmer. Klugheit und Wahrheitfindung entspringen beide aus der Natur, Gütigkeit und Übung, nicht aus Lehrsätzen und Unterricht. Diese sind ein äußerlich geringer Vorteil und Erleichterung dazu, geben aber weder Wahrheit noch Verstand. Wenn man sie für unentbehrlich ausgibt, sind sie der Schulfüchserei Merkmal.

10.{ } Der Mensch ist nicht vernünftig, doch nicht ohne Vernunft.

11.{ } Des Menschen Vorzug vorm Vieh ist allein die Vernunftdämmerung.

12.{ } Der Wille beherrscht den Menschen in allem, die Vernunftdämmerung in nichts.

13.{ } Sinne verführen; Aufrichtigkeit und Vernunftdämmerung sind die innern Mittel zur Wahrheit.

14.{ } Die Natur ist nicht verderbt, nicht Gottes Feindin. Sie ist Gottes Buch, der Vernunftschein Gottes Licht; nach ihnen muß man alles erklären.

15.{ } Aberglaube ist kein Mittel zur Wahrheit.

16.{ } Naturkünste machen aufrichtig, Schulkünste stolz und grausam.

17.{ } Man soll alles, so viel möglich, nach der Natur erklären.

18.{ } Lust zu Natursachen ist ein Merkmal der Großmütigkeit.

19.{ } Stolz und Dummheit sind aller Laster und alles Unglücks Ursach.

20.{ } Weisheit besteht nicht in Eigennutz; ihr Ziel ist eigentlich allein Wahrheit. (Ob aber Aufrichtigkeit allein mit Wahrheit ohne Nutz zufrieden sein soll und ob Wahrheit ohne allen Nutz sein könne, sei eine andre Frage.)

[214] 21.{ } Alle Weisheit beruhet auf vier Wissenschaften, alles andre, was zu selbigen nicht gehört, gehört zur Schulfüchserei.

22.{ } Die deutschen Handkünste zeigen Verstand, die ausländischen Fleiß, Geduld, Geiz und Stolz.

23.{ } Ein Unchrist ist kein Ungötter (Atheist).

24.{ } Viele Leute, insonderheit die Gelehrten, merken ihre eigne Bosheit nicht, viel weniger ihre Dummheit.

25.{ } Einer siehet oft mehr als alle Schulen und das ganze Land.

26.{ } Lehre artet den Verstand; den Willen greift sie nicht an.

27.{ } Lehren ist nötig, auch beim stoischen Glauben.

28.{ } Der mathematische Lehrweg ist nicht der beste; der werkkünstige Lehrweg allein findet die Wahrheit.

29.{ } Sittenlehrige Absichten verderben die Naturkundigung.

30.{ } Die Reisen in barbarische Länder sind nützlicher als in die Hasenländer zu den freundlichen Mördervölkern.


II.{ } Der Naturglaube.


III.{ } Der Schulen Papsttum.


IV.{ } Umbildung der Staatskunst nach folgenden Grundsätzen:

1.{ } Gegen Natur- und Staatskünste sind alle andre Künste Kinderpossen; die Naturkundigung ist aller andern Künste Meer und Kaiserin.

2.{ } Äußerliches oder Hofsittenwerk ist Wahnwerk, ein frei willkürlich Werk; was man für schön und häßlich setzt, ist schön und häßlich.

3.{ } Das Märchen von der Ausländer Klugheit und Deutschen Dummheit ist allein aus der Deutschen Geduld und der Ausländer Prahlerei entstanden.

4.{ } Man kann fast sagen, daß weder Liebe, Geld noch Stolz so stark sei als der Deutschen Geduld und Demut. Der Gemütsunadel löscht in uns die Mensch heit, die allgemeine Empfindnis, Selbstliebe und Selbsterhaltung ganz aus.

[215] 5.{ } Angenommene Großmütigkeit würde das ganze Märchen in zehn Jahren umkehren.

6.{ } Verstandesehre geht über alle Ehre, ist aller andern Ehre Grund, also nicht in den Wind zu schlagen.

7.{ } Eines Volks Ehre hängt großenteils an seiner Muttersprache; diese ist der Landesehre Fuhrwerk. Über sie muß man schärfer halten, über ihre Reinigkeit mehr eifern als über der zartesten Liebsten Ehre.

8.{ } Mit Landsleuten muß man's, als mit Verwandten seines Geschlechts, nicht genau nehmen, gegen Ausländer alles hoch spannen u.f.

Ein Wort noch von der Deutschen grandezza, vor welcher der Gegner unsres Realis seine Landsleute warnen wollte. Realis sagt dagegen:

»Die Deutschen, die gutherzigen Zigeuner, die armen Affen, die ewigen Schüler, von der grandezza wollen abhalten ist ärger, als die Schafe vom Grimm, die Pferde vom Fleischfressen abmahnen. Mahne die Spanier von der grandezza, die Italiener von der Herrschsucht, die Franzosen von der Prahlerei ab; mit den Deutschen darfst du dich nicht bemühen. Der Mangel nötiger grandezza oder Ehrliebe ist eben die vornehmste Ursach des übeln deutschen Namens.«

»In Deutschland wohnt aller Verstand außer Schulen; bei den Ausländern zuweilen in Schulen. Bei diesen sind oft die Gelehrten die Klügsten; in Deutschland ist's umgekehrt. Das Volk ist sinnreich, fast allein, obwohl nicht allezeit; die Vornehmen sind schulfüchsisch, prangen mit statu quo und sind selten klug.«

Ich lege das Buch bei und bitte, daß Sie die Jahrzahl nicht unbemerkt lassen. Es ist 1715 gedruckt, mich wundert, daß, da die Schriften, die es ankündigt, zwanzig Jahre vorher geschrieben waren, Leibniz unsers sonderbaren Autors nirgend erwähnet.

[216] 42.

Verzeihen Sie, daß ich Ihren Realis de Vienna nicht auf einen so tragischen Fuß nehme, als er in den Bedrängnissen seines mühseligen Lebens den Ton anstimmte. Sollten wir umsonst ein Jahrhundert später leben, in welchem sich manches entwickelt hat, das er nicht wissen konnte?

Man sagt gewissen Landsleuten nach, daß, ehe sie ihre Landsmannschaft nennen, sie ein Entschuldigungskompliment vorbringen, daß sie die sein, die sie sind. Unser Autor wird das für niederträchtig halten; wenn es indes gegen stolze Nationalverwandte gesagt würde, so möchte hinter dieser Demut ein Spott liegen, dem ich fast beiträte. Unter allen Stolzen halte ich den Nationalstolzen sowie den Geburts- und Adelstolzen für den größesten Narren.

Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern sowie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen und, wenn es eine bloße Meinung von Seelenkräften oder Verdiensten gilt, für diese Dulcinea gegen andre Nationen den Speer brechen? Lasset uns, soviel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch verteidigen sollen wir sie, wo man ihr unrecht tut (in welchem Falle damals unser Verfasser war); sie aber ex professo preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung.

Wir Deutschen wollten uns mit den Griechen vergleichen? Und welches wäre der genau bestimmte, der unverfälschbare Maßstab? Und wer wäre der unparteiische Richter?

So auch mit andern Nationen. Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt; auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege, wachsen verschiedne Früchte. Wer vergliche diese untereinander oder erkennete einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu?

Vielmehr wollen wir uns wie der Sultan Soliman freuen, daß auf der bunten Wiese des Erdbodens es so mancherlei Blumen und Völker gibt, daß diesseit und jenseit der Alpen [217] so verschiedene Blüten blühn, so mancherlei Früchte reifen! Wir wollen uns freuen, daß die große Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt diese, jetzt andre Gaben aus ihrem Füllhorn wirft und allmählich die Menschheit von allen Seiten bearbeitet.

Denn es scheint sowohl geistige als physische Notwendigkeit zu sein, daß aus der Menschennatur mit der immer veränderten Zeitfolge alles hervorgelockt werde, was sich aus ihr hervorlocken läßt. Mithinmüssen mit der Zeit Kontrarietäten ans Licht kommen, die sich endlich doch auch in Harmonie auflösen.

Offenbar ist's die Anlage der Natur, daß wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: »Kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garte des gemeinen Bestens von allen gebannt werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.«

Den Deutschen ist's also keine Schande, daß sie von andern Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunfttestament, wie der Autor die Weisheit der Griechen nennt, ist gewiß nicht verjährt, noch durch die Weisheit der Neuern unkräftig gemacht worden.

So darf sich auch kein Volk Europas vom andern abschließen und töricht sagen: »Bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit.« Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele, sie erfüllt alle Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen; belebend, ja selbst neuorganisierend, dringt sie aus allen in alle Körper.

Hätte Realis nötig gehabt, den Deutschen so oft unzeitige Geduld, ja Niederträchtigkeit schuld zu geben, wenn die Großmut, die er zu ihrem Vorzuge machen will, ihr eigenster Charakter wäre? Kann jahrhundertelang ein Volk seinen Charakter dergestalt verkennen, daß es beinah immer im entgegengesetzten handelt? Lasset uns nicht sagen: »Hindernisse [218] haben ihn unterdrückt.« Im weiten Inbegriff der Zeit kennt ein Volk keine unübersteigliche Hindernisse; es muß zu dem gelangen, was es sein soll.

Käme das Mskr., wovon wir reden, in unsre Hand, so würde es dadurch am meisten belehrend, was wir nach Ablauf eines Jahrhunderts in ihm ausstreichen oder hinzusetzen müßten. Wir würden sehen, wohin sein Verfasser den Kranz für Deutschland gesteckt und wiefern es währenddessen diesen oder einen bessern erreicht habe.

Das gefällt mir an unserm Autor, daß er, wenn auch mit Übertreibung, die Schulwissenschaften von den Lebenswissenschaften, die Naturkünste von Wortkünsten, den tüchtigen Verstand in Wirklichkeiten vom bloßen Fassonieren der Begriffe absondert. Wäre dieser Gesichtspunkt in seinem Werk scharf genommen und festgehalten, so hätten wir in ihm Materialien zu einer Geschichte des praktischen deutschen Verstandes, wie wir sie im ganzen verflossenen Jahrhunderte nur hie und da teilweise erhalten haben. 31

43.

Während Sie, m. Fr., um den Ruhm der Nationen wetteiferten, war ich in der Versammlung der blühendsten Völker der Erde. Alle standen friedlich nebeneinander, jedes Geschlecht, jede Art, jede Gattung in ihrem eignen Reiz und Charakter. Keine neidete, verfolgte die andre; unter dem blauen Bogen des weiten Himmels genossen alle das goldene Licht der Sonne, die Balsamkräfte der erquickenden Luft, des Taues und Regens. Als ich mit süßem Staunen sie ansah, sang eine Stimme:


Flora, dich feiert mein Hymnus, du schönste, doch seltner als deine
Schwestern, des hohen Olymps Bewohnerinnen, gesungen!
[219] Jauchzend gebar dich die Erde dem alten chaotischen Winter,
Dich, du Erstling und Stolz und Wonne der fühlenden Schöpfung.
Selig priesen sich einst in deiner Götterumarmung
Jupiter Pluvius selbst und Hyperions heilige Stärke.
Ihnen gebarst du Proserpinens Mutter und später Pomona,
Beide schön; doch schöner als beide die blühende Mutter.

Und eine andre Stimme antwortete:

Flora, du kleidest die Erde mit hellem smaragdnem Gewande,
Schön durchwebet und bunt mit Farben des himmlischen Bogens.
Prächtig glänzt in der Nacht der Sterne funkelnder Gurt hin,
Welcher den blauen Talar des alten Cölus umwallet;
Aber noch reizender geht am offenen Tage die Tellus,
Von dir, Flora, geschürzt mit leichtem Blumengehänge.

Und es war, als versammleten sich die Genien der verschiedenen Erdezonen. Eine Stimme sprach:

Zahllos ist die Menge der blumentragenden Pflanzen.
Die am säugenden Busen der allernährenden Mutter
Mit der oberen Fläche der vielgebildeten Blätter
Trinken der Sonne Licht, den nächtlichen Tau mit der untern.
Von den beschneiten Gebürgen der nordischen langen Polarnacht
Bis zur erdumgürtenden Zone des heißen Äquators
Ist kein Raum so gering im weiten Gefilde der Schöpfung,
Keine der Alpen so steil und keine der Steppen so sandig,
Daß sie nicht nähre Geschlechter der Pflanzen, der Lage geeignet.
Pflanzen überweben das Bett der Quellen und Ströme;
Andre nähret der Rhein und andre der Orellana.
[220] Selbst in den finstern Tiefen des erdumgürtenden Weltmeers,
Wo kein Orkan sie empört, wohin kein Blei je hinabsank,
Scherzen in weiten Fluren, umwallt von ragenden Hainen
Seltsam gebildeter Pflanzen, die Herden der Amphitrite.

Eine Schwesterstimme nahm das Wort auf:

Sterbliche haben gewähnt zu zählen die Kinder der Flora,
Ihre Geschlechter zu ordnen und ihre Namen zu nennen;
Zwar, wer hat sie besucht, der Ostwelt grünende Wüsten?
Wer die Quellen des Ganges und siebenarmigen Nilus?
Wer die geheimeren Fluren der Oceaniden des Aufgangs?
Ihre Gestade beschiffeten Wuchrer; der forschende Weise
Seltner. Und wer sah sie, die Kränze der Nereiden,
Wenn sie die grünlichen Locken umwinden im Schoße des Weltmeers.
Wer hat je die Flechten, wer hat die Moose gezählet,
Deren Frühling beginnt, wenn Fröste den Herbst entblättern,
Deren üppiger Wuchs die Scheitel ätherischer Alpen
Da, wo sie Flora verläßt, mit tausend Farben bekleidet?

Hier unterbrach eine sichtbare Szene die Unsichtbaren Ein Jüngling trat aus der Laube hervor und umwand das Haupt seines Lehrers mit einem Kranz von Blumen, die alle ihm geweiht waren und in der Geschichte der Pflanzen seinen unsterblichen Namen tragen. Er begleitete sie mit Worten der innigsten Herzensverehrung in den erlesensten Bildern und zog sich bescheiden zurück.

Und von neuem erwachten Gesänge von der Vermählung und der nach Jahrszeiten geordneten Entwicklung der Blumen. Menschenfreundliche Genien sangen also:


Flora, wo deine Hand mit hymenäischem Bande
Nicht im Lenz vermählte der Tellus zahllose Kinder,
Trauret umher die Natur in nahrungentbehrender Öde.
Wein- und gesanglos schleicht Autumnus; es darbet Pomona;
[221] Nichtiges Stroh entfaltet der Fackel des Sirius Ceres;
Traurig stehet der Hain, der chaonischen Eicheln entbehrend:
Denn es ergrauete schon im April die Hoffnung des Jahres.
Glücklich ist der Hirte, der durch gesicherte Habe,
Der, durch leitende Weisheit und Güte des Staates veredelt,
Lernte der Emsigkeit Wert und zukunftahnende Vorsicht.
Ihn ergreifen mit eisernem Arm des darbenden Jahres
Schrecken nimmer; es spendet ihm nicht, wie dem übrigen Zugvieh,
Schlechte, kärgliche Kost der unfreigebige Fronherr.
Ihn treibt nicht der Hunger aus tränenloser Despoten
Ländchen, aus Deutschland hin zu des fernen Astrakans Öden.
Siehe, der reiche Gewinn von tiefer geackerten eignen
Saaten und üppiger Wiesen sich stets erneuernder Kleewuchs
Blieb ihm von besseren Jahren. Er teilt den Überfluß willig
Mit dem hülflosen Volk angrenzender Sklavenländer;
Aber die Treue des Jahrs und der wiederkehrenden Monden
Milder Geschenk ersetzet ihm bald den vergessenen Mißwachs.

Eben, als ich noch wünschte, daß die Unsichtbaren diese Worte in aller Fronherren Herz singen möchten, weckte mich ein sanfterer Laut. Er sang die allmählich anbrechende Zeit des Blumenfrühlings:


Sieh! im wärmeren Strahle der rückwärtskehrenden Sonne
Freut sich die Blumengöttin bei ihrer Kinder Entwicklung,
Öffnet die Kelche der Blüten und schmückt die bräutliche Tellus.
Zwar es entfalten früher die Schattengewächse der Haine,
Eh sie das Laub bedunkelt mit seiner kühlen Umwölbung,
Ihre zärteren Blumen dem ersten Strahle des Lenzes.
Blaue Hepatika, dich und das herzerfreuende Veilchen,
Euch erziehn die Dryaden zu ihren frühesten Kränzen.
[222] Sie durchweben ihr Blau mit dem Golde des Frühlings-Krokus
Und mit den Silbersternen der Anemone der Haine;
Früher blüht der Helleborus, früh die duftendeDaphne,
Und der Aurikeln Geschlecht, verpflanzte Töchter der Alpen.
Aber die späteren Blumen verschließen die duftenden Glocken
Noch dem nächtlichen Froste, dem Störer ihrer Befruchtung.
Wärmere Lüft' umatmen den üppiger schwellenden Frühling;
Wenn, von den Horen umtanzt, der Wagen des Sonnengottes
Steileren Pfades rollt an dem hohen Bogen des Äthers,
Wenn in dem jungen Laube die Vögel sich alle begatten,
Wenn in den lauen Bächen sich paarend verfolgen die Fische,
Öffnen die Blumen sich auch der allbefruchtenden Liebe.
Bräutlich pranget im weiß- und rötlichen Kleide der Obstbaum,
Wärmende Sonnenblicke, sanft wechselnde Regenschauer
Überweben mit tieferem Grün, mit dichteren Blumen
Sonnichte Gipfel und duftende Wiesen, in welchen sich zahllos
Wankende Blumen mit Blumen, mit Gräsern Gräser vermählen.
Hymen herrschet im Hain; es neigen sich liebesehnend
Weibliche Blütenzweige zu männlich befruchtenden Ästen.
Siehe, der Tannenwald raucht! Es öffnet die feuchte Nymphäa
Über den Wellen den Schoß der zeugungfördernden Sonne.
Feuerfarbener Mohn und blütenbestäubter Weizen
Taumeln untereinander, verwebt mit blauen Cyanen;
Honigsuchende Bienen und laue Lüfte befördern
Ihren geheimeren Bund; doch keine der Arten verwirrt sich.

[223] Liebetrunken schlug die Nachtigall einzelne Töne in diese Beschreibung. Und sie fuhr fort, als eine andre Stimme die Vermählung der Blumen von denen Geschlechtern besang,


– bei denen dieselbe Korolle

In dem ambrosischen Bette voll Honigs und stärkender Düfte
Mit den befruchtenden Männern die weibliche Zeugungskraft einschloß,

bis zu jenen getrennten Geschlechtern, wo oft

Kaum erreichbar ist der Liebesbund der Getrennten.
Also entfaltet umsonst die weibliche, unvermählte
Palme die Blütentrauben in schattenentbehrender Wüste.
Aber der Araber holte, der schmachtenden Braut sich erbarmend,
Oft aus fernen Hainen befruchtende Palmenblumen.
Öfter bringt ein behaartes Insekt und auf goldgefleckten
Federn ein Kolibri, gebadet im Blumenstaube,
Die befruchtende Kraft des meilenentfernten Gatten.

Ernster wurden jetzo die Töne; liebreichwarnend und tröstend sangen die Genien von schädlichen und heilenden Kräutern:


Weise hast du, Natur, der Pflanzen Erzeugung geordnet,
Gütig und weise die Kräfte der erdeverschönernden Pflanzen.
Nicht der Schüler allein der rettenden Göttin Hygea
Kennt sie, die heilenden Kräfte der aromatischen Staude,
Fern am Ganges geholt und vom Haupte der Cordilleras
(Oft verkannt an Ufern der vaterländischen Bäche);
Sichrer weiß der Wilde die schmerzenlindernde Wurzel
Und den geheimeren Stand der fieberheilenden Rinde.
Aber er kennet sie auch, die tötenden Gifte der Pflanzen,
Kennt der Euphorbien Kraft und der giftigen Mancinella,
Die den geflügelten Pfeil mit dem schnellsten Tode bewaffnet.
[224] Friedlicher Hütten Bewohner! Die ländlichen Gärten umblühn auch
Tötende Kräuter zuweilen, vermischt mit nährenden Pflanzen.
Zwar es meidet das Vieh den Schierling, des Equisetum
Und der Cicuta Berührung; es meidet die Wiesenranunkel,
Durch den eignen Instinkt vorm herben Tode gesichert.
Aber zu oft verkannte der harmlos spielende Knabe
Falbes Stramonium, dich, und die Beere der Belladonna,
Der frühblühenden Daphne, der rankenden Dulcamara.
Tötet sorgsam, ihr Hirten, die Pflanzen; des blauenNapellus
Stauden, tötet sie auch und der vielarmigen Wolfsmilch.

Ebenso menschenfreundlich nannte die Stimme die bekanntesten heilenden Kräuter:

Heilend ist der Holunder an Früchten, Blüten und Rinde,
Sanft auflösend der Mohn und die rosenfarbnen Althäen.
Blaue Veronica, dich und die Kerze des hohenVerbaskum,
Des Taraxacon Gold, der wuchernden Graswurzel Aufguß,
Herber Zichorien Saft und des Löffelkrauts bittere Blätter,
Eure lindernden Kräfte verkennt der weisere Arzt nicht,
Sorgsam wählend; es sind des Bescheidneren Heilungsmittel,
Einfach wie die Natur, und Deutschlands Himmel erzeugt sie.

Der Inhalt dieser Gesänge dünkt mir so schön, daß ich Sie nicht zu ermüden fürchte, wenn ich Sie noch einmal davon unterhalte. Auf Wiesen und Auen, in Gärten und Feldern blühet der Menschen Gesundheit, Nahrung und Glück; da erholet, da erquickt sich die Seele. Ihr Realis hat recht: »Lust zu Natursachen ist ein Merkmal der Großmütigkeit. Naturkünste machen aufrichtig, Schulkünste stolz und grausam.«

[225] 44.

Von den heilenden Kräutern Deutschlands wandte sich der Genius des Menschengeschlechts zu Pflanzen, die die Natur jeder Zone, ihr angemessen, schenkte. Sie gab


– des Betels Gewächs den Völkern am Indus
Und die Rhabarber dem Tartar der kalten tungusischen Steppe,
Gab die Ginsengwurzel dem feuchten sinesischen Reisland,
Ließ die Dolde der Squilla kanopischen Sümpfen entblühen
Und in Balsamtränen zerfließen die Staude der Myrrha;
Schenkte dem armen Bewohner des reichen Potosi die Coca,
Ihm des Guajaks Gummi, den fieberheilenden Baum ihm
Und den sikulischen Hirten die Perlentropfen derManna.

Der Genius schien eine Biene zu werden, die um ihre süßesten Blumen umherfliegt:

Aromatischen Balsam entatmen die Pflanzen der Hügel.
Duftende Kalamintha, der blaue Salbei und derThymus
Und die Melisse sind Bienen auf sonnichten Bergen ein Labsal,
Wo sich der Rosmarin vermählt mit hohem Lavendel;
Jenen Blüten entwenden sie narbonensischen Honig
Und den fernher atmenden Nektar Hymettus' und Hyblas.

Aus der Laube erscholl die Stimme:

Aber wer kennt sie alle, die Kräfte der Heilsamen Pflanzen,
Oft vergessene Kunde der sorgsam forschenden Vorzeit
Oder nach Säklen Erfindung der Dioskoriden der Nachwelt?

Und der Genius antwortete:

Wenn, von alten Systemen entfesselt, bescheidner der Forscher
Einst von Hirten auch lernt und ergrauenden Alpenbewohnern;
[226] Auch den Bergmann verschmähet er nicht und des Gemsenjägers
Nicht stets fabelnde Kunst und angeerbtes Geheimnis;
Siehe! dann werden Contoure der Anmut mit Farbenverschwendung
Blumenfreunde nicht fesseln allein; der Genzianella
Tiefgesättigtes Blau, der Lobelia flammende Röte,
Noch der Purpur und Safran der strahlenden Poinciana,
Nicht der Aurikel Samt und die Strahlen der Ringelblume
(Wenn sie die goldenen Augen dem tauenden Morgenrot aufschleußt)
Fesseln allein nicht mehr der Flora sammlenden Günstling.
Tätige Weisheit umstrahlt des menschenfreundlichen Forschers
Wärmere Seele, zu nützen mit Mut dem Menschengeschlechte.

Jetzt erhob sich Linneus Urberg der Schöpfung vor mir, auf welchem vom Gipfel an bis zur niedrigsten Tiefe alle Gewächse blühen, deren Fruchtstaub seitdem über die ganze Erde verweht ist:


Reich seid ihr an Pflanzen von mannigfaltigen Kräften,
Quellentrunkene Täler und sonnige Hügel der Alpen.
Neben dem Akonit entfalten die Genzianen,
Töchter desselben Hügels, die heilenden Safranglocken
Siehe! den Teneriff und den Flammengipfel des Ätna,
Kaukasus' Felsenhaupt, dich, höheren Chimborasso,
Decket ewiges Eis, seit euch die Fluten umstürmten.
Euer beschneiete Scheitel, dem hundert Quellen entstürzen,
Der das hohe Gewölbe des Himmels zu tragen uns scheinet,
Kleidet sich über den Wolken in reine ätherische Bläue.
Floras Reich beginnet am Rande des ewigen Schneereichs;
Grönlands kurzen Sommern entblühn grönländische Pflanzen.
Malagas Reben umranken den Fuß der Gebirge; die Höhen
Decket der Saxifragen, der Diappensia Mooswuchs.
[227] Kurz ist die Lebensdauer der weißen Pygmäengeschlechter,
Welche das Rentiermoos umkreucht und die Alpenbirke.
Tiefer vermählet der kleine Myrtill und des Rhododendron
Purpurdolde sich mit dem erdwärts kriechendenKrummholz;
Ihre Schatten verbergen die Alpenmaus und das Schneehuhn.
Tiefer erhebet der Taxus sein Haupt und der dunkle Wachholder,
Früher als diese, die Birke, der Laryx, entblättert im Winter.
Ihren Füßen entsteigt, gedeckt von ihrer Umschattung,
Ein unzähliges Heer balsamischer Pflanzen der Alpen.
Herden irren hier in schwelgendem Überflusse
Um die genügsame Sommerhütte der Freigebornen.
Phöbus' Strahl entbindet aus tausend würzigen Pflanzen
Reinere Lebensluft und rosenfarbne Gesundheit.
Kühlende Lüft' umwehn euch, Söhne heiliger Alpen,
Würziger Pflanzen Duft umsäuselt euch in der Kühlung;
Aber betäubender ist der Duft von Auranzienhainen,
Welchen der Wind ins Meer entführt von Portugals Küsten,
Oder von Rosengebüschen des zweimal blühenden Pästum;
Selbst bemoosten Felsen entsteigen dort Veilchengerüche. –
Lieblicher seid ihr noch, ihr Blüten heißerer Zonen,
Tausendfarbige Töchter der senkrecht stehenden Sonne,
Deren Hauch mit Balsam die schwüleren Lüfte beschwängert.
Dichter sangen nur Rosen, nur Gärten der Hesperiden;
Niemand feierte noch die tropischen Blüten des Aufgangs.
Wer sang dich, o Nyktanthes, die Zierde der Ganges Gestade,
Wer, Gardenia, dich, die Königin der Gewächse,
Und, ambrosischer duftend als beide, den Ölbaum aus China?
[228] Wer der Bromelia Gold? und die Früchte der Mangustana?
Staunend verweilt die Muse beim Stamm der keuschen Mimosa,
Reizbar wie die Tiere, des Pflanzenreiches die feinste.
Und wer sang von euch, ihr amboinischen Haine,
Welche der Golddurst mehr als des Weltmeers stürmende Brandung
Ringsumher verschleußt dem harmlosen Freunde der Flora.
Mitten in brennendem Sand erhebt sich euer Gewölbe,
Neben der höchsten Glut der Sonne die nächtlichste Kühlung.
Nicht der Muskatbaum nur und die aromatischeNelke,
Auch des Brotbaums Stamm und die Riesenhöhe des Kokos
Trotzen der Wut der Orkane –
Fei'rliches Dunkel umhüllt die romantischen Zauberhaine;
Keine Blumen entsprossen dem Schoße der nächtlichen Dämmrung;
Aber seidener Mooswuchs und buntgemarmelte Schwämme
Decken den Armadill und die vielgeringelte Schlange.
Statt der Nachtigall Lied erschallet der Papageien
Und der Affen Geschrei aus ferner Gipfel Umwölbung.

Lauter konnte der Gesang nicht werden. Ich befand mich auf Amboina mitten im Paradiese der Flora, im Dufte der Blumen, im Lustgeschrei der Affen und Papageien. Da sang aus der Laube die mildere Stimme:


Laß mich, holde Natur, den Sohn der kälteren Zone,
Deiner Wunder mich immer erfreun im Reiche der Flora,
Zwiefach ihrer mich freun auf schönen pannonischen Fluren.
Denn schön sind sie, die Ufer, an welchen sich Vindobona
Spiegelt in dem Silber des mächtigen Kaiserstromes. –

[229] und eine andre Stimme:

Aber dann erheben sie sich zum reizenden Urbild,
Wenn, von der feinsten Empfindung und von des reinsten Geschmackes
Sicherer Hand geleitet, ein Lascy oder Cobenzel
Gärten wie Oberon schafft und Paradiese wie Milton –
Gruppen, wie hingezaubert von Grotten und Wasserfällen,
Überwölbende Schatten und duftende Labyrinthe
Seltsam gebildeter Bäum' und Blüten wärmerer Zonen,
Scheinbare Disharmonie, die sich löst in den süßesten Wohllaut,
Wo in ihren höchsten Triumphen unsichtbar die Kunst wird.

Stimmen besangen Kaunitz', Laudons Gärten; und eine holdere Stimme:

Edle Kinsky, du sammelst in Gärten, wie die der Armida,
Jene Blüten umsonst, die der westlichen Atlantide
Milderen Sonnen entblühn und jenen des rosigen Aufgangs.
Siehe, von allen Blumen, die deinen Tritten entsteigen,
Die dein schaffender Wink, genährt von Hyperions Strahlen
Und den Tränen Aurorens, dem Schoß der Tellus entrufet,
Ist doch keine so schön wie du.

Eine andre Stimme nannte Gärten,

Wo in Amerikas Büschen die deutsche Nachtigall flötet.

Unerwartet brachte endlich die Stimme des Dichters mich zu mir selbst wieder:

Aber auch ihr seid schön, ihr, meines nordischen Landes
Quellentrunkene Täler und grünende Blumengestade;
Flora liebet euch mehr als alle der kälteren Zone
Fluren; sie webet in euch sich ihre seltneren Kränze.
Reizend ist die Aussicht, gelagert in dunkler Umschattung
Überwölbender Buchen und Eichen aus Odins Zeiten,
Welche das Meer umstürmt, zu sehen im Wellengetümmel
Hundert züngelnde Flaggen und windgeschwängerte Segel;
[230] Über den Wogen die Heldengestade des felsigen Schwedens,
Rauch von ihren Städten und Gipfel von ihren Gebirgen
In dem rötlichen Schimmer des sinkenden Sonnenwagens.
Sei mir gegrüßt, du mütterlich Land, im Feiergesange,
Wo mich die Blume des Feldes als Knaben mehr schon entzückte
Als Hyazinthenprunk und eitle Tulpenästhetik,
Blüten ohne Frucht, des batavischen Krämers Erfindung.

So lösete sich der Zauber. Ich kenne den Dichter nicht; könnte ich aber eine Gestalt an mich nehmen, so würde ich in Virgils oder Kleists freundlicher Gestalt vor ihn treten und sagen: »Mann oder Jüngling, du bist wert, unser Genosse zu sein, ja eine neue Stufe zu betreten, auf der die Wissenschaft der Natur sich mit der Kunst des Gesanges verbindet. Denn dich umwehet der Geist der Schöpfung; du weißt nicht nur Namen ihrer Kinder, sondern fühlest dich auch in sie und hast ein Herz für die Freuden und Leiden der Menschheit. Die Sprache stehet dir zu Gebot; die Wechselszenen der Natur werden dich immer mehr zu wechselnden Tönen begeistern. Auf! und erweitre das Feld deines Hymnus. Die Kränze, damit du deinen Lehrer schmücktest, erwarten auch dich:


Sieh, es windet dir Flora, die Liebende dem Geliebtern,
Duftende Diademe von Blüten aus jeglichem Weltteil.«

So würde ich zu ihm reden, überzeugt, daß durch das Studium und durch den Gesang der Natur der menschliche Geist erweitert, das menschliche Herz unschuldiger, ruhiger, wohltätiger werde.

45.

Unbezweifelt ist's, daß durch das Studium und durch den Gesang der Natur das menschliche Gemüt milder werde. Wer uns eine botanische Philosophie in einem schönen Lehrgedicht [231] gäbe, welchen Reichtum hätte er vor sich! Ihm stünde die gesamte Mythologie, die äsopische Fabel, die Idyllen der Alten und von den Neuern Reisebeschreibungen, Geschichte, Philosophie, endlich die Naturwissenschaft selbst zur Seite.

Was haben die Alten in ihren Georgicis gesucht, als unter mancherlei Einkleidungen den Menschen menschlich zu machen und ihn allmählich zu Beobachtung der Natur, zur Ordnung, zum Fleiß und Wohlsein zu erheben? Auch dem Virgil in seinen Georgicis können wir diesen wenigstens mittelbaren Zweck nicht absprechen. Er, der außer dem Kriegsglück der Römer gewiß noch ein ander Glück der Landbesitzer und Landbewohner kannte, wollte durch sein schönes, in vielen Stellen so menschliches Gedicht eben auch dies befördern.


Die äsopische Fabel führet uns ganz aufs Land. Hier sprechen Bäume, Tiere, Menschen; Naturwahrheit ist's, was sie sagen. Und wenn Lessing die Tiere wegen ihrer Charakterbestandheit als eigentliche Fabelaktoren gerechtfertigt hat, wem bliebe mehr Bestandheit als dem Baum, der Pflanze, der Blume, der ganzen Naturordnung in ihrem unermeßlich langsamen Fortschritt? Hier also ist, recht gebraucht, Weisheit und Klugheit der Natur zu lernen; hier oder nirgend. Immer werden uns die schönen Pflanzen- und Baumfabeln, insonderheit des Orients, reizen, wo sie in ihrer stummen Sprache uns ewige süße Naturwahrheit sagen.


Die Mythologie ist eine belebte Welt. Nur mit Entzücken kann ich daran denken, wieviel Geist, Sinn und Gemüt man in flüchtige Erscheinungen, in wandelbare Gestalten der Natur gelegt hat, allen Menschen zur Ansicht und dem menschlichern Menschen zur Bildung und Lehre. Wer irgendeine schöne Dichtung der alten Mythologie und Naturlehre uns neu ins Gemüt zu rufen weiß, hat eine Blume vom Kranz der Mutter der Götter gepflückt und in unsre Gärten verpflanzet.


Das Idyll der Alten (ein unbestimmter Name) hat mit dem Verfolg der Zeiten sich gleichsam willkürlich zu Land-, [232] Schäfer-, Hirten-, Fischergedichten, kurz, in Gesellschaften zurückgezogen, in denen ohne politische Kunst die unschuldige Natur regieret. Manche von Bions, Moschus, Theokrits Gesängen gehören dahin, und die neuere Poesie, wenn sie der politischen Welt und der wollüstigen Kreise satt war, hat ihr Dasein dahin verleget. Virgil, dessen meiste Eklogen bloße Nachbildungen sind, entbrach sich nicht, in seinem Tityrus, Pollio, Silen diese reizende Dichtung als eine Einfassung höherer Vorstellungen zu gebrauchen.


Daher, als in den mittleren Zeiten die Poesie wieder auflebte, erinnerte sie sich bald ihres ehemaligen wahren Geburtslandes unter Pflanzen und Blumen. Die provenzal- und romantischen Dichter liebten dergleichen Beschreibungen; bei Spenser z.B. sind es noch immer anmutige Stanzen, die uns schöne Wüsteneien samt ihren Gewächsen und Blumen schildern. Mit außerordentlicher Liebe und einem Überfluß der Phantasie sind Cowleys sechs Bücher von Pflanzen, Kräutern und Bäumen geschrieben; ein neuerer Brite, der den Botanischen Garten. 32 nach Linneus' Geschlechtersystem, in ihm also vorzüglich die Liebe der Pflanzen besang, scheint, nach Proben zu urteilen, auch viel Artiges gereimt zu haben. Unter deutschen Dichtern hat von unserm alten Brockes Geßner mit Recht gesagt: »Er hat die Natur in ihren mannigfaltigen Schönheiten bis auf das kleinste Detail genau beobachtet; sein zartes Gefühl wurde durch die kleinsten Umstände gerührt; ein Gräschen mit Tautropfen an der Sonne hat ihn begeistert; seine Gemälde sind oft zu weitschweifig, oft zu erkünstelt; aber seine Gedichte sind doch ein Magazin von Gemälden und Bildern, die gerade aus der Natur genommen sind. Sie erinnern uns an Schönheiten, an Umstände, die wir oft selbst bemerkt haben und jetzt wieder ganz lebhaft denken.« Hallers »Alpen,« Kleists, Geßners Gedichte, Thomsons »Jahrszeiten« sprechen für sich selbst.


[233] Einer der Genannten hatte, als er sein Gedicht über Pflanzen und Bäume schrieb, sich aufs Land zurückgezogen und setzte sich daselbst als einem Lebenden folgende Grabschrift:


Grabschrift eines Lebenden


Hier ruht, o Wandrer, unter niedern Dach
Der Dichter Cowley, selig entronnen schon
Der, ach, wie leeren und wie eitlen
Und so entbehrlichen Menschenmühe!
In Armut glänzt er; aber unrühmlich nicht:
An träger Muße will er kein Edler sein.
Reichtümer, die der Pöbel liebet,
Haßte er stets mit der kühnsten Feindschaft.
Gib ihm, o Wandrer, gib dem Geschiedenen,
Den hier ein kleiner Winkel der Erde birgt,
Und ihm genüget, deinen Segen:
»Leicht sei die Erde dir! Sorgentladner!«
Und streu ihm Blumen, Rosen, die bald verblühn!
(Ein Abgeschiedner freuet der Blumen sich!)
Und mit dem duftendsten der Kränze
Kröne die Asche des glühnden Dichters.
Ein sanfterer Naturdichter würde lebend und sterbend sagen: »Et ego in Arcadia!«

46.

In einer freundschaftlichen Versammlung hörte ich neulich eine Vorlesung über Wahn und Wahnsinn der Menschen, deren Abschrift ich mir erbat und Ihnen jetzt statt meines Briefes mitteile.

[234] Über Wahn und Wahnsinn der Menschen

Eine Vorlesung


Ohne Zweifel haben Sie, m. H., bei der Zergliederung menschlicher Körper die vielen, unendlich feinen Striche bemerkt, die im Gehirn dergestalt durcheinanderlaufen, daß sie das Messer des Zergliederers nicht mehr verfolgen kann. Ebenso fein und vielleicht noch feiner laufen in der menschlichen Seele die Linien des Wahnes und der Wahrheit durcheinander, daß man nach der sorgfältigsten Prüfung kaum an sich selbst weiß, wo eins sich vom andern scheide.

Wenn alles das Wahn ist, was wir ohne deutliche Gründe auf guten Glauben annehmen, so ist der größeste Teil unsrer Erfahrungen, unsre frühgelernte Kenntnisse, unsre früherworbne Gewohnheiten und Neigungen auf Wahn gegründet. Sie beruhen entweder auf dem Zeugnis unsrer Sinne oder anderer Men schen, denen wir glauben, die wir unvermerkt, uns selbst unbewußt nachahmen, endlich am meisten auf unsrer eignen Bequemlichkeit und Disposition, lieber so als anders zu handeln. So befestigt sich in uns allmählich eine Gedenk-, eine Handlungsweise, deren Ursprung in einzelnen Fällen wir selten erforschen mögen. Nur wenigen sehr hellen und reinen Seelen ist's gegeben, über die wichtigsten Striche ihrer Denkart sich unparteiisch zu prüfen, Wahrheit und Irrtum, Vorurteil und Gewißheit in ihnen strenge zu unterscheiden und sodann dem unschuldigen oder gar notwendigen Wahn zwar sein Gebiet zu lassen, mitnichten ihn aber zum Gesetzgeber jeder menschlichen Wahrheit, mitnichten ihn zum Richter jeder fremden Denk- und Sinnesart zu erheben.

Diese seltnen, vom Himmel privilegierten Seelen sind diejenigen, die man allein tolerant nennen kann; sie schonen den Wahn des andern auch in Fällen, in denen er ihrem eignen liebsten Wahn entgegenstehet. Sie sind die duldsamsten Freunde, die lehrreichsten Gesellschafter; denn auch über die verwickeltsten Aufgaben der Menschengeschichte läßt sich [235] mit ihnen ohne Haß und Zorn disputieren. Der gemeine Haufe der Menschen ist nur so lange Freund gegeneinander, als sein Lieblingswahn gefördert oder wenigstens nicht beleidigt wird.

Und wie sonderbar, wie abenteuerlich dieser Lieblingswahn sein könne, lernt man zuweilen mit der größesten Verwunderung eben da einsehen, wo man dergleichen bei sonst so richtigen Begriffen und Grundsätzen je kaum vermutet hätte. Der Glaube an Gespenster und an andre Dinge dieser Art ist wohl der verzeihlichste in solchem geheimen Wahnregister, da sich in ihm oft wunderlichere Artikel finden. Gemeiniglich hält ihr Besitzer diese als sein eigenstes Eigentum teuer und wert; unvermerkt entwischen sie ihm nur, wenn nicht etwa gewaltige Leidenschaften, außerordentliche Zeitumstände und Situationen sie mit Gewalt erpressen und herausfodern. Dann streitet er aber auch für sie, eben weil sie Schwächen seiner Natur, Gebilde seiner Phantasie sind, als für seine liebsten Kinder. Wer um die wichtigste Wahrheit mit ihm ficht, wird nie so sehr sein Gegner sein, als wer gegen eine Lieblingsmeinung, die wie ein Polypus in sein Herz gewachsen ist, einige Befremdung äußert. Gehen Sie, m. H., in Ihren Gedanken die Zahl derer durch, die Sie in Ansehung ihres Innern am nächsten gekannt haben; Sie werden sich sonderbarer Wahngestalten erinnern.

Das Gebiet des Wahnes erstreckt sich insonderheit auf Dinge, die den Menschen zunächst angehen, auf seine Person und Gestalt, auf seinen Stand, seine Nation, seinen Zweck und Charakter. Wie es z.B. Personen gibt, die im Innern ein ganz anderes Bild von sich umhertragen, als die sie sind – sie erschrecken vor ihrer äußern Gestalt im Spiegel als vor der Gestalt eines fremden Wesens –, so gibt es deren noch weit mehrere, die in Ansehung ihres Innern ein fremdes Bild mit sich tragen. Ein berühmter König unsres Jahrhunderts war in seiner Phantasie immer nur Oberster eines Regiments, und war's mit Lust; alle königliche Pflichten erfüllte er als eine fremde Person, als ein strenger Amtmann. Unzählige [236] Wunderlichkeiten flossen daher, die ohne dies Bild einer fremden, ihm einwohnenden Wahngestalt unerklärlich blieben, durch sie aber sich alle erklären. Was uns die Berichte der Ärzte von Krankheiten der Einbildungskraft erzählen, da jener sich seine Füße als Strohhalme, dieser sein Gesäß gläsern dachte, ein dritter die Welt zu überschwemmen fürchtete, sobald er sein Wasser ließe, alle diese Geschichten oder Märchen sagen im Grunde weniger als die Erfahrungen manches Wahns, den man bei den vernünftigsten Menschen zuweilen wahrnimmt. Einige Gattungen desselben pflanzen sich in Familien fort und mischen sich als ein Erbteil von Vater und Mutter auf die sonderbarste Weise. Andre haften an Ständen, Ämtern, Lebensarten, Zünften und bekommen den Ehrennamen esprit de Corps, Gefühl seines Standes, Familienehre. Die feinsten aber hangen von individuellen Umständen und Erfahrungen ab; sie sind Abdrücke von der eigensten Beschaffenheit des Körpers und der Seele des Wähnenden samt den Situationen, die vorzüglich auf ihn wirkten, kurz,befestigte Luftgebilde seiner frühen Jugend. Daher sind sie theoretisch oder praktisch, selten aber eins ohne das andre. Denn der Mensch ist nie so vergnügt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm selbst geformten Lieblingswahne. Da lebt er recht in seinem Element und ist seiner Kunst Meister.

Sie merken leicht, m. H., in welchen Ständen diese Wahnbilder am sichtbarsten sein müssen, in solchen nämlich, die sich am freiesten äußern dürfen. Wer vor andern Scheu haben, wer aus Beruf und Not auf dem gebahnten Wege angenommener Meinungen oder richtiger Begriffe bleiben muß, der gibt sich Mühe, sonderbare Eigenheiten seines Kopfs und Herzens zu unterdrücken, wenigstens verschließt er sie in der innersten Kammer und reitet auf seinem Steckenpferde nicht eben an hellem lichten Tage, nicht auf dem Markte. Wer sich dagegen alles erlaubt und dabei sein Personale äußerst hoch hält, der kann mit diesen Originalpoesien seines Wesens oft [237] nicht laut genug hervortreten; er erfindet deren eine Reihe, mit der Zeit aus bloßer Willkür, und glaubt sich gar dazu in die Welt gepflanzt, andere damit zu vergnügen. Die sogenannten starken Charaktere, große Geister, ex professo vornehme Leute u.f. liefern in ihrer Geschichte davon wunderbare Beispiele. Die alten römischen Cäsars, eine Reihe Regenten, Helden, Religionsstifter, Schwärmer, Dichter, Philosophen hatten sonderbare Wahngestalten im Kopf, die sie gewöhnlich andern aufzwingen wollten und damit oft zum Ziele kamen.

Denn leider ist bekannt, daß es fast nichts Ansteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnsinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gründe mühsam erforschen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefälligkeit, durch das bloße Zusammensein mit dem Wähnenden, durch Teilnehmung an seinen übrigen guten Gesinnungen, auf guten Glauben an. Wahn teilt sich mit, wie sich das Gähnen mitteilt, wie Gesichtszüge und Stimmungen in uns übergehen, wie eine Saite der andern harmonisch antwortet. Kommt nun noch die Bestrebsamkeit des Wähnenden dazu, uns die Lieblingsmeinungen seiner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß sich dabei recht zu nehmen: wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht gern zuerst unschuldig mitwähnen, bald mächtig glauben und auf andre mit eben der Bestrebsamkeit seinen Glauben fortpflanzen? Durch guten Glauben hängt das Menschengeschlecht aneinander; durch ihn haben wir, wo nicht alles, so doch das Nützlichste und Meiste gelernt; und ein Wähnender, sagt man, ist deshalb ja noch kein Betrüger. Der Wahn, eben weil er Wahn ist, gefällt sich so gern in Gesellschaft; in ihr erquicket er sich, da er für sich selbst ohne Grund und Gewißheit wäre; zu diesem Zweck ist ihm auch die schlechteste Gesellschaft die beste.

Nationalwahn ist ein furchtbarer Name. Was in einer Nation einmal Wurzel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet und hochhält, wie sollte das nicht Wahrheit sein? wer würde daran [238] nur zweifeln? Sprache, Gesetze, Erziehung, tägliche Lebensweise – alle befestigen es, alle weisen darauf hin; wer nicht mitwähnet, ist ein Idiot, ein Feind, ein Ketzer, ein Fremdling. Gereicht überdem, wie es gewöhnlich ist, der Wahn zur Bequemlichkeit einiger, der geehrtesten, oder wohl gar, dem Wahn nach, zum Nutzen aller Stände, haben ihn die Dichter besungen, die Philosophen demonstriert, ist er vom Munde des Gerüchts als Ruhm der Nation ausposaunt worden: wer wird ihm widersprechen wollen? wer nicht lieber aus Höflichkeit mitwähnen? Selbst durch lose Zweifel des Gegenwahnes wird ein angenommener Wahn nur befestigt. Die Charaktere verschiedener Völker, Sekten, Stände und Menschen stoßen gegeneinander; eben desto mehr setzt jeder sich auf seinem Mittelpunkt fest. Der Wahn wird ein Nationalschild, ein Standeswappen, eine Gewerksfahne.

Schrecklich ist's, wie fest der Wahn an Worten haftet, so bald er ihnen einmal mit Macht eingeprägt wird. Ein gelehrter Jurist hat bemerkt, was an dem Wort Blut, Blutschande, Blutsfreunde, Blutgericht für eine Reihe schädlicher Wahnbilder hange; mit dem Wort Erb, Eigentum, Besitztum u.f. ist's oft nicht anders. Zu unsern Zeiten haben wir's erlebt, was die Wortschälle Rechte, Menschheit, Freiheit, Gleichheit bei einem lebhaften Volk für einen Taumel erregt, was in und außer seinen Grenzen die Silben Aristokrat, Demokrat für Zank und Verdacht, für Haß und Zwietracht angerichtet haben. Zu andern Zeiten war es das Wort Religion, Vernunft, Offenbarung, seligmachender Glaube, Gewissen, Covenant, the causes sake u.f. Unschuldige Farben, die Grünen und Blauen, die Schwarzen und Weißen, Losungsworte, mit denen [239] man keinen Begriff verband, Zeichen, die gar nichts sagten, haben, sobald es Parteien galt, im Wahnsinn Gemüter verwirrt, Freundschaften und Familien zerrissen, Menschen gemordet, Länder verheeret. Die Geschichte ist voll solcher abbadonischer Namen, so daß man ein Wörterbuch des Wahnes und Wahnsinnes der Menschen aus ihr ziehen und dabei oft die schnellsten Abwechselungen, die gröbsten Gegensätze bemerken würde.

Wahn und Wahnsinn sind überhaupt nicht so weit voneinander, als man glaubt. Solange der Wahn sich in einem Winkel der Seele aufhält und nur wenige Ideen angreift, behält er diesen Namen; verbreitet er seine Herrschaft weiter und macht sich durch lebhaftere Handlungen sichtbar, so nennt man ihn Wahnsinn. Wer kann nun jederzeit das Mehr und Weniger bestimmen? zumal sowohl bei einzelnen Menschen als bei ganzen Völkern nach Umständen und Perioden nichts als Konvention die Waage in der Hand hat und Namen verteilet. Die größesten Veränderungen der Welt sind von Halbwahnsinnigen bewirkt worden, und zu mancher rühmlichen Handlung, zu manchem scharf verfolgten Geschäfte des Lebens gehörte wirklich eine Art bleibenden Wahnsinns.

»Bewahre uns Gott,« werden Sie sagen, m. H., »vor solcher Ansicht der menschlichen Dinge! Unsre Erde würde ja damit ein Irrenhaus und unsre Geschichte ein Krankenregister.« Sollte sie in ganzen Perioden anders zu betrachten sein? und ist es nicht nützlich, daß man sie also betrachtet?

Denn nun wird man zuerst, wenn auch in dem Zeitraum, in dem wir leben, Namen aufkommen, über welche Menschen einander hassen und morden, eben durch die Geschichte voriger Zeiten aufmerksam gemacht, zu prüfen, was hinter den Namen sei. Man wird sie weder gedankenlos nachbeten noch fürchtend so anstaunen, als ob mit ihnen das Ende der Welt gekommen sei; am wenigsten wird man im blinden Taumel mit einer der streitenden Parteien hassen, zürnen, verleumden, verfolgen. Die Geschichte belehrt uns, daß dergleichen Zufälle des menschlichen Geistes tausend- und [240] tausendmale bereits, nur unter andern Namen und Zeitumständen, ihr Spiel und Ende gehabt haben; man wird also auf seiner Hut sein, unschädlichen Wahn dulden, schädlichem Wahn ausweichen, mitnichten aber weder diesen noch jenen erbittern und reizen. Denn eben durch dies Erbittern und Reizen (dies zeigt die Geschichte) wird der Wahn Wahnsinn. Dadurch aber habe ich weder dem Kranken noch mir geholfen, es sei denn, daß ich ihn wirklich toll machen wollte.

Eben auch die Geschichte lehrt zweitens, daß weder Gewalt noch Überredung, am wenigsten mit Überredung verschleierte Gewalt und mit Gewalt unterstützte Überredung den Wahn der Menschen auszutilgen oder zurechtzubringen vermöge Durch Waffen werden Irrtümer weder bestritten noch ausgerottet; der schlechteste Wahn hingegen dünkt sich eine Märtyrerwahrheit, sobald er mit Blut gefärbt dastehet. Eben durch dergleichen gewaltsame Schleichmittel sind Irrtümer, die sich selbst bald überlebt hätten, Meinungen, von denen die Betrogenen in kurzem zurückgekommen wären, schädlich verewiget worden Nie hat die reine Wahrheit mit schlauer Politik etwas zu schaffen gehabt, sowenig die Politik es je zum Zweck gehabt hat, reine Wahrheit zu befördern. Jede geht ihren Gang, und nur Kinder lassen sich von politischen Wahrheitsphrasen dieser oder jener Partei oder, wie die Griechen sagen, von der Suada mit der Geißel in der Hand täuschen.

Drittens. Das einzige Mittel, wie man dem Wahn beikommen kann, ist, daß man ihm nicht beizukommen scheine Man schütze sich vor ihm und lasse ihn seines Weges wandern, oder man zerstreue ihn und bringe ihn ohne gewaltsame Überredung unvermerkt auf andre Gedanken. Die Zeit allein kann ihn heilen. Man hat mehrere Beispiele, daß mitleidige Krankenwärter von der Krankheit selbst angesteckt wurden; nichts aber teilet sich leichter mit als Krankheiten der Seele. Wer gesund ist, suche gesund zu bleiben; alle Ansteckungen werden nur dadurch eingeschränkt, daß man sie isolieret.

Viertens. Freie Untersuchung der Wahrheit von allen [241] Seiten ist das einzige Gegenmittel gegen Wahn und Irrtum, von welcher Art sie sein mögen. Lasset den Wähnenden seinen Wahn, den anders Meinenden seine Meinung verteidigen, das ist ihre Sache. Würden beide auch nicht gebessert, so entspringt für den Unbefangenen aus jedem bestrittenem Irrtum gewiß ein neuer Grund, eine neue Ansicht der Wahrheit. Daß man doch ja nicht glaube, Wahrheit könne je durch bewaffneten Wahn gefangen oder gar ewig im Gefängnis festgehalten werden! Sie ist ein Geist und teilt sich Geistern mit, fast ohne Körper. Oft darf ihr Ton an einem Weltende geregt werden, und er er klingt in entlegenen Ländern; immer aber läutert sich der Strom des menschlichen Erkenntnisses durch Gegensätze, durch starke Kontraste. Hier reißt er ab, dort setzt er an, und zuletzt gilt ein lange und viel geläuterter Wahn den Menschen für Wahrheit.

47.

Seneca sandte seinem Freunde Lucil fast in jedem seiner Briefe einen Denkspruch zum Geschenk; was soll ich Ihnen für die mitgeteilte Vorlesung senden? Soll ich Sie nach Ariost 33 in jenes Mondtal führen, wo Astolf so viele Resultate des menschlichen Wahnes und Wahnsinnes erblickte?


Le lacrime e i sospiri degli amanti,
L'inutil tempo, che si perde a gioco,
E l'ozio lungo d'uomini ignoranti,
Vani disegni, che non han mai loco;
J vani desideri sono tanti
Che la più parte ingombran di quel loco;
Ciò che in somma quaggiù perdesti mai,
Lassù salendo ritrovar potrai.

[242] Lieber bleiben wir auf der Erde und wollen, auch mitten unter gefärbten Nebeln des Wahnes und Wahnsinns, die Burg der Wahrheit suchen.

Nicht alles ist Wahn und Traum im Gebiet der Menschheit; es gibt für uns insonderheit im Praktischen, im Moralischen eine gewisse, sichere Wahrheit. Ihre Stimme spricht auch mitten im politischen Geräusch; sie spricht für jeden, der sie hören will, in seinem innersten Herzen und straft jede Sirenenstimme gefälliger Meinungen Lüge. Auch in den dunkelsten Zeiten schien ihr Licht in reinere Seelen, auch in der größesten Verwirrung der Welthändel war sie dem Unbefangenen ein sicheres Richtmaß.

Können Sie sich z.B. verworrenere Zeiten als die Zeiten der Ligue und der Religionsgärungen in Frankreich denken? Und siehe, nebst vielen andern hellen und aufrichtigen Geistern erschien und schrieb in ihnen der Präsident de Thou seine Geschichte. Wollen Sie bei dem langen Werk in einem kürzern Inbegriff bemerken, wie hoch er sich über Wahn und Vorurteile seines Standes, seiner Geburt, seines Landes, seiner Sekte, seiner Zeit hinwegschwang, so lesen Sie nur die Stellen, die von der spanischen Inquisition weggestrichen wurden, die Lästerschriften, die Scioppius und Machault gegen ihn schrieben, und seine linde Antwort dagegen im Gedicht an die Nachwelt »Posteritati«. 34 Er, der den größeren [243] Sieg erkämpft hatte, vom Wahne frei zu sein, erhielt auch den viel leichteren, den Verleumdungen, den Verfolgungen des Wahns sich klug zu entziehen oder beherzt entgegenzutreten. Davon sind seine Briefe, davon die von ihm selbst über sein Leben gegebene Rechenschaft Zeuge. Hören Sie die wahre Dedikation seiner Geschichte, sein Gebet an die Wahrheit.


Der Wahrheit


Des Himmels Tochter, freundliche Wahrheit, du,
Der Erde Schreckbild, strafende Wahrheit, du,
Wo bist du hingeflohn, o Göttin?
Du der Unschuldigen letzte Zuflucht!
Wohin ich wende meinen erspähnden Blick,
Wohin ich richte meinen verirrten Tritt,
Dich find ich nirgend. Blindes Dunkel,
Trügender Wahn hat die Welt umfangen.
Doch wenn du von uns, von dem unseligen
Verfolgerlande zürnend die Flügel schwangst
Und dich mein Zutritt nicht erreichet,
Hörest du mich in der Fern auch gütig.
Du, der Gemüter leuchtende Führerin,
O du, der Nebel holde Zerstreuerin,
Die, wann der Tritt uns fast ersinket,
Mächtigen, hebenden Arm uns reichet.
Daß nie, von banger, nichtiger Furcht betäubt,
Daß nie, von leerem blendenden Glanz verlockt,
Die Seele sich und den verliere,
Der auch in Irre der Menschen Weg lenkt.
[244]
Du, die nicht Scheu, nicht trügliche Hoffnung kennt,
Du, die nicht Haß erschüttert, noch eitle Gunst,
Die der Verleumdung Bubenpfeile
Frei von des Redlichen Brust zurückwirft;
Den Ruhmeswerten gibst du Unsterblichkeit,
Begrabnen Frevel ziehst du ans Licht hervor,
Und Recht und Unrecht bringet deine
Mächtige Stimm in das Ohr der Nachwelt,
Unwiderrufbar! Keine der webenden
Drei Schicksalsschwestern löst, was die andre spann;
Und was der Wahrheit heiliger Rechtspruch
Göttlich entschieden, das bleibt gerichtet.
Wer dich, o hohe Göttin, wer dich verehrt,
Der betet Gott an! Immer ein Herr sein selbst
Spricht er der Wahrheit Recht und übet
Jede der Pflichten für Menschen menschlich.
Nicht nach der Willkür stolzer Trimalcions
Wird er entscheiden, lüstend nach ihrem Mahl;
Wird nie ihr juckend Ohr mit süßem,
Menschenverderblichem Murmeln kitzeln.
Für Freunde leben, leben fürs Vaterland,
Den Frevel scheuen mehr als den bittern Tod,
O Wahrheit, dies ist seine Ehre,
Dies sein Beruf und sein innrer Lohn dies.
Herab vom Himmel senke dich, Königin,
Und mit dir komme strenge Gerechtigkeit
Und Scham und Treu der Erde wieder
Und die so lang uns entflohne Einfalt.
[245]
Wir warten deiner. Waffen und Nerv und Arm
Erwarten alle, Göttin, von dir allein! –
Der Zeiten letzte nahn; es altert
Blöde die Welt und erträumet Wahnsinn.
Schau her, wie hebt dort, Flammen und Schwertern selbst
Unüberwindbar, trotzend die Hyder sich;
Zehn Häupter fallen, und aus jedem
Blutenden steigen der Häupter tausend.
Des Wahnes Weltmeer wälzet der Meinungen
Auf Wellen Wellen; Religion erseufzt
Im Schiffbruch, und der Liebe Bande
Lösen sich auf, und der Boden sinket.
Herab vom Himmel senke dich, Königin,
Mit deiner Rechte stürzend des Untiers Brut,
Die süßes Gift den trägen Fürsten
Täuschend in goldener Schale reichet.
O du, im Schiffbruch helfende Retterin,
Dem tollen Aufruhr frevelnder Meinungen,
Der Lüsternheit und Frechheit steure,
Steure der heuchelnden Lüg, o Wahrheit.

48.

Gewiß, eine Fabel muß im Kreise der Gesellschaft erfunden werden. So erfand Äsop die seinen; sie flogen ihm gleichsam, wie der Hauch lebendiger Gegenstände, aus Veranlassungen zu; darum ist der Geist in ihnen auch jetzo noch lebendig. So sind des La Fontaine, Gleims und aller guten Fabeldichter Erzählungen entstanden; selbst wenn sie alte Erfindungen aufnahmen, verjüngten sie diese und erzählten sie jetzt für ihre Gesellschaft. Wer sich hinsetzt und eine [246] trockene Lehre, einen dürren Sittenspruch in eine Schale nähet, dem ist die wahre Fabelmuse nie erschienen.

Als neulich in einer Gesellschaft von den unverstandenen Namen Aristokrat, Demokrat u.f. gesprochen und disputiert war, trat wie ein freundlicher Genius einer aus der Gesellschaft zur Königin des Festes, rührte ihre Schärpe an und sagte diese


Fabel


Laß dir ein Märchen erzählen an deinem heutigen Tage,
Das vielleicht, wenn der Sinn dir beliebt, Vergnügen dir bringet.
Seh ich nicht hier ein Band, von Gold und Seide gewirket,
Von der weicheren Hüfte herab zur Ferse dir fließen?
Davon nahmen die Fäden das Wort und redeten also:

Der Goldfaden

»Nein! ich kann es nicht dulden, mit diesen seidenen Fäden
Länger hier in Gemeinschaft zu leben. Sie sind so geringrer
Herkunft als ich. Ich stamme vom Zepter Jupiters selber.
Gold ist der Dreizack Neptuns, und golden die Krone des Pluto.«
Der Seidenfaden

»Mir gebühret die Ehre! Ich bin nicht gegrabenes Gold nur,
Aus der Fäule der Erd und rohen Felsen gescharret;
Ein lebendig Geschöpf ernährte zu feinerem Saft mich,
Zog mich aus seinem Busen und spann mit Kunst und Geschick mich.
Jetzo tragen die Könige mich und die Herren an Festen;
Weit gefälliger bin ich als dein beschwerlicher Reichtum.«
Der Leinfaden

»Was erzählt ihr euch hier und sprecht von euren Verdiensten?
Bin nicht ich der Erde, des Wassers holdester Zögling?
[247] Mich erzeugte die tauende Nacht; der strahlende Himmel
Siehet mit Wohlgefallen auf mich. Die goldenen Fäden
Unterstütz ich allein, sonst würd ihr nichtiger Schimmer
Bald verschwinden. Ich halt und trag empor sie zum Glanze
Und verbarg mich bescheiden, verlange nicht selber zu schimmern.«
Also sprachen die drei. Und was geschahe? Sie trennten
Zürnend sich voneinander und rissen und wollten nicht weiter. –
Nun lag ohne Zierde das Band und ohne Gestalt da;
Das in stolzer Schöne vorhin die Hüfte gegürtet,
Hatte nicht Form noch Wert; verachtet fiel es zur Erde.

Kaum war das Märchen geendigt, als die, an welche es gerichtet war, aufstand und mit Genehmigung aller die weiße Schärpe als ein Zeichen des Friedens im Saale der Gesellschaft aufhing. Mit guter Wirkung: denn wenn im Taumel der Worte nachher die genannten Friedensstörer jemanden nur auf die Lippe traten, sogleich ward auf die Schärpe gewiesen. Die drei Fäden sprachen ihre stumme Lehre, und der Ton der guten Gesellschaft stellte sich wieder her.

49.

Der die Schickungen lenkt, läßt oft den frömmsten Wunsch,
Mancher Seligkeit goldnes Bild
Unvollendet und webt da Labyrinthe hin,
Wo ein Sterblicher gehen will –

Gilt dies vom Schicksal einzelner Menschen, wieviel mehr vom Schicksal der Völker und Reiche!


[248] Eben habe ich die Geschichte des Herzogs von Bourgogne, Enkels Ludwigs XIV., Vaters Ludwigs XV., mit sonderbaren Empfindungen gelesen. 35

Sie wissen, daß dieser Prinz ein Zögling Fénelons war; die Unarten, die das königliche Kind an sich hatte, als Fénelon zu ihm kam, werden auch in dieser Geschichte nicht verschwiegen Lesen Sie nun, wie Fénelon sich dabei benahm und was für einen vortrefflichen, nicht nur hoffnungs-, sondern wirklich fruchtreichen Charakter er aus dem Prinzen gebildet, und ein süßes Erstaunen wird Sie ergreifen Sie sehen hier den Prinzen ungeschmeichelt in seinem ganzen Leben und Wesen, bei Hofe, im Felde, im Kabinett, zu Hause, gegen den König, gegen seine Gemahlin, gegen Hofleute, Erzieher, Lehrer, Hausgenossen handeln. Handeln, nicht nur sprechen oder denken. Und allenthalben ist er sich gleich; allenthalben bleibt er die edle, standhafte, in größester Stille wirkende Seele. Es ist, als ob Fénelons Geist ihn nicht umschwebe, sondern erfüllt habe; Fénelons Denkart ist in die seinige verwebet.

Sage nun jemand, daß Erziehung, wenn sie rechter Art ist, nichts fruchte! Der Mensch ist ja alles durch Erziehung, oder vielmehr er wird's, bis ans Ende seines Lebens. Nur kommt es darauf an, wie er erzogen werde. Bildung der Denkart, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre. Und wohl dem Prinzen, dem ein Fénelon zum Erzieher ward! Wohl jedem Erzieher, dem Fénelon zum Muster dienet!

Sage jemand, daß bei Prinzen keine Erziehung möglich sei. Am Hofe Ludwigs XIV., des eigensinnigsten Königs, mitten unter Schmeicheleien, Verderbnissen und Verführungen der Zeit, an einem Kinde von auffahrendem, gebieterischen, geburtsstolzen, launischen Charakter war sie möglich und erprobte [249] sich in den verworrensten Verhältnissen, in den schwersten Szenen.

Sage jemand endlich, daß Prinzen keiner Dankbarkeit, keiner Freundschaft fähig sind. Auch unter dem äußersten Haß Ludwigs XIV. gegen Fénelon blieb der Herzog und Dauphin seinem Freunde treu bis ans Ende seines Lebens.

Und dieser schonte ihn auf keine Weise. Sie finden einige Briefe Fénelons in dieser Sammlung; die übrigen (unersetzlicher Verlust!) verbrannte Ludwig mit eigner Hand nach seines Enkels Tode, vermutlich, weil er sich selbst bei seinem Haß gegen diesen würdigen Mann so sehr im Unrecht fand und mit den Briefen sein eignes Unrecht zu vertilgen glaubte. Denn nie versöhnte sich Ludwig mit Fénelon, auch nicht auf den Brief, den dieser ihm sterbend schrieb. Der Monarch wollte den Erzbischof nicht unrechtmäßigerweise gehaßt haben.

Gut, daß der Monarch die Papiere des Prinzen mit jenen Briefen (deren keine Zeile er schreiben konnte) nicht auch verbrannte. Sie sind in langen Stellen hier gedruckt; Fénelons Geist atmet in jedem Grundsatz sowie in der ganzen, sehr reinen und edeln Schreibart. Nur siehet man auch, daß ein Prinz diese Grundsätze gedacht habe; sie sind, wenn ich so sagen darf, gedrückter, beschränkter, als sie in Fénelons Seele blühten, aber ehrenvoll, schön, königlich, fürstlich.

Ausziehen will ich nichts aus diesen Maximen. Dem Geist des Zeitalters und der Denkart Fénelons gemäß ehren sie die Stände ungemein, machen die Religion zur Basis der Reichsverfassung und sind dem Protestantismus nicht günstig. Dagegen enthalten sie von den unerlaßbaren Pflichten aller Stände und des Regenten selbst alle die Grundsätze, die wir in Fénelons vortrefflichen. »Ratschlägen an einen König« finden. Wenn diese viel eigentlicher das livre d'or sind, als was gewöhnlich den Namen führet, so kann man die Aufsätze des Dauphins ohne Schmeichelei dem Buch des Mark Aurels an die Seite setzen, nicht als das Werk eines Mannes, sondern [250] als die Vorübung eines Jünglings, nicht als System, sondern nach Zweck und Absicht.

Und wie er schrieb, so handelte der königliche Jüngling. Sobald er, welches ihm sehr schwer ward, das Zutrauen Ludwigs gewann, veranlassete er Berichte aus allen Provinzen des Landes nach Punkten, die er selbst aufgesetzt hatte, die allenthalben ins einzelne gingen und zeigten, daß der Kronerbe alle Bedrücknisse des Reichs in allen Ständen klassenweise kannte. Als Feldherr hatte er im Kriege sie kennengelernt, und er besaß gerade den eisernen Fleiß, die unerschütterliche Stetigkeit des Willens, diesen Übeln auf den Grund zu kommen und ihnen einmal, wenigstens teilweise, abzuhelfen.

Die Berichte liefen ein, zweiundvierzig Bände in Folio, und die Beschwerden, die Mängel und Mißbräuche überstiegen den Begriff des Redakteurs, des bekannten Grafen Boulainvilliers, so weit, daß er sie sich dem Prinzen nicht vorzulegen getraute. Dieser aber las doch, las dabei die eingeschickten einzelnen Klagen, Beschwerden und Verbesserungsvorschläge mit dem großen Grundsatz, »daß, wenn in einem ganzen Bande chimärischer Spekulationen sich auch nureine nützliche Beobachtung fände, man die Zeit nicht bedauern müsse, die man aufs Lesen verwandt hat«-Die Mittel, diesen Verderbnissen abzuhelfen, reiften in der stillen Seele des Prinzen. – –

Und nun? Trauren Sie, meine Freunde; die muntre Gemahlin des Prinzen, die er zärtlich liebte, stirbt, von den Ärzten hingerichtet; innerhalb sechs Tagen stirbt der Prinz ihr nach, im dreißigsten Jahr seines blühenden Lebens. Lesen Sie die Geschichte seiner Krankheit, den Eigensinn Ludwigs dabei, das Ende des Prinzen; unwissend Ihrer wird eine Träne in Ihr Auge treten, und was wird dabei Ihr Wort sein? Fénelon sagte, als er die traurige Nachricht vernahm: »Meine Bande sind gelöset; nichts hält mich mehr an der Erde« Ludwig dagegen sagte: »Ich preise Gott für die Gnade, die er ihm geschenkt hat, so heilig zu sterben, als er lebte.« »Der König ertrug,« so sagt ein Geschichtschreiber, »alles als Christ, [251] glaubte, daß Gott das Reich um der Sünden willen seines Königes strafe, betete seinen Richter an, und keine Klage entfuhr ihm.« –

Wir, die wir keine Könige sind, dürfen keine so erhabne Gleichgültigkeit äußern. Wir können aufrichtig und herzlich bedauern, daß die Vorsehung dem zugrunde gerichteten Reich einen so geprüften, so festen, so tätigen König auch nur auf funfzehn oder zwanzig Jahre zu schenken nicht genehmigte. Hätte er in diesen nur den hundertsten Teil seiner reifgewordenen Entschlüsse ausgeführt und nur den tausendsten Teil der Übel, deren er sich erbarmte, gehoben, wie anders wäre der Zustand und die Geschichte Frankreichs seit einem Jahrhunderte geworden! – Nun aber kam nach wenigen jammervollen Jahren statt unsres Bourgogne der Held aller Ausschweifungen, Orleans, und statt des staatsklugen Fénelons der ruchloseste der Menschen, Du Bois, ans Ruder. Die ewige Unmündigkeit Ludwig des Vielgeliebten folgte, und wie es seitdem in Frankreich beschaffen gewesen, ist welt-und staatskundig. Die Memoirs von St. Simon, Du Clos, Richelieu, Du Terray u.f. führen uns in einen so tiefen Abgrund von ungebundener Lüderlichkeit und frevelhafter Unordnung, daß Jude, Christ, Heide und Türk über das Resultat äußerst besorgt und zugleich sehr einig sein mußten. – –

Was ist hierauf zu sagen? Gegen die Vorsehung zu murren wäre albern; denn wenn wir sie auch zur eigentümlichen Schutzgöttin Frankreichs und der Bourbons personifizierten, ja ihr dabei die Waage des Jupiters auf Ida selbst in die Hand gäben: in die eine Schale legt sie die Greuel der alten festgewurzelten Reichsverwaltung, einen ungeheuren Berg, in die andre Schale den jungen, von ihr geliebten Kronerben. Was kann er zu diesem Gebirge tun? wird er nach wenigen Jahren es vielleicht noch tun wollen? Er entschlafe also den Tod eines Heiligen, eines von Gott Geliebten, und es gehe der Ordnung der Dinge nach, nach welcher der fortgerollte Schneeball wächst, bis er schmilzt, die Greuel sich türmen, bis sie das Gleichgewicht verlieren.

[252] Wir sind also auch des Glaubens vom großen Ludwig, »qui souffrit tout en chrétien, il crût, que Dieu punissoit le Royaume des faultes de son Roi; il adora son juge, nulle plainte ne lui échappa,« erinnern uns dabei aber jenes alten Judengottes, der mit unköniglichem Bedauren sprach: »Dich jammert des Kürbis, und mich sollte nicht jammern u. f.« Lesen Sie die Worte selbst im unruhigen emigrierten Propheten. Jonas 4, 10–12.

Über die Vergänglichkeit

Eine Ode von Sarbievius


Menschlichem Elend wär es eine Lindrung,
Sänken die Dinge wieder, wie sie stiegen,
Langsam; doch oft begräbt ein schneller Umsturz Hohe Gebäude.
Lange beglückt stand nichts. Der Städt' und Menschen
Schickungen fliegen immer auf und nieder.
Jahre bedarf ein Königreich, zu steigen, Stunden, zu fallen.
Du, der du selbst des Todes Opfer sein wirst,
Nenne darum nicht, weil die Zeit im stillen
Menschen und Menschenwohnungen zerstöret, Grausam die Götter.
Die dich zum Leben rufte, jene Stunde
Rufte zum Tode dich. Der lebte lange,
Wer an Verdienst und Tugend sich ein ewig Leben erworben.

50.

Die griechische Philomele ist noch nicht verstummt; auch hat sie ihren Schmerz noch nicht vergessen. Sie klagt das [253] Unrecht, das ihr von Menschen geschah, und erweicht mit ihrem Gesange das Herz, sich von gleichem Unrecht zu enthalten.


Flet Philomela nefas; neque adhuc de pectore caedis
Effluxere notae, signataque sanguine pluma est.

Als ihre Schwester, die Schwalbe, sie aus der Einsamkeit des Waldes in die Gesellschaft, in die Häuser der Menschen schmeichelnd einlud:


»Komm in das Feld, komm in die Wohnungen
Der Menschen. Mit mir sollst du da vergnügt,
Geliebt von ihnen wohnen, wo du nicht
Den Tieren mehr, wo du dem Landmann singst.«
»Ach,« sprach sie, »laß mich hier in meiner Einsamkeit;
Der Menschen Umgang bringt mir nur das Unrecht,
Den Schmerz zurück, den ich von ihnen litt.«

Am liebsten nimmt diese alte Philomele an den stummen Klagen der Menschen teil, die sich ihrer Einsamkeit nahen. Sie bemerkt die Mienen ihres verschwiegenen Grams, den sie selbst einst ihrer Schwester nur in Stummen Bildern entdecken konnte; seit ihr die Götter ihre Stimme wiedergaben, gebraucht sie dieselbe also am liebsten zum Trost des sprachlosen Kummers der Menschheit.

Einen ihrer Gesänge belauschte ich neulich zu einer Zeit, da Nachtigallen sonst schweigen, und teile Ihnen solchen, wie ihn ein Freund aufschrieb, mit:


Philomele in T.


Hast du die Klagen gehört, die jüngst vom einsamen Aste
An den Ufern der Ilm Philomela tönte? Mir kamen
Einige Laute davon; vernimm von ihnen den Nachhall.
[254] »Wie so blätterlos ist der Hain! wie leer das Gesträuche!
Keine Stimme ertönt als nur der Raben und Elstern
Heisres Geschrei. Es klettert und pfeift die diebische Meise
An den Orten, die sonst nur meine Lieder erfüllten.
Ach, wohin ist der Geist der Liebe geflohen? wo ist er,
Und wo soll ich ihn finden? Wer wird ihn wieder erwecken?
Wann wir umher im Kreise der schattigen Ulmen, der Pappeln
Saßen und uns erweckten zu zärtlichen Liedern: ein Ton sucht
Lockend den andern; es schlägt von der Brust des antwortenden Sängers
Lauter die Liebe zurück ans Herz des Rufenden; wechselnd
Streitet im brünstigen Zwist der Gesang. Es schallet vom Felsen,
Schallt aus dem Haine wider; es hebt der glänzende Bach sich
Liebeschwellend empor; von atmenden Blüten und Zweigen
Haucht balsamischer Duft umher durch die Lüfte, und leise
Regt sich die schweigende Nacht mit taubefeuchteten Schwingen.
Aber der Menschen holdes Geschlecht, wie seh ich sie traurig
Jene Gefilde durchwandeln! Wie fremd von Blick und von Ansehn!
Wohin wendt sich ihr trüberes Aug? Ach, hin zu den Szenen
Voll des Mordes und Bluts! O ruft die Sinnen zurücke!
Warum sie tauchen in Greul und Elend der Menschen? Wer wird euch
Künftig erwecken die Brust zu sanftern, holdern Gefühlen?
[255] Wird dann das beste Glück des Lebens, die Freiheit, so teuer,
So mit Strömen des Blutes erkauft? Wer wird sie erkennen,
Wer die schmalere Grenze, wo Recht sich scheidet vom Unrecht?
Blicke des Argwohns begegnen dem Freund aus dem Auge des Freundes.
Jedes festere Band des Lebens knüpfet und löst sich
Nur durch Unwill und Wut. Ich sehe den stilleren Weisen
Einsam wandeln; sein Haupt deckt trüber Tiefsinn; es hänget
Zitternd über demselben das Schwert der Entscheidung; ihm tönen
Nicht mehr die Lieder ins Ohr der zarten Liebe, der Freundschaft,
Der erweckten Natur, des süßen, traulichen Umgangs.
Und o das blühende Mädchen! Ihr Hauch belebte die Wüste,
Wann die Wüste beleben sich könnte. Von ihrem Gesange
Übersteigen die Strahlen die meinigen. Wäre zur Blume
Sie des Haines geschaffen, kein Blümchen glich ihr an Reize,
Keines an himmlischem Glanz noch Duft. Sie senket ihr Auge
Nieder vom nackten Gipfel der hocherhabenen Ulme
Auf das verödete Land, und in sich ersterben die Strahlen.«
Also sang vom schwankenden Ast weissagend der Vogel,
Und der Nordwind verstummte; es nahten sich lindernde Weste.
Aber es schwebt, in der Höh mit ausgespreiteten Rudern
Und mit gierigem Aug ein Geier, dürstend nach Blute.
Dieser ersah den lieblichen Sänger und stürzt von der Höhe,
Faßt und drückt ihn gewaltig mit krummgespitzeter Klaue,
[256] Reißt ihm die blutende Brust auf und hackte begierig sein Leben.
Nicht ein leiser wimmernder Laut ward weiter gehöret,
Es entfloh die Seele mit stiller Wehmut von dannen
Ilicet (heu miseram!) tua Daulias exspiravit!
Jane, gravi moestum tacta dolore jecur.
Quid miseram dixi? Fatumne beatius ullum est,
Talia cantantem quam potuisse mori?

51.

Wären Kränze der Belohnung in meiner Hand, so sollten mir außer den Einrichtungen, die das Bedürfnis fodert, besonders auch die Bemühungen wert sein, die den gehässigen Wahn der Menschen unvermerkt zerstreuen und gesellige Humanität befördern. Nichts ist dem Wohlsein der lebendigen Schöpfung so sehr entgegen als das stocken ihrer Säfte; nichts bringt den Menschen tiefer hinab als ein trauriger Stillstand seiner Gedanken, seiner Bestrebungen, Hoffnungen und Wünsche.

Also auch die Schriftsteller, die uns von der Stelle bringen, die das plus ultra auf leichte und schwerere Weise ausüben, [257] gesetzt, daß sie auch keine neuen großen Resultate erjagten, wären mir sehr gefällig. Ein Mensch, der sich um Wahrheit bemühet, ist immer achtenswert, wer bei unschuldigen Bestrebungen nur Zwecke hat, ist nie verächtlich, gesetzt, daß diese auch bei weitem nicht Endzwecke wären. Denn was ist Endzweck in der Welt? wo liegt das Ende? Jedes gute Bestreben aber hat seinen Zweck in sich.

Mögen die Philosophen alter und neuer Zeiten keine einzige Wahrheit ausgemacht haben (welches doch ohne Wortspiel nicht behauptet werden kann), gnug, sie bestrebten sich um Wahrheit. Sie erweckten den menschlichen Verstand, hielten ihn im Gange, führten ihn weiter; alles, was er auf diesem Gange erfunden und geübt hat, haben wir also der Philosophie zu danken, wenn sie gleich selbst nichts hätte erfinden können und mögen Der philosophische Geist ist schätzbar; die ausgemachte Meister- und Zunftphilosophie bei weitem nicht so sehr, ja sie ist dem Fortdringen oft schädlich.

Insonderheit ist der philosophisch-moralische Geist, der die Sitten der Menschen betrachtet, ihre Farben scheidet und, wenn ich so sagen darf, ihr Inneres auswärts kehrt, eine wahre Gabe des Himmels, ein unserm Geschlecht unentbehrliches Gut. Stimme man nicht das alte Lied an: »Menschen sind Menschen! sie sind, was sie waren, und werden bleiben, was sie sind. Hat alle Moralphilosophie sie gebessert?« Denn diesem faulen trübsinnigen Wahn stehet mitnichten die Wahrheit zur Seite. Wenn wir auch nicht zum Ziel gelangten, müssen wir deshalb nicht in die Rennbahn? Ja wenn das Ziel der Vollkommenheit auch nicht zu erreichen wäre und, je näher wir ihm zu kommen scheinen, immer weiter von uns rückte, haben wir deshalb nicht Schritte getan? haben wir uns nicht beweget? Was wäre das Menschengeschlecht, wenn keine Vernunft, keine Moralphilosophie von ihm geübt wäre?

Vor andern scheinen mir die Moralisten wünschenswert, die uns mit uns selbst in ernste Unterhandlung zu bringen vermögen und uns auf eine scherzende Weise durchgreifende [258] Wahrheit sagen. Ich lasse der Akademie und Stoa ihren heiligen Wert; Plato und Mark Aurel nebst ihren Genossen werden dem Menschen, dem seine Bildung ernst ist, immer und immer Schutzgeister, Führer, warnende Freunde bleiben; wenn aber z.B. Horaz auf eine ernsthaft-scherzende Weise sich selbst zum Gegenstande der Moral macht, wenn er an sich und an seine Freunde im Ton der Vertraulichkeit mit leichter Hand das schärfste Richtmaß leget und die Heuchelei, den Aberglauben, den Sittenstolz, den Wahn und Dünkel von uns lieber fortlächelt als fortgeißelt, wenn er an sich und andern zeigt, daß man nicht im Äther hoher Maximen schweben, sondern auf der Erde bleiben und täglich in Kleinigkeiten auf seiner Hut sein müsse, um nicht mit der Zeit ein Unmensch zu werden, wer kann dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er, damit seine zarten Sittengemälde der Nachwelt wert würden, auf sie als auf wirkliche Kunstwerke gewandt hat? Diese Kunstwerke sind nicht nur lebendig, sondern auch belebend; ihr moralischer Geist geht in uns über; wir lernen an ihnen nicht dichten, sondern denken und handeln.

Jedem, der sich mit Horaz für andre würdig beschäftigen konnte, möchte ich, wenn Verdienst sich beneiden ließe, sein Verdienst beneiden. Auch unser deutsche Übersetzer der Briefe und Satiren dieses Dichters, Wieland, hat, vorzüglich durch den Kommentar derselben, jedem feineren Menschen eine belehrende Schule der Urbanität eröffnet. Was Shaftesbury in seinen Schriften für den römischen Dichter überhaupt ist, dessen moralische Kritik sich bei ihm allenthalben äußert, das ist unser Übersetzer im schwereren Einzelnen für Jünglinge sowohl als für Männer.

Nach der langen Nacht der Barbarei brach endlich auch unter den europäischen Völkern für die feinere Moral eine Morgenröte an. Die Provenzalen und Romandichter der mittleren Zeiten waren ihre Vorboten; Weiber und Männer aus allen, auch den vornehmsten Ständen suchten die Philosophie des Lebens wieder in die Welt einzuführen und streueten ihr [259] wenigstens Blumen. Sie erschien endlich, diese Philosophie, unter mehreren Nationen, und jeder Tritt soll uns heilig sein, wo sie gewandelt. Sollte das böse Schicksal es wollen, daß ganze Länder Europas (verhüte es der gute Genius der Menschheit!) wieder in die Barbarei versänken, so wollen wir, die an den Grenzen des Abgrundes stehen, die Namen und Schriften derer, die einst der Humanität dienten, um so heiliger bewahren. Sie sind uns alsdann Reste einer versunkenen Welt, Reliquien zerstörter Heiligtümer.

Du guter Montaigne, ihr Dichter und Schriftsteller voriger ruhiger oder stürmischer Zeiten Frankreichs und ihr, die ihr guter Genius beizeiten hinwegrief, Rousseau, Buffon, D'Alembert, Diderot, Mably, Du Clos: was ihr und eure Genossen der Menschheit Gutes erwiesen, ist ein Gewinn für alle Völker.

Die Briten haben durch das, was sie humour nennen, die Fehler des humours selbst dargestellt und dadurch die Unregelmäßigkeiten, das Ausschweifende und Übertriebne in menschlichen Charakteren dem Gelächter preisgeben, dem moralischen Urteil ins Licht setzen wollen. Da uns Deutschen dieser humour (leider oder gottlob?) fehlet, indem unsre Toren meistens nur abgeschmackte Toren sind, so ist's für uns, in diesen fremden Spiegel zu sehen, gewiß keine unnütze Beschäftigung. Der Flügelmann exerziert vorspringend, damit der Soldat im Gliede und der steife Rekrut exerzieren lerne.

Äußerst deutsch wäre es aber, wenn wir diese Übertreibungen für Schönheit nehmen und Shakespeares, Addisons, Swifts, Fieldings, Smollets, Sternes humoristische Figuren als Vorbilder des mora lisch-guten Geschmacks ansehen wollten. Dichter und Übersetzer wären an diesem Stumpfsinn wenigstens sehr unschuldig.

Dank also auch jedem guten Übersetzer guter britischen Humoristen. Und wir wissen alle, wem wir in Deutschland vorzüglich hiebei Dank zu sagen haben, dem Übersetzer Yoricks, Sterne, Fieldings, Smolletts, Goldsmiths, Cumberlands u.f. Die Bodeschen Übersetzungen der »Empfindsamen [260] Reisen,« des »Tristam Shandy,« »Thomas Jones,« »Humphrey Klinkers,« des »Landpriesters von Wakefield,« des »Westindiers« sind in aller Händen.

Für unser nordisches, angestrengtes und bedrücktes Leben sind überhaupt alle Schriften wohltätig, in denen unser Geist abgespannt, erweitert und milde gemacht wird. Immerdar sich zu spornen, andre zu treiben und von ihnen sich bedrängt zu fühlen ist der Zustand eines Tagelöhners, gesetzt, daß wir ihn auch mit dem Titel eines Strebens nach höchster Vollkommenheit in unablässigem Eifer ausschmücken wollten. Die menschliche Natur erliegt unter einer rastlosen Anstrengung; während der Ruhe, während des Spiels zwangloser Übungen gewinnt sie Munterkeit und Kräfte. Selten geht der unablässige Eifer anderswohin aus, als auf Schwärmerei und Übertreibung, die durch nichts zurecht gebracht werden kann als durch eine Darstellung dessen, was sie ist, durch eine leichte fröhliche Nachahmung ihrer eignen Charaktere. Da lacht der Tor, falls er noch lachen kann, über sich selbst, und im leichtesten Spiel findet man, wie Leibniz meint, die ernsteste Wahrheit.

Nachschrift des Herausgebers

Statt einer langen Anmerkung erlaube der Leser mir hier eine Stelle mitten unter fremden Briefen.

Der Mann, an den zu Ende des vorstehenden Briefes mit dem verdienten Lobe gedacht war, war mein Freund, und er ist nicht mehr. Eben, da ich diesen Brief zum Druck übersehe, wird seine Leiche begraben; aber ein Teil seines Geistes und seine redliche Mühe wird, hoffe ich, in unsrer Sprache noch fortleben, so wie sein Andenken im Herzen seiner Freunde.

Bode war mehr als Übersetzer; er war ein selbstdenkender, ein im Urteil geprüfter Mann, ein redlicher Freund, im Umgange ein geistiger, froher Gesellschafter. Und doch war sein Charakter noch schätzbarer als sein Geist; seine biedern [261] Grundsätze waren mir immer noch werter als die sinnreichsten Einfälle seines muntern Umganges. Er hatte viel erlebt, viel erfahren; in seinen mannigfaltigen Verbindungen hatte er Menschen aus allen Ständen von Seiten kennengelernt, von denen wenige andre sie kennenlernen, und wußte sie zu schätzen und zu ordnen.

Die Schwärmerei hassete er in jeder Maske und war ein Freund, so wie der gemeinen Wohlfahrt, so auch des wahren Menschenverstandes Der betrügenden Heuchelei entgegenzutreten, war ihm keine Mühe verdrießlich; gern opferte er diesem Geschäfte Zeit, Kosten und Seelenkräfte auf, die er sonst abwechselnder, vielleicht auch einträglicher hätte anwenden mögen. Viele seiner Freunde in mehreren Provinzen Deutschlands kennen ihn von dieser Seite; und wer einer standhaften Mühe in redlicher Absicht Gerechtigkeit widerfahren läßt, wird das Verdienst eines Mannes ehren, der in seinem sehr verbreiteten Kreise vielem Bösen widerstand und in seiner Art (nicht politisch!) ein Franklin war, der durch die Mittel, die in seiner Hand lagen, der Menschheit nichts als Gutes schaffen wollte und gewiß viel Gutes geschafft hat. Großmut war der Grund seines Charakters, den er in einzelnen Fällen mehrmals erwiesen; nach solchem nahm er sich insonderheit der Verlassenen, junger Leute, vergessener Armen, der Gekränkten, der Irrenden an und war, fast über seine Kräfte, ein stiller Wohltäter der Menschheit.

Auch seine Übersetzungen hatten diesen Zweck, und sein Fleiß dabei war unermüdet. Er bewarb sich bei ihnen sowohl um die Eigentümlichkeit des Gedankens als des Ausdrucks; mithin arbeitete er in beiden Sprachen. Er, Lessings Freund und bei einer Schrift sein Mitübersetzer, wollte nie ein Sprachverderber, wohl aber mit Urteil und Prüfung ein Erweiterer der Sprache werden. Die falschen Nachahmungen in seiner Manier hassete er ebensowohl als die Nachäffungen der Charaktere, die er dem deutschen Publikum verständlich machte; er übersah und übersetzte sein Buch als ein Mann von gesundem Verstande.

[262] Ein schätzbares Geschenk, das er uns hätte geben können, wäre die Beschreibung seines eignen Lebens gewesen. Schonend und bieder sagte er aber: »Von meiner Seite würde es anmaßend scheinen, andre würde es kompromittieren. Ich will in Friede schlafen.«

Und so schlafe er denn in Friede! Sein Ende kam, wie seine Freunde es wünschten, ohne langwierige Krankheit; fast bis an seinen Tod hin war er unverdrossen geschäftig. Viele Gute halten ihn wert. Unweit dem Künstler Cranach liegt er begraben.

52.

Als ich in Ihren Briefen die Fragmente »Über die Humanität Homers in der Iliade« las, fiel mir ein Schriftsteller ein, der vor Jahren nicht recht nach meinem Sinne gewesen war, Thomas Gordon, »Über den Tacitus«. 36 In der Jugend muß man keine politische Betrachtungen, weder Gordon noch Tacitus, lesen; sie machen uns eine zu ernste, zu saure Miene. Man siehet die Welt alsdann noch gern von der fröhlichen Seite an und hasset den grübelnden Tadel.

Über den Tacitus änderte sich mein Urteil, als ich ihn in reifern Jahren las. Ich kam davon zurück, daß der ein Sauertopf sei, der üble Gerüchte und politische Grübeleien zusammengemischt hätte (ein gemeines, aber äußerst falsches Urteil); wie sehr wünschte ich, Ihnen auch den Areopagiten Gordon, frei von seinen Schlacken (britischen Vergleichungen und Epanorthosen), bloß als einen lichten und leichten Versuch über die Humanität des Tacitus zusenden zu können [263] Nicht leicht hat ein Schriftsteller so viele Gemüter tiefer an sich gezogen als dieser Römer; wer ihn studierte, ward mit Geist und Sinn der Seine. Daher so viele Kommentatoren des Tacitus; je redlicher es jemand meinte, je mehr er die politische Welt aus eigner Erfahrung kennengelernt hatte, desto mehr liebte er den alten Geschichtschreiber und ward gar selbst sein Kommentator.

Was Gordon über des Tacitus Charakter, über seine Denkart, seine Beschreibungen, seine Grundsätze, seine Moral, endlich über seine Schreibart behauptet, sagt eher zuwenig als zuviel, so manches auch die lateinischen Stilisten, selbst der gute Lord Monboddo, dagegen einzuwenden haben möchten. 37 Nach allen Vorübungen, die wir im Deutschen als Versuche seiner Übersetzung gemacht haben, wünsche ich eine wahre Übersetzung desselben; mich dünkt, unsre Sprache sei dazu vor allen andern fähig.

Als Proben von der edlen Denkart des Tacitus führt Gordon schöne Stellen an, z.B. wie Hermanns Gemahlin, durch Verrat gefangen, unter andern edeln Frauen vor Germanicus geführt wird: »Segests Tochter, doch gleichgesinnter dem Gemahl als dem Vater. Auch überwunden kannte sie keine Tränen, kein flehendes Wort; sie hatte die Hände über ihren schwangern Leib zusammengeschlagen und sah auf ihn nieder.« Wie Germanicus, dem Teutoburger Walde nahend, in welchem die Gebeine des Varus und seiner Legionen noch unbegraben lagen, nun herzlich verlangt, dem erschlagenen Heerführer und seinem Heer der Menschheit letzte Pflicht zu leisten: »Da jammern alle, die mit waren, über Verwandte, Freunde, über Kriegsunfälle, über der Menschen Schicksal. Sie kommen an den traurigen Ort, sie sehen Varus' Lager, die Überbleibsel derer, die, zurückgedrängt, Rettung hatten suchen wollen, endlich das Feld voll weißer Gebeine, wie sie geflohen und gestanden, auseinandergesprengt und aneinandergedrängt gewesen waren; nebenan lagen zerbrochene [264] Spieße und Pferdeglieder; an Baumstämmen waren angenagelte Köpfe; nahan im Walde standen die barbarischen Altäre, auf welchen Tribunen und Zenturionen geblutet hatten. Und die dieser Schlacht, die der Gefangenschaft entkommen waren, erzählten: ›Hier fielen die Anführer der Legionen, dort wurden die Adler erbeutet; hier bekam Varus seine erste Wunde, dort gab er sich mit unglücklicher Rechte selbst den Tod. Auf dieser Höhe stand Hermann und sprach den Seinigen Mut zu; hier die Galgen, woran er die Gefangenen knüpfen, dort, wo er die Adler und Feldzeichen verhöhnen ließ.‹ Nach sechs Jahren also begrub eine römische Armee ihre drei Legionen, und keiner kannte, wen er begrub, ob seinen Verwandten, ob einen Fremden. Jeder ward als Blutsfreund, als Verbündeter bestattet, mit desto größerem Zorn gegen den Feind, aufgebracht und traurig.«

So führt Gordon die schöne Stelle über Tiberius an: »Seine Untaten und Laster wurden ihm selbst zur Marterstrafe; denn vergebens habe der weiseste Alte nicht gesagt, daß, wenn man solcher Unmenschen Inneres aufschließen könnte und Striemen und Wunden der Seele auch sichtbar wären wie Wunden des Körpers, man ihr Gemüt nicht anders als von Grausamkeit, Wollust und übeln Ratgebern zerfleischt erblicken könnte.«

Dergleichen Stellen führt Gordon mehrere an. Aber was sind sie außer dem Zusammenhange der Geschichte, die ihnen eigentlich Urkunde und Beleg ist? Die letzte Stelle z.B. beziehet sich auf des Tiberius meisterhaften, kurzen Brief an den römischen Rat: »Was ich Euch schreiben soll, meine Herren, oder wie ich schreiben oder was ich Euch jetzt nicht schreiben soll; alle Teufel mögen mich holen (die mich täglich und stündlich plagen), wenn ich das weiß!« Da konnte Tacitus hinzusetzen: »Weder Glück noch Einsamkeit konnten den Tiberius schützen, daß er die Qual seiner Brust und die Strafe, die er an sich selbst litt, nicht selbst bekennte«

Soll ich Ihnen von Gordon mehr erzählen? Nur seine Kapitel will ich herschreiben: »Von Cäsars unrechtmäßigem Besitz [265] der Herrschaft und warum dessen Name weniger als des Catilina Name gehässig ist? Von Octavius Augustus Ränken, seinem rachsüchtigen Gemüt, seinem Meineide, Grausamkeiten und den Begebenheiten, die zu seinem großen Namen beitrugen. Von der Liebe des Volks und Rates, die er sich zu erwerben suchte. Von der Ehre, mit welcher ihm die Dichter geschmeichelt. Von dem falschen Glanz, den seine Nachfolger ihm verschafft haben. Vom Kaiserregiment. Vom Majestätsgesetz. Von Anklagen und Angebern. Von der allgemeinen Entehrung der Gemüter und von der Schmeichelei, die eine unumschränkte Regierung begleiten. Vom Geist der Höfe. Über Armeen und Eroberungen. Über die Kaiser, deren Geschichte Tacitus beschreibt, über ihre Minister, ihre Unglücksfälle und die Ursachen ihres Sturzes. Über die Bestechung der Minister Von Finanzen, Volk, Adel, dem Aberglauben der Regenten« u.f. –

Ein ganzes Staatssystem, mit zahlreichen Beispielen und Sprüchen aus Tacitus belegt, zwar nicht im scharfsinnigen Weltgeschmack des Machiavells, desto mehr aber, und bis zum Übermaße, mit aller Wärme eines ehrlichen, das Beste wollenden Mannes gezeichnet. Diderot rechnete Gordon unter seine liebsten Schriftsteller; schaden wenigstens wird er niemanden und muntert sehr zum eignen, verständigen Lesen des Tacitus an. Hätte er damit nicht seinen Zweck erreichet?

O daß wir den Tacitus ganz hätten! Warum müssen seine Jahrbücher gerade mit dem Tode des edlen Thrasea, seine Geschichtbücher eben vor Vespasian aufhören? Seiner »Germania« wegen ist Deutschland ihm besondern Dank schuldig; und vielleicht hat keine europäische Nation mehr Ursache als sie, in Tacitus' Manier ihre Geschichte nach der vortrefflichen Grundlage, die er von Deutschland selbst gemacht, fortzuschreiben. Schenkte uns indessen nur ein zweites Kloster Corvey den ganzen Tacitus und in Absicht Deutschlandes seinen Gesellen, den Plinius, wieder!

[266]

53.

Wie? wenn ich Ihnen für Ihren schottischen Gordon einen deutschen Kommentator des Tacitus nennte, der jenem an der Seite zu stehen wohl wert, aber desto unbekannter, desto ungeschätzter ist? Die bloßen Grammatiker haben von seinen Anmerkungen über diesen Römer sehr zurücksetzend gesprochen; sie sind aber voll Kenntnis der Geschichte, voll Lebens- und Geschäftserfahrung, dabei mit so deutscher Treue und Biederkeit, vor mehr als hundert Jahren geschrieben, daß sie für uns endlich doch ein lehrreiches Buch werden könnten. Es sind die sogenannten »Politischen Anmerkungen über Tacitus« vom Mömpelgardschen Geheimen Rat Forstner. 38

Moser hat sich um diesen Mann verdient gemacht, daß er seine Lebensgeschichte, so gut er sie haben konnte, in sein »Patriotisches Archiv« aufnahm. Eine Reihe Briefe desselben kennen Sie aus einer andern nützlichen Sammlung. 39 Wie? wenn jemand, jedoch mit Auswahl und Zusammenstellung, Forstners Gedanken über Tacitus übersetzte und Friedrich Carl Moser sie auch nur mit wenigem kommentierte, so käme dieser Reichtum bescheidener, geprüfter Gedanken doch einigermaßen in Umlauf.

Überhaupt, warum liegen die Betrachtungen verdienter deutscher Staatsmänner voriger Zeiten bei uns so tief im Dunkel? Engländer, Franzosen und Italiener haben die ihrigen schön aufgeputzt; wir stehen hierin fast hinter Polen und Ungarn. Und doch ist das Geschäft- und Gedankenreich verdienter, sachkundiger Männer einer Nation gleichsam der Stamm, ohne welchen sie kaum eine Nation, geschweige ein durchdachter, durchempfundener Staatskörper genannt zu werden verdienet. Die geographischen Grenzen allein machen das Ganze einer Nation nicht aus; ein Reichstag der Fürsten, [267] eine gemeinschaftliche Sprache der Völker bewirken es auch nicht allein; ja, letztere ist in Deutschland den Provinzen nach so verschieden (große Striche sprechen ganz und gar eine fremde Sprache, ganze Klassen der Menschen nehmen an Gedanken gar keinen Teil), daß, wenn man dies alles zusammenhält, man es den Magistern nicht übelnehmen kann, wenn sie pro gradu noch bis jetzt über das ganze Thema disputieren, »welche Regimentsverfassung Deutschland habe, oder ob die Deutschen eine Nation sein«. Die spottenden Urteile der Ausländer hierüber, auch wenn sie unserm Fleiß, unsrer Treue, unserm Biedersinn Gerechtigkeit widerfahren lassen, sind bekannt. Sollte es also nicht der geringste Dank sein, den man dem verstorbenen Diener erweiset, daß man mit seinen Dienstleistungen auch die Gedanken, deren er sich dabei erkühnte, der Nachwelt nicht entziehe? Wenigstens bilden sodann doch die treuen Diener eine Kette, die Jahrhunderte durchreicht und an die sich neue treue Diener anschließen mögen. Das Jahrhundert der Reformation erlaubte sich noch, auch über vaterländische Sachen laut zu denken; seitdem ward alles Rang, Form und Stand oder ging, sobald es ein eigner Gedanke schien, in die Archivgräber.

Daher dann, daß uns eine Geschichte Deutschlands so lange gefehlt hat und in manchen Teilen noch lange fehlen wird. Daher, daß unser Sleidan keine Ausgabe wie der französische Thuan erlebt hat und unsre Mevii, verstandreich wie sie sind, den Montesquieus, Clarendons, Sarpis andrer Nationen an Ruhm, Glanz, allgemeiner Bekanntschaft und Schätzung wohl nachstehen müssen. Daher, daß die Mozambanos, die a Lapide unter besonderm Schutz, immer also halbparteiisch schreiben, wohl gar in fremde Länder gehn oder Fremde sein mußten. Daher endlich, daß die besten Schriften dieses Faches in Deutschland vergleichungsweise wenig oder keine Wirkung tun; denn oft ist mit jeder dritten Meile das politische Interesse der deutschen Provinzen geändert.

[268] Weit entfernt bin ich, hiemit eine Staatsklügelei nach Deutschland zu wünschen, die gottlob unser Charakter nicht ist und die jedem Volk verderblich gewesen. Räsonierte Geschichte aber, räsonierte Erfahrungen des Lebens aus allen Ständen, in allen Verhältnissen und Ämtern muß jedermann wünschen Durch die Vernunft lebt der Mensch, ob er gleich vom Brote lebet; die oft teuer erworbene Summe von Gedanken und Erfahrungen unsres Lebens ist auch einBesitz, und jedes Glied des Staats gehört dem Ganzen nicht nur durch das, was es mechanisch tat, sondern auch durch das, was es bei diesem mechanischen Tun dachte. Schweigen verständige Leute, so redet der Tor; der spricht sodann desto unbesonnener und lauter.

Mich dünkt, in Deutschland war zu neueren Zeiten Moser der erste, der in dieser Art freimütiger und bescheidner Biederkeit ein Beispiel gab. Stellet man ihn mit ältern deutschen sogenannten Staatsmännern, Kulpis, Reinking, Veit Seckendorf, zusammen, welch ein Unterschied! gewiß nicht zu seinem Nachteil. Sein »Herr und Diener,« seine »Beherzigungen,« »Reliquien,« »Patriotische Briefe,« sein »Schutt zur Wegebesserung,« und was für Einkleidungen er sonst gewählet, sind einesteils mit einer so treffenden Wahrheit, andernteils mit einer Herzlichkeit geschrieben, als ob der Verfasser einmal Luthers Freund und Amanuensis gewesen wäre. Züge der Beredsamkeit sind in ihm, deren sich mancher britische Parlamentsredner nicht schämen dürfte; und alles hüllet sich endlich in den Mantel der deutschen Bescheidenheit und Demut. Sein »Patriotisches Archiv« enthält treffliche Sachen, so wie durchaus keiner seiner Aufsätze von Geist und Herz leer ist. Die meisten derselben, weil sie deutsche Dinge betreffen, lesen sich, als ob sie heute geschrieben wären.

Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts entstanden periodische Schriften mancherlei Inhalts; im jetzigen mehrten sich diese nicht nur im ganzen, sie vervielfachten sich auch in einzelnen Provinzen bis zu wöchentlichen Blättern und [269] Beiträge, die in Deutschland ein sehr guter Same geworden sind. Mösers »Patriotische Phantasien« sind aus Beiträgen zum osnabrückischen Wochenblatt entstanden; und was andre Zeitschriften hier, dort und da in den germanischen Wäldern für Nutzen gestiftet haben, ist weniger landkundig als wahr und rühmlich. Laß es hie und da auch Mißbräuche dieses Vehikuls gegeben haben und geben: Mißbrauch hebt die gute Sache nicht auf. Viele unsrer deutschen Journale sind ein Fundbuch trefflicher Materialien, ja in Deutschland fast das einzige Mittel, wodurch Provinzen und Stände einander kennenlernen. Mancher böse Pflichtträger, der sich gleich jenem im Evangelium weder vor Gott noch Menschen fürchtet, scheuet sich wenigstens vor der Schande eines Journals. –

Ungleich höher und weit voran alle diesem stünde die Geschichte, wenn sie jeder Provinz unsres Landes mit Geschmack, Verstand und Patriotismus bereits einheimisch geworden wäre. Wollten wir uns von einigen derselben nach und nach nicht ausführlicher unterhalten? Wenn irgendeine Wissenschaft, so ist ja die Geschichte ein Studium der Humanität ein Werkzeug des echtesten Vaterlandsgeistes.

[270]

Fünfte Sammlung

(1795)


[271][273]

54.

Der Wunsch unsres Freundes 40 fängt an, in Erfüllung zu gehen: »Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst« sind in zwei Bändchen erschienen, die zu mehreren Hoffnung erwecken und Hoffnung geben. 41 Petrarca, Augustin, Uriel Acosta, Franz Junius, Comenius, Holberg, Leibniz sprechen hier allesamt in der eignen Sprache ihres Herzens und Geistes. Von Petrarca sind seine drei Gespräche über sich selbst, »Mein Geheimnis« genannt, ganz übersetzt, Augustins »Bekenntnisse« im Auszuge. Acostas »Exemplar vitae humanae,« wie es Limborch, Franz Junius' Lebensbeschreibung, wie sie Merula bekanntgemacht, Comenius' Bekenntnis von sich aus seinem »Eins ist Not« (unum necessarium), Holberg, Leibniz aus ihren Briefen. – Können verschiedene, allesamt merkwürdige Männer in einem engeren Raum auftreten und von sich zeugen?

Ihrem eignen Zeugnisse hat der Autor mit Erzählung ihrer Lebensumstände fortgeholfen, wie, dünkt mich, notwendig und recht ist. Was weiß ein Sterblicher, wer oder wozu er da sei? zu welchen Zwecken ihn die Vorsehung in ihrem großen Plan brauchen werde? Er schüttet sein Herz aus, in Freude oder meistens in Leid, vor Gott, vor sich selbst oder vor Men schen; sein Auge blickt nieder zur Erde. Denn seiner Schwächen, seiner mühsamen, oft eiteln Bestrebungen, seines Kampfes mit sich und mit andern demütig bewußt, zählet er sich kaum und kann und darf nicht rechnen, was seine Ziffer zum großen Nenner der Welt bedeute oder bedeute [273] werde. Hier darf der Autor, der den Bekennenden als Freund vorführt, zumal wenn er Jahrhunderte nach ihm lebet, wohl ein Wort über ihn sprechen und auf der großen Tafel der Weltbegebenheiten zeigen, wo er stand, wo er künftig stehen möchte.

Petrarca war eine der zartesten Seelen, die in menschlichen Körpern erschienen. Nicht seiner Sprache allein hat er jene Formen süßer Sonette und Kanzonen und mit diesen zugleich die erlesensten Gedanken der Provenzalen, ja jenes Ideal einer Liebe eingedrückt, die sich mehr im Himmel als auf der Erde fühlet, sondern für ganz Europa war er ein eifriger Erwecker der Alten; für Italien, für Rom war er ein Patriot, desgleichen es unter den Petrarchisten keinen mehr gab, und, was über alles geht, ein strenger Bearbeiter seines Herzens und Geistes. Seine Briefe und andre lateinische Schriften sind eine eigentliche Schule der Bildung sein selbst, voll männlicher Unterhaltung. Eine Seele dieser Art, die allenthalben Ruhe suchte und sie nirgend fand, in einsamen Selbstgesprächen mit ihrem Schutzgeist sprechen zu hören mag freilich eitele Leser ermüden; Beobachter menschlicher Sinnesarten aber werden ihr angenehm lauschen, und zarte Gemüter, wie Petrarca selbst war, wird er tief in ihr Inneres führen. Diese Bekenntnisse und die »Nachrichten zu dem Leben des Petrarca« 42 müssen jedem, der fürs stille Gemüt lieset, eine liebe Unterhaltung sein.

Augustin (der zweite Mann, den unser Autor in seinem Selbstbekenntnisse darstellt) war ein Kirchenvater; er ist's auch in seinen »Konfessionen«. Um die Seele eines Kirchenvaters kennenzulernen, von der manche, die auf diesen Namen schmähen, fast keinen Begriff haben, muß man sie lesen. Die ganze Denkart, ja, ich möchte sagen, der Witz, die Phantasie, selbst die täuschende Sophisterei Augustins ist in ihnen. Unser Autor ist über ihn nur kurz gewesen, denn über Augustin müßte man ein Buch schreiben.

Welche Kämpfe hat der arme Acosta sich zugezogen! welche [274] Verfolgungen der redliche Junius standhaft ertragen! Auch bei Comenius siehet man seinen zwar nicht tiefdringenden, aber vielumfassenden Geist, seinen allenthalben aufs Nutzbare, auf Reform der Wissenschaften und Schulen gestellten Sinn. Über ihn, der für sein Zeitalter mehr als Basedow war und noch mehr hätte sein können, wünschte ich, daß jemand ausführlicher spräche.

Holbergs Leben ist äußerst merkwürdig und unterhaltend, wie es auch der Mann selbst war. In seiner Zeit und Lage, nach einer solchen Jugend hat er ungemein viel geleistet; er riß sich selbst über die Denkart seines Landes hervor und ward, zwar in keiner Bemühung ein Stern erster Größe, allenthalben aber ein freundlicher Stern mitten im dichten Nebel. Manche seiner Schriften sind noch jetzt sehr lesbar, zumal sein »Klim« und seine »Briefe«. Unter den Alten waren ihm Plutarch und Lucian, Terenz, Ovid, Juvenal, Petron und Plinius, unter den Neuern nebst einigen Geschichtschreibern Grotius, Bayle, le Clerc, Molière die liebsten; man siehet die Spuren davon in seinen Schriften, in denen sich nirgend ein tiefer, allenthalben aber ein heller, lebhafter, vernünftiger, moralischer Geist zeiget.

Leibniz endlich – hier konnte unser Autor, der die bekannten Lebensumstände nicht wiederholen wollte, wenig sagen, denn die Geschichte seines Geistes hat Leibniz uns nicht selbst geschrieben. Er lebt für uns in seinen Schriften, aus welchen hier einige Umstände zusammengestellt sind. Hören Sie von ihm eine Weissagung:

»Ich finde, daß solche (leichtsinnige, irreligiöse) Meinungen, indem sie je mehr und mehr unter Leuten von der großen Welt, nach welchen sich die übrigen zu richten pflegen, Liebhaber finden und sich in die Modebücher einschleichen, alles zu der Generalrevolution, von welcher Europa bedrohet wird, zubereiten und die Zerstörung alles dessen vollenden helfen, was von den edlen Grundsätzen der Griechen und Römer, welche die Liebe des Vaterlandes, des gemeinen Wesens und die Sorge für die Nachwelt ihrem eignen Glück, [275] ja selbst dem Leben vorzogen, bis jetzt noch übriggeblieben ist. Der Gemeingeist (public spirit) vermindert sich außerordentlich, kommt je mehr und mehr aus der Mode und wird noch mehr abnehmen, wenn er aufhört, von einer guten Moral und der wahren Religion, wie selbst die gesunde Vernunft sie uns lehrt, unterstützt zu werden. Sogar die Bessern von der entgegengesetzten Seite nehmen kein andres Principium mehr als die Ehre an. Bei ihnen aber heißt einMann von Ehre schon der, der nichts tut, was sie für niederträchtig halten. Und wenn sogar einer aus Laune, oder um seine Ehrsucht zu befriedigen. Ströme Blutes vergießen und alles übereinander werfen würde, so wäre ihnen das alles nichts, und selbst ein Herostrat würde ihnen ein Held sein. Laut macht man sich über die Liebe des Vaterlandes lustig; laut macht man die lächerlich, die für das allgemeine Beste sorgen; und zeigt jemand in der reinsten Absicht die traurigen Aussichten, die sich uns für die Zukunft eröffnen, so ist die Antwort: ›Laß diese für sich sorgen.‹ – Leicht aber dürften solche Leute zuerst das Unglück erfahren, welches sie bloß für andre aufbewahrt glauben. Kommt man dieser epidemischen Krankheit, deren üble Wirkungen bereits sichtbar zu werden anfangen, noch in Zeiten vor, so lassen sich ihre Folgen vielleicht noch hemmen Nimmt sie aber überhand, so wird die Vorsicht die Menschen gerade durch die Revolution, die daraus entstehen muß, heilen und, was auch kommen mag, am Ende zum Wohl des Ganzen leiten, ob dies gleich ohne Züchtigung derer, die durch ihre bösen Handlungen wider ihren Willen zur Beförderung des Guten beitrugen, weder erreicht werden wird noch erreicht werden kann.«

Soweit Leibniz. Wünschen Sie nicht, daß unserm Autor viele, auch ungedruckte Bekenntnisse merkwürdiger Männer zukommen mögen? Wenn in unserm Vaterlande der moralische Gemeingeist, über dessen Abgang Leibniz klaget, noch nicht ganz ausgestorben ist, so sollte dieser ihm solche in sein Sacrarium treuer Bekenntnisse zuführen.

[276]

55.

Angenehm hat mich der Name Petrarca in Ihrem Briefe geweckt; er erinnerte mich an die Zeiten, da ich, nicht etwa nur seine Sonette und Kanzonen, sondern die Nachrichten aus seinem Leben 43 und die merkwürdigsten seiner Schriften und Briefe selbst las. Welch eine falsche Idee hat man gemeiniglich von Petrarca! Wie falsch wäre auch die, wenn man sich aus diesen Selbstgesprächen etwa nur eine bußfertige Seele oder einen mit sich selbst Unzufriedenen abzöge! Ganz ein andrer Geist lebte in Petrarca.

Zuerst trug er das große, unaustilgbare Gepräge der Liebe des Altertums in seiner Seele; ein Gepräge, das mir allenthalben ehrwürdig ist, wo ich's gewahr werde, und das uns bei ihm, zu seiner Zeit, unter seinen Umständen, in der Anwendung, die er davon machte, äußerst wohltut. Die Griechen kannte er wenig und setzte sie den Römern nach; er ward mit ihrer Sprache zu spät bekannt, und da er die Römer als seine Landsleute ansah, deren Glanz in Italien er wiederzusehen wünschte, so gab ihnen dieses schon in seiner Seele einen Vorrang vor allen Völkern der Erde. Nie haben ihre Redner, Dichter und Weisen einen eifrigern Schüler gehabt als ihn, der nicht etwa nur in der Sprache ihnen nachzubuhlen suchte, sondern ihren großen Sinn, ihre hohe Gedankenweise zur seinigen machte. Dies zeigen seine Schriften und Briefe, seine Sammlungen von Beispielen der Vorwelt, die Grundsätze, an welche er sich hielt, mit welchen er andre tröstete oder weckte, endlich seine lateinischen Gespräche, Gedichte und andre Einkleidungen, in denen man bis zu seinen höchsten Jahren hinauf den Schüler der Alten wahrnimmt. Hier klopft Petrarca jedem Jünglinge und Mann auf die Schulter: »Liesest du die Alten also? wendest du sie also an?« Petrarcas lateinischer Stil mag unrein sein; seine Denkart war es nicht. Ein Freund des Vaterlandes, wie Tullius [277] und Cato, weiß er die strengen Grundsätze eines Seneca durch die gesellschaftliche Teilnehmung und Gefälligkeit des Horaz anmutig zu mildern. Manche Briefe, in denen er seine Schwachheiten liebenswürdig bekennet und entschuldigt, ja gleichsam mit seinem eignen Herzen spielet, sind ganz in der Denkart Horaz, geschrieben, und eine sittliche Urbanität ist der Charakter aller seiner Schriften.

Dies Gefühl also, nach welchem er ganz unter den Alten lebte, webte den Faden seiner Begebenheiten und ward, wie man sagt, der Schmied seines Glücks. Auf eine niedrige Weise nach den Begriffen seiner Zeit ein Glück machen, konnte und wollte er nicht; er schlug dazu alle Gelegenheiten aus, die er auch nicht zu brauchen gewußt hätte; dagegen erwarb er sich eine Liebe und Anhänglichkeit, ein Ansehen und einen Namen, über welchen man fröhlich erstaunet. Welche Briefe und Anreden, die er an Kaiser, Könige, Päpste, Kardinäle, Bischöfe und Fürsten schrieb! und welche Art, in der sie aufgenommen wurden! Keine Veränderung der päpstlichen und bürgerlichen Welt, die einigermaßen sein Italien betraf, ging vor, ohne daß er den lebhaftesten Anteil daran genommen hätte, eben weil sein Vaterland so ganz in seinem Herzen wohnte. Vergleicht man in diesem Punkt, im Punkt der Achtung nämlich, die man dem hellen Verstande, der reinen Wissenschaft Petrarcas erwies, seine Zeiten mit den unsrigen, welche soll man barbarisch nennen? Dort hatte man wenigstens eine Achtung für den Verständigen, der, obwohl bloß ein Mann der Wissenschaft und kein Staatsdiener, bei öffentlichen Anlässen anmunterte, riet, warnte, lehrte; jetzt würde dem Petrarca selbst schon der poetische Lorbeerkranz auf seinem Schädel allenthalben ein Stillschweigen auflegen, wo er nicht zu loben vermöchte Und doch war es eben und einzig diese Liebe und Achtung für Wissenschaften, die den Zeiten aufhalf, ohne welche wir noch in der Barbarei lägen. Wer siehet nicht noch jetzt das Bild des Königes Roberts von Neapel, der edlen Colonnas und so mancher andern seiner großen Freunde in Petrarcas Schriften mit Liebe und Bewunderung[278] an? Wie in einem Traum lieset man ihre freundschaftlichen Briefe und hört Petrarcas Zeugnisse von ihnen, bis man durch Zeugnisse von andern, die nicht so dachten, eben auch in denselben Briefen unangenehm aus dem Traume geweckt wird.

Endlich ist das Ideal von Liebe, das Petrarca mit sich trug und in seinen Gedichten mit unglaublicher Kunst und Sorgfalt ausbildete, gewiß die kleinfügige Idee nicht, die man gewöhnlich sich an ihm denket.Laura möge in Person oder zum leibhaften Petrarca gewesen sein, wer sie wolle; dem geistigen Petrarca war sie eine Idee, an die er auf Erden und im Himmel, wie an das Bild einer Madonna, allen Reichtum seiner Phantasie, seines Herzens, seiner Erfahrungen, endlich auch alle Schönheiten der Provenzalen vor ihm, dergestalt verwandte, daß er sie in seiner Sprache zum höchsten, ewigen Bilde aller sittlichen Weibesschönheit zu machen strebte. Auf griechische Weise konnte dies nicht geschehen; eine nackte Grazie oder eine Venus Urania konnte und wollte er nicht malen; er wählte also die Züge, die in seinem Zeitgeist, in der provenzalischen Poesie, in den Begriffen seiner Religion und ihren Darstellungen als Stoff eines reinen weiblichen Ideals sittlicher Humanität zerstreuet dalagen, und bildete seine Madonna daraus, die irdische und himmlische Laura. Diese zeigte er in Wirkung auf sich, auf sein eigen Herz, und zwar in mancherlei Umständen, in Wirkung auf seine Schwachheiten sowohl als auf die edlere Seite seines Gemüts; hiedurch allein ward sie anziehend und belehrend. Denn eine Schönheit, die keine Liebe erregt, eine Liebe, die nur Bewunderung ist und ohne Kampf mit sich, ohne Fehler und Schwachheiten seufzet, sind ohne Reiz und Anwendung. Von allem Sittlich-Schönen im weiblichen Charakter pflückte Petrarca die Blüte und wand seiner irdischen Freundin, die er vielleicht nur hie und da in seiner Jugend gesehen haben mag, die eines andern Mannes Weib und Mutter von Kindern war, die diese Gedichte vielleicht nicht verstand, die wenigsten sah (denn die schönsten sind nach ihrem Tode gedichtet), einen unsterblichen Kranz um ihre unschuldige [279] Schläfe. Wer den Geschmack der provenzalischen Poesie, wer die Beatrice des Dante kennet, wird hieran nicht zweifeln und die Mühe bedauren, die der Lebensbeschreiber Petrarcas, ein Abkömmling der angeblichen Laura, auf die Anwendung jedes Zuges, der ihre Person betreffen soll, gewandt hat. Jeder Liebhaber kann und soll seine Laura in Petrarcas Gedichten finden; er soll sein Herz mit allen Schwachheiten auch darin finden und die Läuterung wahrnehmen, die ein reiner weiblicher Charakter im Gemüt sowohl des Jünglinges als des Mannes bewirken soll und kann. Hiezu steht Laura da; und ich wüßte nicht, ob es einen schönern Zweck der Poesie der Liebe gebe, wenn einmal diese Gattung Poesie da sein soll. Gegen die römischen Dichter des Amors, Horaz, Tibull, Properz, macht Petrarca, der Idee seiner versi volgari nach, keinen kleineren Unterschied, als den er der Sprache, den Nationen und Zeiten selbst nach machen mußte. Von unsern erotischen Dichtern steht er in gleichem Maße gesondert. Da es indessen doch wohl niemanden zu verargen sein wird, wenn er in seine Liebe Gemüt bringet und sie nicht bloß als ein Werk des Bedürfnisses und der Konvenienz betreibet, so sehe ich auch Petrarcas Laura als ein Ideal an, das keinen Jüngling verführen, das jedem edelgeschaffenen Jünglinge als ein Madonnenbild alter Zeiten in einer so schönen Sprache wohltun wird. Die Empfindungen Petrarcas in Ansehung der Freundschaft gegen Freunde waren diesem Ideal nicht entgegen, und Italien, Rom, seine Sprache, die Menschheit waren seines Gemüts ewige Laura. Als ich in einer schönen Morgenstunde den letzten Aufenthalt seines irdischen Daseins vorüberfuhr, umfing mich eine so süße Erinnerung seines freundschaftlichen Herzens und ganzen Lebens, daß ich nicht anders als die letzten Worte seines letzten Briefes ausrufen konnte: »Valete, amici, valete, epistolae.« Er starb im Jahr 1374; man weiß nicht recht, wie und wann; gnug, daß man den ruhigen Greis an seinem Pulte sitzend tat fand. Valete amici.

[280]

56.

So angenehm mir Petrarca war, so weh tat mir Uriel Acosta in seinem letzten Selbstbekenntnis. Der arme Jude, von Zweifeln über Seine Religion ergriffen, gab alle Verhältnisse seiner edlen Geburt, seines Glückes und Standes auf, suchte Ruhe hie und dort, fand an seinen nächsten Verwandten die ärgsten Feinde und endigte damit, daß er, als ein Neuaufgenommener in der Synagoge seiner Glaubensgenossen, schimpflich entblößt, mit Füßen getreten, gepeitscht, verspeiet, es nicht länger ertragen zu dürfen glaubte und sich selbst den Tod gab. Die Aufschrift seines Urlaubes aus dem Leben: »Exemplar humanae vitae,« rührete mich von jeher; und o möchte ein jeder, der, von Menschen aus der Welt gedrängt, zuletzt noch einige Worte für Menschen zu schreiben guten Willen und Kraft hat, sein Exemplar des menschlichen Lebens dem Exemplar des Acosta hinzufügen! Die Menschheit erhielte damit eine Anzahl sonderbarer Exemplare.

Von Kindheit auf ist mir nichts abscheulicher gewesen als Verfolgungen oder persönliche Beschimpfungen eines Menschen über seine Religion. Wen gehet diese als ihn selbst und Gott an? Ja, wer weiß nicht, was an dem Wort Religion, sobald es innere Überzeugung und Gefühl betrifft, für tiefe Skrupel und Schwierigkeiten haften? Dem ist dieses, einem andern das aufs innigste anstößig; zu diesem Ausdruck kann er sich nicht gewöhnen, von jener früh erfaßten Vorstellungsart auf keine Weise sondern. An ihr hangen seine moralischen Begriffe, an ihr vielleicht seine vornehmste Trieb feder, ja sein Ideal der Moralität selbst. Dieser findet Zweifel, wo keiner sie findet; die schwarze, phantastische Fliege verfolgt ihn, ohne daß ein andrer als er sie siehet. Wie grausam ist's also, wie unvernünftig, nutzlos und unmenschlich, wenn sich ein Mensch, ein Gericht, eine Synagoge das Verdammungs-, das Verfolgungsurteil über die Religion eines andern, wäre er auch ein Neger und Indier, anmaßt!


[281] Mit Schauder lieset man Acostas Erzählung, Klagen und Seufzer, die er im tiefen Schmerz über die ihm, einem Rückkehrenden, in einem Gotteshause zugefügte peinliche Beschimpfung ausstößt 44 und die mit dem traurigen Gefühl der völligen Verlassenheit und Ohnmacht enden: »Hier habt ihr die wahre Geschichte meines Lebens, und welche Person ich auf dem eiteln Schauplatz dieser Welt, in meinem unbeständigen und unglücklichen Leben gespielt habe. Richtet nun gerecht und unparteiisch, ihr Söhne der Menschen; richtet frei und nach der Wahrheit, wie es sich Männern geziemt. Findet ihr etwas, das euch zum Mitleiden hinreißt, so erkennt und beweint das traurige Los der Menschheit, das auch euch zuteil geworden ist.« –

Dank der Menschheit sei allen denen, die so unerträgliche Lasten und Fesseln, die jede unziemende Beschimpfung, jede kränkende Verfolgung, die Menschen Menschen von göttlichen oder menschlichen Rechts wegen ungescheuet, ja pflichtmäßig und frohlockend antaten, in ihr wahres Licht stellten. Grotius, John Locke, William Penn, Shaftesbury, Bayle, Leibniz, auch Spinoza, Voltaire und mehrere nicht zu vergessen, was für Gesinnungen sie übrigens in andern Dingen haben mochten, in diesem Punkt sind sie Friedensengel im Namen aller derer geworden, die (um mich eines schauderhaften Bildes der Apokalypse zu bedienen) als Erwürgte unter dem Altar um Rache rufen und in ihrem Blut weiße Feierkleider begehren. Die Rache solcher Verfolgungen ist nie ausgeblieben und bleibet nie aus; es wäre aber endlich Zeit, daß wir aus bessern Gründen als aus der Furcht solcher Rache zum Gefühl der Wahrheit und Menschlichkeit gelangten. Auch unsern deutschen Rechtslehrern, Thomasius, Polykarp Leyser, Hommel u. f., die über die mit Blut geschriebenen Carpzowschen Gesetze hie und da die Fackel der Vernunft angezündet und mildere Grundsätze in Gang gebracht haben, werde Dank. Sie taten, was sie tun konnten.

[282] Vor andern, dünkt mich, sind in Briefen Gesinnungen der Humanität wirksam verbreitet worden, selbst wo sie das strenge Rechts-, Staats- und Kirchensystem noch nicht aufnehmen durfte. In Briefen an Freunde schüttete mancher sein Herz aus, wie er es in Schriften zu tun nicht wagte, und die Briefgestalt selbst ward zur glücklichen Form, milde Gesinnungen über einzelne Vorfälle sowohl als über Lehren und Personen Freunden oder dem Publikum verständlich zu machen und ans Herz zu legen. Holbergs Briefe gehören auch in diese Zahl; in England und Frankreich ist die Art eines humanisierten Vortrages durch Briefe sehr ausgebildet worden und hat die nützlichsten Grundsätze verbreitet. In England z.B. fanden Plinius' Briefe eine glückliche Aufnahme; die Ersten der Nation buhlten ihnen nach. Selbst die erdichteten Briefe des Phalaris schätzte der Ritter Temple übermäßig hoch, so daß seit Addison ihre Wochenschriften, seit Richardson ihre Romane vorzüglich die Gestalt der Briefe liebten. Die französischen Briefeinkleidungen vom türkischen Spion an bis zu den persischen und so viel andern Briefen sind jedermann bekannt; durch Einkleidungen solcher Art gewann nicht nur die Sprache, sondern auch der denkende Geist Leichtigkeit und Freiheit. Ohne eine Abhandlung oder Deduktion schreiben zu wollen, konnte man Gedanken, Empfindungen äußern, seinen Verstand berichtigen, sein Urteil am Urteile des andern schärfen und prüfen. In Deutschland hat aus mehrern Ursachen diese Form meistens nur gelehrte Urteile, Trivialitäten oder Romane betreffen können – –

Ich wünschte eine Auswahl treffender Stellen aus den wahren Briefen merkwürdiger und großer Männer; dem Sammler der Selbstbekenntnisse, einem Mann von reiner, fürs wahre Wohl der Menschheit gestimmten Denkart, möchte ich sie am liebsten empfehlen. Von Staatsmännern, Kirchenvätern, Reformatoren, Sektierern, von Gelehrten und Weisen aller Art ist eine so ungeheure Menge Briefe ans Licht gefördert worden, daß eine Auswahl ihrer eigensten Meinungen und Urteile über Begebenheiten, Schriften, fremde Meinungen [283] und Handlungsarten die lehrreichste Unterhaltung sein müßte Wer kann, wer mag jetzt das große Epistelfach berühmter und nicht berühmter Männer mit gehörigem Fleiße durchstören? Und doch liegt so manches Merkwürdige, Angenehme und Nützliche in ihm!

57.

Sie wünschten, daß jemand über den menschenfreundlichen Comenius ausführlicher spräche. Der bescheidene Mann spricht von sich selbst (auch wo er es tun sollte und konnte, in seiner Kirchengeschichte der Böhmischen Brüder) sehr wenig; das einzige Notwendige lag ihm zu sehr am Herzen.

Wenn ich einen Mann unsrer Nation (denn warum sollte man Böhmen und Mähren nicht zu Deutschland rechnen?) mit dem guten St. Pierre vergleichen möchte, so wäre es Comenius – und dies gewiß nicht zu seinem Nachteil. St. Pierre hat durch seine Schriften, die, als sie erschienen, wenige lasen, mehrere ungelesen verlachten, andre auf eine schale Art widerlegten, ja, deren offenbarste Wahrheit ihm sogar Verdruß zuzog, in der Folge mehr Gutes gewirkt als manche blendende Schriftsteller seines Zeitalters, die ihn aus der Akademie verwiesen Seine Träume von einem ewigen Frieden, von einer besseren Verwaltung der Staaten, von einer größeren Nutzbarkeit des geistlichen Standes, von einer gewissenhaftern Pflege der Menschheit, selbst seine politischen Weissagungen, können nicht immer Träume eines honetten Mannes bleiben, wie sie damals ein duldender Minister nannte. Wenn St. Pierre wieder aufstünde und gewahr würde, daß nicht bloß (wie d'Alembert meint) das Wort bienfaisance und gloriole von ihm in der Sprache seiner Nation geblieben, sondern daß seine Grundsätze, seine Wünsche, [284] seine Hoffnungen gewissermaßen der Geist aller Guten und Würdigen in Europa worden sind: der kalte, trockene Mann würde dabei nicht gleichgültig bleiben. Wahrscheinlich würde er gelassen sagen: »Die Zeit ist schneller fortgeschritten, als ich es ihr zutraute.«

Unser St. Pierre, Comenius, hat eine andere Gestalt. Er wurde zwar auch in einem Labyrinth von Weissagungen irregeführt (welches ihm zuletzt sehr leid tat); diese hatten auch eine viel rohere Gestalt, als der politische Kalkül des St. Pierre, seiner Erziehung und seinen Lebensumständen nach, haben konnte; in ihrem Ziel aber treffen beide zusammen, und dieses ist das Wohl der Menschheit. Ihm weihten beide, obwohl auf den verschiedensten Wegen, alle ihre Gedanken und Bestrebungen; beiden schien alles das entbehrliche Üppigkeit oder häßliche Unsitte, was nicht dahin führte. Beide haben eine schöne Klarheit des Geistes, eine beneidenswürdige Ordnung und Einfalt der Gedanken; sie sind von allem Leidenschaftlichen so fern und los; es verdrießet sie nicht, eine Sache oft, meistens mit denselben Worten zu sagen, damit man sie fassen und ja nicht vergessen möge, daß auch in diesen liebenswürdigen Fehlern sie einan der ähnlich erscheinen. Der letzte Zweck ihrer Bemühungen ist ganz derselbe.

Comenius, wissen Sie, war der letzte Bischof der böhmischen Kirche. Er lebte in den traurigen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, da mit ihm so viele, viele Familien auf die härteste Weise vertrieben wurden, seit welcher Zeit dann diese blühenden Gemeinen nie mehr zu einigem, geschweige zu ihrem alten Flor gelangten. Wollen Sie Ihr Inneres sanft und schrecklich erschüttert fühlen, so unterrichten Sie sich über den Zustand dieser Gemeinen von ihrer Entstehung an und endigen mit dieser traurigen Verstoßung. Keine Gemeine Deutschlands ist mir bekannt, die mit so reinem Eifer für ihre Sprache, für Zucht und Ordnung bei ihren Gebräuchen sowohl als in ihrem häuslichen Leben, ja für Unterweisung und Aufklärung im Kreise ihres Notwendigen und Nützlichen [285] gesorgt, gestritten, gelitten hätte als diese. Von ihr aus entsprang jener Funke, der in den dunkelsten Zeiten des härtesten geistlichen Despotismus Italien, Frankreich, England, die Niederlande, Deutschland wie ein Feuer durchlief und jene vielnamigen Albigenser, Waldenser, Lollarden u.f. weckte. In ihr ward durch Huß und andre der Grund zu einer Reformation gelegt, die für ihre Sprache und Gegenden eine Nationalreform hätte werden können, wie keine es in Deutschland ward; bis auf Comenius strebte dahin der Geist dieser slawischen Völker. In ihr ist eine Wirksamkeit, eine Eintracht und Tapferkeit gezeigt worden, wie außer der Schweiz diesseit der Alpen nirgend anders; und es ist kaum zu zweifeln, daß, wenn man sich vom zehnten, vierzehnten Jahrhundert an diese Tätigkeit nur einigermaßen unterstützt gedenket, Böhmen, Mähren, ja überhaupt die slawischen Länder an der Ostseite Deutschlands ein Volk worden wären, das seinen Nachbarn andern Nutzen gebracht hätte, als den es jetzt seinen Oberherren zu bringen vermag. Die Unvernunft und Herrschsucht der Menschen wollte es anders. Eine Ilias beweinenswürdiger Umstände tritt dem Geschichtforscher vor Augen, über die der. Freund der Ordnung und des Fleißes seufzend errötet. Comenius betrug sich bei allem mit der Würde eines apostolischen Lehrers.

Der Flüchtling nahm seine Jugendbeschäftigung vor; er ward ein Lehrer der Jugend, aber in einer großen Aussicht. Seine Grundsätze: »Kinder müßten mit Worten zugleich Sachen lernen; nicht das Gedächtnis allein, sondern auch der Verstand und Wille, die Neigungen und Sitten der Menschen müßten von Kindheit auf gebessert werden; und hiezu sei Klarheit, Ordnung der Begriffe, Herzlichkeit des Umganges vor allem nötig,« diese Grundsätze sind so einleuchtend, daß jeder sie in Worten vorgibt, ob er sie gleich eben nicht in Comenius, Geist und Sinne befolget. Dieser griff zur Tat; er gab seine »Janua,« er gab einen »Orbis pictus« heraus, die zu seiner Zeit eine unglaubliche Aufnahme fanden, in wenigen Jahren in eilf Sprachen übersetzt wurden, seitdem unzählige[286] Auflagen erlebt haben und eigentlich noch nicht übertroffen sind: denn haben wir jetzt nach anderthalbhundert Jahren annoch ein Werk, das für unsre Zeit völlig das sei, was jene unvollkommenen Werke für ihre Zeit waren? Im ganzen Nordeuropa erregte Comenius Aufmerksamkeit auf die Erziehung; der Reichstag in Schweden, das Parlament von England beachtete seine Vorschläge. Nach England ward er gerufen; von Schweden aus sprach der große Kanzler Axel Oxenstirn mit ihm; er ward zu Ausarbeitung derselben unterstützt; und obwohl, wie leicht zu erachten war, eine Hauptreform der Erziehung in Comenius, Sinn aus zehn Ursachen nicht zustande kommen konnte, zumal im damaligen Zeitalter hundert Unglücksfälle dazwischenkamen, so hatte Comenius dabei seine Mühe doch nicht ganz verloren. Seine Vorschläge (obgleich die meisten seiner Werke uns die Flamme geraubt hat) sind ans Licht gestellt, ja sie liegen größtenteils (so einfach sind sie) in aller Menschen Sinne; nur erfordern sie Menschen von Comenius, Betriebsamkeit und Herzenseinfalt zur Ausführung. Wenn er auflebte und unsre neue Erziehung betrachtete, was würde der fromme Bischof zu mancher Marketenderei sagen?

Sein Plan ging indes noch weiter. Er sahe, daß keine Erziehungsreform ihren Zweck erreichte, wenn nicht die Geschäfte verbessert würden, zu denen Menschen erzogen werden; hier griff er das Übel in der Wurzel an. Er schrieb eine »Panegersie,« einen allgemeinen Aufruf zu Verbesserung der menschlichen Dinge, in welchem ihm St. Pierre an Ernst und (ich möchte sagen) an heiliger Einfalt selbst nachstehen möchte. Er ladet aufs menschlichste dazu ein, meint, es sei ja Unsinn, Glieder heilen zu wollen, ohne den ganzen kranken Leib zu heilen, ein gemeinschaftliches Gut sei eine Gemeinfreude, gemeine Gefahr fodre auch gemeinschaftliche Sorge, und schlägt Mittel zur Beratschlagung vor. Die menschlichen Dinge, die er für verderbt hält, sein Wissenschaften, Religion und Staatseinrichtung. Ihrer Natur nach bezeichneten sie den Charakter unsres Geschlechts (Humanität), mithin die eigentliche [287] Menschheit, indem Wissenschaft den Verstand, Religion den Willen, die Regierung unsre Fähigkeit zu wirken bestimmen und bessern sollte. Aller Menschen Bestreben gehe dahin; denn jeder wolle wissen, herrschen und genießen; edlere Seelen sei'n nach der edelsten Macht, der wahren Wissenschaft und einer unzerstörlichen Glückseligkeit begierig; sie zu befördern, opferten sie Kräfte, Mühe, ihr Leben selbst auf. In uns liegen also ewige Wurzeln zu einem Baume der Wissenschaft, der Macht und des Glücks; Philosophie solle uns Weisheit, politische Einrichtung den Frieden, Religion innere Seligkeit geben; diese drei Dinge sei'n nur eins; sie könnten nie voneinander, nie vom Menschen gesondert werden, ohne daß er ein Mensch zu sein aufhöre. Sie ziemten ihm allerwege und allenthalben. –

Jetzt zeigt Comenius, wie und wodurch alle drei verderbt sein Der Verstand werde von wenigen wenig gebraucht; der Wille unterliege den Begierden; man suche Reichtum, Ehre, Lust, Eitelkeiten, Schatten der Dinge; man suche sich außer, nicht in sich selbst. Man wisse nicht, was man wollen, tun, wissen solle; man teile sich in philosophische, politische Religionssekten; man streite, ohne einander zu überzeugen, und doch sei es das einzige Zeichen, daß man selbst weiß, wenn man andre überzeuget. Die Weisheit werde in Bücher gekerkert, nicht in der Brust getragen; unsre Bücher sein also weise, nicht wir. Selten habe man bei der Wissenschaft einen wahren Zweck; man lerne, um zu lernen, oder noch zu törichtern Absichten. Das Band der Sprache sei zerrissen, und noch habe keine einzige Sprache ihre Vollkommenheit erreicht. Die Gebrechen, deren er die Religion zeihet, führt er nur kurz und mit Bedauern an, da sie zu offen am Tage liegen. In der Politie meint er: nichts könne regieren als das Rechte, niemand andre regieren, als der sich selbst zu regieren weiß. Menschenregierung sei die Kunst der Künste, ihr Zweck sei Friede. Mithin zeugen alle Kriege und Unordnungen der menschlichen Gesellschaft, daß diese Kunst noch nicht da sei; weder zu regieren, noch regiert zu werden wüßten [288] die Menschen – von welchen Verderbnissen er sowohl die Ursachen als die Schändlichkeit und den Schaden klar vorlegt. –

Von jeher, fähret er fort, sei das Bestreben der Menschen dahin gegangen, diesen Übeln abzuhelfen, und zeigt mit großem Verstande, sowohl was man bisher dazu getan und auf welchen Wegen man's angegriffen habe, als auch weshalb diese Mittel unhinreichend oder unwirksam geblieben. Indessen sei der Mut nicht aufzugeben, sondern zu verdoppeln. Manche Krankheiten tilge die Zeit; in der verdorbenen Menschheit sei der Trieb zu ihrer Verbesserung unaustilgbar und auch in den wildesten Abwegen wirksam. Nur müsse die Menschheit ihr wahres Gute, so wie die Mittel dazu, ganz und rein kennenlernen; sie müsse von den Ketten böser Gewohnheiten befreiet werden und nicht eher nachlassen, bis sie in einer Allgemeinheit zum Zweck gelange. Zu dieser Harmonie wirke selbst der Haß der Sekten, ihre bittre Verfolgungen und Kriege gegeneinander in Wissenschaften, Religion und Regierungsanstalten; alles zeige, daß eine große Veränderung der Dinge im Werk sei. Ohne uns könne diese Veränderung keine Verbesserung werden; wir müßten zu ihr, und zwar auf bisher unversuchten Wegen, auf dem Wege der allgemeinen Einheit, Einfalt und einer freien Entschließung (Spontaneität) mitwirken. Der Zweck der Einheit undallgemeinen Verbindung liege in unserm Geschlecht; nur durch Einfalt könne unser Verstand, Wille und Handlungsweise von ihren Verderbnissen loskommen; dahin wiese die einträchtige Norm unsrer gemeinen Begriffe, Fähigkeiten und Instinkte; mittelst dieser, und dieser allein, käme man ohne alle Sophisterei zum reinen Gute der Wahrheit. Freiheit des Willens endlich sei der Charakter des Göttlichen in uns; Gott zwinge nicht und wolle nicht, daß Menschen gezwungen sondern gelehrt, geleitet, unterstützt werden. Soweit wir vom Wege der Einigkeit, Einfalt und Sinnesfreiheit abgewichen sein, so sei eine Rückkehr dahin möglich, sobald wir uns mir vornähmen, ohne Ausschließung alles, für alle, auf alle [289] Art und Weise zu verbessern. In diesen drei Worten liege das ganze Geheimnis (omnia, omnibus omnimode esse emendanda), denn alle bisherige Vereitelung guter Bemühungen sei bloß daher gekommen, daß man nicht alles, nicht für alle, nicht auf alle Weise habe verbessern wollen, sondern zurückbehalten, geschont, geschmeichelt und dadurch das Böse oft ärger gemacht habe. Das Studium zu partikularisieren sei die ewige Grundlage der Verwirrung; jeder rate, sorge für sich, für alle niemand. Man schaue gewöhnlich auch nicht ringsumher, sondern dieser auf dies, jener auf jenes; dafür sei er entbrannt und vergesse, hindere, verachte alles andere. Am wenigsten habe man den ganzen Apparat von Kräften und Mitteln angewandt, dessen die Menschheit fähig ist, ja den sie wirklich im Besitz hat. Sehr ernstlich begegnet Comenius den Einwürfen, daß eine allgemeine Verbesserung unmöglich sei und ein Unternehmen der Art zur Zerstörung aller bisherigen Einrichtungen gereichen würde. Möglich sei sie allerdings; das zeigte die Haushaltung der Natur, der Begriff der Kunst, die Identität der Menschheit; auf dem Wege der Einfalt werde man die Möglichkeit einer solchen Verbesserung wohl finden; denn sie liege allenthalben vor uns, und die Einfalt selbst sei das wirksamste Gegengift aller Verwirrung. Auch den freien Willen der Menschen glaubt Comenius auf seiner Seite zu haben, sobald man sie nur nicht täuschte, sondern in allem für alle rein sorgte. Nichts als das Schlechte würde zerstört; nur das Überflüssige würde hinweggetan; das Gute bliebe, mit unendlich vielem, neuen Guten vermehrt, verstärkt, vereinigt. Hiezu ladet er nun in der einfältigsten Herzenssprache die Menschen ein; der Bischof spricht zur gesamten Menschheit wie zu seiner Gemeine. –

Glauben Sie nicht, daß dergleichen utopische Träume, wie man sie zu nennen pflegt, nutzlos sein: die Wahrheit, die in ihnen liegt, ist nie nutzlos. Dem Comenius konnte man sagen, was der Kardinal Fleury dem St. Pierre sagte, da dieser ihm sein Projekt des ewigen Friedens und des europäischen Reichstages überreichte: »Ein wesentlicher Artikel ist darin [290] vergessen, die Missionarien nämlich, die das Herz der kontrahierenden Fürsten zu diesem Frieden und zu diesem Reichstage disponieren«; allein, wie St. Pierre sich bei seinem Projekt auf den großen Missionar, die allgemeine Vernunft, und ihre Dienerin, die Zeit oder allenfalls die Not, verließ, so wahrscheinlich auch Comenius. Er schrieb eine Konsultation (ich weiß nicht, ob er sie umhergesandt habe), die sogar erst dreißig Jahre nach seinem Tode gedruckt ward. 45 Da sie wenige Bogen enthält, wünschte ich, daß sie übersetzt erschiene, wenn auch nur zum Zeichen, wie anders man damals über die Verbesserung der Dinge schrieb, als man jetzt zu schreiben gewohnt ist, Fromme Wünsche der Art fliegen nicht in den Mond; sie bleiben auf der Erde und werden zu ihrer Zeit in Taten sichtbar. Es schweben nach Ariostos schöner Dichtung immerdar einige Schwäne über dem Fluß der Vergessenheit; einige würdige Namen erhaschen sie, ehe diese hineinsinken, und schwingen sich mit ihnen zum Tempel des Andenkens empor. –

Ich lege Ihnen einen Aufsatz bei, der mir namenlos zukam; teilen Sie ihn unsern Freunden mit, Er ist nicht mit Comenischem Geist geschrieben; es läßt sich aber manches darüber sagen.

[291] Haben wir noch das Publikum und Vaterland der Alten?
I.

Haben wir noch das Publikum der Alten?

Um eine vorgelegte Frage zu beantworten, muß man sie erst verstehen. Also:

Was ist Publikum? Ein sehr unbestimmter Begriff, der, wenn man alle Eigenheiten des einzelnen Gebrauchs und Mißbrauchs seiner Benennung absondert, ein allgemeines Urteil, wenigstens eine Mehrheit der Stimmen in dem Kreise, in welchem man spricht, schreibet oder handelt, zu bezeichnen scheinet. Es gibt ein reales und ideales Publikum: jenes, das gegenwärtig um uns ist und uns seine Stimme, wo nicht zukommen läßt, so doch zukommen lassen kann; das ideale Publikum ist zuweilen so zerstreut, so verbreitet, daß kein Lüftchen uns, aus der Entfernung oder aus der Nachwelt, den Laut seiner Gedanken zuführen mag. Bei jeder Gattung des Publikums aber denket man sich ein verständiges, moralisches Wesen, das an unsern Gedanken, an unserm Vortrage, an unsern Handlungen teilnimmt, ihren Wert und Unwert zu schätzen vermag, das billiget oder mißbilliget, das wir also auch zu unterrichten, eines Bessern zu belehren, in Ansehung seines Geschmacks zu bilden und fortzubilden uns unterfangen dürfen. Wir muntern es auf, wir warnen; es ist uns Freund und Kind, aber auch Lehrer, Zurechtweiser, Zeuge, Kläger und Richter. Belohnung hoffen wir von ihm nicht anders als durch Beifall, in Empfindungen, Worten und Taten.

Unter den Alten verstehet man in Ansehung derKunst die Griechen, in Ansehung der Literatur Griechen und Römer, in Ansehung alles dessen aber, worüber das Publikum gefragt oder belehrt werden kann, jede Nation, die in früheren Zeiten auf uns gewirkt hat, mit der wir uns hier oder dort in Ansehung gefällter Urteile zu vergleichen, zu messen [292] haben. Man siehet, daß in diesem Gesichtspunkt sowohl die Hebräer als die sogenannten Barbaren des Mittelalters von unsern Alten nicht ausgeschlossen sind; denn diese haben viele Meinungen unsres Publikums und in manchem seinen ganzen Geschmack konstituieret.

Wer sind nun die Wir, die sich mit diesen Alten vergleichen? Im ganzen möchte man die jetzige Generation der Menschen darunter verstehen. Da diese doch aber in einen Gesichtskreis oder gleichsam in einen großen Saal beschränkt werden muß, um Zuschauerin, Hörerin, Urteilerin, Richterin zu werden, so wird dieser Kreis bald sehr weit, bald sehr enge genommen; ja vom weitesten Kreise, den unsre Einbildung kaum fassen mag, wird oft behauptet, was nur dem engesten, einem sehr auserlesenen Kreise gebühret. Aus Erfahrungen seiner Landes- und Stadtwelt spricht man gemeiniglich für die Christenheit, für Europa, für Welt und Nachwelt, an denen man sich immer eine mystische Person oder Versammlung, eine aufgeklärte oder aufzuklärende Gemeinheit denket. Um allen aus dieser Verwirrung entspringenden Mißverständnissen zu entweichen, wird's also nötig sein, jedesmal den Gesichtskreis zu bestimmen und in Absicht jeder Frage, die an ein Publikum gelangt, Zeiten und Völker zu unterscheiden.


1. Vom Publikum der Ebräer


Das ebräische Volk ward von seinem Ursprunge an als ein genetisches Individuum, als ein Volk betrachtet. Der sterbende Stammvater sprach zu seinen Söhnen für die ganze Reihe zukünftiger Zeiten; ja, ehe der Sohn des Stammes geboren war, geschah schon dem ganzen zukünftigen Volk die Verheißung. Als es, in vielen Tausenden um den Berg Sinai gelagert, dastand, sprach der Gesetzgeber im Namen seines Gottes zu ihm als zu einer Person, die dieses Gottes Knecht und gerettetes Kind sei; und da er vor seinem Lebensende dies Gesetz wiederholte, ließ er das Volk als einen Mann [293] geloben. Er foderte von ihm Achtung und Liebe des Gesetzes als von einem moralischen Wesen. So sprachen alle Propheten, denen der Gesetzgeber ausdrücklich Raum zu dieser Stimme ans gesamte Volk als an ein Eigentum Gottes gelassen hatte. So klein der Kreis sein mochte, in dem mancher Prophet sprach oder zu seiner Zeit schrieb, so groß wird er dieser seiner Idee nach. Der Bote seines Gottes spricht zum Sohne Jakob, zum Knecht Israel für alle Zeiten. Daher der hohe, weitschallende Ton des Patriotismus in den ebräischen Psalmen und Propheten. Wo und in welcher Sprache sein Nachhall ertöne, er ergreift das Herz; ein Publikum wird lebendig. Man findet sich in einer Versammlung, in der einer für alle steht, alle für einen. Die Last der Gebote, Segen und Fluch trägt das ganze Volk auf seinen Schultern. Danklieder tönen von allen empor; auch über die kleinsten Begegnisse des Individuum werden sie angenommen, weil dies Individuum zum ganzen Volk gehöret. So trägt in den Bestrafungen der Propheten jeder Israelit die Schuld des andern; der Trost des andern kommt auch ihm zustatten; gemeinschaftliche Wünsche, eine gemeinschaftliche Aussicht erhebt das Herz des freudigen und des gedrängten Volkes. Auch seitdem Israel unter alle Nationen zerstreut ward, ist dieser Prophetenton eines Nationalpublikum nicht verhallet. Alle seine Gesänge und Gebete sprechen noch zu Gott mit der Stimme eines verlornen Kindes, eines gedemütigten Knechtes. Wenn ein Geist der Poesie, der Lehre, der Ermahnung in diesem Volke wieder aufleben sollte, so kann er nicht anders als in solchem Ton zum Volk singen und reden.

Haben wir dies Publikum der Ebräer? Mich dünkt, jedes Volk habe es durch seine Sprache. Diese ist ein göttliches Organ der Belehrung, Strafe und Unterweisung für jeden, der für sie Sinn und Ohr hat. Das Band der Zunge und des Ohrs knüpft ein Publikum; auf diesem Wege vernehmen wir Gedanken und Rat, wir fassen Entschließungen und teilen miteinander Belehrung, Leid und Freude. Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine [294] Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum Volk dieser Sprache. Ich vernehme noch Otfrieds Stimme; die Kern- und Biedersprüche mancher alten Deutschen, die den Charakter meines Volks in sich tragen, sprechen zu mir; Kaisersberg, Luther predigt mir noch; und was auch von andern Nationen in meine Mundart meisterhaft überging, ist die Stimme einesPublikums worden, zu dem auch ich gehöre. Meine Stimme, so schwach sie sei, bewegt auch Wellen dieses ätherischen Weltmeers. Von den Millionen, die deutsch reden und lesen, werden auch mich einige verstehen und hören, wären es nur soviel, als Persius sich anmaßet, aut duo aut nemo; auch diese zwei, lobend oder tadelnd, erregen ihre Wellen weiter. Im Publikum der Sprache hat sogar der Niemand ein Ohr; er lernt von oder an mir und spricht weiter Und dies Publikum breitet sich fort, solange die Sprache, selbst mit Veränderungen, dauret, bis sie verständlich zu sein aufhöret. Kein Gesetz kann diesen Fortgang verbieten, keine Macht ihn aufheben, bis die Sprache vertilgt ist; und ehe diese vertilgt wird, dazu gehören allmächtige Kräfte der Zeiten.

Nicht der Schriftsteller gehöret zu diesem Publikum allein, sondern auch der mündliche Unterweiser, der Gesetzgeber, der Feldherr, der Redner und Ordner. Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie ordnung-und ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet, entehrt ihr edelstes Publikum; er wird ihres Geistes, ihres inneren und äußeren Ruhms, ihrer Erfindungen, ihrer feineren Sittlichkeit und Betriebsamkeit gefährlichster Mörder. Wer die Sprache eines Volks emporhebt [295] und sie zum kräftigsten Ausdruck jeder Empfindung, jedes klaren und edlen Gedankens ausarbeitet, der hilft das weiteste und schönste Publikum ausbreiten oder in sich vereinigen und fester gründen.

Daß unser Deutschland durch seine Sprache sich dies Publikum in solchem Umfange, mit solcher Festigkeit gegründet habe, wie es hätte geschehen mögen, ist sehr zu zweifeln. Ganze Länder sind davon abgerissen; Provinzen und Kreise verstehen einander kaum, nicht nur nicht in Reden, sondern oft selbst nicht in Schriften. Was in manchen Gegenden für Witz gilt, wird in andern als niedriger Scherz verachtet; das Ganze hat so wenig einen gemeinschaftlichen Schritt in der Kultur gehalten, daß schwerlich eine Vorstellungsart zu finden wäre, die auf alle Teile desselben als auf ein gemeinsames Publikum mit gleicher Macht wirkte. Nicht aber nur Provinzen und Kreise, selbst Stände haben sich voneinander gesondert, indem seit einem Jahrhunderte die sogenannten obern Stände eine völlig fremde Sprache angenommen, eine fremde Erziehung und Lebensweise beliebt haben. In dieser fremden Sprache sind seit einem Jahrhunderte unter den genannten Ständen die Gesellschaftsgespräche geführt, Staatsunterhandlungen und Liebeshändel getrieben, öffentliche und vertraute Briefe gewechselt worden, so daß, wer einige Zeilen schreiben konnte, solche notwendig vormals italienisch, nachher französisch schreiben mußte. Mit wem man deutsch sprach, der war ein Knecht, ein Diener. Dadurch also hat die deutsche Sprache nicht nur den wichtigsten Teil ihres Publikums verloren, sondern die Stände selbst haben sich dergestalt in ihrer Denkart entzweiet, daß ihnen gleichsam ein zutrauliches gemeinschaftliches Organ ihrer innigsten Gefühle fehlet. Beide sind auf ihrem getrennten Wege nicht so weit fortgeschritten, als sie in Wirkung und Gegenwirkung aufeinander hätten kommen mögen, indem der eine Teil meistens an Phrasen, an Worten ohne Gegenstand, leer von innerer Bildung, hangenbleiben mußte, dem andern hingegen bei aller Mühe des Fortstrebens ewig und immer eine Mauer entgegengestellt[296] war, an welcher leere Schälle zurückprallten. Ohne eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache, in der alle Stände als Sprossen eines Baumes erzogen werden, gibt es kein wahres Verständnis der Gemüter, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammenempfindung, kein vaterländisches Publikum mehr. Entweder bequemt man sich nach der fremden Denkart des andern und buhlt ohne Dank und Kraft um dessen leere Vorstellungsweise wie um einen nichtigen Schatten, oder man spricht und schreibt nicht für ihn; er ist ein totes oder ein hinderndes oft feindlich wirkendes Glied der Gemeine. Wenn die Stimme des Vaterlandes die Stimme Gottes ist, so kann diese zu gemeinschaftlichen, allumfassenden und aufs tiefste greifenden Zwecken nur in der Sprache des Vaterlandes tönen; sie muß von Jugend auf, durch alle Klassen der Nation, an Herz und Geist erklungen sein; so nur wird durch sie ein Publikum, verständig und verstanden, hörend und hörbar. Jede fremde bleibt eine entzweiende Samaritersprache.


2. Publikum der Griechen


Daß dem also sei, wollen wir schöner an den Griechen lernen. Wahrscheinlich war ihre Sprache anfangs so ungebildet als jede Volkssprache in rohen Zeiten; da stieg Kalliope, da stiegen Götter vom Himmel hernieder. Merkur erfand die Lyra; die Zither begleitete Apollo mit herzerweckendem Gesange; mehreren Söhnen der Muse folgte Baum und Fels, es horchten ihnen Ströme; kurz (ohne Fabel zu reden), Poesie, mit Musik begleitet, erschuf und bildete sich ein griechisches Publikum in einer feinern Sprache und einer feineren Gedankenweise. Die Fabelnamen Orpheus, Linus, Musäus sind in Absicht der Wirkung, die sie hinterließen, keine Fabelnamen; die Form ihrer Götter- und Menschengestalten, die Melodie ihrer Weisheitsprüche und Lehren, der rhythmische Gang ihrer Empfindungen und Bilder ward dem Ohr, dem Gedächtnis der Hörenden eingepräget und ging von[297] Munde zu Munde, endlich auch in Schriften und Gebräuchen auf die spätere Nachwelt. Die Gesänge, die Homer und andre Rhapsoden in kleineren Kreisen sangen, waren nicht verhallet; sie kamen gesammlet nach Athen, sie erklangen am panathenäischen Feste. Die Hymnen der Homeriden, Lieder und Chorgesänge der verschiedensten Art, dichterische und musikalische Wettstreite zierten und kränzten jede Volksversammlung, jedes öffentliche Spiel, jede feierliche Religions- und Staatshandlung. So ward ein Publikum der Griechen für Poesie, bald auch für Prose. Herodot las seine Geschichte dem versammleten Griechenlande, wie so viele Dichter vor ihm ihre Gedichte größeren oder kleineren Kreisen gesungen hatten; denn selbst die Gastmahle der Griechen hatten eine Art fröhlicher Publizität und waren nicht ohne Musen. Auf diesem Wege entstand das griechische Schauspiel, das allen seinen Teilen nach ein Publikum voraussetzte und ein Publikum vergnügte. Auf diesem Wege gelangte die griechische Kunst zu ihrer Höhe; die Muse, die dem Künstler seine reinen, hohen Ideen eingab, hatte sich auch Gelegenheiten, Örter und Plätze geheiligt, wo sie solche mit Würde zeigen und einem dazu gestimmten Volk sichtbar machen konnte. Selbst in die Beratschlagungen und Zänkereien vorGericht ging Redekunst als ein Haupterfordernis über. Indem alles vorm Publikum verhandelt wurde, so ward dies Publikum durch Rede gefesselt, durch Kunst der Rede geführt und gelenket.

Haben wir dies Publikum der Griechen? Nein, und in mehreren Stücken ist's vielleicht gut, daß wir es nicht haben. Wo über Krieg und Frieden, über Leben und Tod der Beklagten, über Verdienst und Belohnung die Kunst der Rede gebieten darf, wie vielen Verleitungen ist und bleibt die Seele eines unerzogenen Volks ausgesetzt, die mit ihrem ganzen Urteil im Ohre wohnet! Die Geschichte der griechischen Republiken, insonderheit Athens, zeigt uns davon eine große Galerie fürchterlich-schön gemalter Beispiele, bei deren Überblick mancher Nordländer oft mit frohem Schauder [298] sagen wird: »O der leichtsinnigen Griechen! Wohl uns! diese Zeiten sind vorüber!« Ein Gleiches wird er vielleicht von den Religions- und Staatsfeierlichkeiten, den öffentlichen Spielen, Tänzen, Übungen und Wettkämpfen, vielleicht auch vom ganzen Theater in Athen sagen. Und allerdings gehört alles dorthin und in jene Zeiten.

Aber warum hätten wir denn ein Theater, wenn wir kein Publikum fürs Theater haben mögen? Warum hätten wir Kunst, wenn es nicht die griechische sein kann? Warum unterfingen wir uns, Vergnügungen des Geschmacks zu haben, wenn es kein Publikum des Geschmacks geben soll? Warum endlich spielen wir mit Musik, Redekunst, Poesie und Sprache, wenn diese nicht zu Zwecken angewandt werden, zu denen sie, allein und verbunden, eigentlich bestimmt und geschaffen sind? Ihrer Natur nach erfordern sie ein Publikum; ohne solches sind sie tot und begraben.

Ein Hymnus z.B. gehört seiner Natur nach für eineVersammlung. Der Dichter, der diese nicht um sich erblicket, nimmt Himmel und Erde, Wälder und Felsen zu seinen Zuhörern und Zeugen. Die Stimme eines lyrischen Dichters rufet ein Publikum an und auf. Der Sänger, ja selbst der Geschichtschreiber großer Begebenheiten fodert einen Kreis von Männern, Weibern, Jünglingen und Kindern um sich her, denen seine Begebenheiten in Ohr und Seele tönen. Sie öffnen ihm nicht etwa nur eine Bühne, auf der er in ihrem Beifall seinen ganzen Ruhm ernte, sondern ihre Gemüter selbst sind seine Arena, der Schauplatz, das Ziel, das Maß seiner Wirkung. Die Szene, die derepische Dichter nicht also beschreibt, daß sie den Augen des Zuhörers sichtbar wird, also daß auch in der Seele der Handelnden mit gehaltenem Interesse alles vor seinen Augen vorgehet, ist keine epische Szene; die Begebenheit, die der Geschichtschreiber im Zusammenhange ihrer Folgen, womöglich auch ihrer Ursachen, nicht also gegenwärtig zu machen weiß, daß dem Zuhörer sein eignes klares Urteil darüber reifet, ist eine mangelhaft erzählte Geschichte. Der lyrische Dichter, der mit seiner Kunst [299] in der Seele des Hörenden nicht den Grad von Teilnehmung trifft, auf den seine Kunst als auf den Punkt ihrer Vollkommenheit rechnet, hat auf ein Nichts gearbeitet und verfehlt seine Wirkung Alle diese Produktionen also wollen ein Publikum, aus welchem sie gleichsam hervor-, auf welches sie zurückgehen, aus welchem sie die Regel ihrer Kunst nahmen.

Wo sind nun in Deutschland die Odeen unsrer Geschichtschreiber, unsrer lyrischen und epischen Dichter? Wo sind die Schulen, in denen man die edelsten Gesänge den Jünglingen ans Herz legt und sie nebst den schönsten klassischen Stellen der Alten nicht etwa bloß deklamiert, sondern in die Seelen schreibet? Nur was selbst Gestalt hat, kann Gestalt geben; nur Flamme kann Flamme verbreiten. Ein Atem aber kann auch aus Funken eine Flamme wecken und viele tote Kohlen entzünden. An glühenden Funken hat es Deutschland nicht gefehlet; sie sind aber nie zur Flamme angefacht worden. Der sogenannte Minnegesang war Hofgeschmack; er ging vorüber. Die Zeiten der Reformation brachten flehende Gefahr-, dankende Lobgesänge in den Mund vieler; sie gingen mit der Gefahr vorüber. Der Dreißigjährige Krieg weckte Stimmen mancher Art für beide Parteien; die Feldherrn der Ligue wurden ebensowohl als die Feldherrn und Retter der Union gepriesen, und unter den letzten sind die Namen eines Ernst von Mansfeld, Christian von Anhalt, Johann Ernst und Bernhards von Weimar, Gustav Adolfs, Georgs von Baden der deutschen Muse nicht fremde geblieben. Leider aber ist diese keine Tochter Mnemosynens, oder sie ist von ihr zwischen Schlaf und Wachen erzeuget. Nach dem Westfälischen Frieden vergaß man aller Gefahr und hat über hundert Jahre, dann und wann unsanft aufgerüttelt, sanft geschlafen. Alle weckende Stimmen, leise und lauter, sind vergebens gewesen; unsre Dichter waren oder hießen Versmacher, Reimschmiede; seit einem halben Jahrhundert las man Voltaire und ließ die deutsche Geschichte erröten und schweigen. Sie schweigt noch und darf an eine Geschichte [300] des deutschen Geschmacks, der deutschen Kultur, der deutschen Festivitäten und Lustbarkeiten nicht ohne Beschämung denken.

Auf dem Theater wird ein Publikum oder ein Teil desselben einem andern Publikum zur Schau vorgestellt; offenbar war dies die Idee der Griechen, im Trauerspiel mit dem Chor, im Lustspiel mit dem einzeln oder in Masse personifizierten Volke. Theater und Zuschauer hingen also wie Bild und Abbild, wie Seele und Körper zusammen; sie wirkten an- und gegeneinander; eins wurde durch das andre gehoben und belebet. In Italien und Frankreich (England kenne ich nicht) ist dies auf den besten Bühnen auch also; daher der Theatergeschmack in diesen Ländern so lang umherirrte, bis er einen Punkt der Vereinigung mit seinem Publikum fand und sich entweder durch musikalisches oder durch dramatisches Spiel in eine Mitte des Gebens und Nehmens, des gegenseitigen Genusses und Belehrens setzte. Ich zweifle, ob dies in Deutschland, wenige Charaktere und Szenen ausgenommen, je der Fall gewesen. Daß man es wenigstens auf die Vereinigung und gegenseitige Ausbildung des Geschmacks der Bühne und des Publikums sehr spät und äußerst selten angeleget hat, ist aus der Geschichte des deutschen Theaters klar. Außer den alten Mysterien, Klosteragenden oder Marionetten kam die Bühne als Hoffeierlichkeit nach Deutschland; das Volk ward hinzugelassen, sich an diesen prächtig gekleideten Hof- und Staatsrevolutionen, die hinter den Lichtern vorgingen, als Pöbel zu erbauen. An manchen Orten Deutschlands hat die Bühne diese Hoftheatergestalt und Verwaltung beibehalten und stehet also ganz außer dem Gebiete der Kunst, weil sie zum Hofetiquette gehöret. In andern Provinzen ziehenBanden umher (wie man die Schauspieler mit dem alten deutschen Heldennamen zuweilen noch jetzt nennet); sie gehen, wie es die Deutschen von jeher gern taten, aus Bande in Bande und nehmen Dienste, nachdem sie bezahlt und gedungen werden; wäre es nicht unvernünftig und grausam, von ihnen ein Ideal der Kunst, ein korrespondierendes [301] Publikum zu fordern? Einzelne Dichter und Schauspieler haben sich, ich möchte sagen, über das Mögliche hinaufgeschwungen; sie konnten aber keine neue Welt um und vor sich schaffen; diese müssen aufführen, was jene geben, wie sie es mit andern aufführen können und wie am Ende ihr Publikum gebietet. Da ich hier keine Kritik des Theaters schreibe, so bemerke ich nur eins, daß bei uns, wie mich dünkt, durchs Theater das Publikum gebildet werden müsse, nicht aber durchs Publikum das Theater. Fürs Theater haben wir noch kein richtendes Publikum, eben weil die theatralische Kunst im Sinne der Griechen die Kunst der Künste ist, von der selbst nicht jeder Dichter, noch weniger jeder Liebhaber, am wenigsten endlich der sich belustigende Pöbel Begriff hat. Schmeichelt man dessen Gaum und belustiget sich an seinem Beifall, so ist man am Rande; man verdirbt und verderbet. Welche Räume aber haben wir noch auszumessen, ehe nicht an ein gebildetes Publikum, sondern nur an die Bildung dieses Publikum nach deutscher Sitte und Lage zu gedenken ist! Und doch gibt es außer einem mit Sinn und Wohlgefallen belebten Schauspiel kein Schauspiel; es wird ein Haus voll Puppen, oder wir sind in schlechter Gesellschaft.

Soll eine Nation keine Einbildungskraft haben, so wolle man diese auch nicht wecken; sie schlummere. Wecket man sie, so bilde man sie auch aus; man lasse nur Stücke, die für sie sind, und diese auf eine Weise aufführen, daß man vom bösen Geschmack des Publikums nicht abhange, sondern diesen Geschmack ausrotte oder ihn zum Guten lenke. In Athen entstand das Theater zu Äschylus' Zeit aus dem hohen Gefühl der Freiheit und des Sieges über den großen König; dies Gefühl stimmte die Seele zum Anblick andrer großen Begebenheiten, die tragisch vorgestellt wurden. In Frankreich und England ist das Theater (die Modifikationen der Zeit abgerechnet) auf ähnliche Weise entstanden; denn wenn man von großen Begebenheiten seiner Zeit hört oder lieset, so will man diese auch, durch Kunst bearbeitet und von ihr vorgestellt, sehen. Das Publikum der Welt wird sodann von [302] selbst ein Publikum des Theaters. Gleichergestalt fodert die Komödie, die Charaktere und Sitten vorstellt, eine anschauende Kenntnis der Nation, eine leichte Existenz, eine sich selbst bestimmende moralische Freiheit. Der dürftige Knechtessinn ist eine mephitische Luft, in der jede Flamme erstickt wird.


Die Philosophie der Griechen hatte eigentlich kein Publikum wie die Künste; ihrer Natur nach hatte sie dessen auch nicht nötig.

Die ältesten Weisen der Griechen waren Gesetzgeber; und wohl dem Volk, dessen Gesetzgeber Weise sind. Sokrates erschien in einer bedrängten Zeit: sein Publikum waren Privatgesellschaften oder einzelne Personen; seine Methode war auf die Entwickelung der Grundsätze des Wahren, Guten und Schönen in diesen einzelnen Personen berechnet. Und dieses, dünkt mich, sei der Zweck der wahren Philosophie:Selbstbildung. Der Lehrer kann und will dabei nur eine Hebamme unsrer Gedanken, ein Mithelfer unsrer eignen, arbeitenden Kräfte werden. Sokrates hatte seinen eignen Genius, der nachher nicht oft, aber doch hie und da, z.B. in Montaigne, Addison, Franklin u.a., wieder erschienen ist und die eigne Bearbeitung des menschlichen Geistes und Willens zum Zweck hatte. Von der Stimme des Publikums hängt diese nicht ab; vielmehr wird sie oft durch solche behindert, daher Sokrates mit den Sophisten, die das Publikum stimmten und mißstimmten, fast immer im Streit lag.

Die Sokratische Philosophie gedieh zu mehreren Schulen; in diesen gab's exoterische und esoterische Zuhörer – abermals ein Unterschied, den die Natur der Sache billigt. Ein großes, unausgesondertes Publikum, das Metaphysik spricht und über Metaphysik entscheidet, ist ein Ungeheuer; und wenn man von einer Nation sagen könnte, sie habe nie für etwas als für Metaphysik Enthusiasmus gezeiget, so sagte man dieser Nation nicht viel Gutes nach. Xenophon und Plato behandeln die Philosophie sehr vernünftig; allenthalben [303] locken sie solche als eine Blüte des menschlichen Geistes und menschlicher Geschäfte hervor. Der Denker Aristoteles schrieb für kein anderes Publikum als für seine Schule, daher die ganze Form seiner Schriften. Epikur und Zeno gingen mit veränderten Grundsätzen auf gleichem Wege; jedem ihrer Schüler blieb es frei, die Metaphysik ihrer Sekte an Stelle und Ort zu lassen, dagegen aber die wahre, die praktische Philosophie für Leben und Publikum desto kräftiger anzuwenden. Dies ist der wahre Sokratismus.

Wenn eine philosophische Schule als solche aufs Publikum wirken wollte und auch hie und da mächtig gewirkt hat, war's der Pythagoreismus; wir wissen aber, wie es ihm erging. Und was damals in kleinen zubereiteten Kreisen nicht geschah, wenn wird es erfolgen? Ein philosophisches Publikum ist ein höchstes Bild, zu welchem man streben kann, das man aber ja nirgend ganz und realisiert zu erblicken glaube. Wo also die Griechen standen, stehen wir in Ansehung des Publikums mehr und minder mit der Philosophie noch jetzt; jeder, der es sein kann und werden will, muß sich selbst zum Philosophen bilden. Der Lehrer hält ihm die Wahrheit vor, damit er sich solche autonomisch zueigne; denn Weisheit läßt sich sowenig als Tugend und Genie von andern lernen.

Die Schulen der Philosophie indessen, bloß als Handleiterinnen betrachtet, mit welcher erstaunlichen Macht können sie aufs Publikum wirken! Ein Lehrer der Philosophie, wie er sein soll, hat ein Reich über menschliche Seelen, in welchem er mächtiger als ein König gebietet. Er pflanzt Grundsätze, er gibt Ideen, er stellt Ideale fest, die nachher auf tausend Gedanken und Handlungen seiner Zuhörer, ja aller derer, auf welche sie wirken, erkannten und unerkannten Einfluß haben. Unsägliche Wirkungen z.B. hat die stoische Philosophie, der Epikureismus, Platonismus, Pythagoreismus in der Reihe der Dinge hervorgebracht und wird sie hervorbringen, wenn auch unter neuen Namen, mit andern Modifikationen und Formen. Solange es Vernunft und Willen im Menschen gibt, solange wird es ein verborgenes, [304] stilles Publikum für Philosophie geben; nur erwarte man dieses nie sichtbar auf einem Markt oder in einer Schule.

Fassen wir, was gesagt ist, zusammen (denn vom politischen Publikum der Griechen wollen wir nicht reden), so ergibt sich, daß in Ansehung der Sprache, der Kunst und des Geschmacks gegen die Griechen, wie wir sie jetzt nehmen, wir eigentlich noch gar kein Publikum haben und gehabt haben. Mit Wohlgefallen haben wir uns eine Kultur andichten lassen, von der ganze Stände und Provinzen durchaus nichts wissen, und schlummern auf diesem erträumten Ruhme. Ich fürchte und hoffe, daß uns die Zeit aus diesem Schlummer wecken werde. Unsere Nation kennet sich schwerlich, bald ist es Religions-, bald politische Partei, bald die unübersteigliche Grenze eines Standes und Ständchens, was die Stimme, ja sogar nur den Gedanken an ein teilnehmendes Publikum, selbst in Sachen des Geschmacks und der Bildung, geschweige des allgemeinen Interesse, teilet und aufhält. Welche Werke der Wissenschaft, des Fleißes, der Verteidigung Deutschlands oder irgendeines allgemeinen Nutzens sind zustande gekommen, zu denen der Beitritt eines ansehnlichern und reicheren Publikums aus mehreren oder allen Provinzen nötig war? Die reichern Stände sind dabei jederzeit am unteilnehmendsten geblieben; und jene alten Einrichtungen, die eigentlich doch für Wissenschaften und Kultur der Nation bestimmt sind, Domkapitel und Stifte, waren samt dem ganzen Teile der Nation, der die französische Kultur liebte, für deutsche Wissenschaften gewöhnlich ganz tot; daher wir denn, trotz alles Privatfleißes, trotz mancher kühner Unternehmungen voll guten Zutrauens, das dafür büßen mußte, an Dingen dieser Art unsern Nachbarn, Briten und Franzosen, ja selbst Dänen und Schweden, weit nachstehn. Die deutsche Literatur, eine rüstige Arbeiterin und Dienerin des Wissens, erscheint in einem Bettlermantel von Makulatur; sie richtete selten etwas mehr aus, als wohin – Privatfleiß, einzelnes Genie reichet. Die unschätzbaren Sammlungen der Kunst, die in vorigen Jahrhunderten ein vorübergegangner [305] Hofgeschmack zusammengebracht hat, stehen oft unter harten Gesetzen der Klausur als Heiligenbilder da, anschaubar, nicht immer brauchbar, noch weniger weckend, am wenigsten begeisternd. Über den Wert unsrer besten Produktionen haben sich die Stimmen unsres Publikums nach Jahren und Jahrhunderten noch so wenig vereiniget, daß, wenn nicht Ausländer den Ton angegeben und mit Gewalt festgesetzt hätten, selbst über Leibniz' Verdienst Deutschland noch in der größesten Unsicherheit wäre. Indessen geht der Weg der stillen Bildung fort. Was uns nicht genommen werden konnte, ist deutsche Sprache, deutscher Verstand und guter Wille; diese werden, wenn und sobald sie es vermögen, einmal ein deutsches Publikum bilden. Die Vernunft geht auch ihres Weges fort und ist in allen Zeiten und Erdräumen nur eine. Der Geschmack endlich ist eine Nationalpflanze; wo sie nicht gepflegt wird oder des Bodens und Klima wegen nicht anders als in schlechten Treibhäusern aufkommen kann, da gehet sie durch Unfreundlichkeit des Himmels unter. Have!


3. Publikum der Römer


Von diesem werde ich nur wenig sagen dürfen. Was in ihm Kunst und Geschmack war, stammte von den Griechen her, die meistens auch seine Mithelfer blieben. Als Überwinderin sammlete Rom; sie erfand aber nichts Neues. Auch die Sprache der Römer bildete sich nur durch die Griechen zu einer reinen und ewigen Sprache.

Das Publikum also, das für die klassische Denkart in Rom blühete, war ein erbeutetes, künstliches Publikum; die Einrichtung der Stadt selbst war von einer Art, daß vielleicht keine Reichsstadt sie sich auf daurende Zeiten wünschen möchte Weder das Volk noch der Senat verdienen, außer der Rücksicht, daß sie Herren der Welt werden wollten und waren, absolute Hochachtung; einen Populus Romanus, der mit römischer Anmaßung für seine Stimme Brot und zirzensische [306] Spiele begehret, wünschten wir uns auch nicht. Ebensowenig Klienten und Kandidaten nach römischer Weise. Also das Forum und den Senat an seine Orte gestellt, blieb denen Römern, die ein daurendes Publikum suchten, nichts als was auch wir haben, derBeifall und die Stimme der erlesensten edlen Römer. Diese hörten ihren Vortrag oder kauften ihre Rolle; sie billigten und mißbilligten, wie es ihnen gutdünkte. Daß aber in den bessern Stellen ihrer Gedichte Lukrez und Catull, Horaz und Virgil, Ovid, Tibull, Properz u.a. so klassisch ausgearbeitet, vollendet und schön geschrieben, zeigt, daß sie sich feinere Vorbilder, schärfere Leser und ein höheres Publikum dachten, als viele unsrer Dichter und Schriftsteller zu denken gewohnt sind. Ihre eigne Bildung und die Höhe, auf welcher Rom stand, trug dazu bei. Der Geschichtschreiber Roms schrieb die Geschichte der Weltmonarchin; ihre Dichter sangen in der römischen Sprache; in dieser stellten ihre Rechtsverständigen Urteile aus, als die Stimme ihrer großen Redner dahin war. – Mit dem allen können wir uns nicht gleichen. Wenn aber unsre Sprache eine Schwester der griechischen ist, da die römische nur die angenommene Tochter derselben war, so hätten wir, sobald wir uns zur römischen Denkart erheben könnten, eine weitere Laufbahn vor uns als jene. Überwinder der Welt wollen wir nicht werden; was aber in uns römischen oder (wenn dieser einst größere Name noch einen Wert hat) deutschen Charakter enthält, warum sollten wir das einer Sprache nicht geben können, die einst in viel roherem Zustande auch eine Herrin der Welt war? Dichter und Geschichtschreiber, Rechtslehrer und Gesetzgeber, warum wurdet ihr zu solcher Zeit nicht auch wie jene für ein fortdaurendes Publikum Herren der Erde?


4. Publikum des Christentums


Als der Urheber des Christentums seine Stimme erhob, verbreitete er mit derselben ein Publikum über die Völker. Er kündigte ein ankommendes Reich an, zu dem alle Nationen [307] gehören und das nicht in äußerlichen Zerimonien, sondern in Übungen des Geistes, in Vollkommenheiten des Gemüts, in Reinheit des Herzens, in Beobachtung der strengsten Billigkeit und einer verzeihenden Liebe unter den Menschen blühe. Dahin zielen seine Reden, dazu rüstete er andre aus, und das Gebet, das er seine Schüler lehrte, ist darüber ein bittendes Bekenntnis. »Es soll ein Reich zu uns kommen, in dem alles Ehrwürdige geehrt, jede heilige Pflicht getan und der Wille Gottes auf Erden so willig und vollkommen vollbracht werde, wie ihn die seligen Geister ausüben.« Seine Stimme, die Stimme seiner Boten in Lehren und Schriften erklang; es entstand eine Gemeine, ein christliches Publikum unter mehreren Nationen, das sich zu dieser Lehre, Pflicht und Hoffnung bekannte.

Haben wir noch dies Publikum? Allerdings; die kleinste christliche Versammlung ist ein Symbol dereinen allgemeinen Kirche, die unter hundert Völkern der Erde lebet. Diese war und ist hie und da mit Mißbräuchen bedeckt, mit Mißverständnissen umnebelt; der reine klare Sinn der Stiftung dieser Geistesversammlung, ihr auf alle Zeiten und zum Gebäude der gesamten Menschheit wirkender Zweck bleibt aber unverkennbar. Nicht in der Prachtgestalt eines drückenden, stolzen Gesetzes, in der aufmunternden, sanften Gestalt einer tröstenden Friedensbotschaft wirkt dies moralische Institut auch zu den strengsten Pflichten. Wo zwei oder drei versammlet sind, lebt der Stifter dieser Versammlung; im Inhalt seiner Lehre selbst liegt ihr Zweck, die Auferbauung eines moralischen Gebäudes, bis zum Ende der Zeiten.

Es ist traurig, wenn dieser Zweck, auf ein seiner Natur nach fortgehendes ewiges Publikum zu wirken, hie und da verkannt wird, indem man entweder Partikularmeinungen, sogar Spekulationen ins Christentum mischte, die dazu durchaus nicht gehören, oder den toten Buchstaben totbuchstäblich behandelt. Jedem Denkenden bleibe seine Privatmeinung über dies und jenes; jeder spekulative Kopf schmücke sein Lehrgebäude mit seiner besten Spekulation aus; nur die Christenheit, [308] als Publikum betrachtet, bleibe damit verschonet. Die Lehre und der Zweck des Stifters sei oder werde ein reiner Strom, der, was ihm von National- und Partikularmeinungen wie ein trüber Bodensatz anhing, mehr und mehr niederschlägt und absetzt. So taten es schon die ersten Boten des Christentums mit ihren jüdischen Vorurteilen, je mehr sie in die Idee eines christlichen Publikums, eines Evangeliums für alle Völker eintraten; und es kann nicht fehlen, daß diese Läuterung des Christentums durch sanfte oder rauhe Mittel nicht mit den Jahrhunderten fortgehen sollte. Es ist sehr lehrreich, die Folge zu bemerken, mit der sich in der sogenannten Kirchengeschichte die harte Hülse des Christentums gebildet, hie und da aufgelöset und jedesmal einen reicheren Kern, einen feineren Samen der Fortpflanzung gewährt hat; so wird das Werk, mit oder ohne Namen des Urhebers, fortgehen bis ans Ende der Zeiten. Manche Formen sind zerbrochen, andre werden sich auflösen, nicht durch äußere Gewalt, sondern durch den innern treibenden Keim selbst, den die Sonne ruft, dem die ganze Natur ihre Stärke zuhauchet. Glücklich, wenn man in ein Publikum tritt, an welches diese Stimme in reinem Klange tönet. Sie umfaßt alle Stände, dringt durch alle Gewölbe und trifft den wesentlichen Punkt der Menschheit. Über augenblickliche, enge Verhältnisse, selbst über die Schranken der Fassungskraftdieser einzelnen Versammlung hinweggerückt, ahnet man ein fortgehendes erlesenes Publikum und atmet die Aura einer reinmoralischen Zukunft.


5. Publikum der Literatur


Das Christentum hatte ein Band unter Völkern geknüpft, wie es durch die Eroberungen Alexanders, der Römer und Hunnen nie geknüpft worden; seinem Zweck nach ein friedenstiftendes Band, so oft es auch zu Streit und Händeln Gelegenheit gab oder gemißbraucht wurde. In den Händen der Vorsehung ward es zugleich ein Band der Kultur, einer [309] gemeinschaftlichen Kultur der Völker. Wechselseitige Rechte und Pflichten kamen dadurch zwar nicht in bleibenden Gebrauch, doch aber in ein anerkanntes Licht, in eine immer neu angefangene Übung. Die Völker Europens wurden sich nicht nur bekannter, sondern auch durch gegenseitige Bedürfnisse, bei gemeinsamen Zwecken und Bestrebungen einander unentbehrlich; ihre Tendenz ward immer mehr und mehr auf einen Punkt gerichtet. Erfindungen kamen hiezu, die bei diesen gemeinschaftlichen Bedürfnissen ein Volk vom andern borgte, worin eins dem andern vorzueilen suchte; es entstand in ihrer Vervollkommnung ein Wetteifer unter den Nationen. Nun konnten nicht so leicht mehr Gedanken, Versuche, Entdeckungen, Übungen untergehen, wie in Zeiträumen der einst voneinander getrennten Völker; das Samenkorn, das hier und jetzt keine Wurzel fand, trug ein günstiger Zephyr auf einen mildern Boden, wo es vielleicht unter neuem Namen gedeihete. Im Druck der Zeiten und des Klima schlossen sich Zünfte zusammen, die mit gemeinsamer, oft etwas roher Hand dem Fleiß, der Tätigkeit, allmählich auch der Erfindung und dem Geist der Menschen Schutz und Dauer verschafften, die also, wiewohl sie durch Privatleidenschaften und drückende Verhältnisse das Werk der Vorsehung oft zu hindern schienen, zuletzt dasselbe doch fördern mußten Durch alles Reiben der Völker, der Gesellschaften, Zünfte und Glieder untereinander erwuchs immer eingrößeres oder feineres Publikum, das in Streit und Friede, in Liebe und Leid einander teilnahm. Auf diesem Wege bekam die rohe Kunst, der vom Bedürfnis erpressete Fleiß der Einwohner Europens nicht nur diesen ganzen Weltteil, sondern durch ihn auch alle Weltteile zum gemeinschaftlichen Boden. Was für den Krieg und Handel, für die Seefahrt und den Luxus erfunden und ausgeübt ward, verbreitete seine guten und schädlichen Wirkungen auf alle Weltteile unsrer bewohnten Menschenerde; alle Völker Europas greifen hiebei ineinander und halten unsern Erdball für das Publikum, worauf sie zu wirken haben.

[310] Von frühen Zeiten her sind Schulen und Universitäten ein Mittel gewesen, für Kenntnisse und Wissenschaften ein Publikum zu verbreiten; ja sie sind es noch. Selbst die Scharfsinnigen in mehreren geistlichen Orden flüchteten sich hinter ihre Schutzmauern und breiteten von da aus ihre Meinungen weit umher. Was man nicht lehren durfte, darüber disputierte man nach akademischen Gesetzen und übte die Denkkraft der Menschen. Wiclef und Luther Schützte die Universität, und auch Huß hätte sie geschützt, wenn er sich nicht auf das treulose Wort eines Kaisers verlassen hätte. Mehr noch aber als Schutz gab die Universität den Meinungen ihrer Lehrer: auch Gewicht, Stärke, Ausbreitung. Tausende junger Leute aus verschiedenen Ländern, in Jahren, da die Seele alles mit Liebe erfaßt, da Jünglinge den Lehrer nicht ohne Begeisterung ansehen, hörten ihre Stimme und trugen ihr Wort jeder in sein Vaterland, zu seinem Geschäfte. Jahre nach Jahren wechseln diese Zöglinge der Universitäten; als Scharen von Zugvögeln kommen sie, rauben das Wort des Lehrers und fliegen damit in ihre Lande. Ein großes achtungswürdiges Publikum! das bildsamste, wirkungsreichste, dessen die Menschheit in ihrem jetzigen Zustande fähig ist und welches noch lange, in immer verbesserter Gestalt, dauren möge. Die Jahre des Jünglinges auf der Akademie sind ihm zeitlebens die liebsten Jahre; was er da mit Lust zur Wissenschaft, im ersten Feuer der Begeisterung, noch unbekannt mit Lasten und Hinderungen des Lebens, oder mit jugendlichem Mut diese verachtend, als Beute des Wissens, als Regel der Übung annahm, das bleibt ihm lang oder immer ein froh erworbener Schatz, eine heilige Regel.

Haben wir noch dies Publikum der Schulen und Universitäten? Wir haben's noch, und es hat sich (was man auch sagen möge) nicht verschlimmert, sondern verbessert. Seltner treten jetzt die rohen Heere erwachsener Streiter auf dieses Feld des Wissens und Lernens; zartere Jünglinge sind es, in denen das Wort des Lehrers auch zartere, deshalb aber nicht unkräftigere Wurzeln schlägt. Wenn sie es nicht mit der [311] Klinge behaupten, so hangen sie ihm desto gewissenhafter an; der Lehrer sprach für sie selbst jugendlicher und weckte ihr eignes Nachdenken, ihre mit ihm wirkende Kräfte. Einst lernte man und behauptete; er kultiviert und bessert. Statt des ehemaligen Sekten- und Raufgeistes nehmen mehrere Universitäten eine feinere Tendenz an, Gesellschaften der Wissenschaft, pythagorische Schulen zu werden, in denen sich die erlesensten Jünglinge nicht zum Wissen der Diktaten, sondern zur Wissenschaft, zur Übung und Kunst ihres Lebens oder Geschäfts bilden. Ein schönes Publikum, wenn der Lehrer den Wert seines Geschäfts fühlet. Glaube niemand, daß mit Wiclef, Huß, Luther diese große Wirkung der Universitäten vorüber sei; die Reformation auf ihnen in jeder Wissenschaft, Falkultät und Lehre ist noch nicht stillgestanden, ja, sie wird und kann nicht stillstehen, solange Universitäten da sind. Mehrere Lehrer einer Fakultät, mehrere Fakultäten, mehrere Universitäten gegeneinander sind gemeiniglich in Wettstreit; dieser Wettstreit muß mit den Jahren nicht abnehmen, sondern wachsen Je mehr die Handwerkshindernisse geschwächt werden (dies müssen sie notwendig), je mehr das Werk der Akademien ein Werk des Geistes und einer freien Übung wird, desto mehr entzündet sich der Wetteifer mit reinerer Flamme. Universitäten sind Wacht- und Leuchttürme der Wissenschaft; sie spähen aus, was in der Ferne und Fremde vorgeht, fördern es weiter und leuchten andern selbst vor. Universitäten sind Sammlungs-und Vereinigungsplätze der Wissenschaft; aus ihrer Zusammenstellung und gegenseitigen Befehdung oder Befreundung entspringen dort und dann neue Resultate. Universitäten endlich sollten die letzten Freistätten und eine Schutzwehr der Wissenschaften sein, wenn solche nirgend eine Freistatt fänden. Was allenthalben verkannt würde, was im Geschäft hie und da seine Stimme wehrlos erhübe, sollte hier einer unparteiischen Aufmerksamkeit und eines Beistandes genießen, der von keinem Einfluß gestört würde. Irre ich nicht, so ist dies mehrmals geschehen; die Ratschläge der Lehrer haben Verfolgungen [312] aufgehalten, die die Ratschläge der Staatsweisen nicht unterdrücken mochten; und so sehe ich auch für die Zukunft Ratschläge der Lehrer auf Universitäten hervorgehen, denen die Ratschläge blöder Weisen kaum bestehen mögen. Bis also die Universitäten sich selbst unnot machen, unterstütze man ihren Wert; ihr Publikum wird noch lange durch ein besseres nicht ersetzt werden. Zunächst gilt dieses von den Universitäten Deutschlands; fast sind sie die einzige Gattung deutscher Institute, die jedes Ausland mit Recht ehret.

Ein noch größeres Publikum hat uns die Buchdruckerei verschaffet; es ist sehr gemischt und fast unübersehlich. Welche Mühe kostete es in ältern Zeiten, Bücher zu haben, mehrere zu vergleichen und über einen Inbegriff von Wissenschaft zu urteilen. Jetzt überschwemmen sie uns, eine Flut Bücher und Schriften, aus allen für alle Nationen geschrieben. Ihre Blätter rauschen so stark und leise um unser Ohr, daß manches zarte Gehör schon jugendlich übertäubt wurde. In Büchern spricht alles zu allem; niemand weiß, zu wem. Oft wissen wir auch nicht, wer spreche; denn die Anonymie ist die große Göttin des Marktes. Von einem solchen Publikum wußte weder Rom noch Griechenland; Gutenberg und seine Gehülfen haben es für die ganze Welt gestiftet.

Was ist darüber zu sagen? Dies, daß es, ohngeachtet aller und der schnödesten Mißbräuche, ein großes Geschenk, ein unwiderrufliches Privilegium für die menschliche Gesellschaft und ein ungeheures Mittel der Vorsehung sei, dessen Wirkungen und Folgen noch nicht vor unserm Auge liegen. Was geschehen ist, können wir nicht zurücknehmen; die Buchdruckerei ist da, nicht nur als Nahrungszweig für Handel und Arbeit, sondern als eine Tuba der Sprache, so weit dies oder jenes Produkt reichet. Alle Monarchen der Welt, wenn sie mit vereinten Kräften für jede Druckerstube träten, könnten die arme Familie dieses Letternkastens, das Asyl und den Telegraf menschlicher Gedanken nicht zerstören. Ja, wer wollte es zerstören, da es, nebst einigem Bösen, so unsäglich viel Gutes gestiftet hat und seiner unschuldigen, aber kräftigen [313] Natur nach notwendig noch stiften wird. Der Redner übertäubt mich; der Schriftsteller spricht leise und sanft; ich kann ihn bedächtig lesen. Der Redner blendet mich mit seiner Gestalt, mit seinem Gefolg und Ansehn; der Schriftsteller spricht unsichtbar, und es ist meine Schuld, wenn ich mich von seinem Wortprunk hintergehen oder mir von seinem Geschwätz die Zeit rauben lasse; ich soll ihn prüfen, ich darf ihn wegwerfen. Gegenseits ist auch freilich das Irrsal und die Verführung des Redners vorübergehend und in einem Kreise beschlossen; das Gift und Irrsal des Schriftstellers, seine Ehre und Schande dauret. Er selbst kann sie nicht als etwa durch Besserung, durch Widerruf zurückrufen; und auch dadurch wird, was geschehen ist, nicht ungeschehen. Wer weiß, ob dies Blatt des Widerrufs oder der Widerlegung in die vorige Hand kommt oder ob es dem Irrtum gleich wirket? Das Publikum der Schriftsteller ist also von eigner Art, unsichtbar und allgegenwärtig, oft taub, oft stumm und nach Jahren, nach Jahrhunderten vielleicht sehr laut und regsam. Verloren und doch unverloren, ja unverlierbar ist, was man in seinen Schoß schüttet. Man kann nie mit ihm abrechnen; sein Buch ist nie geschlossen, der Prozeß vor und mit ihm wird nie beendet; es lernt immer und kommt nie zum letzten Resultat.

Man hat diesem Ewig-Unmündigen Vormünder setzen wollen, die Zensoren, aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, mit fruchtloser Mühe und meistens mit dem widrigsten Erfolg. Der Unmündige kostet am liebsten, was man ihm versagte; er suchet auf, was man ihm hinterhalten wollte; das Verbot eines Vortrages an dies Publikum ist gerade das Mittel, selbst einem unnützen Wort Ansehen, Gewicht und Aufmerksamkeit zu geben. Und welcher bescheidne Mann wird ein Vormund des gesamten Menschenverstandes, des Publikums aller Zeiten und Länder zu sein wagen? Laß jeden Weisen und Toren schreiben nach seiner Weise, wenn er in zweifelhaften Fällen nur sich nennet und niemand persönlich beleidiget.

Es sei mir erlaubt, mich hierüber zu erklären. Der weiseste [314] Zensor, wenn er auch die Stimme eines ganzen, ja des aufgeklärtesten Staates vorstellt, kann in dem, was Lehre und Meinung betrifft, schwerlich die Stimme des Publikums, der sich ein Schriftsteller freiwillig unterwirft, auf- oder überwiegen wollen. Wenn sein Urteil auch die Weisheit Salomos wäre, wenn es die Klugheit aller vergangenen Jahrhunderte enthielte und dem geprüften Verstande einer großen Zukunft voreilte, so fehlt ihm doch eins, die Legitimation hiezu; denn weder die Vor- noch Nachwelt hat ihn darüber beurkundet. Der Schriftsteller wird also gegen ihn immer die Einrede haben, daß er dem Urteil der Welt vorgreife, daß er sich unbefugt eine Entscheidung anmaße, die nur dem Publikum im weitesten Sinne des Worts gebühret; er wird von diesem Papst eines kleinen Staates an das allgemeine Concilium appellieren, das allein, und zwar nur in immer fortgehenden Stimmen, ein Richter des Wahren und Falschen sein könne. Wahrscheinlich werden ihm viele Stimmen beitreten; und bei dem größesten Recht wird der Zensor, der Form nach und um der Folgen willen, unrecht behalten. Ich darf nicht wiederholen, was man, wo es Wahrheit gilt, über Freiheit der Meinungen, die nur widerlegt, nicht aber unterdrückt werden dürfen, so oft und viel gesagt hat.

Wenn man also dem Publikum keine, auch nicht die tollesten Meinungen rauben darf, indem der Staat, wo sie ihm falsch oder gefährlich scheinen, lieber ihre offne Widerlegung veranlassen mag, damit zum Vorteil der Welt die Finsternis vom Lichte besiegt werde, so darf bei dieser ungebundnen Freiheit, bei der Achtung, die der Staat selbst dem Publikum erweiset, da er ihm nichts vorenthält, was irgendein Schriftsteller ihm darbringt, der Staat wohl auch fodern, daß jeder Schriftsteller sich nenne, der dem Publikum etwas darzubringen gut findet. Und zwar dies in allen Schriften, über jeden Gegenstand, Rezensionen fremder Bücher nicht ausgenommen. Denn wie hätte ich ein Recht, Anonymie zu verlangen, wo ich mich vors Publikum dränge und zu ihm meine Stimme erhebe? Einen freiwilligen Lehrer der Welt und Nachwelt muß man [315] kennen; er muß sich, wenn ihm Pflicht, Recht und Wahrheit lieb ist, nicht verbergen. Ein Mann, der öffentlich spricht, stehet für sein Wort; sonst nennet man ihn einen Feigen oder Lügner. Mit diesem einzigen leichten, wie mich dünkt, nicht ungerechten Mittel, wie mancher Keckheit, wie mancher Verleumdung würde vorgebeugt, die jetzt bloß hinter der Anonymie Schutz sucht. Wie vorsichtiger, überdachter und gehöriger würde man zum Publikum sprechen, wenn man wüßte, daß man nicht ohne eigne Ehre oder Schande zu ihm sprechen könnte! Und verdient das Publikum, der ehrwürdigste Name, der genannt werden kann, die Gesellschaft aller Guten und Edlen, nicht diese Achtung? Jeder Schriftsteller würde veranlaßt, in der würdigsten Gestalt vor ihm zu erscheinen, seine Stimme vor diesem großen Tribunal bescheiden hören zu lassen, dagegen aber auch, was er weise behauptet, standhaft zu verteidigen, ein ehrlicher Bekenner zu sein der von ihm dem Publikum gemeldeten Wahrheit. Jene Winkelträgereien, aufgefangene Gerüchte, erstohlne Personalitäten verlören sich von selbst; kein Ehrliebender wollte mit solcher Ware öffentlich am Markt stehn, die schändlich ist und fürs Publikum nicht gehöret. In Griechenland und Rom schämte sich kein Schriftsteller seiner Werke; auch unter uns darf sich kein Stand einer Schrift, wenn sie gut ist, schämen; dem höchsten wie dem niedrigsten Stande sollte Anonymie nicht erlaubt sein und über haupt dieselbe für das, was sie ist, für Hinterlist, Schimpf, niedriges Gewerbe und Feigheit gelten. Wer zum Publikum spricht, spreche als ein Teil des Publikums, also öffentlich, mit seinem Namen.

Noch ein viel Mehrers wäre über das Verhältnis des Schriftstellers zum Publikum zu reden. Jede Gattung der Skribenten schreibt für ihre Gattung Leser, die sie ihr Publikum, ihre Welt nennen Aus fröhlichen oder traurigen Erfahrungen, welche Schriften am meisten gelesen werden, kann man also auf den Geschmack, auf das Maß der Bildung des Publikums schließen, dem diese Schriften vor andern oder ausschließend wohltun. Die mittelmäßigen, die leichten, üppigen, lüsternen [316] finden natürlich die meisten Leser; viele gerühmte Schriftsteller haben nur durch Zeugnisse anderer ihren Ruhm erlangt und stehn auf guten Glauben, ungelesen, in den Bibliotheken. Das Publikum hallet nur ihre Namen wider. Deshalb aber wird kein guter Kopf, wenn er es nicht des Bauchs wegen tun muß, sich unwürdig (wie man sagt) zum Publikum herabstimmen oder seinem lüsternen, falschen Geschmack frönen. Der Schriftsteller soll das Publikum, nicht dies den Schriftsteller bilden. Delila schnitt Simson das Haar ab und übergab ihn kraftlos den Philistern; sie verspotteten ihn, und er mußte vor ihnen spielen.

Nicht die Blätter des Baums, die Keime, Blüten und Früchte sind sein edelstes Erzeugnis. Nicht das zahlreichste, sondern das verständigste Publikum ist mit seinem Beifall die Ehre des Schriftstellers, sein Zweck und Lohn. Das Urteil dieser vielleicht wenigen Leser dauert fort und wirkt weiter. Oft findet ein Schriftsteller diese Leser nur nach seinem Tode; Minos und Aeacus sind's, die unparteiisch über ihn richten. Dem Homer schaffte Lykurg und die Pisistratiden ein größeres, ein attisches Publikum, dem Milton Addison, Garrick dem Shakespeare u.f. Nichts ist angenehmer, als einem verdienten Toten Gerechtigkeit zu erweisen und über seinem Grabe die Stimme eines besseren, dankbaren Publikums zu werden. So hat Rousseau nach seinem Tode die Ehre mit Wucher genossen, die Voltaire bei seinen Lebzeiten sich zuzueignen wußte; und so gibt's bei allen Nationen andre Autoren, die berühmt sind, andre, die es zu sein verdienen.

An Liebe und Achtung gegen seine besten Schriftsteller (wenige ausgenommen) stehet Deutschland seinen kultivierten Nachbarn, Franzosen, Engländern, Italienern, nicht vor, sondern nach; der größere Teil des Publikums kennet sie nicht und trägt wenigstens sie nicht eben in Herz und Seele.

Haben wir also hierin (ich will nicht sagen, das Publikum der Alten, sondern nur) das Publikum der Franzosen, Engländer, Italiener? Wer diese Länder kennet und Deutschland kennet, antworte. An den Schriftstellern liegt es schwerlich; [317] sie taten, was sie konnten, manche vielleicht zuviel. An Charakter und an der Verfassung der Nation liegt es, an der Unkultur und der Unkultivierbarkeit (wenn mir zu Bezeichnis eines Barbarismus ein barbarisches Wort erlaubt ist), am falschen Geschmack und der genetischen Roheit mancher Stände und Lebensarten. Bei weitem ist unsre Sprache noch nicht so gebildet, jedem Vortrage, jeder Art des Wissenswürdigen so zugebildet als die Sprachen unsrer Nachbarn; vielmehr haben wir mit einer benachbarten Nation zu kämpfen, daß ihre Sprache die unsere nicht ganz vertilge. Erwache also, du schlafender Gott, wenn du nicht etwa dichtest oder über Feld gegangen bist; erwache, deutsches Publikum, und laß dir dein Palladium nicht rauben. Aus dem trägen Schlummer, aus dem niedrigen Stolz, der das Beste wegwerfend verachtet, aus der Anmaßung, die dem Schlechtsten das Privilegium des Besten erteilen zu können glaubt, aus der nie teilnehmenden Kälte, aus der völligen Seelenentfremdung, glaube mir, wird nichts und kann nichts werden. Die Zeit, da das alles galt, ist vorüber. Unsanft aus dem Schlafe gerüttelt, erwache und zeige, daß du kein Barbar bist, damit man dir nicht als einem Barbaren begegne. Deine Sprache, die Schwester der griechischen, die Königin und Mutter vieler Völker, für ganz Europa hast du zu sichern, auszubilden, zu bewahren.

Sollten wir aber bloß in Reden und Schriften, in Lehren und Hören ein Publikum haben? keins für unsre Handlungen? keins für unser ganzes Dasein? Kein Publikum, das auf uns wirkte, worauf wir durch unser Beispiel, durch unser Vorbild schweigend wirken? Zweifle daran niemand, ja auch daran niemand, daß diese stille Wirkung in einem kleinen Kreise von mächtiger Wirkung sei. Sie ist reell; in ihr ist nichts Schein und Schminke. Der Kreis, in dem du lebest und dein Geschäft treibest, ist dein Publikum; sei dies klein oder groß, du prägst in dasselbe das Bild deiner Existenz, deiner Denk- und Handlungsweise. Hiemit wirkst du unvermerkt oder bemerket auf die Deinen, die nach deinem Muster oder mit Einflüssen von dir fortwirken, auf deine Mitarbeiter, [318] Untergebene oder Vorgesetzte. Leise oder stürmisch verbreiten sich also Wellen und Wogen mit und ohne deinen Namen auf deine Zeitgenossen und die Nachwelt fort. So haben zu allen Zeiten die würdigsten Männer auf ihr Publikum gewirket; sie sprachen mit der starken Stimme ihres tätigen Beispiels und dachten nicht daran, daß im größeren Publikum ihr Name genannt würde. Das schärfste und edelste Publikum waren sie sich selbst, der Aufmunterer, Zeuge und Richter ihrer Handlungen, ein Gesetz, das in ihnen lebte. Wohl uns, wenn wir uns dies Publikum sind; wir haben sodann die laute, oft sehr unsichre und unreine Stimme der größeren Welt nicht nötig.

II.

Haben wir noch das Vaterland der Alten?

Griechen und Römern war das Wort Vaterland ein ehrwürdig-süßer Name. Wem sind nicht Stellen aus ihren Dichtern und Rednern bekannt, in denen Söhne des Vaterlandes ihm als einer Mutter kindliche Liebe und Dankbarkeit, Lobpreisungen, Wünsche und Seufzer weihen? Der Entfernete sehnet sich darnach zurück, hoffnungsvoll oder klagend schauet er zur Gegend desselben hin, empfängt die Lüfte, die daher wehen, als Boten seiner Geliebten. Wiedergegeben dem Vaterlande, umfängt er es und küsset seinen Boden mit Tränen. Der in der Entfernung Sterbende vermacht ihm noch seine Asche; auch nur ein leeres Grabmal des Andenkens wünschet er sich bei den Seinen. Fürs Vaterland zu leben hieß ihnen der höchste Ruhm, fürs Vaterland zu sterben der süßeste Tod. Wer mit Rat und Tat dem Vaterlande aufhalf, wer es rettete und mit Kränzen des Ruhms schmückte, erwarb sich einen Sitz unter den Göttern; Himmels- und Erdenunsterblichkeit war ihm gewiß. Dagegen wer das Vaterland beleidigte, es durch seine Taten entehrte, wer es verriet oder bekriegte, in den Busen seiner Mutter hatte der das Schwert gestoßen, er war ein Vater-, ein Kinder-, ein Freundes- und Brudermörder. »Cariorem decet esse patriam nobis quam [319] nosmet ipsos.« »Dulce et decorum est, pro patria mori« u. f. Haben auch wir dies Vaterland der Alten? Und welches sind die geliebten Bande, die uns daran fesseln?

Der Boden des Landes, auf dem wir geboren sind, kann für sich allein dies Zauberband schwerlich knüpfen; vielmehr wäre es die härteste aller Lasten, wenn der Mensch, als Baum, als Pflanze, als Vieh betrachtet, eigen und ewig, mit Seele, Leib und allen Kräften dem Boden zugehören müßte, auf welchem er die Welt sah. Harte Gesetze gnug hat es über dergleichen Erbeigentümlichkeit, Eigengehörigkeit u. f. gegeben und gibt es noch; der ganze Gang der Vernunft, der Kultur, ja selbst der Industrie und der Nutzberechnung gehet dahin, diese geborne Sklaven eines Mutterleibes oder der Muttererde mit sanftern Banden an ein Vaterland zu knüpfen und sie von der harten Scholle, die sie im Leben mit ihrem Schweiß, im Tode mit ihrer Asche düngen sollen, allmählich zu entfesseln.

Als noch Nomadenvölker in der Welt umherzogen, wüste Plätze zeitenlang innehatten und in diesen ihre Väter begruben, da gab der Boden des Landes, den diese Völker besaßen oder besessen hatten, Anlaß zum Namen eines Landes der Väter. »An unsrer Väter Gräbern erwarten wir euch,« rief man den Feinden zu, »auch ihre Asche wollen wir schützen und unser Land sichern.« So ist der heilige Name entstanden, nicht als ob Menschen aus dem Boden entsprossen wären. Nur Kinder können das Vaterland lieben, nicht erdgeborne Knechte oder wie Wild gefangene Sklaven.

Was uns im Vaterlande zuerst erquickt, ist nicht die Erde, auf die wir sinken, sondern die Luft, die wir atmen, die väterlichen Hände, die uns aufnehmen, die Mutterbrust, die uns säuget, die Sonne, die wir sehen, die Geschwister, mit denen wir spielen, die freundlichen Gemüter, die uns wohltun. [320] Unser erstes Vaterland ist also das Vaterhaus, eine Vaterflur, Familie. In dieser kleinen Gesellschaft leben die eigentlichen und ersten Freuden des Vaterlandes, wie in einem Idyllenkreise; in Idyllen leibt und lebt das Land unsrer ersten Jugend. Sei der Boden, sei das Klima, wie es wolle, die Seele sehnt sich dahin zurück, und je weniger die kleine Gesellschaft, in der wir erzogen wurden, ein Staat war, je weniger sich Stände und Menschenklassen darin trennten, um so weniger Hindernisse findet die Einbildungskraft, sich in den Schoß dieses Vaterlandes zurückzusehnen. Da hörten und lernten wir ja die ersten Töne der Liebe; da schlossen wir zuerst den Bund der Freundschaft und empfanden die Keime zarter Neigung in beiden Geschlechtern; wir sahen die Sonne, den Mond, den Himmel, den Frühling mit seinen Bäumen, Blüten und damals uns so süßeren Früchten. Der Weltlauf spielte vor uns; wir sahn die Jahreszeiten sich wälzen, kämpften mit Gefahren, mit Leid und Freude – wir sommerten und winterten uns gleichsam in die Welt ein. Diese Eindrücke, moralisch und physisch, bleiben der Einbildungskraft eingegraben; die zarte Rinde des Baums empfing sie, und ohne gewaltsame Vertilgung werden sie nur mit ihm sterben. Wer hat nicht die Seufzer und Klagen gelesen, mit denen selbst Grönländer sich von ihrem Jugendlande entfernten, mit denen sie aus der Kultur Europas durch alle Gefahren dahin zurückstrebten? Wem tönen nicht noch die Seufzer der Afrikaner ins Ohr, die aus ihrem Vaterlande geraubt wurden? In einfachen kleinen Gesellschaften lebten sie da, in einem Idyllenlande der Jugend.

Die Staaten oder vielmehr Städte der Griechen, denen der Name des Vaterlandes so teuer und lieb war, schlossen sich unmittelbar an diese kleinen Gesellschaften an; die Gesetzgebung begünstigte diese und leitete von ihnen ursprünglich ihre ganze Energie her. Es war das Land der Väter, das man beschützte, es waren Jugendgenossen, Geschwister und Freunde, nach denen man sich sehnte; den Bund der Liebe, den Jünglinge schlossen, billigte und nützte das Vater land. Mit [321] seinen Freunden wollte man begraben sein, mit ihnen genießen, leben und sterben. Und da die edlen Vorfahren dieser Stämme das Gemeinwesen, zu dem sie gehörten, unter dem Schutz der Götter errichtet, mit ihrer Mühe und Arbeit bezeichnet, mit ihrem Blute besiegelt hatten, so ward den Nachkommen der Bund solcher Gesetze als ein moralisches Vaterland heilig; denn höher schätzten die Griechen nichts als das Verdienst der bürgerlichen Einrichtung, dadurch sie Griechen geworden und über alle Barbaren der Welt erhöhet waren. Die Götter ihres Landes waren die schönsten Götter; seine Helden, Gesetzgeber, Dichter und Weise waren in Einrichtungen, Liedern, Denkmalen und Festen unsterblich; hiemit prangten ihre öffentliche Plätze und Tempel; der Sieg der Griechen über die Perser allein machte ihnen ihr Land, ihre Verfassung, ihre Kultur und Sprache zur Krone des Weltalls. Im Äther solcher Ideen schwammen die Griechen, wenn sie den Namen des Vaterlandes oft edel gebrauchten, oft auch mißbrauchten. Mehrere Städte teilten diesen Ruhm, jede auf ihre Weise. Und was Rom sich an seiner Weltbeherrscherin, dem Sammelplatz alles Sieges und Ruhms, dachte, davon zeigt die römische Geschichte.

In die Zeiten Griechenlands oder Roms sich zurückwünschen wäre töricht; diese Jugend der Welt sowie auch das eiserne Alter der Zeiten unter Roms Herrschaft ist vorüber; schwerlich dürften wir, wenn auch ein Tausch möglich wäre, in dem, was wir eigentlich begehren, bei dem Tausche gewinnen. Spartas Vaterlandseifer drückte nicht nur die Heloten, sondern die Bürger selbst und mit der Zeit andre Griechen. Athen fiel seinen Bürgern und Kolonien oft hart; es wollte mit süßen Phantomen getäuscht sein. Die römische Vaterlandsliebe endlich ward nicht für Italien allein, sondern für Rom selbst und die gesamte Römerwelt verderblich. Wir wollen also aufsuchen, was wir am Vaterlande achten und lieben müssen, damit wir es würdig und rein lieben.

1. Ist's, daß einst Götter vom Himmel niederstiegen und unsern Vätern dies Land anwiesen? Ist's, daß sie uns eine [322] Religion gegeben und unsre Verfassung selbst eingerichtet haben? Überkam durch einen Wettkampf Minerva diese Stadt? Begeisterte Egeria unsern Numa mit Träumen? – Eitler Ruhm; denn wir sind nicht unsre Väter. Sind auf Minervas heiligem Boden der großen Göttin wir unwert, reimen sich Numas Träume nicht mehr mit unsern Zeiten, so steige Egeria wieder aus der Quelle, so lasse Minerva zu neuen Begeisterungen sich vom Himmel hernieder.

Ohne Bilder zu reden, es ist für ein Volk gut und rühmlich, große Vorfahren, ein hohes Alter, berühmte Götter des Vaterlandes zu haben, solange diese es zu edeln Taten aufwecken, zu würdigen Gesinnungen begeistern, solange die alte Zucht und Lehre dem Volke gerecht ist. Wird sie von diesem selbst verspottet, hat sie sich überlebet oder wird gemißbraucht: »Was hilft dir (ruft Horaz seinem Vaterlande zu), stolzer pontischer Mast, was hilft dir deine vornehme Abkunft? was helfen dir die gemalten Götter an deinen Wänden?« Ein müßig-besessener, von unsern Vorfahren trägeererbter Ruhm macht uns bald eitel und unsrer Vorfahren unwert. Wer sich einbildet, von Hause aus tapfer, edel, bieder zu sein, kann leicht vergessen, sich als einen solchen zu zeigen. Er versäumt, nach einem Kranze zu ringen, den er von seinen Urahnen an schon zu besitzen glaubet. In solchem Wahn von Vaterlands-, Religions-, Geschlechts-, Ahnenstolze ging Judäa, Griechenland, Rom, ja beinah jede alte mächtige oder heilige Staatsverfassung unter. Nicht was das Vaterland einst war, sondern was es jetzt ist, können wir an ihm achten und lieben.

2. Dies also kann, außer unsern Kindern, Verwandten und Freunden, nur seine Einrichtung, die guteVerfassung sein, in welcher wir mit dem, was uns das Liebste ist, gern und am liebsten leben mögen Physisch preisen wir die Lage eines Orts, der bei einer gesunden Luft unserm Körper und Gemüt wohltut; moralisch schätzen wir uns in einem Staat glücklich, in dem wir bei einer gesetzmäßigen Freiheit und Sicherheit vor uns selbst nicht erröten, unsre Mühe nicht verschwenden, uns und die Unsrigen nicht verlassen sehen, sondern als [323] würdige, tätige Söhne des Vaterlandes jede unsrer Pflichten ausüben und solche vom Blicke der Mutter belohnt sehen dürfen. Griechen und Römer hatten recht, daß über das Verdienst, einen solchen Bund gestiftet zu haben oder ihn zu befestigen, zu erneuen, zu läutern, zu erhalten, kein andres menschliches Verdienst gehe. Für die gemeinschaftliche Sache nicht der Unsern allein, sondern der Nachkommenschaft und des gesamten, ewigen Vaterlandes der Menschheit zu denken, zu arbeiten und (großes Los!) glücklich zu wirken: was ist hiegegen ein einzelnes Leben, ein Tagewerk weniger Minuten und Stunden?

Jeder, der auf dem Schiff in den flutenden Wellen des Meeres ist, fühlet sich zum Beistande, zur Erhaltung und Rettung des Schiffs verbunden. Das WortVaterland hat das Schiff am Ufer flottgemacht; er kann, er darf nicht mehr (es sei denn, daß er sich hinausstürze und den wilden Wellen des Meers überlasse) im Schiff, als wär er am Ufer, müßig dastehn und die Wellen zählen. Seine Pflicht ruft ihn (denn alle seine Gefährten und Geliebten sind mit ihm im Schiffe), daß, wenn ein Sturm sich empört, eine Gefahr droht, der Wind sich ändert oder ein Schiff hinanschleudert, sein Fahrzeug zu übersegeln, seine Pflicht ruft ihn, daß er helfe und rufe. Leise oder laut, nachdem sein Stand ist, dem Bootsknecht, Steuermann oder dem Schiffer, seine Pflicht, die gesamte Wohlfahrt des Schiffes ruft ihn. Er sichert sich nicht einzeln; er darf sich nicht in den Kahn einer erlesenen Ufergesellschaft, der ihm hier nicht zu Gebot stehet, träumen; er legt Hand an das Werk und wird, wo nicht des Schiffes Retter, so doch sein treuer Fahrgenoß und Wächter.

Woher kam es, daß manche einst hochverehrte Stände allmählich in Verachtung, in Schmach versanken und noch versinken? Weil keiner derselben sich der gemeinen Sache annahm, weil jeder als ein begünstigter Eigentums- oder Ehrenstand lebte; sie schliefen im Ungewitter ruhig wie Jonas, und das Los traf sie wie Jonas. O daß die Menschen bei sehenden Augen an keine Nemesis glauben! An jeder verletzten[324] oder vernachlässigten Pflicht hangt nicht eben eine willkürliche, sondern die notwendige Strafe, die sich von Geschlecht zu Geschlecht häufet. Ist die Sache des Vaterlandes heilig und ewig, so büßet sich seiner Natur nach jedes Versäumnis derselben und häuft die Rache mit jedem verdorbneren Geschäft oder Geschlechte. Nicht zu grübeln hast du über dein Vaterland, denn du warest nicht sein Schöpfer; aber mithelfen mußt du ihm, wo und wie du kannst, ermuntern, retten, bessern, und wenn du die Gans des Capitoliums wärest.

3. Sollte uns also nicht, eben im Sinne der Alten, die Stimme jedes Bürgers, gesetzt, daß sie auch gedruckt erschiene, als eine Vaterlandsfreiheit, als ein heiliges Scherbengericht gelten? Der Arme konnte vielleicht nichts tun als schreiben, sonst hätte er wahrscheinlich etwas Besseres getan; wollet ihr dem Seufzenden seinen Atem, der ins wüste Leere hinausgeht, rauben? Noch werter aber sind dem Verständigen die Winke und Blicke derer, die weiter sehen. Sie muntern auf, wenn alles schläft; sie seufzen vielleicht, wenn alles tanzet. Aber sie seufzen nicht nur; in einfachern Gleichungen zeigen sie, vermöge einer unzweifelhaften Kunst, höhere Resultate. Wollet ihr sie zum Schweigen bringen, weil ihr bloß nach der gemeinen Arithmetik rechnet? Sie schweigen leicht und rechnen weiter; das Vaterland aber zählte auf diese stille Rechner. Ein Vorschritt, den sie glücklich angaben, ist mehr als zehntausend Zerimonien und Lobsprüche wert.

Sollte unser Vaterland dieser Rechenkunst nicht bedürfen? Sei Deutschland tapfer und ehrlich; tapfer und ehrlich ließ es sich einst nach Spanien und Afrika, nach Gallien und England, nach Italien, Sizilien, Kreta, Griechenland, Palästina führen; unsre tapfren und ehrlichen Vorfahren bluteten da und sind begraben. Tapfer und ehrlich ließen die Deutschen innerhalb und außerhalb ihrem Vaterlande sich, wie die Geschichte zeigt, dingen gegeneinander; der Freund stritt gegen den Freund, der Bruder gegen den Bruder; das Vaterland ward zerrüttet und blieb verwaiset. Sollte also außer der [325] Tapfer- und Ehrlichkeit unserm Vaterlande nicht noch etwas anders not sein? Licht, Aufklärung, Gemeinsinn; edler Stolz, sich nicht von andern einrichten zu lassen, sondern sich selbst einzurichten, wie andre Nationen es von jeher taten; Deutsche zu sein auf eignem wohlbeschützten Grund und Boden.

4. Der Ruhm eines Vaterlandes kann zu unsrer Zeit schwerlich mehr jener wilde Eroberungsgeist sein, der die Geschichte Roms und der Barbaren, ja mancher stolzen Monarchien wie ein böser Dämon durchstürmte. Was wäre es für eine Mutter, die (eine zweite, ärgere Medea) ihre Kinder aufopferte, um fremde Kinder als Sklaven zu erbeuten, die ihren eignen Kindern über kurz oder lang zur Last werden? Unglücklich wäre das Kind des Vaterlandes, das, hingegeben oder verkauft, ins Schwert laufen, verwüsten, morden müßte, um eine Eitelkeit zu befriedigen, die niemanden Vorteil gebieret. Der Ruhm eines Vaterlandes kann zu unsrer Zeit und für die noch schärfer richtende Nachwelt kein andrer sein, als daß diese edle Mutter ihren Kindern Sicherheit, Tätigkeit, Anlaß zu jeder freien, wohltätigen Übung, kurz, die Erziehung verschaffe, die ihr selbst Schutz und Nutz, Würde und Ruhm ist. Alle Völker Europas (andre Weltteile nicht ausgeschlossen) sind jetzt im Wettstreit, nicht der körperlichen, sondern der Geistes- und Kunstkräfte miteinander. Wenn eine oder zwei Nationen in weniger Zeit Vorschritte tun, zu denen sonst Jahrhunderte gehörten, so können, so dürfen andre Nationen sich nicht Jahrhunderte zurücksetzen wollen, ohne sich selbst dadurch empfindlich zu schaden. Sie müssen mit jenen fort; in unsern Zeiten läßt sich's nicht mehr Barbar sein; man wird als Barbar hintergangen, untertreten, verachtet, mißhandelt. Die Weltepochen bilden eine ziehende Kette, der zuletzt kein einzelner Ring sich widersetzen mag, wenn er auch wollte.

Vaterländische Kultur gehört hiezu und in dieser auch Kultur der Sprache. Was ermunterte die Griechen zu ihren rühmlichen und schwersten Arbeiten? Die Stimme der Pflicht und des Ruhmes. Wodurch dünkten sie sieh vorzüglicher als [326] alle Nationen der Erde? Durch ihre kultivierte Sprache und was mittelst derselben unter ihnen gepflanzt war. Die imperatorische Sprache der Römer gebot der Welt, eine Sprache des Gesetzes und der Taten. Wodurch hat eine nachbarliche Nation seit mehr als einem Jahrhunderte so viel Einfluß auf alle Völker Europas gewonnen? Nebst andern Ursachen vorzüglich auch durch ihre im höchsten Sinne des Worts gebildete Nationalsprache. Jeder, der sich an ihren Schriften ergötzte, trat damit in ihr Reich ein und nahm teil an ihnen. Sie bildeten und mißbildeten; sie befahlen, sie imponierten. Und die Sprache der Deutschen, die unsre Vorfahren eine Stamm-, Kern- und Heldensprache nannten, sollte wie eine Überwundene den Siegeswagen andrer ziehn und sich dabei noch in ihrem beschwerlichen Reichs- und Hofstil brüsten? Wirf ihn weg, den drückenden Schmuck, du wider deinen eigenen Willen eingezwängte Matrone, und sei, was du sein kannst und ehemals warest, eine Sprache der Vernunft, der Kraft und Wahrheit. Ihr Väter des Vaterlandes, ehret sie, ehret die Gaben, die sie, unaufgefordert und unbelohnt und dennoch nicht unrühmlich, darbrachte. Soll jede Kunst und Tätigkeit, durch welche mancher dem Vaterlande gern zu Hülfe kommen möchte, sich erst wie jener verlorne Sohn außerhalb Landes vermieten und die Frucht seines Fleißes oder Geistes einer fremden Hand anvertrauen, damit ihr solche von da aus zu empfangen die Ehre haben möget? Mich dünkt, ich sehe eine Zeit kommen –

Doch lasset uns nicht prophezeien, sondern hinter allem nur bemerken, daß jedes Vaterland schon mit seinem süßen Namen eine moralische Tendenz habe. Von Vätern stammet es her; es bringet uns mit dem Namen Vater die Erinnerung an unsre Jugendzeiten und Jugendspiele in den Sinn; es weckt das Andenken an alle Verdiente vor uns, an alle Würdige nach uns, denen wir Väter werden; es knüpft das Menschengeschlecht in eine Kette fortgehender Glieder, die gegeneinander Brüder, Schwestern, Verlobte, Freunde, Kinder, Eltern sind. Sollten wir uns anders auf der Erde betrachten?

[327] Müßte ein Vaterland notwendig gegen ein andres, ja gegen jedes andre Vaterland aufstehn, das ja auch mit denselben Banden seine Glieder verknüpfet? Hat die Erde nicht für uns alle Raum? Liegt ein Land nicht ruhig neben dem andern? Kabinette mögen einander betrügen; politische Maschinen mögen gegeneinander gerückt werden, bis eine die andre zersprengt. Nicht so rücken Vaterländer gegeneinander, sie liegen ruhig nebeneinander und stehen sich als Familien bei. Vaterländer gegen Vaterländer im Blutkampf ist der ärgste Barbarismus der menschlichen Sprache.

58.

Leibniz' Weissagung ist eine alte, bewährte Wahrheit. 46 Eine Gemeinheit ohne Gemeingeist kranket und erstirbt; ein Vaterland ohne Einwohner, die es lieben, wird zur Wüste, und ein Haus, am Meeresufer auf Sand gebauet, als ein Platzregen fiel und ein Gewässer kam und weheten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und tät einen großen Fall, sagt Christus.

Daß diese Gebrechlichkeit zu Leibniz' Zeiten nicht angefangen, sondern sich nur merklicher gemacht habe, bewährt die deutsche, ja, nach Verschiedenheit der Völker, Verfassungen und Länder, alle Geschichte. Lesen Sie, was Schmidt vom Zustande der deutschen Nation vorm Anfange des Dreißigjährigen Krieges sagt 47 und mit Zeugnissen beleget; nach dem Westfälischen Frieden ward die Sache gewiß nicht besser. In Sitten und Grundsätzen, politisch und moralisch, ging alles mehr und mehr nicht zu einer größeren Konsistenz, sondern zu einer Auflösung hin, die auch von Moment zu Moment folgte. Daß aber durch dieses schleichende Fieber eine neue Gesundheit, wenngleich auf Kosten leidender oder [328] abgestorbener Glieder, bereitet werde, dies ist ein des großen Leibniz würdiger Gedanke. Das menschliche Geschlecht ist ein Phönix; auch in seinen Gliedern, ganzen Nationen, verjünget es sich und steht aus der Asche wieder auf.

Sehr übel ist's, daß wir in der Geschichte die Meinungen und Grundsätze der Völker, die dort und dann herrschten, so wenig bemerkt finden. Man sieht Erfolge, oft späte Erfolge, und muß die vielleicht längst im Verborgenen wirkende Triebfeder trüglich erraten. Noch seltner werden in ihr dergleichen herrschende Meinungen und Grundsätze in ihrer Abstammung und Fortpflanzung genealogisch verfolgt; man sieht sie hie und da wie Ströme aus der Erde brechen und sich, indes ihr Lauf unter der Erde fortgeht, dem Auge verlieren. Am seltensten sind Geschichtschreiber mit wirklich moralischem Blick über Vorfälle und Personen. So oft man von einem ägyptischen Totengericht über vergangene Zeiten spricht, so selten übt man es aus, weil vielen Beschreibern die Biegsamkeit des Geistes, sich in vergangene Zeiten zu setzen, andern die Waage des Urteils, der moralische Sinn, fehlet. Und fehlet dieser, oder ist er schief und verdorben, so wird die Geschichte selbst verderblich Ihr Urheber siehet mit falschem Blick, er wägt mit betrügerischen Gewichten.

Beispiele davon anzuführen, erlassen Sie mir: über Juden, Griechen und Römer, über Christen und Barbaren, über unsre und fremde Nationen sind dergleichen in Menge vorhanden. Je täuschender geschrieben, desto verderblicher; und oh, wer mag den unmoralischen und unmenschlichen Stumpfsinn nennen, mit dem man Helden, Taten, Begebenheiten und Revolutionen unter Alten und Neuen so oft knechtisch anstaunte, Lob und Tadel wie ein gedungener Elender austeilte und die unschuldig Verfolgten zuweilen noch im Grabe verfolget. Eine Geschichte der Meinungen, der praktischen Grundsätze der Völker, wie sie hie und da herrschten, sich vererbten und im stillen die größesten Folgen erzeugten, diese Geschichte mit hellem, moralischen Sinn, in gewissenhafter Prüfung der Tatsachen und Zeugen geschrieben, wäre eigentlich der [329] Schlüssel zur Tatengeschichte. Wegelin, ein denkender Geschichtforscher, hat diesen Gesichtspunkt oft im Blick; weil er aber zu systematisch denket, so verlieret er sich auf der ungeheuren Bahn meistens in dunkeln, zu allgemeinen Maximen. 48

Und doch hängt von diesem scharfgehaltenen Augpunkt aller Nutzen der Geschichte ab; die Figuren des Gemäldes werden untreu, verworren und dunkel, wenn man ihnen dies Licht raubet. Wieviel z.B. ist über Machiavells »Fürsten« gesagt worden, und doch zweifle ich, ob mit ausgemachtem Resultate, indem einige dies Buch für eine Satire, andre für ein verderbliches Lehrbuch, andre für ein wankendes, schwachköpfiges Mittelding zwischen beiden halten. Und ein Schwachkopf war wahrlich Machiavell nicht; er war ein Geschicht- und Welterfahrner, dabei ein redlicher Mann, ein feiner Beobachter und ein warmer Freund seines Vaterlandes. Daß er den Wert und die Form von mancherlei Staaten gekannt habe, davon zeugen seine »Dekaden über den Livius,« und daß er kein Verräter der Menschheit werden wollte, beweiset jede Zeile seiner andern Schriften Sowie bis zum Alter hinan sein geführtes Leben. Woher nun das Mißverständnis dieser Schrift eines Schriftstellers, der so bestimmt, rein und schön zu schreiben wußte? Woher, daß dies Mißverständnis sich zwei Jahrhunderte erhalten und den feinsten Köpfen mitgeteilt hat, so daß ihm selbst der große Verfasser des »Anti-Machiavells« nicht entkommen mochte? Und doch ging das Buch zweiundsiebenzig Jahre umher, gebilligt und gelesen; niemand fand darin Arges. Machiavell hatte es einem Fürsten aus einem von ihm geliebten Hause, dem Neffen eines Papstes, zugeschrieben, der ihn hochhielt, dem er damit gewiß keine Schande machen wollte. Mich dünkt, das ganze [330] Mißverständnis rühre daher, daß man den Punkt nicht bemerkt, auf welchem damals das Verhältnis der Politik und Moral stand.

Beide hatten sich sichtbar und völlig getrennet. Die Zeiten Alexanders VI. und Cäsar Borgia waren zwar vorüber, aber auch Julius und Leo, Frankreich und Spanien, Florenz und die kleinen Tyrannen von Italien, ja jenseit der Alpen wollte niemand als Regent und Politiker Moralist sein. Man lachte die Tramontaner aus, die ins Regierungswesen so enge Begriffe brachten; denn von Erlangung oder Erhaltung der Macht und von den Mitteln dazu, insonderheit von Verschmitztheit und Klugheit, sei, glaubte man, hier die Rede, nicht aber von Güte und Weisheit. Die Religion, von der Moral ganz abgesondert, war selbstPolitik, deren Hauptgesetz überhaupt die Staatsräson (la ragione del stato), deren Hauptmaxime es war: »die Dinge, jedes zu seiner Zeit, im Punkt seiner Reife nutzen zu können« (conocer las cosas en sa piato, en sa sazon, y saber las lograr). Eine solche Politik brachte Karl V. nach Deutschland; daher er auch die Reformation nie anders anzusehen vermochte; eine solche übten Könige, Fürsten, Staatsminister. In allen politischen Schriften war sie anerkannt; fast jede Stadt Italiens war jahrhundertelang ihr Schauplatz gewesen und war es noch. Hier schrieb Machiavell seinen »Principe,« ganz in den Begriffen seiner Zeit, ganz nach Vorfällen, die damals jedermann in Andenken waren. Aus diesen hatte er eben seine politischen Sätze abgezogen und belegte jeden derselben mit Beispielen begangener Fehler. »Wenn dies euer Handwerk ist,« sagt er gleichsam, »so lernt es recht, damit ihr nicht so unselige Pfuscher bleibet, als ich euch zeige, daß ihr seid und waret. Ihr habt keinen Begriff als von Macht und Ansehn; wohl, so braucht wenigstens die Klugheit, die euch zur sichern Macht und Italien endlich einmal zur Ruhe leitet. Ich habe euch euer Werk nicht angewiesen; treibt ihr's aber, so treibet es recht.« Daß dies die Haltung der Gedanken in Machiavells ganzem Buche sei, wird jeder Unparteiische fühlen.

[331] Damit wird es nun weder Satire noch ein moralisches Lehrbuch, noch ein Mittelding beider; es ist ein rein politisches Meisterwerk für italienische Fürsten damaliger Zeit, in ihrem Geschmack, nach ihren Grundsätzen, zu dem Zwecke geschrieben, den Machiavell im letzten Kapitel angibt, Italien von den Barbaren (gewiß auch von den ungeschickten Lehrlingen der Fürstenkunst, den unruhigen Plagegeistern Italiens) zu befreien. Dies tut er ohne Liebe und Haß, ohne Anpreisung und Tadel. Wie er die ganze Geschichte als eine Erzählung von Naturbegebenheiten der Menschheit ansah, so schildert er hier auch den Fürsten als ein Geschöpf seiner Gattung, nach den Neigungen, Trieben und dem gesamten Habitus, der ihm beiwohnet. Nicht anders hatte er in seinen »Dekaden« jede andre Regierungsform beäuget; nicht anders hatte er seine sechs Bücher von der »Kriegskunst,« seinen »Goldnen Esel,« den »Belphagor« aus der Hölle, der auf Erden ein Weib nahm, seine »Clitia« und »Mandragola« geschrieben; er ließ jedes Ding in seiner Art sein, was es war oder sein wollte. Wären Sie hiemit noch nicht befriedigt, so soll meinen redlichen Staatssekretär ein Heiliger rechtfertigen, der das, was jener mit einer feinen Reißfeder entwirft, mit einem Kirchenpinsel ausmalet. Also spricht der h. Thomas von Aquino; – Doch ich mag meinen Text mit den barbarisch-kräftigen Worten des Kirchenvaters nicht entweihen. Lesen Sie solche in Naudé, »Considérations politiques sur les coups d'état,« gleich im ersten Kapitel. Ich wollte, daß diese kleine Schrift des Naudé, die nach seiner Gewohnheit voll Gelehrsamkeit ist, übersetzt und mit dem zu ihr gehörigen historischen Kommentar, den eine spätere Ausgabe schon besitzt, begleitet erschiene. Ohne sarkastische Anmerkungen, mit dem ruhigen Blick, mit welchem Machiavell den Livius oder Barbeirac die Moral der Kirchenväter ansah, müßten auch Naudés »Betrachtungen über die Staatsstreiche« beäugt werden. Man blickte damit in welchen dunkeln Abgrund der Zeiten!

[332] 59.

Nun änderten sich aber viele Dinge jenseit und diesseit der Alpen. Die Reformation entstand; sie entlarvte den Unfug der kirchlichen Politik so schrecklich, daß immer auch einige, obgleich wenige Strahlen auf die Staatspolitik fallen mußten. Jesuiten entstanden, die ein feineres Gewebe zu spinnen und die Kabinette schlauer zu regieren wußten. Karl IV. machte in Italien Ordnung; es kristallisierten sich die kleineren Staaten, und nur den größeren, einer Katharina von Medicis, Heinrich VIII., Karl V., Philipp II., stand es frei, in der alten großen machiavellischen Manier zu verfahren. Da endlich stand ein Jesuit auf, klagte das Buch an, und es wurde verdammt, 72 Jahr nach seiner Erscheinung. Machiavells System ward verdammt, weil es von den Staaten zu grob, von den Jesuiten jetzt feiner ausgeübt ward: man wollte den alten Meister nicht mehr anerkennen, der diese Grundsätze zu klar exponiert hatte, und war überzeugt, der Jünger sei jetzt über den Meister. Nicht ohne; diese Politik aber stürzte sowohl den Jünger als den Meister, und o wäre sie für unser Menschengeschlecht endlich begraben! – Was ist ein Principe Machiavells seiner Natur und Gattung nach? Der königliche Jüngling, der einen »Anti-Machiavell« schrieb hätte einen Anti-Principe schreiben sollen, wie er ihn auch nachher (außer vielleicht in Fällen der dringenden Not oder der Konvention) für Welt und Nachwelt rühmlich gezeigt hat. »Vivre et mourir en Roi,« war sein großes Wort der Pflicht und Ehre.

Zu deinem Grabe wallfahrtete ich einst, mein Anti-Machiavell, Hugo Grotius. Du schriebst kein »Recht des Krieges und Friedens,« denn du warest kein Prinz; du schriebst »vom Rechte des Krieges und Friedens«. Und zwar sammletest du dazu nur Kollektaneen, nicht aus Italien und deiner Zeit allein, sondern vorzüglich aus den guten Alten, aus den Gesetzen der Vernunft und Billigkeit, aus der Religion selbst, [333] woraus denn allmählich ein Recht der Völker erwuchs, wie man in den barbarischen Zeiten es nicht hatte erkennen mögen. Laß dich das Ungemach nicht gereuen, heilige Seele, das du deiner guten Grundsätze und Bemühungen wegen hier erduldetest. Religionen hast du nicht vereinigen können, wie du es wolltest; aber Grundsätze der Menschen hast du vereiniget, und auch Völker werden sich einst zu ihnen verbinden.

Bei Gustav Adolf fand man, als er in einem Ausritt meuchelmörderisch gefallen war, Grotius, Buch im Zelte auf seinem Tisch aufgeschlagen; die edelsten Männer in Schweden, Frankreich, Holland, Deutschland liebten und ehreten ihn; die ganze europäische Nachwelt ist seine Verbündete und Verbundne worden. Was seitdem über Recht der Völker, über Natur-und Vernunftrecht geschrieben worden, gehet auf Grotius' Bahn.

Nach so ungeheuren Fortschritten der Zeit konnte man freilich auch mit Institution der Prinzen nicht auf Machiavells Wege bleiben. Er selbst wäre bei veränderten Zeitumständen nicht darauf geblieben; und o hätten wir von Machiavell das Bild eines Fürsten für unsre Tage! Außer den Jesuiten, die eine Politica de Dios noch lange trieben, standen andere Prinzenlehrer, la Motte le Vayer, Nicole, Bossuet, Fénelon, auf; wie ihre Grundsätze befolgt sind, zeigt die Geschichte. Nach den stürmischen Zeiten, in denen Languet, Milton, Hobbes schrieben, gaben Algernon Sidney, Locke, Shaftesbury, Leibniz mildere Grundsätze an, bis in unsern Tagen Rousseaus »Contrat social« Wirkungen erregt hat, an die sein Verfasser schwerlich dachte. Wie gern kehrt man aus dem Tumult dieser Zeiten zu den friedlichen Geistern Grotius, Locke, Leibniz zurück!

»Heil den Predigern der Menschenrechte,« sagt ein neuerer Lehrer des Staatsrechts; »aber versäumen Sie ja nicht, vorher Menschenpflichten zu lehren. Um jene in ihrem ganzen heiligen [334] Umfange einzuführen, müssen wir erst eine Majorität von Menschen haben, die fähig sind, diese in ihrem ganzen Umfange auszuüben.« – Ich lege Ihnen das kleine Buch bei, 49 aus dem diese Stelle genommen ist; Sie werden in ihm noch weit mehrere dieser Art finden. Sein Verfasser verspricht uns noch drei Bändchen dieser Art; wir wollen ihn bei seinem Wort halten.

60.

Auch Leibniz unter den Propheten? 50 Was es mit den gewöhnlichen politischen Prophezeiungen für eine Bewandtschaft habe, wußte der scharfsinnige Mann besser als jemand. »Auf Ausrechnungen für die Zukunft,« sagt er in einem Briefe 51, »gebe ich nichts. Jene Prophezeiungen, die man in alten Büchern gefunden haben will, sind von denen geschrieben, die die alten Kriege zwischen Frankreich und England im Sinne hatten; die Erfahrung aber lehrt, daß alle, die sich an so etwas gewagt haben, getäuscht wurden. Zuweilen können dergleichen Prophezeiungen nützlich sein, dem Pöbel, wie man es nennt, durch einen frommen Betrug Mut zu machen; bei Verständigen aber haben sie so wenigen Wert, daß sie vielmehr dem Ansehen und dem guten Ruf des Propheten Nachteil bringen, indem sie keinen gründlichen Beweis zulassen, ohne welchen doch ein redlicher Mann, der seine Pflicht verstehet, nicht so leicht etwas behauptet. Gewisser möchte ich,« fährt er fort, »das voraussagen, daß, wenn in Deutschland die Dinge nicht besser gemacht werden, . . . einen längern Widerstand leisten werde, als wir uns einbilden. Wir Deutschen brauchen unsre Kräfte nicht gnug. – Statt also uns mit schmeichelnden Prophezeiungen einzuschläfern, ist guter Rat nötig, daß wir unsre Nerven anspannen und mit [335] Beiseitsetzung jeder Privatbehaglichkeit fürs gemeine Beste sorgen.«

An andern Orten indes spricht er von den Voraussagungen kluger Männer anders. »In meiner Jugend,« sagt er 52, »wollte ich eine Abhandlung davon schreiben,« wobei er Seneca, Tacitus, Machiavell, Conring, Lotichius, Dach zum Beispiel anführet. Wir tun ihm also nicht unrecht, wenn wir noch einige Blicke seiner Übersicht über die Dinge um ihn auszeichnen. Er blickte weithin, er sahe scharf und ohne Galle, er war frohmütig und redlich.

»Sooft ich,« sagt er 53 zu seinem Freunde Ludolf, »den gefährlichen Zustand der Dinge um uns her und dabei unsre Trägheit, unsre verkehrten Ratschläge betrachte, sooft schäme ich mich unser vor den Augen der Nachwelt. Offenbar geht es dahinaus, daß in Europa sich alles drüber und drunter kehre, und doch beträgt man sich, als ob alles in höchster Sicherheit sei und als ob wir Gott selbst zum Gewährsmann unsrer Ruhe hätten. Über Kleinigkeiten streitet man, ums Große bekümmert sich niemand, so daß es Ekel und Überdruß macht, an die Geschichte der gegenwärtigen Zeit nur zu denken. So gar sehr bestätigen wir Deutschen die ungünstigen Urteile der Ausländer von uns durch unser Betragen.«

»Im Felde der Wissenschaften stecken wir noch in den ersten Wegen. Ein Schicksal verhindert uns, daß wir die Schätze der Natur nicht sorgfältiger aufspähen und größern Nutzen daraus ziehen. Ich bin der Meinung, daß die Menschen fast unglaubliche Dinge zustande bringen könnten, wenn sie mehreren Fleiß anwendeten. Um ihre Augen aber ist eine Binde gezogen, und man muß die Zeit erwarten, da alles reif sei.« 54

»Wie die englische Sozietät Naturversuche zusammenträgt, so sollte eine andre sein, die Regeln des Lebens, nützliche [336] Bemerkungen und versteckte Vorschläge, wie der Zustand der Menschen zu verbessern sei, zusammentrüge.« 55

»Aus den Schriftstellern sollte man ausziehen, nicht nur was irgend nur einmal, sondern von wem eszuerst gesagt sei. Hier muß man von den ältesten Zeiten anfangen, doch aber nicht alles erzählen, sondern was zum Unterricht des menschlichen Geschlechts dienet, auswählen. Wenn die Welt noch tausend Jahre steht und so viel Bücher wie heutzutage fortgeschrieben werden, so fürchte ich, aus Bibliotheken werden ganze Städte werden, deren viele dann durch mancherlei Zufälle und schwere Zeitumstände ihr Ende finden werden. Daher wäre es nötig, aus einzelnen, und zwar den Originalschriftstellern, die andre nicht ausschrieben, Eklogen wie Photius zu machen und ihr Merkwürdiges mit den Worten des Schriftstellers selbst zu sammeln. Was aber merkwürdig sei, kann, bei der großen Verschiedenheit der Köpfe und der Wissenschaften, freilich nicht jeder beurteilen.«

»Ich glaube, daß es bei euch viele geschickte Männer gibt. 56 Indessen mache ich einen großen Unterschied zwischen gründlichen Kenntnissen, die den Schatz des menschlichen Geschlechts vermehren, und zwischen der Notiz von Tatsachen, die man gemeiniglich Gelehrsamkeit nennet. Ich verachte diese Gelehrsamkeit nicht, deren Wert und Nutzen ich einsehe; dennoch aber wünschte ich, daß man sich mehr an das Gründliche hielte; denn es gibt allenthalben zu wenig Personen, die sich mit dem Wichtigsten beschäftigen. Nichts ist so schön und so befriedigend, als eine wahre Kenntnis vom System der Natur zu haben. Würden viele dies Studium liebgewinnen, so würde man weit gelangen, nicht nur in Rücksicht auf Bequemlichkeiten des Lebens und der Gesundheit, sondern in Rücksicht auf Weisheit, Tugend und Glück, statt dessen, daß man sich jetzt mit Kleinigkeiten abgibt, die uns ergötzen, aber nicht vervollkommnen und veredeln. [337] Unter Vollkommenheiten rechne ich nichts, als was uns auch nach diesem Leben bleiben kann; die Kenntnis von factis ist wie die Kenntnis der Straßen in London. Sie ist gut, solange man dort ist.«

»Das göttliche Naturlicht in uns zu vermehren, hat man dreierlei zu tun nötig. 57 Zuerst sammle man eine Kenntnis der vortrefflichen Erfindungen, die schon gemacht sind; sodann erforsche man, was noch zu entdecken ist; endlich bringe man beides, das Erfundne und noch zu Erfindende in Lobgesänge an den Urheber der Natur, zu Erweckung der Liebe zu ihm und zu den Menschen. Wären die Sterblichen so glücklich, daß ein großer Monarch diese drei Dinge einmal für sein Werk ansähe, in zehn Jahren würde zur Ehre Gottes und zum Wohl des Menschengeschlechts mehr bewirkt werden, als wir sonst in vielen Jahrhunderten ausrichten möchten.«

»Ich hatte im Sinn, mancherlei Gedanken, die das Wohl des Kaisers und des Reichs betreffen, unter dem Name ›Deutsche Ratschläge‹ ans Licht zu stellen; es ist aber verdrießlich, Worte in den Wind zu verhauchen und nach Art der Deklamatoren, die in Schulen über die beste Form der Republik zu Athen oder Karthago reden, Dinge vorzutragen, die niemand anwendet. Die besten Gedanken werden verächtlich, wenn man sie öffentlich hinstellt; unsre Feinde werden dadurch mehr gewarnt als gebändigt. Indessen besitze ich manches Überdachte, das auch großen Männern wichtig geschienen hat und in unsern Zeiten dem Ganzen sehr nützlich sein könnte. Vor allem bin ich mir der Treue bewußt und der Liebe zum allgemeinen Besten.« 58

Gewiß verzeihen Sie mir, daß ich von Leibniz, Weissagungen so bald auf seine Vorschläge übergegangen bin; eines klugen Mannes Weissagungen sindVorschläge des Bessern. Nicht auf Visionen, sondern auf Erfahrungen und auf jene dauerhafte Vernunftprinzipien sind sie gebauet, die auch in [338] die fernste Zukunft reichen. Da glücklicherweise die Akademie der Wissenschaften, deren ruhmwürdiger Stifter Leibniz war, in manchem schon zum ersten Plan desselben zurückgekehrt ist, so wäre es vielleicht gut, daß sie in allem dahin zurückkehrte und aus Leibniz, Schriften und Briefen sämtliche Vorschläge sammlen ließe, die er zur Erweiterung der Wissenschaften und zum Wohl des menschlichen Geschlechts seinen Freunden oder der Welt offenbarte. Ungeheuer vieles ist seitdem noch nicht geschehen, was er zu tun sich vornahm oder von außen ausgeführt wünschte; er ist uns in diesem allen der nähere Baco, der mit genauerer Kenntnis der Sache, als der Engländer besaß, die Lücken der Wissenschaften, die Mängel unsrer Erkenntnisse und Bemühungen ansah und seine Entwürfe, mit Gründen unterstützt, zuweilen sehr vollständig detailliert hat. Jungen Männern würde ich daher seine Briefe und Schriften nicht nur als eine reiche Fundgrube von Gedanken, sondern auch als ein Direktorium ihrer Bemühungen anpreisen, wohin sie streben sollen, was allenthalben für die Menschheit noch zu tun sei. Glücklich ist, wer einen solchen Wegweiser frühe gebrauchet.

61.

Oft habe ich zu unsern Zeiten gedacht: Wenn Leibniz lebte! Er lebt indessen in seinen Schriften, und wir können aus seinen muntern Urteilen, die sich auf alles Merkwürdige seiner Zeit erstreckten, auch für jetzt viel Nutzen ziehen.

Sie wissen, mit welchem Eifer Leibniz sich um die Vereinigung der Religion bewarb und verwandte. Für die damalige Zeit blieb seine Mühe fruchtlos; indessen selbst das Fruchtlose seiner Vorschläge, die allenthalben voll Verstandes waren, ist für uns lehrreich. Ein damaliger Regent wollte die Sache kürzer angreifen und eine Vereinigung der Sekten, nicht in Lehren, sondern in Gebräuchen, nicht mit gutem Willen beider Teile, sondern durch Befehle, durch Zwang[339] bewirken. Ein untüchtiger Ratgeber schrieb zu Beschönigung dieser Mittel ein Arcanum Regium in pietistischer Form. Lesen Sie, wie sich die großen Friedensbeförderer Leibniz und Molanus darüber erklären; 59 das Gutachten endigt also: »Der neuen Regel, daß ein evangelischer Fürst Papst in seinem Gebiet sei, muß man nicht mißbrauchen. Bei den verständigen Katholischen selbst ist ein allgemeines Concilium der Kirche, wo nicht über, doch nicht unter dem Papste.«

Hören Sie, was Leibniz von Spielen urteilt: »Ich wünschte, daß jemand alle Arten von Spiel mathematisch behandelte und sowohl die Gründe ihrer Regeln und Gesetze als ihre vornehmsten Kunststücke angäbe. Unsäglich viel zur Erfindungskunst Brauchbares liegt in den Spielen. Und dieses daher, weil die Menschen im Scherz sinnreicher als im Ernst zu sein pflegen; denn überhaupt geht uns besser von der Hand, was wir mit Lust verrichten. 60

Es könnte ein Spiel ausgedacht werden, das man das Spiel der Vorsorge oder der Zufälle nennen könnte: wenn das geschiehet, was könnte sich zutragen? Weil diese Zufälle zum Teil allgemein und auf vieles anzuwenden sind, müßte ein Gesetz sein, solche bei einer neuen Frage nicht wieder zu gebrauchen, oder man könnte die allgemeinen Zufälle gar ausschließen – und das Gesetz machen, daß man nur Zufälle anführe, die vermieden werden können, ohne daß die Handlung selbst unterbleibe. Den möglichen Zufall könnte der eine, das Mittel dagegen sein Nachbar sagen u. f.

Man hatte vormals ein Fragspiel, ›Wozu ist das Stroh gut?‹ Man könnte es das Spiel der Effekte oder cui bono nennen. So könnte ein Spiel der Ursachen oder Mittel eingeführt werden, z.B. womit kann dies oder das getan werden? Solche Spiele schärfen den Verstand und führen zu Ernsthaft-Gutem, da andre Possen nur zu Ernsthaft-Bösem führen.

[340] Man hat ein Gedächtnisspiel, da man sich übt, etwas Auswendiggelerntes, schwer Auszusprechendes mit wachsender Rede herzusagen; dergleichen Spiele könnten noch mehr erfunden werden, nicht zu Vermehrung der Seelenkräfte allein, sondern auch zu Übung der Tugenden. In manchen Spielen ist Bescheidenheit, Mäßigung nötig, wie im Königsspiel u. f. Ich wollte, daß Comenius daran gedacht hätte, da er sein Buch ›Die Schule ein Spiel‹ herausgab.« 62

Bei unsern fürchterlich-großen Zeit- und Menschenspielen sind Ihnen diese Leibnizische Gedanken nicht bisweilen eingefallen: Wenn das geschieht, was könnte sich zutragen? Wie kann es vermieden werden, und wenn es sich zuträgt, was hilft dagegen? Ferner: Wozu ist das Stroh gut? cui bono: dies oder jenes? Das ganze Leben der Menschen ist ein Spiel; wohl dem, der es froh und mit Verstande spielet.

Von Spielen zur Philosophie. Die Urteile, die Leibniz nicht nur über die Alten, sondern auch über die Scholastiker und die Reformatoren der Philosophie, über Jordanus Brunus, Campanella, Baco, Hobbes, über Grotius, Locke, Cartes, Pufendorf, Shaftesbury u. f. fället, sind, obwohl immer in seinem eignen Gesichtskreise, mit einer Unparteilichkeit, einer Milde und so allgemeinen Teilnehmung entworfen, daß ich dieses großen Gemüts wegen Leibniz gern zum Schutzgeist der gesamten Philosophie wünschte. Von hundert merkwürdigen Äußerungen hierüber hören Sie eine über Cartes: 63

»Ich wünschte, daß treffliche Männer die leere Hoffnung, Oberherren im Reich der Philosophie sein zu können (arripiendae tyrannidis in imperio philosophico), aufgäben und den Ehrgeiz, eine Sekte stiften zu wollen, fahrenließen; denn eben hieraus entspringen jene ungeschickte Parteilichkeiten, jene leere und eitle Bücherkriege, die der Wissenschaft und dem Gebrauch der kostbaren Zeit so sehr schaden. In der Geometrie kennt man keine Euklidianer, Archimedianer, [341] Apollinianer; alle sind von einer Sekte, der Wahrheit zu folgen, woher sie sich anbieten möge. Auch wird niemand geboren werden, der sich das ganze Patrimonium der Gelehrsamkeit zueigne, der das ganze Menschengeschlecht an Geist übertreffe und alle Sterne um sich her auslösche wie die ätherische Sonne. Wir wollen den Descartes loben, ja gar bewundern; deshalb aber wollen wir andre nicht vernachlässigen, bei denen sich viele und große Dinge finden, die jener nicht bemerkt hat. –

Nichts stehet dem Fortkommen der Wissenschaft so sehr entgegen als jener Knechtsdienst, in der Philosophie eines andern Gedanken zu paraphrasieren; und eben diese Paraphrasierkunst halte ich für die Ursache, warum von den Bloß-Cartesianern ebensowenig Neues und Ausnehmendes geleistet werde, als von den Aristotelikern geleistet worden, nicht aus Mangel des Genies, sondern des Sektengeists, der Parteisucht halben. Wie nämlich unsre Einbildungskraft, wenn ihr eine Melodie allein vorschwebt, schwerlich und mit Mühe zu einer andern übergeht, wie der, der unablässig einer geschlagenen Straße folgt, keine neuen Wege entdecken wird, so sind auch die, die einem Autor sich einverleiben, leibhafte Knechte dieses Autors, die er durch Gewohnheit in Dienst und Besitz hat; zu etwas Neuem und Verschiednem können sie ihr Gemüt nicht erheben. Und doch ist bekannt, daß den Wissenschaften nichts so sehr fortgeholfen hat als die Verschiedenheit der Wege, auf denen man die Wahrheit gesucht hat.«

Nichts verehre ich an Leibniz mehr als diese große, unparteiische Jugendseele, die bis ans Ende seiner Tage alles mit Freuden aufnahm, was irgend der Wissenschaft diente. Keine Form wies er verächtlich ab; in allem suchte er das Beste. Von ausschließenden Leibnizianern hatte er so wenig Begriff, daß vielmehr seine Schriften und Briefe darauf arbeiten, in Zukunft alle Sekten zu vernichten, aus Alten und Neuen die Wahrheit zu lernen und auch einer sonst schlechten Schrift den Beitrag nicht abzuleugnen, den sie dem Gemeingute [342] der Menschheit liefert. Ich wünschte, daß seine Gedanken, seine Urteile über die verschiedensten Schriftsteller in ihrer ganzen großen Unparteilichkeit für Jünglinge ausgehoben und als Leibniz' Geist, als die einzige, immer frische und neuströmende Quelle der Wissenschaft dargestellt würde. Vor einigen Jahren erschien, wie mich dünkt, eine Schrift, die der »Geist des Herrn von Leibniz« hieß; wahrscheinlich aber ist's nicht der rechte Geist gewesen, denn er ist ohne Wirkung bald verschwunden. Doch was sage ich Wirkung? Hat Leibniz auf die deutsche Nation gewirkt? Sogar seine Schriften sind von uns noch nicht gesammlet; und nachdem ein Ausländer sie für uns zu sammlen die Mühe nahm, haben wir sie noch nicht einmal ergänzet.

62.

Wollen Sie sich Überzeugen, daß Leibniz auch bei seinen Lebenszeiten in Deutschland eine ziemlich fremde Pflanze gewesen, so lesen Sie das Leben, das sein nächster Bekannter, Eckardt, von ihm geschrieben; seine Bekanntmachung haben wir dem gelehrten Murr zu danken. 64 Die blühende Aloe sandte reiche Gerüche um sich her; allenthalben wollte sie Wurzeln schlagen und neue Absenker pflanzen. Es gelang ihr hie und da, ohngeachtet des sträubigen Erdbodens; und wäre Leibniz die Stiftung einer Akademie der Wissenschaften zu Wien und Dresden so geglückt, wie ihm die Akademie zu Berlin glückte, welche unnennbar gute Folgen hätten sich seitdem verbreitet! Sein Geist lebte in einer idealischen Welt, im Reich aller denkenden, fürs Wohl der Menschheit wirkenden Geister. Für diesen großen Staat schrieb er seine Aufsätze, meistens auf Veranlassung fremder Äußerungen, und unterhielt einen so ungeheuren Briefwechsel, daß man ihn einen Mitarbeiter und Präsidenten der Gesamt-Akademie [343] aller europäischer Wissenschaften nennen könnte. In seinen näheren Verhältnissen aber war er hier Kanzleirevisionsrat, dort Geschichtschreiber des fürstlichen Hauses; hier schrieb er für einen Pfalzgrafen, der König von Polen werden, dort für deutsche Fürsten, die Gesandte beim Friedensschluß haben wollten, u. f. Er unterhielt die Fürsten mit Curiosis (wenn es auch nur ein wunderbar gestalteter Rehbock sein sollte), Fürstinnen mit sinnreichen philosophischen Gedanken, Neugierige mit dem, was sich in andern Ländern zutrug, erfand für den Bergbau Werkzeuge, Maschinen, Windmühlen und tat doch nicht zur Gnüge. Zwei Jahre vor seinem Tode ward dem alten Mann nachdrücklich befohlen, »die Historie des Hauses vor allen Dingen fertig zu machen,« und als er begraben ward, »war das einzige zu verwundern (sagt sein getreuer Amanuensis und Kollege, Eckardt), daß, da der ganze Hof ihm zu Grabe zu folgen invitiert war, außer mir kein Mensch erschienen, so daß ich dem großen Mann die letzte Ehre einzig und allein erwiesen«. 65 Im Jahr 1695 schrieb er an Burnet: »Unbequem ist mir's, daß ich nicht in einer Stadt wie Paris oder London lebe, wo viele gelehrte Männer sind, deren Hülfe man sich bedienen, von denen man lernen kann; denn viele Dinge sind von der Art, daß ein Mensch allein sie nie zustande bringen mag. Hier findet man kaum jemand, mit dem zu sprechen ist, oder vielmehr es ist hierzulande nicht hofmännisch, sich von gelehrten Dingen zu unterhalten.« Noch das Jahr vor seinem Tode hatte er sich vorgenommen, nach Paris zu reisen und da sein Leben zu beschließen.

[344] »Weil er nicht zum Abendmahl ging,« sagt Eckardt, »schalten die Prediger oft öffentlich auf ihn; er blieb aber bei seiner Weise. Gott weiß, was er vor Motiven dazu gehabt, die gemeinen Leute hießen ihn daher insgemein auf plattdeutsch Lövenix, welches qui ne croit rien heißet.« Aus seinen Schriften und Bemühungen für die Vereinigung der Kirchen kennen wir seine reinen und aufgeklärten Religionsgrundsätze gnugsam; gewiß kann man ihm nicht den Vorwurf machen, daß er zuwenig geglaubt habe.

»Kurz vor seinem letzten Augenblick wollte er noch etwas aufschreiben. Als ihm Papier, Tinte und Feder gereicht wurde, fing er an zu schreiben, das er aber nicht mehr lesen konnte, als er es bei dem Licht durchsehen wollte. Er zerriß das Papier, warf es weg und legte sich zu Bette. Er versuchte nochmals zu schreiben, verhüllte sich die Augen in seine Schlafmütze, legte sich auf die Seite und entschlief sanft, nachdem er sein ruhmvolles Alter auf 70 Jahre, 4 Monate und 24 Tage gebracht hatte.« Lesen Sie Eckardts Lebensbeschreibung; das »barbarus hic ego sum« wird Ihnen manche Seite ins Ohr flüstern.

Fontenelle sagt in seiner Lobschrift gar artig: ›Aus vielen Herkules habe das Altertum nur einen Herkules gemacht; er sehe keinen andern Rat, als den einen Leibniz in viele Gelehrte zu dekomponieren; denn sonst würde bei dem beständigen Übergange von Schriften des verschiedensten Inhalts, alle zu einer und derselben Zeit geschrieben, diese unaufhörliche Mischung von Gegenständen, die in Leibniz, Kopf seine Ideen nicht verwirrte, eine Verwirrung und ein embarras in sein Eloge bringen.‹ Und doch wünschte ich fast, daß Leibnizens Vaterland diesen embarras, diese passages brusques et fréquens d'un sujet à un autre tout opposé, qui [345] ne l'embarrassoient point, in Leibnizens Arbeiten nicht gebracht hätte, um deneinen Herkules in mehrere Herkules zu dekomponieren. Wie anders konnte Newton in England seine Werke vollenden!

Sie wissen, daß Leibnizens Verlassenschaft in der landesherrlichen Bibliothek zu Hannover aufbewahrt wird, und es ist zu erwarten, daß die Regierung, die für alle und allerlei Wissenschaften mehr als irgendeine andre in Deutschland tut und getan hat, einem dazu tüchtigen Manne, unter gegebner bürgerlichen Treue, die Bekanntmachung des Inhalts derselben auftrage. Der einzige Band, den Raspe mit Kästners Vorrede von daher ans Licht stellte, ist vielleicht mehr wert als Leibnizens »Theodizee« selbst, und wer unternähme es, für den kleinsten Zettel Leibnizens in Ansehung der Idee verantwortlich zu werden, die er darauf nur hinwarf?

Dankbar erkenne ich jede Blume, die eine würdige Hand nicht auf Leibniz, verscharrte Asche, sondern dem ewigen Ehrenmal streuet, das er sich selbst errichtet hat. Die Wolffische Schule, so ungleich sie seiner Denkart war, hat ihm gleichsam ein Kenotaphium gebauet; durch sie ist eine Klarheit der Begriffe und eine Präzision des Ausdrucks in unsre Sprache gebracht worden, die ihr vorher unbekannt waren. Sollte, da ihre Periode vorüber ist, jemand noch jetzt Bedenken tragen, Leibnizens Briefwechsel mit Wolff herauszugeben, der, was er auch enthielte, dem letztern nicht anders als zur Ehre gereichen könnte?

Auch außer dieser Schule, wie jugendlich lieb ist mir alles, was Leibniz ehret und in sein Licht stellt! Jede Zeile, die Kästner, in mancherlei Art und Form, zur Ehre und zum Verständnis seines Landsmannes schrieb; von Cochius jede kleine Abhandlung in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (wären doch von ihm noch ungedruckte Abhandlungen vorhanden!) sind mir schöne Reste von Philosophen der alten Zeit.

[346] Hören Sie, was Leibniz von seinem Zensorgeist saget: »Niemand hat weniger Zensorgeist, als ich habe. Sonderbar ist's, aber mir gefällt das meiste, was ich lese. Da ich nämlich weiß, wie verschieden die Sachen genommen werden, so fällt mir während dem Lesen meistens bei, womit man den Schriftsteller verteidigen oder entschuldigen könnte. Sehr selten ist's, daß mir im Lesen etwas ganz mißfällt, obgleich freilich dem einen dies, dem andern das mehr gefallen möchte. – Ich bin einmal so gebauet, daß ich allenthalben am liebsten aufsuche und bemerke, was lobenswert ist, nicht was Tadel verdienet.« Könnte der Geist der Philanthropie selbst billiger und milder denken?

Und doch, warum erfuhren eben die friedliebenden, die billigsten Gemüter, Erasmus, Grotius, Comenius, Leibniz, so manchen übeln Dank ihrer Zeitgenossen? Die Ursache ist leicht zu finden: weil sie parteilos und jene mit Vorurteilen befangene streitende Parteien waren. Diesen gaben Unwissenheit, Eigennutz, blindes Herkommen, gekränkter Stolz und zehn andre Furien das Streitgewehr oder den Dolch der Verleumdung in die Hände; jene kämpften friedlich hinter dem Schilde der Wahrheit und Güte. Der goldene Schild der Wahrheit und Güte bleibt; ihre Streiter können persönlich fallen, aber ihr Sieg ist wachsend und unsterblich.

[347][349]

Sechste Sammlung

(1795)


[349][351]

63.

Auch die griechische Kunst ist eine Schule der Humanität; unglücklich ist, wer sie anders betrachtet.

Als die Natur, die sich in allen ihren Hervorbringungen einwohnend und lebendig offenbaret, auf unsrer Erde zur höchsten Höhe ihrer Wirkung stieg, erfand sie das Geschöpf, das Mensch heißt, in dessen Gliederbau sie alle Regeln der Vollkommenheit, nach denen sie in ihren andern Werken, teilweise und zerstreuet, mit ungeheurer Kraft und unübersehlichem Reichtum gearbeitet hatte, im kleinsten Raum, im wirksamsten Leben zusammendrängte. Kräfte, die sie in andern Elementen, dem Wasser, der Luft oder auch auf der Erde in großen Organen auszubilden sich Zeit und Raum nahm, deutete sie im Menschen oft nur an, ordnete aber alle diese Millionen Kräfte und Gefühlsarten in ihm so künstlich, so harmonisch zusammen, daß er nicht nur als ein Inbegriff aller dieser Fühlbarkeiten unsrer Erde (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist), sondern auch als ein Gott dastehet, der diese in ihm zusammengedrängte, in seiner Natur begriffene Gefühle selbst zusammenstellt, schätzet und ordnet. Die ganze Natur erkennet sich in ihm wie in einem lebendigen Spiegel; sie siehet durch sein Auge, denkt hinter seiner Stirn, fühlet in seiner Brust und wirkt und schaffet mit seinen Händen. Das höchst-ästhetische Geschöpf der Erde mußte also auch ein nachahmendes, ordnendes, darstellendes, ein poetisches und politisches Geschöpf werden. Denn da seine Natur selbst gleichsam die höchste Kunst der großen Natur ist, die in ihm nach der höchsten Wirkung strebet, so mußte diese sich in der Menschheit offenbaren. Der Bildner unsrer Gedanken, [351] unsrer Sitten, unsrer Verfassung ist ein Künstler; sollte also, da Kunst der Inbegriff und Zweck unsrer Natur ist, die Kunst, die sich mit dem Gebilde des Menschen und allen ihm einwohnenden Kräften darstellend beschäftigt, für die Menschheit von keinem Wert sein?

Von einem sehr hohen Werte. Sie hat nicht nur Gedanken, sondern Gedankenformen, ewige Charaktere sichtbar gemacht, die mit solcher Energie weder Sprache noch Musik, noch irgendeine andre Bemühung der Menschen ausdrücken konnte. Diese Formen ordnete, reinigte sie und stellte sie selbst in deutlichen, ewigen Begriffen dem Auge jedes Sehenden für alle Zeiten dar, in welchen sich Menschheit in diesen Formen genießt und fühlet, in welchen Menschheit nach diesen Formen wirket. Sie gibt uns also nicht nur eine sichtbare Logik und Metaphysik unsres Geschlechts in seinen vornehmsten Gestalten, nach Altern, Sinnesarten, Neigungen und Trieben, sondern indem sie diese mit Sinn und Wahl darstellt, ruft sie als eine zweite Schöpferin uns schweigend zu: »Blicke in diesen Spiegel, o Mensch; das soll und kann dein Geschlecht sein. So hat sich die Natur in ihm mit Würde und Einfalt, mit Sinn und Liebe geoffenbaret. Also erscheint das Göttliche in deinem Gebilde; anders kann es nicht erscheinen.«

Auf diesem Wege gingen die Griechen, zu dieser Idee arbeiteten sie hin. Ohne ihre Kunst würden wir manche Gedanken ihrer Dichter und Weisen nicht verstehen, als öde Worte schwebeten sie vor uns vorüber. Nun hat sie die Kunst sichtbar gemacht und damit auch den ganzen Geist der Komposition ihrer Schriften, den Zweck ihrer Sittenformung, und was sie sonst unterscheidet, in anschaulichen Bildern dem menschlichen Verstande vorgestellt, kurz, anschauliche Kategorien der Menschheit gegründet. Davon verstanden nun freilich jene Barbaren nichts, die in einem Basaltkopfe Jupiters nichts als den schwarzen Kopf eines Satans, im schönen Apollo einen wahrsagenden bösen Geist und in der himmlischen Aphrodite eine unzüchtige Dirne zerstörten. Der einzige [352] Begriff, daß alle diese Kunstwerke Gegenstände der Abgötterei, Behausungen orakelgebender, lustverführender, böser Dämonen seien, hing wie ein schwarzer Nebel vor ihren Augen, daß sie den wahren Dämon, das Ideal der Menschenbildung in ihren reinsten Formen, nicht zu erkennen vermochten. Auch keinem von denen wird er sichtbar, die in der Statue nur die Statue, in der Gemme den Edelstein und in allem nur Pracht, Zierat, herkommlichen Geschmack oder Altertums- und mechanische Kunstkenntnisse suchen. Am weitsten entfernt davon eine falsche und enge Theorie, die sich gegen jede Äußerung und Offenbarung des menschenfreundlichen, wahrheitdarstellenden Gottes hinter Wortlarven mit einem kalten Stolze brüstet. Zu uns wird der Dämon der Menschennatur aus den Werken der Griechen rein und verständlich sprechen können, denn wir werden ihn mitfühlend, sympathetisch hören. Schwärmerei und Begeisterung können uns hier nicht helfen, wo es auf helle Begriffe über die Frage ankommt: »Wie zeigt sich der Genius der Menschheit? auf wie verschiedene Art in Hauptformen? welches sind unter diesen die höchsten Punkte, gleichsam die konsonen Stellen der gespannten Saite, in welchen Harmonie tönet?« Hätten Sie Lust, mit mir unter diesen Himmel glänzender Sternbilder zu treten? Nur aus einem tiefen Tale kann ich von fern auf sie weisen; dennoch aber wird sich Ihr Geist beflügeln, daß Sie ausrufen: »Siehe da den hellen Zodiakus der sichtbar gewordenen bedeutenden Menschheit.«

64.

Die erste Kindheit, als ein noch unreifes Gewächs der Natur, haben die Griechen seltner gebildet. Herkules an der Brust der hohen Juno ist die einzige mir erinnerliche Darstellung eines Säuglinges, obgleich mehrere Kinder in Armen zart getragen werden. Sei es, daß sie diese süße Pflicht der Mutter zu den Geheimnissen der häuslichen Kammer rechneten, [353] die nicht jedem Blick offenstehen müßte, oder daß sie solchen Geheimnissen lieber das Gebiet der Malerei anwiesen, indem diese eine Mutter und ihr Kind durch Blick und Liebe so viel sanfter in eins zu verschmelzen weiß; gnug, das bloße Bedürfnis eines bedürftigen Wesens gaben sie bildend weniger dem Auge preis. Die schönen Kinder, die die griechische Kunst schuf, waren schon in Spielen begriffen, in Neckereien mancher Art, am liebsten mit einem sanften Tier, einem Vogel, mit einem Neste von Vögeln oder mit Früchten. Diese Vorstellung setzt uns jedesmal in das Leben der Kinder, in die unschuldigen Vergnügungen der Kindesjahre. Ihre Natur atmet die volle Gesundheit, die offne Fröhlichkeit, die uns Kinder so lieb macht.

Die höchste Idee aller Kinder – was konnte sie also sein? Im Himmel und auf Erden nichts anders als Eros, Amor, Unschuld und Liebe. Sind Kinder nicht sichtbar gewordene Darstellungen eines Moments der Liebe, in dem sie ihr Wesen empfingen? Und in welche Gestalt konnten die mancherlei Spiele und Neckereien, die Vergnügen und Unbesonnenheiten, die uns die Liebe spielt, die wir ihr unschuldig spielen, besser gekleidet werden als in die Gestalt des Kindes oder Knaben Amors? Bei den Dichtern, insonderheit des Idylls oder der Fröhlichkeit und Freude, hatte er so viele Scherze begonnen; er begann sie auch in derKunst, und aus manchen Vorstellungen derselben wäre noch viel Niedliches zu dichten. Seine Geschichte mit der Psyche ist der vielseitigste, zarteste Roman, der je gedacht ward, über den schwerlich etwas Höheres auszudenken sein möchte; auch seine Tändeleien mit der Mutter und mit andern Göttern sind voll Grazie und Schönheit. Setzt man nun hinzu, daß die meisten dieser Spiele Amors und seiner Gesellen, die man Liebesgötter oder kindliche Genien zu nennen pflegt, nur zur Verzierung auf schmalen Basreliefs, wo ihnen der Ort ihre Kleinheit erlaubte, ja solche nötig machte, oder auf geschnittenen Steinen, Siegelringen und sonst an Plätzen oder Plätzchen vorkommen, an denen diese Tändeleien ein angenehmes Mehr als nichts waren, [354] so tritt Amor mit seinen Brüdern gerade in das Licht, in welchem er auf der Tafel der Menschheit zu stehen verdienet. Der kleine Gott der Götter wird ein Amulett der Brust oder ein angenehmes Nebenwerk, das sieh hie und da einschleicht, das man immer gerne siehet, und den man zum verschwiegenen Boten lieber als den Boten der Götter selbst brauchet. Außerdem aber war Amor nicht ein Kind; ein schöner Genius war er, undHymen sein Bruder.

Hiemit komme ich zu euch, ihr Genien der Jünglingschaft, schönste Blüte des menschlichen Lebens. Was Winckelmann von euch in seinen schönen Träumen gedichtet hat, ist kein Traum; auch der Name Genius, den man euch gegeben, ist ein treffender Name; denn welcher holderen Idee könnte man am Geburtstage seines Daseins opfern? So dachte sich die Natur ihre schönsten Kinder, Engel in Menschengestalt oder vielmehr Menschen, aus deren Gestalt man den Engel abzog. Süße Ruhe, holde Einfalt, ein nüchternes Insichgekehrtsein, dem das Leben selbst noch wie ein Traum der Morgenröte vorschwebet, die unbefleckte Rose der Jugend, die noch von keinem Sturm gebrochen, von keiner Mittagssonne versengt ist, o wie liebe ich euch, ihr zarten Sprossen der Menschheit und ehre mich, daß ich euch liebe. Ein Blick auf dich, du vatikanischer oder borghesischer Genius, vernichtigt die Verleumdungen, die man über die Liebe zu Jünglingen den edelsten Griechen gemacht hat; wie rein war die Idee, in welcher diese Geschöpfe, die Blüte der Menschheit, gedacht und gebildet wurden.

Es haben einige ein Trauriges, einen düstern Zug an diesen Genien bemerken wollen; sie haben aber, wie mich dünkt, Zeiten und Gattungen verwirret DieAntinous haben freilich einen düstern Zug, wie sie auch, ihrem Urbilde nach, haben sollten, so wie überhaupt die Kunst zu Hadrians Zeiten schon sehr repräsentieret und aus sich selbst heraustritt. Aber jene Genien einer echten Gattung sind in sich gesenkt, als ob keine Welt um sie wäre, und fühlen sich im leisesten Selbstgenusse zufrieden. Die Idee der Traurigkeit, die wir in sie legen, [355] kommt wahrscheinlich von uns selbst her; wir empfinden ihre Blüte nämlich auf so zarter Sprosse, daß uns, mitten im Genuß, der Unbestand derselben zu schmerzen anfängt. Wir, zumal fremde Nordländer, fühlen, der zarte Ton verhalle, die Rosenknospe entwickle sich und ersterbe. Das sollten wir indes nicht fühlen, vielmehr dem Schöpfer der Natur danken, daß er uns eine solche Blüte menschlichen Daseins zeigte. Was Anakreon und die Anthologen, was Sappho, Platon und, wenn er noch vorhanden wäre, Ibykus von schönen Jünglingen gedichtet und gesungen haben, bliebe uns ohne diese sichtbar gewordene Ideen vielleicht ein leerer Hall, an den wir kein Bild heften könnten; jetzt überzeugt uns das Auge von der Wesenheit jener lieblichen Träume und bestimmt sie uns in Bildern.

Das männliche Geschlecht ging in der Kunst der Griechen dem weiblichen vor; doch ward auch diesem sein reicher Anteil an der Kunst nicht versaget. Nymphen, Grazien, Horen, ja die Parzen, Furien und Medusa selbst empfingen ihr Anteil an dieser Blüte jungfräulicher Jugendschönheit. Warum bist du von Herkules' Knien entrückt, du Göttin mit der Schale ewiger Jugend, blühende Hebe? Ihr Horen um Jupiters Haupt, ihr Schwester-Grazien, die ihr, in untrennbarer Liebe verschlungen, am Kephisusstrom eure ewigen Tänze feiert; warum erscheinet ihr uns in Nachbildern, die uns nur eure Idee gewähren? Indessen haben wir Figuren des Altertums gnug, um den Begriff der weiblichen Jugendschöne aus ihnen zu schöpfen.

Und ihr heiligen Musen, vor allen du, hochaufsteigende Melpomene, mit deinem Antlitz voll edlen Unmuts und hoher Würde; sooft ich bei euch (ungleich an Kunst, wie ihr dastehet) im vatikanischen Tempel war, dünkte ich mich, zwar nicht auf dem Parnaß zu sein und eures begeisterten Führers Apollo Stimme zu hören, aber in der Gesellschaft reiner Wesen fand ich mich, deren jede uns mit ihrer Bildung, mit ihrem Anstande, ihrer Aufmerksamkeit und Gebärde mehr sagt, was Dichtkunst, Musik, Wissenschaft und Muse des[356] Lebens sei, als eine Enzyklopädie uns sagen könnte. Ihr kehrt den Blick gewaltig in uns und macht uns scheu, euren Namen nur auszusprechen oder den Saum eures Gewandes zu berühren. Im Capitolium rupft die Muse der Sirene mit Schmerz den Flügel, und in mehreren Darstellungen wird Marsyas dem Apoll ein gräßliches Opfer.

Wenn die griechische Kunst der weiblichen Jugend Grazientanz, fröhlichen Leichtsinn oder Schüchternheit, Spröde, endlich jenen noch ungebändigten Stolz zum Charakter gab, den mehrere griechische Dichter in Worten charakterisiert haben, so sei es erlaubt, mich von ihnen zu einer unglücklichen Familie zu wenden, die für mich in ihrem heiligen Stil die hohe Tragödie der Kunst ist: Niobe mit ihren Kindern. Ich will sie mit Worten nicht entweihen; aber einige Töchter und einige Söhne machen einen so reinen und tiefen Eindruck, daß jeder Vater, jede Mutter wünschen müßte, Kinder ihrer Art zu erzeugen, jede Braut und jeder Bräutigam sich in diesem Geschlecht zu verloben. In dem Zimmer zu Florenz, wo ich mich mit den Eingekerkerten einschloß, kamen mir alle Unglücksfälle vor Augen, die je auf Erden eine schuldlose schöne Familie betroffen haben möchten; statt aller stand sie mir da, im Mutter- und Jugendschmerz eine heilige Krone. –

Soll ich nach ihr alle Szenen durchgehn, wo Empfindungen der Bruder- und Schwester-, der Freundes– und Gattenliebe in stummen Bildern rührend dastehn? Nie bin ich, ihr schönen Jünglinge, die man Orest und Pylades nennet, nie von euch, ihr stillen Vertrauten, die man als Hippolytus und Phädra fälschlich anklagt, nie von so mancher andern Gruppe, da sich auf dem Grabsteine noch (das Kind in ihrer Mitte) liebende Hände den Bund der ewigen Treue schwören, weggegangen, ohne daß mein Herz durch die Innigkeit der Gefühle, die aus diesen Gebilden sprachen, innig erweicht war. Ich war in einer andern Welt gewesen und sprach zu mir: »Könntest du mit ihnen leben und wärest einer derselben! Der ganze Habitus der Menschheit, wäre er in Unschuld, [357] Liebe und Einfalt noch nach diesem Bilde gebildet!« Solche Gefühle hatten mir zur Aufmerksamkeit auf alles, was diese meine geliebten Menschen anging, auf die Verhältnisse ihrer Glieder, ihren Stand, ihre Gebärde und Sitte, den Grad der Leidenschaft, dessen sie fähig schienen, auf ihre Kleidung und ihren Wink das Auge geschärfet. Soll ich Ihnen aus dieser stummenSchule der Humanität einiges noch erzählen? 66

65.

Von Menschen komme ich zu Helden- und Göttergestalten, ob ich deren gleich auch schon einige vorübergehend berührt habe; wir betrachten sie hier, wie sie es auch waren, als reine Formen der Menschheit.

Jeder Held erscheinet in seinem Charakter. Der schöne Kopf, den man den Achilles nennt, sowie Ulysses, Ajax u.f., sie zeigen, in welcher hohen Idee die Griechen sich jene Helden Homers gedacht haben. Und hierin sind sie im gehörigen Maß des Abstandes von so vielen Köpfen der Dichter, der Dichterinnen und Weisen nicht verschieden; die meisten davon sind idealisch gebildet, nicht weniger als Apollo und die Musen. Eben aber durch diese idealische Formerfindung werden sie lehrreich. Man siehet, wenn das Bild alt und echt ist, wie die Kunst sich aus dem Inbegriff der Gesänge und Sagen einen Homer, wie sie sich einen Pythagoras und Plato dachte.

Der Held der Helden ist Herkules; er ist es auch in der Kunst, sofern diese ihr Ideal nicht höher hinauftreibt, als daß sie unbezwingbare Stärke, unerschöpfliche Kräfte in einem Menschenkörper darzustellen zum Zweck hat. Mittelst [358] solcher Glieder hat er seine Taten getan und den Olymp ersieget; die Fabeln hievon hat die Kunst mit großer Energie ausgebildet. Herkules in mehreren seiner Gefahren, insonderheit wie er den Höllenhund bezwingt, gab eine schöne Gruppe; und sein Torso, in welchem er von seinen Mühseligkeiten ausruht, ist durch Michael-Angelo der neuern Kunst ein großes Vorbild worden. Köpfe vom jungen Herkules sind von unbeschreiblicher Schönheit, und seine Jole, Omphale, Dejanira sind von der Kunst und Dichtkunst sehr wohl gebraucht worden. Da indessen die bloße Übermacht körperlicher Stärke in der menschlichen Natur noch kein höchstes Ideal gibt, eine wohltätige Güte aber in Herkules' Taten schwerlich sichtbar gemacht werden könnte, so ging seine Idee gleichsam mit der Zeit nicht mit; er blieb ein Colossus der alten Fabel. Uns zumal dünken seine riesenhaften Schenkel auch in Glykons Kunstgebilde ungeheuer und geistlos.

Lieber verweilen wir z.B. an Laokoons Bilde. Der heilige Mann, der durch seinen verständigen Rat ein Retter des Vaterlandes werden wollte und dadurch die feindliche Göttin erzürnte, wird mit seinen geliebten Kindern, die am Altar neben ihm dienen, von ungeheuren Schlangen ergriffen und mit jenen zu einer Todesgruppe verschlungen. Sein Arm, seine Brust, seine Seele hat ausgekämpft; das Gesicht gen Himmel gekehrt, atmet er sie aus in einem unermeßlich tiefen, langen Seufzer. Fürchterlich-schöne Gruppe; ein Ideal der Kunst auch für das Gefühl der Menschheit. Reiner kann schwerlich ein Märtyrer gedacht, rührender und zugleich bedeutend schöner im Kreise der Kunst schwerlich vorgestellt werden. Die Schlangen verunzieren nichts, und in ihren Banden macht der stumme Seufzer des Leidenden eine Wirkung, die St. Sebastian, Lorenz und Bartholomäus nicht gewähren mögen. Herkules auf dem Berge Oeta war zu solchem Zweck nicht bildsam. Zu welcher schrecklichen Sprache könnte der Seufzer Laokoons lautbar gemacht werden, wenn wir ihn wie den Philoktetes auf Lemnus jammern hörten! – –

[359] Nicht aber Laokoon, ihr seid meine Helden der Kunst, Kastor und Pollux auf dem quirinalischen Berge, in euch lebt mein Pindar. Großes Werk, eines Phidias und Polyklets nicht unwürdig, uns wenigstens außer Griechenland und nach dessen zerstörten Heiligtümern statt der Werke des Phidias und Polykletus. »Lebten Menschen wie ihr?« fragte mein emporklimmender, umwandelnder Blick. »Nein!« antwortete der Geist, der euch umschwebet; »aber uns dachten, uns bildeten Menschen. Heldenjünglinge wie wir waren einst in der Seele vieler junger Männer und Helden. Auch den Dichtern sind wir erschienen, und das Vaterland hat auf uns gerechnet.« – Lebt wohl, Idole der Menschheit! Das Wetter ziehe euch vorüber, und eine freche Faust müsse euch nie berühren. –

Ehe wir höher hinaufsteigen, lassen Sie uns auf dieser Höhe des Heldenideals verweilen. Zu den Füßen dieser göttlichen Menschen sitzen wir nieder, die Idee des Weges zu sammlen, den wir zurückgelegt haben.

Die griechische Kunst kannte, ehrte und liebte dieMenschheit im Menschen Den reinen Begriff von ihr zu erfassen, hatte sie sich auf vielseitigen, mühsamen Wegen, über schroffen Felsen, durch tiefe Abgründe, mit manchen Übertreibungen und Härten unablässig bestrebet, bis dann selbst diese übertreibende Mühe, die die Wahrheit um so schärfer verfolgte, nicht anders als zum Gipfel der Kunst führte. In allen Menschenaltern und jeder ihrer merkwürdigsten Situationen in beiden Geschlechtern hatte sie die Blüte des Lebens gewonnen, die auf solchem Stamme blühet; denn die Griechen besaßen noch Einfalt des Geistes, Reinheit des Blickes, Mut und Kraft gnug, diese als eine vollständige, durch sich bestehende Idee in ihren Werken darzustellen und zu vollenden. Im Kinde dachten und bildeten sie die Kindheit, im Jünglinge den Frühling des Lebens, im Manne den Göttersohn voll Selbstgenusses in Kraft und Würde. An dieser Heldenidee nahm auch das weibliche Geschlecht teil, wie jene schönen Bilder der Amazonen zeigen, deren manche im Geist eine [360] Schwester des Kastor und Pollux zu sein verdiente. Nachdem in allen diesen Formen die Kunst der reinen Idee Selbstständigkeit, Würde, eine in allen Teilen lebendig gewordene Bedeutung gegeben und sie von jedem ungewissen, schwankenden oder fremden Beiwerk wie durchs Feuer gereinigt hatte, so war von diesen Gebilden notwendig auch jene Kraft, die ausfallend zum Verstande und zum Herzen in höchster Einfalt spricht, unabtrennlich. Der Zwang der Materie war überwunden; Geschlecht, Alter, Charaktere waren in ihrer Verschiedenheit und leisen Angrenzung aufs sicherste bemerkt; und mit gegebenen großen Vorbildern in jeder Art und Gattung waren dauerhafte Kategorien der edelsten und schönsten Menschenexistenz geordnet. Auf wie wenige Hauptformen tritt die formreiche menschliche Natur in Gesinnungen, Leidenschaften und Situationen zurück, wenn wir sie mit dem weisen und nüchternen Auge der Griechen ansehn! Der biegsame, kraft- und schönheitreiche Gliederbau der Menschheit, in wie wenige Hauptbedeutungen löset er sich auf, sobald die Seele Kraft hat, diese in jedem Teil, in jeder Stellung ganz zu behaupten! Unvergeßlich und ewig lehrreich sind mir die Stunden, da ich vor den Kunstgebilden der Alten (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) die Mechanik und Statik menschlicher Seelenkräfte im menschlichen Gliederbau ruhig betrachtete und abwog. Welche Freuden schöpfte ich in Erwägung der Symmetrie und Eurhythmie, noch mehr aber der schönen Gegenstellung, die in Ruhe und Bewegung, nach verschiedener Art der Charaktere, diesen göttlichen Körpern mitgeteilt ist, also daß sich die Seele liebreich-strenge bis im Wurf des Gewandes und in seinen Falten wie ein wehender Geist offenbaret. Ihr habt unsre Natur gekannt und geadelt, ihr Griechen; ihr wußtet, was das menschliche Leben in seinen vorübergehenden Szenen sei, das ihr auf so manchen Sarkophagen ebenso richtig und wahr als einfältig und rührend vorgestellet habt. Da erfaßtet ihr die Blüte jeder flüchtigen Szene und heiligtet sie in einem nie verwelkenden Kranz der Mutter des Menschengeschlechtes. Wenn unsre Art je so [361] entartet werden sollte, daß wir diese innere Kraft und Anmut derMenschheit, das hohe Siegel unserer Existenz, gar nicht mehr erkennten, dann zerbrich, o Natur, die Form deines ausgearteten edelsten Geschöpfes, oder vielmehr sie zerbräche von selbst und zerfiele in Staub und Scherben.

Und wodurch kamen die Griechen zu diesem allen? Nur durch ein Mittel: durch Menschengefühl, durch Einfalt der Gedanken und durch ein lebhaftes Studium des wahresten, völligsten Genusses, kurz, durch Kultur der Menschheit. Hierin müssen wir alle Griechen werden, oder wir bleiben Barbaren.

66.

Mit heiligem Ernst treten wir zum Olymp hinauf und sehen Götterformen im Menschengebilde. Jede Religion kultivierter Völker (die christliche nicht ausgenommen) hat ihren Gott oder ihre Götter mehr oder minder humanisieret; die Griechen allein wagten es, humanisierte Gottheiten, ihrer und der Menschheit würdig, in Kunst, d.i. auf eine dem Gedanken rein und völlig entsprechende Weise, darzustellen. Oder vielmehr sie läuterten alles Schöne, Vortreffliche, Würdige im Menschen zu seiner höchsten Bedeutung, zur obersten Stufe seiner Vollkommenheit, zurGottheit hinauf und theifizierten die Menschheit. Andre Nationen erniedrigten die Idee Gottes zu Ungeheuern; sie huben das Göttliche im Menschen zum Gott empor.

Unten sahen wir einen Reiz der Jugend, dessen flüchtige Blüte wir bedauerten; unter den Göttern ist er verewigt, eben dadurch, daß er aufs höchste geläutert ward.

Als das himmlische Sinnbild aller Jünglingsgenien auf Erden stehet Dionysos hier, dessen zarte Idee die niedren Sterblichen so mißkennen, daß ich seinen Namen Bacchus kaum zu nennen wage. Er ist die sichtbar gewordene ewige Fröhlichkeit; im Genusse sein selbst, ohne Anstrengung und dennoch mit der leichtesten Elastizität ein süßer Beglücker der [362] Götter und Menschen. Im schönen Charakter dieses tätigen süßen far niente rettete er einst den Olymp und kultivierte die Welt durch Gaben und Geschenke. Sein Dasein ist ein ewiger Triumph unter Trauben, mit denen er die Sterblichen erquickt und getröstet hat, unter dem ewigen Freudenliede jauchzender Mänaden.

Und an seiner Seite senkt den liebetrunknen Blick auf ihn die durch ihn gerettete, selige Ariadne. Von ewigem Dank und innigem Ergetzen strömt der gerührte Blick, den keine Mänas, keine Baccha mit ihr teilet. Ohne Kinder, in seligem Anschaun des Genusses feiren die zwei ihr unzerstörbares Triumphleben, in welchem Bacchus selbst die Blüte der Weiblichkeit in seiner Natur genießet. Lebet wohl, ihr glücklichen beide, du Gerettete und du, ihr Retter; habt viel Nachfolger auf der Erde, die unter Scherz und Freude die Menschheit beseligen, die retten und wohltun, ohne daß sie es Zwang kostet. Den Triumphswagen solcher Gemüter umjauchzen dankende Chöre. Schöne Statuen sind vom Bacchus da, und das kapitolinische Haupt der Ariadne ist ganz ihr Charakter.

Neben Bacchus stehet Apollo, das höchste Symbol aller Heldenjünglinge der Menschheit. Über Kastor und Pollux erhaben ist seine Gestalt, ein sichtbar gewordener Heldengedanke. Seine Tätigkeit ist Blick, Gang, Dasein, Sieg mit der Schnelle des Pfeiles. Und dieser kühne, rasche, selbst zornige Jüngling rührt in andern Gestalten die Leier, der alle Musen horchen. Ihr horcht der Schwan oder Greif zu seinen Füßen, ihr horcht die Natur. Aller Musen Künste sind diesem Heldenjünglinge eigen, der ein Ideal griechischer Kultur ist zur tätigen und musenhaften Heldenjugend. In seinen drei Hauptstellungen, als Sieger, Sänger und ruhender Jüngling, ist er immer Apollo, auch wenn er, sanft angelehnt, nur die Eidechse tötet.

Und neben ihm seine unermüdliche SchwesterDiana. Sie, die Jungfräulichkeit, daher auch dieKeuschheit und immer muntre Tätigkeit selbst, ohne welche jene nicht bestehn konnten. [363] In der grünenden Natur, mit Nymphen umgeben, eine Göttin unter den Nymphen, eilt sie dahin wie ein jugendlicher Hirsch, unbewußt ihrer Schönheit; ihr Blick ist in der Ferne. Und wenn in ihrem Herzen der Funke der Liebe zündet und sie den Endymion belauscht, wie rein und stille verschwiegen ist dieser Anblick! wie rührend stellte ihn auf Grabmalen die griechische Kunst vor! – Jünglinge und Mädchen sangen das Lob des Apolls und der Diana in Wechselchören; denn beide Gottheiten waren das Abstraktum ihrer Tugend. Erst nur, wenn Hymen den Gürtel der Jungfrau lösete, trat die Verlobte aus dem Dienste der strengen Diana ins Gebiet der schamhaften Aphrodite. In Apolls schönen Darstellungen ist also eine der höchsten Zierden menschlicher Tugend erhalten, und wenn die Bildnisse der Schwester dem Ideal des Bruders nicht gleich sein möchten, so verleugnet dennoch keine Vorstellung den Charakter einer Artemis oder der sanfteren Luna.

Eine dritte Jünglingsart stehet dort an der Pforte des Olympus; es ist Merkur, der Gott schlauer Beredsamkeit, der behendesten Betriebsamkeit in allen Geschäften. Er hat den Apoll überlistet, hat mancherlei Anschläge erfunden und trägt den Beutel. Auch trägt er Botschaften und geleitet die Seelen selbst zum Orkus, geflügelt an Füßen und Haupte. Es ist ein geschäftiger, munterer Gott, das Haupt einer großen Gemeinschaft, die in ihm personifiziert ist, ein unentbehrlicher Gott im Himmel und auf der Erde. Fabel und Kunst haben ihn so vollkommen ausgebildet als den Jupiter oder die Minerva; er ist aber ein Erdgeborner, der Maja Sohn, subaltern an Dienst und Charakter. Wir wollen den schonen Gott, schön an Haupt, an Füßen und Händen, nicht ohne Betrachtung vorbeigehn. Bemerken Sie, wie er lauschet, wie er mit sich selbst und seinem Schlangenstabe und seinem Hahn und Beutel so ganz eins ist, ein vortrefflicher Gott an der Pforte.

Dir nahen wir uns, himmlische Aphrodite, unübertroffnes Ideal des weiblichen Liebreizes, einer sittlichen Schönheit. [364] Aus der Welle des unruhigen Meeres stiegst du hervor, vom lauen Zephir getragen; da legten sich die Wellen, deine sittsame Gegenwart machte sie zum Spiegel der Lüfte. Bescheiden trocknetest du dein Haar, und jeder fallende Tropfe deines irdischen Ursprunges ward ein Geschenk, eine Perle der Muschel, die dich wollüstig in ihrem Schoß wiegte. Du stiegst zum Olymp, und die Götter empfingen dich in deiner Gestalt; denn sie selbst war deine Hülle; dieGrazie, mit der du dich, durch und durch sichtbar, dem Auge unsichtbar zu machen weißt, diese in sich gehüllete Scham und Bescheidenheit ist dein Charakter. Auch auf dem häuslichen Altar der Griechen standest du nicht anders als unter diesem Bilde; denn nur Scham kann Liebe erwecken und zeugen. Es ist ein verfehlter Charakter, wenn Aphrodite zurückblickt oder sich mit Wohlgefälligkeit zeiget; ihre Schönheit ist die, daß sie, sich vor ihr selbst gleichsam und vor allem verbergend, Himmel und Erde entzückt, dem wegschlüpfenden Tautropfen einer jungen Rose ähnlich, in dem sich die anbrechende Morgenröte spiegelt. Das bedeutet ihr Apfel, das ihre Taube; dahin hat sie der Sinn der Griechen, selbst mit ihrem zu kleinen Köpfchen, und was man sonst an ihr tadelte, gedichtet. Bescheidenheit und eine kunstlose Scham, die selbst die höchste Kunst ist, sind und wecken den Liebreiz. Es gibt keine feinere Zunge dieser Waage.

Neben ihr stehe die verschleierte Vesta. Als die große Mutter der Natur kennen wir sie nur auf Gemmen oder in der Flamme ihres Altars; aber ihre Vestalen, die Dienerinnen ihres heiligen Herdes, sind uns ehrwürdige Jungfrau-Matronen. Aus jeder Falte ihres Gewandes hätten Nonnen und Heilige lernen können, was zu beobachten sei, um in einer reinen Menschheit also ehrwürdig zu erscheinen, daß man bei einer kaum sichtbar gewordnen Hand und dem engelreinen Antlitz den großen dichten Schleier heiliger Gelübde verehret. –

Wieder lasse ich mich am Fuß dieser Vestale nieder und frage: »Was helfen uns diese Bilder? diese so groß und rein [365] und richtig bestimmten Menschenideale?« – Und antworte mir selber: »Viel! Sehr viel!«

Dort nahm Pallas dem Diomed die Wolke vom Auge hinweg, daß er einen Gott und einen Sterblichen unterscheiden konnte; ebendiese Wohltat wird uns durch dies Studium der griechischen Kunst gewähret. Leibhaft wandeln unter uns keine Apollos und Dianen umher; jene Anlagen des Charakters aber, die eine Diane oder Vestale, eine Ariadne oder Anadyomene, einen Merkur, Bacchus, Apollo im höchsten Ideal gaben, sind in zerstreueten, oft sehr verworrenen Zügen vor uns. Diese Anlagen nur zu erkennen, ist eine Charakteristik menschlicher Denkarten und Seelenformen nötig, die sich auf wilden Wegen schwerlich erlangen läßt. Sind Linneus' genera plantarum das Inventarium der Botanik worden, schätzet man seine nach Naturkennzeichen gegebne Tierklassen hoch, sollte es nicht auch Menschenklassen nach Natureigenschaften geben? und wären diese, auf die reinsten Begriffe gebracht und in unzerstörbaren Formen dargestellt, nicht aller Betrachtung wert? Daß die Griechen den Menschen mit einem unbefangeneren, schärfern Blick angesehen haben als wir, wird niemand leugnen; daß unsre Temperaments- und physiognomische Einteilungen zu nichts Sicherm führen, muß jedermann klar einsehn; warum liegen uns denn jene von Meistern erfundene scharfe und große Formen der Unterscheidung so weit ab? Warum sonst, als weil wir sie nicht verstehen oder zu gebrauchen nicht vermögen Wir fühlen, daß der edelste Same, unter uns aufkeimend, kein Klima zum Aufkommen, geschweige einen Olymp zur Gottesgestalt findet, und tappen also fort im Nebel. Wenn aber die liebliche Scham, die seelenverhüllte Vestale oder Dianens keusche Tochter keinen Olymp verdienen, genießen sie nicht eines häuslichen Altars?

Eine reine Kritik dieser der erlesensten Menschenformen, die man Göttergestalten nennt, prüft und sichert unser Urteil auch für alle sittlichen Kompositionen. Von wie manchem [366] Nebenbegriff bin ich frei geworden, wie manche Meinung habe ich vergessen lernen, seitdem die Kunst der Griechen, gestützt auf ihre Weisheit und Sittenlehre, meine Führerin ward. Demütig wie ein Fragender zu Delphi frage ich mich: Hat diese Komposition, hat dies Urteil, hat dies Werk einen Wert? haben sie einen sittlichen Charakter? Von welcher Art ist dieser? hoch oder niedrig? und ist er sich selbst treu, in sich beständig? Durch diese ernste Fragen, wie manches lernt man vergessen und wegtun! Dies Urteil über eine Komposition z.B. kann nur auf zwiefache Weise, subjektiv und objektiv, ein Gewicht haben. Subjektiv, indem der Urteilende den ganzen Sinn des Werkes, das er beurteilt, treu erfasset, ihn in allen Teilen festhält und dessen Bestandheit oder Unbestandheit wie in einem Kunstwerk zeiget. Objektiv, indem er uns das reine Richtmaß vorhält, nach welchem und nach keinem andern es gebildet werden konnte und sollte. Tut der Urteiler keins von beiden oder verwirret er beide Arten miteinander, ist er so schwach, daß er den Sinn des Gedankenwerks oder der Handlung weder zu begreifen noch darzustellen vermag, oder so anmaßend, daß er eine ungeprüfte mangelhafte, falsche Regel aus Unkunde oder Vermessenheit uns als ein Gesetz vorhält: wer wird darüber ein Wort verlieren? Seitdem ich über den vatikanischen Apollo, über Laokoon und die tragische Muse, über das Ideal der Alten u.f. gehört und gelesen habe, was ich darüber gehört und gelesen, kümmern mich wenige Urteile mehr, aber das Urteil der wenigen, die eine vollständige Idee des Werks als eines griechischen Kunstwerks haben, gehen mir auf Leib und Leben.

Was endlich die Anwendung dieser großen Gedanken betrifft, wozu sind die Bilder meiner Götter und Helden nicht angewendet worden? Das muß den Meister eines Werks nicht kümmern; gnug, sie stehen da und leben. Wenn ihr inwohnender Genius sie nicht schützt und aus ihnen spricht, so ist alle Wache und Fürsprache verloren.

[367] 67.

Die Idee des Kriegsgottes unter dem Bilde des Mars (Ares) war den Griechen seit dem Homer nicht so geehrt, als sie es den Römern ward, die von diesem Gott ihr Geschlecht ableiteten. Seine Statue ist selten, und wo man sie dafür hält, wird sein Ansehn durch Ruhe oder durch Amor und Venus gemildert. Die nackte Idee eines Kriegers kann als ein unbestimmter Begriff kein hohes Ideal geben. Eben also Vulkan. Der Gott aller Künstler, der nur als ein Werkmeister bei seiner Arbeit vorgestellt werden konnte, war eines hohen Ideals unfähig. Prometheus selbst gab mit seiner Menschenbildung zu schöneren Ideen Anlaß, insonderheit unter dem Beistande der Minerva.

Feierlicher erscheint jene große und zärtliche Mutter, die Hausmutter der Erde, Ceres, Demeter. Ruhig und hausmütterlich ist ihr Anstand; wie erschreckt und eilig aber schwingt sie die Fackeln, wenn sie ihre verlorne Tochter Proserpina sucht! Diese Geschichte, eine der sinnreichsten und bedeutendsten des Altertums, ist in ihren schönen Vorstellungen auf Grabmälern der Menschheit so lieb als die Geschichte Endymions, der Psyche oder die Szenen des menschlichen Lebens von Prometheus an bis zum schüchternen Eintritt der Seele ins Reich des Aides. Traurig und milde thront Proserpina da, sie selbst eine geraubte Königin des Orkus.

Noch drei Göttercharaktere sind vor uns, Pallas, Jupiter und Juno.

Das Bild der Pallas, die zuerst eine fürchterliche Kriegsgöttin war, ist viel bedeutender und edler als Mavors ausgebildet worden; denn eine mächtigeStädtebeschützerin war sie, keine tobende Wilde. Sie vereinigte Mut mit Verstand und war dadurch von jeher dem roh angreifenden Mars überlegen. Vor ihrer Brust das Haupt der Medusa und jenen Schild, den Homer lebendig beschrieben, in ihrer Hand den mächtigen Speer, den schrecklichen Helm auf ihrem Haupte, war und blieb sie selbst die heilige Jungfrau, die, aus dem [368] Haupte Jupiters entsprossen, gleichsam sein sichtbar gewordener mächtiger Schreckgedanke und in der Folge die Göttin aller Weisheit, insonderheit des häuslichen ruhigen Fleißes war. In beiden Eigenschaften ward sie gebildet, bald als jene furchtbare Göttin, deren plötzliche Gegenwart Verwirrung und Flucht bringt, bald als die friedliche Städtebeschützerin, die Mutter aller nützlichen Künste. In beiden Vorstellungen ist ihre dämonische, mächtig-stille Gegenwart wirksam. Wie vor einem hinabgeschwebten olympischen Wesen stehet man vor der Minerva Giustiniani; man wagt ihr kaum zu nahen, und doch ist ihr Dasein so in sich geschlossen und friedlich. Keine andre Göttin führt diese Gattung heiliger Majestät bei sich, die eine Pallas auch nicht verläßt, wenn sie in häuslichen Künsten arbeitet. Dank dem glorreichen Athen, das seine Göttin so schön ausgebildet. Es weihete ihr alle Kränze, die aus seinem Flor entsproßten, indem das Fest der Gedankentochter Jupiters sein großes Fest war. Mit Andacht opferte ihr Mutter und Kind, der Krieger wie der Weise.

Das verschlossene Bild der Juno Ludovisi stellet die Königin des Himmels dar, des höchsten Gottes Schwester und Gemahlin. Alle weibliche Majestät, Pracht und Größe ist in dies ruhige Antlitz gesenket. Sie hat nicht ihresgleichen; ihresgleichen kann sie nicht haben, die göttliche, königliche Juno. Besäßen wir vom Jupiter selbst ein Bild wie dieses!

Dennoch aber, ob uns gleich ein Phidias-Bild vom höchsten Gott fehlet, ist sein Charakter in allen Vorstellungen merkbar, Macht, Weisheit und Güte in ein unsterbliches Haupt versammlet. Was sein Weib in stolzem Anstande zeiget, das ist er in ruhiger Würde, Vater der Götter, König des Himmels und mit seinem Stabe ein Hirt der Völker. Der Blitz in seiner Hand hat die Riesen zerschmettert und die Lüfte gereinigt; sein Blick hat den Elementen Frieden geboten, darum feiern um seinen Thron Grazien und Horen unzertrennbare Reigentänze. Sein Haupthaar, dessen Wallen den Olymp erschüttert, fällt in ruhigen Locken nieder, sein [369] Mund ist gütig und der Wink seines Augenbrans verheißt dem Flehenden, der sein Knie berühret, väterlichen Beistand. Heil dem Gott der Götter! Er gebe, seinen erdgebornen Söhnen, was er hat und ist, mächtige Güte, gnädige Weisheit.

Nach Jupiter darf ich von seinen beiden Brüdern nicht reden; sie tragen seinen Charakter, nur in niedrigern Reichen. Neptun in den Wellen des Meers zeigt den Sturm desselben, aber nur in seinem Haar; sein Anblick glättet das Meer und gebietet Stürmen und Wellen Friede. Plutos (Jupiter-Serapis') Antlitz mit seinem düster-gütigen Blick eröffnete mir jedesmal die dunkle Unterwelt, wenn ich ihn ansah. In düstern Gegenden ist dieser traurig ernste und doch milde Jupiter König. So charakterisierten die Griechen Leben und Tod, Himmel und Orkus. O wären uns von so manchen Gottheiten, die im Pausanias genannt sind, Abbildungen übrig, wir hätten eine Charakteristik selbst aller Leidenschaften der Seele.

Wenn dieser mein Brief öffentlich bekannt würde, so könnte es schwerlich anders sein, als daß er manchem enthusiastisch vorkäme. Diesem aber hätte ich nur eins zu sagen: »Gehe hin, sieh und betrachte. Je kälter, desto besser, um so mehr wirst du, was ich andeutete, finden. Nur habe kein vorgefaßtes System.«

Alle wissen wir, daß die Götter der Griechen, in verschiedenen Gegenden entsprossen, hie und dort anders gedacht, mit Nebenumständen oft verkleidet, von Dichtern äußerst verschieden behandelt, von Philosophen endlich mit Allegorien dergestalt überladen worden sind, daß man in jedem Gott einen ganzen Olymp von Göttern finden könnte. Aus diesem allen folgt aber nichts, was meiner in Denkmalen vorliegenden Wahrheit zuwider wäre. Der Mytholog zähle jede örtliche Gottheit mit ihren Attributen und Namen her: eine sehr lehrreiche Tempelreise. Der Ausleger bemerke jede Verschiedenheit der Götterfabel nach Zeitaltern, Dichtungsarten und einzelnen Dichtern: eine sehr lehrreiche Reise, wenn sie mit Aristoteles' Scharfsinn angestellet wird. Unter andern [370] guten Folgen würde sie uns auch vor der unseligen Übertragung des Bildes einer Dichtungsart in eine von ihr verschiedene, ja vor hundert andern unnützen Anführungen bewahren. – Der Kunstliebhaber reise die Kunstwerke durch, sowohl die noch vorhanden sind, als auch von denen die Alten reden. Er untersuche das Spiel der Künstlerideen nach Zeiten, Gelegenheiten, am meisten nach dem Ort und Zweck ihrer Anwendung; denn unmöglich können doch Statuen, Basreliefs, Gemmen und Münzen auf einen Fuß genommen, Zeiten und Länder verwirrt und alles wie auf einer Tafel betrachtet werden. Hierüber ist noch wenig geleistet worden, zumal so viele schöne Basreliefs noch nicht bekannt und wenige Kunstliebhaber in dem glücklichen Fall sind, alles Bekanntgewordene zu kennen oder mit Muße zu gebrauchen. – Endlich vergleiche dieser Kunstliebhaber Künstler und Dichter; von allen vorigen das schwereste Werk, das nicht nur Gelehrsamkeit, sondern auch Verstand und einen wirklichen Kunst- und Dichtersinn fodert. Hier brach Lessing eine große Bahn, auf welcher aber noch nicht weite Schritte gemacht sind. Eine feste Kritik hierüber würde uns vor mancher unglücklichen Anwendung der Kunst auf die Dichter, die in teuren Werken vor uns liegen und doch bloße Barbarei sind, bewahren. – Alle diese und noch mehrere Erwägungen aber verrücken den Gesichtspunkt nicht, den ich verfolgte, nämlich: Welche reine Idee lag der Kunst, und zwar in ihren heiligsten Werken vor, die öffentlich dargestellt und für die Ewigkeit geschaffen wurden? Wie kam die Kunst zu ihr? wie hat sie solche ausgeführet? Dies dünkt mich gleichsam das letzte, innigste Resultat beim Überschauen ihrer Werke, in denen der Künstler nicht eigenmächtig spielen, sondern den Charakter seines Gegenstandes als eine bleibende, ja gar als eine höchste Idee angeben wollte. Würde mir also jemand gegen meinen Jupiter die Vase zeigen, auf der er als Maske die Rolle des Amphitruo spielet, oder gegen meine Juno ihren Zank im Homer anführen, so könnte ich ihm nichts sagen als: »Für dich habe ich nicht geschrieben.«

[371] Ich schrieb von den Idealen der Humanität in der griechischen Kunst, und diese bleiben fest, wenn auch bei Dichtern und Künstlern tausend Inhumanitäten vorkämen; von diesen möge ein andrer schreiben.

68.

Aber, m. F., die Faunen, die Satyren, Pan, Silen, derindische Bacchus, die Mänaden, die Kentauren (an mehrere Ungeheuer nicht zu denken) – wie bestehen diese mit Ihrem Ideal der Humanität in griechischen Kunstwerken?

Zweitens. Und hätten die Griechen uns denn alles vorweggenommen? wären außer diesen und hinter ihnen nicht noch andre, feinere sittliche Ideale möglich? Ja, wären diese von mehreren Künstlern nicht wirklich gegeben?

Endlich, was hilft uns diese Humanität der Griechen, da wir nicht Griechen sind? Unser Himmel, unsre Einrichtungen, unsre Lebensweise legen uns andre Bedürfnisse auf und fodern von uns andre Pflichten. Wir lüsten so, wenn wir jene, soll ich sagen, feinere oder gröbere Sinnlichkeit alter Zeiten, jugendlicher Völker der Welt begehren, nach einer uns versagten, dazu gefährlichen Traube. Unsre Humanität blüht in philosophischen Begriffen ohne sinnliche Darstellung. Die Blütenzeit ist vorüber; wir kosten Früchte. Wollten Sie uns wohl einige dieser Zweifel lösen?

69.

Die Satyren der Griechen sind ebensowohl Denkmale ihrer humanen Weisheit als die erhabensten Götterbilder. Nicht alles läßt sich in der Menschheit zum Helden und Gott idealisieren; deshalb aber ist dieser Teil unsres Geschlechts so ganz und gar nicht verwerflich. Es gibt eine geringere, eine Faunen- und Satyrennatur in der menschlichen Bildung, die [372] wir nicht verleugnen können; sie ist behend, aufgeweckt, lustig, munter in Einfällen, in ländlichen Scherzen und Spielen, dabei lüstern, üppig, übrigens einem Teil nach (denn es gibt auch grobe, böse Faunen) gutartig, dienstfertig, wohlgefällig, freundlich. Warum sollte man diesen Geschöpfen, die einst die Besitzer der jungen Welt waren, ihre Freuden und Spiele stören? Warum sollte man diesem Satyrus, der mit so unendlichem Appetit die süße Traube kostet, jenem Faunchen, das die Nymphe belauscht oder haschet, jenem andern, der mit kindischer Freude die Flöte bläset oder gaukelnd aufhüpfet, ihre jugendliche Freude, ihre unerfahrne Lüsternheit und Neugier rauben? Vergnügungen oder Lustkeime dieser Art machen ja einen so großen Teil der Jugendfreuden aus, die man unschuldige Freuden zu nennen gewohnt ist; und manche Charaktere haften daran zeitlebens. Also bemächtige sich auch die Kunst dieser Klasse der Menschheit; nur sie sondre sie ab und charakterisiere sie also, daß man sogleich ihre Natur wahrnimmt. Dies hat die Kunst getan, und zwar (ich gehe alles vorüber, was für lüsterne Augen, in Wollustkammern oder Gärten gemacht wurde) auf eine dem Genius dieser Gattung ganz gemäße Weise. Diesem jungen Satyr sprießt ein Hörnchen, jenem ein Schweifchen; sein spitzes Ohr lauscht, sein Blick, seine Zunge lüstet; also ist er schon seiner Art nach zum gaukelnden Sprunge, zur lüsternen Fröhlichkeit gemacht; in dieser Art hat die Kunst ihn ergriffen und charakterisieret. Es gibt Satyren von großer Schönheit; nur sobald sie Satyren sind, zeichnete sie die Kunst aus als der reinen Menschheit nicht ganz würdig. War es Grobheit oder zartes Gefühl, das diesen Unterschied machte? Unser Auge würde vielleicht nicht beleidigt, wenn ein ganz menschlicher Jüngling mit einer Nymphe scherzt; das Auge der Griechen ward es. Die Gestalt eines Jünglinges war heilig, aber ein Satyr durfte so scherzen und tändeln. Diese charakteristische Unterscheidung, die Begierden solcher Art gleichsam an die Grenze der menschlichen Natur rückte, war also höchst sittlich gedacht, und die reine [373] menschliche Natur, insonderheit der menschliche Jüngling, ward durch sie sehr geehret.

Überhaupt machen wir uns von dieser ganzen Gattung Geschöpfe zu grobe Begriffe, weil unserm Klima die ländlichen Spiele und Feste, die dazu Gelegenheit gaben, fremde sind. Wir denken uns allenthalben grobe Waldfaunen und Waldteufel, von denen dort nicht die Rede war; es waren bekannte fröhliche Masken. Die Griechen hatten sogar eine eigne Gattung Schauspiele, wo nur Satyren sprachen und hüpften, Schauspiele, die unmittelbar hinter den größesten Stücken Äschylus' und Sophokles' gespielt wurden und deren sich die größesten Meister nicht schämten. Diese Stücke waren Denkmale der Freiheit und Fröhlichkeit alter Zeiten; ein Satyr durfte sprechen, was der ehrsame Mann nicht sprach, und man durfte es hören; denn es sprach's aus den Kindeszeiten der Welt ein Satyr. Neuere Künstler haben dies sittliche Costume, was einem Menschen und einem Satyr zieme, nicht ebenso genau unterschieden.

Damit habe ich zugleich dem Silen, dem sogenannten indischen Bacchus, den Kentauren, Sirenen, noch mehr aber jenen Ungeheuern, die sich ganz von der menschlichen Natur absondern, das Wort geredet. Bei uns laufen alle diese Dinge durcheinander; der Silen heißt ein ehrlicher Mann, der gerne trinkt; jahrhundertelang waren unsre Trimalcions Leute von der großen Welt; ihre Sitte hieß Hofsitte und Kunst zu leben. Bei den Griechen nicht also; Silen und Trimalcion waren Masken ausgezeichnet-niedriger Charaktere.

Haben Sie in dieser Rücksicht überdacht, welchen Vorteil solche Masken der griechischen Kunst, welchen Adel sie der menschlichen Bildung gaben? Durch sie ward von unsrer Natur abgesondert, was sie verzerret, was ihr nicht ziemet. Alle Karikatur nämlich war in Masken verlegt, klassifiziert und geordnet. Damit blieb sie vom edlen menschlichen Körper getrennt; kein Hogarth durfte Prometheus sein und Menschen bilden; wohl aber konnte das Kind, der Knabe, mit Masken spielen, selbst Jupiter und Merkur konnten in Masken [374] agieren, wenn sie's gut fanden. Sie waren jetzt nicht Götter, sondern Mißgestalten; denn wer eine solche Maske trägt, bezeugt eben damit, daß er jetzt kein Mensch oder Gott, sondern das Tier, der Tor sei, in dessen Gestalt er erscheint. Der edeln Menschengestalt, die bei den Griechen über alles galt, hat er entsaget. – Selbst an die griechische Klassifikation und Ordnung dieser der Menschheit unwürdigen Formen hat kaum ein neuer Begriff gereichet.

Die Kentauren der Griechen, insonderheit Chiron, der den Achilles unterweiset, haben mich immer lehrreich vergnüget. Ich kann den Gedanken, daß eine verständige, zärtliche, tapfere und keusche Tierheit die Erzieherin und Wiederherstellerin des Menschengeschlechts sei, nicht zarter ausdrücken, als er hier ausgedrückt ist; denn Swifts edle verständige und keusche Huynhyms im Kontrast seiner Yahos sind, gegen die Dichtung der Griechen, barbarische, in sich selbst nicht bestehende Gedanken. Chiron unterweiset den Achill nicht etwa in der Jagd allein, sondern in allen Künsten der Musen, sorgsam, strenge und zärtlich. Die Leier in der Hand eines Kentaurs, eine mit ihren menschlichen Mutterbrüsten nährende Kentaure, auf deren Rücken Amor sitzt, würde den Stoff zu einer äußerst sittlichen Unterhaltung geben, auf welche die Deutungen der Fabel, daß dergestalt die Helden der Vorwelt kultiviert worden, selbst weisen.

So auch ihr, ihr schönen Medusen, Gorgonen, Sirenen, Scylla und Charybdis, ihr Bacchen, Mänaden, Titanen und Kyklopen, wo und wie ihr in der Kunst der Griechen erscheint, seid ihr an eure Plätze geordnet. Unter uns lauft ihr umher; ein Titane läßt sich als Held, eine Meduse als Charis, eine Baccha als die Königin des Himmels anschauen und physiognomisch malen. Wären wir den Griechen nicht Dank schuldig, daß, was wir nicht können, sie getan und nach unveränderlichen Regeln und Kennzeichen Klassen geordnet, Abarten ausgezeichnet und die reine Form von der Unform getrennet haben? Auch die Barbaren und den sogenannten Trimalcion haben sie treffend bezeichnet.

[375] 70.

Ihre zweite Frage: »Haben die Griechen uns alles vorweggenommen und sind nicht nach und hinter ihnen andre, feinere und sittlichere Ideale möglich? Ja, sind diese nicht vielleicht schon längst in der neueren Kunst gegeben?«- diese Frage wird sich, wie mir es scheint, aus dem Vorigen von selbst beantworten. Die Griechen nämlich haben, indem sie alles ordneten, als Räuber nichts vorweggenommen; sie haben der Erfindung keines sterblichen Menschen geschadet, sondern dieser Raum gemacht und sie geleitet.

Im Anbeginn der Dinge, sagen die Dichter, schwebte alles in wüster Unordnung, und es war zu nichts Raum. Da begann eine Welt; jedes ordnete sich zu seinesgleichen; es wurden Planeten und Sonnen. Elemente sonderten sich; es entstanden Kunstgeschöpfe. Nun ward Raum; denn die harmonischen Töne der Weltleier waren erklungen, und alles gesellet sich seitdem zu seinem Geschlecht, zu seiner Ordnung. Noch jetzt erhalten sich alle Klassen der Lebendigen also; so reihen noch jetzt sich Sonnen an Sonnen; Nebelsterne ziehen sich zu Systemen zusammen und gewähren Raum; so ward und so wird die Schöpfung.

Auch die Kunst, die Schöpfung der Menschen, nicht anders. Die Griechen erfanden und vollendetenIdeale; sie schufen Klassen der Menschheit und trenneten ab, was nicht zu ihr gehöret. Damit bildeten sie den reinen göttlichen Begriff unsres Geschlechts zart und vielseitig aus; wem haben sie hiemit geschadet? Wer sich edler als Kastor und Pollux, schöner als Dionysos oder Apollo, jungfräulicher als Diana, dämonischer als Minerva fühlt, der trete her, und die Kunst wird ihm opfern. Ein König, der über Jupiter, eine Königin, die über Juno herrlich, eine Geliebte, die zärtlicher ist als Psyche, trete her, und die Kunst wird ihr opfern. Die hohen Sternbilder, die geordneten Sonnensysteme stehen da, und zwischen ihnen ist Raum zu andern Systemen.

Jede reine Idee, die ein vollendetes Bild gibt, teilt nachbarlichen [376] Ideen Klarheit mit; dies zeigt die griechische Kunst in hohem Grade. Aus jener bescheidenen Aphrodite ward mit einer kleinen Veränderung eine Nemesis; aus ihr und aus allen ursprünglich wenigen Götterformen, wie viel Ideen sind erwachsen! Parzen und Eumeniden, Grazien und Horen, Nymphen allerlei Art, Schutzgöttinnen der Länder und Personen, personifizierte Tugenden und Ideen. Eine Genealogie dieser Gestalten würde zeigen, von wie wenig Hauptformen sie entsprossen sind und wie sich, der einmal festgestellten Ordnung nach, immer Gleiches zu Gleichem gesellte. Bis auf die Münzen der Römer in ziemlich späten Zeiten erstreckte sich diese Fruchtbarkeit jener kleinen Anzahl griechischer Ideen; auf ihnen erhielten sich Bilder sittlicher Humanität selbst in Zeiten, da alles dem Gesetz und Kriege, dem Zwange und der Not diente.

Sollten also jene Denkbilder reiner Formen der Menschheit je einem Sterblichen den Weg zu Ideen verschließen oder verschlossen haben? Niemals; nur lange Jahrhunderte waren in so dunklem Nebel, daß auch der Umriß solcher Formen nicht erkannt werden mochte. Endlich zerfloß der Nebel; der menschliche Geist gelangte wieder zu einigermaßen hellen Begriffen; Andacht und Liebe verkürzten den Weg dahin, und so sind jene Bildnisse erschienen, die wie Morgensterne aus der weichenden Nacht hervorschimmern. Man humanisierte seine Religionsbegriffe; und so trat vor allen andern die gebenedeiete Jungfrau, die Mutter des Weltheilandes, in einer eignen Idee hervor, zu der ihr die griechischen Musen nicht halfen. Der Gruß des Engels half ihr dazu, der sie dieHoldselige, die Gottesgeliebte, ihre eigne Demut half ihr dazu, in der sie sich die Magd des Herren nannte. Aus diesen beiden Zügen floß ihr liebliches Wesen zusammen, das sich dem menschlichen Herzen sehr vertraut machte. Dichter hatten sie mit der Stimme des Engels in zarten Worten oft gegrüßt, zutrauliche Gebete sie liebreich angeredet; jetzt trat die Kunst hinzu, sie auch sichtbar zu machen, sie und das Kind in ihren Armen, die selige Mutter und die heiligeJungfrau. [377] Keuschheit also und mütterliche Liebe, Unschuld des Herzens und jene Demut, die in der größesten Hoheit sich selbst nicht kennet, die in tiefer Armut die seligste ihres Geschlechts ist; diese neue Form der Menschheit ward vom Himmel gerufen – ein Mariencharakter. Sein unterscheidender Zug ist, wenn ich so sagen darf, jene christliche Unbefangenheit, in der die Mutter von ihr selbst, von ihrer Herrlichkeit, kaum von ihrem Kinde zu wissen scheinet, das sie dennoch, das dennoch sie liebreich umfängt und den Menschen hold ist. Eine humane Gruppe, die Kind und Knabe, Mädchen und Jungfrau, Braut und Mutter, Mann und Greis, der Sterbende selbst zutrauend-sanft, gleichfalls mit christlicher Unbefangenheit gern ansehn; da übrigens Raffaels Marien, gewiß die höchsten und reinsten ihrer Art, alle Landmädchen sind, nur sehr innig gedacht und rein idealisieret. Jene Glorreiche selbst, die, das Kind im Arm, über den Wolken schwebet, kennet sich selbst nicht und ist in einer sanften Verwunderung über die Hoheit, die ihr zuteil wird. Außer Raffael haben wenige diese Idee erreichet; die gebeugte Schmerzensmutter gelang ihnen viel mehr. Den Sohn Gottes in Menschengestalt haben außer Raffael, da Vinci, del Sarto wenige würdig gedacht und empfunden, also nämlich, daß die göttliche Menschheit des Erlösers der Menschen nicht zugleich Niedrigkeit würde. Das Bild des ewigen Vaters fand noch mehrere Schwierigkeiten, die Idee desgefallenen mächtigen Engels nicht minder. In allem aber, was der nähere Kreis unsrer Menschengestalten einschließt, welchen Reichtum schöner Kompositionen haben in Neueren eben die Alten erweckt und befördert! Wer hat je Raffaels Schule zu Athen und seine andre vatikanische Gemälde gesehen, ohne zu empfinden: in ihm war eine griechische Seele. Engelsangesichte sind in seinen Gemälden; seine Muse war ein schaffender Geist, der Gestalten hervorruft und jedem Charakter mit Grazienhand das Seinige anweiset. Was Angelo und so viel andere den Alten schuldig sind, haben sie selbst bekannt; in glücklichen Zeiten der Kunst werden andere kommen [378] und neu erfinden. Der ideenbildende Geist ist nicht ausgestorben und kann nicht aussterben; in den griechischen Kunstwerken ist ein ewiger Same zu seiner Neubelebung.

71.

»Was in unserm Klima, in unsrer Verfassung uns die griechische Kunst solle,« fragen Sie, und ich antworte kurz: »Wir wollen nicht sie, sondern sie soll uns besitzen«; gerade das Gegenteil, was jener Grieche von sich in Ansehung der Laïs rühmte. Diese Laïs verführt nur schlechte Gemüter; die bessere wird sie als eine Aspasia bilden.

Wir wollen, meine ich, die griechische Kunst nicht besitzen, da so wenige nordische Seelen sie kaum fühlen. Die griechischen Kunstwerke selbst sind ja unserm unfreundlichen Klima fremde, und es daurete mich stets, wenn ich Schätze dieser Art nach Britannien hinübergeschifft sah. Ein Raub der Proserpina; wer wird sie in jenen plutonischen Hainen, wo sie unverstanden, zerstreut und verschlossen dastehn, suchen und von ihnen lernen? Lasset, ihr Weltüberwinder, den Raub Griechenlandes und Ägyptens ihrer alten Beherrscherin, dem milden und ewigen Rom, wo jedermann, dem das Glück den Weg dahin nicht versagte, um ein Nichts zu ihnen Zutritt findet. Sendet eure Künstler dahin, oder gewähret euch selbst ihren mildernden Anblick; nur machet sie nicht zu Boten unter den Völkern oder zu Hermessäulen auf euren glorreichen Wegen.

Die griechische Kunst, meine ich, soll uns besitzen, und zwar an Seele und Körper.

Allenthalben z.B. gingen die Völker bekleidet umher und schämeten sich des Gottgebildes, das sie verhüllten; die Griechen wagten es, den Menschen in der Herrlichkeit zu zeigen, die ihm Gott anschuf. Welcher Vater, welche Mutter wünschet sich nicht gesunde, wohlgestaltete Kinder? Wer erfreuet sich nicht an ihrem Anblick und fühlt seine Brust [379] erweilert, wenn er einen schamhaften Jüngling, eine züchtige Jungfrau siehet? In dieser Jugendkraft, die, von einer glücklichen Natur erzeuget, durch Mäßigkeit und Übung allein gedeihet, fühlt jedermann die Anlage zu einem tätigen, heitern Leben und bedauret die Gelegenheit, die ihm zu Ausbildung dieser Gestalt und Kräfte versagt ward. Wenn nun ein unfreundlicher Dämon uns die Brust zusammendrückte, sollten wir künftigen Geschlechtern nicht einen glücklichern Dämon gönnen? Und da vom Menschenschicksal viel, sehr viel in der Hand der Menschen, in ihrem Willen, in ihrer Verfassung und Einrichtung liegt, könnte uns zu Beförderung solcher Anstalten wohl ein Grönländer, der aus seiner Höhle gezogen ward, oder nicht vielmehr ein Grieche, der ein Mensch wie wir war und als ein Gottesbild dasteht, erwecken und reizen? –

An den Körpern betrachte man der Griechen Kleidung. Die unsre hat Penia, die Dürftigkeit, selbst erfunden und eine Megära des Luxus und der Unvernunft vollendet. Die Kleidung unsrer Weiber entsprang aus der armen Schürze, die man noch bei Negern und Wilden siehet. Als sie endlich rings die Lenden umgab, ward sie zu einem Rock, der aus drückender Armut kaum über dem Nabel den Unterleib zusammenschnürte. Jahrtausende hin haben diese schnürende Lendenschürzen fortgedauert, und um ihren Reichtum zu zeigen, legten manche nordische Volkstrachten sogar sieben dergleichen Lendenschürzen dick übereinander, daß das abenteuerliche Geschöpf dem Ansehen nach auf einer Tonne ruhen möchte. Man wagte es oft nicht, diese Schürze bis zu den Füßen hinab zu verlängern, geschweige, daß man sie zu einem Gewande zu erheben sieh getrauet hätte, und zeigte lieber seine ungestalten Glieder. Die Bekleidung des nordischen Weibes an der Brust entsprang aus einem Mieder, das man nach und nach mit mehreren Teilen zusammensetzte, woraus dann jener unselige Seiten- und Brustharnisch entstand, der tausend Müttern und Kindern ihre Wohlgestalt, ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Freuden an Muttergeschäften[380] gekostet hat und dennoch fortdauret. Da man einmal auf dem Wege der Mißgestalt war, so wurden mancherlei Kleidungen erdacht, um diese oder jene einzelne Mißgestalt zu verbergen, denen sodann unter dem Gesetz der Mode auch die blühendste Gestalt nachahmen mußte. Bei jeder unsinnigen Tracht nämlich kann man zeigen, welchem körperlichen Fehler zugut sie entstanden sei, so daß man fast auch keinen körperlichen Fehler gedenken kann, den unsre weibliche Tracht nicht verbergen möchte. »Bist du das alles?« sagte jene Griechin zu einem europäischen Reifrock; und was der Reifrock hätte antworten können, hat Lady Montague frei gesagt. Die männliche Kleidung der Europäer hat einen ebenso barbarischen Ursprung Zum Reiten sind wir da, das zeigt die Bekleidung unsrer Beine. Die übrigen Fetzen haben wir uns nach und nach, insonderheit der Taschen wegen, zugeleget und, als ob wir uns des Stranges unaufhörlich bewußt sein sollten, insonderheit unsern Hals jämmerlich zugeschnüret; eine Kleidung, in der wir allen Nationen der Erde lächerlich werden.

Da blicke man eine Muse, eine Juno, ja nur irgendeine bekleidete griechische Nymphe an und erröte. Man betrachte einen griechischen Mann, er sei Jüngling, Held oder Weiser, in seinem Gewande und sehe beschämt auf sich selber. Fühlten beide Geschlechter die Würde ihrer Körpergestalt und hielten ihre Zwecke für Pflicht, hätten sie sich diesen Fesseln barbarischer Dürftigkeit nicht längst entwunden?

Ohne Zweifel müssen Sie in Statuen sowohl als auf allen griechischen Denkmalen den bescheidenen und festen Stand, die ruhige Stellung der Personen beiderlei Geschlechts, die nicht Fechter oder Faunen sind, bemerkt haben; Winckelmann hat darüber seine für die Schönheit sehr empfindliche Seele reich ausgeschüttet und den zarten Gemütscharakter, den diese Ruhe verrät, unübertrefflich geschildert. Vergleichen Sie damit unsre alten Gemälde in spanischer Tracht mit ihrem Ritter- und Heldentritte oder alle jene gewohnten Gebärden, die uns das Etikett der Gesellschaft auflegt. Beide [381] Geschlechter haben in ihrer Kleidung fast keine natürliche Stellung mehr; Hände und Füße sind uns zur Last, und jene ruhige Innigkeit, die von keiner Repräsentation weiß, die auch in der Bewegung ganz für sich da ist, wir sehen sie kaum noch an einigen glücklichen Ausnahmen, in denen wir sieUnerzogenheit oder Naivetät zu nennen gewohnt sind. Und doch ist diese nüchterne Innigkeit die Grundlage aller wahren und ruhigen Besinnung im Menschen, so wie sie das Kennzeichen einer reinenUnbefangenheit, eines richtigen Gefühls, eines tieferen Mitgefühls, kurz, der einzigen und echten Humanität ist Wer in seinen Bewegungen zeigt, daß er nicht Zeit habe, zwei Augenblicke in sich selbst zu verweilen und ohne Rücksicht der Dinge, die außer ihm sind, sein Geschäft zu treiben, ist ein unreifes Geschöpf der Menschheit. Nur Antriebe von außen, Sturm und Zwang können ihm gebieten; er fühlet nichts von jener innern Seelenruhe, die auch im Gegengewicht und Kampf lebendiger Kräfte vermöge der Symmetrie und Eurhythmie des Körpers und der in ihn sanft ergossenen Seele auf sich selbst haftet.

Aber wie soll ich das freundliche Beisammensein der griechischen Körper und Seelen unter- und miteinander bezeichnen? jene Ruhe, mit der sie einander anschaun und hören? Die Überredung wohnet auf ihrer Lippe, ob man gleich kein Wort vernimmt; es ist ein gegenwärtiger Geist, der den Hörenden und Sprechenden bindet. Und wenn ihre Hände einander berühren, wenn dieser sanfte Arm auf der Schulter oder nur das Auge auf dem Anblick des andern ruhet: welche süße Harmonie, welche liebende Anhänglichkeit offenbaret sich zwischen beiden! Nie habe ich eine griechische Gruppe, man nenne sie Orest und Pylades oder Orest und Elektra, Biblis und Kaunus, Pätus und Arria, Amor und Psyche, oder wie man wolle, bemerket, ohne diese liebliche Zusammenstimmung zu fühlen, die beide zu einem vereinet. Nie habe ich in den wenigen Gemälden, die von ihnen übrig sind, oder in ihren zahlreichern Basreliefs eine griechische häusliche Gesellschaft gesehen, in welche nicht jener Geist der Ruhe ergossen [382] war, der unsern tumultvollen Kompositionen so oft fehlet. Raffael hatte von diesem Geist empfangen; Mengs hat ihn, wenn das antike Gemälde, in welchem sich Ganymedes dem Jupiter nahet, sein ist, sowohl in dem Annahen selbst als auf dem Munde des Vaters der Götter in dem ewig freundlichen Kuß ausgedrückt, mit dem er ihn aufnimmt. In allen Kompositionen der Angelika ist diese ihr eingeborne moralische Grazie der Charakter ihrer Menschen. Selbst der Wilde wird durch ihre Hand milde; ihre Jünglinge schweben wie Genien auf der Erde, nie war ihr Pinsel eine freche Gebärde zu schildern vermögend. Wie etwa ein schuldloser Geist sich menschliche Charaktere denken mag, so hat sie solche aus ihren Hüllen gezogen und mit einem schönen Verstande, der das Ganze aufs leiseste umfaßt und jeden Teil wie eine Blume entsprießen läßt, harmonisch sanft geordnet. Ein Engel gab ihr ihren Namen, und die Muse der Humanität ward ihre Schwester.

Meinen Sie noch, daß die Kunst der Griechen, ihrem Geiste nach, nicht für uns gehöre? Dem Worte selbst nach hätten Sie uns damit zu einer ewigen Barbarei verdammet.

Denn, um aller Musen willen, wozu lesen wir die Griechen? Ist's nicht, daß wir eben diesen zarten Keim der Humanität, der in ihren Schriften wie in ihrer Kunst liegt, nicht etwa nur gelehrt entfalten, sondern in uns, in das Herz unserer Jünglinge pflanzen? Wer in Homer, ja in allen Schriftstellern von echt griechischem Geist bis zu Plutarch und Longin hinab, bloß Griechisch lernet oder irgendeine Wissenschaft in ihnen bloß und allein mit nordischem Fleiße verfolgt, ohne den Geist ihrer Komposition, diese feine Blüte, mit innerer Zustimmung seines Herzens zu bemerken, der könnte, dünkt mich, an ihrer Statt Sinesen und Mogolen lesen.

[383] 72.

Der Schluß Ihres letzten Briefes scheint auf den alten Satz hinauszukommen, »daß für uns Menschen dasWahre, Gute und Schöne nur eins sei«. Sollte es nicht aber auch ein Wahres und Gutes ohne schöne Form geben, ja müßte sich nicht eben das höchste Wahre und Gute von aller Form entkleiden?

Die Griechen lebten im Jünglingsalter der Menschheit; bei ihnen lief oft die Einbildungskraft mit dem Verstande davon, oder wenigstens lief sie ihm voran und kleidete sinnlich ein, was doch allein für den Verstand gehöret. Schonend haben Sie die Mißbräuche verschwiegen, die von den Künsten des Schönen gemacht wurden und täglich noch gemacht werden. Ist's also nicht eine wohltätige Hand, die diese Dinge scheidet?

Wir Nordländer sind einmal nicht wie die Griechen organisieret; laßt jenen statt der Wahrheit eine Aphrodite auf ihrem Altar; unsre Wahrheit ist ein unsichtbarer Geist, unsre Moral eine Gesetzgeberin für alle reindenkende Wesen, in welcher Körperform diese auch erscheinen mögen. Sinnlichkeit schadet dem Verstande; durch seine Liebe zum Schönen ging Griechenland unter.

73.

Und wodurch gingen denn so viele Barbaren unter? Durch Unverstand und Tollkühnheit, durch eine erschlaffende Üppigkeit, die ohne alle Empfindung des Schönen war, oder durch sklavische Trägheit. Also lassen Sie uns die Schicksale der Völker, die im Wurf der Zeiten von so mancherlei Umständen bestimmt werden, nicht in unsre Frage mischen. Mißbrauch bleibt überall Mißbrauch, Laster allenthalben Laster, unter welcher Larve es auch erscheine.

Auch reden wir nicht von einer Sinnlichkeit, die dem Verstande entgegengesetzt wäre. Eine solche sollten wir nicht kennen, sowenig uns ein Verstand ohne Sinnlichkeit und eine Moral völlig reiner Geister bekannt ist.

[384] Nach meiner Philosophie erweisen sich alle Naturkräfte, die wir kennen, in Organen; je edler die Kraft, desto feiner ist das Organ ihrer Wirkung. Körperlose Geister sind mir unbekannt. Außer der Menschheit kenne ich überhaupt keine vernünftige Wesen, deren Denkart ich erforschen könnte; ich schließe mich also in meinen engen Kreis, ich wickle mich in den armen Mantel meines irdischen Daseins.

Und in diesem finde ich durchaus keine formlose Güte und Wahrheit. Ich spreche nicht von Wortformen, die als bloße Mittel des Empfängnisses und Ausdrucks unsrer Gedanken ganz an ihrem Ort bleiben; ich rede nicht von Grundsätzen; die als Grundsätze freilich nicht dargestellt werden können; sondern von Gegenständen und Sachen, von der Natur unser selbst und der Dinge, die uns umgeben. Jede Wahrheit, die aus diesen abgezogen ward, muß auf sie zurückgeführt werden können, und eine Menschenmoral kann sich nicht anders als in menschlichen Gesinnungen, Neigungen, Handlungen äußern. Mithin hat alles Form und Weise; eine Form, die erkannt, eine Weise, die sichtbar gemacht werden kann und muß.

Und diese Form des Wahren und Guten (verzeihen Sie meine Unphilosophie) ist Schönheit. Je reiner sie erscheint, je lebendiger in ihr Erkenntnis und Güte ausgedrückt sind, desto mehr behauptet sie ihren Namen und übt ihre Kraft auf menschliche Gemüter und Organe. Wie das heilige Wort Güte und Schönheit (καλον καγαϑον) vom Pöbel gemißbraucht werde, darf und muß uns nicht irren; denn wer legte uns die verwirrte Sprache des Pöbels zum Gesetz auf? Es gibt aber keine häßliche Wahrheit, sowenig es ein häßlich Gutes geben kann: dem Erkennenden sowohl als dem Ausübenden sind beide von der höchsten Schönheit.

Lassen Sie uns z.B. bei der Moral bleiben. Ihr Grund liegt im Verstande und Herzen des Menschen;im wesentlichen ist er auch von allen Völkern anerkannt; die Griechen aber haben ihren höchsten Grundsatz der Sprache nach schön ausgebildet. So verschieden ihre Philosophen sich ausdrückten, so war ihnen allen Tugend das höchste Geziemende der [385] Menschheit in Gesinnungen, Handlungen und der ganzen Lebensweise, kurz, das Sittlich-Schöne. Plato suchte es in ewigen Ideen, Aristoteles als die feinste Mitte zwischen zwei Extremen, die stoische Schule als das höchste Gesetz aller Vernünftigen in einer großen Stadt Gottes; alle aber kamen darin überein, daß es ein καλον ein πρεπον das höchste Anständige der menschlichen Natur sei.

Dies Anständige nun hat keinen Maßstab von außen; durch politische Gesetze kann mir die reine Gemütstugend nicht aufgelegt werden; auch die Meinungen andrer erkennet sie als ihr Gesetz nicht. Noch weniger die Bequemlichkeit, den Nutzen, die Eitelkeit des Artigen von innen und außen; äußerst mißverstanden sind Griechen und Römer, wenn man ihr honestum, ihr pulcrum et decens dahin erniedrigt. In jedem zweifelhaften, schweren Fall setzten sie es dem Nutzen, der Bequemlichkeit, der äußerlichen Ehre und Schande gerade entgegen; Arbeiten und Mühe, Marter und Tod wähleten sie für diese schöne Braut, den höchsten Kampfpreis des Lebens, das rectissimum, optimum, die Tugend.

Und mich dünkt, dies höchste Anständige der Menschheit enthalte sowohl die schärfste Bestimmung als den innigsten Reiz der Tugend. In ihr befolge ich nämlich nicht sowohl ein Gesetz, das ich mir selbst aufgelegt habe oder als Gesetzgeber allen vernünftigen Wesen auflege. In der stolzen Monarchie mein selbst verwechseln sich oft Gebieter und Sklave; einer betrügt den andern; dieser sträubt sich, jener brüstet sich; und überhaupt ist ein Gesetz als Gesetz ohne Reiz und inneres Leben. Das mir selbst, das derMenschheit Anständige reizt; es reizt unaufhörlich als ein nie ganz zu erringender Kampfpreis, als meiner innern und äußern Natur, als meines ganzen Geschlechts höchste Blüte. Wer dafür keinen Sinn hätte, der würde sich zwar selbst nicht verachten; er bliebe aber eben dadurch ein Unmensch, weil ihm dies Anständige, diese innere Wohlgestalt, das Gefühl und Bestreben des honesti fehlte. Er ist (in der Sprache der Griechen zu reden) ein Tier oder Halbtier, ein Kentaur, ein Satyr.

[386]

In der Menschheit hat dies Ideal des moralischen Anstandes so viele Stufen der Annäherung, daß es nicht etwa nur Gesinnungen für sich und die Seinen, sondern Vaterland und zuletzt die ganze Menschheit unter sich begreifet. Der wäre der Edelste und Schönste, der mit den größesten Gefahren, der schwersten Mühe, der langsamsten Aufopferung sein selbst nicht Freunde, nicht Kinder, nicht das Vaterland allein, sondern die gesamte Menschheit zu dieser innern süßen Würde, dem lebendigsten Gefühl des honesti jeder Art, mithin zum endlosen Bestreben nach der reinsten Menschenform heben könnte. Hier höret Despot und Sklave völlig auf; auch wenn ich mir gebiete, bin ich unter dem Evangelium, in einem Wettkampfliberaler Übung. Wenn ich das Schwerste und Größeste getan hätte, habe ich nichts getan; ich weiß nicht, daß ich es getan habe; aber dem Ziel fühle ich mich näher, ein Retter, ein Erhöher der Menschheit in mir und andern zu werden aus innerer Lust und Neigung. Sie sehen, in welchen unendlichen Plan diese Idee des Moralisch-Schönen (καλον καγαϑον) gehöret.

»Die Erziehung der Alten,« sagt Winckelmann, 67 »war der unsrigen sehr entgegengesetzt. Bei ihnen in ihren besten Zeiten wurden nur heroische Tugenden geschätzt, diejenigen nämlich, welche die menschliche Würdigkeit erheben, da andere hingegen, durch wel che unsre Begriffe sinken und sich erniedrigen, nicht gelehret noch gesuchet, viel weniger auf öffentlichen Denkmalen vorgestellt wurden. Jene Erziehung war bedacht, das Herz und den Geist empfindlich zu machen für die wahre Ehre, die Jugend zu einer männlichen großmütigen Tugend zu gewöhnen, welche alle kleine Absichten, ja das Leben selbst verachtete, wenn eine Unternehmung der Größe ihrer Denkungsart nicht gemäß ausfiel. Bei uns wird die edle Ehrbegierde ersticket und der tumme Stolz genähret.«

[387] 74.

Wie wäre es, wenn ich Ihren Gang in Arkadien unter den Kunstgebilden der Griechen mit einigen Stimmen der griechischen Muse begleitete? Sie zeigen wenigstens, daß das Menschengefühl, das Werke der Kunst schuf, sie auch ansah, daß man den milden Sinn des Künstlers zu erfassen und auszudrücken strebte.

Die »Griechische Anthologie« gibt uns hiezu mehr als einen Wink, und Heyne hat in ein paar Vorlesungen diese gesammlet. 68

Der stolzen Juno bat wahrscheinlich ein griechisches Epigramm ihren Todfeind, den Herkules, an die Brust gelegt. 69 Der Dichter fand, daß die marmorne Brust, dem Kinde die Milch versagend, die Brust einer Stiefmutter, einer Juno sein müßte – nicht ohne Grund. Diese zarte Pflicht mütterlicher Liebe gehört wirklich mehr für den Pinsel des Malers als für den harten Marmor.

Kräftiger druckten die Griechen die mütterliche Liebe im Kampf der Leidenschaft aus. Wie jene Henne, die, von Schnee und Kälte erstarret, auch im Tode noch das Nest ihrer Geliebten deckt und es vor dem Tode beschirmt, 70 so stehet in der Kunst die für alle ihre Kinder leidende Niobe da, und die Stimme der Musen bezeichnet das Ideal der mütterlichen Heroide:


[388] Schau das lebendige Bild der unglückseligen Mutter;
Noch im Tode beweint ihre Geliebtesten sie
Mit unhörbarer Klage; sie steht erstarret Der Künstler
Bildete sie, wie im Schmerz lebend zum Felsen sie ward.

Und da die Bildsäule der Mutter mit denen um sie getöteten Kindern einen entfernten Anblick foderte, so sprach der Dichter:


Stehe von fern und wein, anschauender Wanderer. Tausend
Schmerzen zeigen sich hier, die ein unglückliches Wort
Dieser Mutter gebracht. Zwölf Kinder, Brüder und Schwestern,
Liegen von Artemis' Pfeil, liegen von Cynthius' Pfeil
Schon danieder; die andern ereilt ihr Köcher. Es ächzet
Sipylus dort auf der Höh. Schaue, die Mutter erstarrt.

In einem andern Epigramm hebet sie die Hände empor; es löset sich ihr Haar; seufzend schauet sie umher; dieser Tochter schlägt das Herz in der Angst des Todes, jene schmieget sich sterbend an sie, eine andre ist schon erblaßt. So ihre Söhne; Gram folget der Mutter ins Totenreich nach. – Eine andre Stimme bringt der Erstarrenden die Nachricht vom Tode ihrer Kinder. 71 Kurz, Niobe steht im Namen aller Unglücklichen da, die je ein blühendes Geschlecht beweinten. Wie manche Töne der Vater- und Mutterliebe kommen uns hierüber aus der Anthologie wieder, wenn wir wie z.B. dort auf der Mnasylla Grabe die Tochter im Arm der Mutter verscheiden sehen 72 und sonst in mancherlei Art Denkmale der Liebe auf den Grüften der Gestorbenen erblicken. Sooft mir das bekannte Bild erscheinet, da Merkur eine schüchterne Seele dem gütigen Pluto und der Proserpina darstellt, höre ich jene fragende Stimme:


»Du, der Proserpina Bote, wer ist es, den du, o Hermes,
Schon so frühe dem Reich dunkeler Schatten gesellst?«
[389] ›Jener Ariston ist's von sieben Jahren. Du siehest
Zwischen den Eltern ihn dort stehen im traurigen Mal.‹
Tränenliebender Pluto; dir reift ja alles, was atmet;
Und du mähest die Frucht früh in der Blume dir schon?

Um den Schmerz der Mutterliebe zu hören, lesen Sie der Hekuba, Prokne, der Andromache Klagen; hören Sie, wie, von den Stürmen des Meeres umhergetrieben, die Danae ruft: 73


Als um die kunstgezimmerte Kiste
Brauste der Wind und das wogige Meer,
Da sank erstarret vor Schrecken
Der Mutter das Herz. Mit tränenbedeckter Wange
Schlang sie um Perseus ihren liebenden Arm und sprach:
»O Kind, was leid ich um dich!
Und du schlummerst mit deinem unschuldigen Herzen
In dieser grausen, erzumklammerten, nächtlichen Wohnung,
In schwarzer Finsternis so sanft.
Der Welle, die um dein weiches Haupthaar schlägt,
Und der Winde Sausen achtest du nicht,
Da, im Purpurkleide verhüllet,
Dein schönes Antlitz ruht.
Gewiß, wenn dieses Erschreckliche
Dir schrecklich wäre, du vernähmst
Von meinen Klagen ein kleines Wort.
Doch schlafe sanft, mein Kind!
Schlaf auch das Meer, mein unermeßliches Unglück schlafe.
Vereitle, Vater Zeus, der strafenden Eltern Rat –
Und sprach ich jetzt ein zu verwegnes Wort,
Verzeih, um dieses deines Kindes willen verzeih.«

Sie erinnern sich jenes stürzenden Gipfels, der ein schlafendes Kind nicht trifft, weil auch der harte Stein den [390] Schmerz der Mutter fühlte. 74 Sie erinnern sich der Mutter, die ihr Kind vom Rande des Abgrundes mit ihrer Mutterbrust hinweglockt und ihm zum zweitenmal das Leben schenket. 75 Diese und so manche andre Stimmen der Mutterliebe erklären uns die heilige Innigkeit, die um alle Gebilde des Altertums in dieser Gattung schwebet.

Der höchste Triumph der Kunst im Ausdruck die ser Empfindung erscheint endlich im Bilde der Medea, der Kindesmörderin selbst. Den Streit der wütenden Eifersucht mit der mütterlichen Liebe wußte Timomachus so sichtbar zu machen, daß man sah, sie wolle töten und retten. Im drohenden Auge hing eine Träne, in ihr Erbarmen war Zorn gemischt; sie zögert, zur Tat zu schreiten; »gnug,« sagte zum Künstler der Weise,


Gnug die Zögerung, gnug! Der Kinder Blut zu vergießen
Ziemet Medeens nur, nicht des Timomachus Hand.

Was hier der Weise sprach, sagte das edlere Menschengefühl dem Künstler selbst. Eine Reihe von Sinngedichten preisen diese seine Schonung; 76 andre stellen das Bild der Medea als ein Schreckbild vor, an welchem auch die Schwalbe nicht nisten sollte. 77


Athamas zürnete selbst nicht seinem Sohne Learchus
Wie Medea; sie ward Mörderin ihres Geschlechts.
Eifersucht ist ärger als Wut. Vermag eine Mutter
Kinder zu morden; oh, wem sollen sich Kinder vertraun?

Wer, wenn er dergleichen Anwendungen der griechischen Kunst lieset, wird nicht mit Freude fühlen, daß Menschen sie für Menschen geübt haben?

[391] 75.

Reizend wie die Kunst der Griechen, wenn sie dieKindesjahre darstellt, ist auch die Stimme der Musen, die sie erkläret. Gehen Sie alle Tändeleien durch, in welche Dichter und Künstler den kleinen Gott gesetzt haben, und nehmen ihm die Flügel, so sind es gewöhnliche Kinder- und Knabenspiele, womit er sich belustigt.

Was ist holdseliger als ein schlafendes Kind? Die Kunst und das Epigramm erfreuete sich also sehr am schlummernden Amor. »Man solle ihm nicht nahen,« sprach diese; »auch im Schlafe traue man ihm nicht.« Oder er wird im Schlummer gefesselt, seine Pfeile werden ihm genommen; seine Fackel wird in eine Quelle getaucht, damit sie erlösche; und es erglüht die Welle, sie wird ein Lustbad der Liebe.

Was ist Kindern erfreulicher, als mit Pfeil und Bogen zu spielen, sich zu kränzen, Blumen zu brechen, Schmetterlinge zu verfolgen, wohl auch zu quälen; mit dem Schwan, der Gans, der Taube zu tändeln, auf jedem Lebendigen zu reiten, sich in die Kleider, in den Waffenschmuck der Erwachsnen zu setzen, sich zu verstecken und finden zu lassen, einander zu erschrecken, sich zu maskieren. – Lauter Spiele des Amors, in Kunst und Dichtkunst, mit immer neuer Veränderung und Bedeutung. In Spielen der Kinder und einer Mutter mit Kindern ist Amors ganzes Reich, seine Scherze und Unfälle, seine Begegnisse mit Paphia, mit der Psyche, mit Herkules, mit dem Löwen, der Biene, den Kränzen u.f., uns vor Augen; alle mit zartem Kindessinn gedacht und mit griechischer Lieblichkeit angewendet. Aus dem einzigen Wort Psyche, das den Schmetterling und die Seele bedeutet, sind hundert sinnreiche Anwendungen in Kunst und Dichtkunst entsprossen, deren eine die andre erklärt hat. Wenn Amor und Psyche beide als Kinder einander küssen, meint man nicht, in diesem Augenblick, im ersten Gefühl ihrer unschuldigen Liebe sproßten beiden die Flügel? So wenn Psyche den Amor flehet, wenn er sie peiniget oder tröstet. – Glaube man doch nicht, [392] daß Apuleius diese Fabel ersonnen habe; sie war lange vor ihm da in Denkmalen, die sein Zeitalter nicht bilden konnte, ja selbst in der Sprache. Er tat nichts, als die einzelnen Auftritte zu einem Märchen dichten und dazu auf eine sehr afrikanische, der Venus unanständige Weise. Selbst die Symbole beider Personen, den Schmetterling und die Fackel, hatte die Dichtkunst vielfach angewandt; Liebenden ließ sie die Fackel Amors bis in die Unterwelt leuchten.

Die Schönheit der Jünglinge in der Kunst hat die griechische Poesie ebenso süß begleitet. Ich darf Sie nicht an die zwei Oden Anakreons erinnern, die Franz Junius für die Kunst kommentiert hat; in Dichtern und Weltweisen, von Plato bis zu Plutarch, von Homer bis zum letzten Romanschreiber der Griechen wird dieser Jugendblüte der Schönheit wie auf einem Altar der Grazie geopfert. Der Kuß jenes jüngern Plato, in welchem seine Seele ihm auf den Lippen schwebte, hauchet noch; sein geliebter Stern (αστηρ), den er mit tausend Augen anzusehen wünschte, glänzet noch unter den Sternen. So mehrere Gedichte Meleagers, und o wäre die Stimme der Lyra nicht verhallet, die diese Blume der Menschheit mit höchstem Wohlgefallen pries! Die griechische Sprache hat in Bezeichnung der Jugendgrazie einen anerkannten Reichtum an Ausdrücken, unter andern auch deswegen, weil diese meistens auf die Kunst anspielen. Die Kunst machte ihre Begriffe klar und gab ihren Empfindungen die Gestalt der Worte Unter andern z.B. finde ich, daß die Jungfräulichkeit des Jünglinges, die holde Scham auf seinem Gesicht, in seinem Anstande und in seinen Sitten ebensohoch von der Muse gepriesen ward, als die Kunst sie fein ausdrückte. Beide bemerkten die zarte Blüte des Lebens, in der sieh die Geschlechter gleichsam trennen wollen und doch noch zusammenwohnen (ein Punkt, der von den Neuern sehr mißverstanden ist und den auch die spätere Kunst vielleicht zu üppig ausgebildet), als den wahren Reiz der Schönheit. Kein Jüngling, dünkt mich, kann einen dieser Jünglinge anschaun, ohne daß die heilige Scham sich sanft auf seine [393] Stirn senke und jeden Frevel, jede Frechheit von ihm verscheuche.

Fügen wir hiezu die Stimme der Musen, die das Gefühl der Freundschaft, der Schwester– und Bruderliebe, der Pietät gegen Eltern, gegen Wohltäter des Menschengeschlechts, gegen Götter und Helden singet; hören wir bei dem Dichter die Klagen Achills um seinen Patroklus, der Elektra um ihren Orest, der Antigone um ihren Bruder Polynikes; hören wir den Priamus um die Leiche seines Sohnes bitten, den Ajax sein nachbleibendes Kind segnen; begleiten wir bei Euripides die jungfräuliche Iphigenia zum Opferaltar, die Polyxena zu Achills Grabe und sehen jene den Orest wiedererkennen am Altar der Diana und hören Hippolytus' Klagen über die Liebe seiner Mutter u.f. – so schließt sich uns das Herz auf zu diesen edeln Gestalten, auch wenn sie in der Kunst erscheinen. Wir verstehen die Sprache, die um Orest und Pylades, um Iphigeniens und Hippolytus' stumme Lippen schwebet; wir begreifen die seelenvolle Einfalt, die uns in jeder griechischen Gruppe, bei jedem friedlichen Zusammensein mehrerer Personen innig vergnüget. Wir verstehen die Trunkenheit des Danks im Haupt der Ariadne, die Scham in der Andromeda, die vom Felsen niedersteiget, im Antlitz der wiedererkennenden Iphigenia Wut, Erbarmen und zärtliche Erinnerung wunderbar gemischt, und lesen, wie der Dichter sagt, den ganzen Trojanischen Krieg in der Polyxena Augen. 78 Ohne jene erklärende Stimme der Dichtkunst würden uns die Kunstgestalten der Griechen vielleicht Wundererscheinungen sein; jetzt werden sie unserm Herzen innig zusprechende Freunde.

[394] Da endlich die höchste Blüte der schönen Gestalten Griechenlands eine Heldentugend in jeder Art und in beiderlei Geschlecht war, so wird hierüber die Stimme der Musen gleichsam ein fortgehender Hymnus. Von jener Vorstellung an, da die Nymphe den Jupiter als Kind tränket, bis zur Erziehung Achills bei seinem freundlichen Centaurus, vom Herkules, der in der Wiege die Schlangen erdrückt, durch alle Gefahren hin, bis er zum Olymp und zum Besitz der Hebe gelanget, stehen Helden und Heldinnen, Ringer, Kämpfer, Wetteiferer um den Ruhm eines großen Verdienstes für ihr Vaterland, für ihre Freunde und Gesellen in Stellungen vor uns, wie sie die Muse verkündigt und ihnen den Kranz der Unsterblichkeit darreicht. Ohne dieses Gefühl der Ehre wären keine schöne griechische Körper und Seelen, keine Helden und Götter, auch keine Kunst, die sie würdig darstellete, entstanden; denn auch die griechischen Götter und Göttinnen sind Helden der Tugend, d.i. einer Virtuosität, jeder in seiner Art. So preisen sie die Hymnen: den Zeus als den Mächtigsten und Besten, dem Themis zur Seite sitzt und mit ihm weise Gespräche pfleget; die Pallas, aus seinem Haupte geboren, als eine Beschützerin der Städte, die Meisterin des Krieges, die Erfinderin der schönen Künste des Friedens; so den Hephästus, der den Sterblichen die nützlichsten Werkzeuge und Gaben geschenkt hat; Hermes und Vesta, die Wächter des Hauses; Bacchus und Apollo, die Ideale griechischer Heldenjugend in zwo verschiedenen Gestalten; samt der Artemis, Demeter, Aphrodite, selbst Ares und Here. Alle sind Ideale der Werktätigkeit undVollkommenheit in einer gewissen Art und als solche Vorbilder der Menschen. Der Hymnus des Homeriden an Apollo ist der glorreichste Kommentar des Gedankens, der den Künstler bei der Darstellung des Gottes belebte; so in verschiednen Stufen die andern Homerischen Hymnen. Die Weihgesänge des Orpheus und Proklus verdunkeln oft die Gestalt des Gottes und verhüllen sie in einen heiligen mystischen Nebel. Aber Homer und Pindar, die tragischen Chöre und jeder Laut einer ältern [395] Stimme simplifiziert die Gestalt und kommt der Kunst nahe. Alle zeigen, der höchste Kampfpreis der Griechen sei in den frühesten Zeiten Männlichkeit (Tugend), in den spätern Nutzbarkeit fürs gemeine Beste, schöner Wohlstand und die Blüte eines unsterblichen Ruhmes gewesen. In solcher Rücksicht schaue man Götter und Menschen an; sie ermuntern uns alle, unsre Tage nicht in üppiger Trägheit langsam zu verdauen, sondern, worin es sei, nach dem edelsten, höchsten Kranz in einem bestimmten und vollendeten Charakter zu streben. Kräftiger kann dies schwerlich gesagt werden, als es uns die Bildsäulen und Denkmale der Götter und Helden, der Dichter und Weisen von Theseus bis zu Antonins Zeiten hinab, begleitet von der Stimme der Musen, sagen. Sei deine äußre Gestalt dem Gott und Helden unähnlich, dein Gemüt darf es im Besten ihres Charakters nicht sein; denn dies Beste ist in jedem ihrer edlen Geschäfte Virtuosität, Tugend.

76.

Die bestimmte und schone Art, wie die griechische Kunst in menschlichen Charakteren die Form von der Unform trennte und diese in Regeln einschloß, ist ein Meisterwerk ihres sondernden Verstandes. Daher, daß wir so wenig Porträte und so viel Ideale der ältern griechischen Kunst sehen; daher, daß auch in ihren Ungeheuern und verworfenen Gestalten so viel Bedeutung wohnet. Ihr Volk der Satyren hat mich nie erschreckt; Gestalten dieser Art gehörten dahin, wo sie standen, und zeigten an, daß auch unter dem ländlichen Volk Freude herrschen sollte. Wo diese verstummt, wo kein Pan und Satyr die Flöte bläset, keine Nymphen im Hain und auf den Wiesen ländliche Feste feiern, da stehen freilich sowohl die Satyren als die Götter und Helden am unrechten Ort; sie sind bedeutungslose Götzenbilder.

Aber auch darin muß der schöne Verstand der Griechen gepriesen werden, wie sie die Denkmale der Götter gesellten.

[396] Oft standen die verschiedensten nebeneinander, und einer milderte des andern Bedeutung; die Überschrift bemerkte dieses. So fügte die Kunst nicht etwa nur den Mars und die Venus, Vulkan und Pallas, sondern auch Bacchus und Pallas, Bacchus und Herkules, die Hoffnung und die Nemesis, Vergessen und Erinnerung und so manche andre Dinge zusammen, die sich einander gleichsam beschränkten oder belehrten. Ein angenehmer Lustweg wäre es, den Pausanias und die griechischen Dichter in dieser Absicht zu durchwandeln; denn was die Allegorie der Griechen eben so schön macht, ist ihre holde, ich möchte sagen, wahre Einfalt. Nie wollte sie zuviel sagen; sie ward nur gebraucht, wohin sie gehörte, wo man durch sie sprechen mußte. Nach Gelehrsamkeit strebte sie nur in den schlechtern Zeiten; was sie aber sagte, deutete sie so an, daß, wenn man das Bild auch nicht verstand, man doch ein schönes Bild sah und von der Vorstellung selbst geneigt gemacht wurde, ihr einen Sinn anzudichten. Ein Vorzug, den wenige neue Allegorien erreichen.

Aber es kam die Zeit, da dieser schöne Kunstsinn untergehen und eine gedrückte, mystische Vorstellungsart die Gemüter der Menschen benebeln sollte. Lange barbarische Jahrhunderte hindurch waren dem Schmetterlinge die Flügel genommen; er kroch als Raupe daher oder lag eingesponnen in rauhen Windeln. Als er wieder erwachte, zeigte sich (wir wollen es nicht verhohlen) eine neue, sittlichere Kunstgestalt, von welcher in manchem Betracht die Griechen nicht wußten. Das weibliche Geschlecht, das bei ihnen in Gynäzeen eingeschlossen war und, wenige Fälle ausgenommen, nur in Gestalt der Göttinnen und Amazonen, der Musen und Nymphen der bildenden Kunst einverleibt werden konnte (von den griechischen Gemälden können wir nicht urteilen), dies Geschlecht hatte durch das Zusammentreffen christlicher und nordischer Sitten gleichsam einen öffentlichen Charakter und mit diesem eine sittliche Bildung erhalten, von der vielleicht die Griechen nicht wußten. Ich möchte sie die christliche Grazie (Carità) nennen, die, nachdem sie in den Lobgesängen [397] auf die heilige Jungfrau lange gepriesen war, auch auf ihre Nachbilder überging und in den Gesängen der Trobadoren zuerst jene züchtige Anmut schuf, in der sich Religion, Liebe und häusliche Sittsamkeit wie drei Huldgöttinnen zusammengesellten. Diese christliche Grazie ist es, die zuerst in den Bildern der Maria erschien, aus ihnen sodann in die Gesänge der Dichter überging und von den Zeiten der wiederauflebenden Kunst die Kompositionen der Neuern mit einem eignen Geist durchhauchte. Gewiß hatte die Welt während der barbarischen Jahrhunderte nicht geschlafen; Völker, Sitten, Ideen hatten sich mannigfaltig gemischt und geläutert; von diesem vielleicht etwas dumpfen, aber nicht verwerflichen Geschmack zeugt schon die ältere florentinische Schule. Raffael klärte ihn durch Formen der Alten, ganz in eigner Weise, auf; andre Glückliche folgten. Selbst die Übertreibungen des Giulio Romano und mehrerer seinesgleichen zeigen in ihrer Trunkenheit einen Reichtum neuer Begriffe, obwohl ohne Maß und Ziel; einige neu erfundene Gehülfskünste gaben ohnedies dem Ganzen eine andre Ansicht. Welch ein schöner, fast noch unberührter Kranz blühet für den, der Raffaels Genius in seiner eignen holdseligen Gestalt durch alle seine Werke verfolgen und aufs bestimmteste zeigen wird, was er gegen die Alten sei. Eben dieser Genius wird ihn notwendig vor- und einige Schritte rückwärts führen. In Ansehung der Humanität taucht er damit in ein weites, hie und da kaum zu berührendes Meer.

Wo stehen wir jetzt mit unserm Kunstgeschmack? – »Neulich,« sagt Petron, »ist jene windige und enorme Schwatzhaftigkeit aus Asien nach Athen gewandert und hat die Gemüter der Jünglinge, die nach etwas Großem streben, mit dem Hauch der Pestilenz vergiftet. Das Richtmaß der Beredsamkeit ist verfälscht, die wahre Beredsamkeit ist verstummet. Wer hat sich seitdem zur Höhe des Thukydides, wer zum Ruhm des Hyperides erhoben? Kein Gedicht sogar hat mit gesunder Farbe hervorgeglänzt; alles ist von demselben Brei genährt und kann zu einem rühmlichen grauen [398] Alter nicht gedeihen. Auch die Malerei hat keinen andern Ausgang haben können, seitdem die Keckheit der Ägypter ein Kompendium dieser so großen Kunst erfand.« Petron ist ein Prophet für alle Zeitalter; die Kompendienkunst unsrer Ägypter liegt vor uns. Ein andermal davon mehr.

77.

Bei unsrer weitverbreiteten deutschen Sprache, die auch in fernen Ländern gesprochen und geschrieben wird, kommen nicht selten kleine Schriften zum Vorschein, die einer allgemeinen Aufmerksamkeit und Teilnehmung wert wären. Aus Dänemark, Preußen, Polen, Kur– und Livland, wohl gar aus Amerika wären dergleichen zu nennen; jetzt werde ich Ihnen aus einer kleinen Schrift:


»Bonhommien, geschrieben bei Eröffnung der neuerbauten

... schen Stadtbibliothek,«


einige schöne Gedanken auszeichnen. Damit mich aber nicht eine Jugendliebe zu der Stadt, für die die Schrift zunächst geschrieben ist, angenehm täusche, will ich ihren Namen nur ans Ende versparen und bloß das Allgemeinnützliche bemerken.

Der Verfasser fängt, wie es sein muß, von den Grundfesten seiner Stadt,


den bürgerlichen Tugenden,


an. »Ehrenbenennungen,« sagt er, »welche Betriebsamkeit, Mäßigung, Liebe zur Ordnung andeuten, die gebet dem Städter. Sie erinnern ihn an Tugenden, auf welche sein Wohlstand gegründet ist. Ein Gewerbe, das ohne diese Stadttugenden durch blindes Glück, durch träge Schlauigkeit getrieben werden könnte, ist nicht das unsrige.

Sie glänzen nicht, diese Tugenden, aber sie wärmen. Sie erhalten die Gemüter ruhig; die Neigung zu städtischen Gewerben [399] und Beschäftigungen wird dadurch gestärket, so wie die Sucht nach äußern Vorzügen diese Gewerbe verleidet. In Städten ist eine Ehre, die Regierungen nicht geben, nicht nehmen können.Wohlstand ist das Wort für Städte. Man denkt sieh dabei Mittel und Genuß häuslicher Glückseligkeit.Wohlerworben zu haben ist hier das gute Äquivalent von dem Wohlgeborensein des ersten Standes, dessen edelster Vorzug es ist, den zweiten zu beschützen. Jene heroische Zeit verlangte Aufopferungen; Armut, Entbehrungen waren damals auch Bürgertugenden. Sie sind es nicht mehr. Die Anmutungen an den Stadtbürger sind jetzt: er soll erwerben, soll das Erworbene genießen; aber zu einem festen Wohlstande ist nur durch Rechtschaffenheit und Betriebsamkeit zu gelangen.

Zu diesen Bürgertugenden Anleitung geben, das ist in der Macht der Regierung, und es tut dem Herzen wohl, bei Eindringung in den Geist einer Verfassung auf Anleitungen und Antriebe zu ihnen zu treffen. Bei neuen Einrichtungen ist insonderheit daran gelegen, den Geist davon gleich richtig aufzufassen. Dieser erkannte Sinn der Gesetzgebung, in Blut und Saft verwandelt, geht sodann in gute Grundsätze über, die zu Aufrechthaltung der öffentlichen Glückseligkeit so kräftig mitwirken. Der gute Geist ist in einer Gemeine leicht zu erhalten, wo derselbe bereits lange gewaltet hat.«

Diese Grundsätze, denen der Verfasser viel Lokalinteresse einstreuet, führen ihn bei seiner neuerrichteten Bibliothek zum großen Hauptsatz:


»Praktische sittliche Aufklärung ist gute Volkserziehung.«


»Die Bücher in der alten Stadtbibliothek,« sagt er, »waren größtenteils aus den aufgehobnen Klöstern gesammlet; und so standen nun hier, wie vormals in Zellen, dicke Mönchsgelehrsamkeit in Tierhäuten, seltene Bibelausgaben an Ketten, alles ungelesen, in lichtscheuen Gemächern.

Religion und Gelehrsamkeit wohnten unter einem friedlichen Dache; sie gingen aber nicht Hand in Hand, sondern [400] eine jede dieser ernsten Bewohnerinnen ging für sich ihren einsamen dunkeln Pfad. Die Diener der Religion waren Sammler und Bewahrer der zu einer künftigen Anwendung modernden Schätze der Weisheit. Überhaupt hätte die Religion der Christen, deren praktische Lehren im Testament für diese so klar sind, den Aufwand von Gelehrsamkeit auch entbehren können. Sie behielt aber nicht lange ihre edle Einfalt; es entstand die Wissenschaft, Theologie genannt, die von gelehrten Zusätzen wie von frommen Täuschungen durch alle neue Kraft noch nicht hat gereinigt werden können.

Diese Religion, welche geoffenbarte Vernunft und die reinste Moral ist, würde mit sittlicher Aufklärung zugleich hieher gekommen sein, wenn sie nicht bereits in Süden im Grunde verdorben gewesen wäre, wie sie von da nach dem treuherzigen Norden kam.« (Hier gehet der Verfasser die nähern Umstände dieser Ankunft durch.) »Die Religion also, welche Schützerin der Menschheit sein sollte, trat diese mit herrschsüchtigen Füßen; sie predigte nicht mehr Würde der Menschen, die Quelle aller Moral, sondern Erniedrigung. Sie führte Leibeigentum ein und hob jedes andre Eigentum auf; sie herrschte, statt durch Beispiel gehorchen zu lernen.« – Der Verfasser verfolgt das daher mehr noch im Frieden als im Kriege bewirkte Sittenverderbnis und fährt edel fort:

»Wir wollen diese Mißgeburten der Zeit nehmen, wie sie damals nach den Meinungen und der Denkungsart der Menschen darin geformt werden konnten. Wir würden in derselben Lage dasselbe Gepräge angenommen haben. Laßt uns aber auch mit derselben Billigkeit das gute, durch Religion nicht belehrte, sondern unterjochte Volk behandeln. Es war von Natur nicht unfähig zum Guten; denn es war schon auf dem letzten Grade der Kultur der bürgerlichen Gesellschaft; es trieb Ackerbau, es lebte in Dörfern. Als es aber durch seinen Unglauben Freiheit und Eigentum verwirkt haben sollte, als Dörfer zu Hoffeldern gemacht wurden und der Sauerteig der Sklaverei jahrhundertelang in seinem Eingeweide gewütet hatte, da – verlangte es selbst nichts mehr als[401]Brot undRuten von seiner Herrschaft. Es verlangte nicht Freiheit.

Wie ist denn ein Volk zu zwingen, glücklicher zu sein, als es selbst sein will? Zwang und Furcht sind Polizeimittel. Das moralische Gute, wovon hier die Rede ist, kann nur durch Besserung des Willens bewirkt werden.

Dazu gab man ja dem Volke Lehrbücher? Lehrbücher einem Volke, das nicht lesen konnte, nicht lernen wollte. Auch Lernen ist eine Arbeit, der es sieh so unwillig unterzieht als jeder andern Arbeit, weil es dafür hält, daß nicht ihm, sondern seinem Herrn die Früchte aller Arbeit gebühren. Gebet dem Volke mehr als trocknen Unterricht, gebet ihm Erziehung. Gewöhnt es zu Begriffen von Eigentum, und ihr werdet es einer bürgerlichen Glückseligkeit empfänglich machen. Durch ein zugesichertes Eigentum würde das Volk Zutrauen zu sich und zu seinem Herrn wieder erhalten.

Gebt ihm Erziehung; macht den Menschen in ihm froh und empfindend. Jetzt muß es arbeiten, dann wird's arbeitsam werden.

Gebt ihm Erziehung. Lehret den Sklaven genießen. Schafft ihm mehr Bedürfnisse als Schlaf und Trunk; laßt ihm mehr von dem ersten als von dem letzten. Jener König gab den Befehl in seinem Lande, daß der Bauer nicht anders als in Stiefeln des Sonntags zur Kirche kommen sollte. Durch dies befohlne Bedürfnis vermehrte er die Kultur auf dem Lande und den Fleiß in den Städten. Wenn unser Landbauer seinen Fuß mit der Haut des für sich geschlachteten Viehes statt wie jetzt mit den Häuten der dazu ausgerotteten Bäume bekleiden wird, dann wird er sich achten und sowohl sich als das Land besser kultivieren lernen.

Diese Mittel, Eigentum, Frohsein und Bedürfnis, sind Sach- und Lageerziehung, die zur Bildung wirksamer ist als Wortunterricht. Ein Gutsherr gab seinen Landbauern reinlichere Wohnungen und einen Spiegel darin, um sieh ihre Gestalt vorhalten zu können. Diese Anleitung zur Selbstschätzung, zur Reinlichkeit ist auch gute Volkserziehung.

[402] Wozu aber alle diese Verfeinerungen? Die gegenwärtige grobe Anwendung unwilliger Kräfte schafft schon dem Lande Überfluß und zieht auswärtige Reichtümer dahin. – Glaubt davon nichts. Ein Land ist arm, wo die wenigsten genießen und die mehresten arbeiten müssen. Es ist alsdenn nicht der Überfluß, der aus dem Lande geht, sondern der entzogene Genuß. Was dafür ins Land gezogen wird, ist nicht wahrer Reichtum, und wenn dieser in barer Münze dahin käme. Reichtümer sind die, welche durch größere Kultur des Landes entstehen und im Lande genossen werden. Auch war bei den Mitteln zur Bildung des Volks nicht die direkte Bereicherung der Herrschaft die Absicht, wenngleich die Vermehrung der Einkünfte eine Folge ihrer Auslagen bei dieser Bildung sein würde.

Ein in sich erniedrigtes Volk kann, wie gesagt, nur durch langsame geduldige Leitungen auf den Weg, sich seiner Existenz zu freuen, wieder gebracht werden. Und es ist billig, daß die, welche Güter erben, die darauf haftenden Schulden bezahlen.

So sollte also wohl ein jeder Gutsbesitzer der Erzieher seiner der Erde zugeschriebenen Arbeiter sein? Allerdings. Und der Regent ist aus angestammter Schuldpflicht der Erzieher des Landes.

Die besoldeten Volkslehrer sind zu dieser Erziehung die zugeordneten Räte der Landesbesitzer. Dieser ehrwürdige Stand denkt jetzt allgemein über seine Bestimmung nach und findet, daß dieselbe nur dadurch auf die künftige Glückseligkeit wirken kann, wenn er die gegenwärtige befördern hilft. Durch praktische Anweisungen aus der Natur- und Sittenlehre, durch Anleitungen in Gewerben und Wirtschaftsangelegenheiten, worin derselbe auf dem Lande ohnedies mit verflochten ist, werden diese Volkslehrer jetzt mehr ausrichten, als jemals durch unfruchtbare Dogmen zu bewirken ist. Warum gesellen sie sich nicht, diese unsre Volkslehrer, den Eingebornen des Landes zur Hülfe?

Heil dir, Gerechter auf A . . ., der du mit deinen Erbmenschen [403] wie mit Mitmenschen einen gesellschaftlichen Vertrag über gegenseitige Pflichten errichtetest! Leicht sei dir dafür deine Erde! Zu deinem Grabe sollten die Söhne des Landes und der Stadt wallfahrten, um gemeinnützige Gesinnungen, richtige Einsichten über ihr gemeinschaftliches Interesse als Reliquien von da mitzubringen.«

Der Verfasser kehrt nach dieser menschenfreundlichen Umsicht zu seiner geliebten Vaterstadt zurück. »Die kleinere Menge in Städten,« sagt er, »ist eher zu beleuchten, insonderheit in einer Handelsstadt, wo Freiheit und Duldung bald notwendig werden. Hier war anfangs der öffentliche Unterricht ein Monopol der Domherrn. Kaufleute, Feinde von allem Zwange, entzogen sich auch diesem Lehrzwange und schickten ihre Söhne nach einer auswärtigen Schule, die damals wegen einer bessern Lehrmethode berühmt wurde. Diese kamen mit ihrem dort verfolgten Lehrer zurück und zündeten hier das erste neue Licht an, das man damals nicht so bescheiden wie jetzt Aufklärung, sondern dreister Reformation nannte. Die Verbesserung kam also von daher, woher eine jede ausgehen muß, wenn sie Grund und Bestand haben soll, von der Jugend und vom Unterrichte.

Bücher trugen damals noch wenig zur Aufklärung bei. Was auf einheimischen Gymnasien und Akademien damals geschrieben und gelehret wurde, mag wohl Gelehrsamkeit gewesen sein, beförderte aber, nach Materie, Form und Sprache, in der sie verschlossen war, keine Art der Aufklärung. Und so verschließet immerhin fruchtleere Gelehrsamkeit, abstrakte politische Spekulationen; aber gute praktische Wahrheiten behaltet nicht in verschlossener Hand. Sittliche ruhige Aufklärung vollendet, was das schnelle Licht der Erleuchtung nur beginnen konnte. Sie hat vollendet, wenn die tiefe Einsicht in die Natur der moralischen Dinge allgemein geworden ist:


›daß alles öffentliche und Privat-Böse Unsinn und Torheit sind,
daß Rechtschaffenheit Stadtweisheit und Staatsklugheit ist.‹

[404] Zwar ist Vollendung nicht das Los von hienieden, aber eine jede vermehrte sittliche Aufklärung erleichtert den bürgerlichen Regierungen die Sorge für die öffentliche Glückseligkeit.« – Werden Sie nicht geneigt, nach einem solchen Eingange unsern Oberbibliothekar weiterzuhören? »Dann gedeihet,« sagt er, »Aufklärung, wenn auf die untere Masse Licht von oben herabfällt.«

78.

Als Geschenke der Gutmütigkeit stehen vor dem Eingange seiner Bibliothek zwei Köpfe:

Homer und Montesquieu.


»Der erste mit dem Stempel der noch nicht verschliffenen Natur flößt Ehrfurcht ein; man findet sich, auf seinem Angesicht verweilend, so behaglich und mit sich selbst zufrieden. Der zweite drückt bei aller Offenheit seiner edlen Züge die höchste gesellschaftliche Kultur ab; ihm gegenüber wird man aufmerksam auf sich und empfindet Unruhen. Guter Alter, wie würdest du in einer Unterredung mit dem Präsidenten bei seiner Darstellung der neuern politischen Einrichtung in der Welt staunen! Der ariadnische Faden dieses Staatsweisen würde dir kaum aus dem anscheinenden Gewirre heraushelfen. Zu deiner Zeit, welch einfacher Gang der Dinge! die Tugenden, wie einförmig, die Sitten, wie schlicht! Die Männer waren alle tapfer, die Weiber alle häuslich. Jetzt Stände, deren jeder verschiedne Pflichten, verschiedene Tugenden, verschiedne Ehre hat. Welche Federn sind bei Vervollkommnung der bürgerlichen Gesellschaft in die vergrößerten Staatsgebäude gelegt, daß alles, ohne sich zu hindern, zu einem Zweck wirke! Sie sind:


geordnete bürgerliche Freiheit,
eine gesetzliche ausübende Gewalt
und Ehrfurcht für beide.«
[405] Der Verfasser führt uns über China, das treffend geschätzt wird, zu seinem Grundsatz:

Sitten unterstützen die Verfassungen.


»Städtische Gebräuche,« sagt er, »belacht von dem Hofmann, dem nur Etikette wichtig ist, ehrwürdig dem Staatsmann, der einsieht, wie sie an Tugenden hangen und zusammen das bilden, was wir Sitten nannten. Wenn vordem laute Hausandachten gehört wurden, so war dies nicht größere Frömmigkeit (die wohnt nur im Herzen), es war gute Sitte, welche Ehrerbietung gegen Hausväter, Ordnung im Hauswesen, Regelmäßigkeit in Geschäften und Gewerbe vermehrte. Hat doch die einzige Manufaktur, die bei uns Bestand gehabt hat, der Gebrauch eingeführet. Die Töchter der Stadt sind wie die Lilien auf dem Felde; sie spinnen nicht, aber – sie stricken. Alles, von der arbeitsamsten Hand bis zur schönsten, strickt, auch bei freundschaftlichen Besuchen und bei größern Zusammenkünften. Bringt diese gesellschaftliche Handarbeit, die hier in Ehren ist, in Verachtung (dies ist das Mittel, Gebräuche abzuschaffen), wieviel Tugend und Wohlstand gingen zugleich verloren.«

Der Verfasser geht mehrere gute Gebräuche seiner Stadt mit feinen Bemerkungen durch und kommt zu einem andern Satze:


Arbeit und Geduld führen zum Wohlstande.


»Die neuen Erzieher,« sagt er, »suchen den Schulwegebner zu machen; sie dürften ihn nur für die Jugend zu ihrer praktischen Bestimmung geradeziehen. In Lehranstalten würde alsdann die Bildung des künftigen Bürgers so anfangen, wie sie in Dienstjahren fortgesetzt wird. So leicht in den Gewerben des bürgerlichen Lebens die Theorien sein mögen, so erfodern sie doch in der Anwendung anhaltende Übungen, um die in Geschäften notwendige Fertigkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sich eigen zu machen. Die in Städten von bedächtigen Vorfahren angeordneten längeren Dienst- und [406] Lehrjahre waren wohl gut, den brauchbaren Mann in der bürgerlichen Gesellschaft zu bilden. Der Ritter wie der Kaufmann, der Kaufmann wie der Handwerker mußten durch die Grade von Knappen, Burschen und Gesellen gehn, ehe sie ein Meisterrecht erhielten. Der ungeduldige Genius unsres Zeitalters bricht lieber herbe Früchte, als daß er ihre Reife abwarte. Es gehört nunmehr auch schon dazu ein Herkules, um auf dem Scheidewege der Tauglichkeit oder Untauglichkeit im Staat jener Verführerin, die mit Seifblasen zum unzeitigen Genusse lockt, nicht zu folgen, sondern mit langsamen Schritten die Höhe zu ersteigen, wo der grünende Kranz des Wohlstandes aufgesteckt ist.«

Auf dieser Höhe spricht der Verfasser


vom Gemeingeist,


der alles in Rücksicht des Ganzen betrachtet, dem wahren Schutzgeist ist der Städte.

»Das Altertum,« sagt er, »hatte so viel öffentliche Gebäude, prächtig durch ihre Größe, Akademien, Kolisseen, Theater u.f., die wie die Luft zum freien Gebrauch waren. Die neuere Zeit hat lauter eingeschränkte Besitzungen, öffentliche Gebäude, wo der Eintritt vor der Tür bezahlt wird. Sind in unsern engen Kreisen Herz und Geist beschränkter wie in jenem uns romantischen Alter, so streben wir jetzt desto sicherer nach einem nicht zu hoch gesteckten Ziele.

Gemeingeist (public spirit), diese Benennung stammt von der britischen Insel; wir verehrten ihn aber lange vorher unter dem ehrbaren Namen: der Stadt Bestes. Dieses Wort hatten unsre Voralten oft im Munde. Ihre Errichtungen und Verwaltungen, von welchen wir noch die Vorteile genießen, bezeugen, daß sie die Sorge für das Beste der Stadt auch im Herzen getragen haben. Die Stadt ist ebenso glücklich auf die Vorstellung: ›Wir arbeiten zusammen für uns und unsre Kinder‹, als auf ihre Lage gegründet.

An der tötenden Gleichgültigkeit für ein örtliches allgemeines Beste waren Regierungen weniger schuld als Theologen [407] Staatsbeamte, Philosophen Die Theologen zuerst sagten: die Erde sei ein Gasthaus für Durchreisende, die nur im Himmel Bürger wären; als wenn der dort ein guter Bürger werden könnte, der hier ein schlechter war. Die niedern Staatsbeamten redeten nur von einem Kronsinteresse, ein Wort, worin kein Sinn ist, wenn dieses Interesse mit dem allgemeinen Wohl in Widerspruch genommen wird. Und nun die Philosophen mit ihrer Alleweltsbürgerschaft, die nirgend zu Hause ist? Ich bin ein Bürger der Stadt, und nichts, was meinen Mitbürger darin angeht, ist mir fremd. – Diese Gesinnung ist beschränkter, hat aber mehr Energie als der Terenzische Ausspruch vom Theater gesagt: ›Homo sum‹ etc. ›Da bist du was Rechts!‹ antwortete Lessing von der neuern Bühne. Und was ist auch in einer bestimmten bürgerlichen Gesellschaft der Mensch in abstracto und ein Bürger in concreto der ganzen Welt?«

Der Verfasser verfolgt den Gemeingeist seiner Stadt auch in die öffentlichen Gesellschaften; denn »wo nistet,« würde der Späher Montaigne sagen, »die Tugend sich nicht zuweilen hin?« Andringend und lokal zeigt er, daß praktische Gelehrte seiner Stadt unentbehrlich sind und wie sie ihr nützlich werden; er kommt endlich auf die Geschichte der Lektüre. »Bücher,« sagt er, »die Einfuhr fremder Gedanken, ist hier zollfrei. Eine Zensur wäre nützlich: nur Werke von wahrem innern Wert sollten eingeführt und gelesen werden können.

Zu uns schießen von Messe zu Messe so unendlich viele, einander durchkreuzende, auf die veredelten Lumpen Deutschlands geworfene Lichtstrahlen, daß vor zu vielem Licht der Tag oft nicht zu sehen ist. Durch welchen Wust von Schriftchen mußten wir uns durcharbeiten, ehe wir auf die wenigen Bogen


Etwas, was Lessing gesagt hat,


[408] gerieten, worin so stark die Wahrheit gesagt wird, daß das Gute in der bürgerlichen Gesellschaft nicht befohlen, sondern nur aus freiem aufgeklärtem Willen entstehen kann. Wieviel große Bände mußten wir durchblättern, ehe wir auf die


Über die Einsamkeit


kamen. Diese flößen Geschmack an häuslichen Freuden ein, erregen Widerwillen gegen geist- und zeitverderbende Zerstreuungen, gegen müßige Beschäftigungen u.f.

Wirkungen vom Bücherlesen waren nicht so selten, wie noch weniger gedrucktes Papier zu uns kam. Damals waren hier von Zeit zu Zeit herrschende Werke. ›Pamela‹, ›Clarissa‹, ›Grandison‹ folgten sich in der Regierung und teilten diese mit keinen andern Romanen. Auch wurden sie nicht für Romane gehalten, sondern täuschten lehrreich das noch treuherzige Publikum. Dieser gute Glaube an die Existenz vollkommener Muster ist, zum Schaden der Nacheiferung, durch die nachherigen vielen Karikaturen verlorengegangen, so daß sich ein Romanheld in dem zur Wirkung nötigen Kredit seiner Existenz kaum noch erhalten mag. Als unsre Hausväter nur noch den alten Sirach vorzulesen hatten, leiteten seine weisen Lehren Jugend und Alter. Als unsre Töchter nur noch den frommen Gellert lasen, wußten sie seine Moral auswendig. Eine Geschichte der Lektüre hängt mit der Geschichte der Sitten sehr zusammen.«

Gern möchte ich auszeichnen, was der Verfasser über die Naturgeschichte sagt, wenn es nicht zu lokal wäre. Er reklamiert alle Naturmerkwürdigkeiten aus Privatsammlungen in die öffentliche Sammlung: »Diese hieherzuliefernden Stücke blieben – einem jeden und würden zugleich ein allgemeines Gut

»Es gibt also noch,« fährt er fort, »auf dieser mit Maß und Gewicht zugeteilten Erde Güter, die gemeinschaftlich besessen werden müssen. Müssen: denn aus den drei Reichen der Natur haben die einzelnen Stocke erst einen Wert, sind zu Betrachtungen und zum Unterricht erst geschickt, wenn sie [409] in ein jedem Lernbegierigen offenes Behältnis gebracht sind. In geizenden Privatbewahrungen werden sie der Aufmerksamkeit ebenso entzogen, als wie sie in der weiten Welt zerstreuet lagen.« – Mit edlem Enthusiasmus zeigt er die praktische Nutzbarkeit dieser Wissenschaft für seine Stadt. »Gewiß,« sagt er, »hangt von einem veredelten Geschmack eine veredelte Tätigkeit ab. Der Geschmack an Naturkenntnissen verleidet das Gefallen an aller Frivolität und gibt seinen Liebhabern den Drang zu mancherlei nutzbaren Ausführungen. Alles, was die Vegetation befördert und der Natur die Eier unterlegt, worauf sie brütet, aller Wegwurf, sogar tote Nachbleibsel von allem, was Odem und Wachstum gehabt hat, von Naturkenntnissen begleitet, wird es mit Interesse angesehen werden.

In diesem Kabinett, wie vormals in den Tempeln, sind die inländischen Naturbeobachtungen niederzulegen. Diese Wetter- und Krankheitsjournale, mit der jährlichen Ernte und den Mortalitätslisten in Vergleichung gebracht, würden zu einer allmählichen Kalenderverbesserung Stoff geben; mit einer plötzlichen Verbesserung hat es nirgend glücken wollen. Der Mensch, der einmal vom Denken abgebracht ist, befindet sich bei seinen Zeichen und Wundern so behaglich wie der Philosoph bei seinem einmal angenommenen System. Naturkenntnisse bringen auf den Weg der Wahrheit zurück und lehren Aberglauben kennen und verachten.«

79.

Leicht werden Sie denken, mit welcher Gemütsstimmung der Verfasser in den großen Büchersaal der vier Fakultäten eintritt. Er läßt einen Peripatetiker funfzig Denkschritte in die Länge machen und ihn fragen:

»›Alle die ungeheuren Pakete, Theologie, Jurisprudenz bezeichnet, müsset ihr studieren, jene, um Gott verehren zu lernen, diese, um mit euren Mitbürgern in Friede zu leben? [410] So ist es wohl bei euch eine gelehrte, schwer zu erlernende Kunst, wie fromme Gesinnung zu erregen und darnach zu handeln ist? Ihr habt besondre Gelehrte, die die Gesetze wissen, die alle andre doch auch befolgen sollen? Wenn eure Gelehrte diese Wissenschaften für die übrige Menge lernen und anwenden, so ist es bequem für diese Menge, wenn dies fremde Wissen im Leben und im Sterben ihr zugut kommt.

Welch ein Schatz da in dem anstoßenden Schrank für die Heilkunde! Ihr werdet wohl seit Hippokrates, der nur noch den Gang der Krankheiten beobachtete, die Mittel gefunden haben, sie alle zu heben? Zu seiner Zeit war das Leben kurz, die Kunst lang; jetzt ist's wohl im umgekehrten Verhältnis?‹

Aber die angelegentlichste Frage des Mannes im Mantel würde gewesen sein, wieviel spekulative Wahrheiten von den neuern Philosophen gefunden worden und im philosophischen Schrank aufbewahrt ständen? Eine einzige, antwortet der Verfasser, von meinem Freunde Kant, diese: daß wir noch keine Philosophie, keine reine hatten. Eine Wahrheit, die er bewiesen hat und die Sokrates vor ihm, ohne Beweis, so ausdrückte: ›Wir wissen nichts.‹ Durch schwelgerische Spekulationen über übersinnliche Dinge abgeleitet, ließen wir das uns zum Bearbeiten angewiesene Feld mit dem eingestreueten Samen in uns verwachsen daliegen. Nachdem der Schutt des angemaßten Wissens, wodurch die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch kam, vom Herzen geräumt ward, konnte dasselbe für das Sittlich-Gute frei schlagen.

Wir erfahren nämlich durch unsern innern Sinn die unbedingte Foderung: recht zu tun. Wir erfahren in uns die Freiheit, nach dieser Foderung zu handeln. Von diesen beiden Tatsachen können wir sicher ausgehn und sicher schließen: wir sind moralischen Ursprungs. Ein höchstes moralisches Wesen hat dies Gesetz und diese Freiheit in uns gelegt; unsre Bestimmung ist moralisch, selbstverdiente Glückseligkeit. ›Wer mir in meinen letzten Augenblicken noch eine gute Handlung vorzuschlagen hat, dem will ich danken‹, sagte Kant zu seinem ihn besuchenden Freunde.«

[411] Unnennbar schön und nützlich wäre es gewesen, wenn diese reine Absicht Kants von allen seinen Schülern (von den bessern und besten ist's geschehen) erkannt und angewandt worden wäre. Das Salz, womit er unsern Verstand und unsre Vernunft abreibend geschärft und geläutert hat, die Macht, mit der er das moralische Gesetz der Freiheit in uns aufruft, können nicht anders als gute Früchte erzeugen. Und niemand wäre es eingefallen, seiner Absicht gerade zuwider, das Dorngebüsch, womit er die verirrte Spekulation eben verzäunen wollte und mußte, zu einem Gartengewächs auf jeden nutzbaren Acker, in jede populare Kunst und Wissenschaft zu verpflanzen Und niemand wäre es eingefallen, die Arznei, die er zur Reinigung vorschrieb, als einziges und ewiges Nahrungsmittel nicht anzuempfehlen, sondern durch gute und böse Künste aufzudringen und anzubefehlen. Jedoch ging es dem griechischen Sokrates in seinen Schulen anders?

Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglinges, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offne, zum Denken gebauete Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit ebendem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Keplers, Newtons, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen »Emil« und seine »Heloïse,« sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf moralischen Wert des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vorteil, kein Namenehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung [412] und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zumSelbstdenken; Despotismus war seinem Gemüt fremde. Dieser Mann, den ich mit größester Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir. Ich will ihm nicht die barbarische Inschrift setzen, die einst ein sehr unwürdiger Philosoph empfing:


Noster Aristoteles, Logicis quicunque fuerunt,
Aut par aut melior; studiorum cognitus orbi
Princeps, ingenio varius, subtilis et acer;
Omnia vi superans rationis etc.,

sondern mit dem Verfasser der »Bonhommien« ihn, seiner Absicht nach, Sokrates nennen und seiner Philosophie den Fortgang dieser seiner Absicht wünschen, daß nämlich nach ausgereuteten Dornen der Sophisterei die Saat des Verstandes, der Vernunft, der moralischen Gesetzgebung reiner und fröhlicher sprosse, nicht durch, Zwang, sondern durch innere Freiheit.

Verzeihen Sie diese mir angenehme Erinnerung; ich komme zurück zu meinem Autor. Eine Hülfswissenschaft für seine Stadt, die bürgerliche und Wasserbaukunst, ist ihm in der Ordnung die nächste. Seine Urteile darüber sind scharfsinnig, seine Wünsche wohlgemeint. Der Mann im Mantel geht die Stadt durch und um; endlich kommt er an sein geliebtes Tor zurück, das die Inschrift hat:


Ungestörte Betriebsamkeit, Pax,
Teilnehmung aneinander, Concordia,
Und am Ganzen, Pietas.
Diese, nicht Wall, nicht Festung erhalten die Stadt.

Jetzt treten wir zum enzyklopädischen Schranke. »Der gelehrte Turm, von Diderot und d'Alembert (samt ihren Mitarbeitern) [413] aufgeführt, sollte den Schatz aller göttlichen und menschlichen Kenntnisse enthalten. Diesem gallischen Ton hat die bürgerliche Gesellschaft Verbindlichkeit. Er schaffte schüchternen Gelehrten und ihren Schriften da Eingang, wo sie ihn nie gehabt hätten. Es entstand in Büchern eine Beratschlagungsstimme, gegeben von dem freidenkenden Verstande, vernommen in Kabinetten, gehört bei Verwaltungen, wo bisher die stupide Göttin Routine ihr Wesen getrieben hatte. Wahrheiten kamen in lebhaftern Umlauf, und gelehrte Kenntnisse wurden ein gemeinsames Gut für jede Wißbegierde.« – Wie wahr! Die französische Enzyklopädie, so unvollkommen sie war, hat selbst durch die Verfolgungen, die sie erlitt, eine Wirkung hervorgebracht, die ihr so leicht keine vollkommnere Enzyklopädie wird abgewinnen können und mögen.

Jetzt die klassische alte und neue Literatur, dieschönen Künste der Handelschaft, wo der Verfasser im Scherz eine neue Muse, die Kochkunst, den ältern, vornehmeren Musen beifüget. »Schöne Kunst oder Wissenschaft,« sagt er; »die Erziehung eines jeden Volks fängt elementarisch mit dem Essen an. Wo dieses noch nicht mit Ordnung, Reinlichkeit und Geschmack geschiehet, da ist die Kultur noch nicht beim Anfange. Dieser Tafelgenuß, der in einer Handelstadt, wo man auf innere Güte achtet, zuerst den guten Grad der Vollkommenheit erreicht, hilft bilden. Unsre Töchter, unter der Anführung ihrer Mütter, mögen also immer die Ehre des Hauses beim hellen Herde behaupten, wofür die Männer jetzt arbeiten und vordem stritten. Nehmet sie, ehe sie zu den schönen Wissenschaften übergeht, in eure Mitte, ihr neun Schwestern, diese keusche Muse mit der reinlichen Schürze, mit der kostenden Zunge und Salz in der verständigen Hand. Sie läßt ihren geistreichern Schwestern gern ihren unbestrittenen Rang.«

Der Verfasser geht die andern schönen Künste, den Blick auf seine Stadt geheftet, durch und endet mit dem wahren Spruche: »Der für das Schöne gebildete Sinn leitet den guten [414] Aufwand. Dem verderblichen Aufwande des Bürgers setzt nichts Schranken als die Bildung eines festen Sinnes für Gerechtigkeit und Pflicht. Häusliche Weisheit im Nationalgeiste suchet zu pflanzen durch jede Kraft der Religion, der Beispiele und Staatskunst. Dieser moralische Sinn streitet nicht mit dem Sinne für Schönheit; beide sind vielmehr nahe miteinander verwandt, beide führen auf des Menschen letzten Zweck, seine Veredlung.«

Ich übergehe den Abschnitt, der von einer uns ziemlich fremden Literatur und von der dem Verfasser vaterländischen Geschichte redet, so manche patriotische und feine Bemerkung, z.B. über das Verhältnis der Stände gegeneinander, jetzt und in andern Zeiten, er enthält. – Vor der historischen Wand endlich, wo die Reisen zu Wasser und zu Lande, die Welt- und Völkergeschichten vorkommen, fügt der Verfasser hinzu: »Möchten zu allen diesen, mit historischer Kritik aufgestellten Tatsachen, die dem gemeinen Auge so bunt durcheinanderlaufen, die ›Ideen‹ unsres Kompatrioten. 80 – der öffnende Schlüssel sein! So wäre denn, trotz aller unschuldigen Leiden in und außer der bürgerlichen Gesellschaft, trotz der beständigen Fort-und Rückschritte in derselben und des immer wechselnden Zerstörens und Aufbauens, trotz aller Wirrungen und anscheinenden Zwecklosigkeit in der Geschichte des Menschen, doch darin ein immer stärkeres Aufblicken [415] der Humanität dem philosophisch forschenden Auge sichtbarer Zweck. Vernunft und Billigkeit nähme in der Gesellschaft zu, der Mensch werde darin immer menschlicher. Ein Altar, dem Schutzgeist der Erde erreichtet!

Es gehört für die Newtone, in dem Sturz eines Apfels die Ordnung des Weltsystems zu finden. Wir andern, deren Theodizee sich damit behilft, die moralische Ordnung der Dinge sei durch einen Apfelbiß gestöret worden, drehen uns ohne tieferes Nachdenken ruhig um unsre Achse, ohne zu wissen, wie wir bei den großen Umwälzungen ins Ganze eingreifen, und lassen die Vorsehung bei unsrer Betriebsamkeit walten.«

80.

Wider Willen muß ich den Artikel der Handelsbibliothek mit allen seinen schönen Vorschlägen übergehen, um zu einem Briefe zu kommen, in dem sich die Seele des Verfassers der »Bonhommien« ganz zeiget. Er hatte einen Schrank für Publizität bestimmt; »in ihm hätten alle öffentliche Verhandlungen, die das gemeine Stadtwesen betreffen, Beratschlagungen, Vorschläge, Vorstellungen, abgelegte Verwaltungsrechnungen zur Belehrung und zur Rechtfertigung niedergelegt werden können«. Das Wort ging nicht durch. Auch statt der Materialien zur vaterländischen Geschichte aus dem Archiv hatte der Bibliothekar eine schöne Sammlung von Kirchenvätern unterzubringen u.f. Da dieser Brief auf einer Reise in Deutschland geschrieben ist und auf allen Seiten Blicke des feinen Staatsmannes, gemildert mit der Bonhommie des Bürgers, verrät, so zeichne ich einige Bemerkungen mit dem Andenken einiger Personen aus, die auch uns wert sind, z.B. über die preußische Staatsverfassung.

»Ist mehr Freiheit im Handel und weniger Freiheit im Denken dem preußischen Staat ersprießlich? Der Handel kann nicht ohne Freiheit, der preußische Staat aber wohl ohne großen auswärtigen Handel blühen. Der wahre Handelsvorteil [416] eines Landes ist immer in dem lebhafteren inneren Verkehr. Weniger als die Freiheit im Handel leidet die Geistesfreiheit Einschränkung zum Besten der peußischen Staaten. Diese Staatsmaschine ist ganz das Werk der Freiheit des Geistes, die, durch die karge Natur des Bodens aufgefodert, so viel vermochte, daß sie ein Land, welches nur einer geringen Macht fähig zu sein schien, weit über das Mittelmäßige erhoben hat, durch Beleuchtung der Grundsätze, die daher desto standhafter befolget wurden. Die preußische Kriegsmacht ist zur Beschützung des Landes fürchterlich; aber ohne seine, unabhängig von derselben frei wirkende Geschäftsmänner würde Friederich selbst dies Werk der Regierungskunst nicht zu der Vollkommenheit gebracht haben.

Ich fühle mich glücklicher, unter einer Regierung geboren zu sein, welche die bürgerliche Freiheit weniger einschränkt, glücklicher in einem Lande, dessen Natur reicher ist, als daß es nötig wäre, dem Untertan die Staatssparbüchse beständig vorzuhalten; Geist und Herz des Bürgers haben hier mehr Spielraum. Aber in der benachbarten Monarchie ist es doch nichtKleinheit in der Staatskunst, diese Einschränkung wie eine aus Kenntnis der Sache notwendige Diät vorzuschreiben und zu beobachten.« Der Verfasser nimmt dabei die preußische Regierung gegen den Vorwurf, daß sie militärisch sei, in Schutz: »Was würde auch aus dem Staat werden,« sagte ein Hauptmann, »wenn die, welche Gewalt in Händen haben, deswegen auch alles tun dürften?«

»In Berlin,« fährt er fort, »suchte ich nicht Sparta, sondern Athen, wozu die Stadt mehr als das Tor hat. Für wissenschaftliche Unterhaltung, worin Cicero die Belustigung der Alten setzt, ist hier gesorget. Gelehrte in und außerhalb Geschäften versammeln sich; wider gelehrten und politischen Betrug, für Wahrheit waren alle eingenommen; außer dieser Übereinstimmung für gute Aufklärung fand ich übrigens die Meinungen über Personen und Sachen so verschieden, daß derBerlinismus hier wenigstens seinen Sitz nicht hat, wenn überhaupt das Wort Sinn haben mag und nicht[417] vielmehr Freimütigkeit bedeuten soll. Diese Freimütigkeit ist hier rechtskräftig. Vor die höchste Instanz des Denkens werden sowohl öffentliche Anordnungen als richterliche Aussprüche gezogen. Nur die Kanzelvorträge wurden privilegiert.«

Hier ein Opfer der Achtung »dem liebenswürdigen Greise, der die Lehren des Christentums mit sokratischer Weisheit vortrug und auch in seiner Abschiedspredigt nicht Stachel zum Andenken seiner ehrwürdigen Person, sondern an seine mit wahrer Salbung vorgetragene Lehren nachlassen wollte«.

Und ein reicheres Andenken »dem schlichten großen Mann, der da sagte: ›Wenn ich das Gesetzwerk endige, habe ich gnug gelebt.‹ Auf dieser nun aufgeführten Pyramide lebt der Name Carmer.«

Der Methode zu Errichtung dieses Werks, der deshalb fortwährenden Kommission, auch dem Verfasser der »Annalen der Preußischen Gesetzgebung« (der sich gegen den Satz: »daß Gerechtigkeit der Fürsten wohl nur Gnade sein möchte,« freimütig erklärte) wird bescheiden ihr Lob erteilet.

Auf einer Reise in Kursachsen kommt zwischen den Reisenden die Frage vor, ob in diesem betriebsamen Lande ein Perikles bei der Verwaltung gemeinnütziger sein würde als jetzt ein Aristides? Und inLeipzig wird das Lob des Mannes sehr edel bemerket, der »bei allem, was in dieser eleganten Bürgerstadt der Verfasser Schönes sah, Kirche, Bibliothek, Konzertsaal, Promenade u.f., immer als der genannt wurde, der alles dies angelegt und verschönert habe«. Die Einfachheit und Eleganz in seinem Hause (Oesers dabei unvergessen) wird anständig beschrieben, mit dem Geschmack und der Würde eines andern Mannes von diesem Stande, den der Verfasser in Königsberg wiederfand, parallelisieret und hinzugefügt: »Ich weiß nicht, oder vielmehr ich weiß es, warum ich mich durch das, was ich so unempfindsam beschreibe, so gerührt fühle. Wahrlich, es ist nicht Neid, es ist Freude über die glückliche Lage dieser würdigen Männer.

[418] Sollte denn ein geschmackvoller bescheidner Lebensgenuß, sollte ein sorgenfreies Alter eine zu große Belohnung der Wachen für den Wohlstand und selbst für die Annehmlichkeiten des Lebens seiner Mitbürger sein?«

Auf seiner Rückreise durch Pommern und das vormalige polnische Gebiet, in Preußen, war es dem Verfasser erfreulich zu erfahren, wie auch hier Humanität seit seiner ersten Reise vor vierzig Jahren zugenommen hatte; »denn,« sagt er, »für Bezahlung freundliche Begegnung und Sicherheit erhalten, ist der Wohlgeruch der blühenden europäischen Humanität. Wenn nur in dieser beruhigenden Hypothese des beständigen Fortschreitens die wilden Auftritte bei einem durch Klima und Künste humanisierten Volke jetzt nicht einen so schrecklichen Knoten schürzten.« – Auch dieser Knote wird sich lösen, guter Wandrer, und gewiß (wenn auch nur warnend und belehrend) zum Fortschritt des Ganzen; denn ein so großer, so unterstützter Versuch ist in unsrer bekannten Völkergeschichte noch nie gemacht worden. Überdem ist das Ziel, wornach wir zu streben haben, nicht bloße Behaglichkeit auf Wegen oder daheim, wie sehr diese auch wohltut; das Ziel liegt weiter, höher hinauf. Der Strom der Dinge fließet auch hier nicht gerade; er reißt ab, setzt an, dringt aber doch weiter.

»Näher der ungekünstelten Humanität in unserm Norden, wo sie nicht in Treibhäusern aufblühet,« nahm der Verfasser noch einen Umweg, den er mit eine »Friede mit dem Manne« schließet.

Und auch Friede von mir dem Manne! Denn zu lange habe ich die Teilnehmung verborgen, die ich beim Auszuge dieser »Bonhommien« am Verfasser sowohl als an seiner Stadt und mehreren dabei bemerkten Personen herzlich genommen habe. So an den letzten, denen er Friede im Grabe oder in ihrer Ruhe wünschet, so an ihm selbst, der in seiner geliebten Dunkelheit endigen wollte. »Dieser schlichte Denkstein,« sagt er, »sei dem vormaligen Ratsstande am Wege gesetzt!« – und ich muß dabei die hohe Gerechtigkeit Güte und Sanftmut [419] bemerken, mit welcher der Verfasser den neuen Rat sowohl als jedes Kind seiner Vaterstadt zur Pflicht und Würde derselben hinweiset. Unter dem unscheinbaren Titel einer neuerrichteten Bibliothek und eines Reisebriefes ist einBürgerkatechismus seiner blühenden Vaterstadt enthalten, der er damit gleichsam sein Herz vermacht hat. Lesen Sie, was sein und mein Freund, der mir die »Bonhommien« zusandte, von ihm schrieb: »Das Buch in Ihre Hände zu wünschen, habe ich keinen andern Beruf als die Liebe gegen unsern Freund, den ich allgemein geliebt, geschätzt und geehrt gesehen habe, aber von wenigen nach seinem ganzen Wert und als Schriftsteller von sehr wenigen verstanden glaube. Diesem seinem Buch also, dem eigensten Eigentum seines Geistes und Herzens, dem reifsten Nachlaß der Gedanken und Empfindungen, in denen und mit denen er lebenslang lebte und wirkte, den er krank, schwächlich und oft niedergeschlagenen Gemüts auf den Altar des Vaterlandes als ein Andenken der Liebe gutmütig niederlegte und gleich darauf mit seinem Tode besiegelte, diesem möchte ich bei Ihnen auch eine gute Stätte wünschen.

So liebenswürdig unser Freund im Umgange, so allgemein anerkannt seine Güte war, sosehr ich ihn in seinem Kollegium geehrt und Männer wie... an der Rede seines Mundes hangen gesehen habe, so glücklich er Wissenschaft und Liebe zur Kunst zu Bildung seines Geistes und zu Verschönerung seines Lebens anzuwenden wußte, so ist oder war doch Patriotismus die Seite, von der er mir vorzüglich unaussprechlich ehrwürdig war und lebenslang bleiben wird.

In einem Leben, wo oft in seinen Ämtern und vielfachen Bestrebungen Arbeiten von heterogener Natur, im Grunde seiner Neigung so fremde, seinen Geist niederschlagen und das Herz in die Enge ziehen mußten, hat er doch immer seine Stellen geliebt, sie mit Kräften und Redlichkeit ausgefüllt; und zuletzt noch, nachdem sein Leben ganz seiner Stadt gehört hatte und nur der letzte Rest desselben durch die Umstände der Wirksamkeit entzogen war, suchte er ihr durch[420] seine Schrift noch nützlich zu werden. Hielt es Filangieri für gut, daß Männer, die in öffentlichen Ämtern gelebt, nach ihrer Weise Unterricht geben, mich dünkt, so darf man auch bei seiner freimütigen Redlichkeit seinem Herzen folgen; denn er schrieb, wie er redete, redete und lebte, wie er dachte, und starb, wie er gelebt hatte.

In seinem letzten Sommer begegnete er mir, da er eben im Begriff war, für den Überrest der Jahreszeit die Stadt zu verlassen, um seine Gesundheit auf dem Lande herzustellen; er sagte mir, daß er im Begriff sei, etwas drucken zu lassen. ›Meine Absicht ist‹, sagte er, ›bei manchen unserer guten Bürger der Indifferenz entgegenzuwirken, womit man sich allen öffentlichen Geschäften jetzt zu entziehen anfängt, auf gleichviel welchen Wegen, und immer damit sich entschuldigt: es hätte doch jetzt alles aufgehört! die vorigen Zeiten des Patriotismus sein nicht mehr – und was dann so der Zeitgeist spricht.‹ Hier wollte er zeigen, wie der gutdenkende Bürger sich an die neue Stadtordnung anschließen könne. Dies nämliche hat er noch in den letzten Tagen an seinen Arzt wiederholet und bat ihn, seinen Freunden zu sagen, daß der Gegenstand seines Buchs seine Stadtmoral sei.«

So sein Freund. Die Stadt, für welche dieser edle Bürger und Senator schrieb, ist Riga; sein Name ist:Johann Christoph Berens; und der gleichfalls treffliche Mann, an welchen auf seiner Reise in Deutschland der angeführte Brief geschrieben war, Johann Christoph Schwarz, Bürgermeister des alten Rates derselben. Empfindlich wird meine Seele gerühret, wenn ich an die Zeiten, in denen ich in ihrem Kreise lebte, an so manche vortreffliche Charaktere ihrer edlen Geschlechter, an meine Freunde in denselben und unter ihnen an den Verfasser der »Bonhommien« zurückgedenke. Wollte ich, was meine Erfahrung von ihm kennenlernte, in wenig Worten sagen, so wäre es jene Inschrift alten Gehalts, die Kleist seinem Freunde setzte:


[421] Witz, Einsicht, Wissenschaft, Geschmack, Bescheidenheit
Und Menschenlieb und Redlichkeit,
Des Bürgers Tugenden, des feinsten Mannes Gaben,
Besaß er, den man hier begraben.
Er lebte seiner Stadt; er starb mit stillem Mut.
Ihr Winde, wehet sanft, wo seine Asche ruht.

Lebe wohl, geliebte, gutmütige Seele!
[5]

Siebente Sammlung

(1796)


[5][7]

81.

Ihnen ist der berühmte Streit bekannt, der unter Ludwig dem Vierzehnten über den Vorzug der alten oder der neuern Nationen in Wissenschaften und Künsten mit großer Wärme geführt ward und an welchem auch außer Frankreich Gelehrte und Künstler Anteil nahmen. Da man nicht allemal gnug bestimmte, von welchen Alten oder Neuern, von welchen Künsten und Wissenschaften die Rede sei, es übrigens dabei auch mehr auf einen Rangstreit damals lebender Personen als auf eine unparteiische Schätzung alter und neuer Verdienste angesehen war, so konnte wenig ausgemacht werden, obgleich von beiden Teilen viel Gutes gesagt ward.

In der Kultur zum Schönen, die wir der Kürze halben Poesie nennen wollen, springt uns der Unterschied alter und neuer Zeiten, d.i. der Griechen und Römer in Vergleich aller neueren europäischen Völker, ins Auge. Wir mögen italienische, spanische, französische, englische, deutsche Dichter, aus welchen Zeiten wir wollen, lesen: der Unterschied ist unverkennbar.

Und doch wird es schwer, ihn sich im reinsten Umriß aufzuklären, noch schwerer, ihn bis auf seine ersten Ursachen zurückzuführen und dabei jeder Nation und Zeit ihr Recht widerfahren zu lassen. Wie? kann man fragen, blühet diese schöne Blume der Humanität, Poesie in Denkart, Sitten und Sprache, nicht überall und allezeit gleich glücklich? Und wenn zu ihrem Aufkommen ein besondrer Boden, eine eigene Pflege und Witterung gehöret, welches ist dieser Boden, diese Witterung und Pflege? Oder wenn sie mit jeder Zeit, unter einem andern Himmelsstrich auch ihre Gestalt und Farbe [7] verändern muß, welches ist das Gesetz dieser Veränderung? geht sie ins Bessere oder Schlechtere über? –

Über diese Fragen, die man oft getan hat, sind mir einige Fragmente zu Händen gekommen, die mir der Aufmerksamkeit unsrer Gesellschaft nicht unwert scheinen. Die Blüte der alten Kultur unter Griechen und Römern setzen sie entweder als bekannt voraus, oder es fehlt die Untersuchung darüber in den mir zugekommenen Blättern. Diese bemerken vorzüglich, wie sich die mittlere und neue europäische Kultur in und durch Dichtkunst, und zwar bei den verschiedenen Nationen Europas nach besondern Veranlassungen, Hülfsmitteln und Zwecken, gebildet habe Das Endurteil, in manchen Stücken die Vergleichung selbst, überlassen sie dem Leser. Da in ihnen die Poesie in einem weiten Verstande genommen und als Werkzeug oder als Kunstprodukt und Blüte der Kultur und Humanität nach Nationen und Zeiten im all gemeinen betrachtet wird, mich dünkt, so werden wir bei jedem Fragment zu eignen Gedanken Gelegenheit finden, und dies ist doch der schönste Zweck einer schriftlichen Unterhaltung.

Erstes Fragment

Verfall der Poesie bei Griechen und Römern


Im Frühlinge und in der Jugend singt man; in der Winterzeit und im Alter verstummen die Töne. Die lebendigste Poesie Griechenlandes traf auf eine gewisse Jugendzeit des Volks und der Sprache, auf einen Frühling der Kultur und Gesinnungen, in welchem sich mehrere Künste, keine noch im Übermaß, glücklich verbanden, endlich selbst auf einen Frühling von Zeitumständen und Weltgegend, in welchem entsprießen konnte, was entsprossen ist. Von der Poesie der ältesten Sänger und von Bildung der Sprache durch ihren Gesang, von Alcäus und der Sappho, von Pindar und dem Chor der Griechen haben wir geredet 101 und allenthalben einen [8] jugendlich aufstrebenden Geist, jene erste Blume der Kultur, bemerket, die, wenn sie verblühet und zur Frucht gediehen ist, der laueste Zephir nicht wieder erwecken mag.

Alles in der Welt hat seine Stunde. Es war eine Zeit, da Poesie alle menschliche Weisheit in sich faßte oder deren Stelle vertrat. Sie sang die Götter und erhielt die ruhmwürdigen Taten der Vorfahren, der Väter und Helden; sie lehrte die Menschen Lebensweisheit und war, so wie das einzige und schönste Mittel ihres Unterrichts, so auch an Festen und in Gesellschaft ihr geistigstes Vergnügen. Ehe die Schrift erfunden oder solange sie noch nicht häufig im Gebrauch war, sangen die Töchter der Erinnerung, die Musen, und wurden mit Entzücken gehöret. Dichter waren der Mund der Vorwelt, Orakel der Nachwelt, Lehrer und Ergetzer des Volks, Lohner großer Taten, Weise. –

Je mehr die Schrift aufkam und sich durch sie die Sprache ausbildete, je mehr mit der Zeit Wissenschaften auseinandergingen und einzeln bearbeitet wurden, desto mehr mußte der Poesie allmählich von ihrer Allgemeinherrschaft entnommen werden; denn sobald man schreiben konnte, wollten viele eine wahre Geschichte lieber in Prose, die der Poesie nachgebildet war, lesen oder lesen hören, als Fabel und Geschichte fernerhin in Hexametern durch Gesang vernehmen. Allmählich verstummte also die erzählende Muse oder sang aus Sagen ihrer ältern Schwester künstlich gearbeitete Töne nach.

Je mehr die Philosophie aufkam, je mehr man die Natur der Dinge, insonderheit des Menschengeschlechts und seiner Verfassungen, untersuchte, desto weiter entfernte man sich von jener alten Einfalt moralischer Sprüche, denen die Poesie einst Glanz und Nachdruck geben konnte. Philosophische Unterredungen und Systeme konnte der Dichter nicht mit derselben Kraft wie alte Begebenheiten und sinnliche Gegenstände darstellen; er war hier in einem fremden Lande.

Auch die Mythologie selbst, die der Poesie einst so viel Schwung gegeben hatte, ward mit der Zeit eine alte Sage. Der kindliche oder jugendliche Glaube der Vorwelt an Götter [9] und Heroen war dahin; was tausendfach gesungen war, mußte zuletzt, bloß dem Herkommen gemäß, mit trockner Kälte gesungen werden; es hatte seine Zeit überlebet.

Endlich, da Scherz und Freude die Eltern des Gesanges sind, wo waren diese hingeflohen in jenen traurigen Zeiten, die Griechenland zuletzt erlebte? In-und auswärtige Kriege zerstörten, löseten auf und mischten alles untereinander. Der lebendige Geist aufblühender Pflanzvölker, fröhlicher Inseln, im Ruhm und Gesange wetteifernder Städte war längst entwichen; und ob man gleich die Anstalten, durch welche er gewirkt hatte, öffentliche Gebräuche, Tempel, Spiele, Wettkämpfe, Theater u.f., solange es möglich war, erhielt oder wiederherstellte, so war doch jene Jugend nicht zurückzurufen, in welcher dies alles wie durch sich selbst entstanden und veranlaßt war. Auch Hadrian rief diesen Genius nicht aus Hektors Grabe. Zuletzt kamen die Barbaren heran; und als die christliche Religion über Griechenland herrschte, da sang z.B. Synesius der Bischof 102 von jenen alten Zeiten also:


Wohlauf, klangvolle Zither!
Nach Tejer-Melodien,
Nach lesbischen Gesängen
In feierlichern Tönen
Ein dorisch Lied zu singen;
Ein Lied, doch nicht von Nymphen,
Die aphrodisisch lächeln,
Auch nicht von holden Knaben
In süßer Lebensblüte.
Ein himmlisch-reines Feuer
Von gottgeweihter Inbrunst
Treibt mich, daß ich die Zither
Zu heil'gen Liedern schlage
[10]
Und jeder süßen Sünde
Der Erdenlust entweiche.
Was ist dann Macht und Schönheit?
Was ist dann Ruhm und Reichtum?
Und alle Königsehren
Entgegen frommer Andacht?
Der sei ein schöner Reiter,
Ein schneller Schütze jener,
Ein anderer bewache
Gehäufte goldne Schätze.
Dem hange seine Locke
Zierlich hinab die Schulter;
Von jenem sei gepriesen
Bei Jünglingen und Mädchen
Sein glänzend-holdes Antlitz.
Mir sei ein stilles Leben,
Ein heiliges vergönnet,
Unscheinbar vor den Menschen,
Doch nicht vor Gott verborgen.
Mir stehe bei die Weisheit,
Die stark ist, mich zu leiten
Durch Jugend und durch Alter.
Sie, Königin des Reichtums,
Die auf unebnen Wegen
Das harte Joch der Armut
Mit leichtem Mut erträget;
Sie, die in bittrem Kummer
Des Lebens heiter lächelt. –
Soviel sei mir gewähret,
Daß, schwarzer Sorg' entnommen,
Ich eines Nachbars Hütte
Im Mangel nie bedürfe. –
Horch auf! Cicada singet,
Von Morgentaue trunken.
Schau, wie die Saite stärker
Mir schlägt und eine Stimme
[11]
Begeisternd mich umtönet!
Was gibst du für ein Lied mir,
Du heilige Begeistrung? –

Und so geht der Gesang in platonisch-christliche Ideen über. 103


Die Geschichte der Römer endete nicht anders. Ihnen war die Poesie, insonderheit der lyrische Gesang, gewissermaßen immer eine fremde Kunst geblieben; die Oden Catulls und Horaz' sind nur ein Nachhall der griechischen Lyra. Auch hat es ein Gelehrter unsrer Zeit wahrscheinlich gemacht, 104 daß selbst Horaz' Oden zuerst lange nicht soviel Zelebrität hatten, als sie in der Folge, insonderheit seitdem die lateinische Sprache eine tote Sprache war, mit Recht erhielten. Nachfolger fand dieser schöne Dichter unter den Römern wenige und keinen, der an ihn reichte. Bis auf ein paar Stücke des Statius und einige arme Gedichte der Grammatiker sind diese auch untergegangen, so daß in Latium das Feld der lyrischen Poesie von Augustus' Zeiten hinab für uns am ödesten daliegt. 105

Die Ursachen hievon sind fast dieselben wie in der griechischen Geschichte. Die alte Mythologie war den Römern von Anbeginn an ungleich fremder und entfernter, als sie es in den neueren Zeiten den Griechen je werden konnte. Schon bei Virgil und Ovid, bei Properz und Horaz bemerkt man dies Fernhergebrachte zuweilen mit einigem Anstoß; bei [12] Seneca, Statius, beim blühenden Claudian, Ausonius u.f. noch viel mehr. Man fühlt, die alte Götterlehre habe sich überlebet. Ohne Zweifel war dies mit eine Ursache, warum die meisten römischen Dichter, z.B. Ennius, Lucan, Silius, Claudian, lieber historische als rein heroische Gedichte schrieben und einige sogar ziemlich unpoetische Gegenstände wählten. Der alte Blumengarten war abgeblühet. Die Thebaïden- und Achilleïden-Dichter, noch mehr aber die schrecklichen Atriden-Sänger hatten nicht nur den Reiz der Neuheit verloren, sondern die Satirendichter gingen ihnen auch hart entgegen.

Der Zustand Italiens und der römischen Provinzen unter den meisten Kaisern lockte noch minder einen neuen Frühling hervor. Wahnsinnige Tyrannen bedrückten die Welt; Kriege, bald auch die Anfälle der Barbaren verheereten sie, und unter den wenigen guten Kaisern ward aus mehreren Ursachen lieber griechische Philosophie als römische Dichtkunst gepfleget. Jener hatte nach damaligen Umständen die trost- und hülfbedürftige Zeit mehr als dieser nötig. In Zeiten, die Tacitus beschreibt, in andern, die nachher folgten, wollte man wahrlich oft weniger singen als seufzen.

Der letzte Römer, Boëthius, endlich suchte auch in lyrischen Silbenmaßen Trost gegen sein Unglück; seine Philosophie gewährte ihm aber nicht sowohlGedichte als philosophische Sentenzen. 106 Längst schon war nach und nach das Christentum ins Reich gedrungen; es hatte den Sieg erlangt und erfüllte bald alle heilige Orte mit christlichen Gesängen und Hymnen.

[13] Nachschrift

Soweit das erste Fragment. Sammlen wir seine Winke, so werden wir gewahr, daß in Griechenland und Rom die echte Poesie mit Religion, Sitten und dem Staate selbst untergegangen sei; denn woran sollte sie sich, außer diesen ihren drei Grundstützen, halten? Waren die Götter zu Märchen worden, an welche niemand mehr glaubte, so ward man ihrer Lobgesänge, zuletzt auch des Gelächters über sie bald überdrüssig; der Hymnus sowohl als der Mimus hatte sich an ihnen erschöpfet.

Mit dem Ernst und der Anständigkeit in Sitten hatte die Poesie ihren gesundesten und festesten Nerv verloren; denn das Lachen eines Kranken ist nicht ein Zeichen seiner Gesundheit. Die niedrigen Zwecke, wozu man im üppigen Rom die Poesie anwandte, machten sie verächtlich, zuletzt abscheulich, so wie gegenteils die strafende Poesie, die ihre Geißel dagegen erhob, notwendig auch oft über die Grenzen des Schönen und Wohlgefälligen streifen mußte.

Sank endlich der Staat, so sank alles Edle mit ihm; nichts konnte sich retten; denn wohin hätte es außer dem Staat sich retten mögen? Wie in einbrechender Nacht sehen wir also allmählich die Sonne, die Abendröte, zuletzt auch die hie und da noch funkelnden Sterne verschwinden: das Firmament umziehen dunkle Wolken, es wird Nacht. Vermutlich wäre das ganze südliche Europa eine so dunkle Nacht und ein Chaos worden, wenn nicht aus Orient ein sonderbarer Strahl die Finsternis zerteilt und einer neuen Morgenröte von fern den Weg gebahnt hätte. Das zweite Fragment wird hievon reden.

[14] 82.
Zweites Fragment

Christliche Hymnen


Den Hymnen, die das Christentum einführte, lagen jene alte ebräische Psalmen zum Grunde, die, wo nicht als Gesänge oder Antiphonien, so doch als Gebete sehr bald in die Kirche kamen. Das Denkmal, das die bleibende Gegenwart des Stifters unter den Seinigen darstellen sollte, das Abendmahl, war unter Lobgesängen aus dem Psalmbuch eingesetzt; er, der Stifter des Christentums selbst, hatte sich mit Worten aus dem Psalmbuch getröstet; dem Psalmbuch also gaben Apostel und Kirchenväter mit Recht, auch seiner Popularität wegen, das größeste Lob, da sowohl die Stimme einzelner Personen als eines ganzen Volks in ihm so herzlich, so stark und lieblich erschallte. Luther bei sehr veränderten Zeitumständen nennet es einen Blumengarten von allerlei Blumen, einen ganzen Weltlauf von Zuständen des menschlichen Herzens und Lebens. 107 Da ist keine Klage, meint er, kein Schmerz, kein Jammer, aber auch keine Hoffnung, kein Trost, keine Freude, die in ihm nicht ihren Ausdruck finde.

Und weil es mit der größesten Einfalt abgefaßt ist (denn lyrisch-einfacher kann nichts sein als der Parallelismus der Psalmen, gleichsam ein doppeltes Chor, das sich einander fragt und antwortet, zurechtweiset und bestärket), so war es einer einfältigen Christengemeine, sowohl in Zeiten des Drucks als in Empfindungen der Freude und Hoffnung, wie vom Himmel gegeben. Daher der frühe Gebrauch dieses Buchs in der christlichen Kirche; daher von den ersten Zeiten an, ehe es christliche Dichter geben konnte, jene lauten Gesänge, dadurch sich ihre Zusammenkünfte den Römern merkbar machten; 108 es waren Psalmen.


[15] »Das schöne Buch, das Richtscheit guter Sitten.
Die starke Kraft, den Himmel zu erbitten,
Des Lebens Trost, der Mut zum Sterben gibt,
Was der Held sang, den Gott grundaus geliebt,
Ward durch den Saal der ganzen Welt gesungen,
Und regte sich in aller Christen Zungen,«

sagt Opitz.


Nicht nur von seiten des Inhalts, sondern auch von seiten der Form ward dieser Gebrauch der Psalmen dem Geist und Herzen der Menschen eine Wohltat. Wie man in keinem lyrischen Dichter der Griechen und Römer so viel Lehre, Trost und Unterweisung wie hier beisammen fand, so war auch schwerlich irgendwo sonst (wenn man die Psalmen nur als Oden betrachtet) eine so reiche Abwechselung des Tons in jeder Gesangesart wie hier gegeben. Zwei Jahrtausende her sind diese alte Psalmen oft und vielfach übersetzt und nachgeahmet worden; und doch ist noch manche neue Bildung ihrer vielfassenden reichen Manier möglich. Sie sind Blumen, die sich nach jeder Zeit, nach jedem Boden verwandeln und immer in frischer Jugend dastehn. Eben weil dies Buch die einfachsten lyrischen Töne zum Ausdruck der mannigfaltigsten Empfindungen enthält, ist es ein Gesangbuch für alle Zeiten.

Den näheren Ton zu christlichen Gesängen gaben indes die Lobgesänge Zacharias' und der Maria, der Gruß des Engels, der Abschied Simeons u.f., mit denen das Neue Testament anfing. Ihre sanftere Stimme war dem Geist des Christentums gemäßer als selbst der laute Paukenschall jener alten frohlockenden Halleluja, obgleich auch diese vielfach angewandt und mit Stimmen der Propheten oder andrer biblischen Gesänge bald verstärkt, bald gemildert wurden. Über den Gräbern der Verstorbenen, deren Auferstehung man im Geist schon gegenwärtig erblickte, in Einöden und Katakomben ertönten zuerst diese Buß-und Gebet-, diese Trauer- und Hoffnungspsalmen, bis sie nach öffentlicher Einführung des Christentums aus dem Dunkel ins Licht, aus der Einsamkeit [16] in prächtige Kirchen, vor geweihte Altäre traten und jetzt auch in ihrem Ausdruck Pracht annahmen. Schwerlich wird jemand sein, der z.B. im Gesange des Prudentius: »Iam moesta quiesce querela,« nicht von rührenden Tönen sein Herz ergriffen fühlte, dem der Totengesang: »Dies irae, dies illa,« nicht Schauder einjagte, den so viel andre Hymnen, jeder mit seinem Charakter bezeichnet, z.B. »Veni, redemtor gentium,« »Vexilla Regis prodeunt,« »Salvete, flores Martyrum,« »Pange lingua gloriosi« u.f., nicht in den Ton versetzten, den jeder Hymnus will und in seiner demütigen Gestalt, mit allen seinen kirchlichen Idiotismen mächtig gebietet. In diesem tönt die Stimme der Betenden; jenen könnte nur die Harfe begleiten; in andern schallt die Posaune; es ruft und tönt die tausendstimmige Orgel u.f. –

Fragt man sich um die Ursache der sonderbaren Wirkung, die man von diesen altchristlichen Gesängen empfindet, so wird man dabei eigen betroffen. Es ist nichts weniger als ein neuer Gedanke, der uns hier rührt, dort mächtig erschüttert; Gedanken sind in diesen Hymnen überhaupt sparsam. Manche sind nur feierliche Rezitationen einer bekannten Geschichte, oder sie sind bekannte Bitten und Gebete. Fast kommt der Inhalt aller in allen wieder. Selten sind es auch überraschend-feine und neue Empfindungen, mit denen sie uns etwa durchströmen; aufs Neue und Feine ist in den Hymnen gar nicht gerechnet. Was ist's denn, was uns rühret? Einfalt und Wahrheit. Hier tönt die Sprache eines allgemeinen Bekenntnisses, eines Herzens und Glaubens. Die meisten sind eingerichtet, daß sie alle Tage gesungen werden können und sollen, oder sie sind an Feste der Jahreszeiten gebunden. Wie diese wiederkommen, kommt in ewiger Umwälzung auch ihr christliches Bekenntnis wieder. Zu fein ist in den Hymnen [17] keine Empfindung, keine Pflicht, kein Trost gegriffen; es herrscht in ihnen allen ein allgemeiner popularer Inhalt in großen Akzenten. Wer in einem »Te Deum« oder »Salve regina« neue Gedanken sucht, sucht sie an unrechtem Orte; eben das täglich und ewig Bekannte soll hier das Gepräge der Wahrheit sein. Der Gesang soll ein ambrosisches Opfer der Natur werden, unsterblich und wiederkehrend wie diese.

Es ergibt sich hieraus, daß, da man bei christlichen Hymnen auf die Schönheit eines klassischen Ausdrucks, auf die Anmut der Empfindung im gegenwärtigen Moment, kurz, auf die Wirkung eines eigentlichen Kunstwerks gar nicht rechnete, diese Gesänge, sobald sie eingeführt waren, die sonderbarsten Folgen haben mußten. Wie nämlich die Hand der Christen Bildsäulen und Tempel der Götter dem unsichtbaren Gott zu Ehren zerstörte, so hielten diese Hymnen auch einen Keim in sich, der den heidnischen Gesängen den Tod bringen sollte. Nicht nur wurden von den Christen jene Hymnen an Götter und Göttinnen, an Heroen und Genien als Werke der Ungläubigen oder der Abergläubigen angesehen, sondern und vorzüglich ward auch der Keim, der sie hervorgebracht hatte, die dichtende oder spielende Einbildungskraft, dieLust und Fröhlichkeit des Volks an Nationalfesten u.f., als eine Schule böser Dämonen verdammt, ja derNationalruhm selbst, auf welchen jene Gesänge wirkten, als eine gefährlich-glänzende Sünde verachtet. Die alte Religion hatte sich überlebet; die neue Religion hatte gewonnen, wenn die Torheit des heidnischen Götzendienstes und Aberglaubens die Unordnungen und Greuel, die an den Festen des Bacchus der Kybele, der Aphrodite vorgingen, ins Licht kamen. Also auch was von der Poesie dahin gehörte, war ein Werk des Teufels. Es begann eine neue Zeit für Poesie, Musik, Sprache, Wissenschaften, selbst für die ganze Richtung der menschlichen Denkart.

[18] Denn 1. Fortan war die Poesie keinem Volk, keinem Lande eigen, weil dieser Geist christlicher Hymnen mit Zerstörung aller Nationalheiligtümer die Völker insgesamt umfaßte und glauben lehrte. An die Stelle jener längst verlebten Heroen und Nationalwohltäter traten jetzt neue Heroen, die Märtyrer, die auf der Erde ihre Festtage, Kirchen und Patrimonien bekamen, wie sie als Schutzpatrone und Fürbitter bei Gott angesehene Plätze droben besaßen. Himmel und Erde war also den Heiligen gegeben, die christliche Welt war unter sie verteilet. Statt einzelner irdischer Wohltaten sang man eine große Wohltat, die Erlösung der Welt vom Aberglauben und den Dämonen. Statt eingeschränkter irdischer Hoffnungen sang maneine große Hoffnung, die Erwartung der Ankunft des Richters über Lebendige und Tote, mit welcher die Gesamtherrschaft in seinem Reiche wesentlich verknüpft war. Jahrhundertelang hielt man diese Ankunft für nah; alle traurige Zeichen der Zeit, an denen man großenteils selbst schuld war, wurden auf sie gedeutet; und ungeheure Dinge, Verfolgungen, Schenkungen, Kriege, wurden durch sie befördert. Hymnen an die Märtyrer, Hoffnungen der Auferstehung und der Wiederkunft Christi machen also einen großen Teil der Dichtkunst dieser Zeiten aus; sie waren auch eine mächtige Triebfeder. Von heidnischer Poesie mochte untergehen, was untergehen wollte; was man rettete, ward etwa der Sprache, der Silbenmaße, der späteren platonischen Philosophie oder zufällig eines dem Christentum zuträglichen Umstandes wegen erhalten. Selbst die jüdischen Psalmen wurden jetzt bloß und allein christlich verstanden und gegen Ketzer, ja gegen die Juden selbst zeitmäßig gedeutet; es ward mit ihnen gebetet, geflucht, verbannet, exorzisieret. Was irgend man in der Literatur fand und anwenden wollte, verlor seinen alten Zweck und ward christlich.

2. Die Musik bekam durch die christlichen Hymnen mit der Zeit eine ganz andre Art und Weise. Da der Inhalt dieser Gesänge gleichsam ein Chor der Völker und so allgemein war, daß sich die Töne dem einzelnen Ausdruck einer individuellen [19] Empfindung weder anschließen konnten noch sollten, so ging dabei der Strom der Musik, allumfassend, in seinem großen Gange desto ungehinderter und prächtiger fort. Wenig achtete er auf Füße des Silbenmaßes, auf den Inhalt einzelner Strophen, auf einzelne Worte; mit der Strophe, welches Inhalts sie auch war, kehrte der Gesang wieder; das Feierliche verbarg jede Verschiedenheit in seinen weiten Mantel. Bei den Griechen war dies anders gewesen; bei ihnen war die Poesie herrschend, die Musik dienend. Jetzt ward die Musik herrschend, die im Silbenmaß gebrechliche Poesie diente. Ein einziger Umstand, der schon einen völligen Unterschied zwischen der alten und neuen Poesie, der alten und neuen Musik gründet. Die jetzt herrschende Musik, die gleichsam von einem unermeßlichen Chor in den Wolken getragen ward, mußte notwendig, später oder früher, für sich selbst ein Gebäude der Harmonie ausbilden, da bei den Hymnen des Christentums auf Melodie wenig, auf einzelne Glieder des Versbaues und der Empfindungen noch weniger und auf ein daraus entspringendes momentanes Kunstvergnügen gar nicht gerechnet war. Der Tonkünstler dagegen war Zauberer in den Wolken, der mit seinen Schritten im großen Gange der Harmonie desto gebietender den Inhalt des Ganzen verfolgte und auf andächtige Gemüter in diesem vollstimmigen Gange desto stärker wirkte. Durch den christlichen Gesang war also die Harmonie der Stimmen im Konzert der Völker gleichsam gegeben.

3. Auch die Sprache ward durch diese neue Einrichtung der Dinge sehr verändert. Wenn bei Griechen und Römern jener alte echte Rhythmus, nach welchem jede Silbe ihr bestimmtes Zeitmaß an Länge und Kürze, an Tiefe und Höhe hatte, nicht schon verlorengegangen war, so ging er jetzt, wie die christlichen Hymnen zeigen, bald verloren. Man achtete auf ihn wenig und folgte dagegen, weil auf Popularität alles gerechnet war, der gemeinen Aussprache, ihren Perioden und Kadenzen, kurz, dem Wohlklange des plebejen Ohrs. Ohne Quantität der Silben brachte man also Reime und Assonanzen [20] ins Spiel; man formte einen gewissen Numerus der Strophe, der dem alltäglichen Gehör gemäß war, den aber die Griechen und Römer nur in den sogenannten politischen oder gemeinen Volksversen erträglich gefunden hatten. Im Innern konnte die Sprache ebensowenig rein bleiben,da jetzt in Poesie und Rede der Genius fast aller Völker miteinander vermischt ward. Ausdrücke der Ebräer und andrer Asiaten, der Griechen und Römer in den verschiedensten Provinzen, endlich der Barbaren, die Sieger waren und Christen wurden, flossen zusammen: so ward dann nach Ort und Zeit das Griechische und das Latein der mittleren Zeiten gebildet, das man mit Recht die Mönchssprache nennet. Sie bildete sich einen Reichtum neuer Ausdrücke nach ihren Bedürfnissen und Umständen; der alte Römergenius aber war verschwunden.

4. Wie manche Wissenschaften das damalige Christentum entbehrlich glaubte, erweiset die Geschichte der mittleren Zeiten. Gesänge, Predigten und Ordensregeln, die vom Untergange der Welt (seculi huius), von der Eitelkeit aller irdischen Dinge, von der Trüglichkeit des menschlichen Geistes, von der Nähe eines Reichs sprechen, in welchem alles anders sein wird und sein muß, fachen nicht eben die Lust an, den gegenwärtigen Zustand der Welt, wie er ist, zu beleben. Im Himmel war das Vaterland der Christen; dahinauf strebten ihre Gesänge; das Schema der gegenwärtigen Welt war ihnen vergänglich, ob sie es übrigens gleich für sich sehr gut und ein Teil mit Bedrückung eines größeren andern Teils der Menschheit zu gebrauchen wußten.

5. Dagegen ward bald, hie und da, jene mystische Empfindungstheologie ausgesponnen, die, ihrer stillen Gestalt ungeachtet, vielleicht die wirksamste Theologie in der Welt gewesen. Im Christentum schlang sie sich dem jüngeren Platonismus an, der ihr viel Zweige der Vereinigung darbot; aber auch ohne Platonismus war sie bei allen Völkern, die empfindend dachten und denkend empfanden, in jeder Religion, die beseligen wollte, am Ende das Ziel der Betrachtung. Sinnliche Völker selbst haben zuweilen auf die sonderbarste Weise [21] einen Mystizismus gesucht und sich in ihm berauschet; vernünftelnde Völker suchten ihn auf ihre Weise. Der Grund dazu liegt in der Natur des Menschen. Er will Ruhe und Tätigkeit, Genuß und Beschauung auf die kostenfreieste, dauerhafteste, zugleich auch auf die untrüglichste, auf eine gleichsam unendliche Weise. So gern möchte er mit Ideen leben und selbst Idee sein. Die träge Zeit, den leeren Raum, die lahme Bewegung um sich her möchte er gern überspringen und vernichten, dagegen alles an sich ziehn, sich allem zueignen und zuletzt in einem Ideal zerfließen, das jeden Genuß in sich faßt, wohin seine Vorstellung reichet. Viele Umstände der damaligen und folgenden Zeit kamen zusammen, diesen Mystizismus zu nähren und ihn dem Christentum, zu welchem er ursprünglich nicht gehörte, einzuverleiben. Ein spekulierender Geist, dem es an Materie zur Spekulation fehlet, ein liebendes Herz ohne Gegenstand der Liebe gerät immer auf den Mystizismus Einsame Gegenden, Klosterzellen, ein Krankenlager, Gefängnis und Kerker, endlich auch auffallende Begebenheiten, die Bekanntschaft mit sonderbar-liebreichen und bedeutenden Personen, Worte, die man von ihnen gehört, Zeichen der Zeit, die man erlebt hat, u.f., alle diese Dinge brüten den Mystizismus, dies Lieblingskind unsrer geistigen Wirksamkeit und Trägheit, in einer groben oder seidenen Umhüllung aus und geben ihm zuletzt die bunten Flügel des himmlischen Amors. Man liebet, und weiß nicht, wenn man begehret, und weiß nicht, was? Etwas Unendliches, das Höchste, Schönste, Beste.

So unentbehrlich dem Menschen diese Tendenz nach dem Vortrefflichsten und Vollkommensten ist, ohne welche er wie eine Raupe umherkröche und vermoderte, so leer bleibt dennoch die Seele, wenn sie, bloß auf Flügeln der Imagination im Taumel der Begeisterung fortgetragen, in ungeheuren Wüsten umherschweift. Das Unendliche gibt kein Bild; denn es hat keinen Umriß; selten haben diesen auch die Poesien, die das Unermeßliche singen. Sie schwingen sich entweder in ein Empyreum des Urlichts voll gestaltloser Seraphim auf, [22] oder wenn sie von da in die Tiefen des menschlichen Herzens zurückkehren, kann die erhöhete Spekulation dennoch nur aus ihm jene Urbilder himmlischer Schönheit holen, die sie über den Wolken begrüßet und in ein Paradies der Liebe und Seligkeit hinaufzaubert. Die Hymnen der mittleren Zeiten sind voll von diesen goldnen Bildern, in die unermeßliche Bläue des Himmels gemalet. Ich glaube nicht, daß es Ausdrücke süßerer Empfindungen gebe, als die bei der Geburt, dem Leiden und Tode Christi, bei dem Schmerz der Maria, bei ihrem Abschiede aus der Sichtbarkeit oder bei ihrer Aufnahme in den Himmel und bei dem freudigen Hingange so manches Märtyrers, bei der sehnenden Geduld so mancher leidenden Seele, meistens in den einfachsten Silbenmaßen, oft in Idiotismen und Solözismen des Affekts geäußert wurden. Wer sich davon überzeugen will, lese die frommen Liebesgesänge des heil. Bernhards und Thomas', des Kardinals Bona, der heil. Therese, des Juan de la Cruz und ihresgleichen, oder vielmehr er höre sie mit Musik begleitet. Das »Stabat Mater dolorosa« (Jacobus de Benedictis ist sein Verfasser) ist in Pergolesis Komposition sehr bekannt; dergleichen süße Schmerzen- und Liebesgesänge gibt's in der Mönchssprache viele, die ganz dazu geschaffen scheinet. Wilder Silbenmaße bediente man sich dabei nicht, vielmehr äußerst anständiger und sanfter. Selbst das verzückte Metrum des sogenannten Pervigilii: »cras amet, qui numquam amavit,« das in den Hymnen oft gebraucht ist, erhält in ihnen einen Triumphton und eine Würde, die uns gleichsam aus uns selbst hinaussetzt und unser ganzes Wesen erweitert. Wie konnte dies auch anders sein, da, wo man die Bibel nur aufschlägt, im Hohenliede, Propheten, Psalmen, in den Evangelien, Briefen und der Offenbarung, man Ausdrücke bald der erhabensten Einfalt, bald der innigsten Zärtlichkeit und Liebe findet? Wer Händels Messias, einige Psalmen von Marcello und Allegris, Leo, Palestrina Kompositionen der [23] simpelsten bilblischen Worte gehört hat und dann die lateinische Bibel, christliche Epitaphien, Passions-, Grab-, Auferstehungslieder lieset, der wird sich trotz aller Solözismen und Idiotismen in dieser christlichen wie in einer neuen Welt fühlen.

Nachschrift

Da ich es nicht voraussetzen kann, daß jedem von Ihnen eine Menge der Hymnen bekannt sei, von denen das Fragment redet, so lasse ich von einigen der angeführten nur Strophen abschreiben, die ich etwa mit einer Anmerkung begleite. Die Solözismen und Idiotismen darin gehören zur Sprache der Zeit; überhaupt sind diese Verse nicht zu lesen, sondern mit der ihnen gebührenden Musik zu hören:


1.
Iam moesta quiesce 109

Iam moesta quiesce querela!
Lacrimas suspendite, matres;
Nullus sua pignora plangat
Mors haec reparatio vitae est.
Nunc suscipe, terra, fovendum
Gremioque hunc concipe molli;
Hominis tibi membra sequestro
Generosa et fragmina credo.
Veniant modo tempora justa,
Cum spem Deus impleat omnem;
Reddas patefacta, necesse est,
Qualem tibi trado figuram. seq.
[24] 2.
Dies irae 110

Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla
Teste David cum Sibylla.
Quantus tremor est futurus,
Quando iudex est venturus,
Cuncta stricte discussurus.
Tuba mirum spargens sonum
Per sepulcra regionum
Coget omnes ante tronum.
Mors stupebit et natura,
Cum resurget creatura
Iudicanti responsura.
Liber divus tunc pandetur,
In quo totum continetur,
Unde mundus iudicetur.
[25]
Iudex ergo cum sedebit,
Quidquid latet apparebit,
Nil inultum remanebit.
Quid sum miser tunc dicturus?
Quem patronum rogaturus?
Cum vix iustus sit securus.
Rex tremendae Maiestatis,
Qui salvandos salvas gratis,
Salva me, fons pietatis. seq.
[26] 3.
Lauda Sion Salvatorem,
Lauda Ducem et Pastorem
In hymnis et canticis;
Quantum potes, tantum aude,
Quia maior omni laude
Nec laudare sufficis.
Sit laus plena, sit sonora,
Sit iucunda, sit decora
Mentis iubilatio.
Dies enim agitatur,
In qua mensae ruminatur
Huius institutio. seq.
4.
Pange lingua gloriosi proelium certaminis
Et super crucis trophaeo dic triumphum nobilem;
[27] Qualiter redemtor orbis immolatus vicerit.
Crux fidelis inter omnes arbor una nobilis
Nulla talem sylva profert fronde, flore, germine,
Dulce lignum, dulce signum, dulce pondus sustinens. seq.
5.
Ave maris stella, Dei mater alma,
Atque semper virgo, felix coeli porta.
Virgo singularis, inter omnes mitis
Nos culpis solutos mites fac et castos etc.
6. 111
Stabat mater dolorosa,
Iuxta crucem lacrimosa
Dum pendebat filius.
Cuius animam gementem,
[28]
Contristatam et dolentem,
Pertransivit gladius.
O quam tristis et afflicta
Fuit illa benedicta
Mater Unigeniti,
Quae moerebat et dolebat
Et tremebat, cum videbat
Nati poenas incliti.
Fac me cruce costodiri
Morte Christi praemuniri
Confoveri gratia.
Quando corpus morietur,
Fac ut anima donetur
Paradisi gloria.
[29] 7. 112

Ut quid iubes, pusiole?
Quare mandas, filiole,
Carmen dulce me cantare,
Cum sim longe exsul valde
Intra mare;
O cur iubes canere?
Magis mihi miserale
Flere libet puerale
Plus plorare quam cantare
Carmen tale iubes quare?
Amor care,
O cur iubes canere?

83.

Mit Ihrem »Dies irae, dies illa« haben Sie mir eine schöne Welt zu Grabe geläutet: die Welt der Erscheinungen des Altertums in ihren bestimmten, lieblichen Formen, in ihren bedeutenden Gebärden, in ihren gleichsam organisierten [30] Tönen. Sie wird nicht wiederkommen auf unsrer Erde, sowenig uns unsre Jugend zurückkommt.

Jene ersten Versuche der Menschen, sich das Unsichtbare sichtbar, das Vergangene und Entfernte gegenwärtig zu machen, eine Welt von Gegenständen, von Bildern und Empfindungen durch Worte und Töne darzustellen, und zwar also darzustellen, daß auch ihre Folge sprechend, daß ihre Veränderung in Licht und Farben bis zum Kleinsten empfunden oder bemerkt werde – diese Versuche, in einer gegebnen langen Zeit zu Meisterwerken der poetischen Kunst erhöhet, von einer Nation, der die Kunst Natur, der Geschmack am Schönen Charakter gewesen zu sein scheinet, werden ihresgleichen schwerlich in Zeiten finden, die Ihre angeführte Hymnen eingeläutet haben.

Nichts ist von zarterem Wesen als der echte Natur– und Kunstgeschmack. Durch Frömmigkeit und An dacht, selbst durch Gelehrsamkeit und Fleiß läßt er sich nicht erlangen; er ist eine himmlische Grazie, die auf unsrer Erde nur hie und da, dann und wann erscheinet. Sie kann ebensoleicht weggebetet als wegstudiert werden; einmal vertrieben, kommt sie selten oder spät wieder.

Und doch ist mit diesem Natur- und Kunstgeschmack selbst der richtige Sinn, die wahre Vernunft des Menschen so innig verbunden. Schwerlich werde ich in Ihrem Athanasius und Ambrosius so schlicht und rein zu lesen bekommen, was mich Ciceros »Pflichten,« Horaz' »Briefe« und »Sermonen« lehren. Die Litaneien und Legenden der Heiligen, ja das ganze Breviarium dieser Sittenlehre und Weisheit wird das echte Richtmaß menschlicher Moralität kaum so strenge an mich legen, als es die festen Lehren des Altertums, seine mit sichrer Hand, im bestimmtesten Umriß gezeichneten Charaktere zu tun vermochten. Ist einmal der Gesichtskreis und das Ziel der Bestimmung verrückt, zu welchem die Menschen auf Erden leben, so erscheinen durch katoptrische Spiegel zurückgeworfene seltsame Bilder und Vorbilder des Lebens. Eine Zauberlaterne bringt Gestalten hervor, die in Schrecken und [31] Verwunderung setzen können, denen man aber nicht ohne Gefahr folget.

Ihr Fragment meldete uns an, daß sich fortan dieMusik von der Poesie scheiden und in eignen Regionen ihr Kunstwerk treiben werde; fürs unbewehrte menschliche Geschlecht eine gefährliche Scheidung. Musik ohne Worte setzt uns in ein Reich dunkler Ideen, sie weckt Gefühle auf, jedem nach seiner Weise, Gefühle, wie sie im Herzen schlummern, die im Strom oder in der Flut künstlicher Töne ohne Worte keinen Wegweiser und Leiter finden. Eine Musik, die über Worte gebietet, ist nicht viel anders; sie herrscht despotisch. Erinnern Sie sich in Drydens Ode am Cäcilientage, wohin die Gewalt der Musik den Alexander reißt? Der Halbgott sinkt der Buhlerin in den Arm, er schwingt die Fackel zu Persepolis' Brande. Auf gleiche Weise kann durch eine geistliche und, wenn man will, eine himmlische Musik die Seele dergestalt aus sich gesetzt werden, daß sie sich, unbrauchbar und stumpf gemacht für dies irdische Leben, in gestaltlosen Worten und Tönen selbst verlieret.

Unsre zarte, fehlbare und fein empfängliche Natur hat aller Sinne nötig, die ihr Gott gegeben; sie kannkeinen seines Dienstes entlassen, um sich einem andern allein anzuvertrauen; denn eben im Gesamtgebrauch aller Sinne und Organe zündet und leuchtet allein die Fackel des Lebens. Das Auge ist, wenn man will, der kälteste, der äußerlichste und oberflächlichste Sinn unter allen; er ist aber auch der schnellste, der umfassendste, der helleste Sinn; er umschreibt, teilt, bezirkt und übt die Meßkunst für alle seine Brüder. Das Ohr dagegen ist ein zwar tiefdringender, mächtig erschütternder, aber auch ein sehr abergläubiger Sinn. In seinen Schwingungen ist etwas Unabzählbares, Unermeßliches, das die Seele in eine süße Verzückung setzt, in welcher sie kein Ende findet. Behüte uns also die Muse vor einer bloßen Poesie des Ohrs ohne Berichtigung der Gestalten und ihres Maßes durchs Auge.

Nochmals gehe ich Ihr Fragment durch und frage: »Wie, [32] wenn aus dieser heil'gen Mönchspoesie eine Volksdichtung hervorgehen sollte, wie wird sie werden? Gewiß anders als die Poesie der Griechen war, nicht nur im Inhalt des Gesanges, sondern auch in desselben ganzer Art und Weise.«

1. Von Mythologie wird in ihr nicht die Rede sein können, da man diese als eine Dämonensage ansah. Wenn eine derselben gebildet werden sollte, wird sie aus dem Glauben der Kirche, aus Sagen des gemeinen Volks, aus Nationalmeinungen und Abenteuern hervorgehn. Jede solcher Gestalten wird die Kirche weihen und ordnen. –

2. Reine Umrisse der Phantasie und des Natursinnes nach Art der Griechen wird diese Dichtkunst schwerlich enthalten, da diese Welt ihr nur ein vorübergehender Schatte zur künftigen Welt ist. Zwischen beide wird sich der Blick teilen, mithin jene sich in eine Art Dämmerung verlieren. Höchstens also werden Allegorien auftreten, statt reiner und bestimmter Begriffe; auch wirkliche Personen werden gern als Allegorien und Larven oder als heilige Nebelgestalten erscheinen, die sich in der Ferne verlieren.

3. Das Interesse, das diese Poesie gibt, wird selten ein Nationalinteresse sein, wie bei Griechen und Römern, vielleicht aber ein allgemeineres Interesse christlicher Völker, die alle das heilige Bad besprengt hat, die, als Begünstigte des Himmels mit dem Kreuz bezeichnet, eine eigne christliche Providenz über sich erkennen, Engel zu ihrer Seite haben und von der Erde gen Himmel wandern. In der Erzählung wird dies den Ton der Geschichte und Dichtung ganz ändern.

4. Allen Handlungen und Leidenschaften der Menschen, ihren Tugenden und Lastern wird hiemit eine eigne religiose Farbe, ein Anzug gegeben werden, den die alte Welt nicht kannte In die Liebe wird sich Andacht mischen und die Üppigkeit dagegen vielleicht desto sinnlicher ihr Werk treiben. Statt des Verdienstes der Vorfahren um ein enges Vaterland wird ein andächtiger Ruhm, eine Ehre hervorgehn, die Stand ist und nach Ständen wirket. Auf diesem Wege wird eine Sentimentalität zum Vorschein kommen, von der die [33] Poesie der Alten nicht wußte, eine anerzogne Sentimentalität der Stände.

5. Endlich, da der Rhythmus der Griechen verloren ist und sich der poetische Genius hier ungebildeten, mit dem römischen Volksdialekt vermischten Sprachen mitteilen soll, so werden in dieser Verwirrung ohne Silbenmaße der Alten sich ohne Zweifel rohereVolksgesänge nach dem Modell der Mönchspoesie formen. Was das innere Maß und Gewicht der Silben nicht tun kann, wird der Reim ersetzen sollen, mit dem von jeher das Ohr und die Zunge des Volks spielte. Poesie wird also eine gereimte Prose in Versperioden werden, deren Abwechselung und Ründung etwa auch ein unwissendes Ohr verfolgen kann; dagegen die Musik, vom Bau der Silben getrennt, in ihrer eignen Region ihr Werk treibet. Lassen Sie uns bald einige Glocken- und Posaunen- und Orgeltöne, aber, wenn ich bitten darf, auch einige Töne der Harfe aus diesem neuen christlichen Odeum aller europäischen Nationen hören.

84.
Drittes Fragment

Bildung eines neuen Geschmacks in Europa und dessen erste Verfeinerung


Alle deutsche Nationen, die das römische Reich unter sich teilten, kamen mit Heldenliedern von Taten ihrer Vorfahren in die ihnen neue Welt; es sind auch Zeugnisse vorhanden, daß diese Gesänge unter ihnen sich lange erhalten haben. Wie auch anders? Diese Gesänge waren ja die ganze Wissenschaft und Geistesergötzung solcher barbarischen Völker, das Archiv ihres Ruhmes und Nachruhms. Was zu den Zeiten der griechischen Sänger αοιδων der Fall gewesen, kam jetzt auf eine rohere Weise wieder. Völker, die das Schreiben nicht viel kannten und noch weniger liebten, erhielten durch Lieder das Andenken ihrer Vorfahren, und jedes Volk hatte dabei seine eigne Lieblingshelden, seine eigne Lieblingstöne.

[34] Sehr nützlich wäre es, wenn wir diese alten Wurzeln des Stammes der Denkart und Sprache unsrer Vorfahren noch besäßen, wenn wir die Lieder vonMann und Hermann, Dietrich von Bern, Alboin, Hildebrand, Rüdiger, Siegfried, die Engländer ihr Horn- Child, Hervart, Grym, Hanelock, und so jedes deutsche Volk die seinigen, noch hätten. Es gilt aber von allen diesen, was Horaz von jenen uralten griechischen Helden sagt, die vor Homer lebten:


Sie liegen alle, weil sie der heiligen
Gesänge darben, unbejammert,
Ruhmlos in ewiger Nacht begraben.

Die Veränderung und Mischung der Sprachen, bei den wandernden Völkern die Verschiedenheit des nordlichen und südlichen Klima, wohl aber am meisten der Fortgang der Sitten selbst hat uns dieser wahrscheinlich in rauhen Tönen besungenen Heldengestalten beraubet.

Wie verschieden nämlich die Mundarten der deutschen Sprache nach den verschiedenen Volksstämmen, Zeiten und Gegenden waren, dergestalt, daß man die Goten am Schwarzen Meer, in Italien und Spanien, die Wandalen in Pommern und Afrika, die Angeln zu Hengst und zu Wilhelm des Eroberers Zeiten nicht für eins nehmen darf, so ist doch in allem, was wir von ihren Sprachen wissen, ihr nordisches Gewand unverkennbar. Die deutsche Sprache nämlich, zumal in rauhen Gegenden, liebt einsilbige Töne. Hart wird der Schall angestoßen, stark angeklungen, damit, soviel möglich, alles auf einmal gesagt werde. Eine Silbe soll alles fassen, die folgenden werden zusammengezogen und gleichsam verschlungen, so daß sie selten aushallen und kaum zwischen den Lippen als erstickte Geister schweben. Die ganze Bildung unsrer Sprache, am meisten die aus dem Latein bei uns aufgenommenen Worte und Namen beweisen dies; es sind hart zusammengedrängte Laute, und, was noch sonderbarer ist, mit dem Verfolg der Jahrhunderte hat sich dies Zusammendrängen der Buchstaben nicht vermindert, sondern vermehrt.

[35] Ulfilas und Otfrieds Sprache sind ungleich tönender, als wie man z.B. im vorigen Jahrhundert oder noch jetzt aus dem Munde des Volks die Worte schreibet. Das Angelsächsische schlich mit viel stummen »e« in mehreren Silben langsam fort; das Englische, das sich unter den Normännern bildete, warf Buchstaben weg, drängte sie zusammen, schnitt vorn und hinten ab die Silben; so entstand ein ganz neuer Gang und Rhythmus der Sprache.

Aus dieser beliebten Einsilbigkeit der nordischen Mundarten, bei der man aus Trägheit oder wie in böser Luft die Lippen kaum zu öffnen waget und immer nur »hm! hm!« sprechen möchte, war es natürlich, daß, wenn man Worte gegeneinander künstlich stellen wollte, dies insonderheit im Anklange bemerkt werden mußte, indem der Ausgang der Worte gern im Dunkeln blieb. Dies ist nun jenes berühmte System nordischer Alliterationen (Annominationen) 113, das um kein Haar unnatürlicher als der Reim ist, indem man hier nur in der Mitte oder vorn reimet. Den Alten, d.i. Griechen und Römern, waren beide Arten eines solchen Wohlklanges Übelklänge; ähnliche Anklänge der Worte suchten sie wie den Reim zu vermeiden. Auch für die Gegenden eines besseren Klima war dieser nordische rauhe Silbentritt nicht; die spanischen Romanzen, die vielleicht nach gotischen Volksliedern geformt sind, haben jenen wilden, männlichen Jambus, der ursprünglich in Wäldern zum Jagd- und Kriegshorn [36] tönte, fahrenlassen und statt dessen langsame Trochäen in weiblichen Ausgängen mit dem zuletzt prächtig verhallenden »ar« gewählet. In Italiens Luft zerfloß gleichfalls der gotische und longobardische Silbenanklang in weiche und immer weichere Töne. Kein Wunder also, daß jene alten Heldenmelodien in dieser sanfteren Luft den Tönen nach allmählich verhallten.

Dabei aber gingen nicht sofort auch die Erzählungen selbst, jene Heldensagen zugrunde, die gleichsam die Seele dieser Völker, ihr Trank und ihre geistige Speise waren. Sie konnten nicht zugrunde gehen, weil diese Völker (wenn mir der Ausdruck erlaubt ist) abenteuerlich dachten und entweder gar nicht oder im Abenteuer lebten. Ein Volk, von wenigen, aber starken Begriffen und Leidenschaften geregt und getrieben, hat wenig Lust zu ordnungsmäßigen, gewöhnlichen, ruhigen Geschäften; es bleibt gegen sie kalt und träge. Dagegen flammet's auf, wenn ein Abenteuer ruft, wenn wie ein Jagd- und Kriegshorn die Abenteuersage ertönet. In eingepflanzten Trieben, in angebornen Begriffen und Neigungen ging diese Liebe zum Abenteuer auf Geschlechter hinab; der geistliche Stand, in dessen Händen die Bildung der Menschen nach Begriffen der Zeit war, bemächtigte sich dieses Triebes; er fabelte, dichtete, erzählte. Von Erzählungen fängt alle Kultur roher Völker an; sie lesen nicht, sie vernünfteln nicht gern, aber sie hören und lassen sich erzählen. So Kinder, so alle Stände, die, insonderheit unter freiem Himmel, ein halbmüßiges Leben führen. Wo sie auch leben, Norweger und Araber, Perser und Mogolen, der Gote, Sachse, Frank und Katte des Mittelalters, noch jetzt alle halbmüßige Abenteurer, Krieger, Jäger, Reisende, Pilger haben hierin einerlei Geschmack, einerlei Zeitkürzung Unwissenheit ist die Mutter des Wunderbaren, unternehmende Kühnheit seine Ernährerin, unzählige Sagen seine Nachkommenschaft und ihr großer Mentor der Glaube. Wenn Mönche dergleichen Erzählungen in ihre Chroniken aufnahmen und ihre Legenden selbst darnach schrieben, so taten sie es nicht immer aus Lust zu betrügen. [37] Es war Geschmack und sogar Kreis des Wissens, Denkart der Zeit; eine echte Mönchschronik mußte vom Anfange der Welt anfangen und in bestimmten Zeiträumen durch Fabel und Geschichte der Griechen und Römer (Geschichte und Dichtung auf einem Grunde betrachtet) bis zum Ende der Welt fortgehn; das war der gegebene Umriß. Eben nach den Begebenheiten der Zeit, die allesamt geistliche und weltliche Abenteuer waren, formte sich der Umriß der Erzählung, bildete sich der Ton des Ganzen. Mehr als eine Chronik der mittleren Zeiten ist wie ein zyklisches Gedicht zu lesen.

Wenn aber und wie wird aus diesen vermischten Sagen und Abenteuermärchen so verschiedner Völker in so verschiednen Gegenden und Umständen eine »Ilias,« eine »Odyssee« erwachsen, die allem gleichsam den Kranz raubte und jetzt als Sage der Sagen gelte?

Dazu gehört viel, insonderheit aber, daß die Sprache und der Witz der europäischen Völker einigermaßen verfeinert werde, daß Völker miteinander in Verbindung oder in Wettkampf geraten, dadurch sie einander verstehen lernen, endlich daß, wenn's sein kann, hier oder da ein Homer aufkomme, dem alle horchen.

Äußerst schwer und langsam konnte diese Aufgabe aufgelöset werden, da einesteils die Völker durch Stammesvorurteile und Leidenschaften blind getrennt, anderseits die Sitten so grob oder verderbt waren, daß schwerlich ein Lorbeerbaum für ganz Europa sprossen konnte. Tapferkeit und Witz sind nicht immer beisammen, ebenso selten sind es Witz und Klosterandacht, wie die Esels- und Narrenfeste, das Hez, Sir Ane, Hez, und andre Anstalten zeigen. Wenn in die Sprachen Europas Bildung, in seine Sitten Geschmack, in seine Poesie Unterhaltung kommen sollte, so mußten diese anderswoher kommen als vom Waffenplatz und aus dem Kloster. Sie mußten aus einer Gegend kommen, wo ein fremder Umgang etwas anders als den bloßen Mönchs- und Klostergeist zeigte. Kurz – [38] Spanien war die glückliche Gegend, wo für Europa der erste Funke einer wiederkommenden Kultur schlug, die sich denn auch nach dem Ort und der Zeit gestalten mußte, in denen sie auflebte. Die Geschichte davon lautet wie ein angenehmes Märchen.

Spanien nämlich, so sagt die Geschichte, hatte unter der Herrschaft der Mauren eine sehr blühende Gestalt gewonnen; mit dem Ackerbau, dem Fleiß, dem Handel waren in ihm mehrere Wissenschaften und Künste, unter diesen auch die Dichtkunst, kultiviert worden. Die maurische Galanterie hatte sich unter dem schönen Himmel von Granada, Murcia, Andalusien veredelt; glänzende Ritterspiele waren im Gebrauch, an denen als Preisausteilerinnen auch die Damen teilnahmen. Ohne Zweifel war die Nachbarschaft dieses gebildeten Volks mit andern eine Ursache, daß unter dem gleich schönen Himmel von Valenzia, Katalonien, Aragonien und den südlichen Provinzen Frankreichs sich die sogenannte Provenzal-oder limosinische Sprache auch aus der Barbarei riß und eine frische Blüte, die provenzalische Dichtkunst, hervorbrachte. Von Valenzia an über die Inseln Majorka, Minorka, Yviza, über Aragonien und Katalonien, jenseit der Alpen über die Provence, Languedoc, Guienne, das Delphinat bis nach Poitou hinein erstreckte sich diese Sprache, die nach damaligen Zeitumständen allgemach die gebildetste in Europa ward. 114 Regierende Fürsten und Grafen, Ritter und[39] Edle von jedem Range sahen es als eine Ehre an, sie an ihren Höfen und in ihren Schlössern, die kleine Höfe waren, zierlich zu sprechen. Die Damen nahmen daran teil, nicht nur als Richterinnen und als der vielfältige Gegenstand der Gedichte, sondern zuweilen auch als Dichterinnen selbst. Die Provenzalpoesie ward das Organ des galanten Rittergeistes in allen Zweigen seiner Denkart. Man besang die Liebe und warf Fragen der Liebe auf, die in sogenannten Corte d'amore verhandelt wurden; man nannte ihre VersartTenzonen. Kleine und große Abenteuer, Begebenheiten des Lebens und der Geschichte, auch geistliche Dinge wurden in Kanzonen, Villanescas und andern Gedichtarten besungen, unter welchen man die Satiren Sirventes nannte. Auch Lehre und Unterricht trug man in mancherlei Einkleidungen vor, ja, es ereigneten sich keine Händel der damaligen Zeit, die an großen Ereignissen und Verwirrungen sehr reich war, an denen hie und dort nicht irgendein Provenzal Anteil genommen hätte. Kreuzzüge und andre Kriege, Vererbungen der Reiche und Schlösser, Sitten der Fürsten, der Damen, der Geistlichkeit, der Päpste selbst: alles berührte diese Dichtkunst, oft mit einer kühnen Freiheit. Finder, Trobadoren nannten sich die Dichter, die vorher in der bäurischen Römersprache Fatisten (Macher, faiseurs) geheißen hatten. Ihre Kunst hatte den Namen der fröhlichen Wissenschaft (gay sabèr, gaya ciencia), so wie auch ihr entschiedner Zweckfröhliche angenehme Unterhaltung war.

Der erste Garten, wo diese Blume aufsproßte, war vielleicht der Hof zu Barcelona; sehr bald aber müssen andre gefolgt sein; denn der älteste Provenzaldichter, den wir haben, Wilhelm der Neunte, Graf von Poitou, Herzog von Aquitanien, am Ende des eilften und im Anfange des zwölften Jahrhunderts, sang schon in einer zur Poesie völlig gebildeten Sprache. Auch in Galicien, Kastilien, Portugal finden sich zu ebendieser Zeit ähnliche Übungen der Verskunst ohngefähr in demselben Gedankenkreise. Die sogenannten Jeux [40] floraux aber, eine Blumengesellschaft, wo der Preis der Dichtkunst ein goldnes Veilchen war, ist von weit späterem Datum (1324). Ihre Stifterin war Clemenzia Isaura, Gräfin von Toulouse.

Man hat über den Ursprung des Reims viel gestritten und ihn bei Nordländern und Arabern, bei Mönchen, Griechen und Römern gesucht; mich dünkt, mit unnötiger Mühe. Man könnte über ihn das bekannte Kinderspiel mit dem Motto: »Alles, was reimen kann, reimt,« spielen. Mönche reimen, Otfried reimte, die Araber reimen, Mahomed im Koran, der Engel Gabriel reimt, der alte Lamech vor der Sündflut reimte. Aber Griechen und Römer in ihren schönsten Zeiten vermieden die Reime und suchten einen fortgehenden, höheren Wohlklang. Die Trobadoren, die in jedem Innern die Poesie der Araber nicht nachahmen konnten, sondern sich eine Poesie, wie sie ihnen ihr Zeitgeist, ihre Sprache und das nähere Vorbild der lateinischen Mönchspoesie gab, finden mußten, sie mußten reimen, ja sogar in die Mannigfaltigkeit gereimter Versarten einen großen Teil der Anmut ihrer Poesie legen, weil sie ihrer Zeit und Sprache nach nichts anders tun konnten. Die limosinische Mundart, wie jedes andre Kind der lingua rustica Romana, wußte vom Rhythmus der alten Römerpoesie ganz und gar nicht; also konnten die Provenzalen ihre Verse nicht nach der Grammatik der Alten skandieren; sie akzentuierten sie, wie Spanier, Portugiesen, Italiener und Franzosen noch jetzt ihre Verse akzentuierten, solche daher auch nicht nach einer eigentlichen Quantität der Silben, sondern zur artigen, verständigen Deklamation ein richten. 115 Diese akzentuierte Deklamation ward [41] eine eigne Kunst, auf welche sich die Rhapsoden der damaligen Zeit, die auch Erzähler hießen (Conteours), legten. Mit den Gedichten der Trobadoren reiseten sie an den Höfen umher und begleiteten sie teils mit einem Instrument, teils mit Gebärden; daher man sie auch Jongleours (Joculatores), Musars, Comirs Plaisantins nannte. Sie unterhielten die Gesellschaft mit Liedern und Erzählungen, den bekannten fabliaux vergangner und damaliger Zeiten, bis sie es zuletzt so arg machten, daß sie von mehreren Höfen verbannt wurden.

Die ursprüngliche fröhliche Wissenschaft (gaya ciencia) ging also von Artigkeiten des Gesprächs, von Fragen und Unterredungen, von einer angenehmen Unterhaltung aus; auch in Sonetten der Liebe, im Lobe und im Tadel, ja bei jedem Inhalt blieb dieser Charakter den Provenzalen; ein höherer poetischer Ton war ihnen ganz fremde. Also mußte das angenehme und mannigfaltige Spiel der Reime, an welche damals in geistlichen und Volksliedern das Ohr gewöhnt war, den Mangel des hohen lyrischen Wohlklanges und Rhythmus der Alten, von dem ihre Sprache und ihr Organ nicht wußte, ersetzen. Jede Versart bekam ihre Strophe, d.i. ihren abgemessenen Perioden der Deklamation in einer angewiesenen Ordnung und Art der Reime, in welcher Wissenschaft eben die Kunst der Trobadoren bestand. Und so haben wir die Gestalt der neuern europäischen Dichtkunst, sofern sie sich von der Poesie der Alten unterscheidet, auf einmal vor uns. Sie war Spiel, eine amüsierende Hofverskunst in gereimten Formen, weil der damaligen Sprache der Rhythmus [42] und der damaligen Denkart der Zweck der Poesie der Alten fehlte. Sie war ein Hofgarten, in dem hier ein Baum zum Sonett, dort zur Tenzone, zum Madrigal u.f. künstlich ausgeschnitten ward; eine höhere Gartenkunst war dem Geschmack der damaligen Zeit fremde. –

85.

Glück also zum ersten Strahl der neueren poetischen Morgenröte in Europa! Sie hat einen schönen Namen: die fröhliche Wissenschaft (gaya ciencia, gay sabèr); möchte sie dessen immer wert sein! Wir wollen uns nicht in den Streit einlassen, ob die spanische oder limosinische Sprache die ersten Dichter gehabt, ob in dieser dies- oder jenseit der Pyrenäen früher und glücklicher gedichtet worden. 116 Die Erscheinung selbst, daß an den Grenzen des arabischen Gebiets sowohl in Spanien als in Sizilien für ganz Europa die erste Aufklärung begann, ist merkwürdig und auch für einen großen Teil ihrer Folgen entscheidend.

Unleugbar ist's nämlich, daß die Araber in ihrem weiten Reiche, das sich von China bis Fez, von Mozambique bis fast an die Pyrenäen erstreckte, Sprache und Wissenschaften, Handel und Künste sehr kultiviert hatten. Wie anders nun, als daß in Spanien, wo ein Hauptsitz dieser Kultur war, wo jahrhundertelang die Christen mit ihnen in Streit oder ihnen unterwürfig gelebt hatten, neben diesem hellen Licht nicht[43] ewig und immer die Dunkelheit verharren konnte? Esmußten sich mit der Zeit die Schatten brechen; manmußte sich seiner schlechten Sprache und Sitten, der ungebildeten Rustica schämen lernen, und da die meisten Spanier Arabisch konnten, auch eine unsägliche Menge arabischer Bücher und Anstalten in Spanien jedermann vor Augen war, so konnte es ja nicht fehlen, daß jeder kleine Schritt zur Vervollkommung auch unvermerkt nach diesem Vorbilde geschah. Was sie nicht hatte, konnte die Mönchspoesie nicht geben; gegenteils konnte und wollte auch die Provenzalpoesie nicht nachahmen, was bei den Arabern für sie nicht gehörte, Mahomeds Lehre, so wenig einst die Araber den Homer und die griechische Mythologie hatten aufnehmen mögen. Aber was sich aufnehmen ließ, der Genius des Werks, die arabische Denk- und Lebensweise, sie sind in den Versuchen der Provenzalen (diese mögen schlecht oder gut sein), wie mir dünkt, unverkennbar.

Bei welch anderm Volk in Europa waren poetische Fragen und Antworten in Gebrauch als bei den Arabern? Es wurde Kunst und Lebensart darin gesetzt, auch unvorbereitet witzig in gereimten Versen zu antworten. 117 Daher also die Fragen und Antworten der Liebe bei den Provenzalen. Welch andres Volk in Europa hielt die Sprache für eins seiner edelsten Heiligtümer und feierte Wettkämpfe des schönsten poetischen Ausdrucks in ihr? Kein andres als die Araber; die angrenzende [44] Christen, beschämt über ihre Roheit, zuerst vielleicht auch nur aus Nachahmungssucht, folgten ihnen nach. Ihre Großen und Edlen taten aus Mode, was die Araber seit Jahrhunderten aus Trieb und aus Nationalstolz getan hatten, sich der Wissenschaften anzunehmen und in der Sprache der Dichter selbst zu glänzen. Welch andres Volk in Europa verband in seinen Vorstellungen Tapferkeit, Liebe undAndacht wie die Araber? Von den ältesten Zeiten an war es bei ihnen die gewöhnliche Regel eines Gedichts, von Gott und vom Propheten anzufangen, sodann der Liebe ihren Zoll zu entrichten und darauf gegen Freund oder Feind seine Tapferkeit zu bezeugen. Wie übel auch oft diese Stücke zusammenhingen, es war das angenommene poetische Gesetz, dem sich, wiefern es Religion und Sitte erlaubte, nun auch die Christen bequemten. Die festgesetzten Gattungen der Poesie der Araber, Preis und Tadel, Frohlocken und Klage, Liebe und Haß, Lehre und Beschreibung, wurden auch hier der Inhalt verschiedener Gesangesarten; selbst die Prosodie der Provenzalen ward nach der bloß akzentuierten und deklamierten arabischen Verskunst, in welcher der Reim unentbehrlich war, eingerichtet. Hören Sie darüber das Zeugnis des vielleicht gelehrtesten Arabers, den unsre Nation gehabt hat, Reiske: 118

»Die allerältesten Schriften der Araber, sowohl in gebundner als freier Rede, sind in Reimen abgefaßt. Die Art, ohne Reime zu reden und zu schreiben, ist neuer als jene. Noch heutiges Tages pflegen sie auch in ihren ungebundenen Schriften, wenn sie recht schön schreiben wollen, den Reim beizubehalten, so daß sie, wenn sie einen Reim drei-, vier- oder mehrmal wiederholt haben, alsdann einen andern vor die Hand nehmen und es mit diesem ebenso machen und dann wiederum einen andern. Auf diese Weise ist der ganze, Hariri' geschrieben, der für den Cicero der Araber gehalten wird; imgleichen des Tamerlans arabische Lebensbeschreibung.

[45] In der Poesie sind ihre ältesten Stücke gereimt. Die alten Araber übten sich auch sogar, ihre häuslichen und vertraulichen Gespräche in Reimen vorzutragen. So hat man ein noch vor dem Muhamed verfertigtes, etliche achtzig bis neunzig Verse langes Gedicht, das ein gewisser Haretsch Ben Helza ohn einiges vorhergegangnes Bedenken, sich auf seinen Bogen lehnend, hergesagt hat. Die Übung hierin muß bei ihnen sehr groß gewesen sein.

Wie die erste Hälfte des Verses sich schließt, schließt sich auch die andre Hälfte eben desselbigen Verses; und wie sich der erste Vers in der Mitte und am Ende endigt, so endigen sich auch alle andre folgende, wenn ihrer auch noch soviel wären, bis zwei-, dreihundert und noch mehr. Doch pflegen sie ihre Gedichte so lang nicht zu machen. Schon zu Christi Zeiten und kurz hernach müssen sich die Araber der Reime bedient haben, weil ihre Dichtkunst schon einige Jahrhunderte vor Muhamed vollkommen gewesen und nicht die geringste Spur von einem reimlosen Gedicht bei ihnen gefunden wird, es sei lang oder kurz, heroisch oder jambisch. Doch sind ihre jambischen Gedichte so beschaffen, daß sie den einmal gefaßten Reim nicht beständig beibehalten, welches sonst ein wesentliches Erfordernis der heroischen Gattung ist, sondern sie wechseln mit dem Rhythmus ab, beinahe wie wir. Haben sie einen Rhythmum drei-, viermal wiederholt, so fallen sie auf einen andern.« U.f. – Ich glaube nicht, daß die Erbauung der Sonette, Madrigale und andrer Versarten der Provenzalen ihrem Ursprunge nach einer hellern Erklärung fähig sei oder bedürfe als dieser. Ursprünglich waren sie eine Artgereimter, oft aus dem Stegreif gereimter Prose; die meisten Poesien der Provenzalen sind offenbar nichts anders.

Daß viele unsrer Poesien diesen arabischen Schmuck noch an sich tragen, wissen wir alle; wenige aber wissen den Ursprung dieser Fesseln, daß ein Volk nämlich sich dieselbe aus Übermut der Begeisterung sogar im gemeinen Leben angelegt und damit so leicht umzugehen gewußt habe, daß es lange Reden durch sogar einen und denselben Reim beibehalten [46] konnte. Auch bei den Provenzalen war es in mehreren Silbenmaßen offenbar aufs öftere Wiederkommen desselben Reims angesehen, womit denn weder unser Ohr noch unsre Sprache sonderlich zufrieden sein dörfte. Wenige wissen es, daß die Poesie der Araber zwar leidenschaftlich und bildervoll, nicht aber im besten Geschmack abgefaßt war; 119 daher auch schon die Provenzalen von diesem ganz und gar asiatischen Geschmack sehr abgehen mußten. Da ihnen nun mit der Leidenschaft und dem Scharfsinn dieses fremden Volks auch dessen ausgebildete Sprache fehlete, was Wunder, daß ihnen oft nur die Form des Gedichts, angenehm wiederkommende Schälle übrigblieben, in die sie das Wesen der Dichtkunst setzten? Diese sollte ja nur Unterhaltung in einer angenehm gereimten Prose sein und bleiben.

Ganz anders wird die Sache für uns, die wir einenartigen Umgang in häuslichen und vertraulichen Gesprächen nicht eben in Reime setzen, uns auch von Jugend auf nicht geübt haben, sinnreich ex tempore zu reimen. Einzig in der Poesie haben wir diese alte arabische Höflichkeit beibehalten, das Ohr unsrer Freunde mit Reimen zu vergnügen. 120 Und dennoch würde auch das reimsüchtigste Ohr es sich verbitten,[47] wenn wir wie die Araber denselben Klang oder Endbuchstab einige hundertmal wiederkommen ließen und in heroischen Gedichten unsern Helden durcheinen Reim zehntausendmal wiederkommend priesen.

Füge ich nun zu dieser Reimgalanterie der Araber noch das andre Geschenk hinzu, damit sie (andre Nationen nicht ausgeschlossen) die Poesie der Europäer beschenkt haben, jene Phantome asiatischer Einbildungskraft nämlich, die vom Berge Kaf über Afrika und Spanien, über Palästina und die Tatarei zu uns gekommen sind, gewiß, so sind wir ihnen, wie in der Chemie und Arzneikunst, so auch in der Dichtung viele gebrannte Wasser schuldig.

86.

Den Reim lasse ich unsrer Poesie nicht nehmen; vielmehr zeigt der bemerkte Ursprung desselben zugleich auch seine glücklichste Anwendung. Er gehört:

1. Für Kirchen- und andre Volkslieder. Umsonst führten ihn nicht die heiligen Väter von Ambrosius an in ihre Chöre und Hymnen ein. Der gute Prudentius ging ihm noch aus dem Wege; Sedulius, Fortunatus u.f. gebrauchen ihn schon häufig, ohne ihn von den Arabern gelernt zu haben. Sie wußten, was fürs Volk gehöre. Zuletzt ward er insonderheit in den lateinischen Liebesgesängen so überfließend gebraucht, als ihn wohl kein Araber gebraucht hat.

2. Denksprüche fürs Volk klingen in Reimen prächtig! Daher die Macht unsrer gereimten Sprüchwörter, unsrer alten Oden und Alexandriner. Ein berühmter Dichter hat von einem ungezwungenen Reim gesagt:


Er stützt und hebt die Harmonie und leimt die Rede ins Gedächtnis.


Dies ist wahr. Wohlgereimte Sentenzen sind Machtsprüche; sie tragen im Reim das Siegel der ewigen Wahrheit. Von Anfange der Welt an hat man Rätsel und Denksprüche gereimet.

[48] 3. Lebhafte Antworten sind für den Reim, nicht nur in Arabien, sondern bei allen Völkern. Vom französischen Theater werden Sie sich solcher unerwarteten Ausgänge gnug erinnern, aus Epigrammen, wohin sie eigentlicher gehören, noch mehrere. Es ist ein Fehler des Versifikators, wenn er, um einen glücklichen Reim zu erhaschen, fünf unglückliche vorhergehn oder folgen läßt; 121 ein solcher ist kein Haretsch Ben Helza, der auch im Staatsrat seines Königes sein Votum für den Krieg in donnernden Reimen hinstellte.

4. Es gibt mehrere Gattungen angenehmer Konversationspoesie, die ohne Reimen nichts sind. Der gesuchte sowie der ungesuchte, der versteckte sowie der klingende Reim sind in ihnen kunstmäßig geordnet. Man sollte sie Arabesken nennen; denn eben auch den Arabern galt der Reim für ein Siegel des vollendetsten Ausdrucks.

5. Endlich müssen Sie der Gewohnheit nachgeben und Sprachen sowohl als Dichtern erlauben, sich auf ihre Art zu vergnügen Diesem Dichter ist der Reim ein Steuer, jenem ein Ruder der Rede; ohne ihn litte jenes poetische Fahrzeug Schiffbruch, dieses strandete auf dem niedrigsten Sande. 122 Einem andern Versifikator ist er noch etwas Werteres, ein Erwerbmittel der Gedanken; wollten Sie ihm also mit dem [49] Reim seine hyperusische Nahrung nehmen? Einem dritten ist der Reim eine Werbtrommel, Bilder zu versammeln; zwar kommen die Geworbenen oft etwas bunt zusammen, aber was schadet's? Desto stärker fallen sie ins Auge. Nehmen Sie Pope, Cowley und ihren fünf Brüdern den Reim, so haben Sie ihnen Moses und die Propheten genommen; wen sollen sie fürder hören? Nehmen Sie der französischen Sprache den Reim – hören Sie, was darüber ihre eigne Autoren sagen:


»Nos vers affranchis de la rime ne paroissent différer en rien de la prose.«

Prévot.


»Je n'ai garde de vouloir abolir les rimes; sans elles notre versification tomberoit.«

Fénelon.


»Les Italiens et les Anglois peuvent se passer de rime, parce que leur langue a des inversions et leur poesie mille libertés qui nous manquent. Chaque langue a son génie; le génie de notre langue est la clarté et l'élégance: nous ne permettons nulle licence à notre poesie, qui doit marcher comme notre prose dans l'ordre précis de nos idées. Nous avons donc un besoin essentiel du retour des mêmes sons pour que notre poesie ne soit pas confondue avec la prose.«

Voltaire.


[50] »Nos syllabes ne peuvent produire une harmonie sensible par leurs mesures longues ou brèves; la rime est donc nécessaire aux vers françois.«

Voltaire.


Hier sind klare Bekenntnisse; schonen Sie also in mehr als einer Sprache der Reime, dieser unschuldigen Kinder. Auch bei uns gehören rime und raison zusammen wie bei den Arabern. Ungereimt ist uns, was – sich nicht reimet.

Nachschrift

Ernsthaft gesprochen, läßt sich an diesem Ursprunge der europäischen Kultur in Vergleich mit der Poesie der Alten noch manches bemerken:

1. Bei den Griechen war Poesie mit der Sprache entstanden; jene hatte diese gleichsam von innen heraus gebildet; ehe schriftstellerische Prose entstand, war Gesang und Poesie – gewesen In der limosinischen Sprache sowie in allen ihren Schwestern hatte man nicht nur längst Prose gesprochen, ehe man durch Versarten mit abgezählten Silben und Reimen diese gemeine Sprache (lingua volgare) zu veredeln suchte, sondern die Vulgarpoesie selbst sollte eine gereimte, kadenzierte, schönere Prose sein und bleiben. Die Silbenmaße der Alten fanden in ihr nichtPlatz, weil sie eigentlich bloß von der Konversation ausging und auf diese hinführte.

2. Die Poesie der Alten hatte in ihrem Ursprunge viel [51] mehr Wichtigkeit, Zweck und Anlage in sich, als diese neuere haben konnte. Vor Erfindung der Schreibekunst vertrat jene die Stelle aller Wissenschaft; sie war die Sprache der Götter, der Gesetzgeber und Weisen; was der Nachwelt würdig geachtet war, ward in sie gelegt, daher auch von ihr fast jede Wissenschaft ausging. In Europa war alles anders. Die Sprache des Heiligtums war und blieb die lateinische, in welcher sich denn auch lange Zeit hin die Wissenschaften fortgebildet haben; die Vulgarpoesie wollte weder gelehrt noch andächtig, sondern unterhaltend sein. In allen Sprachen, denen die Provenzalpoesie den Ton gab, ist dies ihr Hauptcharakter geblieben.

3. Dagegen aber ward etwas, worauf die Poesie der Alten ihre Segel nicht hatte richten dörfen, dieser Poesie Ziel und Zweck, nämlich Freiheit der Gedanken. Durch die Provenzalpoesie und durch das, was sie hervorbrachte, so viel oder wenig es war, ward zuerst das Joch zerbrochen, das alle Völker Europas unter dem Despotismus der lateinischen Sprache festhielt; und damit war viel geschehen. Sollten Europas Völker denken lernen, so mußten ihre Landessprachen gebildet werden; sie mußten in ihrer Volkssprache witzige, sinnreiche, anmutige Dinge hören, an denen sich ihr Verstand schärfte. Wenn dieses zuerst auch nur in den obern Ständen und auf eine sehr unvollkommene Weise geschah, so gelangte es doch bald weiter. Mit Fragen der Liebe fing man an; zu weit wichtigern schritt man fort; die mittleren Zeiten haben manche Dinge sehr scharf und rein erörtert. Mit Erzählungen fing man an und wußte in sie einzukleiden, was man nackt nicht sagen dorfte; ja, was die Erzählung nicht sagte, gestikulierte das rohe Schauspiel. Den besten Erweis, daß durch die Ausbildung der Provenzalsprache für ganz Europa Freiheit der Gedanken bewirkt worden, zeigt die in ihr entstandeneerste Reformation, die sich von den Pyrenäen und Alpen nachher in alle Länder verbreitete. In dieser Sprache nämlich wurde die edle Unterweisung (la noble leyçon), der erste Volks- und Sittenkatechismus geschrieben; in [52] sie wurde zuerst die Bibel übersetzt, in ihr das apostolische Christentum erneuert. Mit großem Mut ging sie den Ärgernissen der Klerisei entgegen und hat, wie den poetischen Lorbeerkranz, so auch unsäglicher Verfolgungen wegen die Märtyrerkrone der Wahrheit für ganz Europa verdienet. Sind wir den Provenzalen und ihren Erweckern, den Arabern, nicht viel schuldig? 123

87.

Viertes Fragment

Einfluß der Provenzalen in die europäische Kultur und Dichtkunst


Die Verskunst der Provenzalen ging auf alle benachbarte Nationen über; ja, sie ist das Vorbild der Poesie aller südlichen Völker Europas, in manchem sogar der Engländer und Deutschen worden; denn mit den Kaisern aus dem schwäbischen Hause kam die provenzalische Dichtkunst auch nach Deutschland. DieMinnesinger sind unsre Provenzalen.

Zu Dantes Zeiten waren schon sieben Gattungen dieser Verskunst in der italienischen Sprache, Sonett, Ballade, Kanzone, Rodondilla, Madrigal, Servente, Stanze; sie haben sich seitdem zahlreich vermehrt, vielfach verändert; immer aber [53] ist die italienische Sprache jenem Richtmaß treu geblieben, das zu Dante, Boccaz' und Petrarcas Zeiten die Provenzalpoesie ihr anwies. Die Silbenmaße der Griechen und Römer, sooft sie versucht worden, haben in Italien, Spanien und Frankreich ihr Glück nie machen mögen.

Nun müßte es wohl ein sehr barbarisches Ohr sein, das nicht, zumal unter jenem Himmel, die Musik dieser Versarten fühlte. Der weitverhallende Wohlklang einer regelmäßigen italienischen oder spanischen Stanze, die schön verschlungene Harmonie eines vollkommenen Sonetts, Madrigals oder einer vortrefflichen Kanzone, die abwechselnde leichte Melodie einer schönen Kanzonette, Rodondilla oder Seguidilla tönt so anmutig; der Tanz ihrer Silben ist so ätherisch, daß ihn unsre deutsche Sprache, die ein ganz andrer Genius belebet, vielleicht auch nicht nachahmen sollte. Die Poesien so vieler lyrischen und epischen Dichter in Italien und Spanien sind gleichsam soviel hesperische Zaubergärten, wo die Bäume singen und an jedem Zweige des singenden Baums ein Glöckchen tönet. Die Poesie der Alten singt nicht also; aber das Rauschen des Baumes selbst, das Wehen seiner Zweige im zartesten Sprößling ist begeisternd, ist heilig.

So im Äußern; ist's aber auch anders, wenn man die Poesie der Italiener mit den Alten im Innern vergleichet? Nehmet z.B. ein Sonett, ein Madrigal, eine Kanzone, eine Stanze und führet sie auf Formen der Griechen und Römer zurück. Hier, findet man oft, mußte der Ausdruck des Gedankens gedehnt, dort die Empfindung gelängt und geweitet werden. Einschiebsel und fremde Zusätze mußten zu Hülfe kommen, um ein regelmäßiges Sonett, ein klingendes Madrigal zu werden; als ein Epigramm, als ein Bild (ειδοσ) undSkolion der Alten würde alles in natürlichem Maß einfacher und reiner dastehn. – Eine Kanzone oder Ode der Italiener, mit Pindar oder Horaz verglichen, hat, wie es uns Deutschen scheint, viel Deklamation, viel prosaische, rednerische Schönheit. Wie anders? Auf diese schöne gereimte Deklamation war die Kanzone angeleget. Die Stanzen (ottave rime) sind hallende [54] Kammern 124; jede Abteilung in ihnen, zuletzt derSchluß jeder Stanze (il clave), hält uns melodisch an, damit er uns weiter fortführe. Vortrefflich. Aber der Hexameter der Alten ist ein langer unermeßlicher Gang, wo nichts uns aufhält; wir wandern ungestört fort und haben den Blick immer am Ziele. So könnte man mehr vergleichen; wozu aber die Vergleichung, wenn sie den Genuß störet? Die Poesie der Italiener ist, was sie ihrem Ursprunge nach sein wollte, Unterhaltung, akzentuierte Konversation; das ist ihr Standpunkt. Ein Sonett, ein Madrigal wird adressiert; eine Kanzone wird abgesandt und bekommt am Schluß eigne Verse als ein Kreditiv mit, ein Siegel der Sendung (il commiato della Canzone). Ariost schrieb seinen unsterblichen »Orlando,« daß er in Gesellschaften gelesen werden, daß er als ein Fabelbuch angenehm unterhalten sollte. Dazu schrieben Bernardo Tasso, Fortinguerra, Tassoni, Marino und jene unzählbare Schar italienischer lustiger Dichter. Wenn Torquato nebst wenigen andern sich höher erhob, so erhebt ihn der Inhalt seines Gedichtes; im ganzen aber verfolgt er den Zweck aller seiner Bruder.

Ob diesen Zweck jede dieser Poesien erreicht habe? Darüber kann kein Ausländer entscheiden; indessen scheinet's. In Italien sind die Sonette eigentlich nichts als feinere Anreden in einem gegebnen Ton der Gesellschaft; beinahe jeder gebildete Mensch macht ein Sonett, ohne daß er deshalb ein Dichter zu sein sich einbildet. Die Werke ihrer großen Dichter sind jedem Gebildeten bekannt; ihre Sprache ist ins Ohr der Nation übergegangen, und man hört Stellen aus Dichtern oft von Personen, von denen man sie am welligsten erwartet. Der gemeine Mann, das Kind sogar gebraucht Ausdrücke, die man diesseit der Alpen in viel andern Kreisen weder sucht noch höret.

Die ganze Dichtkunst Italiens hat etwas sich Anneigendes, Freundliches und Holdes, dem die vielen weiblichen Reime angenehm zu Hülfe kommen und es der Seele sanft ein schmeicheln. [55] Dagegen freilich steht die Poesie der Alten für sich selbst da, in schweigender Würde, in natürlicher Schönheit. Sie spricht und läßt sich sprechen; die italienische Poesie buhlet zwar nicht, aber sie deklamiert angenehm vor, sie konversieret.

Ungerecht wäre es also, wenn man selbst bei der eigentlichen Empfindungspoesie dieser Sprache, z.B. den Schäfergedichten, einen Maßstab gebrauchen wollte, der ihr nicht geziemet. Wieviel Unzeitiges z.B. ist über den »Aminta« des Tasso, über den »Pastor fido« des Guarini und über ähnliche Gedichte gesagt worden! – Unsre Schäfer freilich, unsre Liebhaber räsonieren so nicht von Liebe oder mit der Liebe; nimmt man indessen das Lokal der Italiener, die Zeit, in welcher diese Dichter lebten, die einmal getroffene arabisch-provenzalische Konvention, über die Liebe in Reimen zu konversieren, auch viele kleine Umstände der damaligen Lebensweise zusammen, so werden uns diese musikalische Liebeskonversationen nicht nur erklärlich, sondern beinahe natürlich erscheinen. Das ganze lyrische Drama der Italiener beruhet auf dieser Konversation; Nationen, denen sie fremde ist, wird die ernsthafte sowohl als die komische Oper der Italiener, dem eigentlichen Motiv nach, immer fremde bleiben.

So kommen wir dann auf das poetische Meisterwerk dieser Nation, die Oper, das lyrische Drama. Wohl nirgend anders als in Italien konnte es entsprießen und zugleich zu der Blüte gelangen, zu welcher es zuletzt in Metastasio gelangt ist. Er, ein Schüler des philosophischen Kenners der Alten, des Gravina, er, dem das Glück ward, hinter den Verdiensten des Apostolo Zeno und soviel andrer großer Männer in Italien und Frankreich dies Drama in einer Sprache zu bearbeiten, die zum Gesange geschaffen ist, brauchte seines Glücks und erhob aus ihr alles Singbare (cantabile) in jeder Art des Affekts, in jedem Perioden des Rezitativs, der Arien und Chöre, zur Blume des Gesanges und Vortrags. Zeige man ein singbares Wort, das er nicht, und zwar auf der besten Stelle, [56] gebraucht, eine unsingbare Wendung, die er nicht gemildert oder vermieden hätte! Auch aus der menschlichen Seele, aus Fabel und Geschichte zog er jeden singbaren Gegenstand, jede melodische Gesinnung und Empfindung auf die zierlichste Weise hervor und wußte sie zu einem musikalischen Sentiment im zartesten und vollesten Ausdruck zu bilden. Jede Arie des Metastasio ist gleichsam ein poetisch-musikalischer Kanon worden.

Um hieher zu gelangen, welchen langen Weg hatte das Melodrama zurückgelegt, seit es in rauhen provenzalischen Kanzonen nach Italien gekommen und von umherziehenden Minstrels, mit einer Art theatralischen Vorstellung verbunden, hie und da gespielt war! Durch Maitänze (Maggiolate), Karnevalesken, Chöre mit Zwischenspielen u.f. hatte es einen beschwerlichen Weg nehmen müssen, bis es unter der Beihülfe vieler fremden Künstler, Franzosen, Spanier, Niederländer, Deutscher, nur zu einiger Regelmäßigkeit gelangte. Italienische Fürsten, die Pracht und Vergnügen liebten, hatten ihm dazu Raum und Kosten verschafft; der Geschmack der Nation in beiden Geschlechtern hatte es mit Freude empfangen; Florenz insonderheit hatte ihm zuerst seine glänzende Gestalt gegeben. Unwissend hatten, von Dante und Petrarca an, alle Dichter dazu gearbeitet; Tasso und Guarini mit ihren Schäferpoesien hatten dazu näher den Ton gegeben; hundert Komponisten geistlicher und weltlicher Melodien die Pforten geöffnet: Metastasio kam und setzte der ganzen Gattung den Kranz auf.

Indessen auch bei Metastasio denke man nicht an die Griechen; vielmehr hat vielleicht er aufs weiteste von ihnen verführet und steht wie auf einem andern Hemisphär da. Bei jenen sprach die Poesie; die Musik begleitete ihre Worte in jeder Wendung des Ganges der Rede, zwanglos. Hier malet die Musik, und die Worte dienen. Gesetzt, daß es ihr auch gefiele, sie zehnmal dienen zu lassen, sie umherzukreisen und wie im Spott zu wiederholen: sie tanzt ihren Tanz, und unter ihrer Herrschaft dorfte der Dichter nichts als das ihr Wohlgefällige [57] wählen. Keiner Leidenschaft dorfte er tiefer nachgehn, als es die Musik ertrug, und mußte sich daher überall an das Weichste, das Zarteste, die Liebe, halten. Mit Verletzung jedes Costume der Zeiten und Orte sind Metastasios Helden Schäfer, seine Prinzessinnen Schäferinnen; erhabne Freskogestalten der Geschichte werden durch ihn Miniaturgemälde des lyrischen Theaters; denn auf diese und auf keine andre Darstellung hat er gerechnet. Wenn also Metastasio in jedem seiner Stücke einen zierlichen Porzellanturm mit klingenden Silberglöckchen erbauen wollte, so sollte und konnte dieser kein griechisches Odeum werden.

Indessen hat auch diese Poesie ihre Zwecke erreicht. Sie ward, was sie sein wollte, ein Vergnügen feinerer Seelen, die auf die angenehmste Weise in süßen Tönen sich schöne Gesinnungen einflößen lassen und sich singend belehren. Wer sich durch eine übermäßige Liebe dieses Dichters und dieser Kunst den Geschmack verwöhnt und ihn zum Unmännlichen erweichet, der hat daran selbst die Schuld; gewiß aber wird durch Metastasios Gesänge niemandes Herz verderbt, vielmehr kann seine moralische Empfindung, wenn er sie aufwecken lassen will, erweckt und zart geläutert werden. Kurz, in allen italienischen Dichtern ist Konversation und Gesang herrschend; sie konversieren singend, sie singen dichtend.


Der Zweig der provenzalischen Dichtkunst, der sich in Frankreich verbreitete, trug andere Früchte. Die französische Sprache, die lange nicht so sangbar war als die italienische, hatte desto mehrere Lust zu erzählen und zu repräsentieren. Sie nahm also von ihren Provenzalen einerseits vorzüglich die Contes und Fabliaux auf, die bald zu großen Romanen ausgebildet wurden. Andererseits gefielen der Nation dieGebärdenspiele der Musars, Comirs, Plaisantins so sehr, daß sie mit der Zeit auch Spiele der Nation wurden, aus welchen zuletzt das französische Theater hervorging. Wir wollen von beiden Charakterzügen dieser Nation, vom Erzählen und Repräsentieren, den großen Erweis der Zeiten bemerken.

[58] Muntre Erzähler sind die Franzosen von jeher gewesen; das ganze Gebilde ihrer Sprache trägt davon den Charakter. Schon unter Philipp August reimte man Märchen; unter Philipp dem Kühnen fanden die Fabelerzähler allenthalben Zutritt; zahlreiche Romane von Artus und seinen Rittern, von Karl dem Großen und seinen Pairs, vom Amadis und so vielen andern Helden der Tapferkeit und Liebe wurden in Frankreich zwar nicht erfunden, aber ausgebildet, als die Normänner diesen Zweig der Dichtkunst blühend machten. Sie verbreiteten sich nach England, Spanien, Italien, zuletzt nach Deutschland.

In der Periode des neueren französischen Geschmacks, wer waren ihre ersten Meister? Villon und Rabelais, Marot und seinesgleichen, die durch muntre Einfälle und Erzählungen bleibenden Eindruck machten; die ernsthaften Dichtergingen in die Vergessenheit über. Frankreichs Philosoph war Montaigne, der so vieles von sich selbst und von andern zu erzählen wußte.

Im goldnen Zeitalter Ludwigs endlich war ein Erzähler, La Fontaine, wohl das eigentümlichste Genie, dessen Grazie nicht veralten wird, solange die französische Sprache dauret. Eine zahlreiche Menge von Erzählern in jeder Gattung des Stils, prosaisch, poetisch, burlesk, komisch, war vorhergegangen und folgte. Bei Voltaire ist lustige Erzählung vielleicht sein glücklichstes Talent; die Prophetin von Orleans und »Guillaume Vadé« gelangen ihm besser als die »Henriade«. Dies Talent, das in Marmontel, Diderot, Cazotte und so vielen andern immer neue Früchte gebracht hat, solche wahrscheinlich auch bringen wird, solange ein Franzose oder eine Französin die Lippen beweget, hat ihrer Sprache in allem, selbst in den ernsthaftesten Wissenschaften, jene Klarheit und Nettigkeit, jene muntre Präzision gegeben, die beinah ganz Europa zur Nachahmung erweckt hat. Discours heißt der Genius ihrer Schreibart. Alles ist ihnen klar; was sie wissen und nicht wissen, können und dörfen sie erzählen.

Repräsentation ist der zweite Zug ihres entschiedenen Charakters. Das Volk repräsentiert gern und liebte von jeher [59] Repräsentationen. Schon unter den ersten barbarischen Königen spielten die Histrionen an allen Staatsfesten ihre Rollen, denen die Jongleurs und Jongleuresses, die Joueurs de Farces, Bateleurs u.f. folgten. In mehreren und wiederholten Reglements mußte diesen bei Gefängnis- und Leibesstrafe verboten werden, nur nicht an Sonn- und Festtagen während des Gottesdienstes, in geistlichen Kleidern an öffentlichen Orten ärgerliche Farcen zu spielen. Zur Zeit der Kreuzzüge und der Wallfahrten nach dem Heiligen Lande, kamen die Pilgrime wieder, um in ihrem Vaterlande zu repräsentieren. In abenteuerlicher Kleidung erzählten und agierten sie ihre Geschichten von weither, Wunderdinge, Abenteuer, Visionen; man repräsentierte die Geschichte des Alten und Neuen Testaments, unter andern la Passion de N. S. Jesus Christ en Vers burlesques. Brüder der Passion (les Confrères de la Passion) entstanden; sie zogen die Privilegien des Narrenprinzen (prince des sots) und des Narrenfestes (de la fête des foux) an sich; man räumte ihnen Hotels ein; so ward das erste französische Theater, das bald darauf devant leurs Majestés dans la salle du Château Moralitäten spielte. Der Geschmack dieser Moralitäten, in denen sich das Heilige und Profane sonderbar mischte, ist bekannt; sie hießen Jeux des pois pilés, Spiele zerstoßener Erbsen, und blieben es so lange, bis aus ihnen die französische Komödie hervorging, in welcher denn, so wie auf dem französischen Theater überhaupt, Repräsentation von jeher der Hauptgesichtspunkt gewesen und geblieben ist, nach welchem sich alles ordnet. Es ist zu erweisen, daß alles Gute und Mangelhafte des französischen Theaters offenbar aus Repräsentation, aus französischer Repräsentation erwachsen sei, als einem der Nation unableglichen Charakter. Jene Lebhaftigkeit und Natur des Spiels, mit Anstand und Gefälligkeit begleitet, jene Klarheit nicht nur in der Exposition, sondern auch in der ganzen Ökonomie des Stücks, insonderheit in der Folge und Bindung seiner Szenen, in der Oper [60] das Feierliche der Chöre, die Pracht der Dekoration u.f., kurz was Repräsentation fodert und geben kann, ward dort gegeben und ausgebildet. Dagegen, was Repräsentation nicht leistet, was manchmal z.B. im Trauerspiele sie sogar nicht wünschet und gern verbirgt, die tiefere Wahrheit und Natur der Leidenschaften, dem französischen Theater, verglichen mit dem griechischen und englischen, oft fremd blieb. Sowohl der Heroismus als die Liebe erscheinen in der französischen Theaterkunst (von vortrefflichen Ausnahmen ist hier nicht die Rede) nach dem Gesetz einer Nationalkonvention repräsentieret; diese Konvention herrscht in allem, im Ton der Stimme, in der Kleidung und Gebärde, in jeden Schritt und Tritt des Akteurs und der Aktrice. Wenn der oderjene aus diesem Gleise des Anstandes glücklich herauszutreten wußten, so ward ihre Ausnahme bald selbst zur konventionellen Regel. Fast auf alle Werke des Geistes, selbst der Wissenschaft, erstreckt sich diese französische Repräsentationsgabe: auf ihre gerichtlichen und Kanzelreden, auf ihre Akademien und Elogien, selbst auf ihre Staatsverhandlungen und Staatsgrundsätze; in ihnen erscheint die Gerechtigkeit, die Andacht, die Gelehrsamkeit, das Lob, die Politik, die Wissenschaft repräsentierend. Es wird der Nation schwer, für sich allein zu sein; sie ist gern im Auge andrer, am liebsten im Auge des Universum, sprechend, schreibend, agierend.

Die größeste Repräsentantin ist die französische Sprache. Mit dem Schein, alles aufs genaueste, aufs feinste zu sagen, umschreibt sie in geltenden Ausdrücken, die jeder zu verstehen glaubt, und gibt, was sie in so großer Menge hat, ins Ohr fallende Worte, gemein gewordne Abstraktionen. Unendlich reich an Ausdrücken der Höflichkeit, der guten Lebensart, der Kunstphilosophie u.f. hütet sie sich wohl, mit diesen Ausdrücken etwas mehr zu meinen, als zum konventionellen Alltagsverständnis derselben gehöret. Wehe dem, der sich auf ein französisches Modewort, auf eine Formel und Wendung des französischen Stils verließ; die Mode ändert sich, und das Wort bedeutet ganz etwas andres. –

[61] Sollen den Franzosen jetzt die Spanier nachtreten, wie auch sie etwa von den Provenzalen gelernt haben? Nein. Die Kultur der Spanier ist von den Provenzalen nicht erborgt, sondern an ihrer Seite stolz und eigentümlich erwachsen. Jahrhundertelang hatten die Araber ihr schönes Land besessen und in alle Provinzen desselben ihre Sprache und Sitten verbreitet. Jahrhunderte gingen hin, ehe es ihnen entrissen ward, und in diesem langen Kampf zwischen Rittern und Rittern hatten sie wohl Zeit, den Charakter zu erproben, der sich auch in Werken des Geschmacks als ihr Genius zeigt; es ist die Idee eines christlichen Rittertums, den Heiden und Ungläubigen entgegen. Als alte, vom h. Jakobus bekehrte Christen waren sie in die Gebürge geflohen; als solche hielten sie sich in ihnen fest und eroberten ihr Land wieder. Als solche waren sie zu stolz, sich mit maurischem Blute zu vermischen und entvölkerten dadurch ihr Land; als solche waren sie in fremden Weltteilen stolz und grausam. Ihr Vortreffliches und ihre Fehler kommen aus einer Quelle, aus welcher mit beiden, mit Fehlern und Tugenden, auch ihre Poesie und Sprache floß. Diese stehet zwischen der italienischen und altrömischen in der Mitte, an Majestät und Würde der Mutter ähnlicher als eine ihrer Schwestern, voll Wohlklanges für die Musik und in dieser fast eine heilige Kirchensprache. Nicht lief sie, wie die Provenzalin, auswärts umher; sie war stolz und blieb zu Hause, brachte aber in ihrer schönen Wüste unter manchem Sonderbaren und Abenteuerlichen edle Früchte. Vielleicht gibt es keine scharfsinnigern Sprüche und Sprüchwörter als in der spanischen Sprache; von Alfons dem Weisen an hat sie in allen Produktionen diesen Charakter behauptet. Ihre Erzählungen, Theaterstücke und Romane sind voll Verwickelungen, voll Tiefsinnes und bei vielem Befremdenden voll feiner und großer Gedanken. Ihre Silbenmaße sind sehr wohlklingend, und die Leidenschaft der Liebe steigt in ihnen oft bis zum schönen Wahnsinn. Sie sind veredelte Araber; auch ihre Torheit hat etwas Andächtiges und Erhabnes.

[62] 88.

Wie mir immer eine Furcht ankommt, wenn ich eine ganze Nation oder Zeitfolge durch einige Worte charakterisieren höre: denn welch eine ungeheure Menge von Verschiedenheiten fasset das Wort Nation, oder die mittleren Jahrhunderte, oder die alte und neue Zeit in sich! Ebenso verlegen werde ich, wenn ich von der Poesie einer Nation oder eines Zeitalters in allgemeinen Ausdrücken reden höre. Die Poesie der Italiener, der Spanier, der Franzosen, wie viel, wie mancherlei begreift sie in sich! und wie wenig denket, ja wie wenig kennet der sie oft, der sie am wortreichsten charakterisieret!

Wenn ich meinen Dante und Petrarca, Ariosto und Cervantes las und jeden dieser Dichter wie meinen Freund und Lehrer von innen aus kennenlernen wollte, so war es mir angenehm, ihn als einen einzigen zu betrachten. Zu diesem Zweck suchte ich alles auf, was in ihm liegt, was rings um ihn zu seiner Bildung oder Mißbildung beigetragen. Die ganze Dichterwelt vor und nach ihm verschwand vor meinen Augen; ich sahe nur ihn. Und doch wurde ich bald an die ganze Reihe der Zeiten erinnert, die vor ihm war, die nach ihm folgte. Er hatte gelernt und lehrte; er folgte andern, andre ihm nach. Das Band der Sprache, der Denkart, der Leidenschaften, des Inhalts knüpfte ihn mit mehreren, ja zuletzt mit allen Dichtern; denn – er war ein Mensch, er dichtete für Menschen. Unvermerkt werden wir also darauf geleitet, zu untersuchen, was jeder gegen jeden ähnlichen in und außer seiner Nation, was seine Nation gegen andre vor- und rückwärts sei; und so ziehet uns eine unsichtbare Kette ins Pandämonium, ins Reich der Geister.

Wenn Poesie die Blüte des menschlichen Geistes, der menschlichen Sitten, ja, ich möchte sagen, dasIdeal unsrer Vorstellungsart, die Sprache des Gesamtwunsches und Sehnens der Menschheit ist, so, dünkt mich, ist der glücklich, dem diese Blüte vom Gipfel des Stammes der aufgeklärtesten [63] Nation zu brechen vergönnt ist. Es ist wohl kein geringer Vorzug unseres inneren Lebens, außer den Morgenländern und Alten mit den edelsten Geistern Italiens, Spaniens, Frankreichs sprechen und bei jedem bemerken zu können, wie er die Begriffe und Wünsche seines Herzens, die ihn am meisten entflammten, auf die würdigste Art einzukleiden und für Welt und Nachwelt angenehm, ja hinreißend vorzutragen suchte. Hingerissen in eure süße und bittre Träumereien, ihr Dichter, wandeln wir mit euch in einer Zauberwelt und hören eure Stimme, als ob ihr lebtet. Andre erzählen von sich und andern; ihr versetzet uns in euch selbst, in eure Welt von Gedanken und Empfindungen des Leides und der Freuden.

Und ach, wie klein ist unsre Welt! wie oft wiederholen sich Empfindungen und Gedanken! Enge ist der Kreis des menschlichen Dichtens und Trachtens; in wenige, wenige Knoten ist alle unser Interesse geknüpfet.

In dieser Rücksicht nun kann man freilich die Geschichte der Dichtkunst, d.i. die Geschichte menschlicher Einbildungen und Wünsche und, wenn ich so sagen darf, des saßen Wahns der Menschheit, der aufs feurigste ausgedruckten Leidenschaften und Empfindungen unsres Geschlechts, nicht allgemein und im großen gnug nehmen Wie ganzen Nationeneine Sprache eigen ist, so sind ihnen auch gewisse Lieblingsgänge der Phantasie, Wendungen und Objekte der Gedanken, kurz, ein Genius eigen, der sich, unbeschadet jeder einzelnen Verschiedenheit, in den beliebtesten Werken ihres Geistes und Herzens ausdruckt. Sie in diesem angenehmen Irrgarten zu belauschen, den Proteus zu fesseln und redend zu machen, den man gewöhnlich Nationalcharakter nennt und der sich gewiß nicht weniger in Schriften als in Gebräuchen und Handlungen der Nation äußert: dies ist eine hohe und feine Philosophie. In den Werken der Dichtkunst, d.i. der Einbildungskraft und der Empfindungen, wird sie am sichersten geübet, weil in diesen die ganze Seele der Nation sich am freiesten zeiget.

So ist es auch mit dem Geist eines oder mehrerer Zeitalter, [64] soviel dieser Name unter sich begreifet; denn jedes Zeiltalter hat seinen Ton, seine Farbe, und es gibt ein eignes Vergnügen, diese im Gegensatz mit andern Zeiten treffend zu charakterisieren. Mir sind z.B. die sogenannten mittleren Zeiten auch in ihren Märchen, in dem guten Glauben und Aberglauben, der sie beherrschte, in der ganzen Richtung, den die europäische Denkart damals nahm, sehr merkwürdig. Dieser Wahn liegt uns näher als die Mythologie der Griechen und Römer; manche Züge davon haben wir vielleicht in angebornen Neigungen und Vorstellungsarten, gewiß aber in Resten der Gewohnheit von unsern Vätern geerbet.

89.
Fünftes Fragment

Vom Wert der europäischen Dichtung mittlerer Zeiten


Wir haben jetzt Umfang gnug gewonnen, die europäische Kultur durch die Poesie der mittleren Zeiten in dem weiten Raum, den sie durchging, unparteiisch zu schätzen und ihren Wert oder Unwert zu zeigen.

Ein großer Nachteil war für sie die allenthalben mit fremden Sprachen vermischte, in ihr selbst verfallene Römersprache. Mit Recht hieß diese rustica, eine Bauernsprache die Dichtkunst, die in ihr aufkam, konnte mit Not und Mühe auch nur eine vulgare Dichtkunst werden. Alles war hier durcheinandergemischt und verdorben. Nordische Völker kamen mit einer harten, sklavische, in Feigheit versunkene Völker sprachen eine vernachlässigte Sprache. Unruhe und wiederkommende Verwüstung, Nacht und Aberglaube verheerten die Welt; was aus diesem Chaos übereinanderstürzender Völker und Sprachen hervortönte, konnte nicht oder sehr spät der Gesang jener Muse sein, die einst in Ionien, Athen und Tibur reingestimmte, harmonische Saiten beseelt hatte. Hier schrieb man Reime (coplas, rime).

[65]

Einen noch herbern Feind hatte die Bildnerin der Sitten, die Poesie, an den Sitten dieser Nationen selbst im mittleren Zeitalter. Kriegerischen Völkern ertönt nur die Tuba; unterjochte, bäurische Völker sangen rohe Volksgesänge, Kirchen und Klöster Hymnen. Wenn aus dieser Mischung ungleichartiger Dinge nach Jahrhunderten ein Klang hervorging, so war's ein dumpfer Klang, ein vielartiges Sausen. Schon der Charaktername des Inhalts der Zeiten sagt dies. Er heißt Abenteuer, Roman: ein Inbegriff des wunderbarsten, vermischtesten Stoffs, der ursprünglich nur ununterrichteten Ohren gefallen sollte und sich fast ohne Kenntnis der Natur, Kunst und Geschichte von der Vorwelt her über Meer und Länder in wilder Riesengestalt erstreckte. Von den Arabern her bestimmten drei Ingredienzien den Inhalt dieser Sagen: Liebe, Tapferkeit und Andacht; schöne Namen, wäre ihre Bedeutung nur immer auch in der Anwendung der Namen wert gewesen.

Liebe. Gewiß aber war's nicht immer jene zärtlich-bewundernde Liebe, die man aus einem guten Vorurteil den Erzählungen und Liedern des Mittelalters gemeiniglich als Charakter zuschreibt. Viele Gesänge und Geschichten zeigen ein andres, das sich auch zu jenen gedankenlosen und dabei unternehmenden Zeiten besser schickt und füget. In müßigen, reichen und üppigen Ständen, in Schlössern, an Höfen, deren es damals so viel gab, hatte man Zeit und Mittel, jeneGalanterie, die gepriesene Blüte der Ritter-Jahrhunderte, oft in einem Geschmack zu treiben, wie sie des Boccaz' »Decamerone« oder Brantôme und so manches üppige Capitolo schildert. Man rühmte sich dessen, was man erfahren haben wollte, nicht immer auf die feinste und sittlichste Weise.

Tapferkeit. Ein edles Wort; die damaligen Zeiten aber gebrauchten es nicht immer in der edelsten Anwendung. Der Ritter, der in die Welt zog, Ungläubige oder Ketzer zu vertilgen, und sich außer den Pflichten gegen Ebenbürtige, gegen Damen, gegen seinen Lehnsherren und die Kirche alles erlaubt hielt, war eben nicht das reinste Ideal männlicher Tugend.

[66] Eine Poesie also, die solche Ritterzüge besang oder erzählte, mußte oft dumpf umherschwärmen und bis zum Ermüden singen und sagen, was Rittertum undRitterehre erfodert. Oder um diesem Einerlei zuvorzukommen, mußte sie sich ins Ungeheure, ins Unmögliche verlieren, hier eine brutale Macht loben, dort Ahnenstolz, Räuberglück oder leeren Glanz preisen. Wider Willen mußte sie oft langweilig, oft geistlos und unmoralisch werden, weil sie geistlose Menschen in zwecklosen oder unmoralischen Taten zu schildern hatte und auch bei großen und guten Zwecken sie mit zu viel falschem Glanz vergulden mußte.

Andacht endlich. Bloß als Feierlichkeit behandelt, ermüdet sie und läßt die Seele bald leer; als eine Verbindung mit dem Unendlichen, als Anschauung des Unermeßlichen betrachtet, erhebt sie zwar die Seele, entzückt sie aber auch in einen Glanz, in welchem der Poesie zuletzt jede Form schwindet. Soll Andacht aber sogar Missetat versöhnen, es sei mit leeren Gebräuchen oder mit Geschenken und Vermächtnissen, ohne daß dem Unterdrückten Erstattung geschehe, o da wird sie dem Menschensinn, dem moralischen Gefühl widrig und auch im schönsten poetischen Nachbilde verächtlich.

Alle diese Mängel und Laster entsprangen aus dem Verderben der Religion und Sitten damaliger Welt in obern und untern Ständen; eine fröhliche Wissenschaft, die an Höfen entstanden, von Großen genährt und nur zur Zeitkürzung gebraucht ward, konnte und wollte die Schwächen des Jahrhunderts weder abtun noch versöhnen. Sie dachte an den Inhalt einer Erzählung nur sofern, als dieser Inhalt vergnügte, und es war Sitte der Zeit, sich bisweilen auch langweilig und gemein zu vergnügen. Das Ohr des Volks, vor welches zuletzt diese Divertissements auch kamen, nahm sie mit Freuden auf, weil sie bei Hofe erfunden waren, weil man sie in höheren Ständen belachte. Es war eine Hofart (cortesania), sie schön zu finden. – –

So gewiß ist's, daß nichts bleibend schön sein kann als das Wahre und Gute. Keine Kunst, kein Künstler vermag von [67] einem falschen Schimmer der Macht und Hoheit, vom geschminkten Reiz der Wollust und Üppigkeit oder von der Schwärmerei ein Ideal zu borgen, das bestehe und fortdaure. Was unrein dem menschlichen Gemüt ist, muß ihm früher oder später auch in der Poesie unrein erscheinen; denn nur fürs menschliche Gemüt wird gedichtet.

Jene Romane voll Langweiligkeiten des Rittertums, voll falschen Glanzes der Hofsitten oder gar jene Gemälde des Gartengottes und der Göttin Crapula, was sind sie unter dem Fuß der Zeit worden? Schlamm und Moder. Es ist Gesetz der Natur, daß auch in der Poesie und Kunst nur das Wahre und Gute bleibe.

Der Keim, der davon auch in der Dichtkunst der mittleren Zeiten lag, ist nicht verweset. Fruchtreich hat ihn die Zeit ausgebildet; denn in den drei großen Namen Liebe, Ehre und Andacht liegt alles, was die Menschheit wecken, die Poesie beleben kann. Sie sind mehr als Patriotismus; ein weites und tiefes Meer der Seligkeit, aus dem die Schönheit entsprang und in welchem sie sich spiegelt.

1. Andacht. Freilich ist's nicht jedem Geist in seiner sterblichen Hülle gegeben, sich formlos ins Flammenmeer der Gottheit zu versenken; aber auch nur im Abglanz diese Sonne, das höchste Ideal menschlicher Gedanken, zu betrachten, erquickt und erheitert. Die Poesie der mittleren Zeiten hatte sich hiezu das Bild des ewigen Vaters, des Sohnes Gottes und seiner Mutter, der heiligen Jungfrau, ausgemalt und in das letzte insonderheit ein hohes Ideal weiblicher Tugend, alle Grazie ihres Geschlechts geleget. Jungfräuliche Keuschheit, Huld und Anmut, eine sich selbst unbewußte Hoheit und Würde, mütterliche Liebe, schweigende Geduld, Großmut, Hoffnung, endlich ein stiller Dank- und Freudegenuß jenes überschwenglichen Lohns, dessen sich die Wohltätige jetzt in Ewigkeit wert macht – alles dies ward nach und nach von der dichtenden Andacht in sie gesenkt, in ihr besungen und gepriesen.

[68] Der Wert der Heiligen, die Märtyrer waren, scheinet von geringerer Art; die Tapferkeit der Seele aber, die um des Bekenntnisses der Wahrheit willen Leiden erträgt und Martern erduldet; jene stille Großmut, die verkannt einhergeht, die Reichtum, Wollust und niedrigen Ruhm verschmäht, unbillige Verachtung, Schmach und Hohn für nichts achtet und dennoch wohlzutun fortfährt; die Heiterkeit der Seele endlich, die, durch Einfalt, Unschuld, Zuversicht und Erfahrung bewährt, in der Wolke des Todes den offnen Himmel sieht und das Lied der Vorangegangenen höret; eine Andacht dieser Art ist mehr als eine Heldenwürde von außen. Und es sangen sie so viele Hymnen, so prächtige Kanzonen.

2. Tapferkeit. Auch der Wert eines Mannes, der nach reinen Begriffen des Rittertums um Ehre streitet, ist nicht von geringer Art. Schwache zu beschützen, die Unschuld zu verteidigen, auch im heftigsten Streit sich nichts Unwürdiges zu erlauben, im Feinde noch den Mann zu erkennen, im Überwundenen den Tapfern zu ehren, endlich, die wehrlose, die kranke Menschheit mit ritterlicher Hand zu pflegen, zu warten: dies alles waren Pflichten des Rittertums, die, freilich mit großen Ausnahmen, allesamt auch nur unter dem Mantel der Religion und noch nicht alsreine Obliegenheiten des Menschen gesungen und eingeschärft wurden. Sie öffneten indes einer allgemeinern, reineren und höheren Tugend die Schranken, als selbst in einem weit engeren Bezirk von der alten Heldensage der Griechen und Römer gepriesen werden konnte. Wenn Andacht, Liebe und Tapferkeit reiner Art sich ritterlich ineinander verweben, erniedern sie den männlichen Charakter nicht.

3. Liebe. Hier findet wohl kein Zweifel statt, daß die Hochachtung und zarte Behandlung des weiblichen Geschlechts, welche Araber und Normänner in Romane und Poesie brachten, die sich auch mit dem Dienst der heiligen Jungfrau und dem Christentum überhaupt wohl vertrug, eine Blume sei, die Griechen und Römer eben nicht vorzüglich kultivierten. Größtenteils besangen diese im Weibe nur das Weib oder[69] gar eine Buhlerin, eine Hetära. Da das nördliche Klima Lustbarkeiten, wie sie Horaz oder Petron schildern, keinen Raum gab, auch in diesen Gegenden die später entwickelte und desto länger daurende Jugend des Weibes eine sittlichere, reifere Liebe fodert, so wandte sich jetzt allmählich die Poesie auf etwas, darauf jene Zeiten nicht ausgehen konnten, auf Kultur des Umganges beider Geschlechter miteinander, von welchem unsre nordische Wohlerzogenheit größtenteils abhängt. Das Weib war von der Religion geehrt; warum sollten sie nicht auch Menschen ehren? Sie gaben den Männern Rat, dem Leben Anmut; sie bewegten das Herz des roheren Mannes und waren gleichsam Mittlerinnen im Himmel und auf Erden. Nach christlichen Begriffen schlang die Liebe nicht nur in dieser Sichtbarkeit einen unauflöslichen Knoten, sondern auch das Band der Freundschaft in einer ewigen Welt. Durchs Christentum sahe man dort lichtere Gegenden vor sich als den traurigen Orkus; in ihnen besang Dante seine Beatrice, Petrarca eine himmlische Laura. U.f.

90.

Das unvollendete Fragment vom Werte der Poesie mittlerer Zeiten möchte ich, gleichfalls für und wider, mit Vorteil und Nachteil also ergänzen:

Erstens. Fügt man dem Vorigen hinzu, daß die Poesie der mittleren Zeiten nach und nach mit mehreren Wissenschaften bekannt ward, als jene Poesie der Jugendwelt je kennenlernen konnte, so war ihr hiemit, eben wie bei Andacht, Liebe und Ehre, ein großer, aber auch ein sehr gefährlicher Knäuel in die Hand gegeben. Sie konnte daraus vieles entwickeln, aus jeder Wissenschaft sich zu eigen machen, was für sie diente; jede Erfindung, jedes neuentdeckte Land stand ihr zu Gebote. Sie konnte aber auch auf diesem Wegezu gelehrt, spitzfündig und scholastisch werden: und wäre sie es nicht hie und da reichlich geworden?

[70] Der größere Boden von Wissenschaft indes, den der menschliche Geist gewann, war ein beträchtliches Erwerbnis. Die neuere Poesie hat davon Nutzen gezogen und wird davon Vorteile ziehen, solange Wissenschaften wachsen, Erfindungen sich mehren, solange der menschliche Geist fortschreitet. Nicht vergebens hat der Vater der neueren Dichtkunst, Dante, mit einem Werk begonnen, das eine Art von Enzyklopädie des menschlichen Wissens über Himmel und Erde enthält; er hat seinem von jeder Vorzeit unterrichteten Kinde hiemit den Weg eines immer fortschreitenden Verdienstes gewiesen.

Zweitens. Und da in der mittleren Zeit viele Nationen, die gesamten Völker des römisch-christlichen Europa auf einem Kampfplatz des Ruhms standen und durch mehrere Verbindungen in einer Schule der Unterweisung lernten, so bekam, ungeachtet aller Nationalunterschiede von Sitten und Sprachen, die europäische Poesie und Lehre hiemit eine gemeinschaftliche Richtung. Mit so vielem Unreinen sie hie und da vermischt war, so trug sie allenthalben dazu bei, das Schwert der Barbaren, das noch nicht gestumpft war, einzuhalten, zu weihen, zu veredeln. Rittern und edlen Herren ward ein Kranz des Ruhms und der Verdienste vorgehalten, ohne welchen sie, wie die Geschichte mehrerer Länder zeigt, harte Herren, Trunkenbolde, räuberische stolze Barbaren blieben. Selbst die Griechen des östlichen Kaisertums, die an den Rittergesetzen der Westwelt keinen Anteil nahmen, erlaubten sich Niederträchtigkeiten gegen Feinde und Überwundene, die in Spanien, Italien und Frankreich kein Ritter sich jemals erlaubt haben würde. Als üppige Treulose gingen sie unter. –

Alles also, was Menschen, Stände und Völker miteinander verband, was die Geschlechter einander freundlich, Gemüter einander geneigt machte, was zu einem gemeinschaftlich anerkannten Zweck und gleichsam zu der Lehrform beitrug, nach welcher man von Jugend auf, wenngleich auf rohe Weise, der Tapferkeit, Liebe und Andacht huldigen lernte, [71] offenbar bahnte dies der Menschenliebe oder zuförderst jenerchristlichen Herzensgüte den Weg, die als Carità die Grazie der Grazien ist und jede Huldigung verdienet. Die Poesie des Mittelalters wirkte zu diesem Zweck unverkennbar.

Aus den Händen der Araber hatten die EuropäerAndacht, Liebe und Tapferkeit als einen Kranz der Ritterwürde empfangen; sie verschönten ihn nach christlicher Weise.

Und da gerade diese Poesie es war, die auch das Volk nicht verachtete, die sich auf öffentlichen Plätzen und Märkten hören ließ und durch Geist, Witz und Spott eigene Gedanken und ein freies Urteil auch über Zeithändel, über die Sitten geistlicher und weltlicher Stände, über das Verhältnis derselben gegeneinander weckte, so ward, wie die Geschichte zeigt, Poesie der erste Reformator. Immerhin wird dies auch die fröhliche Wissenschaft (gaya ciencia, gay sabèr) sein und bleiben. 125

[72]

Achte Sammlung

(1796)


[73][75]

91.
Sechstes Fragment

Wiederauflebung der Alten


Was der Poesie des Mittelalters fehlte, war nicht Stoff und Inhalt, nicht guter Wille und Endzweck; es fehlte ihr nicht an Idealen, auf welche sie hinarbeitete und sich bemühte; aber Geschmack, innere Norm und Regel fehlte ihr. Keine äußere Form des Sonetts, Madrigals oder der Stanze, der Reim am wenigsten, keine Scholastik, selbst die arabische Philosophie nicht, sie mochte aus Spanien, Afrika oder Palästina kommen, konnte ihr diese Regel gewähren; nur ein Mittel war dazu, die Wiedererweckung der Alten.

Immer hatten diese, auch in den dunkelsten Jahrhunderten, einige Liebhaber, sogar Nachahmer gefunden, ob man von ihnen gleich nur wenige kannte und diese wenigen in einer finstern Luft durch einen häßlichen Nebel ansah. Bekanntlich war Petrarca einer der ersten, der sich durch unablässigen Fleiß eine fast klassische Denkart angebildet hatte, ohne welche er seine liebliche Vulgarpoesie schwerlich hätte erschaffen mögen. Ihm folgten mehrere Liebhaber und Bewunderer der Alten, bis nach einer langen Morgenröte endlich heller Tag anbrach. Von Orient aus kamen die vertriebenen griechischen Musen nach Italien; mit einem wunderbaren Enthusiasmus für die Sprache, die Werke und Wissenschaften der Griechen wurden sie aufgenommen, und alles belebte sich neu. Laß es sein, daß fortan, insonderheit im nächsten Jahrhundert, die Landessprache keine Dichter bekam, wie Dante und Petrarca gewesen waren; beide, insonderheit der letzte hatte in seiner Art die Blüte hinweggebrochen, so daß kein Nachahmer ihn übertreffen konnte. Dafür aber öffnete sich eine Aussicht, die zehntausend Petrarchisten [75] nicht hätten eröffnen mögen. Poliziano, Pico, Bembo, Castiglione, Casa und so viel andre Geschichtschreiber, Dichter, Philosophen und Philologen schrieben nicht nur klassisch Latein, sondern einige derselben dachten auch klassisch und erwägten die Werke der Alten. Die Strozza, Sannazar, Fracastor, Vida und so viele, viele andre schrieben nicht etwa nur elegante lateinische Verse; man las, man übersetzte die Alten; Machiavell u.a. dachten ihnen männlich nach. Künstler erschienen, die im Geschmack der Griechen und Römer verzierten, baueten, bildeten, malten; das himmlische Genie Raffael erschien, von einer griechischen Muse mit einem Engel erzeuget. Da erklang ein Lied im höheren Tone; es fing wirklich eine neue Denkart mit einer neuen Zeit an; denn auch die Buchdruckerkunst war erfunden, eine neue Welt war entdeckt, die Reformation entstand. U.f.

Es hieße klein und eingeschränkt denken, wenn man diese neue Gedankenform bloß nach dem beurteilte, was sie damals hervorgebracht hat, nicht nach dem lebendigen Samen, der in ihr zu künftigen Hervorbringungen dalag. Sei es, daß die ersten Nachahmungen der Alten zu sklavisch waren, daß die erste Kritik sich zu sehr an Worte hielt und darüber oft den Geist nicht erreichte. Sei es, daß kein lateinischer Dichter dieses glücklichen Jahrhunderts einem alten Dichter gleichkäme; was schadet's? Die ersten gedruckten Ausgaben alter Autoren waren auch die vollkommensten nicht; indessen kamen sie weit umher und machten die Grundlage nicht nur zu bessern Auflagen, sondern auch zu vielen, vielen neuen Gedanken. Ohne Wiedererweckung der Alten wäre keine neue Philosophie und Beredsamkeit, keine Kritik, Kunst und Dichtkunst entstanden; Europa säße noch in der Dämmerung und labte sich an abenteuerlichen Ritterromanen. Das Licht der Alten ist's, das die Schatten verjagt und die Dämmerung aufgeklärt hat; mit ihnen haben wir empfangen, was allein den Geschmack sichert, Verhältnis, Regel, Richtmaß, Form der Gestalten im weiten Reiche der Natur und Kunst, ja der gesamten Menschheit.

[76] Warum z.B. ist die bloße Galanterie der Liebe ein falscher, mithin auch ein unpoetischer Geschmack? Weil sie etwas Unwahres in sich hält, das der reinen Sprache des Herzens und Geistes, wie es die Poesie sein soll, unwert ist. Jene Galanterie gibt Dingen einen Wert, den sie unsrer eignen Überzeugung nach nicht haben; sie malt Schönheit und Liebe mit falschen Reizen und vergisset darüber der herzergreifenden Wahrheit. Aus Mangel des Gefühls übertreibt sie; sie spielt mit Bildern und Wendungen, mit Witz und Worten. – – Echte Poesie also und eine falsche Galanterie sind unvereinbar. Möge ein verdorbner Geschmack der Zeit, möge die Mode sie dafür erkennen; der Zeitgeschmack geht vorüber, die Mode wird lächerlich; und späterhin macht die falsche Schminke das schöne Gesicht sogar häßlich.

Warum ist die übertriebne Ritterwürde ein falscher Geschmack? Weil sie als bloßes Ritual herz-und seelenlos, steif und lächerlich ist. Feierlichkeiten wird ein Wert gegeben, den sie nicht haben; Mißverhältnisse werden mit einem Schaumgolde überdeckt; geistlose Härte wird als ein Ideal der Männlichkeit gepriesen. Die Zeit kommt und streicht mit rauher Hand das Schaumgold hinweg; sie rückt die Stände anders, und sofort ist jene Mißgestalt unter einem eisernen Harnisch sichtbar. Alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verstand, Zweck, Ebenmaß, Güte des Herzens fehlt, kein Klang einer himmlischen Muse werden. –

Warum ist jene übertriebene Andacht, jenes Haschen nach dem Unendlichen, das Kalkulieren der Gottheit in unnennbaren Gefühlen ein falscher Geschmack? Weil sie eine Übervernunft sind, die weder in Sprache noch Kunst einen Ausdruck findet. Das Unermeßliche hat kein Maß, das Unendliche hat keinen Ausdruck. Je länger du also an diesen Tiefen schwindelst, desto mehr verwirret sich deine Zunge, wie sich dein Haupt verwirrte; du sagst nichts, wenn du etwas Unaussprechliches sagen wolltest. – Schwieg nicht jener Entzückte von dem, was er im dritten Himmel gesehen hatte? Alle wahre Gottbegeisterte schwiegen vom Unaussprechlichen [77] und sagten, was sie in der Sprache der Menschen, zumal in denGrenzen einer Kunst, sagen konnten. Der Ausdruck, der der Religion geziemt, ist nicht Schwärmerei, sondern Einfalt und Wahrheit.

Ist alles, was uns Umriß lehret, was unsrer Natur die ihr angemeßne Schranken zeigt und sie auf wirklichen Begriff, auf Wahrheit der Empfindung zurückführet, ein göttliches Geschenk: wie sehr tut dieses, recht verstanden und angewandt, die Poesie, die Kritik, die Philosophie und Denkart der Alten.

Diese z.B. weiß nichts von jener Höflichkeit eines übertreibenden, falschen Witzes, der Galanterie und Courtoisie sein soll; am Hofe der griechischen und römischen Musen hatte diese Kunst keinen Wert. Sie weiß nichts von jenem leeren Pomp, der dem Helden und Gott den Menschen auszieht; die heroische Poesie der Alten ist menschlich. Wozu endlich ward von den klügsten Völkern die Mythologie, wo nicht erfunden, so wenigstens an den schönsten Stellen gebraucht? Dem, was keine Gestalt hat, eine für uns lehrreiche und angenehme Gestalt zu geben, den Abglanz der blendenden Sonne im Spiegel des Meers oder in den Farben des Regenbogens zu zeigen. Uns sind im Grunde alle Einkleidungen, wo und wenn sie erfunden wurden, gleich; wir wollen sie zwar nicht unzeitig vermischen, aber alle mit Verstand gebrauchen. Aristoteles, Horaz und Quintilian sind uns nicht etwa über die Mythologie der Griechen allein, über die Mythologie jeder Nation und Religion sind ihre Grundsätze Gesetz und Regel.

Alles also, was den Geschmack der Alten unter uns befördert, sei uns wert, Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare, Nachahmungen; unter diesen Nachahmungen auch die neuere lateinische Poesie zu nennen, scheue ich mich nicht. Sie war immer ein Zeichen, daß man die Alten kannte und liebte, daß man über neuere Gegenstände im Sinne der Alten dachte, daß man ihr Richtmaß an diese neuen Gegenstände zu legen wagte. Sie hat viel Gutes gewirket. Latein sagte man, was [78] man in der Landessprache nicht sagen konnte oder dorfte; nachahmend sprach man gleichsam den Alten nach und sagte ihnen seine Lektion auf; man freuete sich, daß man sie aus ihnen gelernt und ungefährdet aufsagen konnte. Über die Vorurteile seiner Zeit, seines Ordens, Volks und Standes hob mancher sich, ohne daß er's wußte, auf Schwingen irgendeines alten Dichters empor; oder wenn er hiezu nicht Kraft gnug hatte, kam er doch nachahmend dem Geschmack und bessern Verständnis des Dichters, in dessen Weise er schrieb, näher und ward, auch nachlallend, mit ihm vertrauter. Endlich schloß sich durch die neuere lateinische Poesie eine Gesellschaft zusammen, von der vorher noch keine Zeit gewußt hatte; in Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, den britannischen Inseln, den nordischen Königreichen, in Livland, Polen, Preußen, Ungarn, in Deutschland, Holland u.f. hat man lateinisch nicht nur versifizieret, sondern hie und da gewiß auch gedichtet. Italien, Frankreich, Deutschland, Polen, vor allen Holland hat Männer gehabt, die mit dem Latein wie mit ihrer Muttersprache umzugehen wußten und in ihm Gedichte gaben, die in jeder Landessprache Aufmerksamkeit gebieten würden. Selbst die Vortrefflichen, die der Sprache und Poesie ihrer Nation eine bessere Gestalt gaben, hatten diese meistens im Lateinischen zuerst versucht, wie außer den Italienern die Beispiele Miltons, Cowleys, Grotius', Heinsius', Opitz' u.f. zeigen. Fast alle Reformatoren, Erasmus, Luther, Zwingli, Melanchthon, Camerarius, Beza u.f., waren Liebhaber der Alten, Liebhaber der griechischen und lateinischen Dichtkunst. Die gebildetsten Staatsmänner, wie Thomas Morus, de Thou, Hopital u.f., Botschafter, Päpste, Kardinäle waren lateinische Dichter. Ein Helikon vereinigte sie und weckte Stimmen vom Ätna bis zum Hekla, vom Ausfluß des Tago bis zur Weichsel und der Düna.

Ich will mich nicht auf den Gemeinplatz einlassen, daß alle echte Kritik und Philosophie der Neueren nur eine palingenesierte Pflanze der Alten sei; denn woher hatten neben den weltbekannten Kommentatoren Erasmus, Grotius, Heinsius, [79] Boileau, Gravina, der edle Shaftesbury und die wenigen sonst, die ins Herz der Kritik drangen, ihre Weisheit als von den Alten? Eine spanische, deutsche, irländische Kritik gibt es nicht; aber eine griechische und römische Kritik gibt es. Mit ihr fängt die Kultur aller europäischen Landessprachen in Poesie und Prose, ja durchaus das Bestreben nach einem bessern Geschmack in ganz Europa an; den Beweis hievon liefert die Geschichte.

92.

Es tut mir leid, daß ich Ihrem Fragment einige Einwendungen entgegensetzen muß; wozu aber wäre die Heuchelei auch im Lobe des Geschmacks der Alten nötig?

Zuerst gibt Ihr Fragment es selbst zu, daß auch vor der sogenannten Erweckung der Alten in jedem Fach große Männer, Denker und Dichter gelebt haben, und ebensowenig wird bezweifelt werden können, daß seit dieser Entdeckung große Männer gelebt und geschrieben haben, die von den Alten wenig oder nichts wußten. Ich darf von den ersten nur Dante, von den letzten nur Shakespeare anführen; wieviel andre möchten zu nennen sein! Die größten Erfindungen sind in den Zeiten gemacht, die wir barbarische, rohe Zeiten nennen; vielleicht haben in ihnen auch die größesten Männer gelebet. Damals standen die Köpfe noch nicht so dicht aneinander; jeder hatte zum eignen Denken freien Raum; um sie war Dämmerung; desto munterer aber wirkten sie und dorften in der Mittagssonne der Alten eben noch nicht erblinden. Wie ein Roger Baco vor hundert Kommentatoren des Aristoteles gilt, so gibt es romantische Gedichte der mittleren, selbst der neueren Zeit, bei denen man den Geschmack der Alten gern vergißt und in ihnen wie im Feenreich lustwandelt. Ich erinnere Sie an so manche Romane, die uns der Graf Tressan und seine Gehülfen gegeben, ja seit Wiederauflebung der Wissenschaften an die größesten Lichter aller kultivierten Nationen. Woher nahmen Ariost und die ihm [80] vorgingen, woher Spenser, Shakespeare, und zwar in seinen rührendsten Stücken, Form und Inhalt? Nicht aus den Alten, sondern aus der Denkart des Volks und seinem Geschmack in ihren und den mittleren Zeiten. Glauben Sie, daß Shakespeare, auch wenn er die Alten mehr gekannt hätte, als er sie kannte, ihnen ängstlicher nachgegangen wäre? Wie leicht konnte er sie kennenlernen, da schon so manche in englischen Übersetzungen neben ihm existierten! Er ließ diese den Ben Jonson studieren und hielt sich an das Märchen, an die Novelle der mittleren Zeit, aus denen er seine dramatische Schöpfung hervorrief. Seitdem haben die Briten den Äschylus, Sophokles, Euripides gelesen, kommentiert, übersetzt und emendieret; aus dem allen aber ist kein zweiter Shakespeare worden.

Zweitens. Zu viele Proben haben es erwiesen, daß die Alten kennen und nachahmen, uns ihnen noch nicht gleichstelle, da ihre gelehrtesten Kenner oft die unglücklichsten Schöpfer gewesen. Wie ging es dem Trissino mit seinem »Befreiten Italien«? dem Gravina und Maffei mit ihren Dramas im Geschmack der Alten? Die gelehrten Kenner der Alten, Casa, Bembo u.f., überstiegen den Petrarca nicht; den Chiabrera, Redi, Filicaja, Lemene vermochte ihre Kenntnis der Alten und ihre Gelehrsamkeit sogar vor dem bösen Geschmack ihrer Zeit nicht zu sichern. Unter den Engländern war Cowley mit den Alten sehr bekannt; er schrieb und dichtete selbst lateinisch; seine prosaischen Aufsätze sind mit der Bescheidenheit und Würde eines Römers geschrieben, und welches sonderbare Phantom bildete sich dieser gelehrte Dichter an Pindar ein! In wie bösem Geschmack erschuf er jene Odengattung, die seinen Landsleuten wirklich ein Verderb des Geschmacks ward! – Also hilft auch hier das Alter für Torheit nicht; jeder Neuere behält seine natürliche Größe, falls er in seinem Studium auch den griechischen und römischen Helikon aufeinandertürmte und sich droben hinaufstellte.

Drittens. Nun kann ich zwar gegen die schöne lateinische [81] Schreibart vieler Neueren in Poesie und Prose nichts einwenden und finde in ihnen für mich ein großes Vergnügen; für sich selbst aber, was taten diese Schriftsteller mehr, als daß sie ihre Pflicht erfüllten? Muß jeder, der in einer Sprache schreibt, in ihr gut zu schreiben suchen, so wäre es ja dreifache Schande, die Sprache, in welcher jene Römer schrieben, schlecht zu behandeln. Wer in ihr nicht schreiben kann, wie er soll, schreibe, wenn er's vermeiden kann, in ihr gar nicht; hat er in ihr leidlich oder gut geschrieben, so ist's ihm nicht mehr Lob als jedem andern, der in seiner Sprache gut spricht, oder einem Flötenspieler, der seine Flöte gut spielet. – Wenn Schriftsteller durch eine sogenannte schöne Schreibart, die bei keinem Vernünftigen von einer guten Denkart getrennet werden kann, wenn vor allen lateinische Schönschreiber sich von einer guten Denkart durch diese Sprache freigesprochen glauben, wo sind wir denn mit der Regel der Alten? Dieser scriptor denkt an Worte; an Sachen und Gründe wenig. Übersetzt sein Latein in eine gemeine Sprache, und ihr findet die trivialsten Dinge in einem Ton gesagt, vor dem die demütige Landessprache beinah verstummet. Dort ging das gelehrte Kind in einem Gängelwagen, oder vielmehr der Gängelwagen (ambitus verborum) ging statt des gelehrten Kindes und nahm es mit; dem rund-viereckten Vehikul entnommen, wie erbärmlich ist seine Gestalt, wie schwach und dürftig! Und doch machte man so oft die Erfahrung, daß unter allen literarisch Stolzen es fast keine stolzeren als die Lateinschreiber gebe. Sie sind die alten Barone, deren Diplom rückwärts über das Christentum, deren Unsterblichkeit vorwärts über den Jüngsten Tag der Landessprache hinausreicht. Sie schreiben nicht für ihre Nation in der sogenannten Vulgar- oder Pöbelsprache, sondern für Welt und Nachwelt in der einzig-unvergänglichen Göttersprache. Wie wohl wird dem Leser in der Geschichte der Literatur, wenn nach zu Grabe getragenen Schoppen (Scioppiorum) die Periode der eigentlichen Wissenschaften (Scienzen) anfängt, in welcher [82] man sich nicht mehr über Worte und Autoritäten schoppisch zankte. –

Endlich. Wahre Kenner der Alten hat es immer nur wenige gegeben! Die Kritik der Silben und Worte ist eine unentbehrliche, nützliche Kunst; sie erfodert Genie, Takt und vor andern viel Kenntnisse, Fleiß und Übung; daß sie aber die Kenntnis der Alten noch nicht sei, von der das Fragment eine Palingenesie der Dinge herzuleiten scheinet, dies ist wohl sonnenklar. Kritiker, wie Ruhnken an Hemsterhuis schildert, sind selten; auch von denen, die die Alten mit Geist lesen, wählt jeder sich gern seinen Alten, den er über alle hinaussetzt, nach welchem er dann, auch mit Fehlern und Schwächen, seine Denkart präget Eine Reihe von Beispielen wäre anzuführen, aus welchen erhellen würde, wie selten wir in den Alten sie selbst, wie noch seltner wir in ihnen ihr Höchstes, das καλον καγαϑον der Griechen- und Römerwelt, ihre Regel des Geschmacks im Wahren, Guten und Schönen studieren. Am öftersten schauen wir sie wie Narzisse an, denken daran, was wir über sie zu sagen haben, und bewundern unsre Gestalt in dem flüssigen Spiegel der alten heiligen Quelle. Statt an ihnen gehen zu lernen, verlieren manche durch sie den gesunden Brauch ihrer eignen Glieder.

93.

Ihre Einwendungen könnte ich mit Sprüchwörtern beantworten, z.B.: »Rom ist nicht in einem Jahr gebaut.« »Je schwerer die Kunst, desto mehr Pfuscher.« »Je organisierter der Körper, desto böser seine Fäulung« u.dgl. Ich will aber mit Gründen antworten; in der Hauptsache sind wir eins.

Daß zu allen Zeiten und unter allen Völkern Talente ans Licht kommen, ist eine Erfahrung, die eben ja jeder Bemühung um Ausbildung der Talente zum Grunde liegt. Nicht in Athen und Rom allein wurdendämonische, göttliche Männer geboren; sie bedorften auch von dorther keiner Beurkundung, [83] daß sie solche waren. Die Gabe der Muse ist eine angeborne Himmelsgabe, die kaum mit Mühe vergraben werden kann. Großer Leidenschaften und Vorstellungen fähig, sehen einige nichts als diese Bilder, sprechen in Leidenschaft, laben sich in Tönen des Wohllauts und fühlen sich geschaffen, die Gemüter andrer mit dem, was sie erfreuet und anregt, auch zu erfreuen und anzuregen. Wenn Poesie noch nicht erfunden wäre, würden solche Menschen sie erfinden, und erfinden sie täglich.

Aber wie sehr Talente dieser Art unter dem Druck einer schlechten Sprache und einer sinnlosen Mitwelt leiden, zeigt eben ja die Geschichte sowohl der rohen als der mittleren dunkeln Zeiten. Gibt es eine Kunst der Sprache, was vermag ohne Werkzeuge der Künstler?

Überdem, wie schwer wird's eben dem feurigsten Kopf, sich innerhalb der Grenzen zu halten, in denen das Wahre, Gute und Schöne eins ist, und eben auf diese, die einzige Weise, in Form und Inhalt, dadurch, was man sagt und wie man es sagt, ewig zu werden. Ihm also sowohl als denen, für die er arbeitet, ist Lehre nötig, eine Disziplin, die uns für andre, andre für uns zubereite, beide vor Ausschweifungen sichre und dem arbeitenden Genius leere Versuche, von denen er mit Reue zurückkommen müßte, erspare. Oft ist das Genie ein Edelstein, der tief im Schacht liegt, in einer harten Rinde begraben; die Rinde muß gesprengt, der Edelstein von der Hand des Künstlers bearbeitet werden u.f. – Wem gab nun die Natur das eigentliche Kunsttalent in größerm Maße als den Griechen? Auf der ganzen Erde keinem Volke wie ihnen. Gleichsam vom Instinkt geleitet, erfanden sie jeder Gestalt und Wissenschaft Maß, Ziel und Umriß. Nicht nur das Zuviele, das Ungehörige, sonderten sie ab, sondern auch dem Bleibenden, der Gestalt selbst, gaben sie Fülle, Leben und Anmut.

Wollen aber Griechen und Römer, sofern sie Griechen und Römer sind, hiemit eine Monarchie errichten, wollen sie Nationalcharaktere unterdrücken, lebende Sprache verdrängen [84] oder verschlimmern? Nichts von allem! Aufmunterung, Ordnung, Verbesserung ist ihr einziger Zweck; man darf also von ihnen nicht mehr fodern, als sie zu leisten vermögen. Sie wollen Kräfte wecken, aber nicht geben; sie sind Vorbilder, keine Schöpfer. Da indessen im Reich der Gedanken von Aufmunterung, zumal durch tätige Vorbilder, von Ordnung und Erziehung viel abhangt, so ist die Herrschaft, die jeder Verständige den Alten freiwillig einräumt, zwar keine Monarchie, aber ein Rat der Besseren zum Besten.

Lassen Sie also die würdigsten Schriften zuweilen von den unwürdigsten Händen behandelt werden, was schadet's? Geht nicht auch das Gold durch die Hände niedriger Bearbeiter und Sammler? Verlor der Diamant dadurch, daß ihn die Dürftigkeit selbst aufgrub? Wenn unter dem Text eines alten Autors sich in den Noten oft über nichts ein schreckliches Gezänk erhebt, so lasset uns vom blutigen Spiel dieser Gladiatoren, die sich zu Ehren des Verstorbenen neben seinem Grabe würgen, hinwegsehn und sie für das halten, was sie sind, Sklaven. Die Worte des Autors werden uns werter, wenn wir uns über die Wasser der Sündflut, die unten den Text überschwemmet hat, zum Gipfel emporheben und da den friedlichen Ölzweig finden. –

Da endlich der Geist, den wir aus den Schriften der Alten ziehn sollen, gesunder Verstand und ein gesundes Herz, die wahre Philosophie und Richtung des Lebens, bona Mens und Humanität ist, so ist die Einführung dieser Gottheiten für uns und unsre Nachkommen ein Werk von fortdaurender, wachsender Wirkung. Zuerst mußten diese Schriften gefunden, vervielfältiget, erklärt, erläutert, von Fehlern gereinigt, verstanden werden, ehe ihr besserer, ihr weiserer Gebrauch in jeder Anwendung ein Hauptzweck werden konnte. Hie und da ist er es schon geworden; er wird's noch mehr werden. Die Zeit der Solipsorum geht zu Ende; zu einem gemeinen Besten arbeiten wiralle.

[85] Nachschrift

Jener Amerikaner glaubte, daß in jedem Brief ein Geist eingeschlossen sei; ich wollte, daß ich diesem Briefe einen Geist einschließen könnte, den Geist der Alten. Hören Sie darüber einen apokryphischen Schriftsteller:

»Gerade, als ob unser Lernen bloß ein Erinnern wäre, weiset man uns immer auf die Denkmale der Alten, den Geist bloß durch das Gedächtnis zu bilden. Wir wissen selbst nicht recht, was wir in den Griechen und Römern bis zur Abgötterei bewundern.

Gleich einem Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut, nachdem er sich aber beschauet hat, von Stund an davongeht und vergisset, wie er gestaltet war, ebenso gehen wir mit den Alten um. Gar anders sitzt ein Maler zu seinem eignen Bilde«

»Da ich bloß dem Geist der Alten nachspüre, so geht mich das Schulmeistergesicht nichts an, womit die ** ihren Autor Lesern und Zuhörern verekeln. Ich will sehr zufrieden sein, wenn ich mein Griechisch nur ungefähr so verstehe, wie Überbringer dieses seine Muttersprache Wer die Alten, ohne die Natur zu kennen, studiert, lieset Noten ohne Text und an Petrons Ausgabe in Großquart über ein klein Fragment sich wenigstens zu einem Doktor. Wer kein Fell überm Auge hat, für den hat Homer keine Decke. Wer aber den hellen Tag noch nie gesehen, an dem werden weder Didymus noch Eustathius Wunder tun. – – Der Zorn benimmt mir alle Überlegung, wenn ich daran gedenke, wie solch eine edle Gabe Gottes, als die Wissenschaften sind, verwüstet, von starken Geistern zerrissen, von faulen Mönchen zertreten werden, und wie es möglich, daß junge Leute in die alte Fee, Gelehrsamkeit, ohne Zähne und Haare (etwa falsche) verliebt sein können.«

So spricht ein Eifrer für den guten Gebrauch der Alten, und wieviel mehr könnte man davon sagen! Aber wie jemand ist, so tut er; wie wir selbst denken, so nutzen wir die Alten.

[86] 94.

Die Nachschrift Ihres Briefes hat mir eine alte Wunde aufgerissen, die ziemlich verharscht war, nämlich wie wir, insonderheit mit unsrer Jugend, die Alten lesen. »Das Salz der Gelehrsamkeit,« sagt Ihr Apokryphus, »ist ein gut Ding; wenn aber das Salz tumm wird, womit soll man salzen?« – Bloße Gelehrsamkeit zerstreuet und ermüdet; alles macht sie zu nacktem, vielleicht unnötigem Wissen von Worten, Stellen und Gebräuchen; sie wirft die Seele hin und her. Das Gemüt der Jugend will gesammlet, will auf den Kern gerichtet, will fürs Leben gebildet und gestärkt sein.

Ich begreife selbst, was für eine schwere Aufgabe es ist, so viele, so mannigfaltige Schriftsteller der Griechen und Römer, Dichter, Redner, Geschichtschreiber und Philosophen mit unsrer Jugend nutzbar zu lesen; der Grundsatz indessen, nach welchem sie gelesen werden müssen, ist außer Zweifel. Es ist derSinn der Alten selbst, das Gefühl vom Wahren, Guten und Schönen, diese alle zu einem System verbunden, in eine Gestalt geordnet. Man nenne diese Gestalt das Anständige, das sich Geziemende, honestum, decorum, καλον, πρεπον oder wie man wolle; sie ist ein unterscheidender Zug der Komposition undDenkart der Alten in ihren besten Schriftstellern und würdigsten Männern, auf welchen das Auge der Jugend sich vorzüglich heften müßte.

In der Komposition der Alten nämlich hat alles Zweck, Plan und Ordnung. Nichts stehet am unrechten Ort, nichts ist müßig und unschicklich dahingeworfen; und im Ganzen herrscht, wo es irgend sein kann, lebendige Darstellung und Handlung Die griechische Sprache z.B. ist von der Bildung der Worte an bis zum Bau ihrer Silbenmaße und Perioden ein Muster des Wohlklanges, der Zusammenfügung, der Bedeutsamkeit und Grazie des Ausdrucks; die lateinische Sprache eifert ihr nach Wie in Statuen und Gebäuden die Kunst der Alten Einfalt und Würde, Bedeutung und Anmut zu vereinigen wußte, so vereinigen es die Meisterwerke ihrer [87] Sprache. Wer in Homer und Pindar, in Herodot, Plato, Cicero, Livius und Horaz diese Schicklichkeit und Kongruenz der Teile zur Eurhythmie des Ganzen weder zu finden noch anschaulich zu machen weiß, der ist des Geistes, in dem sie arbeiteten und dachten, nicht innegeworden. In wenige Werke der Neueren hat sich dieser organische Geist ergossen; wo er erscheint, macht er ein Werk seiner Natur nach unsterblich. Einfalt also und Würde, Bedeutsamkeit und Wohlordnung haben wir von den Alten zu lernen, um unsrer Denkart und Sprache im Kleinsten und Größesten eine solche Gestalt zu geben.

Aber das Anständige der Alten erstrecket sich weiter, indem Charaktere, Sitten, Grundsätze und Meinungen nicht etwa nur zu schildern, sondern darzustellen und zu verknüpfen der Zweck ihrer erlesensten Werke war. Die Tugend ist ein καλον, ein Anständiges und Vortreffliches, das mit Liebe gesucht werden will und nur durch unablässige Übung erlangt wird. Ihre besten Schriftsteller jeglicher Art zeigen darauf als auf das Zünglein der Waage menschlicher Handlungen und den edelsten Kampfpreis des menschlichen Lebens. Licht und Schatten stellen sie dar; sie kontrastieren und gruppieren Gestalten, Sinnesarten und Meinungen ohne jene neuere überspannende Heuchelei, die im Grunde jede Anwendung verwirret und zuletzt die ganze Sittlichkeit aufhebt. Haben wir das Gefühl des Anständigen, des Großen, Schönen, Anmutigen und Edlen verloren, was hält uns zurück, daß wir nicht ärger als Tiere werden? Verächtlicher sind wir gewiß. Dies Gefühl moralischer Schicklichkeit, Würde und Grazie durch Lesung der Alten in uns zu wecken und zu erhalten ist um so nötiger, da in der gegenwärtigen Welt eine Konvenienz in niederträchtigen, frechen Meinungen, die für Grundsätze gelten und im offenen Gebrauch sind, dasselbe ganz zu ersticken drohen. Daß sich zwischen uns und jenen einige äußere Umstände verändert haben und sowohl derHeroismus als der Patriotismus eine andre Gestalt gewonnen, darf jenem Gefühl, dem Charakter der Menschheit, nicht [88] schaden. Wir können edlere Heroen sein als Achill, schönere Patrioten als Horatius Cocles.

Hier also liegt meines Erachtens die Regel; sie ist eine logische, poetische, ethische Regel. Barbaren kennen sie nicht; losgebundene Willkür verachtet sie, zerstreuende Gelehrsamkeit geht vorüber. Wer sie fand, wer in seiner Jugend nach ihr gebildet wurde, der kann sie nicht vergessen; sie hat sich seinem Gemüt eingedrückt als das Herz seines Herzens, als die Seele seiner Seele. »Id facere laus est, quod decet, non quod licet.« »Quod decet, honestum est, et quod honestum est, decet.«

95.
Siebentes Fragment

Schrift und Buchdruckerei


Als bei den Griechen die Schrift noch nicht oder wenig im Gebrauch war, erklang die Sprache als einlebendiges Wort; die Stimme des Dichters und seines Sängers war eine Aufbewahrerin aller menschlichen Empfindungen und Gedanken. Daher die Gestalt der ältesten Poesie in ihrem Reichtum an Bildern und Tönen, in ihrer Naturpracht und Naturschönheit, aber auch in ihrer Wandelbarkeit, ihrer Ungewißheit, ihren Fehlern und Mängeln.

Mit Einführung der Schrift ging der größeste Teil dieses alten Worts zu Grabe; nur weniges von ihm ward aufbehalten und allmählich geregelt. Mit Einführung der Schrift kam Prose auf, Geschichte undBeredsamkeit wurden ausgebildet; und wenn sich jetzt die Poesie neben ihnen hervortun wollte, so lief sie Gefahr, stolz, aufgeblasen und, wo sie vom lebendigen Vortrage ganz entfernt war, unverständlich und schwindelnd zu werden. Eben nur der lebendige Vortrag hatte sie [89] ehemals im Kreise einer schönen Anschaulichkeit erhalten; auf dem Theater (die Chöre ausgenommen) erhielt er sie noch lange in diesem glücklichen Kreise.

Da indessen bei einem so lebhaften Volk, wie die Griechen waren, auch das Geschriebene zum lebendigen Vortrage geschrieben war, indem Herodot z.B. einige Bücher seiner Geschichte zu Olympia wie ein Gedicht vorlas, und in den griechischen Republiken die öffentliche Beredsamkeit jeder Art des Vortrages, selbst der Philosophie, den Ton angab, so mußte notwendig auch in Schriften der Griechen sich lange Zeit jene alte, wenn ich so sagen darf, poetische Weise er halten: zu schreiben, als ob man spräche. Schreibend trug man vor; man schrieb gleichsam laut und öffentlich, als ob zu jedem Buch ein Vorleser wie sein Genius gehörte. Ohne Zweifel ist dieses die Ursache, warum in der Prose der griechische Periode so künstlich und schön wie in keiner andern Sprache ausgebildet worden; der offne Mund der Griechen, die Poesie, die ihm vorging, und der öffentliche Redevortrag, der den Rhapsodien der Poesie folgte, hatten ihn geformet.

Bei den Römern nicht anders; denn auch bei ihnen herrschte die Beredsamkeit und der öffentliche Vortrag. Ihre Gedichte lasen sie öffentlich vor; aus Persius, Juvenal, Plinius u.a. wissen wir, mit welcher Sorgfalt, mit welchem Aufwande von Kunst, zuletzt von Ziererei und Torheit.

Bei Griechen und Römern war das Bücherwesen anders wie bei uns bestellt. Man las viel weniger; große Bibliotheken waren selten und die Büchermaterialien kostbar. Man schrieb also auch weniger. In Rom schrieb nicht jeder Sklave und Bürger, sondern nur die zur Gelehrsamkeit oder zu Geschäften Erzogene: Menschen von gutem Ton, Feldherren, Staatsmänner, Kaiser. Man hielt das Schreiben für etwas Edles und, aufs beste zu schreiben, für einen Ruhm, der länger als ein Triumph währte.

Man nahm sich daher im Schreiben eine bestimmte Bahn; Zeitgenossen und Freunde teileten sich in dieses oder jenes Feld der Bearbeitung, und wie die römische Sprache imperatorisch [90] gebot, so liebte sie auch in der Schreibart die Kürze, die Bestimmtheit. Oft kehrte man den Stil um und löschte aus; man glättete und zierte, wie die Schreibtafel, so auch die Gedanken.

Der mühsamere Weg, wie man damals zu Büchern kommen konnte, machte Bücher auch werter; bei einem höheren Begriff von dem, was sie enthielten, wandte man auch mehr Fleiß auf das, was sie enthalten sollten. Welchen Wert legte Horaz auf seine wenigen Schriften! lange poliert, ließ er ein kleines Buch nach dem andern erscheinen, das bei uns wie ein Tropfe in den Ozean fließen würde. Höchst ausgearbeitet sind Virgils Werke; und dennoch war ihm die »Äneis« nicht ausgearbeitet gnug. Er wollte, daß sie ihn nicht überlebte. So sorgfältig hervorgetrieben sind fast alle Schriften, insonderheit die Gedichte der Römer. Mit drei kleinen Büchern seiner Elegien wollte Properz vor der Proserpina erscheinen; in sie alle Schönheiten der griechischen Elegie gebracht zu haben, diese Ehre war der Zweck seines Lebens. Setzet ihn, setzet Horaz, und wen Ihr wollet, in unsre bücherreichen Zeiten: schwerlich hätten sie mit soviel Zuversicht, mit so umfassendem, tiefdringenden Fleiße gedichtet. Bis zu Boëthius und Ausonius hin ist fast jedes kleinste römische Werk ein Mosaik, ein gearbeitetes Fresko– oder Miniaturgemälde.

Jedermann ist bekannt, daß in den mittleren Zeiten die Barbarei einesteils auch vom Mangel an Büchern und Schreibmaterialien herkam. Wie manche schöne Schrift der Alten ward von den Mönchen unwiederbringlich verlöscht, damit sie auf das dadurch gewonnene Pergament ihre Chorgesänge und Homilien schreiben konnten. Heil dem Erfinder des Lumpenpapiers! wo er begraben liege, Heil ihm! Mehr als alle Monarchen der Erde hat er für unsre Literatur getan, deren ganzer Betrieb von Lumpen ausgeht und so oft in Makulatur endet! Wie der Sonnenschein die Fliegen, so hat er Schriftsteller geweckt und die Sosien bereichert.

Denn man bemerke: eben in dem Jahrhunderte, in dem das Lumpenpapier in Gebrauch kam, traten auch jene längeren [91] Romane hervor, die vorher jahrhundertelang kurze Volksmärchen oder Lieder und Fabeln gewesen waren. Wie entfernt z.B. hatte Karl der Große vom Erzbischof Turpin, König Artus von Gottfried von Monmouth, Wolfdietrich von Eschilbach und jeder andre Romanheld von seinem Chronik- oder Romanschreiber gelebet! Keiner von diesen Schreibern erfand die Fabel, die er in die Büchersprache brachte; sie war längst im Munde der Sänger oder des Volks gewesen und in ihm vielfach verändert worden. Jetzt nahm sie der Genius der Unsterblichkeit auf; denn das Lumpenpapier war erfunden. Allgemach lernte man lesen, da man sonst den Sänger und Fabelerzähler nur hatte hören können.

So vermehrten sich Chroniken, Romane, allmählich auch Abschriften der Alten. Wäre die Erfindung des Lumpenpapiers früher gekommen, wieviel weniger wäre untergegangen! wieviel Schätzbares hätten wir ihr zu danken! Und noch sind wir ihr sowohl durch Überschreibung aus älteren Pergamenten als durch die von ihr veranlaßte Umarbeitungen alter Sagen und sonst viel schuldig.

Was indessen ehemals das ägyptische Schilf (βιβλοσ)

getan hatte, daß es nämlich die griechischen Rhapsoden allmählich verstummen machte und statt ihrer lebendigen Gesänge Bücher (βιβλια) in die Hand gab, das taten mit der Zeit auch die Baumwoll– und Lumpenschriften. Provenzalen und Trobadoren, Fabel-und Minnesinger schwiegen allmählich; denn man saß und las. Je mehr sich Schriften vermehrten, desto mehr verminderten sich ganz eigentümliche, freie Gedanken; endlich ward der menschliche Geist ganz in Lumpen gekleidet. Auf diese ward geschrieben, was man lesen und nicht lesen wollte; mochte es am Ende sich selbst lesen! –

Nun trat die Buchdruckerei hinzu und gab beschriebenen Lumpen Hügel. In alle Welt fliegen sie; mit jedem Jahr, mit jeder Tagesstunde vom ersten erwachenden Morgenstrahl an wachsen dieser literarischen Fama die Schwingen, bis an den Rand der Erde. Jenes Orakel: »Wenn Menschen schweigen, so werden die Steine schreien,« ist erfüllt; worüber Menschenstimmen [92] schweigen, darüber sprechen und schreien gegossene Buchstaben, merkantilische Hefte.

Nach so vielen andern eine Lobrede der Buchdruckerei zu halten wäre ein sehr unnötiges Werk; wir wissen alle, was wir an ihr haben. Nur durch sie, erst durch sie ist zusammenhangende und verglichene Erfahrung des menschlichen Geschlechts, Kritik, Geschichte und eine Welt der Wissenschaften worden.

Aber auch was wir an ihr nicht haben, ist zu bemerken: was sie nämlich nicht geben kann, ja worin sie störet. Eignen Geist nämlich kann sie nicht geben; lebhafteren, tieferen Genuß an der Quelle des Wahren, Guten und Schönen mag sie durch die unzählbare Konkurrenz fremder Gedanken hier befördern, dort aber auch hindern.

Mit der Buchdruckerei nämlich kam alles an den Tag; die Gedanken aller Nationen, alter und neuer, flossen ineinander. Wer die Stimmen zu sondern und jede zu rechter Zeit zu hören wußte, für den war dies große Odeum sehr lehrreich; andre ergriff die Bücherwut; sie wurden verwirrte Buchstabenmänner und zu letzt selbst in Person gedruckte Buchstaben.

Von Anbeginn ist dies nicht also gewesen. Ursprünglich dachte der Mensch, er handelte und genoß, er sprach und hörte. Wenn er schreiben konnte, schrieb er, nur aber, was zu schreiben war; nicht ward er selbst, ohne zu sehen und zu hören, ein schreibender Buchstab; jetzt – – –

Ist dessen die menschliche Natur fähig? kann sie es ertragen? Verwirren sich in diesem gedruckten Babel nicht alle Gedanken? Und wenn dir jetzt täglich nur zehn Tages- und Zeitschriften zufliegen und in jedem nur fünf Stimmen zutönen: wo hast du am Ende deinen Kopf? wo behältst du Zeit zu eignem Nachdenken und zu Geschäften? Offenbar hat's unsre gedruckte Literatur darauf angelegt, den armen menschlichen Geist völlig zu verwirren und ihm alle Nüchternheit, Kraft und Zeit zu einer stillen und edlen Selbstbildung zu rauben. Selbst in der Gesellschaft sind die menschlichen Stimmen verhallet; Romane sprechen und Journale.

[93] Diderot hat irgendwo die Frage an sich getan, die wohl jeder tut, wenn er aufs Land oder auf eine Reise gehet: »welche Bücher er als Freunde mit sich nehmen möchte?« Wie im Leben so hat auch im Lesen der Mann von Herz nur wenige geprüfte Freunde, und bei eigner Komposition bleibet er gern allein.

Würden Homer und Sophokles, Horaz, Dante und Petrarca, würden Shakespeare und Milton ihre Werke im Kreise unsrer Bücher- und Lesewelt gemacht haben? Schwerlich.

Denn unverkennbar ist's, daß, je mehr durch die Buchdruckerei die Werke aller Nationen allen gemein wurden, der ruhige Gang eigentümlicher Komposition großenteils aufgehört hat. Wer fürs Publikum schreibt, schreibt selten mehr ganz für sich als den innersten Richter; daher Pascal und Rousseau unter so vielen Autoren so wenige Menschen fanden. Wird nun das Publikum gar wie ein blinder Maulesel gelenkt, und schmeichelt der Schriftsteller der Zunft, die es äffet und leitet: »Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern?« möchte man sodann jedem Schriftsteller sagen, der aus Not oder Feigheit dem häßlichen Götzen Modegeschmack dienet.

»Schreibe!,« sprach jene Stimme, und der Prophet antwortete: »Für wen?« Die Stimme sprach: »Schreibe für die Toten! für die, die du in der Vorwelt lieb hast.« – »Werden sie mich lesen?« – »Ja; denn sie kommen zurück, als Nachwelt.«

96.

»Απεχου, ανεχου!« »Enthalte dich, dulde!« Sind wir denn mit der Literatur aller Welt vermählet? Ist kein Riegel zu finden, der uns gegen das Andringen schwarzer Buchstaben schütze? kein Seil zu finden, das uns am Mastbaum halte, indem wir mitten durch den Gesang derer, die da wissen, was war, ist und sein wird, gerade hindurchfahren? Gehört fremden Meinungen unser Geschmack und Verstand, unser[94] Wille und gewissen Gehören den Seeleverkäufern unsere Seelen?

Wahr ist's. Mit der Buchdruckerei hat sich im Reich der Gedanken vieles geändert, und es kann wohl sein, daß, wenn die Wissenschaften durch sie steigen, der Geschmack sich durch sie verwirren, Genie und Sitten endlich vielleicht gar zugrunde gehen müßten, wenn sich nicht ein hülfreicher Genius des menschlichen Geschlechts annähme. Lassen Sie uns aber an diesem hülfreichen Genius nicht zweifeln.

Ehe Buchdruckerei da war, ging jede europäische Nation in einem engeren Bezirk von Ideen umher; ihr Charakter war vielleicht fester. Durch Reisen und Lesen ist allem Bösen und Guten fremder Nationen die Tür geöffnet, und wenn es sich durch den NamenGeschmack, »neuer, fremder Geschmack,« Aufmerksamkeit erwerben kann, so hat es ohne weitere Überlegung die Menge für sich. Welchen Torheiten haben wir nicht nachgeahmt? welchen werden wir noch nachahmen! Nicht etwa nur im spanischen, englischen, französischen, griechischen, ebräischen, selbst im arabischen, tatarischen, sinesischen Geschmack haben wir Deutsche gesungen und gedichtet. Die Sprache aller Wissenschaften, Bilder und Ausdrücke der verschiedensten Völker sind in unsre Poesie, in jeden Vortrag, der das Volk angehen soll, geflossen, so daß von jener tonhaltenden, gleichmütigen Denk-und Schreibart, in welche Griechen und Römer das Wesen der Schreibart setzten, wenige einen Begriff zu haben scheinen. Aus allen Völkern wird für alle Völker, aus allen Sprachen für alle Sprachen geschrieben; die subtilste Abstraktion und die niedrigste Popularität finden in demselben Buch, oft auf derselben Seite nebeneinander Raum. Wenn wir das Richtmaß, das Samuel Johnson an einige englische, von ihm genannte metaphysische Dichter angelegt hat, an jede Produktion unsrer Sprache anlegen wollten, wo stündenwir?

Vor der Buchdruckerei war es möglich, diese und jene Schrift vor diesen und jenen Augen zu verbergen; kaum ist dieses jetzt mehr möglich. Alles lieset alles, es möge von ihm [95] verstanden werden oder nicht; nach der verbotnen Speise lüstet man am meisten. Und da die Torheit derer, die dies zu frühe, zu viele, zu vermischte Lesen auf die unvorsichtigste Art befördern, mit dem Eigennutz, dem Stolz, der Eitelkeit, dem Erwerb andrer im festesten und schädlichsten Bunde stehet, so kann nur eine Macht in der Welt diesen Unfug hemmen. Es ist bessere Erziehung, die ihre Zöglinge nicht erst durch Schaden klug werden läßt, und einstiller Bund aller Guten untereinander, nichts Unwürdiges zu verbreiten oder zu loben. Möge Gift mischen, wer da will, und das am feinsten gemischte Gift die lautesten Ausrufer finden, von uns sei der Giftmischer sowie der Ausrufer verachtet, Mit der Verwirrung des Geschmacks und dem Despotismus fabrizierender Schriftstellerei ist's so weit gekommen, daß, da das Schlechteste ohn alles Erröten auf die unverschämteste Weise gelobt werden darf, dieser unverschämte Despotismus sich selbst seinen Fall bereitet. Er muß sich selbst einen Widerstand erwecken, der ihn einschränke und bezäume, oder wir gehen durch unsre Lizenz zugrunde; denn da durch die Buchdruckerei die Kritik selbst feil geworden ist, so hat sie auch bei den Niedrigsten ihr Ansehen verloren. Ihre Faszen gelten sowenig mehr als ihr Lorbeer.

Ich komme zurück auf meinen Bund der Freunde. Wie die Buchdruckerei, so wird die Kupferstecherkunst gemißbraucht; jene hat den Geschmack in Werken des Geistes, diese in Werken der Kunst beinahe zugrunde gerichtet. Nur ein Mittel ist gegen sie wirksam: entschlossene äußerste Verachtung. Niemand kaufe ein Buch, das schlechter Kupferstiche wegen da ist; niemand besudle mit diesen Verderberinnen des Geschmacks seine Wände; denn so wie durch schlechte Bücher gute verhindert werden, so wird durch schlechte Kupferstiche die wahre Kunst getötet.Ägyptische Schwarzkünstler wollen wir die heißen, die diese beiden großen Erfindungen unsrer Nation zu einem niedrigen Erwerb entweihet haben, undSchwarzkünstlerknechte diejenigen, die ihnen zu ihrer schändlichen Fabrikware artistisch oder literarisch helfen.

[96] 97.
Achtes Fragment

Reformation, Handel und Wissenschaften


Großen Begebenheiten sind immer Revolutionen des Geschmacks gefolget. Ohne in die Geschichte der Griechen und Römer, der Mönchs- und Ritterzeiten zurückgehen zu dürfen, sehen wir dies insonderheit in den Jahrhunderten, die der Reformation vorangingen und ihr folgten.

Europa ward allgemach ruhiger. Städte, Handel und Gewerbe, mit ihnen auch einige Künste fingen an zu blühen; nach und nach verfeinte sich der Geschmack mit ihnen. Dante, Petrarca, Boccaz erschienen; es erwachten die Alten in ihren Gräbern. Konstantinopel ward erobert, die Griechen flohen nach Italien, und es entstand ein Enthusiasmus ohne seinesgleichen. Die schönen Künste und die Literatur der Alten war, wiefern es die Zeit gestattete und angab, auf ihrem höchsten Gipfel.

Die Entdeckung fremder Weltteile, ein veränderter Zustand der Finanzen, des Krieges, der Stände folgte; die Buchdruckerei kam in Gang; ihr folgten neue, zumal Naturwissenschaften; dies alles läutete der Poesie der mittleren Zeiten völlig zu Grabe. Die Entdeckung fremder Weltteile mochten späterhin Camoens, Ercilla u.a. singen; der Gegenstand war groß und neu; Wunder der Natur, ungesehene Dinge wurden beschrieben; in Wissenschaften kam ein neues Universum zum Anblick, und doch taten die Gesänge von ihnen bei weitem nicht die Wirkung, die einst vielleicht ein kleiner Fabelgesang getan hatte. In dem Verhältnis, als hie und da der Reichtum, die Pracht und Freigebigkeit alter großer Familien sank, erlosch auch der Glanz ihrer alten Taten; mit ihren Hofhaltungen gingen auch ihre Lobgesänge hinunter. –

Die Reformation endlich und die Philosophie, die ihr folgte, schufen der Poesie völlig eine andre Zeit. Jahrhundertelang hatte man Klagen angestimmt über den verderbten Zustand [97] der Klerisei und aller Stände; die Zeit war gekommen, da die Erbitterung aufs höchste stieg und nicht minder in Versen als in Prose ihre scharfen Pfeile abschoß. Eine Menge Satiren dieses Inhalts, zum Teil voll Geist und Herz, erschienen; schade, daß sie sich mit der Zeit selbst überlebt haben; denn daurende Gesänge konnten sie nicht bleiben. Die Reformation selbst ist weniger eines heroischen Lob- als eines philosophischen Lehrgedichts fähig; die Verdienste der Reformatoren zeigen sich würdiger in ihren Lebensbeschreibungen und eignen Schriften als in Heldengesängen und Oden. Überhaupt verjagte das neue Licht und die zugleich mit ihm aufkommende Streittheologie aller christlichen Parteien in Europa sowohl die Schatten des Aberglaubens als manche schöne Einkleidungen, die für die Einfalt der mittleren Zeiten sehr weise ersonnen waren.

Hier beginnet nun eine große Scheidung der Völker. Nationen, die ihrem alten Lehrsystem zugetan blieben, hielten auch an ihrer alten Dichterweise, z.B. Italiener, Spanier und andre katholische Völker. Je früher sie zum guten Geschmack gelangt waren, je vielseitiger er sich bei ihnen eingewurzelt hatte, je größere Vorbilder sie besaßen, desto fester hingen sie an ihren Stanzen und Reimen. Italien ließ sich seinen Dante und Petrarca, Spanien seinen Lope, Garcilasso u.f. nicht nehmen; auch hat sich seitdem das Äußere ihrer Poesie völlig erhalten, obgleich deswegen, wie man oft glaubt, der Geist dieser Nationen seitdem nicht stillstand. Die alten Formen dünkten ihnen gut, und sie gossen darein, wenn der Genius sie antrieb, neue Gedanken.

In der protestantischen Welt dagegen kam eineneue Poesie auf. Nicht etwa nur Gegenstände der Religion wurden durch das Medium der neuen Aufklärung gesehen, sondern die gesamte Vorwelt ward durch ebendieses Medium betrachtet. In Spanien und Italien hätten Shakespeare. Milton, Butler u.f. nicht schreiben können, wie sie schrieben; eine Freimütigkeit im Denken, die ein Vorbote der Philosophie war, hatte sich in den protestantischen Ländern über manches schon verbreitet; [98] andern Gegenständen nahte sie sich nach ebender Regel. Unvermerkt also nahm die Poesie der neuen Glaubensverwandten eine philosophische Hülle um sich, die der Sinnlichkeit vielleicht schadete, dem menschlichen Geist aber notwendig war. Ein Italiener z.B. wird in den meisten Oden der Engländer durchaus nichts Lyrisches finden, da ihnen, seinem Ohr und Auge nach, Wohlklang, Fortleitung und Bestandheit der Bilder, Zusammenhang der Empfindung, kurz, Melodie und Harmonie fehlet. W. Jones zergliedert hinter seinem Kommentar über die Poesie der Morgenländer den Anfang von Miltons »Paradiese« und kann in ihm nach morgenländischer Weise nichts Poetisches finden. Vielen deutschen Dichtern würde es nicht besser ergehen; denn offenbar sind die meisten nur durch Reflexion Dichter. In den ältern Zeiten, in denen man sich der Natur freier hingab, diese in sich stehen und auf sich unbefangen wirken ließ oder sie, so gut man's vermochte, zur Kunst umschuf, war und blieb man ein Natursänger, der auf gleichgestimmte Gemüter seine Wirkung nicht verfehlte. In mancher alten englischen Ballade ist vielleicht mehr freier Wohlklang und poetischer Geist als in Young und Pope miteinander. Durch Reflexion sind diese Poeten; eine denkende ist die britische Muse.

Seit der Reformation und dem hell aufgegangnen Licht der Wissenschaften gelangen also keine persönlichen Heldengedichte mehr, mit dem Wunderbaren der alten Zeit bekleidet. Ariost konnte die Märchen, die man ehemals geglaubt hatte, seinen Italienern zierlich in Stanzen kleiden; ihm und ihnen waren sie zeitkürzende Märchen, die niemand glauben sollte. Uns kann Wieland die Geschichte Huons mit allem Zauber der Feenwelt darstellen; in seinem Märchen ist Oberon eine so wahre Person wie Huon und Karl der Große. Wenn aber Tasso eine für wahr gehaltene Religion mit in seine Dichtung mischte, so stehen beide schon nicht auf einem Grunde; selbst dem katholischen Glauben nach wird er in diesen zwischen Wahrheit und Trug gemischten Szenen eine schwächere Wirkung hervorbringen, als die ein reines Märchen[99] hervorbrächte. Protestanten werden den Milton wie einen Bramante und Michael Angelo bewundern, schwerlich aber sein Gedicht mit so ungestörtem Glauben lesen, wie sie ein reines Märchen lesen würden; das Religionssystem schadet seinem Gedichte. –Historische Epopeen haben daher in der neueren Zeit fast keine Wirkung getan, weil ihnen als Gedichten durchaus der Glaube fehlet. Das Zeitalter der Elisabeth, ob sie gleich selbst eine Dichterin war und Schmeicheleien sehr liebte, ward nur in Sonetten besungen oder in Allegorien; Cromwell und die Wiederherstellung Karls II. nur in Oden gepriesen. Auch mit größeren Talenten, als Chapelain hatte, wäre seine Jeanne d'Arc so wenig die bleibende Nationalheldin einer Epopee geworden, als wenig es Voltaires Heinrich der Vierte worden ist. Nur in Stellen kann seine »Henriade« etwa als ein philosophisches Lehrgedicht gelten; der Streit zwischen Dichtung und Geschichte ist und bleibt in ihr widrig. Auch kein Held der Deutschen hat hinter Otnit, Dietrich von Bern, dem Könige Giebich und dem Zwergenkönige Laurin den epischen Lorbeer erlangen mögen, weder Heinrich, der Befreier Deutschlands, noch Maximilian, Gustav Adolf u.f. Durch eine aufrichtige Beschreibung ihrer Taten werden sie mehr geehrt als durch eine mit Wahrheit gemischte Fabel, der am Ende niemand glaubet. Wir sind aus dieser Dämmerung hinaus und wollen durchaus Märchen als Märchen, Geschichte als Geschichte lesen. Ein Teil der platonischen Gesetzgebung in Ansehung der Dichter ist also ohne Hinaustreibung derselben bloß und allein durch die linde Hand der Zeit bewirkt worden; eine verwirrte Mischung der Fabel und Wahrheit widerstehet unserm Gedankenkreise.

Was vom Lobe gesagt ist, gilt auch vom Tadel; die echte Muse hasset auch in ihm alles zu Bittere, geschweige die Verleumdung. Warum fallen persönliche Satiren so bald in Vergessenheit oder Verachtung? Ihrer Ungerechtigkeit und Übertreibung, kurz, des unedlen Gemüts wegen, das der Begeistrung einer Muse nicht wert war. Es gibt z.B. kaum ein witzigeres, ein lehrreicheres Gedicht gegen die Schwärmerei, [100] als Butlers »Hudibras« ist; auch hat es zur damaligen Zeit seinen Zweck mehr erreicht, als wenn der Dichter auf den königlichen Märtyrer das frömmste Heldengedicht geschrieben hätte; wer indessen wird es jetzt ohne einigen Überdruß, wenigstens ohne den Wunsch lesen, daß sein Verfasser die Gabe der Muse, die er besaß, edler angewandt hätte? – Swift, vielleicht der strengste Verstandesmann, den England unter seine Schriftsteller zählet, der unbestochenste Richter in Sachen des Geschmacks und der Schreibart, gab sich, von bösen Zeitverbindungen gelockt, ins Feld der Satire; wer aber ist, der von Anfange bis zu Ende seines Lebens ihn deswegen nicht bitter beklaget? So treffend seine Streiche, so vernünftig seine Raserei in Einkleidungen und Gleichnissen sein mag, wie anders sind seine Sätze und Sprüche, wo er reine Vernunft redet! Alles, was die Engländer humour nennen, ist Übertreibung; ein verzeihlicher Fehler der Natur, der hie und da zur Schönheit werden kann, nur aber zu einer National- und Zeitschönheit. Die Alten kannten das Reizende eines kleinen Eigensinnes auch; sie waren aber weit entfernt, die ganze Gestalt eines Menschen als Unform diesem einen Zuge aufzuopfern. Nur dahin ist humour zu sparen, wohin er gehöret, und die gemeine humoristische Poesie hat das Unglück, daß sie sich mit der Stunde selbst überlebet.

Was vom Lobe und Tadel gilt, gilt auch von der sogenannten poetischen Beschreibung. Alle Poesie ist von der Zeit abgedankt oder wird von ihr abgedankt werden, die durch Bilder und Gleichnisse dieSache selbst, die durch Farben und Zierat das Bild verdunkelt. So manche poetische Landbeschreibung der Engländer steht da, daß sie uns mit sehenden Augen blind mache; so manche andre, daß wir beiUmschreibungen bekannter Gegenstände oder Begriffe gar nichts denken sollen. Die meisten metaphysischen Gedichte aller Nationen hat ein neues System der Folgezeit sanft in Vergessenheit gebracht; die Dichtkunst vollends, die unter dem Vorwande, neue Erfindungen zu schildern, das Wörterbuch neuer Künste und Handwerke poetisch zu ergänzen sich anmaßt, [101] sie gehört völlig unter die unfreien Künste. Der Muse sind bessere Schilderungen angewiesen als die, worin sie der Handwerker selbst durch eine schlichte Erzählung bei Vorzeigung der Instrumente übertreffen möchte.

Endlich das Unmoralische des Dichters. Hier hat die Zeit gewaltsam den Vorhang aufgezogen und in ihrem strengen Gericht keiner falschen Grazie geschonet. Wo sind die – – –? Wo sind sie? Wer will, wer mag sie lesen? Und nicht auf unzüchtige Dichter allein geht dies Urteil des Rhadamanthus, sondern auch auf jeden widernatürlichen, wahre Verhältnisse des Lebens zerstörenden Dichter. Wie manches Beispiel haben wir auch hierüber schon erlebet! Dies Licht, diesen Tag haben Reformation, Philosophie und der unbestechliche Zeuge in uns, das reine Menschengefühl, verbreitet.

98.

Der Unterschied, den das Fragment zwischen Poesie aus Reflexion und (wie soll ich sie nennen?) der reinen Fabelpoesie macht, ist mir aus der Geschichte der Zeiten, auf die das Fragment weiset, ganz erklärlich worden. Solange nämlich der Dichter nichts sein wollte als Minstrel, ein Sänger, der uns die Begebenheit selbst phantastisch vors Auge bringt und solche mit seiner Harfe fast unmerklich begleitet, solange ladet der gleichsam blinde Sänger uns zum unmittelbaren Anschauen derselben ein. Nicht auf sich will er die Blicke ziehen, weder auf sein graues Haar noch auf sein Gewand, noch auf den Schmuck seiner Harfe; er selbst ist in der Vision der Welt gegenwärtig, die er uns ins Gemüt ruft.

Dies war der Ton aller Romanzen- und Fabelsänger der mittleren Zeit, und (um bei der englischen Geschichte zu bleiben, aus der das Fragment Beispiele holet) es war noch der Ton Gottfried Chaucers, Edmund Spensers und ihresgleichen. Der erste in seinen ›Canterbury-Tales‹ erzählt völlig noch als ein Troubadour; er hat eine Reihe ergötzender Märchen [102] zu seinem Zweck der Zeitkürzung und Lehre, charakteristisch für alle Stände und Personen, die er erzählend einführt, geordnet; er selbst erscheint nicht eher, als bis an ihn zu erzählen die Reihe kommt, da er denn seinem Charakter nach als ein Dritter auftritt. So Spenser, obgleich er schon weit künstlicher singet, indem er die Gestalten seiner Welt schon emblematisch ordnet. Der Fehler, den man ihm zur Last gelegt hatt. 126 daß jedes seiner Bücher ein für sich bestehendes Ganze sei, ist ja eben die Natur und der Zweck seiner Erzählung; übrigens hat er seine Ritter- und Feengestalten viel vorsichtiger als Ariost geordnet. – – –

Zur Zeit der Reformation verschwand mit der Welt solcher Gesänge, der Ritter- und Feenwelt, auch dieArt ihrer Darstellung; die Dichter waren nicht mehr einfache Sänger fremder Begebenheiten, sondern gelehrte Männer, die uns das Gebäude ihres eignen Kopfs zur Schau bringen wollten, indem sie dasselbe wohl durchdacht niederschrieben, damit wir's lesen. Dies gibt allem eine andre Art und Gestalt. Lassen Sie mich zu dem Zweck einige englische Dichter parteilos durchgehen.

Von Shakespeare fangen wir an. Er stehet zwischen der alten und neuen Dichtkunst als ein Inbegriff beider da. Die Ritter- und Feenwelt, die ganze englische Geschichte und so manch anderes interessantes Märchen lag vor ihm aufgeschlagen; er braucht, erzählt, handelt sie ab, stellet sie dar mit aller Lieblichkeit eines alten Novellen- und Fabeldichters. Seine Ritter und Helden, seine Könige und Stände treten in der ganzen Pracht ihrer und seiner Zeit vor, die in so manchen Gesinnungen und dem ganzen Verhältnis der Stände gegeneinander uns jetzt wie eine aus den Gräbern erstehende Welt vorkommt. Wie oft müssen wir über die wundersame Einfalt und Befangenheit jener Zeiten lächeln! In dem allen ist er ein darstellender Minstrel, der Personen, Auftritte, [103] Zeiten gibt, wie sie sich ihm gaben und zu seinem Zweck dienten. Nun aber, wenn er in diesen Szenen der alten Welt uns die Tiefen des menschlichen Herzens eröffnet und im wunderbarsten, jedoch durchaus charakteristischen Ausdruck eine Philosophie vorträgt, die alle Stände und Verhältnisse, alle Charaktere und Situationen der Menschheit beleuchtet, so milde beleuchtet, daß allenthalben das Licht aus ihnen selbst zurückzustrahlen scheinet, da ist er nicht nur ein Dichter der neuern Zeit, sondern ein Spiegel für theatralische Dichter aller Zeiten. Laßt dem alten guten W. Shakespeare alles, was ihm und seinen Zeiten gehört; gebt uns aber mit seiner unendlichen Bescheidenheit, die nirgend in Person repräsentiert, in welchen Gestalten es sei, soviel innere Charakteristik soviel tiefe und schneidende Wahrheit, als er aus seiner alten Welt uns darbrachte.

Mit Milton fängt sich die neuere englische Dichtkunst an; mich dünkt, er zeige die Summe dessen, was Reflexion in der Dichtkunst zu leisten vermöge. Der unglückliche blinde Mann war in Zeiten gefallen, in üble Zeiten


fall'n on evil days,
On evil days though fall'n and evil tongues,
In darkness and with dangers compass'd round,
And solitude; yet not alone –

Er rief seine Urania vom Himmel, die ihn im nächtlichen Schlummer oder am frühen Morgen besuchte und seinen Gesang beherrschte. Dem gelehrten, starkmütigen Mann stand bei einer großen Kenntnis der alten und italienischen Dichter auch eine Welt voll Sachen, insonderheit aber seine Sprache dergestalt zu Gebot, daß er bei seinem erwählten Thema, an welchem er sich etwas sehr Großes dachte, in jedem Wort [104] und Laut, in jeder Zusammenstellung und Verknüpfung der Worte sich seine eigene altneue klassische Sprache nach Mustern der Alten als Philosoph und Meister ausschuf. Sein großes Gedicht sollte kein Märchen der alten Zeit, sondern in Form der Erzählung ein heiliges Gedicht über Himmel und Hölle, über Paradies, Unschuld und Sünde, mithin eine Aussicht über unser ganzes Geschlecht werden. Nicht wollte er etwa bloß zeitkürzend vergnügen, sondern belehrend erbauen und seine Enzyklopädie von Wahrheiten in einer heiligen Sprache feststellend verewigen. Daher wählte er weder Chaucers Reime noch Spensers Stanzen; den prächtigen Jambus wählte er, der in manchem englischen Psalm und alten Volksgesange wie zur Trompete ertönt, auch in Shakespeares tragischen Stücken auf der Bühne viel Wirkung getan hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie Shakespeare leicht und fließend, sondern, dem Inhalt seines Gedichts und seinem Geist angemessen, wie in heroischem Schritt, obwohl abwechselnd und mannigfaltig, dennoch eintönig, prächtig und edel. Weder Young noch Thomson, weder Glover noch Akenside haben ihn hierin erreichet. Jede Kadenz, jedes Bild und Gleichnis, jede ungewohnte Redart ist von dem blinden Mann sorgfältig ausgedacht und an ihre Stelle geordnet. Vielleicht gibt's keinen englischen Dichter, der die viel- und einsilbigen Wörter dieser fast einsilbigen Sprache angenehmer zu wechseln und die barbarische Dissonanz seiner Zeiten


–the barbarous dissonance
of Bachus and his revellers

kunstvoller von sich zu treiben gewußt hätte als Milton. Und wie in seinen beiden »Paradiesen« ward er in seinem »Lycidas« und »Comus,« in seinem »Allegro« und »Penseroso,« selbst im »Samson« und andern Gedichtarten in Ansehung [105] der Sprache und Anordnung der Gedanken, insonderheit in seinem musikalischen Verstau, ein von seiner Nation noch unerreichtes Muster. Solange die englische Sprache lebt, wird Milton der Anführer ihres Chorgesangs in Jamben, der erzählenden Naturbeschreibung in ebendiesem Silbenmaße und im Ausdruck des Affekts jenermonodischen Klage bleiben, die seine Nation nach ihm so vielfach gebraucht hat. In jeder Zeile des Gesanges ist er der Vater eines poetischen Numerus und Rhythmus, den der blinde Barde mit Überlegung erfand und seiner unharmonischen Sprache mit sehr harmonischem Ohr gleichsam aufzwang.

Neben Milton lebte Cowley, ein gleichfalls gelehrter, von ihm aber sehr verschiedener Dichter. Geübt in der Sprache der Römer, durchdrungen von der Schönheit der Natur, deren Pflanzen und Bäume er mit liebendem Fleiß besang, noch mehr durchdrungen von der praktischen Philosophie der Alten (wovon seine schönen Versuche in Versen und Prose zeigen), hatte er dennoch das Unglück, mit seiner sogenannten Pindarischen Ode ein glänzend böses Beispiel aufzustellen, dem man nur zu oft nachgefolgt ist. Pindar nämlich in seiner Ode ist nie trunken; jedes Bild, jede mythologische Geschichte, ja jeder Spruch in ihm stehet umschrieben da, und der ganze Gang des Gesanges ist weise geordnet. Der böse Geschmack, der zu Cowleys Zeiten insonderheit an Hofe herrschte, verführte ihn, sowohl in seinen anakreontischen als pindarischen Oden statt des Ausdrucks der Empfindung Pfeile des Witzes zu werfen und hiezu Versart und Reim anzuwenden. Unter seinen witzigen sind oft auch große Gedanken, ja, verschiedne Oden wären ohne diese gesuchte Manier Muster schöner Phantasien; denn es ist in ihnen viele Wissenschaft und viel Scharfsinn. Die Ode Cowleys ist nachher von andern, Mason, Grey, Akenside u.f., sittsamer, wohl auch gelehrter gemacht worden; ich zweifle aber, ob auch harmonischer im Sinne der Alten. Sie ist und bleibt ein gotisches Gebäude, unzusammenhängend und unübersehbar in ihren Teilen, übertrieben in Bildern, mit Zierat überladen, in der [106] Abwechslung des Rhythmus ungleich und unharmonisch. Seitdem sich gar die Laune oder Satire derselben bedient hat, mißgönnet man ihr den Name Ode ganz; britisches Capriccio sollte sie heißen. – Cowley war also selbst im Fehlerhaften ein Dichter aus Reflexion, oft nur ein witziger Dichter; demohngeachtet aber ist er ein guter Gesellschafter, von dem man angenehm lernet.

Mit Cowley lebte Waller und gab einer andern Manier den Namen, die den französischen Artigkeiten nahekommt; aber warum ist sie mir artig? Galanterie ist eine Modeschönheit; sie ändert sich mit den Zeiten. Auch sind von Waller fast nur noch die Stücke beliebt, die Empfindung verraten. Von Prior, Littleton, und wer auf ebendem Wege ging, gilt dasselbe. Die fashionable Poetry der Engländer hat sich in Ausdrücken und Wendungen dergestalt wiederholet, daß man nicht nur bei jedem Reim den folgenden, sondern oft auch bei der ersten Zeile des Stücks die letzte zuvor weiß.

Mit dem verderbten Hofe Karls II. ging die Herrschaft des spielenden Witzes zu Ende; die britische Muse ward, was sie anfangs gewesen war, eine denkende Muse.

Ich übergehe die Beiträge Denhams, Roskommons, Dorset, Garths zu Gründung eines bessern Geschmacks; Dryden voran, Pope nach ihm zeigten, worin die Poesie der Neueren am natürlichsten bestehe, nämlich in versifiziertem gesundem Verstande. Beide Dichter (mit ihnen Gay, Parnell, Prior u.a.) haben fast alle Einkleidungen versucht, deren ihre Sprache fähig war; sie konnten's aber nicht weiter bringen, als gesunden Verstand in nachgeahmten, hie und da selbst erfundnen Einfassungen zu reimen. Pope brachte es darin aufs höchste. In seiner unsangbaren Sprache hat er in englischer Manier das getan, was Metastasio in einer Sprache, die ganz Gesang ist, auf eine ungleich angenehmere Weise tat; er brachte nämlich alle schöne Sentenzen, philosophische Grundsätze und Lebensregeln aufs kürzeste und zierlichste in Reime und wird darin schwerlich übertroffen werden. Zehn Dichter hatten ihm [107] hierin vorgearbeitet; er kam zu rechter Zeit und brach die Blume. Bolingbroke, Shaftesbury, King und Leibniz gaben ihm zu seinem »Essay on Man« Philosophie in die Hand; er reimte ihre Systeme, so gut er konnte, und hat sie fast durchgehends vortrefflich gereimet. AuchCharaktere reimte er meistens in Gegensätzen, scharf und schneidend, insonderheit wo der Affekt ihm die Feder schärfte, also daß Popes Gedichte für eine gereimte Blütensammlung aller Moral, auch vieler Weltkenntnis und Weltklugheit dienen können. Höher hinaus aber reichte sein Genius nicht. Von Horaz, liebenswürdiger Satire, geschweige von seiner praktischen Welt- und Lebensweisheit hatte Popes Gemütsart keinen Begriff, und man muß durchaus Engländer sein, um in seinem Homer den alten oder gar den bessern Homer zu finden. Die von ihm den Römern nachgeahmten Stücke zeigen den fürchterlichen Unterschied, der zwischen ihrer und unsrer, wenigstens ihrer und Popes Poesie war. Ihre Muse geht im natürlichen Gange der Sprache edeldenkend melodisch einher; die Popische Muse geht zwangvoll und gebrechlich, oft sogar unedel daher, über und über bedeckt mit einem Geklingel von Reimen.

Noch zwei vorzügliche Dichter folgen auf Pope: Young und Thomson. Jener, der durchaus ein Original sein wollte, wetteiferte in seinen »Nachtgedanken« mit Shakespeare, Milton, Pope und allen Lehrdichtern der Welt, in seinen Satiren mit Swift (den er sehr unwert behandelt), mit Pope und allen Satirendichtern, in seinen Trauerspielen mit Shakespeare, Otway u.f. Ein kühner Versuch, original zu sein, mit welchem er aber doch am Ende nichts als »Sermons,« Predigten, zustande brachte, er mochte sie Nachtgedanken oder Oden, Satiren oder Trauerspiele überschreiben. Seine höchste und liebste Figur in den Nachtgedanken heißt Parenthyrsus (Übertreibung), die zwar allenthalben die witzigsten Tiraden, eine aus der andern, hervortreibt und unsäglich viel schöne Sachen saget, am Ende aber doch nichts tut, als den menschlichen Verstand über seine natürliche Höhe schrauben. Mich wundert, daß man Young je für einen tiefsinnigen Dichter gehalten [108] hat; ein äußerst witziger, parenthyrsisch-beredter, nach Originalität aufstrebender Dichter ist er auf allen Seiten. Reich an Gedanken und Bildern, wußte er in ihnen weder Ziel noch Maß; wie er auf Popes scherzhaften Rat in Thomas von Aquino die englische Theologie studierte, so würde er diese allenfalls auch im Koran studiert haben. Wenige Dichter sind daher mit so viel Vorsichtigkeit wie er zu lesen; in seinen Nachtgedanken, wie der Name sagt, ist er als ein Denker zu prüfen und jede Koketterie des Witzes für das zu halten, was sie ist, wenn sie auch die heiligsten Sachen beträfe.

Thomson, wie unser Geßner und Kleist ein liebenswürdiger Name. Erfunden hatte er seine Gedichtart nicht, ob sein Verehrer Aikin ihm gleich diesen Ruhm zuschreibt; in Milton u.a. lag sie, vielleicht in einem Keime, der künftig einer noch schöneren Entwickelung fähig ist, längst da. Thomson aber hat den Keim überlegend erzogen; dessen gebühret ihm die Ehre. Zu gut wußte er selbst, daß Jahrszeiten sich in Worten und einförmigen Jamben nicht malen lassen; er behandelt also sein Thema, wie er die »Freiheit,« die »Burg der Trägheit« und andre Gegenstände behandelte, philosophisch. Schildernde Lehrgedichte sind seine »Jahreszeiten«; denn mit Empfindung zur Lehre muß eine Gegend geschildert werden, wenn sie als Poesie in die Seele des Hörenden wirken soll; eine Kunst, die alle Nachahmer Thomsons nicht eben verstanden haben mögen. Er verstand sie, und so wird aus dem, was ich beigebracht habe, ziemlich klar, daß die Poesie der Engländer von Miltons Zeiten an einereflektierende Poesie gewesen. Die italienische singet, die französische Prosa-Poesie räsoniert und erzählet, die englische in ihrer äußerst unmusikalischen Sprache denket.

99.

Das wahre Feld der englischen Poesie haben Sie nicht berühret; es ist die einkleidende Prose. Sobald Chaucers Reime und die alten Balladen abgekommen waren, man auch [109] merkte, daß Spensers Stanzen dieser Sprache ebenso schwer als langweilig werden müßten, suchte man nach dem Beispiel Frankreichs die leichteste Auskunft, Prose.

Auch hier gab den Engländern ein Engländer, Shakespeare, Art und Weise. Er hatte Charaktere und Leidenschaften so tief aus dem Grunde geschildert, die verschiedenen Stände, Alter, Geschlechter und Situationen der Menschen so wesentlich und energisch gezeichnet, daß ihm der Wechsel des Ortes und der Zeit, Griechenland, Rom, Sizilien und Böhmen, durchaus keine Hindernisse in den Weg legten, und er mit der leichtesten Hand dort und hier hervorgerufen hatte, was er wollte. In jedem seiner dramatischen Stücke lag also nicht nur ein Roman, sondern auch ein in seiner Art aufs vollkommenste nicht etwa beschriebener, sondern dargestellter philosophischer Roman fertig, in dem die tiefsten Quellen des Anmutigen, Rührenden, wie andernteils des Lächerlichen, Ergetzlichen geöffnet und angewandt waren. Sobald also jene alten Ritter- und Liebesgeschichten, von denen zuletzt Philipp Sidneys »Arkadia« sehr berühmt war, einer neueren Denkart Platz machten, so konnte man in England kaum andre als Romane in Shakespeares Manier, d.i. philosophische Romane, erwarten.

Der Weg zu ihnen war freilich ein beschwerlicher Weg; er ging durch Politik und Geschichte. Da England das erste Land in Europa war, in welchem der dritte Stand über Angelegenheiten des Reichs mitsprechen dorfte, und von den Zeiten der Elisabeth an es ein so bewerbsamer Handelsstaat geworden war, so gingen die eigentümlichen Sitten seiner Einwohner natürlicherweise freier auseinander. Nicht alles war und blieb bloß König, Baron, Ritter, Priester, Mönch, Sklave. Jeder Stand zeichnete sich in seinen Sitten ungestört aus und dorfte nicht eben, um der Verachtung zu entgehen, Sitten und Sprache seiner höhern Mitstände nachahmen; kurz, er dorfte sich auch in seinem humour zeigen. Ohne Zweifel ist dies der Grund, warum die Engländer diese Eigenschaft so eifrig zu einem Zuge ihres Nationalcharakters [110] gemacht haben; ihr humour nämlich war ein Sohn der Freimütigkeit und eines eignen Betragens in allen Ständen. Witz, Eigensinn, gute und böse Laune, tolle Einfälle u.f. haben andre Nationen wie sie, oft besser als sie; nur keine Nation (ehemals vielleicht die Holländer und einige deutsche Reichsstädte ausgenommen) glaubte sie so offenbar äußern zu müssen, weil jede andre Nation das Gesetz der Gleichstellung mit andern zu hoch hielt. Wie aber der Italiener seinen Capricci, der Franzose seiner Gaskonade freien Lauf läßt, so gab der Engländer seinem trägeren humour nach: ein großes Feld für Komödien und Romane. –

Wie die Parlamente in England das öffentliche Reden in Gang brachten so die öffentlichen Blätter das Schreiben über Meinungen und Charaktere. Zeitungen und Pamphlets, Wochenblätter und Monatschriften hatten Einkleidungen und Schreibart dem englischen Roman gleichsam zugebildet; daher es kein Wunder ist, daß der französische, spanische und italienische Roman eine ganz andre Straße nahm. Insonderheit ist der englische Roman den Triumvirn der englischen Prose, Swift, Addison und Steele, den größesten Dank schuldig. Der erste schrieb seine Sprache in der höchsten Genauigkeit (Proprietät), die er in einer Menge von Einkleidungen zu erhalten wußte. Sein Roman der Menschenfeindschaft, »Gulliver,« ist vielleicht vom menschenfreundlichsten, aber kranken, tiefverwundeten und seines Geschlechts überdrüssigen Denker geschrieben. Der glückliche Addison war von einer froheren Gemütsart. Er und sein Gehülfe, Steele, besaßen ebendie goldne Mittelmäßigkeit, die zu guten Prose-Schriftstellern gehöret. Als Männer von Geschmack und von Weltkenntnis hatten sie das Richtmaß in sich, für die Menge zu schreiben, in keine Materie zu tief zu dringen und zu rechter Zeit ein Ende zu finden. Sie haben der englischen Prose Cours gemacht und ihr das Mittelmaß gegeben, über und unter welchem man nicht schreibet.

Nun konnten also nach und nach (viele andre Vorarbeiten ungerechnet) die drei glücklichen Romanhelden auftreten, [111] Fielding, Richardson, Sterne, die zu ihrer Zeit Epoche machten. So verschieden ihre Manier ist, so wenig schließen sie andre glückliche Formen aus, wie Smollets, Goldsmiths, Cumberlands und in andern Nationen andre schätzbare Originale zeigen. Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig; denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessieret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz interessieret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu; denn sie ist Poesie in Prose.

Man sagt zwar, daß in ihren besten Zeiten die Griechen und Römer den Roman nicht gekannt haben; dem scheint aber nicht also. Homers Gedichte selbst sind Romane in ihrer Art; Herodot schrieb seine Geschichte, so wahr sie sein mag, als einen Roman; als einen Roman hörten sie die Griechen. So schrieb Xenophon die »Cyropädie« und das »Gastmahl,« so Plato mehrere seiner Gespräche; und was sind Lucians wunderbare Reisen? Wie jeder andern haben also auch der romantischen Einkleidung die Griechen Ziel und Maß gegeben. Daß mit der Zeit der Roman einen größeren Umfang, eine reichere Mannigfaltigkeit bekommen, ist natürlich. Seitdem hat sich das Rad der Zeiten so oft umgewälzt und mit neuen Begebenheiten auch neue Gestalten der Dinge zum Anschauen gebracht; wir sind mit so vielen Weltgegenden und Nationen bekannt worden, von denen die Griechen nicht wußten; durch das Zusammentreffen der Völker haben sich ihre Vorstellungen aneinander so abgerieben, und überhaupt ist uns der Menschen Tun und Lassen selbst so sehr zum Roman worden, daß wir ja die Geschichte selbst beinah nicht [112] anders als einen philosophischen Roman zu lesen wünschen. Wäre sie immer auch nur so lehrreich vorgetragen als Fildings, Richardsons, Sternes Romane! –

Viel denkende Dichter hat also England in Poesie und Prose hervorgebracht, und die Nation ist auf sie unermeßlich stolz; die Dichter selbst aber starben meistens eines elenden, wohl gar des Hungertodes.

100.

Der poetische Himmel Britanniens hat mich erschreckt. Wo sind unsre Shakespeare, unsre Swifts, Addisons, Fieldings, Sterne? Wo ist jene Menge von Edlen, die vorangingen oder wenigstens mit am Werk waren, die Philipp Sidney, Walter Raleigh, Baco, Roscommon, Dorset, Algernon Sidney, Shaftesbury, Halifax, Sommers, Bolingbroke, Littleton, Walpole u.f.? Wir wachten auf, da es allenthalben Mittag war und bei einigen Nationen sich gar schon die Sonne neigte. Kurz, wir kamen zu spät.

Und weil wir so spät kamen, ahmten wir nach; denn wir fanden viel Vortreffliches nachzuahmen. Franzosen, Spaniern, Italienern, Briten, selbst Holländern ahmten wir nach und wußten nie recht, wozu und weswegen. Unser verdiente Opitz war mehr Übersetzer als Dichter. In Weckherlin u.a. ist der größeste Teil fremdes Gut. So sind wir fortgeschritten; und wer ahmt uns nach? Wenn in Italien die Muse singend konversiert, wenn sie in Frankreich artig erzählt und vernünftelt, wenn sie in Spanien ritterlich imaginiert, in England scharf- oder tiefsinnig denket, was tut sie in Deutschland? Sie ahmt nach. Nachahmung wäre also ihr Charakter, eben weil sie zu spät kam. Die Originalformen waren alle verbraucht und vergeben.

[113] 101.

So übel stehet's nicht mit der deutschen Muse, wie Sie fürchten. Es ist vielleicht der Hauptfehler unsrer Nation, daß sie aus zu großer Gefälligkeit gegen Fremde sich selbst nicht kennet und achtet.

Wahr ist's, wir kamen spät; desto jünger aber sind wir. Wir haben noch viel zu tun, indes andre ruhn, weil sie das Ihrige geleistet haben.

Und waren wir in jenen Zeiten müßig? Nichts weniger; durch andre, vielleicht wichtigere Geschäfte wurden wir von einer Bahn zurückgehalten, die uns immer noch blieb. Für ganz Europa standen wir damals vor den Riß, sowohl gegen Roms Despotie als gegen eindringende Hunnen und Tataren. Daß Europa nicht zum Kalmuckenlande oder zur Türkei ward, haben Deutsche verhindert; Raum zu dem friedlichen Garten, den die Musen lieben, haben sie mit ihrem Blut erfochten.

Unsre Sprache ist im Besitz älterer Poesie, als deren sich Spanier, Italiener, Franzosen und Briten rühmen können; 127 einzig nur unsre Verfassung war schuld, daß wir jahrhundertelang dies Feld ungebauet ließen. Wir zogen nach Italien und sonst in der Welt umher, haben aber doch, selbst in diesen fürchterlichen Zeiten, für ganz Europa manches Nützliche erfunden. Endlich, da die Reformation aus unsrer Mitte hervorbrach und uns nach vielem andern Ungemach mit dem Dreißigjährigen Kriege eine fast allgemeine Verwüstung und die so gefährliche Bekanntschaft mit fremden Nationen auf den Hals zog: müssen wir, wenn wir die Geschichte Deutschlands durchgehn, uns nicht wundern, daß noch so viel ward, als geworden ist?

Denn nun reiseten die Fürsten, die Edeln. Sie staunten das Ausland an und sprachen, lasen, schrieben fremde Sprachen. Und unsre gutherzigen Dichter freueten sich jeder neuen [114] Sonne, die aufging, fanden sich geehrt, wenn sie Gesänge auch nur zueignen durften, ohne daß sie gelesen wurden. In Siebenbürgen dichtete der gute Opitz, Weckherlin in England und Frankreich, Fleming am Kaspischen Meer deutsche Gedichte; niemand dankte es ihnen, daß sie es taten. Und wer verdankte es dem Andreas Gryphius, dem von Lohenstein, daß sie unter ihrer Bürde bürgerlicher Geschäfte für Sprache und Poesie das taten, was sie getan haben?

Dank also auch dem guten von Logau, daß er in den wilden Zeiten des Dreißigjährigen Krieges seine dreitausend Sinn- und andre Gedichte aufschrieb, ob er gleich ein deutscher Baron war. Dank einem Dietrich von dem Werder, daß er den Tasso übersetzte und gleichwohl Hofmarschall sein konnte, ja gar ein Regiment kommandierte. Dank – o wie tief haben wir Deutsche anfangen, aus welcher drückenden Barbarei uns hervorarbeiten müssen, die uns noch allenthalben sogar als Ehre, als Vorzug, als Stammes- und Nationalruhm anklebt! »Welcher Mann von Ahnen wird ein Poete, ein Savant, ein Philosophe sein wollen, wenn er auch ein Tasso, ein Baco, ein Shaftesbury werden könnte?« – Solon und Alexander, Cäsar und Augustus, so viele Fürsten und Edle in Italien, Spanien, Frankreich, England dachten anders.

»Weil wir also spät kamen, so ahmten wir freilich viel nach; denn wir fanden viel Vortreffliches nachzuahmen.« Dies war Natur der Sache, nichts mehr und nichts minder; wer zuletzt kommt, täte sehr unrecht, wenn er nicht nachahmte. So folgten die Römer den Griechen, den Römern die Mönche, Mönchen und Arabern die Provenzalen, den Provenzalen mittel- und unmittelbar alle gebildete Nationen Europas; warum sollten diesen nicht die Deutschen folgen? Alle Kunst ist Nachahmung; nur durch Nachahmung ist der Mensch zur Kunst gelanget; nur durch sie ist er Mensch worden. Wäre also auch Nachahmung der Charakter unsrer Nation und wir ahmten nur mit Besonnenheit nach, so gereichte dieses Wort uns zur Ehre. Wenn wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten, so wären wir unter ihnen das, was der Mensch [115] gegen alle die Neben- und Mitgeschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, sah jedem seine Art ab und übertrifft oder regiert sie alle.

Zu diesem Zweck haben wir ein vortreffliches Mittel in unsrer Gewalt, unsre Sprache; sie kann uns das sein, was dem kunstnachahmenden Menschen dieHand ist. Man rühmt den sklavonischen Sprachen nach, daß sie zur Nachbildung fremder Idiome in jeder Wendung, in jedem Übergange geschickt sei'n; die deutsche Sprache hat diese Fähigkeit vor allen Töchtern der lateinischen, selbst vor der englischen Sprache. Alle diese sind von Zwitternatur; aus ihrenengeren oder weiteren Schranken können sie nicht hinaus, um sich einer fremden Sprache nur einigermaßen zu bequemen. Vor allen ist die französische Sprache die gebundenste, die gleichsam gar nicht übersetzen, gar nicht nachbilden kann; eine ewig Ungetreue, muß sie alles nur auf ihre, d.i. auf eine sehr mangelhafte Weise, sagen. Die deutsche Sprache, unvermischt mit andern, auf ihrer eignen Wurzel blühend und eine Stiefschwester der vollkommensten, der griechischen Sprache, hat eine unglaubliche Gelenkigkeit, sich dem Ausdrucke, den Wendungen, dem Geist, selbst den Silbenmaßen fremder Nationen, sogar Griechen und Römern, anzuschließen und zu fügen. Unter der Bearbeitung jedes eigentümlichen Geistes wird sie gleichsam eine neue, ihm eigne Sprache.

Mithin halte ich's nicht nur für keine Schande, wenn man uns Nachahmung vorwirft, vielmehr vermehrt es den Reichtum unsrer Gedanken und Wendungen, unsrer Vorstellungs- und Sprachweisen, wenn wir, wie keine andre Nation tun kann, die Gestalt fremder Idiome mit überlegendem Verstande und weiser Hand nachbilden. Möge Hagedorn dem Horaz, dem Pope, Chaulieu und vielen andern, die er nicht verschwiegen, möge Gleim dem Anakreon und, wenn man will, auch dem Äsop, Phädrus, Tyrtäus, Moncrif, Barnard [116] u.f. nachgeahmt haben; ahmten sie als Männer nach, also daß ihre Nachbildung in unsrer Sprache ein Werk war, um so besser; so haben sie ihre Nation mit vortrefflichen Denkweisen mehrerer Geister und Völker bereichert. Einem reichen Dichter unsrer Sprache hat man nachgerechnet, daß er in Homers, Pindars, Xenophons, Lucians, Ariosts, Cervantes, Pope, Fieldings, Sterne, sogar des Königes Davids und der Sultanin Scheherazade. Art und Manier Psalmen und Märchen, Helden- und Lehrgedichte, epische Gesänge und Romane geschrieben, gedichtet und gesungen habe. Desto besser! Um so reicher sind wir durch ihn worden. Die Ananas, die tausend feine Gewürze in ihrem Geschmack vereint, trägt nicht umsonst eine Krone.

102.

Und wäre es denn wahr, daß die Deutschen so ganzcharakterlos nachahmen? Das mindeste Gefühl des Genius unsrer Sprache und unsrer Schriften zeigt etwas anders von den urältesten Zeiten her.

Leset Otfried, leset das alte Siegslied unter Ludwig; der gutmütige und biedre Charakter der Nation ist schon durchaus kennbar. Er ist's in den lateinischen Schriftstellern der mittleren Zeiten wie in unsern altdeutschen Sprüchwörtern, Apophthegmen und Reimen. Allenthalben findet ihr altdeutschen Witz und Verstand in den kürzesten ungekünstelten Worten. Wer am Charakter der deutschen Nation zweifelt, darf irgend nur ein Wörter- oder Sprüchwörterbuch, Agricola, Frank, Zinkgräf, Lehmann, oder eine Sammlung von Geschichten, Lehrsprüchen, Liedern, Fabeln und Erzählungen durchgehen. In Trimberg, Kaisersberg, Brant, Luther, Rollenhagen, Opitz, Logau, Dach, Tscherning u.f. spricht dieser verstand-und lehrreiche Genius auf allen Seiten. Vergleicht unsre deutsche Minnesänger mit den Provenzalen. Nicht nur von Seiten der Sitte gewinnen die unsern, sondern oft auch in Rücksicht der innigen Empfindung. In Süden, wenn ihr [117] wollt, ist mehr Lustigkeit und Frechheit; hier mehr Liebe und Ehre, Bescheiden heit und Tugend, Verstand und Herz.

Rechtliche Ehrlichkeit also, Richtigkeit in Gedanken, Stärke im Willen und Ausdruck, dabei Gutmütigkeit, Bereitschaft zu helfen und zu dienen: dies ist die Gemütsart unsres Volks, die es auch im Nachahmen, selbst im ungeschickten Nachahmen des Fremden nie verleugnen konnte. Denn woher fiel das Nachahmen der Deutschen oft so ungeschickt aus? Weil sie es allenthalben zu ehrlich meinten, so wurden sie oft getäuscht und betrogen Die ganze Nachahmungssucht der Deutschen rührt von ihrer Gutmütigkeit her. Sie dachten zu bescheiden von sich und wollten immer lernen, auch wo sie allenfalls lehren konnten. Der üble Geschmack, in den sie sich zu Hoffmannswaldau und Lohensteins, zu Talanders, Weise und Menantes Zeiten stürzten, rührte von ihrer gutmütigen Gefälligkeit gegen die sogenannten Leute von Welt, gegen ihre Großen und Hofleute her, die in diesem übeln Geschmack das Paradies fanden. Bessers, Königs, Heräus', Neukirchs Kanzleipoesien gingen auf ebendiesem plattgetretenen Hofwege ins Verderben.

Sobald aber der deutsche Verstand wieder zu Kräften kommen konnte, zeigte sich sogleich unsere Gemütsart wieder: Überlegung, Biederkeit und Herz. Welche kindliche Gutmütigkeit herrscht z.B. in Brockes Schriften! Wie ein Liebhaber an der Geliebten hängt er an einer Blume, an einer Frucht, an einem Gartenbeet, einem Tautropfen! Mit überströmender Wortfülle malt er seinen Gegenstand voll Liebe und Bewunderung, um ja keine andre als gutmütige Empfindungen zu erregen. Gegen Cowleys Beschreibung von Pflanzen und Blumen werden wir unsern Brockes nicht tauschen.

Die Poesie der Niedersachsen ging auf ebendem Wege fort. Hagedorn ist ihr schöner klassischer Gipfel. Lege man mir Waller, Denham, Gay, Roscommon, Dorset und noch eine Reihe solcher Helden zusammen: Hagedorn bleibt mir. Wir haben in ihm die Blüte von hundert lehrreichen, angenehmen, moralischen, fröhlichen Dichtern.

[118] Ihm gegenüber steht Haller, der eine Alpenlast der Gelehrsamkeit auf sich trug. Was von Haller mit Pope verglichen werden kann, ist über Pope; was aus Popes lebendiger Welt an feinen Satiren und Charakteren in feinem Reimgeklingel dasteht, würde Haller redlicher aufgestellt haben. Bewahre uns die Muse vor Dichtern, bei denen Verstand ohne Herz oder Herz ohne Verstand ist. Zwei Popische Gedichte wünschte ich indessen meinem Vaterlande wohl eigen, seinen »Versuch über den Menschen« und »Über die Kritik«. Ich habe nicht den mindesten Zweifel, daß wir beide besser, als Pope sie schrieb, zu ihrer Zeit bekommen werden. Unsres Hallers Gedichte sind ein Richtmaß der Sitten sowie der Wissenschaft und Gedenkart. Man kann von ihnen und den Werken mehrerer deutscher Dichter sagen, daß kein falscher Gedanke (Religionsvorstellungen etwa ausgenommen) in ihnen sei, welches man von wenig ausländischen Dichtern sagen möchte. Wie Hallers Ode auf die Ewigkeit ist, erscheint nichts Ähnliches in Pope.

Und noch hatte Haller außer seinen großen Verdiensten um mehrere Wissenschaften ein Glück, dessen sich der Engländer nicht rühmen konnte: er ward wie Opitz der Vater eines besseren Geschmacks in Deutschland, da Pope nichts anders als Drydens und mehrerer Vorgänger feinerer Nachgänger war. –

Ohne Zweifel erwarten Sie nicht, daß ich jede gutmütige Bemühung der Deutschen nach Jahren durchgehen soll, wie sie z.B. den Verstand und Witz ihrer Landsleute bald belustigten, bald erweiterten oder dazu hieher und dorther beitrugen. Jeder tat, was er tun konnte; und Gellerts, Cramers, der beiden Schlegels, Rabeners u.a. guter Wille wird dabei gewiß aufwiegen können, was die Richer, la Motte und J. B. Rousseau oder die Kings, Philipps u.f. auswärts geleistet haben. In ihrer Lage sind mir die Namen Lange und Pyra werter als hundert schreibselige Namen späterer Zeiten.

Kleist kommt; und wer verkennete an ihm sein deutsches Herz, seinen edeln Charakter? Als Künstler der Poesie, dazu [119] in mancherlei Arten, möchte ich lieber Thomson sein, Thomson insonderheit, seit er Italien gesehen hatte; aber als Mensch und Dichter gilt es keine Frage. Kleists Herz lebt in seinen Gedichten, in seinem »Frühlinge,« in mehreren seiner Oden, in seinem »Geburts- und Grabesliede,« in seiner »Sehnsucht nach Ruhe,« in »Cissides und Paches«. Nach seinem »Seneca« wollen wir ihn nicht messen; aber den edlen Geist, das patriotisch-menschliche Gemüt, das mitten unter Kriegesszenen in diese kleinen Gedichte wie in ein Asylum floh und jetzt darin wie in einer zerstückten Urne sein ewiges Denkmal findet, wollen wir wert halten und lieben.

Ihm füge ich Lessing und Gleim bei. Des ersten Genius lebt in jeder Zeile seiner Schriften, zumal in seinem »Nathan«; und in Gleims Schriften schläget gewiß ein Herz vom wahresten deutschen Charakter. Zu seinen Kriegsliedern war Lessing der Vorredner; in seinen Fabeln, Liedern und mehreren seiner Gedichte verbinden sich Mut und Treue, Freundesgefühl, Einfalt und Stärke. Klopstocks Ode »An Gleim« ist ein Bild des Dichters und seiner Gedichte.

Man ist gewohnt, Klopstock den deutschen Milton zu nennen; ich wollte, daß beide nie zusammen genannt würden, und wohl gar, daß Klopstock den Milton nie gekannt haben möchte. Beide Dichter haben heilige Gedichte geschrieben; ihre Muse aber ist nicht dieselbe. Wie Moses und Christus, wie das Alte und Neue Testament stehen sie einander gegenüber. Miltons Gedicht, ein auf alten Säulen ruhendes durchdachtes Gebäude. Klopstocks Gedicht, ein Zaubergemälde, das in den zartesten Menschenempfindungen und Menschenszenen von Gethsemane aus über Erd und Himmel schwebet. Die Muse Miltons ist eine männliche Muse, wie sein Jambus; die Muse Klopstocks eine zärtere Muse, die in Erzählungen, Elegien und Hymnen unsre ganze Seele, den Mittelpunkt ihrer Welt durchströmet. In Ansehung der Sprache hat Klopstock auf seine Nation mehr gewirkt, als Milton vielleicht auf die seinige wirken konnte, wie er denn auch ungleich vielseitiger als der Brite über dieselbe gedacht hat. Eine seiner [120] Oden im Geschmack des Horaz ist nach dem Richtmaß der Alten mehr wert als sämtliche hochaufgetürmte britische Odengebäude. – Daß Klopstock zu seinem »Hermann« einen Glück fand, daß er durch seine Gesänge ihn und andre seines Geistes zu dieser Gattung einfacher Musik weckte, gehöret mit zu den glücklichen Begegnissen seines Lebens; dem blinden Barden in Britannien ward mit seinem »Lycidas« und »Samson« dies Glück nicht. Wenn überhaupt die Muse der Tonkunst in der Einfalt und Würde, die ihr gebühret, zu uns zurückzukehren würdigte, wessen Worte würden sie freundlicher herniederzaubern als Klopstocks? –

Wollten wir die goldnen philosophischen Oden unsres Uz gegen die Oden des Cowley, Hagedorn gegen Waller, Cronegks bessere Gedichte gegen Prior, Witthof (in seiner ersten Ausgabe) gegen Akenside, Gerstenberg selbst gegen Otway und Waller vertauschen? Ich bleibe bei meinen Landesleuten; bei wenigerm Glanze der Kunst ist in ihnen mehr Gemüt, mehr wahre Empfindung. In allen Liedern, die von unsrer Jugend gesungen werden, so verschieden der Genius der Dichter sei, in Claudius, Hölty, Stolberg, Jacobi, Voß, Schiller ist der Charakter unsrer Nation, Gemüt, kennbar. –

Selbst die Art, wie sich die Deutschen fremder Erscheinungen angenommen haben, zeigt die Herzlichkeit ihres Charakters. Wo ist dem Milton und Ossian wärmer gehuldigt worden als in Deutschland? Stand in England jemand auf, der sich des galischen Sängers angenommen hätte wie Denis, den er beseelt hätte, wie z.B. Kosegarten und mehrere unserer Landsleute? Nehmet eine ausgewählte Sammlung deutscher Lieder und stellet sie der besten englischen entgegen: an innerem Werte, wohin wird die Waage sinken? Ihre Gesänge der Empfindung sind meistens schottische Lieder.

Gern nenne ich noch zusammen Wieland und Geßner. Den ersten hat man sehr unzeitig mit Voltaire verglichen, mit Voltaire, der bei dem hellesten Kopf und der schlauesten Gewandtheit doch nur ein witziger Satyr war, und zwar im Grunde nur in einer Manier des Witzes, die er tausendfach [121] zu verändern und nach dem Geschmack seines Zeitalters, ja womöglich jeder Person in demselben zu modifizieren wußte. Die Muse unsres Landsmannes ist ein reinerer Genius, der in jeder Gestalt, die er annimmt, gewiß einen edleren Zweck hatte, als uns bloß witzig zu amüsieren. Ein echter Jüngling jener alten gaya ciencia, ob er uns nach Delphi oder Tarent, nach Sizilien oder Salerno, ins Faß des Diogenes oder an die Tafelrunde, nach Bagdad oder ins Feenland geleite. Der Geist der Sokratischen Schule verließ ihn selten; denn seine oft mißverstandene Philosophie ist am Ende doch Weisheit des Lebens.

Warum ist Geßner von allen Nationen, die ihn kennenlernten, mit Liebe empfangen worden? Er ist bei der feinsten Kunst Einfalt, Natur und Wahrheit. In Darstellung einer reinen Humanität sollte ihn selbst das Silbenmaß nicht binden; wie auf einem Faden, der in der Luft schwebt, lässet er sich in seiner poetischen Prose oder prosaischen Poesie jetzt auf blühende Fluren hinab, jetzt schwinget er sich in die goldnen Wolken der Abend- und Morgenröte, bleibet aber immer in unserm blauen Horizont gesellig, froh und glücklich. Mit Kindern ward er ein Kind, mit den ersten Menschen einer der ersten schuldlosen Menschen, liebend mit den Liebenden und selbst geliebt von der ganzen Natur, die ihm in seiner Unschuld ihren Schleier wegzog. Gerade der einfachste Dichter, dessen ganze Manier Verbergung der Kunst war, ist unser berühmteste Dichter worden und hat manche Ausländer mit dem süßen Wahne getäuscht, als sei alle unsre Poesie reine Humanität, Einfalt, Liebe und Wahrheit.

103.

Bei der gutmütigen Lehrhaftigkeit, die Sie den Deutschen zuschreiben, vergessen Sie, daß Form das Wesen der Poesie ist; und wer begreift schwerer, was Form sei, wer kann sich in sie minder fügen, geschweige sich dieselbe an- und zubilden, [122] als ein Deutscher? Unser Leben, unsre ganze Verfassung ist ja Unform.

Ihr gelehrter Opitz übersetzte aus allen Sprachen; aber wie schwer! wie einförmig! Lesen Sie seine »Antigone,« seine »Trojanerinnen,« seinen »Apoll und Daphne« (eine italienische Oper), seine Sonette und Sinngedichte: wie schwer und einförmig!

Zweitens. Kritik muß die Poesie als Kunst ausbilden; was ist aber Kritik bei den Deutschen? Eine verpachtete Bude, eine verachtete Lästerschule. Was ist vom Geschmack einer Nation zu halten, die auf ihren Richterstühlen des Geschmacks namenlose feile Liktoren verehret? Was ist von ihrer Gutmütigkeit zu halten, wenn sie falsch Maß und Gewicht des Urteils öffentlich duldet?

Endlich scheinet's, daß die deutsche Poesie auf die von Ihnen angezeigte Weise eine Kinderpoesie sei und sein werde. Sie unterhält uns mit schönen Bildern und Abstraktionen oder zaubert uns in ein Arkadien voll Unschuld, Liebe und Einfalt, das nirgend ist als in der Phantasie der Dichter. Es ist also leicht zu begreifen, daß Männer von Geschäften und reell denkende Menschen sich mit Phantastereien solcher Art wenig abgeben werden. Sie sind Spielwerke der Weiber und Kinder, überhaupt aber exzentrischer, müßiger Menschen.

104.

Form ist vieles bei der Kunst, aber nicht alles. Die schönsten Formen des Altertums belebet ein Geist, ein großer Gedanke, der die Form zur Form macht und sich in ihr wie in seinem Körper offenbaret. Nehmt diese Seele hinweg, und die Form ist eine Larve.

Vollends poetische Form ist vom Gedanken und von der Empfindung dergestalt abhängig, daß ohne diese sie wie ein schöngezimmerter Block dastehet; denn Poesie wirkt durch Rede. Rede aber enthält nicht nur, sondern sie ist eine Folge [123] von Gedanken. Ohne diese ist das schönste Sonett ein Klinggedicht, nichts weiter. Soll ich wählen, Gedanken ohne Form oder Form ohne Gedanken, so wähle ich das erste. Die Form kann meine Seele ihnen leicht geben.

Und wären die Deutschen denn von jeher so formlos gewesen? Bei den Minnesingern finde ich dies nicht; bei »Reineke dem Fuchs« noch minder. Ihre alten Lieder, Sprüche und Erzählungen haben eine so gedrungene, oft so geistige Form, daß es schwer sein würde, ein Wort hinzuzutun oder hinwegzunehmen. Opitzens Manier ist freilich einförmig; Dank ihm aber für diese Einförmigkeit, die zum Zweck hatte, uns bei der Skansion der Silbenmaße festzuhalten. Hätte er sich wie seine Vorgänger an der bloßen Deklamation gereimter Verse begnügt, so wäre er freilich abwechselnder worden; er hätte uns aber auch auf den Irrweg aller der Nationen geführt, die bis auf den heutigen Tag noch keine echte Quantität der Silben haben. Unsre Sprache gebietet gleichsam Form, mehr als irgendeine andre; die französische, die englische Sprache sind, mit ihr verglichen, in der Poesie formlos; denn nur Willkür und Übereinkunft hat bei ihnen hier diese Art des Reims, dort jene Regel des Geschmacks festgestellt, die der Sprache selbst nach unbestimmt waren. Unsre Sprache strebt der schwersten, zugleich aber auch der schönsten und bestimmtesten Form nach, der Form der Alten.

Zuerst versuchten wir dieses lyrisch; wer ist, der eine Ode Uz', Klopstocks, Ramlers formlos nennen dörfte? Der letztgenannte Dichter hat in dem, was Form der Sprache ist, in Oden, Liedern, Kantaten, Idyllen und Sinngedichten so viel geleistet und an den beliebtesten Formen eigner und fremder Werke so oft gebessert, daß des Boileau Feile gegen die seinige ein stumpfes Werkzeug scheinet. Klopstocks kleinste Ode, Gerstenbergs kleinstes Gedicht ist eine lebendige Form; und wer hat uns mehrere und angenehmere Formen gegeben als unser Götz, den man den vielförmigen nennen könnte? Auf jedem Hügel des Helikons suchte seine Muse die zarteste [124] Blumen und band sie auf die vielfachste, zierlichste Weise in Kränze und Sträußchen. Sanft ruhe die Asche dieses während seines Lebens unbekannt gebliebenen Dichters; mit jedem Frühlinge blühe fortan sein Andenken auf!

Sind Kleists sämtliche kleine Gedichte ohne Form? Sind Wielands Erzählungen, vom leichtesten Märchen bis zu seinem »Agathon« und »Oberon« hinauf, formlos? Lessings Stücke vom Epigramm und Liede bis zu seiner »Minna« und »Emilie,« »Philotas« und »Nathan,« jede Fabel und Parabel, ja, ich möchte sagen, jedes Urteil und Fragment dieses scharfsinnigen Weisen hat Form und ist Form, auch wo er vielleicht irret, auch wo er nur lernte.

Ein andrer Dichter hat sich der Form der Alten auf einem neuen Wege genahet. Durch eine teilnahmlose genaue Schilderung der Sichtbarkeit und durch eine tätige Darstellung seiner Charaktere, Goethe. Sein »Berlichingen« ist ein deutsches Stück, groß und unregelmäßig, wie das deutsche Reich ist, aber voll Charaktere, voll Kraft und Bewegung. In jedem seiner späteren Stücke hat er eine einzelne gewählte Form im leichtesten Umriß zu ihrer Art vollendet. So sein »Clavigo,« seine »Stella,« sein »Egmont,« »Tasso« und jene schöne griechische Form, »Iphigenia in Tauris«. In ihr hat er wie Sophokles den Euripides überwunden. Auch aus dem Reich der Unformen rief er Formen hervor, wie sein »Faust,« sein »Kophta«; auch andre Gedichtarten sind nach Form der Alten glücklich von ihm bearbeitet worden. Wer nach diesen und andern Produktionen, auch in Übersetzungen aus fremden Sprachen, die Poesie der Deutschenformlos nennen will, der zeige mir unter Italienern, Spaniern, Franzosen und Engländern bessere Formen. Wenn an mehrere ihrer Dichter das Richtmaß gelegt würde, das Lessing in einigen Stücken an Corneille und Voltaire legte, wo bliebe Form und Umriß? –

Bei dem allen aber komme ich auf den Anfang meines Briefes zurück: Form ist nicht alles in der Dichtkunst; auch muß man einer Nation Formen nicht aufdringen, die ihr durchaus fremd sind. Was in der Welt schadete es uns, wenn [125] wir keine italienische Oper oder keine englische Komödie hätten? Diese mit allen ihren humoristischen Launen und Charakteren ist bei uns in der Natur nicht da; und ich sehe kein Übel darin, daß sie fehle; auch ist die ganze Wirtschaft dieser Komödie keine deutsche Haushaltung. Wer verbände uns also, fremde Karikaturen anzustaunen und aus ihnen ein erzwungenes Vergnügen zu schöpfen? So die kleine italienische Oper; sie will in Italien gesungen und gespielt sein. Wo sie dies nicht werden kann, was ist natürlicher, als daß trotz der besten Musik, ein fremdes Volk an ihrem fremden oft unbedeutenden Inhalt, an Ränken und Scherzen, die bei ihm nicht in Gebrauch sind, keinen Geschmack findet? Der angenehme Müßiggang, das dolce far niente, bei dem man sich öffentlich auch an Possen als an Kunststücken vergnügt und die Zeit hintändelt, ist unter unserm härtern Himmel nicht zu Hause. Wer aus einem mühseligen Leben ins Schauspiel tritt, will sich nicht bloß an der Form als an einem Kunststück freuen, sondern durch etwas Innigeres geweckt sein. Viele Kunstprodukte fremder Nationen sind Kinder der Üppigkeit und eines Verderbens der Sitten, von dem glücklicherweise manche Provinz unsrer arbeitseligen Nation noch nicht weiß; sollen wir ihr diese Produkte mit den Ursachen wünschen, die sie erzeugten, und den Geschmack an ihnen verbreiten? Führet einen gesunden jungen Mann, ein gesundes keusches Mädchen in die Kammer des abgelebten Lüstlings oder der feilen Unzucht; werden sie, denen ein besserer Trieb im Herzen schlägt oder sich in leisen Wünschen reget, an den frechen Reizungsmitteln dieser Ausgearteten und Abgestorbenen Vergnügen finden oder sie mit Entzücken ansehn? Schonet der Unschuld unsrer Nation wenn ihr sie auch eine dumme Unschuld nennen solltet; beim belohnenden Gefühl ihrer Gesundheit will sie gern mancher lüsternen Form entbehren. Jedes Volk hat seinen Kreis des Wohlanständigen in sittlichen Begriffen und Gefühlen, aus welchem es keine erjagte Lizenz eines fremden Volks reißen muß.

[126] Daß übrigens die feine Komödie bei uns manche Schwierigkeiten findet, ist unleugbar, aber auch sehr erklärlich. Erziehet die Nation, und sie wird auch an feineren Zügen der Sittlichkeit Geschmack finden. Da jetzt alles sich lesend vergnügen will, meistens aber das Schlechtste lieset, wären nicht hundert Mittel da, diese Lesereien aufs Bessere zu leiten? Bedienet euch nur einiger dieser Mittel, und das Verderben ist noch abwendbar. Sehr undeutsch wäre es, wenn bei uns die Moralität ein verspotteter Name würde; der alten Sitte nach gehört sie mit zu unserm Charakter und kann uns durch nichts ersetzt werden. Uns fehlet Witz und leichte Natur, uns fehlt ein schöner Himmel, die Unmoralitäten nur einigermaßen lustig und leidlich zu machen; deutsche Üppigkeit war daher von jeher grob, weil sie in unser Klima, in unsre Lebensart und überhaupt zum deutschen Charakter nicht gehöret.

Lassen Sie mich diesen Brief noch mit dem Andenken eines fröhlichen Dichters schließen, der uns unvergessen sein sollte, Zachariä. Seine komischen Epopöen, seine lyrischen und musikalischen Gedichte enthalten in einer leichten Form so viel Schönes und bei einer glücklichen Natur ein so geselliges Leben, daß ich sie statt mancher neueren Ziererei jungen Leuten in die Hand wünschte. Und nun zur Kritik der Deutschen!

105.

Mangel an Kritik sollte die Krankheit nicht sein, an der der Deutsche litte; unsre Langsamkeit, unsre ruhige Überlegung macht uns, dächt ich, zu gebornen Kunstrichtern.

Gesunder Verstand war von jeher das Lob, nach welchem der Deutsche strebte. Hundert Sprüchwörter und Redarten unsrer Sprache zeigen, daß wir auch im gemeinen Leben es auf ein Richtmaß der Sitten treu und ehrlich anlegten.

Und wir hatten Mut, unser Urteil zu sagen. Die Reformation, die von Deutschland ausging, war eine laut und scharf [127] gesagte Kritik über eine Menge damals geltenden Unfugs. Solange diese Streitigkeiten daureten, übten wir Kritik angriffs- und verteidigungsweise; andre Nationen folgten uns nach.

Und zwar taten wir dies (wenige vielleicht nötige Fälle ausgenommen) mit einer Bescheidenheit, in der uns andre Nationen eben nicht nachfolgten Unter allen Reformatoren der Philosophie z.B. war Leibniz der bescheidenste Reformator. Alle Systeme der Alten, glaubte er, ließen sich vereinigen, weil in jedem etwas Wahres und Vorzügliches sei; eine solche friedliche Vereinigung war von Jugend auf der Lieblingsplan unsres Weisen. Mit unüberwindlicher Gelassenheit stellete er seine Meinungen mit den Meinungen Descartes, Shaftesbury, Locke, Newtons zusammen; vor so parteiischen Ohren der letzte Streit geführt ward, blieb seine Kritik dennoch ebenso fest als bescheiden. Ich bewundere die Geduld, die er sich zu Vereinigung der Kirchen in Beantwortung theologischer Zweifel nahm; er antwortete jedem, wie er's fassen und ertragen konnte.

Mit Leibniz starb dieser Geist philosophischer, friedlicher Kritik nicht aus; auch Wolff und seine Schüler erwiesen ihn selbst gegen ihre bittersten Feinde. Allen Freunden der Leibnizischen Denkart ist eine gesunde Kritik heilig, weil sie sich in der Mathematik an Genauigkeit der Begriffe und des Ausdrucks gewöhnt haben und keine menschliche Wissenschaft verachten. Der friedliche Alexander Gottlieb Baumgarten ward mit seiner seltenen, fast ängstlichen Präzision, ohne daß er's wußte und wollte, der Vater einer Schule echter Kritik, auch der schönen Wissenschaften und Künste in Deutschland. Lambert und Kant haben ihre Architektonik und Kritik an seinen Lehrbüchern geschärfet. –

Wie nun? und dennoch hätte Ihr Vorwurf Grund, daß eben in diesem Felde, der Region des Geschmacks und Vortrages, in Deutschland eine parteiische Kritik mit falschem Maß und Gewicht handle? Sie klagen die Gutmütigkeit unsrer Nation an, die sich alles gefallen lasse, alles ertrage und [128] dulde? – Mich dünkt, die Geschichte der Zeit gebe hierüber einige Auskunft.

Als Opitz, Logau, Tscherning u.f. im bessern Geschmack zu schreiben anfingen, warfen sie sich nicht zu Richtern jedes fremden Geschmacks auf; ihre Werke waren Kritik; die Anweisungen, die Opitz und seine Nachfolger gaben, betrafen meistens nur Sprache und Verskunst.

Und sie haben hierin auf eine friedliche Art viel geleistet. Wenn ich Schottels, Stielers, Frisch, Bödikers, Wachters, Haltaus' u.a. stille Verdienste um unsre Sprache mit den heftigen und nutzlosen Streitigkeiten unwissender Schriftsteller in den folgenden Zeiten vergleiche, so sehe ich dort fleißige Ameisen und Bienen zusammentragen, hier laute Wespen schwirren und stechen. Es ist wahr, man lobte sich damals etwas zuviel untereinander; die Glieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, des Blumen- und Schwanenordens u.f. munterten sich einander durch gegenseitiges, oft zu reiches Lob auf. War dies indessen nicht sehr verzeihlich? Nach so langen Trübsalen theologischer Streitigkeiten und des Dreißigjährigen Krieges freueten sich diese alten Kinder, daß sie auch eine Sprache hätten, in der sie schreiben und reimen könnten; und ist nicht viel, viel Gutes durch die Mitglieder dieser Gesellschaften bewirkt worden? Wie viele schreiben denn jetzt in Prose, wie Zincgref, Opitz, Harsdörfer, Rist, Lohenstein u.a. schrieben? – Lasset uns doch die guten Bemühungen unsrer Vorfahren nicht verkennen! auch über uns wird man einst als über Vorfahren richten.

Es ist schon bemerkt worden, daß an der französischen Sprachenmengerei und an dem italienisch-falschen Geschmack, der im Anfange unsres jetzt abgehenden Jahrhunderts einriß, eigentlich die deutschen Höfe schuld waren. Ihnen bequemten sich die Schriftsteller; und auch Leibniz, der zu Fortbildung der deutschen Sprache so vortreffliche Grundsätze nicht nur hatte, sondern auch bei der Akademie in Gang bringen wollte, auch er schrieb ein Deutsch, das seiner Zeit gemäß war. Noch mehr fronten Christian Thomasius, [129] Tenzel n.a. diesem Geschmack, der damals für Artigkeit galt; daher Thomasius die gesunde Kritik, die er an die Rechtswissenchaft und andre Scienzen wandte, auf den Geschmack nicht anwenden konnte. Canitz, als Hofmann, gab nur durch seine Gedichte, deren wenigste leider zu uns gekommen sind, ein besseres Muster.

Der erste, der mit scharfen Pfeilen auf den Lohensteinischen Geschmack losging, war meines Wissens Wernicke, ein Preuße. In England und Frankreich an einen bessern Geschmack gewöhnt, wollte er sowohl durch seine Sinngedichte (»Überschriften«) als durch die Anmerkungen, mit denen er sie begleilete, diesen auch den Deutschen zu kosten geben.

Nicht mit vielem Erfolg: denn seine Überschriften waren hart und die Anmerkungen doch nur Spöttereien. Sollte man an jene, die »Überschriften« nämlich, das Maß der Griechen und Römer legen, wieviel Überwitz, wie mancher falsche, erzwungene Zierart müßte hinweggetan werden, auf welchen, er doch, wie die verschiedenen Ausgaben derselben zeigen, selbst den mühsammsten Fleiß gewendet. Also war auchsein Geschmack bei weitem nicht rein und vollendet.

Die Hofverse dauerten fort, bis fern von Höfen in seinem Garten Brockes die Natur und, ebenso fern von Höfen, Bodmer und Breitinger Sitten malten. Immer bleibt Deutschland diesen Reformatoren des Geschmacks sowie den hamburgischen Patrioten Dank schuldig; sie taten, was sie zu ihrer Zeit tun konnten. Breitingers. »Dichtkunst« und Abhandlungen zeigen durchaus einen Kenner der Alten, der seinen Geschmack an ihnen bewährt hat; auch Bodmers Bemühungen, aus Neueren, sowohl ausländischen als unsrer alten deutschen Sprache uns einen größeren Reichtum an Gedanken, Bildern, Fabeln, Einkleidungen und Ausdrücken als Kunstrichter und Dichter zuzuführen haben ihren Zweck nicht verfehlet. Er hat viel aufgeregt und sich fast über Vermögen bemühet, indem er bis in sein greises Alter wie der frischeste Jüngling an jedem neuen Produkt unserer Sprache teilnahm.

Warum aber mußte diese Kritik, die doch Philosophie ist, [130] und ein besserer Geschmack am Schönen und Guten durch einen unwürdigen Federkrieg eingeführt werden? Tat nicht auch Gottsched, was er tun konnte? Die Weisesten in diesem Streit, Haller und Hagedorn, schwiegen. Der erste hat auch als Prosaist so viel Verdienst um den bessern Geschmack im Vortrage der Wissenschaften, daß ihm auch die deutsche Kritik vielleicht den ersten Kranz reichet. Mitten unter stürmischen Faktionen brachte er ein schmales Blatt deutscher Kritik unter den Schutz einer Sozietät der Wissenschaften selbst und gründete ihm dadurch nicht nur Unparteilichkeit, Billigkeit und Gleichmut, sondern auch Teilnahme am Fortgange des menschlichen Geistes in allen Weltgegenden und Sprachen. Seitdem sind die »Göttingischen gelehrten Anzeigen« nicht nur Annalen, sondern auch Beförderinnen und, ohne ein Tribunal zu sein, konsularische Fasten undHülfsquellen der Wissenschaft worden, zu denen man, wenn manche einseitige Kritik verstummt ist, wie durch lybische Wüsten zum stillen, kenntnisgebenden Orakel der Wissenschaft reiset und dabei immer noch Hallers und seiner Nachfolger Namen segnet.

Die Trommete war erklungen; es war bestimmt, daß der bessere Geschmack der Deutschen im Schlachtgetümmel empfangen und geboren werden sollte. Wo zwei streiten, gewinnet der dritte. Nicolai schrieb seine »Briefe über den Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland« mit Übersicht der Fehler von beiden Seiten; denn schon hatten während dieses langen Streits mehrere Schriftsteller von Genie das, worüber man stritt, durch die Tat entschieden. Lessing war einer von ihnen. Seine mancherlei Vorzüge an Kenntnissen, Geschmack und Schreibart gaben ihm ohne sein Wollen das natürliche und erworbene Recht, durch ein weniges der Anfang zu vielem zu sein, das wohl nicht sein Plan war. Durch Nicolai, Mendelssohn und ihn fing die »Bibliothek der schönen Wissenschaften,« durch ihn, Mendelssohn und Nicolai fingen die »Literaturbriefe« an, unstreitig mit einem Urteil von feinerer Bestimmtheit, in einem größeren Umfang von Ideen und [131] einer schärferen Unparteilichkeit, als jene Parteien geäußert hatten. Der »Bibliothek« nahm sich, nachdem ihre Urheber vom Werk abtraten, ein Schriftsteller an, der als dramatischer und lyrischer Dichter unsrer Nation wert geworden ist, Weiße. Winckelmann, Hagedorn, Heyne, Garve u.a. machten sie eine Reihe von Jahren hindurch (in den neuesten Jahren kenne ich sie nicht) zu einer Leiterin des guten Geschmacks, die uns zugleich das Merkwürdigste fremder Nationen bekannt machte. Die »Literaturbriefe,« zu welchen nach Lessings Entfernung Abbt beitrat, taten dadurch einen merklichen Schritt weiter, daß sie bei strengem Tadel selbst oft eigene bessere Ideen entwickelten und in der gewählten Form einer Privatkorrespondenz keine Orakel der Welt sein wollten. Lessing insonderheit war ein bescheidner, gegen andre, auch wo er es nicht sein dorfte, ein nachgebender Mann, und Mendelssohn, wenn ihn die Jünger der zehnten neueren Philosophie als Philosophen ganz zum Kinde werden gemacht haben, wird in der philosophischen Kritik Deutschlands lange noch als ein schätzbarer, verdienter Name gelten.

Was nach diesen Zeiten geschehen sei, weiß ich nicht; da ich außer einem kleinen Blatt gewöhnlich kein kritisches deutsches Journal lese. Vernommen habe ich, daß man seitdem alles umfasset und dazu aus allen Ecken Kunstrichter versammelt habe; wie sie gerichtet haben, wie sie richten und richten werden, ist mir völlig fremde. Zu beklagen wäre es freilich, wenn auf diesem Wege alle Kritik in Deutschland Gewicht und Glauben verloren hätte, welches ich aber weder hoffe noch glaube. Laß es sein, daß zuweilen unbärt'ge Jünglinge denen, von denen sie gelernt hatten, das Kinn rasieren, um doch auch an ihnen berühmt zu werden; jeder honette Mann, der da sieht, wie mit seinem Nachbar gehandelt wird und wer also handelt, wird sich allmählich aus diesen anonymischen Beckenstuben zurückziehen; und so tut auch hier die Zeit ihr Werk; sie übt eine scharfe Kritik an der Kritik der Zeiten.

Wir, meine Freunde, die wir nicht zu Diktatoren der sinkenden [132] Republik wegen bestellet sind, wollen von uns selbst, von den Alten, von unsern Freunden und Feinden und von jedem lernen, der Gründe gibt und mit offnem Visier redet.

106.

Auch die Kritik ist ohne Genius nichts. Nur ein Genie kann das andre beurteilen und lehren. Nur der, der selbst Kenntnisse hat und Kräfte zeigt, kann Kräfte wecken und Kenntnisse befördern.

Seit geraumer Zeit, wie unbekannt sind wir z.B. mit den schätzbarsten Produkten des Auslandes selbst im Felde der Kritik geblieben! Lessing übersetzte Wartons »Versuch über Pope«; der zweite Teil, im Jahr 1782 erschienen, ist uns auch nicht im Auszuge bekannt worden.

Eschenburg gab in seinem »Britischen Museum« ein paar Abhandlungen aus Wartons »Geschichte der englischen Dichtkunst«; einen Auszug des ganzen Werks, sowie andrer nützlichen Werke über diesen Gegenstand, konnte er nicht geben; denn sein Museum selbst verschloß sich.

Blankenburg gab den Anfang von Johnsons »Lebensbeschreibungen der englischen Dichter,« ein Werk voll Kritik, lehrreich auch für uns Deutsche, obgleich nichts weniger als unparteilich; die Fortsetzung unterblieb.

Eschenburg gab uns Browns Buch »Über die Verbindung der Poesie und Musik«; Browns wichtigeres Werk »Über die Sitten,« das bereits im Jahr 1757 herauskam und als ein schreckender Spiegel viel Aufsehen erregte, ist noch nicht übersetzt worden.

So viel interessante Aufsätze aus Henrys, aus Littletons Geschichte, manche auch für uns merkwürdige Abhandlung aus den Sozietäten der Altertumsforscher, imgleichen von Dublin, Edinburgh, Manchester, den »Transaktionen« u.f. sind da, als ob sie für uns nicht wären. Auch mit Georg Forster, wie viel ist uns in diesem Betracht gestorben! Ein böser [133] Genius scheint sein Spiel zu haben, indem er (und wogegen?) den Faden zu zerreißen sucht, der uns mit den Gedanken andrer Nationen verknüpfet. Wir sollen auf unserm eignen Grunde metaphysizieren oder uns damit bemühen, womit sich andre längst bemühet haben.

Hierhin sollte die Kritik wirken! uns ins Universum sämtlicher gebildeten Nationen versetzen und auf unserm einsamen Gange von ihnen uns Licht und Hülfe zufördern. Überhaupt glaube ich, daß dem Charakter unsrer Nation nach die Kritik durchaus belehrend, fördernd, gutmütig, human sein müßte; nur auf diesem Wege kann sie etwas und würde gewiß viel erreichen. Unsrer gelehrten Republik mangelt äußere Aufmunterung und Achtung; wollte sie sich zum Spott der Unwissenden und zur allgemeinen Verachtung machen, indem sie sich selbst verspottet, würget und auffrißt?

Gnug von der Kritik. Sie äußerten den merkwürdigen Gedanken, daß die Poesie der Deutschen eineKinderpoesie sei; ich hoffe, sie soll es bleiben. So ihr (im guten Verstande) nicht werdet wie die Kinder, so ist weder Tempe noch Elysium für euch.

Vor allen Dingen verschonen Sie die Poesie mit Staatsmännern, die über sie richten; das Reich der Poesie ist nicht die Staatswelt.

Wenn Sophokles seinen »Oedipus« mit der Szene des flehenden Volks eröffnet: die Pest watet, ein geheimes Verbrechen ruht auf dem Vaterlande, Jünglinge und Greise jammern, so ist diese Situation ganz menschlich. Ob Oedipus oder Lajus regiere, kümmert mich nicht; daß aber um eines Verbrechers willen das ganze Volk leide, diese Szene eröffnet ein Trauerspiel würdig.

Wenn Aristophanes Szenen der Menschheit darstellt, weswegen Friede gemacht werden müsse, so ist dies ein Gegenstand der Muse. Ob aber Kleon der Wurstmacher oder Kleon der Riemenschneider das Volk lenke, diese politische Wichtigkeit ist der poetischen Muse sehr gleichgültig.

Nichts verunreinigt den heiligen Quell mehr als politischer [134] Parteigeist; er macht die Muse zur Lügnerin, parteiisch, übertreibend, am jetzigen Augenblick als an einer Ewigkeit hangend und ihm damit die Ewigkeit erteilend. Die Tochter des Himmels wird unter den Händen der Politik eine kurzsichtige, leidenschaftliche Verleumderin, ein Kind der Erde. Die politische Poesie der Engländer sei davon ein Beispiel. Warum hat Butler den Ruhm nicht erlangt, den sein »Hudibras« so sehr verdienet? Das witzreiche Gedicht ist für ein bloßes Gespött zu lang, für die darin enthaltene Lehre und Warnung zu sehr mit Zeitanspielungen überhäuft, zu politisch. Jenes gewaltigeVernunftgenie, Swift, was hat ihn für den größesten Teil der Nachwelt unbrauchbar gemacht? Die politischen Umstände, aus welchen er sein Gespinst zog und in welche er seine köstlichen Gedanken webte. Die Politik der damaligen Zeit ist ein Traum worden; es macht uns Mühe, jeden seiner tiefen bleibenden Gedanken von einem verlebten Traume zu sondern. Wer lieset jetzt Churchills Gedichte? und wer wird Peter Pindar mit reinem Vergnügen lesen, wenn unsere Zeit vorbei ist? Beklagen wird man soviel verschwendete goldne Talente.

Mit Unwillen höre ich's also, wenn man unsrer Nation einen Swift wünschet, einen bedaurens- und hochachtungswürdigen Mann, der nur durch Mißfälle ward, was er geworden ist, und, vom Glück begleitet, ein Genius der Gerechtigkeit und der Klugheit geworden wäre und ein Swift in Deutschland? –

Hinweg also Politik aus dem Gebiet der Musen! und verwünscht sei jede Aftermuse, die der Politik frönet. Treue und Glauben, Unschuld der Sitten, Biederkeit und Einfalt das sei'n unsre Kastaliden! alles andre ist vergängliche Torheit. Zur italienischen acutezza, zur spanischen grandezza, zur französischen légèrteté, zum britischen high-spirit wird [135] sich der Deutsche nie hinaufschwingen; was er aber ist und von jeher gewesen, davon ist seine eigne Geschichte eine durch Jahrhunderte erprobte Stimme der Wahrheit. Was alle Dichter singen, wohin sie wider Willen streben, was ihnen am meisten glückt, was bei denen, die sie lesen und hören, die größeste Wirkung hervorbringt, das ist Charakter der Nation, wenn er auch als eine unbehauene Statue noch im Marmorblock daläge. Dies ist Vernunft, reine Humanität, Einfalt, Treue und Wahrheit. Wohl uns, daß uns dies sittliche Gefühl ward, daß dieser Charakter gleichsam von unsrer Sprache unabtrennlich ist, ja daß uns nichts gelingen will, wenn wir aus ihm schreiten. Lehrgeld in erzwungenen Nachäffungen haben wir gnug gegeben.

Mit diesem Charakter, wie viel können wir entbehren! Wenn andre Nationen sich im Geschmack hie-und dorthin verirrten, so wird unsre Regel feststehn, die im Mannigfaltigsten die wahreste Einfalt sucht und uns die Poesie sein läßt, was sie sein soll: ein Spiegel der Natur und Sitten, Humanität im gefälligsten, reinsten Gewande, Philosophie des Lebens. Dies war einst Orpheus' und Apollos Kunst.

107.
Neuntes Fragment

Resultat der Vergleichung

der Poesie verschiedener Völker alter

und neuer Zeit


Die Poesie ist ein Proteus unter den Völkern; sie verwandelt ihre Gestalt nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, sogar nach dem Akzent der Völker.

Wie Nationen wandern, wie sich die Sprachen mischen und ändern, wie neue Gegenstände die Menschen rühren, wie ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre Übungen ein andres Ziel nehmen, wie in der Zusammensetzung der Bilder und [136] Begriffe neue Vorbilder auf sie wirken, selbst wie die Zunge, dies kleine Glied, sich anders beweget und das Ohr sich an andre Töne gewöhnt, so verändert sich die Dichtkunst nicht nur bei verschiedenen Nationen, sondern auch bei demselben Volke. Die Poesie zu Homers Zeiten war bei den Griechen ein andres Ding als zu Longins Zeiten, selbst dem Begriff nach. Ganz ein andres war's, was sich der Römer oder der Mönch, der Araber und der Kreuzritter oder was nach wiedergefundenen Alten der Gelehrte und in verschiednen Zeitaltern verschiedner Nationen der Dichter und das Volk sich an Poesie denken. Der Name selbst ist ein abgezogner, so vielfassender Begriff, daß, wenn ihm nicht einzelne Fälle deutlich untergelegt werden, er wie ein Trugbild in den Wolken verschwindet. Sehr leer war daher der Streit über den Vorzug der Alten oder der Neuern, bei welchem man sich wenig Bestimmtes dachte.

Er ward noch leerer dadurch, daß man keinen oder einen falschen Maßstab der Vergleichung annahm; denn was sollte hier über den Rang entscheiden? Die Kunst der Poesie als Objekt? Wieviel feine Bestimmungen gehörten dazu, das Höchste der Vollkommenheit in jeder Art und Gattung nach Ort und Zeit, nach Zweck und Mitteln auszufinden und auf jedes Verglichene unparteiisch anzuwenden! Oder sollte die Kunst des Dichters nach dem Subjekt betrachtet werden, wieviel dieser vor jenem glückliche Gaben der Natur, eine günstigere Lage der Umstände, mehreren Fleiß in Nutzung dessen, was vor ihm gewesen war und um ihn lag, ein edleres Ziel, einen weiseren Gebrauch seiner Kräfte, dies Ziel zu erreichen, zu seinem Eigentum machte; welch ein andres Meer der Vergleichung! So manchen Maßstab der Dichter einer Nation oder verschiedener Völker man aufgestellt hat, so manche vergebliche Arbeit hat man übernommen. Jeder schätzt und ordnet sie nach seinen Lieblingsbegriffen, nach der Art, wie er sie kennenlernte, nach der Wirkung, die der und jener auf ihn machte Der gebildete Mensch trägt, wie sein Ideal der Vollkommenheit, so auch seinen Maßstab, diese [137] zu erreichen, in sich, den er nicht gern mit einem fremden vertauschet.

Keiner Nation dörfen wir's also verargen, wenn sie vor allen andern ihre Dichter liebt und sie gegen fremde nicht hingeben möchte: sie sind ja ihre Dichter. In ihrer Sprache haben sie gedacht, im Kreiseihrer Gegenstände imaginiert; sie fühlten die Bedürfnisse der Nation, in welcher sie erzogen wurden, und kamen diesen zu Hülfe. Warum sollte die Nation also nicht auch mit ihnen fühlen, da ein Band der Sprache, Gedanken, Bedürfnisse und Empfindungen sie fest aneinanderknüpfet.

Italiener, Franzosen und Engländer schätzen ihre Dichter, oft mit ungerechter Verachtung andrer Völker, parteiisch hoch; der einzige Deutsche hat sich verführen lassen, das Verdienst fremder Völker, insonderheit der Engländer und Franzosen, unmäßig zu übertreiben und darüber sich selbst zu vernachlässigen. Zwar einem Young (denn von Shakespeare, Milton, Thomson, Fielding, Goldsmith, Sterne ist hier nicht die Rede) gönne ich seine vielleicht etwas überspannte Verehrung bei uns gern, da er durch Eberts Übersetzung eingeführt ward, eine Übersetzung, die nicht nur alles Verdienst eines Originals hat, sondern auch die Übertreibungen ihres englischen Originals durch den Bau einer harmonischen Prose und durch die reichen moralischen Anmerkungen aus andern Nationen gleichsam zurechtfüget und mildert. Sonst aber wird es den Deutschen immer den Vorwurf einer unentschlossenen Lauigkeit zuziehn, daß die reinsten Dichter ihrer Sprache in Schulen und bei Erziehung der Jugend überhaupt so vergessen und hintangesetzt werden, wie keine benachbarte Nation es tut. Wodurch soll sich unser Geschmack, unsre Schreibart bilden? wodurch unsre Sprache bestimmen und regeln als durch die besten Schriftsteller unsrer Nation? Ja, wodurch sollen wir Patriotismus und Liebe zu unserm Vaterlande erlangen als durch seine Sprache, durch die vortrefflichsten Gedanken und Empfindungen, die in ihr ausgedrückt, die wie ein Schatz in sie gelegt sind. Gewiß irrten wir nicht nach einem Jahrtausend,[138] in dem unsre Sprache geschrieben ist, in manchen Wortfügungen noch jetzt zweifelnd umher, wenn wir von Jugend auf unsre besten Schriftsteller kennten und sie uns zu Führern wählten.

Indessen soll keine Liebe zu unsrer Nation uns hindern, allenthalben das Gute zu erkennen, das nur imgroßen Gange der Zeiten und Völker fortschreitend bewirkt werden konnte. Jener Sultan freuete sich über die vielen Religionen, die in seinem Reich, jede auf ihre Weise, Gott verehrten; es kam ihm wie eine schöne, bunte Aue vor, auf der mancherlei Blumen blühten. So ist's mit der Poesie der Völker und Zeiten auf unserm Erdrunde; in jeder Zeit und Sprache war sie der Inbegriff der Fehler und Vollkommenheiten einer Nation, ein Spiegel ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Höchsten, nach welchem sie strebte (oratio sensitiva animi perfecta). Diese Gemälde (minder und mehr vollkommene, wahre und falsche Ideale) gegeneinanderzustellen gibt ein lehrreiches Vergnügen. In dieser Galerie verschiedner Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem täuschenden, trostlosen Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte. In dieser sehen wir selten mehr von einem Volke, als wie es sich regieren und töten ließ; in jener lernen wir, wie es dachte, was es wünschte und wollte, wie es sich erfreute und von seinen Lehrern oder von seinen Neigungen geführt ward. Freilich aber mangeln uns noch viel Hülfsmittel zu dieser Übersicht in die Seelen der Völker. Griechen und Römer beiseite gesetzt, hangen über dem Mittelalter, aus welchem bei uns Europäern doch alles hervorging, noch dunkle Wolken. Meinhards schwacher »Versuch über die italienischen Dichter« ist nicht einmal bis auf Tasso fortgesetzt, geschweige etwas Ähnliches bei andern [139] Nationen ausgeführt worden. Ein »Versuch über die spanischen Dichter« ist mit dem gelehrten Kenner dieser Literatur, dem Herausgeber des Velasquez, Diez, gestorben.

Auf drei Wegen kann man sich eine Übersicht dieses blumen- und fruchtreichen Feldes menschlicher Gedanken verschaffen, und jeder ist betreten worden.

Eschenburgs beliebte »Beispielsammlung« wählet, seiner Theorie gemäß, den Weg der Gattungen und Arten; für Jünglinge ein lehrreicher Weg bei einem geschickten Führer; denn oft kann ihn ein Name, der sehr verschiedene Dinge bezeichnet, ganz irreleiten. Homers, Virgils, Ariosts, Miltons, Klopstocks Werke tragen einen Namen der Epopee und sind doch selbst nach dem Kunstbegriff, der in den Werken liegt, geschweige nach dem Geist, der sie beseelet, ganz verschiedene Produktionen. Sophokles, Corneille und Shakespeare haben als Trauerspieldichter nur den Namen gemein; der Genius ihrer Darstellungen ist ganz verschieden. So bei allen Gattungen der Dichtkunst bis zum Epigramm hinunter. –

Andre haben die Dichter nach Empfindungen geordnet, da denn insonderheit Schiller 128 viel Feines und Vortreffliches gesagt hat. Allein, wie sehr laufen die Empfindungen ineinander! welcher Dichter bleibt einer Empfindungsart dergestalt treu, daß sie seinen Charakter, zumal in verschiednen Werken, bezeichnen könnte? Oft rühret er ein Saitenspiel von vielen, ja von allen Tönen, die sich eben durch Disharmonien heben. Die Welt der Empfindungen ist ein Geister-, oft ein Atomenreich; nur die Hand des Schöpfers vermag daraus Gestalten zu ordnen.

Die dritte, wenn ich so sagen darf, Naturmethode ist, jede Blume an ihrem Ort zu lassen und dort ganz, wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten. Das demütigste Genie hasset Rangordnung und Vergleichung.

[140] Es will lieber der Erste im Dorf sein als der Zweite nach Cäsar. Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichste Gewürzblume: jedes blühet an seiner Stelle inGottes Ordnung.

Man hat die Dichtkunst subjektiv und objektiv, nach den Gegenständen, die sie schildert, und nach den Empfindungen, mit denen sie Gegenstände darstellt, geordnet; ein wahrhafter und nützlicher Gesichtspunkt, der auch zu Charakterisierung einzelner Dichter, z.B. Homers und Ossians, Thomsons und Kleists u.a., der rechte scheinet. Homer nämlich erzählt die Geschichten seiner Vorwelt ohne merkliche besondre Teilnehmung; Ossian singet sie aus seinem verwundeten Herzen, aus seiner traurig-fröhlichen Erinnerung. Thomson schildert Jahrszeiten, wie die Natur sie gibt; Kleist singet seinen Frühling, mit oft einbrechenden Gedanken an sich und seine Freunde, als eine Rhapsodie, von Ansichten mit Empfindung beseelet. Indessen auch dieser Unterschied bezeichnet Dichter und Zeiten der Dichtkunst sehr leise; denn auch Homer nimmt teil an seinen Gegenständen, als Grieche, als Erzähler, wie in den mittleren Zeiten die Balladensänger und Fabliers, wie in neueren Zeiten Ariost und Spenser, Cervantes und Wieland. Ein mehreres zu tun wäre außer seinem Beruf gewesen und hätte seine Erzählung gestöret. In Anordnung und Bezeichnung seiner Gestalten aber singt auch Homer auf die höchste Weise menschlich; wo es uns nicht also scheinet, liegt der Unterschied an der Denkart der Zeiten und ist sehr erklärbar. Ich getraue mich, in den Griechen jede reine menschliche Gesinnung, vielleicht im schönsten Maß und Ausdruck, aufzufinden, nur alles an Ort und Stelle. Aristoteles, »Poetik« hatFabel, Charaktere, Leidenschaften, Gesinnungen unübertrefflich geordnet.

Zu allen Zeiten war der Mensch derselbe; nur er äußerte sich jedesmal nach der Verfassung, in der er lebte. Sehr mannigfaltig ist die Poesie der Griechen und Römer, in ihren Wünschen und Klagen, in ihren Beschreibungen voll Lust und Freude. So die Poesie der Mönche, der Araber, der Neueren. Den großen Unterschied, der zwischen dem Morgen- und [141] Abendlande, zwischen Griechen und uns eintrat, hat keine neue Kategorie, sondern die Vermischung der Völker, der Religionen und Sprachen, endlich der Fortgang der Sitten, der Erfindungen, der Kenntnisse und Erfahrungen bewirket; ein Unterschied, der schwerlich mit einem Wort auszudrücken sein möchte. Wenn ich bei einigen Neuern das Wort Dichter aus Reflexion gebrauchte, so war auch dies unvollkommen; denn ein Dichter aus bloßer Reflexion ist eigentlich kein Dichter.

Der Poesie Grund und Boden ist Einbildungskraft und Gemüt, das Land der Seelen. Ein Ideal der Glückseligkeit, der Schönheit und Würde, das in deinem Herzen schlummert, wecket sie auf durch Worte und Charaktere; sie ist der Sprache, der Sinne und des Gemüts vollkommenster Ausdruck. Kein Dichter kann dem Gesetz entgehen, das in ihr liegt; er zeigt, was er hat und nicht habe.

Auch kann man in ihr Ohr und Auge nicht sondern. Die Poesie ist keine bloße Malerei oder Statuistik, die Gemälde, wie sie sind, ohne Absicht darstellen könnte; sie ist Rede und hat Absicht. Auf den innern Sinn wirket sie, nicht auf das äußere Künstlerauge; und zu jenem innern Sinn gehört bei einem gebildeten oder zu bildenden Menschen Gemüt, moralische Natur, mithin bei dem Dichter vernünftige und humane Absicht. Die Rede hat etwas Unendliches in sich; sie macht tiefe Eindrücke, die ja eben die Poesie durch ihre harmonische Kunst verstärket. Nie kann also der Dichter bloß ein Maler sein wollen. Er ist Künstler vermöge der eindringenden Rede, die das Objekt, das sie malt oder darstellt, auf einen geistigen, moralischen, gleichsam unendlichen Grund, ins Gemüt, in die Seele malet.

Sollte also nicht auch bei dieser, wie bei allen Reihen fortgesetzter Naturwirkungen, ein Fortgang unumgänglich sein? Ich zweifle daran (den Fortgang recht verstanden) gar nicht. In Sprache und Sitten werden wir nie Griechen und Römer werden; wir wollen es auch nicht sein. Ob aber der Geist der Poesie durch alle Schwingungen und Exzentrizitäten, [142] in denen er sich bisher nationen- und zeitenweise periodisch bemühet hat, nicht dahin strebe, immer mehr und mehr, so wie jede Grobheit des Gefühls, so auch jeden falschen Schmuck abzuwerfen und den Mittelpunkt aller menschlichen Bemühungen Zu suchen, nämlich die echte, ganze, moralische Natur des Menschen, Philosophie des Lebens – dieses wird mir durch Vergleichung der Zeiten sehr glaubhaft. Auch in Zeiten des größesten Ungeschmacks können wir uns nach der großen Regel der Natur sagen: »Tendimus in Arcadiam, tendimus!« Nach dem Lande der Einfalt, der Wahrheit und Sitten geht unser Weg.

[143][145]

Neunte Sammlung

(1797)


[145][147]

108.

In den Fragmenten über die Poesie der neueren Völker als einer Fördrerin der Humanität 129 fanden unsre Freunde manches bedenklich. A. glaubte, daß seiner Lieblingsnation, den Franzosen, B., daß seinem begünstigten Volk, den Briten, im Anschlage ihres Verdienstes nicht Gnüge geschehen sei. C. meinte, daß die Poesie der Trobadoren sich anderswoher leite und daß man auch dem Reim nicht gnug Gerechtigkeit widerfahren lassen; er sei wirklich ein Zuwachs des Wohlklanges und der Schönheit. D., E., F. sind der Meinung, daß die Verdienste unsres Vaterlandes gegen andre Völker viel zu hoch gesetzt sei'n und daß ein unverdientes Lob dieser Art nur den Bettel- und Bauernstolz unsrer Landsleute nähre. Sie hätten, meinte F., bei der ungeheuren Gutmütigkeit, die Sie den Deutschen als einen Grundzug ihres Charakters zuschreiben, auch die ihnen angeborne Lust zu dienen, gefällige Sklaven und mit ganzer Gutmütigkeit freudige Werkzeuge der Gewalttätigkeit, des Übermuts zu sein, nicht vergessen sollen. Da er Europa durchreiset hat, so führt er ein langes Register der Ehrennamen an, die alle zivilisierte und unzivilisierte Nationen, nah und fern, Italiener, Spanier, Franken, Briten, Dänen, Schweden, selbst Russen, Wenden, Liven, Esten und Polen, den Deutschen geben. Worüber ganz Europa einig sei, meint er, müsse doch wohl etwas Wahres in sich enthalten. Geschichte, Sprüchwörter, selbst der Staatskalender zu Peking standen ihm dabei zu Hülfe, in welchem letzten die Deutschen als ein Volk charakterisiert sein sollen, das in aller Völker Diensten ist und zwischen zwei Federbetten schläft. –

[147] G. wunderte sich, warum Sie die Politik von der Poesie ausgeschlossen haben wollten, da dem, was die Menschen humanisiere, jedes Feld offen, jede Materie zu Gebot stehen müsse. H. begriff nicht recht, wohin Sie für die Poesie mit Ihrer Einfalt und Wahrheit wollten, so daß es noch lebendige, abwechselnd-reiche Poesie bliebe. Und I. fragte, woher unsern Dichtern diese Einfalt und Wahrheit kommen solle. Antworten Sie Ihren Freunden!

109.

Kein Vorwurf ist drückender als der, fremden Nationen unrecht getan zu haben, zumal wenn sie in Werken des Geistes unsre Wohltäterinnen waren; er muß also zuerst abgewälzt sein.

Daß es schwer sei, eine Nation in einem so vielumfassenden, feinen und vielseitigen Geschäft, als das Humanisieren durch Sprache und Werke des Geschmacks ist, mittelst einiger Worte zu charakterisieren, haben Fragmente und Briefe gern und oft gestanden. Eher könnte man alle Gestalten Proteus' in ein Wort, alle Verwandlungen Ovids in ein Bild fassen, als mit ein paar Worten den Geist der verschiedensten Völker, wie er sich Jahrhunderte hinab erwiesen, darstellend zu zeichnen. In dieser Verlegenheit zeichnet man eine Außenlinie von innen mit wenigen Zügen und überläßt es dem Gemüt des Anschauenden, dieses Sbozzo zu ergänzen. Die Geschichte des Volks, seine Geistesprodukte müssen ihm bekannt sein, sonst war für ihn der Umriß vergebens gezeichnet.

Was man bei solchen Charakterzeichnungen nicht angibt, leugnet man deshalb noch nicht. Vielleicht ward es vorausgesetzt, vielleicht folget's; nur als der erste hervorspringende Charakterzug konnte es nicht angeführt werden, weil es dieser – nicht war.

Wenn z.B. der französischen Nation eine vorzügliche Ausbildung ihrer Sprache zur Klarheit, zur Präzision, zur Politesse [148] als ein Lob angerechnet wird, sollte damit gesagt sein, mit dieser hellen, präzisen, politen Sprache könne sie nicht rühren? In eines jeden großen Schriftstellers Händen ist die Sprache ein eigenes Ding; er braucht und formt sie nach seinem Gefallen; sein Charakter, sein Geist, sein Herz belebt sie. Montaignes und Rousseaus, Pascal und Diderots, Voltaire und Fénelons Schreibart ist dem Charakter nach gewiß nicht dieselbe; und doch schrieben sie in der auch zu Corneilles und Bossuets Pracht, zu des Racine empfindlichen Zartheit, zu Fontenelles witzigen Nettigkeit ausgearbeiteten Sprache. Kann man der Rede überhaupt ein größeres Lob beilegen, als daß sie sich der Klarheit und Präzision, der Gewandtheit und Artigkeit befleißiget? In einer solchen Sprache wird sich alles ausdrücken lassen. Wie sie zu unserm Verstande spricht, wird sie auch zu unserm Herzen zu sprechen wissen und dies, als wäre es der Verstand, sanft überreden, verständig rühren.

Als aus der alten romanischen Sprache die französische sich mit ihren Schwestern, der italienischen, kastilianischen, galizischen u.f., bildete, zeigte sieh bald ihr Charakter. Nach dem Verfall des römischen Reichs, unter den Königen des ersten und zweiten Stammes war sie jenen ihren Schwestern noch sehr ähnlich; allmählich aber legte sie die Fesseln, selbst der Harmonie, des italienisch-kastilianischen Wohllauts ab, wo er ihr eine schwere Rüstung dünkte; sie warf Buchstaben, Silben, ganze Worte hinweg und flog leicht in die Lüfte. Man erzählte, sang, sprach, lachte, gestikulierte. Als die Scholastik aufkam, disputierte man; die Abstraktionen des lateinischen Schulgeistes gingen in die verwandte Sprache des Landes und Volks unvermerkt über. Einer Sprache, die Zweideutigkeiten unablässig ausgesetzt ist, mußte man, als sie sich regelte, durch eine desto genauere Konstruktion und Wortordnung helfen. Keinem Volk wäre dies eingefallen, dem nicht schon eine Art sprechender Vernunft zur Regel geworden war; und so wurde die französische Sprache, was sie ist, eine an leichten Abstraktionen reiche Sprache, die sich durch Ordnung, durch Wendungen helfen mußte und zur Ehre des Geistes der [149] Nation tausendfach geschickt aushalf. Welch einen bedächtigern Gang nahmen die italienische, spanische und welchen schwereren die deutsche Sprache! Man entnimmt einer Nation nichts, wenn man ihr das Eigentümliche ihrer Ausbildung zum Ruhme anrechnet.

Dahin gehört auch, daß sie gern repräsentiere. »Was heißt hier repräsentieren?« fragt unser Freund. Ich antworte: aus sich selbst etwas machen, sich wert halten und ein natürliches Bestreben äußern, daß auch der andre unsern Wert anerkenne; mit einem Wort,sich ihm vorstellen, vorspiegeln. Wenn diese Selbstschätzung auf etwas Wahres und Gutes geht, ist sie nicht verwerflich; mancher andern Nation möchte man wünschen, daß sie sich selbst mehr anerkennet und ehre. Auch die Tendenz, in andrer Augen zu sein, was man gern sein möchte, ist aufmunternd, ein Sporn zu vielem auszeichnend Guten und Edeln. Nenne man's Eitelkeit, Selbstliebe; diese Eitelkeit, die uns mit andern bindet, sie zum Spiegel unsrer Vorzüge macht, ist, ohne Aufdringlichkeit und Arroganz, ein sehr verzeihlicher Fehler. Wer kann es leugnen, daß die französische Nation, sooft sie konnte, der Weltein Schauspiel gab, daß sie immer gern die zündende Lunte vortrug und aufregte? War sie es nicht, die unter Karl dem Großen die alte Römermacht in gotischer Form zurückbringen wollte und auf kurze Zeit wirklich zurückbrachte? War sie es nicht, die mit ihrem Rittergeist ganz Europa zum Heiligen Grabe trieb? Französische Familien waren es, die zu Jerusalem und eine Zeitlang in Konstantinopel herrschten. Ein französischer König war es, der siebenzig Jahre lang Rom nach Avignon verlegte und durch diesen Zug im Schachspiel die Päpste zu seinen folgsamen Dienern machte. Nach Frankreich wanderten jahrhundertelang Edle und Fürsten, um dort die Rittersitte, das Hofzeremoniell, die leichteste und beste Lebensart zu lernen, bis endlich von Paris und Versailles aus der französische Ton, die französische Sprache als Mode sich über die Welt ausgoß. Sein Kleinstes hat Frankreich bemerkbar zu machen gesucht; in allen Staatsveränderungen und [150] Unterhandlungen hatte lange es die Hand und trat gern hervor, zu sagen: »Sehet, daß ich da bin und wie ich's treibe!« Hieße dies nicht repräsentieren? Der Ton der guten Erziehung, des Unterschiedes der Stände, der anständigen Lebensart, des höflichen Ausdrucks, der ganze Charakter der französischen Sprache ist eine Art Repräsentation. Selbst wenn der Franzose mit Gott spricht: er repräsentieret.

Aber auch diese Eigenheit ist kein Vorwurf. Denn bei dem Scheinen kann man ja auch sein, beim Repräsentieren auch leisten. Außer den Griechen ist mir kein Volk der Geschichte bekannt, das beide Eigenschaften so leicht zu verbinden, so unvermerkt zu verschmelzen wußte, als dieses. Das Sprüchwort sagt: »Der Franzose scheint oft klüger, als er ist; der Spanier ist oft klüger, als er scheinet.«

Mit dem Wort Repräsentation auf dem Theater, in Gesellschaften, bei Aufzügen, Feierlichkeiten sollte gar nichts Nachteiliges gesagt sein. Einmal sind die Helden des Corneille und Racine keine römische Helden; das französische Theater sollte kein griechisches, sondern ein französisches Theater sein; wer hätte etwas dagegen? Die Nation war über die Regeln des Geschmacks, der guten Lebensart, des Ausdrucks der Empfindungen mit sich selbst übereingekommen; welcher Ausländer hätte Recht, dies zu tadeln? Er dürfte ja nicht hingehen, um jene Repräsentation des Hofes, der Akademien, des Theaters, der Oper, der Parlamente, der Lustschlösser und Gärten zu bewundern. An ihnen, auch in ihren Fehlern zu lernen blieb ihm ein weites Feld.

Eben nun in dies Feld lockt die allgemeine Charakteristik der Völker. Daß jede Nation zu ihrer Zeit, auf ihrer Stelle nur das war, was sie sein konnte, das wissen wir alle; damit aber wissen wir noch wenig. Was jede in Vergleich der andern war, wie sie aufeinander wirkten und fehlwirkten, einander nutzten oder schadeten, aus welchen Zügen nach und nach das Bild zusammengeflossen sei, das wir als die Tendenz unsres gesamten Geschlechts, als die höchste Blüte der Schönheit, Wahrheit und Güte unsrer Natur verehren, das ist die Frage.

[151] 110.

Da wendet sich nun freilich das Blatt. Germanus fragt nicht, was Nachbar Gallus ihm, dem Gallus, sondern ihm, dem Germanus, gewesen sei, sein könne und sein dörfe. Und hierüber gibt die Geschichte klare Auskunft.

Die alten Gallier und Germanen wollen wir ruhen lassen. Sie waren gegeneinander bald Freunde, bald Feinde; die Germanen das rohere Volk, beide aber nicht von einerlei Stammesart, Sprache, Sitten und Gebräuchen. Von Karl dem Großen fängt die unglückliche Vereinigung an, die Deutschland Leides genug gebracht hat, ob Karl gleich selbst ein Frank und Deutscher war und in bester Absicht seine Anstalten machte. Ihm sind wir die dreißigjährigen blutigen Kriege und Verheerungen des damaligen Sachsenlandes, ihm die Unterjochung Deutschlands bis über die Elbe zur ungrischen Grenze hin, ihm die erste Zerstörung der alten germanischen Verfassung, die den Römern nie hatte gelingen wollen, die Einführung des römisch-gallischen Christentums, ihm und seinen Nachkommen die Pflanzung so vieler Bischöfssitze, Domkapitel und Abteien längs dem Rhein und der Donau, ihm und ihnen die Sündflut von Übeln schuldig, unter denen Germanien endlich zum stehenden und abgestandenen, verwachsenen Teich ward. Die kurze Verbindung Germaniens mit der fränkischen Monarchie hat Deutschland in ein Labyrinth gezogen, aus welchem es der Lauf tausend folgender Jahre nicht hat erretten mögen. Sobald beide Reiche getrennt wurden, suchte Frankreich sich zu konsolidieren; Deutschland blieb von außen und innen im ewigen Streit mit einer furchtbaren, der geistlichen Macht, die es im Namen der Christenheit in Schranken halten sollte, wenn es darüber auch selbst zugrunde ginge und sich ganz und gar vergäße. Dies Amt hatte ihm das gallische Christentum, die fränkische Monarchie aufgebürdet; ein deutscher Kopf hätte schwerlich nach solchem gefährlichen Diadem gestrebet.

An den Ritter- und Kreuzzügen, die Frankreich ausbrachte, [152] hat kein Land so viel teil- und so viel Schaden genommen als Deutschland. Jene Kultur, die man Blüte des Rittergeistes nennt, ließ sich durch Kreuzzüge nicht erringen, wenn der Same dazu nicht in den Menschen selbst vorhanden war; leider aber haben der französische und deutsche Ritter sich immer wesentlich unterschieden. Was in dem einen Lande zur Verfeinerung der Sitten, zur Veredlung gereichte, ging in dem andern auf Plünderung und Unterdrückung, zuletzt aufs rohe Faustrecht hinaus. Um französische Ritter auf den Thronen Palästinas aufrechtzuerhalten, zogen deutsche Kaiser mit gewaltigen Heeren gerade in einem Zeitalter aus, da ihre Anwesenheit in Deutschland am nötigsten war; denn nachdem andre Länder in ihrer inneren Verfassung und Konsolidation stark vorgeschritten waren, sollte eben die Zeit der schwäbischen Kaiser für Deutschland entscheiden. Sie entschied so, daß nach dem Tode des letzten kreuzziehenden Kaisers, Friedrich II., das deutsche Reich dreiundzwanzig Jahre lang öffentlich ausgeboten ward und fast niemand eine so drückende Krone annehmen wollte.

Wie oft zog auch in den folgenden Zeiten Frankreichs trügender Glanz die Deutschen an sich, um sie angenehm zu vergolden! Wer will uns eine Geschichte der Fürsten, Prinzen, Grafen und Ritter geben, die Jahrhunderte hinab in Frankreich Bildung, Fortkommen, Ehre suchten und getäuscht zurückkamen? 130 Die Universität zu Paris, zu der man ebensogewaltig[153] hinströmte, hat in vielem eben also die Welt getäuschet.

Als endlich die Sonne des französischen Hofes in ihrem Mittage strahlte, als die Sprache, die Sitten, die Verhandlungen desselben fast allenthalben in Europa den Ton angeben wollten, wer ist, insonderheit seit dem Westfälischen Frieden, dadurch mehr zu kurz gekommen als Deutschland? Jeder kleine Hof sollte ein Versailles, jede adlige Gesellschaft ein Zirkel französischer Ducs et Marquis, Princesses et Comtesses werden. In Erziehung, Sitten, Sprache, Lebenszweck und Lebensführung trenneten sich die Stände. Was diese über ein Jahrhundert fortdaurende französischePropaganda und Propagata den Deutschen für Unheil geboren, davon soll ein andrer Brief reden. Beschämt und verwirrt lege ich die Feder nieder; spreche darüber ein Franzose selbst.


Prémontval gegen die Gallicomanie

und den falsch-französischen Geschmack 131


Die Gallicomanie oder der falsch-französische Geschmack, worauf hat er sich nicht heutzutage fast durch ganz Europa verbreitet? Sitten, Gebräuche, Moden, Kleider, Manieren, Phantasien, Capricen, in alle diesem wieviel ungeschickte Affen, wieviel schlechte Kopien von leidlichen Originalen gibt's nicht allenthalben! Man hat nicht ohne Grund gesagt, daß der Franzose meistens nur lächerlich sei, indes der Fremde, der ihn in seinem Lächerlichen nachahmt, aufs äußerste widrig und abgeschmackt werde. Wollte ich diese [154] Wahrheit verfolgen und die zahllosen Porträte zeichnen, die sie sehr sinnlich machen, welch ein weites Feld läge vor mir! Ich will mich aber nur an die französische Sprache und Literatur halten.


1. Woher der französische Geschmack in Deutschland?


Unter allen europäischen Nationen ist's ohne Widerrede die deutsche Nation, die sich am meisten bestrebt, unsern Geschmack nachzuahmen; bei ihr hat sich unsre Sprache am allgemeinsten verbreitet. Und das aus verschiedenen Ursachen. Die erste ist ihr gemeinschaftlicher Ursprung. Beide Nationen können sich als Schwestern ansehen, oder die deutsche kann sogar mit einigem Wohlgefallen die französische als eine Tochter betrachten, die ihr oft Ehre gemacht hat. Diezweite Ursache ist die nahe Nachbarschaft beider Nationen Keine unersteiglichen Berge, kein gefahrvolles Meer trennet sie, sondern ein bloßer Strom, mit Städten besetzt, in welchen man zum Teil schon beide Sprachen redet. Auch gibt es drittens keine Rivalität und Eifersucht zwischen beiden Völkern. Nie haben sie so lange, grausame und große Angelegenheiten betreffende Kriege gegeneinander geführt, als z.B. Frankreich mit England und Spanien Dazu kommtviertens, daß unsre Armeen entweder als Freunde oder als Feinde zu verschiednen Zeiten in alle Teile von Deutschland gedrungen sind und die Völker mit unsern Gebräuchen und mit unsrer Sprache bekannt gemacht haben. Auch findet die deutsche Nation Geschmack am Reisen und reiset gewöhnlich zuerst nach Frankreich. Fünftens hat die Auswanderung der refugiés unsre Bücher, unsre Manufakturen, unsre Künste, unsern Geschmack, unsre Gebräuche, unsre Sprache nirgend so leicht verbreitet, nirgend so viel und so zahlreiche Kolonien gestiftet als in Deutschland.

Darf ich noch hinzusetzen, daß die große Anzahl von Höfen und Souverains, die den deutschen Staatskörper teilen, auch eine der Ursachen gewesen, die zu Verbreitung des französischen [155] Geschmacks in Deutschland mächtig gewirket. Nichts ist gewisser als dieses.

In Deutschland gibt's große und kleine Höfe, diese in einer großen Anzahl, von jenen acht oder neun. Beide haben hiebei auf verschiedene Art mitgewirket. Die kleinen Souverains, Prinzen, Grafen, Barons setzen eine Ehre darin, wie Personen von niederm Range zu reisen, ja mehr als diese gereiset zu sein. Fast alle gehen nach Frankreich, fast alle bringen ganze Jahre zu Paris oder am Hofe zu, mit einem ansehnlichen Gefolge. Werden sie nicht ihren dort angenommenen Geschmack in ihre Residenzen, d.i. in hundert und hundert Orte in Deutschland, mitnehmen? Diesen teilen sie sodann zuerst ihren kleinen Höfen und Untertanen durch den Einfluß mit, den jeder Souverain, groß oder klein, über die Geister derer hat, die in seiner Dependenz sind. Von da aus verbreitet sich dieser Geschmack mit Hülfe des Triebes, den alle Menschen zur Nachahmung haben, allmählich weiter. Das alles wäre nicht so, wenn diese kleine Souverains nur reiche Hofleute (grands Seigneurs) wären, die nach ihrer Rückkunft aus Frankreich sich in einer Hauptstadt, wie Madrid, London u. f., sich in einer Menge verlören. An einem Hofe, wo ein einzelner für seine Person wenig bedeutet, im ganzen aber ein festgesetzter, bestimmter Ton und Charakter herrschet, wird ein englischer Lord, ein spanischer Grand den Firnis, den er nachahmend auf Reisen an sich gezogen hatte, bald wegtun, und zwar aus ebendemselben Principium der Nachahmung. Er wird sich mit andern, die ihn umgeben, in Unison setzen, oder wenigstens wird sein Restchen fremder Farbe keinen großen Einfluß haben. – Glückes gnug, wenn man ihn nicht lächerlich findet!


2. Folgen der Gallicomanie in Deutschland


Der erste Mißbrauch, der aus diesem verbreiteten französischen Geschmack entspringt, ist, daß man seine eigne Sprache vernachlässigt (woran man gewiß unrecht hat; ich [156] kann es nicht gnug wiederholen!): ein schreiender Mißbrauch. Mit einem Wort, es geht so weit, daß eine ungeheure Menge von Personen sich pikiert, nur französisch zu lesen, und daß sie es endlich so weit bringen, ihre eigne Schriftsteller nicht mehr verstehen zu können. Ich habe, ja, ich habe Deutsche gekannt, Leute von Geist und Verdienst, die das Beste, das wir in unsrer Sprache prosaisch und poetisch haben, mit Nutzen lasen und gestanden, daß sie die Dichter ihrer eignen Sprache durchaus nicht verstünden, sogar behaupteten, daß die Schuld hiebei an den Dichtern, nicht an ihnen selbst liege. Ich mußte ihnen zeigen, daß an ihrer Seite die Schuld sei, da ihnen alle Übung und Bekanntschaft mit einer Sprache fehle, die sich über die gemeine Volkssprache nur etwas erhebet. Sie verwunderten sich, wenn ich ihnen versicherte, daß mich diese Sprache nicht abschreckte, daß sie mir vielmehr leichter würde als die platte, schwatzhafte Prose der Zeitungsschreiber. Diese völlige Unbekanntschaft mit den Dichtern ihrer eignen Nation ist in Deutschland der Fall bei so vielen Personen, daß es ein wahres Wunder ist, daß man in diesem Lande dennoch die Musen kultivieret. Sehr wenige Deutsche also wissen ihre Sprache (außer einem gewissen Geschwätz des täglichen gemeinen Lebens), denn man weiß eine Sprache nicht, deren Dichter man nicht verstehet. Und da der ausschweifende Geschmack an der französischen Literatur daran schuld ist, so wundert mich der Verdruß und Unwille nicht, mit dem ihm mehrere Gelehrte Deutschlands begegnen.

Ein andrer nicht weniger empfindlicher Mißbrauch, der die Deutschen von Einsicht aufbringt, ist die tolle Wut, jeden Augenblick französische Worte und Redarten im Deutschen anzubringen; eine Raserei, die auch die besitzt, die selbst kein Französisch wissen. Unsre Sprache, wer sollte es glauben, die Sprache eines Volks, das der Pedanterei so feind ist, ist zur andringlichsten, unausstehlichsten Pedanterei selbst bei der deutschen Nation worden.

– Alles dies ist bizarr und dient zu nichts Gutem. Beide [157] Sprachen leiden dabei, selbst wenn man die eine und die andre Sprache vollkommen innehat; meistens fährt eine von beiden dabei sehr übel. Ein Jargon wird daraus, unwürdig jedes verständigen und vernünftigen Wesens! In Wahrheit, der Geschmack für die französische Sprache hat der deutschen Nation einen übeln Dienst getan, und zum Unglück darf man kaum hoffen, einem so tief eingewurzelten Übel abzuhelfen. Ich sage dies alles gegen meinen Privatvorteil; denn ich verstehe das Deutsche nur in Büchern.

Die beiden Mißbräuche, deren äußerstes Übermaß ich bemerkt habe, gereichen beiden Sprachen, der erste der deutschen, der zweite der deutschen und französischen unendlich zum Schaden; sie sind aber nichts gegen einen dritten Nachteil, der auf nichts Geringeres ausgeht, als den Geist und Geschmack der Nation selbst im Grunde zu verderben. Und dies geschieht unfehlbar durch die Wahl einer üblen Lectur und durch den schlechten Gebrauch der besten Schriften. Glaube man doch nicht, daß diese übertriebnen Liebhaber der französischen Sprache, die sie radebrechen, ihre wahre Schönheiten und die in ihr geschriebenen schätzbarsten Werke je gekannt haben! Sind sie dazu fähig? Guter Gott! Die Geistesgestalt, die ihnen die Schönheiten ihrer eignen Sprache so ganz und gar mißkenntlich macht, daß sie sie vernachlässigen und auf die erbärmlichste Art verderben, diese Geistesbildung, oder vielmehr diese für jede Sprache, für jede Literatur mißgebildete Schiefheit und Unform, bringt zu unsern Schriftstellern eine Grundlage von Pedanterei, die ein wahrer Antipode von aller Delikatesse des wahren französischen Geschmacks ist. Oder sie bringen einen Leichtsinn zu ihnen, der nur den Namen des schlechtesten, eines falschen französischen Geschmacks verdienet. Wissen sie nur einmal, was es sei, gute Schriftsteller lesen? Wissen sie, daß es nicht zuviel ist, sie zehn-, zwanzig-, dreißigmal mit Geschmack, mit Fleiß und Anstrengung lesen, um sie zu verdauen, um ihren Inhalt in Blut und Saft zu verwandeln? Nichts weniger als [158] dieses. Eine einmalige flüchtige Lektur, und wessen? Einer kleinen Zahl von Werken, die den meisten Ruf [haben], die man sich rühmen will, gelesen zu haben; ein Zwanzig vielleicht, von denen ihnen nichts blieb, selbst die bekanntsten Anspielungen nicht, die in der Gesellschaft oder in den Schriftstellern vorkommen 132. Endlich nur neue Bücher, nur Zeitschriften!

In Frankreich unterscheidet man gute und schlechte Bücher; man tadelt den falschen Geschmack und seufzet über den Verfall der Wissenschaft, indes in Deutschland die Verfechter der französischen Literatur weit entfernt sind, so etwas auch nur zu vermuten. Leute von Geschmack wissen es und schweigen, man schwimmt nicht gern gegen den Strom. Und ich, der ich es zuerst wage, welchen Widersprüchen und Trakasserien setze ich mich aus! Welch eines Muts, welcher Geduld habe ich nötig!

Woher kommt's, daß in England der falsch-französische Geschmack die bösen Wirkungen nicht hervorgebracht hat wie in Deutschland? Die Ursache ist klar. Die Neigung für unsre Literatur und Sprache war da viel gemäßigter. Der Nationalhaß erregte Mitbewerbung; man las nicht sinnlos, man starrte nicht bewundernd an, sondern eiferte nach und voran. Diese Eifersucht, so ungerecht sie manchmal war, hatte für die Nation eine gute Wirkung. Man ließ sich nicht unterjochen, am wenigsten so weit, daß man seine eigne Sprache aufgegeben, die Werke seiner Mitbürger verachtet und diese durch den Mangel an Aufmerksamkeit für ihre Bemühungen ganz mutlos gemacht hätte, wie man es in Deutschland getan hat; und am Ende wozu getan hat? Um eine fremde Sprache schlecht zu verstehen, sie noch schlechter zu sprechen und in ihr nichts als Torheiten zu lesen. Schöner Gewinn dafür, daß man in seinem Lande ein doppelter Barbar wird! Lohnte dies der Mühe, sich mit unsrer Literatur zu überstopfen, gesetzt, diese hätte auch [159] tausendmal mehr Verdienst, als man ihr zugesteht, um solchen Preis?

Verhehlen kann man sich's also auch nicht, daß der Fortgang beider Nationen, der englischen und deutschen, sich wie ihr verschiedenes Betragen verhalte. Hier entscheidet die Tat; ich will und kann nicht entscheiden. Daß die englische Literatur die deutsche an Verdienst übertreffe, erweiset sich augenscheinlich dadurch, daß man in Deutschland, wie in ganz Europa, englische Werke sucht und lieset, dahingegen England sowohl als ganz Europa um deutsche Werke sehr unbekümmert ist. Gegen diesen Beweis läßt sich nichts einwenden; die deutsche Nation gibt hier ihre Stimme wider sich selbst. – Übrigens bin ich weit entfernt zu glauben, daß es zwischen den Nationen wesentliche Verschiedenheit, unabhängig von ihrer Geisteskultur gebe. Der Deutsche wird Delikatesse zeigen wie der Franzose, Tiefsinn und Erhabenheit wie der Engländer, wenn er auf dem rechten Wege sein wird; er ist aber noch nicht darauf. Und die Ursache davon liegt, wie ich glaube, in seiner Leidenschaft nicht für die französische allein, sondern für jede Sprache, sobald sie nur nicht die seinige ist Nur in dieser falschen und schiefen Neigung liegt es. Seine Sprache ist jedes Ausdrucks empfängig; warum bauet er sie nicht an, wie er sollte? Meinethalb lerne er auch Französisch, nur auf eine Art, die ihm Ehre bringe und nicht gar lächerlich macht Er halte sich in ihr an die unsterblichen Werke, die den Ruhm Frankreichs ausmachen, und nähre sich in ihnen mit Geschmack. Geistige wie körperliche Nahrung, wenn sie gedeihen soll, will gekostet, genossen werden. Man muß zu ihr von einer Begierde, einem Hunger getrieben werden, der nicht erkünstelt, nicht der Appetit einer verdorbenen Gesundheit sei. Die deutsche Nation, im Grund eine Nation von festem und edeln Sinn (ein fester Sinn aber haßt Frivolität, so wie ein edler Sinn jedes Niederträchtigen Feind ist); um diesen lobenswürdigen Eigenschaften treu zu bleiben, lasse der Deutsche fortan und immer sowohl jene nichtswürdige falschschimmernde französische Schöngeisterei [160] als jene unförmliche Plattheiten, deren vieljährige Geltung ihm gnugsam zeiget, in welchem Irrtum er sei und mit welchem Übel, von welchem er nicht die geringste Ahnung hat, er behaftet gewesen. Soweit Prémontval. 133

111.

Eine viel tiefere Wunde hat uns die Gallicomanie (Franzosensucht müßte sie deutsch heißen) geschlagen, als der gute Prémontval angibt. An seinem Ort konnte er nicht mehr sagen und hatte gewiß schon zuviel gesaget.

Wenn Sprache das Organ unsrer Seelenkräfte, das Mittel unsrer innersten Bildung und Erziehung ist, so können wir nicht anders als in der Sprache unsres Volks und Landes gut erzogen werden; eine sogenannte französische Erziehung (wie man sie auch wirklich nannte) in Deutschland muß deutsche Gemüter notwendig mißbilden und irreführen Mich dünkt, dieser Satz stehe so hell da als die Sonne am Mittage.

Von wem und für wen ward die französische Sprache gebildet? Von Franzosen, für Franzosen Sie druckt Begriffe und Verhältnisse aus, die in ihrer Welt, im Lauf ihres Lebens liegen; sie bezeichnet solche auf eine Weise, wie sie ihnen dort jede Situation, der flüchtige Augenblick und die ihnen eigne Stimmung der Seele in diesem Augenblick angibt. Außer[161] diesem Kreise werden die Worte halb oder gar nicht verstanden, übel angewandt oder sind, wo die Gegenstände fehlen, gar nicht anwendbar, mithin nutzlos gelernet. Da nun in keiner Sprache so sehr die Mode herrscht als in der französischen, da keine Sprache so ganz das Bild der Veränderlichkeit, eines wechselnden Farbenspiels in Sitten, Meinungen, Beziehungen ist als sie, da keine Sprache wie sie leichte Schatten bezeichnet und auf einem Farbenklavier glänzender Lufterscheinungen und Strahlenbrechungen spielet, was ist sie zur Erziehung deutscher Menschen inihrem Kreise? Nichts, oder ein Irrlicht. Sie läßt die Seele leer von Begriffen oder gibt ihr für die wahren und wesentlichen Beziehungen unsres Vaterlandes falsche Ausdrücke, schiefe Bezeichnungen, fremde Bilder und Affektationen. Aus ihrem Kreise gerückt,muß sie solche, und wäre sie eine Engelssprache, geben. Also ist es gar nicht vermessen zu sagen, daß sie unsrer Nation, in den Ständen, wo sie die Erziehung leitete oder vielmehr die ganze Erziehung war, den Verstand verschoben, das Herz verödet, überhaupt aber die Seele an dem Wesentlichsten leer gelassen hat, was dem Gemüt Freude an seinem Geschlecht, an seiner Lage, an seinem Beruf gibt; und sind dies nicht die süßesten Freuden? haben Sie je den Kurs einer deutsch-französischen Erziehung kennengelernt? Für Deutsche eine schöne Einöde und Wüste! –

Und doch bestehet der ganze Wert eines Menschen, seine bürgerliche Nutzbarkeit, seine menschliche und bürgerliche Glückseligkeit darin, daß er von Jugend auf den Kreis seiner Welt, seine Geschäfte und Beziehungen, die Mittel und Zwecke derselben, genau und aufs reinste kennenlerne, daß er über sie im eigensten Sinn gesunde Begriffe, herzliche fröhliche Neigungen gewinne und sich in ihnen ungestört, unverrückt, ohne ein untergelegtes fremdes und falsches Ideal, ohne Schielen auf auswärtige Sitten und Beziehungen übe. Wem dies Glück nicht zuteil ward, dessen Denkart wird verschraubt, sein Herz bleibt kalt für die Gegenstände, die ihn umgeben; oder vielmehr von einer fremden Buhlerin [162] wird ihm in jugendlichem Zauber auf lebenslang sein Herz gestohlen.

Hat Ihnen das Glück nie einen deutsch-französischen Liebesbriefwechsel zugeführet? Vielleicht die schönste Blumenlese auswärtiger Empfindungen; auf deutschem Boden dürres Heu mit verwelkten Blumen. Jetzt muß man lachen, jetzt sich verwundern, am Ende aber möchte man über die nicht ausgebrannte, sondern so früh ausgespülte, flache Sentimentalität weinen.

Kennen Sie Swifts Tea-table Miscellanies? Gehen Sie in die galanten Zirkel der deutsch-französischen Konversation und suchen Gedanken, suchen wahre und angenehme Unterhaltung; Sie werden den alten Swift in Leerheit sowohl als anmutigen Fortleitungen des Gesprächs übertroffen finden. »Deutsch spreche ich nicht in dieser Gesellschaft: im Deutschen sagt man immer zuviel, und hier will ich nichts sagen. Wir zählen einander Zahlpfennige zu; die deutsche Sprache will wahre Münze. Sie ist so ehrlich, so herzlich wie eine Bauerdirne. Wir sind hier in guter, d.i. leerer Gesellschaft.« Ein solches Leben, ein solcher Ton der Seele, eine Gewohnheit dieser Art, von Kindheit auf sich zur Form gemacht, sind sie nicht traurig?

Was haben wir denn in der Welt Schätzbareres als die wahre Welt wirklicher Herzen und Geister? Daß wir unsre Gedanken und Gefühle in ihrer eigensten Gestalt anerkennen und sie andern auf die treueste, unbefangenste Art äußern, daß andre dagegen unsihre Gedanken, ihre Empfindungen wiedergeben, kurz, daß jeder Vogel singe, wie die Natur ihn singen hieß? Ist dies Licht erlöscht, diese Flamme erstickt, dies ursprüngliche Band zwischen den Gemütern zerrissen oder verzauset; statt des allen sagen wir auswendig gelernte, fremde, armselige Phraseologien her: o des Jammers! der ewigen Flachheit und Falschheit! Eine geist- und herzaustrocknende Dürre und Kälte. Den eigentlichen Besitzern dieser Sprache gnügt solche; denn sie leben in ihr, sie beleben [163] sie mit ihrer fröhlichen Leichtigkeit und sprachseligen Anmut. Wir Deutsche aber, mit unsrer Leichtigkeit? mit unserm französischen Scherz? O alle Grazien und Musen! –

Jedermann muß bemerkt haben, daß es im ganzen Europa keine verschiedenere Denk- und Mundarten gebe als die französische und deutsche, so nachbarlich sie wohnen. Aus keiner Sprache ist so schwer zu übersetzen als aus der französischen, wenn der deutschen Sprache ihr Recht, ihre ursprüngliche Art bleiben soll; vollends das Eigenste derselben, ihr Geist und Scherz, ihre flüchtigen Malereien und Bezeichnungen, Spiele der Phantasie und der leichtesten Bemerkung sind uns ganz fremde. Wie schwerfällig geht die französische Komödie auf unsern Theatern einher! wie hölzern klingen im Deutschen ihre fröhlichsten Gesellschaftslieder! Und ihre Versifikation, der Ton ihrer Contes à rire, ihre tausend Übereinkommnisse über das Schickliche und Unschickliche im Ausdruck (welches alles sie Regeln des Geschmacks zu nennen belieben): wem ist es fremder als der deutschen Sprache und Denkart? Viel leichter können wir uns unter Griechen und Römer, unter Spanier, Italiener und Engländer versetzen als in ihren Kreis anmutiger Frivolitäten und Wortspiele. Geschieht dies endlich, zwingen wir uns von Jugend an diese Form auf, gelangen wir mit saurer Mühe zu der Vortrefflichkeit, wozu wenige gelangen, französisch zu denken, zu scherzen und zu amphibolisieren: was haben wir gewonnen? Daß der Franzose den deutschen Ungeschmack, die tudeske Muse, lobend verhöhnet und wir unsre natürliche Denkart einbüßten. Schwerlich gibt es eine schimpflichere Sklaverei als die Dienstbarkeit unter französischem Witz und Geschmack, in französischen Wortfesseln.

Und sie macht uns andrer, stärkerer Eindrücke so unfähig, so in uns selbst erstorben! Sagen Sie einer flachen Seele von deutsch-französischer Erziehung das Stärkste, das Beste in einer andern Sprache: man versteht Sie französisch. Lassen Sie es sich wieder sagen, und Sie werden sich vor Ihrem eignen Gedanken oft schämen. Die sprachrichtigsten Franzosen [164] wie interpretieren sie die Alten? wie übersetzen sie aus neueren Sprachen? Läse sich Horaz in einer französischen Übersetzung, was würde er sagen? Da nun die deutsche Sprache (ohne alle Ruhmredigkeit sei es gesagt) gleichsam nur Herz und Verstand ist und statt feiner Zierde Wahrheit und Innigkeit liebet, so zerstäubt ihr Nachdruck einem gemeinen französischen Ohr wie der fallende Strom, der sich in Nebel auflöset. Wie manchen hohen Begriff, wie manches edle Wort auch der alten Römersprache hat die gallische Eitelkeit geschminkt, entnervt, verderbet!

Wenn sich nun, wie offenbar ist, durch diese törichte Gallicomanie in Deutschland seit einem Jahrhunderte her ganze Stände und Volksklassen voneinander getrennt haben; mit wem man deutsch sprach, der war Domestique (nur mit denen von gleichem Stande sprach man französisch und foderte von ihnen diesen Jargon als ein Zeichen des Eintritts in die Gesellschaft von guter Erziehung, als ein Standes-, Ranges- und Ehrenzeichen); zur Dienerschaft sprach man, wie man zu Knechten und Mägden sprechen muß, ein Knecht- und Mägdedeutsch, weil man ein edleres, ein besseres Deutsch nicht verstand und über sie in dieser Denkart dachte; wenn dies ein ganzes reines Jahrhundert ungestört, mit wenigen Ausnahmen, so fortging, dörfen wir uns wohl wundern, warum die deutsche Nation so nachgeblieben, so zurückgekommen und ganzen Ständen nach so leer und verächtlich worden ist, als wir sie leider nach dem Gesamturteil andrer Nationen im Angesicht Europas finden? Bis auf die Zeiten Maximilians war die deutsche Nation, so oft auch ihre Ehrlichkeit gemißbraucht ward, dennoch eine geehrte Nation, standhaft in ihren Grundsätzen, bieder in ihrer Denkart und Handlungsweise. Seit fremde Völker mit ihren Sitten und Sprachen sie beherrschten, von Karl dem Fünften an, ging sie hinunter. Die Reformation trennte, das politische Interesse trennte. Zuerst kam spanisches Cerimoniel zu uns; bald schrieben die Fürsten, Prinzen, Generale italienisch, bis seit dem glorreichen Dreißigjährigen Kriege nach und nach fast das ganze Reich [165] an Höfen und in den obern Ständen eine Provinz des französischen Geschmacks ward. Hinweg war jetzt in diesen Ständen der deutsche Charakter! Frankreich ward die glückliche Geburtsstätte der Moden, der Artigkeit, der Lebensweise. An Höfen bekam alles andre Namen; in manchen Ländern ward die ganze Landesverwaltung französisch eingerichtet. Den Landesherrn, die voreinst deutsche Fürsten und Landesverwalter waren, ward jetzt wohl, wenn sie sich unter ihresgleichen durch eine fremde Sprache in einem andern Lande finden konnten und an Geschäfte nur von einer abgesonderten Klasse Menschen (der Nation, die sie nährte,) in grobem Deutsch erinnert werden dorften. Die Edeln und Ritter folgten ihnen; der weibliche Teil unsrer,nicht mehr unsrer Nation (denn von den Müttern hängt doch fast aller gute oder schlechte Geschmack der Erziehung ab) übertraf beide. So geschah, was geschehen ist; Adel und französische Erziehung wurden eins und dasselbe; man schämte sich der deutschen Nation, wie man sich eines Fleckens in der Familie schämet. Deutsche Bücher, deutsche Literatur in diesen obern Ständen – wie niedrig, wie schimpflich! Der mächtigste, wohlhabendste, einflußreichste Teil der Nation war also für die tätige Bildung und Fortbildung der Nation verloren; ja, er hinderte diese, wie er sie etwa hindern konnte, schon durch sein Dasein. Denn wenn man nur mit Gott und mit seinem Pferde deutsch sprach, so stellten sich aus Pflicht und Gefälligkeit auch die, mit denen man also sprach, als Pferde.

Werden Sie nicht müde, meine Jeremiade auszuhören; ich schreibe sie nicht aus Haß und Groll, wozu ich persönlich nie die mindeste Ursache gehabt habe, sondern mit reinem Gemüt, aus dem weltbekannten Buch der Zeiten, und – sie ist bald zu Ende.

Nachdem also der Teil der Nation, der sich das Haupt und Herz derselben nennet, ihr entwendet war, was sollten die armen Schriftsteller tun? Sie betrugen sich auf verschiedene Weise Ein Teil fuhr fort, lateinisch zu schreiben; und wiewohl der deutschen Sprache hiedurch ihr Beitrag zur Kultur [166] abging, so gewann die Wissenschaft dennoch mehr, als wenn sie damals, in der seit Luther sehr verfallenen Sprache, deutsch geschrieben hätten. Auch anmutige Sachen, auch Gedichte schrieben sie lateinisch, deren wir aus den beiden letztvergangnen Jahrhunderten viele gute, einige vortreffliche haben. Andre, edle Gemüter, suchten die deutsche Sprache emporzubringen; sie ahmten aus fremden Sprachen nach, was sich nachahmen ließ; so erschienen Opitz, Logau und andre Schlesier, die wenigstens verhinderten, daß die deutsche Sprache nicht ganz und gar zum pöbelhaften Streitgewäsch damaliger Zeit oder zur erbärmlichen Kanzleisprache herabsank. Einige Fürsten 134 hatten ein Ohr für sie und suchten ihr durch Gesellschaften, sogar durch eigne Arbeiten aufzuhelfen. Andre, schlechtere Gesellen, ahmten den französischen Witz nach, und so entstand jene Zunft Schulfüchse, die nicht nur beide Sprachen erbärmlich mengten, sondern auch, um sich ihren ältern Brüdern gefällig zu machen, galant wie Voiture, affektiert wie Balzac, erhaben wie Corneille schrieben. Wie schämt sich ein Deutscher, der, nicht französisch erzogen, altdeutscher Scham noch fähig ist, wenn er die deutsch-französischen witzigen Schriften dieses Zeitraums mit der Denk- und Schreibart Kaiserbergs, Luthers, Hans Sachse (in seinen prosaischen Aufsätzen 135), überhaupt mit allem, was vor dem Ausgange des sechzehnten Jahrhunderts geschrieben ward, vergleichet! – Endlich blieb uns nichts als die Flüssigkeit; [167] und noch jetzt rühmen sich alle deutsche Kanzleien, die regensburgische nicht ausgenommen, daß sie, der wahren Courtoisie getreu, außerordentlich einnehmend, kurz und flüssig schreiben. Wer sollte es glauben? Unsre Kanzlei-Courtoisie, meinen wir, ist echt französisch.

Da tat sich endlich (denn die Barmherzigkeit wollte, daß es mit uns nicht gar aus würde) ferne vom Hof- und Schulgeschmack hie und da einer hervor, der glaubte, daß auch in Deutschland die Sonne scheine und die Natur regiere. Brockes wählte den Garten zu seinem Hofe; Bodmer stahl sich über die Alpen und kostete einen Atemzug italienischer Luft; kurz, man wagte den kühnen Gedanken, daß Deutschland auch außer den französierenden Höfen etwas sei, und schrieb und stritt und dichtete, so gut man konnte. Für wen? Darauf ward anfangs nicht gerechnet; es schloß sich aber bald ein Kreis von Freunden und Feinden. Die echten Gottschedianer waren jetzt hinter Neukirch, Heräus und König der Hofgeschmack; sie schrieben flüssig; was irgend mystère und Tibère reimen konnte, war für sie. Gewiß, wir sind undankbar gegen den unbelohnten und unbelohnbaren Eifer, von dem damals einige bessere Köpfe für einen besseren Geschmack brannten. Welche Mühe übernahmen sie! welchen Befehdungen setzten sie sich aus; und wie wenige Lust, wie wenig äußere Vorteile sie dabei eingeerntet haben, erweiset die Privatgeschichte ihres Lebens.

Nachschrift. Neulich sind mir einige Blätter zu Händen gekommen, der Auszug aus den Schriften eines Mannes, der von 1729 bis 1781 lebte und gewiß mehr als jemand dazu beigetragen hat, daß Deutschland sich einst (wir wollen es hoffen) rühmen kann, einen eigenen Geschmack gewonnen zu haben. Die Blätter nennen sich


Funken:


wahrscheinlich weil der, den sie redend einführen,eine seiner Schriften selbst fermenta cognitionis nannte; überdem war [168] der Name Funken (Scintillae) in den mittleren Zeiten sehr gewöhnlich. Mir sind sie gewesen, was sie dem Sinn des Sammlers nach sein sollten, ein Charakterbild vom Leben des vielverdienten Mannes, und ich stelle mir einen Jüngling des neunzehnten Jahrhunderts vor, der, mit klassischen Kenntnissen in der Schule ausgerüstet, ehe er die Akademie beschreitet, diese Funken, nachher auch mit Ordnung und Wahl die mannigfaltigen Schriften dieses vielverdienten, gewandten Schriftstellers selbst lieset; was wird er sagen? – »Wie,« wird er sagen, »lebte dieser Mann in einer Wüste? Bei seinem mühsamen, für sein Vaterland rühmlichen, gleichsam all bestrebenden Gange war denn niemand, der ihm half, der seinen Ideen, deren Nützlichkeit jedermann lobpries, einen Spielraum, seinen Fähigkeiten, die jedermann anerkannte, Wirksamkeit und ihm nur einige Bequemlichkeit verschaffte diese Ideen auszubilden, auszuführen?« – Ich wage es nicht, diese Fragen zu beantworten; mir ist's gnug, den männlichen Verstand, die biedere Denkart zu bemerken, die sich in jedem seiner Lebenszeichen äußert. Heil dem Jünglinge, der sich diese Bogen zum Kanon seines Geschmacks wählet und zu gleich frühe lernet, was er zu tun und zu vermeiden, endlich auch, was er von seinem Vaterlande zu erwarten habe.


Funken aus der Asche eines Toten


1.


»In dem engen Bezirk einer klostermäßigen Schule waren Theophrast, Plautus und Terenz meine Welt, die ich mit aller Bequemlichkeit studierte. – Wie gern wünschte ich mir diese Jahre zurück, die einzigen, in welchen ich glücklich gelebt habe.« 136


[169] 2.


»Ich kam jung von Schulen, in der gewissen Überzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. Stets bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäftigt, dachte ich ebensoselten an die übrigen Menschen als vielleicht an Gott. Doch es dauerte nicht lange, so gingen mir die Augen auf. Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meinesgleichen. Guter Gott! was wurde ich für eine Ungleichheit zwischen mir und andern gewahr! Ich empfand eine Scham, die ich niemals empfunden habe, und die Wirkung derselben war der feste Entschluß, mich hierin zu bessern, es koste, was es wolle.« 137


3.


»Mein Körper war durch Leibesübungen geschickter geworden, und ich suchte Gesellschaft, um auch leben zu lernen. Ich legte die ernsthaften Bücher eine Zeitlang auf die Seite, um mich in denjenigen umzusehen, die weit angenehmer und vielleicht ebenso nützlich sind. Die Komödien kamen mir zuerst in die Hand. Es mag unglaublich vorkommen, wem es will: mir haben sie große Dienste getan. Ich lernte daraus eine artige und gezwungene, eine grobe und natürliche Aufführung unterscheiden. Ich lernte wahre und falsche Tugenden daraus kennen und die Laster ebensosehr wegen ihres Lächerlichen als wegen ihres Schändlichen fliehen. Ich lernte mich selbst kennen, und seit der Zeit habe ich gewiß über niemanden mehr gelacht und gespottet als über mich selbst.« 138


[170] 4.


»Man darf mich nur in einer Sache loben, wenn man haben will, daß ich sie mit mehrerem Ernst treiben soll. Ich sann daher Tag und Nacht, wie ich in einer Sache eine Stärke zeigen möchte, in der, wie ich glaubte, noch kein Deutscher sich sehr hervorgetan hat.« 139


5.


»Wenn man nicht versucht, welche Sphäre uns eigentlich zukommt, so wagt man sich öfters in eine falsche, wo man sich kaum über das Mittelmäßige erheben kann, da man sich in einer andern vielleicht zu einer bewundernswürdigen Höhe hätte schwingen können. Meine Neigung war, mich in allen Arten der Poesie zu versuchen, und ward müde, mich bloß in Kleinigkeiten zu üben.« 140


6.


»Seneca gibt den Rat: ›Omnem operam impende, ut te aliqua dote notabilem facias.‹ 141 Aber es ist sehr schwer, sich in einer Wissenschaft notabel zu machen, worin schon allzu viele exzelliert haben. Habe ich also sehr übel getan, daß ich zu meinen Jugendarbeiten etwas gewählt, worin noch sehr wenige meiner Landsleute ihre Kräfte versucht haben? Und wäre es nicht töricht, eher aufzuhören, als bis man Meisterstücke von mir gelesen hatt?« 142


7.


»Man darf nicht glauben, daß ich meine Lieder Kleinigkeiten nennte, damit ich der Kritik mit Höflichkeit den Dolch aus den Händen winden möchte. Ich erklärte, daß ich der erste sein wolle, zu verdammen, was sie verdammt; sie, der [171] zum Verdruß ich wohl einige mittelmäßige Stücke könnte gemacht haben, der zum Trotz aber ich nie diese mittelmäßige Stücke für schön erkennen würde Ich habe geändert, ich habe weggeworfen. Das Elende streicht sich selbst durch, und schlechte Verse, die niemand lieset, sind so gut, als wären sie nicht gemacht worden.« 143


8.


»Den wenigen Oden gebe ich nur mit Zittern diesen Namen. Sie sind zwar von einem stärkern Geist als die Lieder und haben ernsthaftere Gegenstände; allein ich kenne die Muster in dieser Art gar zu gut, als daß ich nicht einsehen sollte, wie tief mein Flug unter dem ihrigen ist. Und wenn zum Unglück nur das Oden sein sollten, was ich, der schmalen Zeilen ohngeachtet, für Lehrgedichte halte, die man anstatt der Paragraphen in Strophen eingeteilt hat, so werde ich vollends Ursache mich zu schämen haben.« 144


9.


»In Sinngedichten erkenne ich keinen andern Lehrmeister als den Martial; es müßten denn die sein, die er für die seinigen erkannt hat und von welchen uns die Anthologie einen so vortrefflichen Schatz derselben aufbehalten. Daß ich zu beißend und zu frei darin bin, wird man mir wohl nicht vorwerfen können, ob ich gleich beinah in der Meinung stehe, daß man beides in Sinnschriften nicht gnug sein kann.« 145


[172] 10.


»Man nenne mir doch diejenigen Geister, auf welche die komische Muse Deutschlands stolz sein könnte! Was herrscht auf unsern gereinigten Theatern? Ist es nicht lauter ausländischer Witz, der, sooft wir ihn bewundern, eine Satire über den unsrigen macht? Aber wie kommt es, daß nur hier die deutsche Nacheiferung zurückbleibt? Sollte wohl die Art selbst, wie man unsre Bühne hat verbessern wollen, daran schuld sein? Sollte wohl die Menge von Meisterstücken, die man auf einmal, besonders den Franzosen abborgte, unsre ursprünglichen Dichter niedergeschlagen haben? Man zeigte ihnen auf einmal, so zu reden, alles erschöpft und setzte sie auf einmal in die Notwendigkeit, nicht bloß etwas Gutes, sondern etwas Besseres zu machen. Dieser Sprung war ohne Zweifel zu arg; die Kunstrichter konnten ihn wohl befehlen, aber die, die ihn wagen sollten, blieben aus.« 146


11.


»Wenn ich von den allweisen Einrichtungen der Vorsehung weniger ehrerbietig zu reden gewohnt wäre, so würde ich keck sagen, daß ein gewisses neidisches Geschick über die deutschen Genies, welche ihrem Vaterlande Ehre machen könnten, zu herrschen scheine. Wie viele derselben fallen in ihrer Blüte dahin! Sie sterben, reich an Entwürfen und schwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Größe nichts als die Ausführung fehlt. Sollte es aber schwer sein, eine natürliche Ursache hievon anzugeben? Wahrhaftig, sie ist so klar, daß sie nur derjenige nicht sieht, der sie nicht sehen will. Nehmen Sie an, daß ein solches Genie in einem gewissen Stande geboren wird, der, ich will nicht sagen, der elendeste sondern nur zu mittelmäßig ist, als daß er noch zu der sogenannten goldnen Mittelmäßigkeit zu rechnen wäre. Und [173] Sie wissen wohl, die Natur hat einen Wohlgefallen dran, aus ebendiesem immer mehr große Geister hervorzubringen als aus irgendeinem andern. Nun überlegen Sie, was für Schwierigkeiten dieses Genie in einem Lande als Deutschland, wo fast alle Arten von Ermunterungen unbekannt sind, zu übersteigen habe. Bald wird es von dem Mangel der nötigsten Hülfsmittel zurückgehalten, bald von dem Neide, welcher die Verdienste auch schon in ihrer Wiege verfolgt, unterdrückt, bald in mühsamen und seiner unwürdigen Geschäften entkräftet. Ist es ein Wunder, daß es nach aufgeopferten Jugendkräften dem ersten starken Sturme unterliegt? Ist es ein Wunder, daß Armut, Ärgernis, Kränkung, Verachtung endlich über einen Körper siegen, der ohnedem der stärkste nicht ist, weil er kein Körper eines Holzhackers werden sollte. In diesem Fall war M., oder es ist nie einer darin gewesen.« 147

»– Das ist sein Lebenslauf. Ein Lebenslauf, ohne Zweifel, in welchem das Ende das Unglücklichste nicht ist. Und doch behaupte ich, daß er mehr darin geleistet hat, als tausend andere in seinen Umständen nicht würden geleistet haben. Der Tod hat ihn früh, aber nicht so früh überrascht, daß er keinen Teil seines Namens vor ihm in Sicherheit hätte bringen können. – Er gewinnet im Verlieren und ist vielleicht eben jetzt beschäftiget, mit erleuchteten Augen zu untersuchen, ob Newton glücklich geraten und Bradley genau gemessen habe. Er weiß ohne Zweifel schon mehr, als er jemals auf der Welt hätte begreifen können.« 148


12.


»Ein gutes Genie ist nicht allemal ein guter Schriftsteller, und es ist oft ebenso unbillig, einen Gelehrten nach seinen Schriften zu beurteilen als einen Vater nach seinen Kindern. Der rechtschaffenste Mann hat oft die nichtswürdigsten und der klügste die dümmsten; ohne Zweifel weil dieser nicht die gelegenste Stunde zu ihrer Bildung und jener nicht den [174] nötigen Fleiß zu ihrer Erziehung angewendet hat. Der geistliche Vater kann oft in ebendiesem Fall sein, besonders wenn ihn äußerliche Umstände nötigen, den Gewinnst seine Minerva und die Notwendigkeit seine Begeisterung sein zu lassen. Ein solcher ist alsdann meistenteils gelehrter als seine Bücher, anstatt daß die Bücher derjenigen, welche sie mit aller Muße und mit Anwendung aller Hülfsmittel ausarbeiten können, nicht selten gelehrter als ihre Verfasser zu sein pflegen.« 149


13.


»Warum gibt es gewisse, schwer zu vergnügende Kunstrichter, die zum Lustspiel eine anständige Dichtung, wahre Sitten, eine männliche Moral, eine feine Satire, eine lebhafte Unterredung und, ich weiß nicht, was sonst noch mehr verlangen? – Und ich weiß überhaupt nicht, was ich von der Satire sagen soll, die sich an ganze Stände wagt. Doch Galle, Ungerechtigkeit und Ausschweifung haben nie ein Buch um die Leser gebracht, wohl aber manchem Buche zu Lesern verholfen.« 150


14.


»Den schönen Wissenschaften sollte nur ein Teil unsrer Jugend gehören; wir haben uns in wichtigern Dingen zu üben, ehe wir sterben. Ein Alter, der seine ganze Lebenszeit über nichts als gereimt hat, und ein Alter, der seine ganze Lebenszeit über nichts getan, als daß er seinen Atem in ein Holz mit Löchern gelassen: von solchen Alten zweifle ich sehr, ob sie ihre Bestimmung erreicht haben.« 151


[175] 15.


»Auch Freunde sind Güter des Glücks, die ich lieber finden als suchen will.« 152

16.


»Gesegnet sei Ihr Entschluß, sich selbst zu leben. Um seinen Verstand auszubreiten, muß man seine Begierden einschränken. Wenn Sie leben können, so ist es gleichviel, ob Sie von mäßigen oder großen Einkünften leben. Wieviel lieber wollte ich künftigen Sommer mit Ihnen und unserm Freunde zubringen als in England! Vielleicht lerne ich da weiter nichts, als daß man eine Nation bewundern und hassen kann.« 153


17.


»O was ist unser Grenadier 154 für ein vortrefflicher Mann! Zu einer solchen unanstößigen Verbindung der erhabensten und lächerlichsten Bilder war nur er geschickt! Nur er konnte die Strophen


Gott aber wog bei Sternenklang –

und

Dem Schwaben, der mit einem Sprung –


machen und sie beide in ein Ganzes bringen. Was wollte ich nicht darum geben, wenn man das ganze Lied ins Französische übersetzen könnte! Aber wollen wir unsern Grenadier nicht nun bald avancieren lassen? – Versichern Sie ihn, daß ich von Tag zu Tage ihn mehr bewundere und daß er alle [176] meine Erwartung so zu übertreffen weiß, daß ich das Neueste, was er gemacht hat, immer für das Beste halten muß. Ein Bekenntnis, zu dem mir noch kein einziger Dichter Gelegenheit gegeben bat.« 155


18.


»Der Grenadier erlaubt es doch noch, daß ich eine Vorrede dazu machen darf? Ich habe Verschiednes von den alten Kriegsliedern gesammlet; zwar ungleich mehr von den Kriegsliedern der Barden und Skalden als der Griechen. 156 Der alten Siegslieder wegen habe ich sogar das alte Heldenbuch durchgelesen, und diese Lektüre hat mich hernach weiter auf die zwei sogenannten Heldengedichte aus dem schwäbischen Jahrhunderte gebracht, welche die Schweizer jetzt herausgegeben haben. Ich habe verschiedene Züge daraus angemerkt, die wenigstens von dem kriegerischen Geiste zeugen, der unsre Vorfahren zu einer Nation von Helden machte. – Die griechische Grabschrift, die ich dem Grenadier gesetzt habe, 157sind zwei alte Verse, die bereits Archilochus von sich gesagt hat: ›Ich bin ein Knecht des enyalischen Königs (des Mars) und habe die liebliche Gabe der Musen gelernt.‹ Würden sie nicht auch vortrefflich unter das Bildnis unsers Kleists passen?« 158


19.


»Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner Denkungsart, das allerletzte ist, wornach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrte, daß [177] ich ein Weltbürger sein sollte. – Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es tut mir leid, daß ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muß) keinen Begriff, und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.« 159


20.


»Der Krieg hat seine blutigste Bühne unter uns aufgeschlagen, und es ist eine alte Klage, daß das zu nahe Geräusch der Waffen die Musen verscheucht. Verscheucht es sie nun aus einem Lande, wo sie nicht recht viele, recht feurige Freunde haben, wo sie ohnedies nicht die beste Aufnahme erhielten, so können sie auf eine lange Zeit verscheucht bleiben. Der Friede wird ohne sie wiederkommen; ein trauriger Friede, von dem einzigen melancholischen Vergnügen begleitet, über verlorne Güter zu weinen.« 160


21.


»Man behauptet, der Kunstrichter müsse nur die Schönheiten eines Werks aufsuchen und die Fehler desselben eher bemänteln als bloßstellen In zwei Fällen bin ich selbst der Meinung. Einmal, wenn der Kunstrichter Werke von einer ausgemachten Güte vor sich hat, die besten Werke der Alten z. E. Zweitens, wenn der Kunstrichter nicht sowohl gute Schriftsteller als nur bloß gute Leser bilden will. 161 Die Güte eines Werks beruhet nicht auf einzeln Schönheiten; diese einzelne Schönheiten müssen ein schönes Ganze ausmachen, [178] oder der Kenner kann sie nicht anders als mit einem zürnenden Mißvergnügen lesen. Nur wenn das Ganze untadelhaft befunden wird, muß der Kunstrichter von einer nachteiligen Zergliederung abstehen und das Werk so wie der Philosoph die Welt betrachten.« 162


22.


»Kommt es denn bei unsern Handlungen bloß auf die Vielheit der Bewegungsgründe an? Beruhet nicht weit mehr auf der Intention derselben? Kann nicht ein einziger Bewegungsgrund, dem ich lange und ernstlich nachgedacht habe, ebensoviel ausrichten als zwanzig Bewegungsgründe, deren jedem ich den zwanzigsten Teil von jenem Nachdenken geschenkt habe?«


23.


»Die edelsten Wörter sind eben deswegen, weil sie die edelsten sind, fast niemals zugleich diejenigen, die uns in der Geschwindigkeit, besonders im Affekte, zuerst beifallen. Sie verraten die vorhergegangene Überlegung, verwandeln die Helden in Deklamatoren und stören dadurch die Illusion. Es ist daher sogar ein großes Kunststück eines tragischen Dichters, wenn er besonders die erhabensten Gedanken in die gemeinsten Worte kleidet und im Affekt nicht das edelste, sondern das nachdrücklichste Wort, wenn es auch schon einen etwas niedrigen Nebenbegriff mit sich führen sollte, ergreifen läßt. Von diesem Kunststücke werden aber freilich diejenigen [179] nichts wissen wollen, die nur an einem korrekten Racine Geschmack finden und so unglücklich sind, keinen Shakespeare zu kennen.« 163


24.


»Überhaupt glaube ich, daß der Name eines wahren Geschichtschreibers nur demjenigen zukommt, der die Geschichte seiner Zeiten und seines Landes beschreibt. Denn nur der kann selbst als Zeuge auftreten und darf hoffen, auch von der Nachwelt als ein solcher geschätzt zu werden, wenn alle andre, die sich nur als Abhörer der eigentlichen Zeugen erweisen, nach wenig Jahren von ihresgleichen gewiß verdrängt sind. Die süße Überzeugung von dem gegenwärtigen Nutzen, den sie stiften, muß sie allein wegen der kurzen Dauer ihres Ruhms schadlos halten. Und kann ein ehrlicher Mann mit dieser Schadloshaltung auch nicht zufrieden sein?« 164


25.


»Krank will ich wohl einmal sein, aber sterben will ich deswegen noch nicht. Alle Veränderungen unseres Temperaments, glaube ich, sind mit Handlungen unsrer animalischen Ökonomie verbunden. Die ernstliche Epoche meines Lebens nahet heran! Ich beginne ein Mann zu werden und schmeichle mir, daß ich in diesem hitzigen Fieber den letzten Rest meiner jugendlichen Torheiten verraset habe. Glückliche Krankheit! Aber sollten sich wohl Dichter eine athletische Gesundheit wünschen? Sollte der Phantasie, der Empfindung nicht ein gewisser Grad von Unpäßlichkeit weit zuträglicher sein? Wünschen Sie mich also gesund, aber womöglich mit einem kleinen Denkzeichen, das dem Dichter von Zeit zu Zeit den hinfälligen Menschen empfinden lasse und ihm zu Gemüt führe, daß nicht alle Tragici mit dem Sophokles neunzig Jahr werden; aber, wenn sie es auch würden, daß Sophokles auch [180] an die neunzig Trauerspiele und ich erst ein einziges gemacht. Neunzig Trauerspiele! Auf einmal überfällt mich ein Schwindel!« 165


26.


»Ihnen gestehe ich es am allerungernsten, daß ich bisher nichts weniger als zufrieden gewesen bin. Ich muß es Ihnen aber gestehen, weil es die einzige Ursache ist, warum ich so lange nicht an Sie geschrieben habe.

›Nein, das hatte ich mir nicht vorgestellt!‹ Aus diesem Ton klagen alle Narren. Ich hätte mir es vorstellen sollen und können, daß unbedeutende Beschäftigungen mehr ermüden müßten als das anstrengendste Studieren; daß in dem Zirkel, in welchen ich mich hineinzaubern lassen, erlogene Vergnügen und Zerstreuungen über Zerstreuungen die stumpf gewordene Seele zerrütten würden; daß –

Ihr Lessing ist verloren. In Jahr und Tag werden Sie ihn nicht mehr kennen. Er sich selbst nicht mehr. O meine Zeit, meine Zeit, mein Alles, was ich habe – – sie so, ich weiß nicht, was für Absichten aufzuopfern! Hundertmal habe ich schon den Einfall gehabt, mich mit Gewalt aus dieser Verbindung zu reißen. Doch kann man einen unbesonnenen Streich mit dem andern wieder gutmachen?« 166


27.


»Meine Eltern betrachten mich, als wenn ich hier schon etabliert wäre; und dieses bin ich doch so wenig, daß ich gar leicht meine längste Zeit hier gewesen sein dörfte. Ich warte nur noch einen einzigen Umstand ab, und wenn dieser nicht nach meinem Willen ausfällt, so kehre ich zu meiner alten Lebensart wieder zurück. – Ich habe mit diesen Nichtswürdigkeiten nun schon mehr als drei Jahr verloren. Es ist Zeit, daß ich wieder in mein Geleise komme. Alles, was ich durch meine jetzige Lebensart intendierte, das habe ich erreicht; [181] ich habe meine Gesundheit so ziemlich wieder hergestellt, ich habe ausgeruhet – – Ich bin über die Hälfte meines Lebens und wüßte nicht, was mich nötigen könnte, mich auf den kürzeren Rest desselben noch zum Sklaven zu machen. Wie es weiter werden wird, ist mein geringster Kummer. Wer gesund ist und arbeiten will, hat in der Welt nichts zu fürchten. Langwierige Krankheiten und ich weiß nicht was für Umstände befürchten, die außerstand zu arbeiten setzen können, zeigt ein schlechtes Vertrauen auf die Vorsehung. Ich habe ein besseres und habe Freunde.« 167


28.


»Fragen Sie mich nicht, auf was ich nach H. gehe. Eigentlich auf nichts. Wenn sie mir in H. nur nichts nehmen, so geben sie mir ebensoviel, als sie mir hier gegeben haben. Doch Ihnen brauche ich nichts zu verhehlen. Ich habe allerdings mit dem dortigen neuen Theater und den Entrepreneurs desselben eine Art von Abkommen getroffen, welches mir auf einige Jahre ein ruhiges und angenehmes Leben verspricht. Als ich mit ihnen schloß, fielen mir die Worte aus dem Juvenal bei:


Quod non dant proceres, dabit histrio – 168


Ich will meine theatralischen Werke, welche längst auf die letzte Hand gewartet haben, daselbst vollen den und aufführen lassen. Solche Umstände waren notwendig, die fast erloschene Liebe zum Theater wieder bei mir zu entzünden. Ich fing eben an, mich in andre Studien zu verlieren, die mich gar bald zu aller Arbeit des Genies würden unfähig gemacht haben. Mein ›Laokoon‹ ist nun wieder die Nebenarbeit. Mich dünkt, ich komme mit der Fortsetzung desselben für den großen Haufen unsrer Leser auch noch immer früh genug. Die wenigen, die mich jetzt lesen, verstehen von der Sache ebensoviel wie ich und mehr.« 169


[182] 29.


»Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es an Geschmack und Einsicht beim Theater mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und höre, und prüfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschätzig verhöret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden.

Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster für das Publikum halte und derjenige, dessen Erwartungen getäuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines Stücks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann.

Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe natürlicherweise noch weiter entfernt, und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist.

Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.« 170


[183] 30.


»Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stück Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsre Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als Menschen, nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsre Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsre Empfindung.« 171


31.


»Wenn ›Die Belagerung von Calais‹ 172 nicht verdiente, daß die Franzosen einen solchen Lärmen damit machten, so gereicht doch dieser Lärmen selbst den Franzosen zur Ehre. Er zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersüchtig ist, auf das die großen Taten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben, das, von dem Wert eines Dichters und von dem Einfluß des Theaters auf Tugend und Sitten überzeugt, jenen nicht zu seinen unnützen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenständen zählt, um die sich nur geschäftige Müßiggänger bekümmern. Wie weit sind wir Deutschen in diesem Stück noch hinter den Franzosen. Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer als unsre barbarischten Voreltern, denen ein Liedersänger ein sehr schätzbarer Mann war und die, bei aller ihrer Gleichgültigkeit gegen Künste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde oder einer, der mit Bärenfellen und Bernstein handelt, der nützlichere Bürger wäre, sicherlich für [184] die Frage eines Narren gehalten hätten. – Ich mag mich in Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von der sich erwarten ließe, daß sie nur den tausendsten Teil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben würde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer für französische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit fähig sein werden! Was Wunder auch? Unsre Gelehrten selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschätzung alles dessen zu bestärken, was nicht geradezu den Beutel füllet. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Künstler; man äußere den Wunsch, daß eine reiche, blühende Stadt der anständigsten Erholung für Männer, die in ihren Geschäften des Tages Last und Hitze getragen, und der nützlichsten Zeitkürzung für andre, die gar keine Geschäfte haben wollen, durch ihre bloße Teilnehmung aufhelfen möge – und sehe und höre um sich.« 173


32.


»Es ist einem jeden vergönnt, seinen eignen Geschmack zu haben; und es ist rühmlich, sich von seinem eignen Geschmack Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmack machen müßte, heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmack, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert.« 174


[185] 33.


»Ich weiß einem Künstler nur eine einzige Schmeichelei zu machen; und diese besteht darin, daß ich annehme, er sei von aller eiteln Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm über alles, er höre gern frei und laut über sich urteilen und wolle sich lieber auch dann und wann falsch als seltner beurteilt wissen Wer diese Schmeichelei nicht versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist nicht wert, daß wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal, daß wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch soviel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und Gefühl für seine Schwäche haben. Er spottet bei sich über jede uneingeschränkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen freuet ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.« 175


34.


»Wie schwach muß der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblick auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegenzuhalten? Das wahre Meisterstück, dünkt mich, erfüllet uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber vergessen, daß wir es nicht als das Produkt eines einzelnen Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es wäre Sünde in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so groß, so überschwenglich, daß es dem roheren Menschen zu verzeihen, daß es sehr natürlich war, wenn er sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, daß er an den Schöpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so [186] wenig Zuverlässiges von der Person und den Lebensumständen des Homer wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsre Rechnung dabei, es zu vergessen, daß Homer, der blinde Bettler, eben der Homer ist, der uns in seinen Werken so entzückt. Er bringt uns unter Götter und Helden; wir müßten in dieser Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Türsteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Täuschung muß sehr schwach sein, man muß wenig Natur, aber desto mehr Künstelei empfinden, wenn man so neugierig nach dem Künstler ist.« 176


35.


»Kann es nicht ebensowohl sein, daß der Dichter und Künstler das, was ich für Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr Recht hat als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtenteils viel scharfsichtiger ist als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben. Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu hören; denn er hat es gern, daß man über sein Werk urteilet; schal und gründlich, links oder rechts, gutartig oder hämisch, alles gilt ihm gleich, und auch das schalste, linkste, hämischste Urteil ist ihm lieber als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen; aber was fängt er mit dieser an? Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für so etwas Außerordentliches halten; und doch muß er die Achseln über sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus [187] Stolz möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes Lob auf sich sitzen lassen.« 177


36.


»Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihre Schuld unglücklich sind. Die Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht als möglich; und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeugt haben sollte, daß er ebenso unrichtig als gotteslästerlich ist.« 178


37.


»Ich bin weder Schauspieler noch Dichter. Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letztern zu erkennen, aber nur weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neuern Erträgliches ist, davon bin ich mir bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigne Kraft sich emporarbeitet, durch eigne Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt, ich muß alles durch Druckwerk und Röhren bei mir heraufpressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer [188] beschämt oder verdrießlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken, und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kommt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann. 179

Doch freilich, wie die Krücke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Ort zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann, so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hülfe etwas zustande bringe, welches besser ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen würde, so kostet es mir so viel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können, daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein kann als ich.

Was Goldoni für das italienische Theater tat, der es in einem Jahr mit dreizehn neuen Stücken bereicherte, das muß ich für das deutsche zu tun folglich bleiben lassen. Ja, das würde ich bleiben lassen, wenn ich es auch könnte. Ich bin mißtrauischer gegen alle erste Gedanken, als de la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich [189] sie auch schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen noch des allegorischen, halte, so denke ich doch immer, daß die ersten Gedanken die ersten sind. Meine ersten Gedanken sind gewiß kein Haar besser als jedermanns erste Gedanken, und mit jedermanns Gedanken bleibt man am klügsten zu Hause.«


38.


»Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen: ich glaube die dramatische Dichtkunst studiert zu haben, sie mehr studiert zu haben als zwanzig, die sie ausüben. – Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde als ein Fisch. Aber man kann studieren und sich tief in den Irrtum hineinstudieren. Was mich also versichert, daß mir dergleichen nicht begegnet sei, daß ich das Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzähligen Meisterstücken der griechischen Bühne abstrahiert hat. Ich stehe nicht an zu bekennen (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!), daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsätze sind ebenso wahr und [190] gewiß, nur freilich nicht so faßlich und daher mehr der Schikane ausgesetzt als alles, was diese enthalten.

Ich wage es, hier eine Äußerung zu tun, man mag sie doch nehmen, wofür man will! – Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette? –

Man merke aber wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es zuverlässig besser machen und doch lange kein Corneille sein und doch lange kein Meisterstück gemacht haben. Ich werde es besser machen und mir doch wenig darauf einbilden dörfen. Ich werde nichts getan haben, als was jeder tun kann, der so fest an den Aristoteles glaubt wie ich.« 180


39.


»Ich gehe künftigen – von – weg. – Und wohin? Geraden Weges nach Rom. Was ich in Rom will, werde ich Ihnen aus Rom schreiben. 181 Von hier aus kann ich Ihnen nur soviel sagen, daß ich in Rom wenigstens ebensoviel zu suchen und zu erwarten habe als an einem Orte in Deutschland Soviel kann ich ungefähr noch mit hinbringen, um ein Jahr da zu leben, wenn das alle ist, nun, so wäre es auch hier alle, und ich bin gewiß versichert, daß es sich lustiger und erbaulicher in Rom muß hungern und betteln lassen als in Deutschland.« 182


40.


»Noch erwartet man vielleicht vom Verf. (der antiquarischen Briefe), daß er sich über den Ton erkläre, den er in ihnen genommen. – ›Vide, quam sim antiquorum hominum!‹ 183 antwortete Cicero dem lauen Atticus, der ihm vorwarf, daß er sich über etwas wärmer, rauher und bitterer [191] ausgedrückt habe, als man von seinen Sitten erwarten können.

Der schleichende süße Komplimentierton schickte sich weder zu dem Vorwurfe noch zu der Einkleidung. Auch liebt ihn der Verfasser überhaupt nicht, der mehr das Lob der Bescheidenheit als der Höflichkeit sucht. Die Bescheidenheit richtet sich genau nach dem Verdienste, das sie vor sich hat; sie gibt jedem, was jedem gebühret. Aber die schlaue Höflichkeit gibt allen alles, um von allen alles wiederzuerhalten. Die Alten kannten das Ding nicht, was wir Höflichkeit nennen. Ihre Urbanität war von ihr ebensoweit als von der Grobheit entfernt.

Der Neidische, der Hämische, der Rangsüchtige, der Verhetzer ist der wahre Grobe; er mag sich noch so höflich ausdrücken.

Doch es sei, daß jene gotische Höflichkeit eine unentbehrliche Tugend des heutigen Umganges ist. Soll sie darum unsere Schriften ebenso schal und falsch machen als unsern Umgang?« 184


41.


»Die wahre Bescheidenheit eines Gelehrten bestehet darin, daß er genau die Schranken seiner Kenntnisse und seines Geistes kennet, innerhalb deren er sich zu halten hat; daß er für jeden Schriftsteller soviel Achtung hegt, ihm nicht eher zu widersprechen, als bis er ihn verstanden; daß er in den Streitigkeiten, die er sich selbst zuziehet, rund zu Werk geht, nicht tergiversiert u.f. Mit solchen Wendungen macht sich nur die beleidigte Eitelkeit aus dem Staube; und ein eitler Mann ist zwar höflich, aber nie bescheiden.« 185

[192]

42.


»Jeder Tadel, jeder Spott, den der Kunstrichter mit dem kritisierten Buche in der Hand gutmachen kann, ist dem Kunstrichter erlaubt Auch kann ihm niemand vorschreiben, wie sanft oder wie hart, wie lieblich oder wie bitter er die Ausdrücke eines solchen Tadels oder Spottes wählen soll. Er muß wissen, welche Wirkung er damit hervorbringen will, und es ist notwendig, daß er seine Worte nach dieser Wirkung abwäget.

Aber sobald der Kunstrichter verrät, daß er von seinem Autor mehr weiß, als ihm die Schriften desselben sagen können, sobald er sich aus dieser nähern Kenntnis des geringsten nachteiligen Zuges wider ihn bedienet, sogleich wird sein Tadel persönliche Beleidigung. Er höret auf, Kunstrichter zu sein, und wird – das Verächtlichste, was ein vernünftiges Geschöpf werden kann – Klätscher, Anschwärzer, Pasquillant.« 186


43.


»Es tut mir leid, wenn mein Stil irgendwo bloß satirisch ist. Meinem Vorsatze nach soll er allezeit mehr als satirisch sein. Und was soll er mehr sein als satirisch? Treffend.

›Aber die Höflichkeit ist doch eine so artige Sache.‹ – Gewiß! denn sie ist eine so kleine!

Aber so artig, wie man will: die Höflichkeit ist keine Pflicht, und nicht höflich sein, ist noch lange nicht grob sein. Hingegen, zum Besten der Mehrern freimütig sein, ist Pflicht; sogar es mit Gefahr sein, darüber für ungesittet und bösartig gehalten zu werden, ist Pflicht.

Wenn ich Kunstrichter wäre, wenn ich mir getraute, das Kunstrichterschild aushängen zu können, so würde meine Tonleiter diese sein: Gelinde und schmeichelnd gegen den Anfänger, mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen den Meister, abschreckend und positiv gegen [193] den Stümper, höhnisch gegen den Prahler und so bitter als möglich gegen den Kabalenmacher.

Der Kunstrichter, der gegen alle nur einen Ton hat, hätte besser gar keinen. Und besonders der, der gegen alle nur höflich ist, ist im Grunde, gegen die er höflich sein könnte, grob.« 187


44.


»Gewisse Dinge verdienten freilich nie gesagt zu werden; und doch müssen sie wenigstens einmal gesagt werden.

Die persönlichen Verhältnisse der Schriftsteller gegeneinander interessieren kaum den kleinsten Teil des zeitverwandten Publici. Welcher wünscht, daß sein Buch auch bei der Nachwelt nicht ganz vergessen sei – und welcher sollte es nicht wünschen –, muß über nichts streiten, was nur ihn selbst angeht.« 188


45.


»Er sei ein Deutscher, ein Wale, oder was er will, gewesen; er war einer von den ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Augen, wie im Traum ihren Weg so fortschlendern. Entweder weil sie nicht selbst denken können oder aus Kleinmut nicht selbst denken zu dörfen vermeinen oder aus Gemächlichkeit nicht wollen, halten sie fest an dem, was sie in ihrer Kindheit gelernt haben, und glücklich gnug, wenn sie nur von andern nicht verlangen, daß sie ihrem Beispiel hierin folgen sollen.«

»Das Ding, das man Ketzer nennt, hat eine sehr gute Seite. Es ist ein Mensch, der mit seinen eignen Augen wenigstens sehen wollen. Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst sehen wollen. Ja, in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können [194] noch größer als der Name Zauberer, Magus, Teufelsbanner; denn unter diesen läuft doch mancher Betrüger mit unter.« 189


46.


»Ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit aufzuopfern; wenigstens sind Mut und Entschlossenheit, welche dazugehören, keine Gaben, die wir uns selbst geben können. Aber das, weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar nicht zu lehren, sie klar und rund, ohne Rätsel, ohne Zurückhaltung, ohne Mißtrauen in ihre Kraft und Nützlichkeit zu lehren; und die Gaben, welche dazu erfodert werden, stehen in unsrer Gewalt. Wer die nicht erwerben oder, wenn er sie erworben, nicht brauchen will, der macht sich um den menschlichen Verstand nur schlecht verdient, wenn er grobe Irrtümer uns benimmt, die volle Wahrheit aber vorenthält und mit einem Mitteldinge von Wahrheit und Lüge uns befriedigen will. Denn je gröber der Irrtum, desto kürzer und gerader der Weg zur Wahrheit, dahingegen der verfeinerte Irrtum uns auf ewig von der Wahrheit entfernt halten kann, je schwerer uns einleuchtet, daß er Irrtum ist.

Der Mann, der bei drohenden Gefahren der Wahrheit untreu wird, kann die Wahrheit doch sehr lieben; und die Wahrheit vergibt ihm seine Untreue um seiner Liebe willen. Aber wer nun darauf denkt, die Wahrheit unter allerlei Larven und Schminke an den Mann zu bringen, der möchte wohl gern ihr Kuppler sein, nur ihr Liebhaber ist er nie gewesen. Ich wüßte kaum etwas Schlechteres als einen solchen Kuppler der Wahrheit.« 190


[195] 47.


»Wozu die fruchtlosen Untersuchungen der Wahrheit, wenn sich über die Vorurteile unsrer ersten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten läßt, wenn diese nie auszurotten, sondern höchstens nur in eine kürzere oder längere Flucht zu bringen sind, aus welcher sie wiederum auf uns zurückstürzen, eben wenn uns ein andrer Feind die Waffen entrissen oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns ehe dem gegen sie bedienten? Nein, nein, einen so grausamen Spott treibt der Schöpfer mit uns nicht! Wer daher in Bestreitung aller Arten von Vorurteilen niemals schüchtern, niemals laß zu werden wünschet, der besiege ja dieses Vorurteil zuerst, daß die Eindrücke unsrer Kindheit nicht zu vernichten wären Die Begriffe, die uns von Wahrheit und Unwahrheit in unsrer Kindheit beigebracht werden, sind gerade die allerflachsten, die sich am allerleichtesten durch selbsterworbene Begriffe auf ewig überstreichen lassen; und diejenigen, bei denen sie in einem spätern Alter wieder zum Vorschein kommen, legen dadurch wider sich selbst das Zeugnis ab, daß die Begriffe, unter welche sie jene begraben wollen, noch flacher, noch seichter, noch weniger ihr Eigentum gewesen als die Begriffe ihrer Kindheit. Nur von solchen Menschen können also auch die gräßlichen Erzählungen von plötzlichen Rückfällen in längst abgelegte Irrtümer auf dem Todbette wahr sein, mit welchen man jeden kleinmütigeren Freund der Wahrheit zur Verzweiflung bringen könnte. Freilich muß ein hitziges Fieber aus dem Spiele bleiben; und, was noch schrecklicher ist als ein hitziges Fieber, Einfalt und Heuchelei müssen das Bette des Sterbenden nicht belagern und ihm solange zusetzen, bis sie ihm ein paar zweideutige Worte ausgenergelt, mit welchen der arme Kranke sich bloß die Erlaubnis erkaufen wollte, ruhig sterben zu können. –« 191


[196] 48.


»Was ich Ihnen nicht verzeihe, ist, daß Sie nicht vergnügt sind. Alles in der Welt hat seine Zeit, alles ist zu überstehen und zu übersehen, wenn man nur gesund ist... Ich selbst spiele jetzt eine traurige Rolle in meinen Augen und dennoch, bin ich versichert, wird sich und muß sich alles um mich herum wieder aufheitern; ich will nur immer vor mich weg und sowenig als möglich hinter mich zurück sehen. Tun Sie ein Gleiches. Vergnügt wird man unfehlbar, wenn man sich nur immer vorsetzt, vergnügt zu sein.« 192


49.


»Sie werden sagen, daß ich eine besondere Gabe habe etwas Gutes an etwas Schlechtem zu entdecken Die habe ich allerdings; und ich bin stolzer darauf als auf alles, was ich weiß und kann. Nichts kann uns mit der Welt zufriedner machen als eben diese Gabe. – Fast fange ich an zu zweifeln, ob man, sie in Ausübung zu bringen, in ** eben mehr Gelegenheit hat als an andern Orten. – Wie ich hier lebe, wundern sich mehr Leute, daß ich nicht vor Langerweile und Unlust umkomme, als sich wundern würden, wenn ich wirklich umkäme.« 193


50.


»Was kann ich für Lust haben, an Leute zu schreiben, mit denen ich nur sehr selten Lust haben würde zu sprechen? Sie wissen, was ich Ihnen oft gestanden habe, daß ich es auf die Länge unmöglich hier aushalten kann. Ich werde in der Einsamkeit, in der ich hier leben muß, von Tag zu Tag dümmer und schlimmer. Ich muß wieder unter Menschen, von denen ich hier so gut als gänzlich abgesondert bin. Besuche [197] sind kein Umgang, und ich fühle es, daß ich notwendig Umgang, Umgang mit Leuten haben muß, die mir nicht gleichgültig sind, wenn noch ein Funken Gutes an mir bleiben soll.« 194

»Ich kann es mir leider nicht bergen, daß ich hypochondrischer bin, als ich je zu werden geglaubt habe. Sobald ich aus dem verwünschten Schlosse wieder unter Menschen komme, so geht es wieder eine Weile. Und denn sage ich mir: Warum auch länger auf diesem verwünschten Schlosse bleiben? Wenn ich noch der alte Sperling auf dem Dache wäre, ich wäre schon hundertmal wieder fort.« 195


51.


»Ich habe über keine Zeile meiner neuen Tragödie weder hier noch in... eine Seele können zu Rate ziehn; gleichwohl muß man wenigstens über seine Arbeit mit jemand sprechen können, wenn man nicht selbst darüber einschlafen soll. Die bloße Versicherung, welche die eigne Kritik uns gewährt, daß man auf dem rechten Wege ist und bleibt, wenn sie auch noch so überzeugend wäre, ist doch so kalt und unfruchtbar, daß sie auf die Ausarbeitung keinen Einfluß hat.« 196


52.


»Wer wird durch Mitteilung und Freundschaft die Sphäre seines Lebens zu erweitern suchen, wenn ihm beinah des ganzen Lebens ekelt? Oder wer hat Lust, nach vergnügten Empfindungen in der Ferne umherzujagen, wenn er in der Nähe nichts um sich sieht, was ihm deren auch nur eine gewähren könnte. Ich habe gearbeitet, mehr als ich sonst zu arbeiten gewohnt bin. Aber lauter Dinge, die, ohne mich zu rühmen, auch wohl ein größerer Stümper ebensogut hätte [198] machen können. – Solche trockne Arbeit läßt sich so recht hübsch hinschreiben, ohne alle Teilnehmung, ohne die geringste Anstrengung des Geistes. Dabei kann ich mich noch immer mit dem Trost beruhigen, daß ich meinem Amt Genüge tue und manches dabei lerne, gesetzt auch, daß nicht das Hundertste von diesem Manchen wert wäre, gelernt zu werden. Doch ich will mich gern noch weit mehr aller Gesellschaft entziehen, um hier in der Einsamkeit zu kahlmäusern und zu büffeln, wenn ich nur sonst von einer andern Seite meine Ruhe wieder damit gewinnen kann.« 197


53.


»Daß ich etwas wieder für das Theater machen sollte, will ich wohl bleiben lassen. Kein Mensch unterzieht sich gern Arbeiten, von welchen er ganz und gar keinen Vorteil hat, weder Geld noch Ehre, noch Vergnügen. In der Zeit, die mir ein Stück von zehn Bogen kostet, könnte ich gut und gern mit weniger Mühe hundert andre Bogen schreiben. Zwar habe ich, nach meinem letzten Überschlage, wenigstens zwölf Stücke, Komödien und Tragödien zusammengerechnet, deren jedes ich innerhalb sechs Wochen fertig machen könnte. Aber wozu mich, für nichts und wieder für nichts, sechs Wochen auf die Folter spannen? Jeder Künstler setzt seine Preise; jeder Künstler sucht so gemächlich von seinen Werken zu leben als möglich; warum denn nun nicht auch der Dichter? Wenn meine Stücke nicht hundert Louisdor wert sind, so sagt mir lieber gar nichts mehr davon; denn sie sind sodann gar nichts mehr wert. Für die Ehre meines lieben Vaterlandes will ich keine Feder ansetzen, und wenn sie auch in diesem Stück auf immer einzig und allein von meiner Feder abhangen sollte. Für meine Ehre aber ist es mir gnug, wenn man nur ungefähr sieht, daß ich allenfalls in diesem Fache etwas zu tun imstande gewesen wäre. Also Geld für die Fische – oder beköstigt euch noch lange mit Operetten.

[199] Es wäre auch närrisch, wenn ich den einzigen Weg, Geld zu verdienen, mir wenigstens nicht offenhalten und das Publikum erst mit meinen Stücken sättigen wollte. Das Geld ist gerade das, was mir fehlt und mir mehr fehlt, als es mir jemals gefehlt hat. Ich will schlechterdings in Jahr und Tag keinem Menschen mehr etwas schuldig sein, und dazu gehört ein besserer Gebrauch meiner Zeit als für das Theater.« 198


54.


»Mein Stillschweigen hat noch immer die nämliche Ursache. Ich bin ärgerlich und arbeite, weil Arbeiten doch das einzige Mittel ist, um einmal aufzuhören, jenes zu sein. Ich bin in meinem Leben schon in sehr elenden Umständen gewesen, aber noch nie in solchen, wo ich im eigentlichen Verstande um Brot geschrieben hätte. Ich habe mein ›Beiträge‹ 199 bloß darum angefangen, weil diese Arbeit fördert, indem ich nur einen Wisch nach dem andern in die Druckerei schicken darf und ich doch dafür von Zeit zu Zeit ein paar Louisdor bekomme, um von einem Tage zum andern zu leben. Wer nun noch daran zweifelt, daß es die absolute Unmöglichkeit ist, warum ich gewisse Pflichten nicht erfülle, mein Versprechen in gewissen Dingen nicht halte, den bin ich sehr geneigt, ebensosehr zu verkennen als er mich verkennt. 200

Vor einiger Zeit ließ es sich hier an, als ob man mir glücklichere Aussichten machen wollte. Aber ich sehe wohl, daß man mir nur das Maul schmieren wollen. Denkt man gar nicht oder nicht so bald darauf, so können sie sehr versichert sein, daß ich für nichts in der Welt mich hier halten lasse, und in Jahr und Tag längstens schreibe ich Dir aus einem andern Ort. Es ist ohnedies zwar recht gut, eine Zeitlang in [200] einer großen Bibliothek zu studieren; aber sich darin vergraben ist eine Raserei. Ich merke es so gut als andre, daß die Arbeiten, die ich jetzt tue, mich stumpf machen. Aber daher will ich auch je eher je lieber mit ihnen fertig sein und meine Beiträge ununterbrochen, bis auf die letzte Armseligkeit, die nach meinem ersten Plan hineinkommen soll, fortsetzen und ausführen. Dieses nicht tun, würde heißen die drei Jahre, die ich nun hier zugebracht, mutwillig verlieren wollen.« 201


55.


»Hier haben Sie einen ganzen Mistwagen voll Moos und Schwämme. 202 Eine Frage fällt mir dabei ein, die Sie mir gelegentlich beantworten können. – Ist es die Eiche oder ist es der Boden, worin die Eiche steht, welcher das Moos und die Schwämme um und an der Eiche hervorbringt? – Ist es der Boden? was kann die Eiche dafür, wenn endlich des Mooses und der Schwämme so viel wird, daß sie alle Nahrung an sich ziehen und der Gipfel der Eiche darüber verdorret? – Doch er verdorre immerhin! Die Eiche, solange sie lebt, lebt nicht durch ihren Gipfel, sondern durch ihre Wurzeln.« 203


56.


»Mit dem Ferguson 204 will ich mir ein eigentliches Studium machen. Ich sehe schon aus dem vorgesetzten Inhalte, daß es ein Buch ist, wie mir hier gefehlt hat, wo ich größtenteils nur solche Bücher habe, die über lang oder kurz den Verstand sowie die Zeit töten. Wenn man lange nicht denkt, so kann man am Ende nicht mehr denken. Ist es aber auch wohl gut Wahrheiten zu denken, sich ernstlich mit Wahrheiten zu beschäftigen, [201] in deren beständigem Widerspruch wir nun schon einmal leben und zu unsrer Ruhe beständig fortleben müssen? Und von dergleichen Wahrheiten sehe ich in dem Engländer schon manche von weitem.

Wie auch solche, die ich längst für keine Wahrheiten mehr gehalten. Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zuviel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen. Daß ich es zum Teil nicht schon getan, daran hat mich nur die Furcht verhindert, nach und nach den ganzen Unrat wieder in das Haus zu schleppen. Es ist unendlich schwer zu wissen, wenn und wo man stehenbleiben soll, und Tausenden für einen ist das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden.« 205


57.


»Die ›Ode an die Könige‹ 206 will ich mir dreimal laut vorsagen, sooft ich werde Lust haben, an meiner antityrannischen Tragödie zu arbeiten. Ich hoffe, mit Hülfe derselben aus dem Spartacus einen Helden zu machen, der aus andern Augen sieht als der beste römische. Aber wenn! wenn!« 207

»Kritik, will ich Ihnen nur vertrauen, ist das einzige Mittel, mich zu mehrerem aufzufrischen oder vielmehr aufzuhetzen. Denn da ich die Kritik nicht zu dem kritisierten Stücke anzuwenden imstande bin, da ich zum Verbessern überhaupt ganz verdorben bin, so nutze ich die Kritik zuverlässig zu etwas Neuem. Also wenn auch. Sie es wollen, daß ich wieder einmal etwas Neues in dieser Art machen soll, so sehen Sie, worauf es dabei mit ankommt – mich durch Tadel zu reizen, nicht dieses Nämliche besser, sondern überhaupt etwas Besseres zu machen. Und wenn auch dieses Bessere [202] sodann notwendig noch seine Mängel haben muß, so ist dieses allein der Ring durch die Nase, an dem man mich in immerwährendem Tanze erhalten kann.« 208


58.


»Die öftere Abänderung der Arbeit ist noch das einzige, was mich erhält. Freilich wird so viel angefangen und wenig vollendet. Aber was schadet das? Wenn ich auch nichts in meinem Leben mehr vollendete, ja nie etwas vollendet hätte, wäre es nicht eben das? – Vielleicht wirst Du auch diese Gesinnung ein wenig misanthropisch finden, welches Du mich in Ansehung der Religion zu sein im Verdacht hast. Ohne nun aber zu untersuchen, wie viel oder wie wenig ich mit meinem Nebenmenschen zufrieden zu sein Ursache habe, muß ich Dir doch sagen, daß Du mein ganzes Betragen in Ansehung der Orthodoxie sehr unrecht verstehst. Ich sollte es der Welt mißgönnen, daß man sie mehr aufzuklären suche? Ich sollte es nicht von Herzen wünschen, daß ein jeder über die Religion vernünftig denken möge? Ich würde mich verabscheuen, wenn ich selbst bei meinen Sudeleien einen andern Zweck hätte, als jene große Absichten befördern zu helfen. Laß mir aber doch nur meine eigne Art, wie ich dieses tun zu können glaube. Und was ist simpler als diese Art? Nicht das unreine Wasser, welches längst nicht mehr zu brauchen, will ich beibehalten wissen; ich will es nur nicht eher weggegossen wissen, als bis man weiß, woher reineres zu nehmen; ich will nur nicht, daß man es ohne Bedenken weggieße, und sollte man auch das Kind hernach in Mistjauche baden. Und was ist sie anders, unsre neumodische Theologie gegen die Orthodoxie als Mistjauche gegen unreines Wasser?

Mit der Orthodoxie war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidwand gezogen, hinter welcher jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andre zu hindern. Aber was tut man nun?

[203] Man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen. Ich bitte Dich, erkundige Dich doch nur nach diesem Punkte genauer und siehe etwas weniger auf das, was unsre neuen Theologen verwerfen, als auf das, was sie dafür in die Stelle setzen wollen. Ich möchte nicht mit Dir sagen, daß unser altes Religionssystem ein Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen sei; ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte als an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will, und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt. Und doch verdenkst Du es mir, daß ich dies alte verteidige? Meines Nachbars Haus drohet ihm den Einsturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtragen, sondern er will es, mit gänzlichem Ruin meines Hauses, stützen und unterbauen. Das soll er bleiben lassen, oder ich werde mich seines einstürzenden Hauses so annehmen als meines eigenen.« 209


59.


»Da ich es nur allzusehr empfinde, wie viel trockner und stumpfer ich an Geist und Sinnen diese vier Jahre geworden bin, so möchte ich es um alles in der Welt willen nicht noch vier Jahre tun. Aber ich muß es auch nicht ein Jahr mehr tun, wenn ich noch sonst etwas in der Welt tun will. Hier ist [204] es aus; hier kann ich nichts mehr tun. Du wirst diese Messe auch nichts von mir lesen; denn ich habe den ganzen Winter nichts getan und bin sehr zufrieden, daß ich nur daseine große Werk von Philosophie (oder Poltronnerie) zustande gebracht, – daß ich noch lebe. Gott helfe mir in diesem edlen Werke weiter, welches wohl wert ist, daß man alle Tage darum ißt und trinkt. –

Ich hasse alle die Leute, welche Sekten stiften wollen, von Grund meines Herzens. Denn nicht der Irrtum, sondern der sektierische Irrtum, ja sogar die sektierische Wahrheit machen das Unglück der Menschen oder würden es machen wenn die Wahrheit eine Sekte stiften wollte.« 210


60.


»Fast könnte ich Sie beneiden, daß Sie noch Blumen lesen, da ich verdammt bin, nichts als Dornen zu sammeln ›Das ist Ihre Schuld!‹ werden Sie sagen. Ich sollte nicht meinen. Ich sehe auf meinem ganzen Felde nichts als Dornen, und einmal ist es nun mein Feld. Umsonst erinnern Sie mich unsrer gemeinschaftlichen Entschlüsse, ein blumenreicheres anzubauen. Es hat nicht sein sollen! Mit mir ist es aus, und jeder dichterische Funken, deren ich ohnedies nicht viel hatte, ist in mir erloschen. Leisten Sie allein, was wir zusammen leisten wollten. – Ich, der ich die ganze Welt ausreisen wollte, werde, allem Ansehen nach, in dem kleinen W. unter Schwarten vermodern.« 211


61.


»Von gewissen Dingen läßt sich gar nicht sprechen; sprechen zwar wohl, aber nicht schreiben. Man schreibt immer zuwenig oder zuviel, wenn man bei sich selbst noch kein Resultat gezogen. Im Sprechen kann man sich alle Augenblick korrigieren, welches im Schreiben nicht angeht. Soviel dürfte [205] ich Dir im Vertrauen doch fast sagen, daß auch diese Reise noch bis jetzt unter die Erfahrungen gehört, daß das deutsche Theater mir fatal ist, daß ich mich nie mit ihm, es sei auch noch sowenig, bemengen kann, ohne Verdruß und Unkosten davon zu haben.

Und Du verdenkst es mir noch, daß ich mich dafür lieber in die Theologie werfe? – Freilich, wenn mir am Ende die Theologie ebenso lohnt als das Theater.« 212


62.


»Will es denn eine Klasse von Leuten nie lernen, daß es schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissentlich und vorsätzlich sich selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, sag ich, aus keinem andern Grunde, als weil es nicht möglich ist Was wollen sie denn also mit ihrem Vorwurfe mutwilliger Verstockung, geflissentlicher Verhärtung, mit Vorbedacht gemachter Pläne, Lügen auszustaffieren, die man Lügen zu sein weiß? Was wollen sie damit? 213 Was anders, als – – Weil ich auch ihnen diese Wahrheit muß zugute kommen lassen, weil ich auch vonihnen glauben muß, daß sie vorsätzlich und wissentlich kein falsches verleumderisches Urteil fällen können: so schweige ich und enthalte mich alles Wiederscheltens.

Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –

[206] Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, 214verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ›Vater gib!‹ die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!« 215


63.


»Wenn wird man aufhören, an den Faden einer Spinne nichts weniger als die ganze Ewigkeit hängen zu wollen? 216

Welcher Tor wühlt neugierig in dem Grunde seines Hauses, bloß um sich von der Güte des Grundes seines Hauses zu überzeugen? Setzen mußte sich das Haus freilich erst, an diesem und jenem Orte. – Aber daß der Grund gut ist, weiß ich nunmehr, da das Haus so lange Zeit steht, überzeugender, als es die wissen konnten, die ihn legen sahen.

Ich lobe mir, was über der Erde steht, und nicht, was unter der Erde verborgen liegt. – Vergib es mir, lieber Baumeister, daß ich von diesem weiter nichts wissen mag, als daß es gut und fest sein muß; denn es trägt und hält so lange. An der Schönheit des Ganzen will ich meine Betrachtungen weiden; in dieser will ich dich preisen, lieber Baumeister!« 217


64.


»Luther, du! Großer, verkannter Mann! Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset; wer erlöset uns von dem unerträglichern Joche des Buchstabens? 218 Wer bringt uns [207] endlich ein Christentum, wie du es jetzt lehren würdest, wie es Christus selbst lehren würde? Wer –

Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eignen Gutdünken fortzugehen hindern muß. Aber man hindert alle daran, wenn man auch nureinem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntnis andern mitzuteilen. Denn ohne diese Mitteilung im einzelnen ist kein Fortgang im ganzen möglich.« 219


65.


»Jeder Mensch hat seinen eignen Stil; was kann ich dafür, daß ich nun einmal keinen andern Stil habe? Daß ich ihn nicht erkünstle, bin ich mir bewußt. – Es kommt wenig darauf an, wie wir schreiben; aber viel, wie wir denken. Man wird doch wohl nicht behaupten, daß unter verblümten bilderreichen Worten notwendig ein schwankender, schiefer Sinn liegen muß; daß niemand richtig und bestimmt denken kann, als wer sich des eigentlichsten, gemeinsten, plattesten Ausdrucks bedienet; daß, den kalten symbolischen Ideen auf irgendeine Art etwas von der Wärme und dem Leben natürlicher Zeichen zu geben suchen, der Wahrheit schlechterdings schade?

Wie lächerlich, die Tiefe einer Wunde nicht dem scharfen, sondern dem blanken Schwert zuzuschreiben. Wie lächerlich also auch, die Überlegenheit, welche die Wahrheit einem Gegner über uns gibt, einem blendenden Stile desselben zuzuschreiben! Ich kenne keinen blendenden Stil, der seinen Glanz nicht von der Wahrheit mehr oder weniger entlehnet. Wahrheit allein gibt echten Glanz und muß auch bei Spötterei und Posse, wenigstens als Folie, unterliegen. Also von der Wahrheit lasset uns sprechen und nicht vom Stil. Den meinen gebe ich aller Welt preis. 220 [208] Allerdings suche ich durch die Phantasie mit auf den Verstand meiner Leser zu Wirken. Ich halte es nicht allein für nützlich, sondern auch für notwendig, Gründe in Bilder zu kleiden und alle die Nebenbegriffe, welche die einen oder die andern erwecken, durch Anspielungen zu bezeichnen. Wer hievon nichts weiß oder verstehet, müßte schlechterdings kein Schriftsteller werden wollen; denn alle gute Schriftsteller sind es nur auf diesem Wege geworden. – Der Begriff ist der Mann; das sinnliche Bild des Begriffes ist das Weib, und die Worte sind die Kinder, welche beide hervorbringen. Ein schöner Held, der sich mit Bildern und Worten herumschlägt und immer tut, als ob er den Begriff nicht sähe oder immer sich einen Schatten von Mißbegriff schafft, an dem er zum Ritter werde!« 221


66.


»Meine Frau ist tot, und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viele dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen, und bin ganz leicht. – Wenn ich noch mit einer Hälfte meiner übrigen Tage das Glück erkaufen könnte, die andre Hälfte in Gesellschaft dieser Frau zu verleben, wie gern wollt ich es tun! Aber das geht nicht, und ich muß nur wieder anfangen, meinen Weg, allein fortzuduseln.« 222


67.


»Vor allen Dingen laß mich Deinen Erstgebornen mit meinem besten Segen hienieden bewillkommen! Er werde besser und glücklicher, als alle seines Namens. 223

Jetzt ist man hier auf meine ›Nathan‹ gespannt und besorgt sich davon, ich weiß nicht was. Es wird nichts weniger als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter [209] zu verlassen. Es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe. Spott und Lachen würde sich zu dem Tone nicht schicken, den ich in meinem letzten Blatt angestimmt habe; Du wirst sehen, daß ich meiner eignen Sache durch diesen dramatischen Absprung im geringsten nicht schade.« 224


68.


»Mein ›Nathan‹ ist ein Stück, welches ich schon vor drei Jahren vollends aufs Reine bringen und drucken lassen wollen. Mit unsern jetzigen Schwarzröcken hat es nichts zu tun, und ich will ihm den Weg nicht selbst verhauen, endlich doch einmal aufs Theater zu kommen, wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre. Mit dem Pränumerieren möchte ich gern nichts zu tun haben. Denn wenn ich nun plötzlich stürbe? So bliebe ich vielleicht tausend Leuten einem jeden einen Gulden schuldig, deren jeder für zehn Taler auf mich schimpfen würde. 225 Nach meinem ersten Anschlage sollte noch ein Nachspiel dazukommen, genannt ›Der Derwisch‹, welches auf eine neue Art den Faden der Episode des Stücks selbst wieder aufnähme und zu Ende brächte. Aber auch das muß wegbleiben.« 226


69.


»Wenn man sagen wird, daß ein Stück von so eigner Tendenz nicht reich genug an eigner Schönheit sei, so werde ich schweigen, aber mich nicht schämen. Ich bin mir eines Ziels bewußt, unter dem man auch noch viel weiter mit allen Ehren bleiben kann.

Noch kenne ich keinen Ort in Deutschland, wo dieses Stück schon jetzt aufgeführt werden könnte. Aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird.« 227


[210] 70.


»Mein Ungenannter scheint ein wenig Luft zu bekommen. Nun wird er sich schon von selbst soweit helfen, als er sich nach den Gesetzen einer höhern Haushaltung helfen soll. Auf mein eignes Glaubensbekenntnis habe ich mich bereits eingelassen, wenigstens mich darüber ausgelassen. Denn zum Einlassen gehören zwei; und nachdem ich es als ein ehrlicher Mann getan, hat niemand davon etwas weiter zu wissen verlangt. Vermutlich weil es noch zu orthodox war und hierdurch weder der einen noch der andern Partei gelegen kam. ›Ist er noch so weit zurück?‹ dachten die einen ›Wenn er nur das will‹, dachten die andern ›was haben wir denn für einen Lärmen über ihn angefangen?‹

Die Versatilität des Geistes verliert sich, glaube ich, von seinen Eigenschaften am ersten. Es kostet so viel Arbeit, mich umwälzen zu lassen, daß es kaum mehr der Mühe verlohnt, wenn ich nicht eine geraume Zeit in der neuen Lage wieder verweilen kann.« 228


71.


»Der Reisende, den Sie mir vor einiger Zeit zuschickten, war ein neugieriger Reisender. Der, mit dem ich Ihnen jetzt antworte, ist ein emigrierender. Diese Klasse von Reisenden findet sich unter Yoricks Klassen nun zwar nicht; unter diesen wäre nur der unglückliche und unschuldige Reisende, der hier allenfalls paßte. Doch warum nicht lieber eine neue Klasse gemacht, als sich mit einer beholfen, die eine so unschickliche Benennung hat? Denn es ist nicht wahr, daß der Unglückliche ganz unschuldig ist. An Klugheit hat er es wohl immer fehlen lassen.

Dieser Emigrant will von Ihnen nichts, als daß Sie ihm den kürzesten und sichersten Weg nach dem europäischen Lande vorschlagen, wo es weder Christen noch Juden gibt. [211] Ich verliere ihn ungern; aber sobald er glücklich da angelangt ist, bin ich der erste, der ihm folgt.

An Ihrem Briefchen kaue und nutsche ich noch. (Das saftigste Wort ist hier das edelste.) Und wahrlich, ich brauche so ein Briefchen von Zeit zu Zeit sehr nötig, wenn ich nicht ganz mißmütig werden soll. Ich glaube nicht, daß Sie mich als einen Menschen kennen, der nach Lobe heißhungrig ist. Aber die Kälte, mit der die Welt gewissen Leuten zu bezeugen pflegt, daß sie ihr auch gar nichts recht machen, ist, wenn nicht tötend, doch erstarrend. 229

Daß Ihnen nicht alles gefallen, was ich seit einiger Zeit geschrieben, das wundert mich gar nicht. Ihnen hätte gar nichts gefallen müssen; denn für Sie war nichts geschrieben. Höchstens hat Sie die Erinnerung an unsre besseren Tage noch etwa bei der und jener Stelle täuschen können. Auch ich war damals ein gesundes schlankes Bäumchen und bin jetzt ein so fauler knorrichter Stamm! Ach, lieber Freund, diese Szene ist aus! Gern möchte ich Sie freilich noch einmal sprechen!« 230

Lessing.


Und so fiel er, der edle Hirsch, vielverwundet und unüberwunden. Da wo er erstarrte, sagt man, stehe sein Bild in Stein.

112.

Die Funken aus der Asche eines Toten haben mich wie ein stummes Trauerspiel im Innersten gerühret.Das also war Lessings Privatleben! so leitete es sich fort! so hat es geendet!

[212] Dank seinem Bruder und dessen Gehülfen, daß sie uns eine Sammlung Lessingscher Schriften gegeben, wie wir sie noch von keinem deutschen Schriftsteller gehabt haben. Wünschten wir nicht alle, daß Leibniz einen solchen Herausgeber gehabt hätte? Über die Art der Herausgabe hat er sich, meinem Bedünken nach, gnugsam gerechtfertigt. 231 Die Wahl der Männer, die ihm beistanden, ganz und völlig endlich rechtfertigt ihn die oft und frei bekannte Denkart seines Bruders. »Einmal,« sagt dieser, 232 »habe ich nun eine ganz abergläubische Achtung gegen jedes geschriebene und nur geschrieben vorhandene Buch, von welchem ich erkenne, daß der Verfasser die Welt damit belehren oder vergnügen wollen. Es jammert mich, wenn ich sehe, daß Tod oder andre dem tätigen Mann nicht mehr und nicht weniger willkommene Ursachen soviel gute Absichten vereiteln können, und ich fühle mich sofort in der Befassung, in welcher sich jeder Mensch, der dieses Namens noch würdig ist, bei Erblickung eines ausgesetzten Kindes befindet. Er begnügt sich nicht, ihm nur nicht vollends den Garaus zu machen, es unbeschädigt und ungestört da liegen zu lassen, wo er es findet: er schafft oder trägt es in das Findelhaus, damit es wenigstens Taufe und Namen erhalte. Gerade so wünschte ich wenigstens (denn was wäre es nun, wenn auch darum noch so viel Lumpen mehr dergestalt verarbeitet werden müßten, daß sie Spuren eines unsterblichen Geistes zu tragen fähig würden?), wünschte ich wenigstens, alle und jede ausgesetzte Geburten des Geistes mit eins in das große für sie bestimmte Findelhaus der Druckerei bringen zu können; und wenn ich deren selbst nur wenige wirklich dahin bringe, so liegt die Schuld gewiß nicht an mir allein. Ich tue, was ich kann, und jeder tue nur ebensoviel.«

So dachte Lessing, und so habe er's denn seiner eignen Nemesis Dank, daß nach dem Maß, nach dem er fremde Handschriften hervorzog, die seinigen auch ans Licht gestellt [213] werden. Ehre gnug für jeden, Schriftsteller oder nicht, dessen kleinstes Blättchen, dessen eiligster Brief mit so viel Ehre ans Licht treten darf!

Gens sui tantum similis, ein gar absunderliches Volk sind wir Deutsche. Unsre Nachbarn rühmen sich ihrer Schriftsteller; sie sammlen ihre Werke, Aufsätze, Briefe, Fragmente mit größestem Fleiß und setzen darin ein edles Eigentum, eine Nationalehre. So sind (nur wenige anzuführen) in Frankreich die Werke nicht etwa nur der Corneille, Racine, Molière, Voltaire, Rousseau, Fénelon. Bossuet, sondern auch der Motte le Vayer, Motte Houdart u.f., in England Shakespeares, Bacons, Miltons, Swifts, Popes, Humes Werke zum Teil mit einer Pracht erschienen, mit welcher der eitelste Schriftsteller selbst zuweilen unzufrieden sein würde; und wo irgendein Brief, ein Einfall, eine Anekdote von diesem oder jenem aufgegriffen ward, wird er bekannt gemacht und verherrlichet. Unsre deutsche Journale sagen nach, rühmen und preisen. Nur gegen unsre eigensten Verdienste sind wir undankbar, verachten, was nach der sorgfältigsten Bearbeitung in der bescheidensten Tracht vor uns tritt, und entziehen selbst dem Toten, was ihm gebühret. –

Für Höfe schrieb Lessing nicht, auch nicht für den großen Maßstab alles Geschmacks, den Geschmack der Franzosen. Gegen diesen schreibt man ihm vielmehr (obwohl meines Erachtens mit Unrecht) einen ungerechten Widerwillen zu; sie mögen ihn also nicht lesen. 233 Wir Deutsche wollen ihn lesen; theoretisch und praktisch war er der Sprache Meister. Wenn es auch keine deutsche Nation gäbe, die sich um dies oder jenes, worüber er geschrieben hat, kümmerte, so sollte es, dünkt mich, deutsche Gelehrte geben, denen dies und jenes nicht gleichgültig sein darf; und derverständige Mann in seiner Sinnes- und Denkart ist für einen gebildeten Mann bei jedem Schriftsteller das Wichtigste, das Beste.

[214] Auch ich stelle mir Ihren Jüngling vor, der, »mit klassischen Kenntnissen in der Schule ausgerüstet, ehe er die Akademie beschreitet,« eben auf diese Sammlung Lessingscher Schriften geriete. Natürlich wird er vieles in ihnen überschlagen; wobei er aber verweilet, an den Werken seines Genius, an den Grundsätzen und Urteilen seiner Kritik, an seinen unvollendeten Entwürfen, an seinen hie und da kaum genannten Vorsätzen, an seinen Meinungen über das, was ihm leicht und schwer, notwendig oder erläßlich schien, an seiner Waage des Billigen und Rechten, des Zweckmäßigen, Edlen und Schönen, an seiner Kunst zu disputieren, nach Ort und Zeit zu reden, Wahrheit zu verhüllen, ohne sie zu beleidigen, sie nicht immer unmittelbar, sondern auf gewählten Umwegen geschickt zu befördern, vor allem an seinem festen und bescheidnen Charakter, der nie mehr von sich hielt, als sich gebührt zu halten, der auch im Spiele ernst, auch gegen Feinde gerecht, über die menschliche Bestimmung rein und sicher, über das menschliche Wissen und Bestreben demütig und bescheiden, seinen Grundsätzen treu blieb und in den widrigsten Fällen des Lebens den herben Apfel oft mit Scherz, immer aber mit männlicher Heiterkeit kostete: an diesem Mann und Schriftsteller wird er viel zu lernen finden! Seine Winke, seine Fehler werden ihn das Wichtigste lehren; er wird ihn hochschätzen und bedauren. Hochschätzen, daß er sich in so vieles wohlgerüstet, mutig und glücklich warf; wo es ihm mißlang, sich am Ziel selbst nicht irremachen ließ, sondern es auf andern Bahnen suchte. Bedauren wird er ihn –

Doch wozu die nutzlose Wiederholung? Mit Lessing ist das Problem abermals aufgelöset. Gebt diesem reinen Stahl in dephlogisierter Luft nur einen Funken, welch Schauspiel einer herrlichen Flamme an Glanz und Farbe werdet ihr erblicken bis zum letzten Moment der Erscheinung! Bringt diese helle Flamme dagegen – Der bescheidne Lessing erwartete von seinem Vaterlande nichts; das schmerzlichste aller Gefühle, das Gefühl der Kränkung, mäßigte er, selbst wenn [215] man ihn täuschte. »Noch sind mir,« sagte er, 234 »in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr gleichgültig gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten, aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewiesen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilektion erlesen zu sein glauben konnte.« Seine erste Jugendrede (1743) handelte von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern; 235 in Ansehung seiner Erwartungen scheint er dieser Jugendphilosophie zeitlebens treu geblieben zu sein. Kurz, das Trauerspiel »Spartacus,« das er uns auf der Bühne nicht geben konnte, hat er uns durch seinen Lebenslauf gegeben. – Fahren Sie mit Ihrer Geschichte der französischen Propaganda in Deutschland fort. Was ist zu tun? Was wird werden?

113.

»Was ist zu tun? was wird werden?« Da wir die Sieben Weisen Griechenlands nicht aufrufen können, so dünkt mich:

1. Lasset geschehen sein, was geschehen ist; es ist geschehen. Hätten die obern Stände Deutschlands sich in den Kopf gesetzt, statt französisch kalmuckisch zu sprechen (das Mongolische ist auch eine sehr ausgebildete Sprache), was wolltet ihr dagegen? Die Jahrhunderte sind verloren, und nicht ihr, sondern sie tragen die Schuld.

2. Ihr sehet, daß die Zeit das Blatt wendet. Ein Teil des französischen Geschmacks, der Hofgeschmack nämlich, ist bei den Franzosen selbst antiquieret. Wartet, ob ihn die Deutschen beibehalten oder ob sie gar aus Mode Republikaner werden. Deutsch-französische Republikanerinnen und Republikaner!

3. Schmäht nicht, sondern bemitleidet, schweiget, ehret; und, wenn ihr es könnt, belehret. Es ist ein pöbelhafter Wahn, daß wir der obern Stände nicht bedörfen; wir bedörfen [216] ihrer, wie sie unser bedörfen. Wir sollen ihr Auge, wir müssen ihre Hand sein; sie hingegen sind's, von deren Willen und Meinung im Guten und Bösen fast alles abhängt. Zum Wohl des Ganzen sind sie unentbehrlich. – Ebenso falsch ist die andre Behauptung, daß es Deutschland vorteilhaft sei, wenn Schriftsteller bloß für Schriftsteller schreiben. Der Koch kocht für Gäste, nicht für Köche; und wenn Köche sich in Deutschland zu Häuptern einer gelehrten Republik aufwerfen und statt der von ihnen verachteten Höfe schmähende Jahrs- und Monatsbuden errichten, so ist die öffentliche Kritik, die jeder Nation ein Palladium des guten Geschmacks, des gesunden und redlichen Urteils sein sollte, in Deutschland dazu geworden, wozu sie Weltleute mit verachtendem Spott aus innrer Abneigung gegen alles deutsche Bücherwesen nur wünschen mochten. Welcher Mann, ich will nicht sagen, von Stande, sondern nur von Achtung für seinen Namen wird sich in eine Gesellschaft mischen, die auf solche Art für sich selbst schreibet?

4. Glaube man nicht, daß die untersten Stände die obern ersetzt haben, sobald irgend nur das Produkt abgeht. Der größte Teil deutscher Schriftsteller schreibt jetzt für Lesegesellschaften, und manche derselben scheinen sich an diesen das Gesinde der deutschen Nation zu denken, für welches ihre Produkte gewiß auch die unterhaltendsten sind. Dadurch bessern wir unsern Geschmack nicht; dadurch erwerben wir keine Ehre. Der Namenlose, der solche Werke schrieb schämte sich ihrer zuerst selbst, bis er (denn man gewöhnt sich an jedes Handwerk) in kurzem auch die Scham ablegte. Er weiß, daß er die Nation mit seinen Hefen der Aufklärung verderbe; die Hefenfabrik aber bringt ihm Geld und ist gut zu Leihbibliotheken der großen Gesindstube des deutschen Witzes und Unrats.

5. Wir haben Gäste um uns, deren manche endlich schon sich entschließen, das barbarische Deutsche zu lernen, die also (bei Franzosen kann es nicht fehlen) uns bald in die Schule nehmen werden. Schon hat einer den Anfang gemacht 236 [217] und uns verwiesen, daß wir »so gern Originale und Fürstensklaven« sein mögen, daß es uns an Wörterbüchern, an einer richtigen Orthographie und an lateinischen Lettern mangle; solcher Belehrer werden sich mehrere finden. Und mit Verehrung werden die deutschen Zeitschriften diese Seltenheiten aufnehmen, nicht gnug zu rühmen wissen, wie sehr unsre Literatur dadurch in Aufnahme komme, indem sogar Ausländer sich endlich um sie bekümmern. Jeder, dem sein Vaterland lieb ist, hüte sich vor ihren beschämenden Schmeicheleien und mache sich ebensoviel aus dergleichen längst bekannten Ratschlägen. Was von Franzosen über unsre Literatur gesagt werden kann, ist hundertfach gesagt; wir aber wissen selbst am besten, wo uns der Schuh drückt, woran das Übel liege. Ich schämte mich, wenn die besten deutschen Schriftsteller sich aus einem Lobe wie z.B. im »Journal étranger« so viel machten und die Reservationen nicht bemerkten, mit denen jedes Lob gesagt war. Behüte Gott jeden Deutschen, daß er nicht um französischen und englischen Ruhm schreibe! Wo die Natur durch Sprache, Sitten und Charakter die Völker geschieden, da wolle man sie doch nicht durch Artefacta und chemische Operationen in eins verwandeln.

6. Mich dünkt, wir bleiben auf unserm Wege und machen aus uns, was sich machen läßt. Sage man über unsre Nation, Literatur und Sprache Böses und Gutes; sie sind einmal die unsern. Mit der französischen Sprache wollen wir nicht tauschen, ihr auch nicht beneiden, daß sie die Sprache der Welt sei. Büsch hat die Frage: »Gewinnt ein Volk in Absicht auf seine Aufklärung, wenn seine Sprache zur Universalsprache wird?« scharfsinnig und meinem Bedünken nach wahr beantwortet. 237 Als demütige Deutsche wollen wir das gesamte Universum noch nicht lehren, sondern von jeder Nation, von [218] der wir lernen können, lernen. Von den Altfranzosen sowohl als von den Neufranken wollen wir fortfahren zu lernen; denn eben von jenen ist uns, ihrer bösen Einführung wegen, unparteiisch betrachtet, noch vieles zu lernen übrig. Der eine Teil unsrer Nation nahm sie, ohne alles Verhältnis zu unsrem Dasein, mit blinder Verehrung auf und gewann an ihnen gerade das lieb, was für uns nicht diente: Plaisanterien über die Religion und Zoten; der andere verabscheuete sie um so mehr und betrug sich überhaupt etwas pedantisch. Vielleicht waren wir zum richtigen Empfang und zu Beurteilung dieser mannigfaltigen Zeit- und Geistesprodukte an beiden Teilen noch zu sehr im Nebel. Jetzt hat sich die Wolke zerteilt; Frankreich selbst hat die Folgen vom Mißbrauch mehrerer Grundsätze Rousseaus, Voltaire, Helvétius' gekostet; die Zeit hat über sie gerichtet und der Zuschauer Urteil gereifet. Selbst über Montesquieu sind wir noch in Schulden; denn mir ist kein deutsches Werk bekannt, das das französische für uns brauchbar oder entbehrlich gemacht hätte. Die ganze ältere französische Literatur erwartet zur Anwendung für uns noch ein ruhiges Auge.

7. Bei allen Mißleitungen einer so vielfach zerteilten Nation, wie die deutsche ist, bei Verirrungen, die jahrhundertelang gedauert haben und sich noch jetzt fast in jedes Urteil mischen, müssen wir am meisten auf die große Alliierte, die weise Lenkerin menschlicher Torheiten, die Providenz, rechnen. Ihr wollen wir's zuglauben, daß auch die Gallicomanie der Deutschen, die lächerlichste Torheit, deren sich ein ernsthaftes Volk bewußt sein kann, ihr Gutes haben werde; wäre es auch kein anderes, als Fehler zu entblößen, die man noch lange verschleiert hätte und gegen welche kein Salz der Komödie wirksam gewesen wäre. Die Mutter Zeit hat entschleiert; das Salz ist gekostet; tue es die beste Wirkung! Den ganzen Gallizismus unsrer oberen Stände gelinde abzuführen und den kalten, besonnenen Deutschen den Satz begreiflich zu machen, daß wir nirgend anders als in unserm Ulubrä, nach deutscher Weise, mit der Nation, die die unsrige ist, [219] wo nicht witzig, so doch vernünftig und glücklich sein sollen. Jedes andre, fremde Alfanzerei, ist vom Dämon. –

Noch sollte ich mich über den Vorwurf, als ob wir Deutsche die Engländer nicht gnug geehrt hätten, rechtfertigen; der aber widerlegt sich selbst. Mit den Briten stehen wir in reinerem Verhältnis; wir ehren sie aus Neigung über Gehühr, von ihnen keine Ehre erwartend. Unser Herz sagt uns nämlich, »auch wir hätten in den vorigen Jahrhunderten einen Bacon, Shakespeare, Milton haben können«; wir fühlen sie als Gebein von unserm Gebein, als Menschen unsrer Art; sie sind die auf eine Insel verpflanzten Deutschen. Daher sind von den Engländern selbst ihre trefflichsten Schriftsteller kaum mit so reger, treuer Wärme aufgenommen worden, als von uns Shakespeare, Milton, Addison, Swift, Thomson, Sterne, Hume, Robertson, Gibbon aufgenommen sind. Richardsons drei Romane haben in Deutschland ihre goldne Zeit erlebet; Youngs »Nachtgedanken,« »Tom Jones,« »Der Landpriester« haben in Deutschland Sekten gestiftet; in englischen Zeitschriften haben wir bewundert, selbst was wir nicht verstanden, was für uns nicht geschrieben war. Und wer wäre es, der die Schotten Ferguson, Smith, Stewart, Millar, Blair nicht ehrte? Auf diesem demütigen Wege wollen wir bleiben und nicht erwarten, daß man uns verstehe und ehre. Der Nationalruhm ist ein täuschender Verführer. Zuerst lockt er und muntert auf; hat er eine gewisse Höhe erreicht, so umklammert er den Kopf mit einer ehernen Binde. Der Umschlossene sieht im Nebel nichts als sein eigenes Bild, keiner fremden neuen Eindrücke mehr fähig. Behüte der Himmel uns vorsolchem Nationalruhm; wir sind noch nicht und wissen, warum wir noch nicht sind; wir streben aber und wollen werden.

[220] [Der deutsche Nationalruhm]

[Eine Epistel]


Bist du, Geliebter, noch so neu und jung,
Daß ein Gespenst, der Nationalruhm,
Dich äffet und betrübt? O sage mir,
Wo ist denn unsre Nation? Und du,
Ich, er und wir, wir alle, sind wir sie?
»Da,« sagst du, »lies im Briefe Winckelmanns,
Des Deutschen, wie der deutsche Reichsbaron
In Rom sich stolz und dumm gebärdet!« – Gut!
So der Baron; das sind gottlob nicht wir.
»Da,« sagst du, »lies, wie ein Tanzmeister einst
(Helvétius erzählt's) den Deutschen anfuhr:
›Ihr ein Engländer, Herr? Das seid Ihr nicht;
Ein deutscher Fürstendiener seid Ihr. Das
Seh ich an Eurem Gang, an Eurem Blick!‹«
Und jedem Deutschen, der sich in Paris
Für einen kecken, stolzen Briten gibt,
Und jedem Unverschämten in der Zunft
Der Fürstendiener wünsch ich den Marcel 238. –
Doch was soll uns das?
»Wie? gelüstet nicht
Dem Deutschen stets, der Vorderste zu sein?
Und weil es ihn gelüstet, dünkt er sich
[221] Voran. Ein Shakespeare, Milton, Swift und Young –
O hier ist mehr als Shakespeare, Milton, Young
Und Swift und Thomson! Lies einmal!«
Du tust
Dem Deutschen Unrecht. Wenn ein Tor so spricht
Spricht darum so die deutsche Nation?
Doch wenn ein armer Wicht das Präparat
Von Lieberkühn, von Meckel sieht und murrt
Bescheiden-traurig: »Ach, das könnt ich auch!
Mir fehlet's nur am Besten!« – wolltest du
Den Jüngling tadeln, daß er in sich fühlt,
Was er sein könnte und wohl nie sein wird,
Weil's ihm am Besten fehlet? – Wolltest du
Den Knaben schelten, der: »Das kann ich auch!«
Mit kühner Freude ruft, indes der Arm
Ihm schwach versaget? Denn er kann noch nicht
Den Bogen spannen. – »Knabe!« rufet ihm
Der Vater zu, »noch sieben Jahre, und
Du spannest ihn; sei wacker! übe dich!«
Wir Deutsche sind der arme Jüngling, wir
Der schwache Knabe. Ach, wir könnten wohl!
Du weißt, woran es liegt; wir können nicht.
Doch nicht verzweifelt! Gibt es Zeit und Glück,
So können wir dereinst.
Sieh rings umher!
Wer sind die Fleißigen, die Künstler in
[222] Britannien und Rußland, Dänemark
Und Siebenbürgen, Pennsylvanien
Und Peru und Granada? – Deutsche sind's,
Nur nicht in Deutschland. Vor dem Hunger flohn
Sie nach Saratow, in die Tatarei.
Du sahest Augsburg, Nürnberg; blutete
Dein Herz dir nicht, wenn du aus alter Zeit
Die Dürers und Sankt Sebald, Sankt Johann,
Die alten Drucke, Holz- und Kupferstich'
Und Fensterscheiben und so manche Kunst
Der Nürenberger, der Augsburger sahst
Und dann die hungernd Arbeitseligen
Der jetz'gen Zeit besuchtest? – Lies einmal
Mit Winckelmanns auch Lamberts Briefe, was
In Deutschland die Erfindung gilt!
In Rom
Sah ich den Fleißigsten der Deutschen; »Ah,
Il povero Tedesco!« sprach zu mir
Der Römer. »Warum povero?« »Warum?
Santa Maria! Dieser junge Mann,
So fleißig (und er lebet fast von nichts!),
Kommt er mit aller seiner Kunst dereinst
Dort über die Gebürge, spricht zu ihm
Sein Landesherr: ›Ich mag des Zeugs nicht mehr!‹
So muß er betteln!« – Ah! il povero! –
Du kennst doch unsern Luther, Freund, und hast
Den armen Bettelbrief gelesen, den
Bald nach dem Tode des großmütigen,
Wohltät'gen Mannes seine Ehefrau,
Die Mutter vieler Kinder, dürftig schrieb?
Wohin? nach Deutschland? Nein, nach Deutschland nicht!
[223] An Seine Majestät von Dänemark
Schrieb sie demütig: »Da doch auch sein Reich
Lutherisch heiße, möchte gnädigst er
Des Luthers armer Witwe und den Kindern
Etwas verleihen.« – Und der König tat's.
Du kennst auch Keplers Leben? Lies, o Freund!
Es ist merkwürdig: er verhungerte! –
Dann lies auch Newtons Leben zum Vergleich! –
Willst du noch mehr der Leben?
»Warum schrein
Die Deutschen nicht?« Ja, schrei und schrei und schrei!
Der Wald hat keine Ohren. Kennst du nicht
Das Epigramm: »Dem unglücksel'gen Pan
Ist Echo selbst auch in der Welle stumm!« –
»Und doch sind sie in ihrer Herren Dienst
So hündisch-treu! Sie lassen willig sich
Zum Mississippi und Ohiostrom,
Nach Candia und nach dem Mohrenfels
Verkaufen. Stirbt der Sklave, streicht der Herr
Den Sold indes, und seine Witwe darbt;
Die Waisen ziehn den Pflug und hungern. – Doch
Das schadet nicht; der Herr braucht einen Schatz.«
Grausam genug! Doch sollten darum dann
Die Väter treulos werden? Liegt das Ach
Der Witwen und der Waisen Seufzer, liegt
Des Vaters Leben und sein Seufzen dann
Nicht auch in seines Herren Schatz? – Geduld!
»Armselig Volk! Wie's einer macht, so hat er's!«
Nicht also! Freund: »Wie einer ist, so tut er
So heißt's. Der gute Deutsche tue Guts! –
Was sollte Rache? Und was hälfe sie?
[224] Stockprügel und die Kugel vor den Kopf – –
Er lasse Gott es über! –
»Gott? Der hat
Was anderes zu tun, als für den Deutschen
Zu sorgen, der die Sache nicht versteht.« –
So muß sie Gott verstehen! Oh, es flammt
Kein brennender Altar wie dieser! Sieh,
Der Witwen Angstgebet ist Weihrauch; sieh,
Des Vaters und der Waisen Seufzer fachen
Die Glut an. Wie die Flamme steigt! Sie sprüht!
Die Kohlen glühn auf des Verkäufers Haupt. – –
»Moral der alten Zeiten! Doch wohin
Sind wir verirrt? Vom Nationenruhm
Zu deutschen Negern!« –
Wohl! der erste Ruhm
Der Nation ist Unschuld; nie die Hand
Im Blut zu waschen, auch gezwungen es
So zu vergießen als sein eignes Blut –
Der zweite Ruhm ist Mäßigung. Es ruft
Der Hindus und der Peruaner Not,
Die Wut der Schwarzen und der Mexikaner
Gebratner Montezuma rufen noch
Zum Himmel auf und flehn Entsündigung! –
O glaube, Freund, kein Zeus mit seinem Chor
Der Götter kehrt zu einem Volke, das,
Mit solcher Schuld- und Blut- und Sündenlast
Und Gold- und Demantlast beladen, schmaust!
Er kehrt bei stillen Äthiopiern
Und Deutschen ein, zu ihrem armen Mahl.
Der dritte Nationenruhm ist Weisheit;
Nicht schlaue Truglist, schöne Worte nicht.
[225] Die Welt mit Worten äffen, ist ein Dunst
Des Dämons, der den Blendenden erstickt.
Wer alle Welt zum Toren hat, ist selbst
Der größte Tor; er spielt die blinde Kuh. –
Aufrichtigkeit ist Weisheit; Billigkeit
Und Rechttun ist Verstand.
»Doch du verschweigst
Die Grazien des Lebens. Gilt die Kunst,
Witz und Genie für nichts?«
Für vieles Freund,
Doch nicht für alles. Kunst, Genie und Witz
Ist nicht der Nationen einziger
Und höchster Ruhm, es sei denn jene Kunst,
Die Kunst der Künste, Weisheit. – Daß ein Narr
Mit angeborner Kunst sich vor mir spielt,
Und jene singt und diese liebend tanzt,
In Ohnmacht sinket und mit Reiz erwacht,
Daß auf der Bühne jener auf dem Seil
Das Herz der Weiber regt, ein andrer dort
Den Brummbaß streichet und durch Löcher bläst
Und dieser Verse drechselt, jener Punsch
Zu Eis bereitet: gut mag es zwar sein,
Doch nicht das Beste, das Notwendigste.
Pythagoras, Konfuz und Sokrates,
Sie wußten nichts davon und rechneten
Auch nicht darauf. Ein gar armselig Volk,
Das sein Verdienst nur auf der Bühne, nur
Auf Brettern hat und es aus Löchern bläst! –
»Und dennoch ist's Verdienst!« –
Ein örtliches!
Der Himmel teilt die Gaben, wie er will.
Nicht jedes Klima, jeder Boden gibt
[226] Dieselben Früchte; nicht auch jede Zeit,
Noch jeder Baum und Wurzel, Halm und Strauch
Dieselbe. Wer vom Baume Most, vom Eis
Die Ananas begehret, ist –
»Ereifre
Dich nicht, o Freund! Es bleibet Ananas
Und Schlehbeer unterschieden Shakespeare,
Homer und Ossian und Raffael
Sind doch wohl Nationenruhm?« –
Mitnichten!
Dem Menschengeist gehören sie und nicht
Der Nation. Mir ist es Greuel, wenn
Der gröbste Brite Shakespeares sich rühmt,
Als sei er's selbst, als hätt er ihn gezeugt
Und zimmern helfen. Ihn geschmähet hat
Die Nation durch manche Äfferei
Und blinden Stolz. – Des Dichters Auge, das
In schönem Wahnsinn über Meer und Land
Und Erd und Himmel flog und jede Welt
In ihrer Schönheit sah – dies Auge war
Nicht in Cambridge, auch von Dollond nicht
Geschliffen; Auge war es der Natur.
Die göttliche Idee, die Raffael
Begeisterte, war eines Engels Traum,
Kein Urbinatsches Töpferwerk. Und ist
Urbino denn Italien? – Der Ruhm,
Der auf den Farbenreiber überging
Vom Maler, ist ein wahrerer als der,
Wenn hundert Jahre drauf der Römer ruft:
»Wir hatten einen Raffael!« Warum,
Ihr guten Römer, habt ihr ihn nicht mehr?
Der Glanz, o Freund, der von dem göttlichsten
Genie die Nation bestrahlet, ist
[227] Ein Götterglanz, der nur die Würdigsten
Erleuchtet und verklärt; dem Schwachen nimmt
Er seiner Augen Licht; dem Toren, oft
Der Nation enthüllt er wie ein Blitz
Nur ihre Niedrigkeit. Verschmachtete
Der Kanzler Baco nicht und lechzete
Umsonst im Sterben nur nach besserm Bier? 239
[228] Der vierte Nationenruhm ist Tat
Zum Wohl der Menschen. Was ein ganzes Volk
Gezwungen und in Trunkenheit getan,
Das tat es nicht. Und was die Königin
Titania, die Zeit, durch ihren Puck
Im Scherz hinspielte, noch viel weniger.
Das Werk der einzelnen zum Wohl der Welt,
Jetzt in Erfindung, auch im Willen nur –
Heil ihnen, wenn es einst die Nation
Mit dankendem Gefühl begrüßet, bis
Es allen Völkern zum Gedeihen kommt! –
Wer diesen Äther des Verdienstes trinkt,
Wie schwinden ihm die Namen! Hoch aufgehn
Läßt er die Sonn auf eine halbe Welt
Und regnet allen Nationen Heil. –
»Mich wundert, daß du nicht die Druckerei
Der Deutschen rühmest; sie sind stolz darauf!« –
Nicht stolz, nur dankbar. Gibt sie nicht dem Wort
Allgegenwart, Gemeinnutz, Ewigkeit?
An Zeiten bindet sie die Zeiten, knüpft
Gedanken an Gedanken, Fleiß an Fleiß;
Ein Genius der wachsenden Vernunft,
Das Band getrennter Seelen, sie, die Schrift
Der Schriften, einigt aller Menschen Herz
Und Sinn und Geist; sie wehrt der Barbarei
Und spottet des Naturgesetzes, das
Jedweden einzelnen so bald begräbt.
In Schriften lebt von ihm der beßre Teil,
Durch sie unsterblich. –
Aber hör, o Freund,
Das alles ist im Nationenruhm
Das Höchste nicht!
»Und gäb's ein Höheres?«
Ein Höchstes: nützende Verborgenheit
[229] Wenn dein Verdienst der leichte Nachbar dir
Entwendet und der reichere genießt;
Wenn bettelnd du zu ihm hinwandern mußt
Und flehen ihm, daß er dein Gutes doch
Als seines nütze; wenn dein Weib und Kind
Zu Hause darbt und du mit Leibsgefahr
Dich aus dem Lande stahlest, das dir nichts
Als eine rote Binde zum Geschenk
Zu geben hatte, dennoch dir das Herz
Vor Freude schlägt zu deinem Werk und du
Den kalten Hohn der Toren trägest, liebst
Dein Vaterland, in ihm die tausend guten
Mitduldenden, du liebst das deutsche Weib,
Den deutschen Mann und Freund und Untertan
Und Bürger und Arbeiter, liebest selbst
Die deutsche Dumpfheit und Verlegenheit,
Und Treu und Einfalt mehr als jeden Stolz
Begüterter Barbaren: bleibe der!
So wohnt in dir die deutsche Nation.
»Da wohnt sie eng und sehr inkognito.
Ich merk, es geht aufs alte Sprüchwort aus:
So ihr, doch nicht für euch!‹«
Ein hohes Wort,
Wenn uns die Schickung wert hält, nicht für uns,
Für andere zu sein. Es wendet sich
Der Zeiten Blatt. Was sinket, ist darum
Das Schlechtre nicht. Wir lernen jetzt und stets,
Stets laßt uns lernen! Laßt uns fröhlich sä'n
Im Nebel auch; die Ernte kommt gewiß.
[230]

Zehnte Sammlung

(1797)


[231][233]

114.

Aber warum müssen Völker auf Völker wirken, um einander die Ruhe zu stören? Man sagt, der fortgehend wachsenden Kultur wegen; wie gar etwas anders sagt das Buch der Geschichte!


Hatten jene Berg- und Steppenvölker aus Nordasien, die ewigen Beunruhiger der Welt, es je zur Absicht oder waren sie je imstande, Kultur zu verbreiten? Machten die Chaldäer nicht einem großen Teil der alten Herrlichkeit des Vorderasiens eben ein Ende? Attila, so viele Völker, die ihm vorgingen und nachfolgten, wollten sie die Fortbildung des Menschengeschlechts befördern? Haben sie sie befördert?

Ja, die Phönizier, die Karthager mit ihren gerühmten Kolonien, die Griechen selbst mit ihren Pflanzstädten, die Römer mit ihren Eroberungen, hatten sie diesen Zweck? Und wenn sich durch das Reiben der Völker aneinander hier etwa diese Kunst, dort jene Bequemlichkeit verbreitete, leisten diese wohl Ersatz für die Übel, die das Drängen der Nationen aufeinander dem Siegenden und dem Besiegten gaben? Wer vermag das Elend zu schildern, das die griechischen und römischen Eroberungen dem Erdkreise, den sie umfaßten, mittelbar und unmittelbar brachten? 241

[233]

Selbst das Christentum, sobald es als Staatsmaschine auf fremde Völker wirkte, drückte sie schrecklich; bei einigen verstümmelte es dergestalt ihren eigentümlichen Charakter, daß keine anderthalbtausend Jahre ihn haben zurechtbringen mögen. Wünschten wir nicht, daß z.B. der Geist der nordischen Völker, der Deutschen, der Galen, Slawen u.f., ungestört und rein aus sich selber hätte hervorgehen mögen?

Und was nutzten die Kreuzzüge dem Orient? Welches Glück haben sie den Küsten der Ostsee gebracht? Die alten Preußen sind vertilget; Liven, Esten und Letten im ärmsten Zustande fluchen im Herzen noch jetzt ihren Unterjochern, den Deutschen.

Was endlich ist von der Kultur zu sagen, die vonSpaniern, Portugiesen, Engländern und Holländern nach Ost- und Westindien, unter die Neger nach Afrika, in die friedlichen Inseln der Südwelt gebracht ist? Schreien nicht alle diese Länder, mehr oder weniger, um Rache? Um so mehr um Rache, da sie auf eine unübersehliche Zeit in ein fortgehend wachsendes Verderben gestürzt sind. Alle diese Geschichten liegen in Reisebeschreibungen zutage; sie sind bei Gelegenheit des Negerhandels zum Teil auch laut zur Sprache gekommen. Von den spanischen Grausamkeiten, vom Geiz der Engländer, von der kalten Frechheit der Holländer, von denen man im Taumel des Eroberungswahnes Heldengedichte schrieb, sind in unsrer Zeit Bücher geschrieben, die ihnen so wenig Ehre bringen, daß vielmehr, wenn ein europäischer Gesamtgeist anderswo als in Büchern lebte, wir uns des Verbrechens beleidigter Menschheit fast vor allen Völkern der Erde schämen müßten. Nenne man das Land, wohin Europäer kamen und sich nicht durch Beeinträchtigungen, durch ungerechte Kriege, Geiz, Betrug, Unterdrückung, durch Krankheiten und schädliche Gaben an der unbewehrten, zutrauenden Menschheit, vielleicht auf alle Äonen hinab, versündigt haben! Nicht der weise, sondern der anmaßende, zudringliche, übervorteilende Teil der Erde muß unser Weltteil heißen; er hat nicht kultiviert, sondern die Keime[234] eigner Kultur der Völker, wo und wie er nur konnte, zerstöret. 242

Was ist überhaupt eine aufgedrungene, fremde Kultur? eine Bildung, die nicht aus eignen Anlagen und Bedürfnissen hervorgeht? Sie unterdrückt und mißgestaltet, oder sie stürzt gerade in den Abgrund. Ihr armen Schlachtopfer, die ihr von den Südseeinseln nach England gebracht wurdet, um Kultur zu empfangen, ihr seid Sinnbilder des Guten, das die Europäer überhaupt andern Völkern mitteilen. 243 Nicht anders also als gerecht und weise handelte der gute Kien-Long, da er dem fremden Vizekönig schnell und höflich mit tausend Freudenfeuern den Weg aus seinem Reich zeigen ließ. Möchte jede Nation klug und stark gnug gewesen sein, den Europäern diesen Weg zu zeigen! –

Wenn wir nun sogar lästernd vorgeben, daß durch diese Beeinträchtigungen der Welt der Zweck der Vorsehung erfüllt werde, die uns ja eben dazu Macht und List und Werkzeuge gegeben habe? die Räuber, Störer, Aufwiegler und Verwüster [235] aller Welt zu werden, wer schauderte nicht vor dieser menschenfeindlichen Frechheit? Freilich sind wir, auch mit Torheiten und Lastertaten, Werkzeuge in den Händen der Vorsehung, aber nicht zu unserm Verdienst, sondern vielleicht eben dazu, daß wir durch eine rastlose höllische Tätigkeit im größesten Reichtum arm, von Begierden gefoltert, von üppiger Trägheit entnervt, am geraubten Gift ekel und langweilig sterben.

Und wenn einige Neulinge mit Anmaßungen solcher Art alle Wissenschaften beflecken, wenn sie die gesamte Geschichte der Menschheit dahin abzweckend finden, daß auf keinem andern als diesem Wege den Nationen Heil und Trost widerfahren könne, sollte man da unser ganzes Geschlecht nicht aufs empfindlichste bedauren?

Ein Mensch, sagt das Sprichwort, ist dem andern ein Wolf, ein Gott, ein Engel, ein Teufel; was sind die aufeinander wirkende Menschenvölker einander? Der Neger malt den Teufel weiß, und der Lette will nicht in den Himmel, sobald Deutsche da sind. »Warum gießest du mir Wasser auf den Kopf?« sagte jener sterbende Sklave zum Missionar. – »Daß du in den Himmel kommest.« – »Ich mag in keinen Himmel, wo Weiße sind,« sprach er, kehrte das Gesicht ab und starb. Traurige Geschichte der Menschheit!

Neger-Idyllen

Die Frucht am Baume


Ich ging im schönsten Zedernhain
Und hörete der Vögel Lied,
Bewundernd ihrer Farben Glanz,
Bewundernd ihrer Bäume Pracht –
Als plötzlich aus der Höhe mich
Ein Ächzen weckte. Welch Gesicht! –
Ein Käfig hing am hohen Baum,
Umlagert von Raubvögeln, schwarz
Umwölket von Insekten. –
[236]
Als
Die Kugel meines Rohres sie
Verscheucht, sprach eine Stimme: »Gib
Mir Wasser, Mensch! Es dürstet mich.« –
Ich sah den menschenwidrigsten
Anblick. Ein Neger, halb zerfleischt,
Zerbissen; schon ein Auge war
Ihm ausgehackt. Ein Wespenschwarm
An offnen Wunden sog aus ihm
Den letzten Saft. Ich schauderte.
Und sah umher. Da stand ein Rohr
Mit einem Kürbis, womit ihn
Barmherzig schon sein Freund gelabt.
Ich füllete den Kürbis. – »Ach!«
Rief jenes Ächzen wieder, »Gift
Darein tun, Gift! du weißer Mann!
Ich kann nicht sterben.«
Zitternd reicht
Ich ihm den Wassertrank: »Wie lang,
O Unglücksel'ger, bist du hier?« –
»Zwei Tage, und nicht sterben! Ach,
Die Vögel! Wespen! Schmerz! o Weh!«
Ich eilte fort und fand das Haus
Des Herrn im Tanz, in heller Lust.
Und als ich nach dem Ächzenden
Behutsam fragte, höret ich,
Daß man dem Jünglinge die Braut
Verführen wollen und wie er,
Das nicht ertragend, sich gerächt.
Dafür dann büße nun sein Stolz
Die Keckheit und den Übermut.
[237]
»Und der Verführer?« fragt ich.
»Trinkt
Dort an der Tafel.«
Schaudernd floh
Ich aus dem Saal zum Sterbenden.
Er war gestorben. – Hatte dich,
Unglücklicher, mein Trank zum Tode
Gestärket, o so gab ich dir
Das reichste, süßeste Geschenk.

Die rechte Hand

Ein edler Neger, seinem Lande frech
Entraubet, blieb auch in der Sklaverei
Ein Königssohn, tat edel seinen Dienst
Und ward der Mitgefangnen Trost und Hat.
Einst als sein Herr, der weiße Teufel, wütend
Im Zorn der Sklaven einem schnellen Tod
Aussprach, trat Fetu bittend vor ihn hin
Und zeigte seine Unschuld. »Widersprichst
Du mir? Du selbst, du sollst sein Henker sein!«
»Sogleich!« antwortet Fetu, »nur noch einen,
Noch einen Augenblick!« Er flog hinweg
Und kam zurück, in seiner linken Hand
Die abgehaune rechte haltend, die
Den Henkersdienst vollführen sollte. Tief
Gebückt, legt, er sie vor den Herrn: »Fodre,
Gebieter, von mir, was du willst, nur nichts
Unwürdiges!«
Er starb an seiner Wunde,
Und seine Hand ward auf sein Grab gepflanzt.
[238] Wie manche Arme lägen! – Nein doch, nein!
Gar viele lägen nicht; die Willkür wird
Ohnmächtig, wenn es ihr am Werkzeug fehlt.
Sprichst du hingegen: »Wie der Herr gebeut!«
Und: »Tu ich's nicht, so tut's ein anderer;
Lieb ist ja jedem seine rechte Hand!«
So henken Sklaven (das Gefühl des Unrechts
In ihrem Herzen) andre Sklaven frech
Und scheu und stolz, bis sie ein dritter henkt. 244

Die Brüder

Mit seinem Herren war ein Negerjüngling
Von Kindheit an erzogen; eine Brust
Hatt sie genährt. Aus seiner Mutter Brust
Hatt afrikan'sche Bruderliebe Quassi
Zu seinem Herrn gesogen, hütete
Sein Haus und lebte, lebte nur in ihm.
Der Neger glaubte sich von seinem Herrn
(Einst seinem Spielgesellen) auch geliebt,
Tat, was er konnte, lebend nur für ihn.
Und – bittre Täuschung! – einst um ein Vergessen,
Das auch dem Göttersohn begegnen kann,
[239] Ergrimmete sein Herr und sprach zu ihm
Von Karrenstäupe. 245
Wie vom Blitz gerührt,
Stand Quassi da, der treue Freund, der Bruder,
Der liebende Anbeter seines Herrn.
Das Wort im Herzen, deckte schwarzer Gram
Die ganze Schöpfung ihm. Verstummt entzog
Er sich des Herren Anblick. – Meinet ihr,
Er floh? Mitnichten! Sicher hoffend noch,
Daß ihn ein Freund, daß die Erinnerung
Der Jugend ihn versöhne, rettet' er
Sich in der niedern Sklaven Hütte, die
Ihn hoch verehreten. Da wartet' er
Ein nahes Fest ab, das sein Herr dem Neffen
Bereitet' und ein Tag der Freude war.
»Dann,« sprach er bei sich selbst, »wird ihm die Zeit
Der Jugend wiederkehren. Billigkeit
Und meine Unschuld, meine Lieb und Treu
Wird für mich sprechen. Er vergaß sich; doch
Er wird sich wiederfinden.« –
Jetzt erschien
Der Tag; das Fest ging an, und Quassi wagte
Sich auf den Hof.
Doch als sein Herr ihn sah,
Ergrimmet wie ein Leu, der Blut geleckt,
Sprang er auf ihn. Der Arme floh. Der Tiger
Erjagt ihn; beide stürzen; stampfend kniet
Sein Herr auf ihm, ihm jede Marter drohend.
Da hub mit aller seiner Negerkraft
Der Jüngling sich empor und hielt ihn fest
Danieder, zog ein Messer aus dem Gurt
[240] Und sprach: »Von Kindheit an mit Euch erzogen,
In Knabenjahren Euer Spielgesell,
Liebt ich Euch wie mich selbst und glaubte mich
Von Euch geliebet. Ich war Eure Hand,
Eur Auge. Euer kleinster Vorteil war
Mein eifrigster Gedanke Tag und Nacht;
Denn das Vertraun auf Eure Liebe war
Mein größter Schatz auf dieser Welt. Ihr wißt,
Ich bin unschuldig; jene Kleinigkeit,
Die Euch aufbrachte, ist ein Nichts. Und Ihr,
Ihr drohtet mir mit Schändung meiner Haut.
Das Wort kann Quassi nicht ertragen; denn
Es zeigt mir Euer Herz.«
Er zog das Messer
Und stieß es – meint ihr in des Tigers Brust?
Nein! selbst sich in die Kehle. Blutend stürzt'
Er auf den Herren nieder, ihn umfassend,
Beströmend ihn mit warmem Bruderblut.
Wie manche Kugel in Europa fuhr
In des Beleidigten gekränktes Hirn,
Die den Beleidiger fromm verschonete!
Wie manches »Ich der König« fraß das Herz
Des Dieners auf mit langsam-schnellem Gift! 246
O wenn Gerechtigkeit vom Himmel sieht,
Sie sah den Neger auf dem Weißen ruhn.

[241] Zimeo

Ein Lärm erscholl; die weite Ebne stand
In Flammen; zwei-, dreihundert Wirbelsäulen
Von rotem, grünem, gelbem Feuer stiegen
Zum Himmel auf, und vom Gebürge drückt
Ein langer schwarzer Rauch sich schwer herab,
Durch den die Morgensonne ängstlich drang,
Kaum seinen Saum vergüldend. Traurig blickten
Der Berge Spitzen aus dem Rauch hervor,
Und fern am Horizont das helle Meer.
Die herdenvolle Ebne war voll Angst-
Geschrei der Fliehenden, verfolgt von Schwarzen,
Die unter blühenden Pflanzungen Kaffee,
Kakao, Zuckerrohr und Indigo
Und Ruku, in Pomranzenlauben sie
Erwürgten. In der Vögel Lied ergoß
Sich Weh und Ach der Sterbenden. –
Da trat
Ein Mann vor uns mit Blute nicht befleckt,
Und Güte sprach in seinen Zügen, die
[242] Im Augenblick mit Zorn und Trauer, Wut
Und Wehmut wechselten. Gebietend stand
Er wie ein Halbgott da, geboren, zu befehlen.
Und milde sprach er: »Höret, hört mich an,
Ihr Friedensmänner, wendet eure Herzen
Zum unglücksel'gen Zimeo.« Er ist
Mit Blute nicht befleckt; zwar wär es nur
Gottloser Blut: denn meiner Brüder Qual
Rief vom Gebürge 247 mein Geschlecht herab,
An Tigern sie zu rächen. Aber ich
Begleitet sie, sie einzuhalten; wo
Ich irgend Milde fand, verschont ich. Ich
Verschmähte, selbst mit schuld'ger Weißen Blut
Mich zu beflecken. Sklaven, tretet her,
Wie lebt ihr hier? – O wendet eure Herzen,
Ihr Friedensmänner, nicht vom Zimeo.
Er rief die Sklaven unsres Hauses, sie
Befragend um ihr Schicksal. Alle traten
Mit Freude vor ihn hin, erzählend ihm
Ihr Leben. »Komm, o Edler,« sprachen sie,
»Sieh unsre Kleider, unsre Wohnungen.«
Sie zeigten ihm ihr Geld; die Freigelaßnen
Umringten uns und küßten unser Knie
Und schwuren, nie uns zu verlassen.
Tief
Gerührt stand Zimeo, die Augen jetzt
Auf uns, dann auf die Sklaven wendend, dann
Zum Himmel: »Mächtiger Orissa, der
Die Schwarzen und die Weißen schuf, o sieh,
Sieh auf die wahren Menschen; dann bestrafe
Die Frevler! – Reicht mir eure Hand! –
[243] Von nun an
Will ich zwei Weiße lieben.«
Nieder warf er
Auf eine Matte sich im Schatten. »Hört
Den unglücksel'gen Zimeo! Er ist
Nicht grausam! Beim Orissa! nicht, nur tief
Unglücklich.« – Laut aufschluchzend hielt er ein.
Da stürzten zu ihm zwei von unsern Sklaven:
»Wir kennen dich, Sohn unsres Königes,
Des mächt'gen Damiels. Ich sah dich oft
Zu Benin.« – »Ich zu Onebo.« – Sie traten
Zurück. – Er rief sie freundlich zu sich: »Bleibt,
Ihr meine Landesleute, bleibt mir nah!
Zum ersten Male wird Jamaikas Luft
Mir angenehm, da ich mit Euch sie atme.«
Er faßte sich und sprach: »Ihr Friedensmänner,
Hört meine Qual. Mein Vater sandte mich,
Daß mich des Hofes Schmeicheleien nicht
Verderbeten, zum Dorfe Onebo.
Ein fleißig Dorf von Ackerleuten. Da
Erzog Matomba mich, der weiseste
Der Menschen. Ach, verloren ist er mir
Und seine Tochter, meine Elavo,
Mein Weib.« Er weinete; dann fuhr er fort:
»Ihr Weiße habt nur eine halbe Seele,
Die nicht zu lieben, nicht zu hassen weiß.
Nur Gold ist eure Leidenschaft. – Doch höret! –
Als ich in Onebo (o schönes Land
Voll süßester Erinnrung!) mit Matomba,
Ein Ackersmann, und froh und glücklich war
Mit meiner Elavo im ersten Traum
Der Liebe, sieh, da kam ein schwarzes Schiff
Der Portugiesen an die Küste. Oh,
Hätt ich es nie gesehn! Zu Benin werden
[244] Verbrecher nur verkauft. Zu Onebo
War kein Verbrecher. – Also luden uns
Die Räuber auf ihr Schiff. Ein Fest begann;
Musik erklang, ein Tanz. – Noch hör ich ihn,
Den fürchterlichen Schuß der Abfahrt, mitten
In der Musik. Man lichtete die Anker;
Die Küste floh, sie floh. Da half kein Flehn,
Kein Bitten, Rufen! Ach verschone mich,
Du Angedenken! – Hartgefesselt lagen
In tiefem Gram, in schwarzer Trauer wir.
Drei Jünglinge von Benin nahmen sich
Das Leben; ich nahm mir es nicht, um meiner
Geliebten Elavo, um meines guten
Matomba willen. ›Ihnen kannst du doch
Vielleicht noch helfen‹, dacht ich ›sie verlassen,
Das kannst du nicht.‹ Ihr Anblick gab mir Trost.
So kamen wir nach vielen Leiden in
Den Hafen. Und, o bittrer Augenblick!
Da wurden wir getrennt. Vergebens warf
Mein Weib, ihr Vater sich dem Ungeheur
Zu Füßen; ich mit ihnen. Wilden Blicks
Stürzt, Elavo auf mich; ich faßte sie
Mit eiserm Arm. Umsonst! Man riß sie los.
Noch hör ich ihr Geschrei! ich seh ihr Bild!
Sie trug ein Kind von mir in ihrem Schoß. –
Ich seh Matomba!« –
Plötzlich stürzte Franz,
Mein guter Franz, den von den Spaniern
Aus Mitleid über seine Qualen ich
Mit seiner schönen Tochter losgekauft
Und mit mir hergeführt (er war bisher
Im Innersten des Hauses zur Bedeckung
Der Fraun gewesen), plötzlich stürzte Franz
Mit Mariannen hin auf Zimeo.
»Matomba! Elavo!« – »Mein Zimeo!
[245] Sieh deinen Sohn! – Um seinetwillen nur
Ertrugen wir das Leben, bis wir hier
Die Guten fanden. Zimeo! Dein Sohn!« –
Er nahm das Kind in seinen Arm. »Er soll
Kein Sklave eines Weißen werden, er,
Der Sohn, den Elavo gebar.«
»Ohn ihn
Hätt ich die Welt schon längst verlassen,« sprach
Die Weinende, »jetzt hab ich dich und ihn!«
Wer spricht das Wiedersehn der Liebenden,
Die kaum einander mehr zu sehen hofften,
Mit Worten aus? Des Vaters Auge, das
Vom Säugling auf die Mutter, auf Matomba
Und dann zum Himmel flog und wieder dann
Sanft auf dem Kinde ruhte. Herzensdank,
Wie nie ein Weißer ihn ausdrücken mag,
Wahnsinn des Dankes sageten sie uns,
Und schieden zum Gebürg. O führete
Ein freundlich Schiff sie bald zum Vater, der
Den Sohn beweinet, hingen Onebo,
Den Ort der ersten Liebe, in die Luft
Des süßen Vaterlandes Benin!

Der Geburtstag

Am Delaware feierte ein Freund 248,
Ein Quacker, Walter Miflin, seinen Tag
Des Lebens so:
»Wie alt bist du, mein Freund?«
»Fast dreißig Jahre,« sprach der Neger.
»Nun,
So bin ich dir neun Jahre schuldig; denn
[246]
Im einundzwanzigsten spricht das Gesetz
Dich mündig. Menschheit und Religion
Spricht dich gleich allen weißen Menschen frei.
In jenem Zimmer schreibet dir mein Sohn
Den Freiheitbrief; und ich vergüte dir
Das Kapital, das in neun Jahren du
Verdienetest, landüblich, acht Prozent.
Du bist so frei als ich, nur unter Gott
Und unter dem Gesetz. Sei fromm und fleißig!
Im Unglück oder Armut findest du
An Walter Miflin immer deinen Freund.«
»Herr, lieber Herr!« antwortet Jakob, »was
Soll ich mit meiner Freiheit tun? Ich bin
Bei Euch geboren, ward von Euch erzogen,
Arbeitete mit Euch und aß wie Ihr.
Mir mangelt nichts. In Krankheit pflegete
Mich Eure Frau als Mutter, tröstete
Mich liebreich. Wenn ich denn nun krank bin« –
»Jakob!
Du bist ein freier Mann, arbeite jetzt
Um höhern Lohn; dann kaufe dir ein Land.
Nimm eine Negerin, die dir gefällt,
Die fleißig und verständig ist wie du,
Zur Frau und lebe mit ihr glücklich. Wie
Ich dich erzogen, zieh auch deine Kinder
Zum Guten auf und stirb in Friede. – Frei
Bist du und mußt es sein. Die Freiheit ist
Das höchste Gut. Gott ist der Menschen, nicht
Allein der Weißen Vater. Gäb er doch
In aller meiner Brüder Sinn und Herz,
Nach Afrika zu handeln, nicht daraus
Euch zu entwenden, euch zu kaufen und
Zu quälen!« – »Guter Herr, ich kann Euch nicht
Verlassen; denn nie war ich Euer Sklav.
Ihr fodertet nicht mehr von mir, als andre
[247]
Für sich arbeiten. Ich war glücklicher
Und reicher als so viele Weiße. Laßt
Mich bei Euch, lieber Herr.«
»So bleibe dann
In meinem Dienst, du guter Jakob, doch
Als freier Mann! Du feierst diese Woche
Dein Freiheitfest, und dann arbeitest du,
So lange dir's gefällt, um guten Lohn
Bei mir, bis ich dich treu versorge. Sei
Mein Freund! Jakob.«
Der Schwarze drückt' die Hand
Des guten Walter Miflins an sein Herz:
»So lange dieses schläget, schlägt's für Euch!
Nur heute feiren wir, und morgen frisch
Zur Arbeit! Freud und Fleiß ist unser Fest.«
Ging schöner je die Sonne nieder als
Denselben Tag am Delawarestrom?
Jedoch ihr schönster Glanz war in der Brust
Des guten Mannes, der für kein Geschenk,
Der nur für Pflicht hielt seine gute Tat.

115.

Allerdings eine gefährliche Gabe, Macht ohne Güte, erfindungsreiche Schlauigkeit ohne Verstand. Nurkönnen, haben, herrschen, genießen will der verdorben-kultivierte Mensch, ohne zu überlegen, wozu er könne, was er habe und ob, was er Genuß nenne, nicht zuletzt eine Ertötung alles Genusses werde. Welche Philosophie wird die Nationen Europas von dem Stein des Sisyphus, vom Rade Ixions erlösen, dazu sie eine lüsterne Politik verdammt hat?

In Romanen beweinen wir den Schmetterling, dem der Regen die Flügel netzt; in Gesprächen kochen wir von großen Gesinnungen über; und für jene moralische Verfallenheit [248] unsres Geschlechts, aus der alles Übel entspringt, haben wir kein Auge. Dem Geiz, dem Stolz, unsrer trägen Langenweile schlachten wir tausend Opfer, die uns keine Träne kosten. Man hört von dreißigtausend um nichts auf dem Platz gebliebenen Menschen, wie man von herabgeschüttelten Maikäfern, von einem verhagelten Fruchtfelde hört, und wird den letzten Unfall vielleicht mehr als jene bedauren. Oder man tadelt, was in Peru, Ismail, Warschau geschah, indem man, sobald unser Vorurteil, unsre Habsucht dabei ins Spiel kommt, ein Gleiches und ein Ärgeres mit verbissenem Zorn wünschet.

So ist's freilich. Es ist ein bekannter und trauriger Spruch, daß das menschliche Geschlecht nie weniger liebenswert erscheine, als wenn es nationenweise aufeinander wirket.

Sind aber auch die Maschinen, die so aufeinander wirken, Nationen, oder mißbraucht man ihren Namen?

Die Natur geht von Familien aus. Familien schließen sich aneinander; sie bilden einen Baum mit Zweigen, Stamm und Wurzeln Jede Wurzel gräbt sich in den Boden und suchet ihre Nahrung in der Erde, wie jeder Zweig bis zum Gipfel sie in der Luft sucht. Sie laufen nicht auseinander; sie stürzen nicht übereinander.

Die Natur hat Völker durch Sprache, Sitten, Gebräuche, oft durch Berge, Meere, Ströme und Wüstengetrennt; sie tat gleichsam alles, damit sie lange voneinander gesondert blieben und in sich selbst bekleibten. Eben jenes Nimrods weltvereinigendem Entwurf zuwider, wurden (wie die alte Sage sagt) die Sprachen verwirrt; es trenneten sich die Völker. Die Verschiedenheit der Sprachen, Sitten, Neigungen und Lebensweisen sollte ein Riegel gegen die anmaßende Verkettung der Völker, ein Damm gegen fremde Überschwemmungen werden; denn dem Haushalter der Welt war daran gelegen, daß zur Sicherheit des Ganzen jedes Volk und Geschlecht sein [249] Gepräge, seinen Charakter erhielt. Völker sollten nebeneinander, nicht durch- und übereinander drückend wohnen.

Keine Leidenschaften wirken daher in allem Lebendigen so mächtig, als die auf Selbstverteidigung hinausgehn. Mit Lebensgefahr, mit vielfach-verdoppelten Kräften schützt eine Henne ihre Jungen gegen Geier und Habicht; sie hat sich selbst, sie hat ihre Schwäche vergessen und fühlt sich nur als Mutter ihres Geschlechts, eines jungen Volkes. So alle Nationen, die man Wilde nennt; mögen sie sich gegen fremde Besucher mit List oder mit Gewalt verteidigen. Armselige Denkart, die ihnen dies verübelt, ja gar die Völker nach der Sanftmut, mit der sie sich betrügen und fangen lassen, klassifizieret. 249 Gehörte ihnen nicht ihr Land? und ist's nicht die größeste Ehre, die sie dem Europäer gönnen können, wenn sie ihn bei ihrem Mahl verzehren? Um in Büschings Geographie genauer aufgezeichnet zu stehn, um in gestochenen Kupfern den müßigen Europäer zu ergötzen und mit den Produkten ihres Landes den Geiz einer Handelsgesellschaft zu bereichern: ich weiß nicht, warum sie Sich dazu sollten geschaffen glauben.

Leider ist's also wahr, daß eine Reihe Schriften, englisch, französisch, spanisch und deutsch, in diesem anmaßenden, habsüchtigen Eigendünkel verfasset, zwar europäisch, aber gewiß nicht menschlich geschrieben sei'n; die Nation ist bekannt, die sich hierin ganz zweifellos äußert: »Rule, Britannia, rule the waves«; mit diesem Wahlspruch, glaubt mancher, sei'n ihnen die Küsten, die Länder, die Nationen und Reichtümer der Welt gegeben. Der Captain und sein Matrose [250] sei'n die Haupträder der Schöpfung, durch welche die Vorsehung ihr ewiges Werk ausschließend zur Ehre der britischen Nation und zum Vorteil der Indischen Companie bewirket. Politisch und fürs Parlament mögen solche Berechnungen und Selbstschätzungen gelten; dem Sinn und Gefühl der Menschheit sind sie unerträglich. 250 Vollends wenn wir arme, schuldlose Deutsche hierin den Briten nachsprechen – Jammer und Elend!

Was soll überhaupt eine Messung aller Völkernach uns Europäern? wo ist das Mittel der Vergleichung? Jene Nation, die ihr wild oder barbarisch nennt, ist im wesentlichen viel menschlicher als ihr; und wo sie unter dem Druck des Klima erlag, wo eine eigne Organisation oder besondre Umstände im Lauf ihrer Geschichte ihr die Sinne verrückten, da schlage sich doch jeder an die Brust und suche den Querbalken seines eignen Gehirnes. Alle Schriften, die den an sich schon unerträglichen Stolz der Europäer durch schiefe, unerwiesene oder offenbar unerweisbare Behauptungen nähren – verachtend wirft sie der Genius der Menschheit zurück und spricht: »Ein Unmensch hat sie geschrieben!«

Ihr edleren Menschen, von welchem Volk ihr seid, Las [251] Casas, Fénelon, ihr beiden guten St. Pierre, so mancher ehrliche Quacker, Montesquieu, Filangieri, deren Grundsätze nicht auf Verachtung, sondern auf Schätzung und Glückseligkeit aller Menschennationen hinausgehn; ihr Reisenden, die ihr euch, wie Pagès und andre, in die Sitten und Lebensart mehrerer, ja aller Nationen zu setzen wußtet und es nicht unwert fandet, unsre Erde wie eine Kugel zu betrachten, auf der mit allen Klimaten und Erzeugnissen der Klimate auch mancherlei Völker in jedem Zustande sein müssen und sein werden; Vertreter und Schutzengel der Menschheit, wer aus eurer Mitte, von eurer heilbringenden Denkart gibt uns eine Geschichte derselben, wie wir sie bedürfen?

Nachschrift des Herausgebers

Da es verschiedenen Lesern angenehm sein möchte, etwas mehr von den ebengenannten Vorsprechern der Menschheit zu wissen als ihre Namen, so füge ich zu Erläuterung des Briefes dies wenige bei:

De Las Casas (Fray Bartolomé), Bischof von Chiapa, war der edle Mann, der nicht nur in seiner kurzen Erzählung von der Zerstörung von Indien, sondern auch in Schriften an die höchsten Gerichte und an den König selbst die Greuel ans Licht stellte, die seine Spanier gegen die Eingebornen Indiens verübten. Man warf ihm Übertreibung und eine glühende Einbildungskraft vor; der Lüge aber hat ihn niemand überwiesen. Und warum sollte das, was man glühende Einbildungskraft nennet, nicht lieber ein edles Feuer des Mitgefühls mit den Unglücklichen gewesen sein, ohne welches er freilich nicht, auch nicht also geschrieben hätte. Die Zeit hat ihn gerechtfertigt und seinen Gegner Sepulveda mehr als ihn der Unwahrheit überwiesen. Daß er mit seinen Vorstellungen nicht viel ausgerichtet hat, vermindert sein Verdienst nicht; Friede sei mit seiner Asche!

[252] Fénelons billige und liebreiche Denkart ist allbekannt. So eifrig er an seiner Kirche hing und deshalb über die Protestanten hart urteilte, 251 weil er sie nicht kannte, so sehr verabscheuete er, selbst als Missionar zu Bekehrung derselben, ihre Verfolgung. »Vor allen Dingen,« sagt er zum Ritter St. Georg, »zwingt Eure Untertanen nie, ihre Weise des Gottesdienstes zu ändern. Eine menschliche Macht ist nicht imstande, die undurchdringliche Brustwehr, Freiheit des Herzens, zu überwältigen. Sie macht nur Heuchler. Wenn Könige, statt sie zu beschützen, sich in die Gottesverehrung gebietend mengen, so bringen sie dieselben in Knechtschaft.«

In seiner »Anweisung, das Gewissen eines Königes zu leiten,« 252 gibt er Ratschläge, die, wenn sie befolgt würden, jeder Revolution zuvorkämen. Ich führe von ihnen nur einige an, bloß wie sie der vorstehende Brief fodert:

»Habt ihr das wahre Bedürfniss eures Staats gründlich untersucht und mit dem Unangenehmen der Auflage zusammengehalten, ehe ihr euer Volk damit beschwert? Habt ihr nicht Notdurft des Staats genannt, was bloß euere persönliche Anmaßung war?- Persönliche Prätensionen habt ihr bloß auf euere Privatkosten geltend zu machen und höchstens das zu erwarten, was die reine Liebe eueres Volks freiwillig dazu beiträgt. Als Karl VIII. nach Neapel ging, unternahm er den Krieg auf seine Kosten; der Staat glaubte sich zu Unternehmung nicht verbunden.

Habt ihr auswärtigen Nationen kein Unrecht zugefügt? Ein armer Unglücklicher kommt an den Galgen, weil er in höchster Not auf der Landstraße einige Taler raubte, und ein Eroberer, der ist ein Mann, der ungerechterweise dem Nachbar Länder wegnimmt, wird als ein Held gepriesen. Eine [253] Wiese oder einen Weinberg unbefugt zu nutzen, wird als eine unerläßliche Sünde angesehen, im Fall man den Schaden nicht ersetzt; Städte und Provinzen zu usurpieren, rechnet man für nichts. Dem einzelnen Nachbar ein Feld wegnehmen ist ein Verbrechen; einer Nation ein Land wegnehmen ist eine unschuldige, ruhmbringende Handlung. Wo ist hier Gerechtigkeit? Wird Gott so richten ? ›Glaubst Du, daß ich sein werde wie Du?‹ Muß man nur im Kleinen, nicht im Großen gerecht sein? Millionen Menschen, die eine Nation ausmachen, sind sie weniger unsre Brüder als ein Mensch? Darf man Millionen ein Unrecht über Provinzen tun, das man einem einzelnen über eine Wiese nicht tun dörfte? Zwingt ihr, weil ihr der stärkere seid, einen Nachbar, den von Euch vorgeschriebenen Frieden zu unterzeichnen, damit er größeren Übeln aus dem Wege gehe, so unterzeichnet er, wie der Reisende dem Straßenräuber den Beutel reicht, weil ihm das Pistol vor der Brust stehet.

Friedensschlüsse sind nichtig, nicht nur wenn in ihnen die Übermacht Ungerechtigkeiten erpreßt hat, sondern auch wenn sie mit Hinterlist zweideutig abgefaßt werden, um eine günstige Zweideutigkeit gelegentlich geltend zu machen. Euer Feind ist euer Bruder; das könnt ihr nicht vergessen, ohne auf die Menschheit selbst Verzicht zu tun. Bei Friedensschlüssen ist nicht mehr von Waffen und Krieg, sondern von Friede, von Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Treu und Glauben die Rede. Im Friedensschluß ein nachbarliches Volk zu betrügen ist ehrloser und strafbarer, als im Kontrakt eine Privatperson zu hintergehen. Mit Zweideutigkeiten und verfänglichen Ausdrücken im Friedensschloß bereitet man schon den Samen zu künftigen Kriegen, d.i., man bringt Pulverfässer unter Häuser, die man bewohnet.

Als die Frage vom Kriege war, habt ihr untersucht und untersuchen lassen, was ihr für Recht dazu hattet, und dies zwar von den Verständigsten, die euch am wenigsten schmeicheln? Oder hattet ihr nicht eure persönliche Ehre dabei im Auge, doch etwas unternommen zu haben, was euch von [254] andern Fürsten unterschiede? Als ob es Fürsten eine Ehre wäre, das Glück der Völker zu stören, deren Väter sie sein sollen! Als ob ein Hausvater durch Handlungen, die seine Kinder unglücklich machen, sich Achtung erwürbe! Als ob ein König anderswoher Ruhm zu hoffen hätte als von der Tugend, d.i. von der Gerechtigkeit und von einer guten Regierung seines Volks!« –

Dies sind einige der sechsunddreißig Artikel Fénelons, die allen Vätern des Volks Morgen- und Abendlektion sein sollten. Zu gleichem Zweck sind seine »Gespräche,« sein »Telemach,« ja alle seine Schriften geschrieben; der Genius der Menschlichkeit spricht in ihnen ohne Künstelei und Zierat. »Ich liebe meine Familie,« sagt der edle Mann, »mehr als mich, mehr als meine Familie mein Vaterland, mehr als mein Vaterland die Menschheit.«


Der Abt St.-Pierre ist ungerechterweise fast durch nichts als durch sein Projekt zum ewigen Frieden bekannt, eine sehr gutmütige, ja edle Schwachheit, die doch so ganz Schwachheit nicht ist, als man meinet. In diesem Vorschlage sowohl als in manchen andern war er mit Fleiß etwas pedantisch; er wiederholte sich, damit, wie er sagte, wenn man ihn zehnmal überhört hätte, man ihn das eilftemal anhöre; er schrieb trocken und wollte nicht vergnügen. 253

Schwerlich gibt's eine honettere Denkart, als die der Abt St.-Pierre in allen Schriften äußert. Allgemeine Vernunft und Gerechtigkeit, Tugend und Wohltätigkeit waren ihm die Regel, die Tendenz unsres Geschlechts und dessen Wahlspruch: donner et pardonner, geben und vergeben. Dazu las, dazu sah und hörte er ohne Anmaßung. »Eine Eintrittsrede in die Akademie,« sagte er, »verdient höchstens zwei Stunden [255] die man darauf wendet; ich habe vier darauf gewandt und denke, das sei honett gnug; unsre Zeit gehört dem Nutzen des Staates.« –

Über den körperlichen Schmerz dachte er nicht wie ein Stoiker, sondern hielt ihn für ein wahres, ja vielleicht für das einzige Übel, das die Vernunft weder abwenden noch schwächen könne; die meisten andern Übel, meinte er, sein abwendbar oder nur von einem eingebildeten Werte. Seine Mitmenschen des Schmerzes zu überheben, sei die reichste Wohltat. –

»Man ist nicht verbunden, andre zu amüsieren, wohl aber niemand zu betrügen«; und so befliß er sich aufs strengste der Wahrheit.

Einzig beschäftigt, das hinwegzubringen, was dem gemeinen Wohl schadete, war er ein Feind der Kriege, des Kriegesruhms und jeder Bedrückung des Volkes; dennoch aber glaubte er, daß die Welt durch die schrecklichen Kriege der Römer weniger gelitten habe als durch die Tibere, die Neronen. »Ich weiß nicht,« sagt er, »ob Caligula, Domitian und ihresgleichen Götter waren; das nur weiß ich, Menschen waren sie nicht. Ich glaube wohl, daß man sie bei ihren Lebzeiten über das Gute, das sie stifteten, gnug mag gepriesen haben; einzig schade nur, daß ihre Völker von diesem Guten nichts gewahr wurden.« Er hatte oft die schöne Maxime Franz, des Ersten im Munde: »Regenten gebieten den Völkern, die Gesetze den Regenten.«

Da er nicht heiraten dorfte, so erzog er Kinder, ohne alle Eitelkeit, nur zum Nützlichen, zum Besten. Er freuete sich auf eine Zeit, da, von Vorurteilen frei, der einfältigste Kapuziner soviel wissen würde als der geschickteste Jesuit, und hielt diese Zeit, so lange man sie auch verspätete, für unhintertreiblich. Trägheit und böse Gewohnheiten der Menschen, vorzüglich aber den Despotismus klagte er als mutwillige Ursachen dieses Aufhaltens an; denn auch die Wissenschaften, meinte er, liebe man nur unter der Bedingung, daß sie dem Volk nicht zugut kämen. So sagte jener Kartäuser, als ein [256] Fremder seine Kartause, wie schön sie sei, lobte: »Für die Vorbeigehenden ist sie allerdings schön.« –

Eine andre Ursache der Verspätung des Guten in der Welt fand St.-Pierre darin, daß so wenig Menschen wüßten, was sie wollten, und unter diesen noch weniger das Herz hätten, zu wissen, daß sie es wissen; zu wollen, was sie wollen. Selbst über die gleichgültigsten Dinge der Literatur folge man angenommenen fremden Meinungen und habe nicht das Herz, zu sagen, was man selbst denket; hiegegen, meint er, sei nur ein Mittel, daß jeder Mann von Wissenschaft ein Testament mache und sich wenigstens nach seinem Tode wahr zu sein getraue. –

Er schrieb eine Abhandlung, wie »auch Predigten nützlich werden könnten,« und war insonderheit der mahometanischen Religion feind, weil sie die Unwissenheit aus Grundsätzen begünstigt und die Völker tierisch macht (abrutieret).

Christliche Verfolger, meinte er, müsse man als Narren aufs Theater bringen, wenn man sie nicht als Unsinnige einsperren wollte.

Hinter seine Abhandlungen setzte er oft die Devise: »Paradis aux Bienfaisans!,« und gewiß genoß dieser bis an seinen letzten Augenblick gleich- und wohldenkende Mann dieses innern Paradieses. Als man ihn in den letzten Zügen fragte, ob er nicht noch etwas zu sagen habe, sagte er: »Ein Sterbender hat wenig zu sagen, wenn er nicht aus Eitelkeit oder aus Schwäche redet.« – Lebend sprach er nie aus diesen Gründen, und o möchte einst jeder Buchstab von dem, das er damals in einem engen Nationalgesichtskreise schrieb, im weitesten Umfange erfüllet werden! Nach seiner Überzeugung wird er's werden. 254


Sein Namensgenannter, Bernardin de St.-Pierre, ein echter Schüler Fénelons, hat jede seiner Schriften bis zur kleinsten Erzählung im Geist der Menschenliebe und Einfalt des Herzens geschrieben. Gern verbindet er die Natur mit der Geschichte der Menschen, deren Gutes er so froh, deren Böses er [257] allenthalben mit Milde erzählet. »Ich werde glauben,« sagt er, 255 »dem menschlichen Geschlecht genutzt zu haben, wenn das schwache Gemälde vom Zustande der unglücklichen Schwarzen ihnen einen einzigen Peitschenschlag ersparen kann und die Europäer (sie, die in Europa wider die Tyrannei eifern und so schöne moralische Abhandlungen ausarbeiten) aufhören, in Indien die grausamsten Tyrannen zu sein.« In gleich edelm Sinn sind sein »Paul und Virginie,« das »Kaffeehaus von Surate,« »Die indische Strohhütte« und die »Studien der Natur« geschrieben. 256 Mit Seelen dieser Art lebt man so gern und freuet sich, daß ihrer noch einige da sind.


Die Quacker, an welche der Brief denkt, bringen von Penn an eine Reihe der verdienstvollesten Männer in Erinnerung, die zum Besten unsres Geschlechts mehr getan haben als tausend Helden und pomphafte Weltverbesserer. Die tätigsten Bemühungen zu Abschaffung des schändlichen Negerhandels und Sklavendienstes sind ihr Werk; wobei indes überhaupt auch Methodisten und Presbyterianern, jeder schwachen oder starken Stimme jedes Landes ihr Verdienst bleibt, wenn sie taubsten Ohren und härtesten Menschenherzen, geizigen Handelsleuten, hierüber etwas zurief. Eine Geschichte des aufgehobenen Negerhandels und der abgestelleten Sklaverei in allen Weltteilen wird einst ein schönes Denkmal im Vorhofe des Tempels allgemeiner Menschlichkeit sein, dessen Bau künftigen Zeiten bevorstehet; mehrere Quacker-Namen werden an den Pfeilern dieses Vorhofes mit stillem Ruhm glänzen. In unserm Jahrhundert scheint's die erste Pflicht zu sein, den Geist der Frivolität zu verbannen, der alles wahrhaft Gute und Große vernichtet. Dies taten die Quacker.

[258] Montesquieu verdiente unter den Beförderern des Wohls der Menschen genannt zu werden; denn seine Grundsätze haben über die Mode hinaus Gutes verbreitet, gesetzt, daß er auch den ganzen Lobspruch, den ihm Voltaire gab, 257 nicht hätte erreichen mögen. Am Willen des edeln Mannes lag es nicht; viele Kapitel seines Werks sind, wie die Aufschrift desselben sagt, flores sine semine nati, Blumen, denen es an einem Boden und an echten Samenkörnern gebrach; eine Menge derselben aber sind heilbringende Blumen und Früchte Auch seinen »Persischen Briefen,« seiner Schrift »Über die Größe und den verfall der Römer,« ja seinen kleinsten Aufsätzen fehlet es daran nicht; mehrere Kapitel seines Werks »Vom Geist der Gesetze« sind in aller Gedächtnis. Montesquieu hat viele und große Schüler gehabt; auch der gute Filangieri ist in der Zahl. 258

Da der vorstehende Brief der Schotten und Engländer, eines Bacon, Harrington, Milton, Sidney, Locke, Ferguson, Smith, Millar und anderer, nicht erwähnt, ohne Zweifel weil er einen vielgepriesenen Ruhm nicht wiederholen wollte, dagegen aber einige neapolitanische Schriftsteller nennet, so sei es erlaubt, das ziemlich vergessene Andenken eines Mannes zu erneuern, der zu einer Schule menschlicher Wissenschaft im echten Sinne des Worts an seinem Ort vor andern den Grund legte, Giambattista Vico. Ein Kenner und Bewunderer der Alten, ging er ihren Fußtapfen nach, indem er in der Physik, Moral, im Recht und im Recht der Völker gemeinschaftliche Grundsätze suchte Plato, Tacitus, unter den Neuen Bacon und Grotius waren, wie er selbst sagt, seine Lieblingsautoren; in seiner [259] »Neuen Wissenschaft« 259 suchte er das Principium der Humanität der Völker (dell' umanità delle Nazioni) und fand dies in der Voraussicht (provvedenza) und Weisheit. Alle Elemente der Wissenschaft göttlicher und menschlicher Dinge setzte er in Kennen, Wollen, Vermögen (nosse, velle, posse), deren einziges Principium der Verstand, dessen Auge die Vernunft sei, vom Lichte der ewigen Wahrheit erleuchtet. – Er gründete den Katheder dieser Wissenschaften in Neapel, den nachher Genovesi, Galanti betraten; 260 über die Philosophie der Menschheit, über die Haushaltung der Völker haben wir treffliche Werke aus jener Gegend erhalten, da Freiheit im Denken vor allen Ländern in Italien die Küste von Neapel beglücket und werthält.

116.

Sie wünschen eine Naturgeschichte der Menschheit in rein menschlichem Sinne geschrieben: ich wünsche sie auch; denn darüber sind wir einig, daß eine zusammengelesene Beschreibung der Völker nach sogenannten Rassen, Varietäten, Spielarten [260] Begattungsweisen u.f. diesen Namen noch nicht verdiene. Lassen Sie mich den Traum einer solchen Geschichte verfolgen.

1. Vor allem sei man unparteiisch wie der Genius der Menschheit selbst; man habe keinen Lieblingsstamm, kein Favoritvolk auf der Erde. Leicht verführt eine solche Vorliebe, daß man der begünstigten Nation zu viel Gutes, andern zu viel Böses zuschreibe. Wäre vollends das geliebte Volk bloß ein kollektiver Name (Kelten, Semiten, Kuschiten u.f.), der vielleicht nirgend existiert hat, dessen Abstammung und Fortpflanzung man nicht erweisen kann, so hätte man ins Blaue des Himmels geschrieben.

2. Noch minder beleidige man verachtend irgendeine Völkerschaft, die uns nie beleidigt hat. Wenn Schriftsteller auch nicht hoffen dörften, daß die guten Grundsätze, die sie verbreiten, überall schnellen Eingang finden, so ist die Hut, gefährliche Grundsätze zu veranlassen, ihnen die größeste Pflicht. Um schwarze Taten, wilde Neigungen zu rechtfertigen, stützt man sich gern auf verachtende Urteile über andre Völker. Papst Niklas der Fünfte hat (es ist schon lange) die unbekannte Welt verschenkt; den weißen und edleren Menschen hat er alle Ungläubige zu Sklaven zu machen, pontifikalisch erlaubet. Mit unsern Bullen kommen wir zu spät. Der Kakistokratismus behauptet praktisch seine Rechte, ohne daß wir ihn dazu theoretisch bevollmächtigen und deshalb die Geschichte der Menschheit umkehren müßten. Äußerte z.B. jemand die Meinung, daß, »wenn erwiesen werden kann, daß ohne Neger keine Kaffee-, Zucker-, Reis- und Tobakspflanzungen bestehen können, so sei zugleich die Rechtmäßigkeit des Negerhandels bewiesen, indem dieser Handel dem ganzen menschlichen Geschlecht, d.i. den weißen, edleren Menschen, mehr zum Vorteil als zum Nachteil gereichet,« so zerstörte ein Grundsatz der Art sofort die ganze Geschichte der Menschheit. Ad maiorem Dei gloriam privilegierte er die frechsten [261] Anmaßungen, die grausamsten Usurpationen. Gebe man doch keinem Volk der Erde den Zepter über andre Völker wegen »angeborner Vornehmigkeit« in die Hände, viel weniger das Schwert und die Sklavenpeitsche.

3. Der Naturforscher setzt keine Rangordnung unter den Geschöpfen voraus, die er betrachtet; alle sind ihm gleich lieb und wert. So auch der Naturforscher der Menschheit. Der Neger hat so viel Recht, den Weißen für eine Abart, einen gebornen Kakerlaken zu halten, als wenn der Weiße ihn für eine Bestie, für ein schwarzes Tier hält. So der Amerikaner, so der Mungale. In jener Periode, da sich alles bildete, hat die Natur den Menschentypus so vielfach ausgebildet, als ihre Werkstatt es erforderte und zuließ. Nicht verschiedene Keime 261 (ein leeres und der Menschenbildung widersprechendes Wort), aber verschiedne Kräfte hat sie in verschiedner Proportion ausgebildet, so viel deren in ihrem Typus lagen und die verschiednen Klimate der Erde ausbilden konnten. Der Neger, der Amerikaner, der Mongol hat Gaben, Geschicklichkeiten, präformierte Anlagen, die der Europäer nicht hat. Vielleicht ist die Summe gleich; nur in verschiednen Verhältnissen und Kompensationen. Wir können gewiß sein, daß, was sich im Menschentypus auf unsrer runden Erde entwickeln konnte, entwickelt hat oder entwickeln werde; denn wer könnte es daran verhindern? Das Urbild, der Prototyp der Menschheit, liegt also nicht in einer Nation eines Erdstriches; er ist der abgezogne Begriff von allen Exemplaren der Menschennatur in beiden Hemisphären. Der Cherokese und Huswana, der Mungal und Gonaqua ist sowohl ein Buchstab im großen Wort unsres Geschlechts als der gebildetste Engländer und Franzose.

4. Jede Nation muß also einzig auf ihrer Stelle, mit allem, was sie ist und hat, betrachtet werden; willkürliche Sonderungen, Verwerfungen einzelner Züge und Gebräuche durcheinander geben keine Geschichte. Bei solchen Sammlungen tritt [262] man in ein Beinhaus, in eine Gerät- und Kleiderkammer der Völker, nicht aber in die lebendige Schöpfung, in jenen großen Garten, in dem Völker wie Gewächse erwuchsen, zu dem sie gehören, in dem alles, Luft, Erde, Wasser, Sonne, Licht, selbst die Raupe, die auf ihnen kriecht, und der Wurm, der sie verzehrt, zu ihnen gehöret. 262 Lebendige Haushaltung ist der Begriff der Natur, wie bei allen Organisationen, so bei der vielgestaltigen Menschheit. Leid und Freude, Mangel und Habe, Unwissenheit und Bewußtsein stehen im Buch der großen Haushälterin nebeneinander und sind gegeneinander berechnet.

5. Am wenigsten kann also unsre europäische Kultur das Maß allgemeiner Menschengüte und Menschenwertes sein; sie ist kein oder ein falscher Maßstab. Europäische Kultur ist ein abgezogener Begriff, ein Name. Wo existiert sie ganz? bei welchem Volk? in welchen Zeiten? Überdem sind mit ihr (wer darf es leugnen?) so viele Mängel und Schwächen, so viele Verzuckungen und Abscheulichkeiten verbunden, daß nur ein ungütiges Wesen diese Veranlassungen höherer Kultur zu einem Gesamtzustande unsres ganzen Geschlechts machen könnte. Die Kultur der Menschheit ist eine andre Sache; ort- und zeitmäßig sprießt sie allenthalben hervor, hier reicher und üppiger, dort ärmer und kärger. Der Genius der Menschennaturgeschichte lebt in und mit jedem Volk, als ob dies das einzige auf Erden wäre.

6. Und er lebt in ihm menschlich. Alle Absonderungen und Zergliederungen, durch die der Charakter unsres Geschlechts zerstört wird, geben halbe oder Wahnbegriffe, Spekulationen. Auch der Pescheräh ist ein Mensch; auch der Albinos. Lebensweise (habitus) ist's, was eine Gattung bestimmt; in unsrer vielartigen Menschheit ist sie äußerst verschieden. Und doch ist zuletzt alles an wenige Punkte geknüpfet; in der größesten [263] Verschiedenheit zeigt sich die einfachste Ordnung. Der Neger offenbart sich in seinem Fußtritt wie der Hindu in seiner Fingerspitze; so beide in Liebe und Haß, im kleinsten und größesten Geschäfte. Ein durchschauendes Wesen, das jede mögliche Abänderung des Menschentypus nach Situationen unsres Erdballs genetisch erkennete, würde aus wenig gegebnen Merkmalen die Summe der ganzen Konformation und des ganzen Habitus eines Volks, eines Stammes, eines Individuums leicht finden.

Zu dieser Anerkennung der Menschheit im Menschen führen treue Reisebeschreibungen viel sicherer als Systeme. Mich freuete es, daß Ihr Brief 263 unter denen, die sich in die Sitten fremder Völkerschaften innig versetzt, auch Pages nannte. 264 Man lese seine Gemälde vom Charakter mehrerer Nationen in Amerika, 265 der Völker auf den Philippinen, 266 und was er vom Betragen der Europäer gegen sie hie und da urteilt, wie er sich der Denkart der Hindus, der Araber, der Drusen u.f. auch durch Teilnahme an ihrer Lebensweise gleichsam einzuverleiben suchte. 267 – Reisebeschreibungen solcher Art, deren wir (Dank sei es der Menschheit!) viele haben 268, erweitern den Gesichtskreis und vervielfältigen die Empfindung für jede Situation unsrer Brüder. Ohne darüber ein Wort zu verlieren, predigen sie Mitgefühl, Duldung, Entschuldigung, [264] Lob, Bedauren, vielseitige Kultur des Gemüts, Zufriedenheit, Weisheit. Freilich sucht auch in Reisebeschreibungen, wie auf Reisen, jeder das Seine. Der Niedrige sucht schlechte Gesellschaft, und da wird sich ja unter hundert Nationen eine finden, die sein Vorurteil begünstige, die seinen Wahn nähre. Der edle Mensch sucht allenthalben das Bessere, das Beste, wie der Zeichner malerische Gegenden auswählt. Auch hinter dem Schleier böser Gewohnheiten wird jener ursprünglich gute, aber mißgebrauchte Grundsätze bemerken und auch aus dem Abgrunde des Meers nicht Schlamm, sondern Perlen holen. – Eine Klassifikation der Reisebeschreibungen, nicht etwa nur nach Merkwürdigkeiten der Naturgeschichte, sondern auch nach dem innern Gehalt der Reisebeschreiber selbst, wiefern sie ein reines Auge und in ihrer Brust allgemeinen Natur- und Menschensinn hatten – ein solches Werk wäre für die zerstreuete Herde von Lesern, die nicht wissen, was rechts und links ist, sehr nützlich 269.

Die Waldhütte

Eine Missionserzählung aus Paraguay 270


Um Paraguayer-Tee und wilde Völker
Für unsre Kolonien aufzusuchen,
Durchgingen wir jenseit des Empalado
Die tiefsten Wälder. Nirgend eine Spur
Von Menschen! Alles, alles war geflohn
Und aufgerieben von den Blattern.
Bis uns
Fußtapfen in ein armes Hüttchen führten.
Ein Mütterchen, ihr zwanzigjähr'ger Sohn
Und eine funfzehnjähr'ge Tochter hatten
[265]
Hier lang und still gewohnt. Der Vater war
Vom Tiger aufgefressen, als die Mutter
Mit ihrer Tochter schwanger ging. Der Sohn
Hatt allenthalben sich ein Weib gesucht
Und keins gefunden. Außer ihrem Bruder
Hatt Arapotija, des Tages Blüte 271
(So hieß das Mädchen), keinen Mann gesehn.
Hier wohnten sie am Monda-Miri Ufer
In einer Palmenhütte. Wasser war
Ihr Trank; Baumfrüchte mancher Art,
Die Wurzel des Mandijo-Baums, Geflügel,
Das Aba schoß (so hieß der Jüngling), Korn,
Das seine Schwester säte, Ananas
Und Honig, der aus Bäumen reichlich floß,
Genossen sie. Von Caraquatablättern
War ihr Gewand gewebet und ihr Bett
Bereitet. Eine scharfe Muschel war
Ihr Messer. Seine Pfeile schnitzte sich
Der Jüngling mit zerbrochnem Eisen aus
Dem härtsten Holz; er stellte Fallen auf
Den Elentieren; reichlich nährte er
Sein kleines Haus. Ihr Teller war ein Blatt,
Der Kürbis ihre Flasche. Feuer schafften
Sie sich aus Bäumen. Also lebten sie
Zufrieden und gesund; sie liebten sich
Wie Mutter, Bruder, Schwester, die einander
Die ganze Welt sind. Unschuld kleidete
Das Mädchen ohne Scham. Sie wand das Tuch,
Das wir ihr schenkten, zierend um ihr Haupt;
Ihr flatternd Baumgewand war ihr genug,
Kein fremder Schmuck entstellte ihr Gesicht;
Ein Papagei auf ihrer Schulter war
Ihr Freund, mit dem sie scherzte, wenn sie Hecken
Und Hain wie eine Cynthia durchstrich,
An Frohsinn und Gestalt ihr ähnlich. Scherzend
[266]
Empfing sie uns und unbetroffen. So
Die Mutter, so der Sohn.
Ich sprach zu ihnen
Quaranisch, ob sie mit uns ziehen wollten
Aus dieser Wüstenei und schildert' ihnen
Die glücklichen, die frohen Tage, die
Sie mit uns leben würden.
»Gerne,« sprach
Die Mutter, uns vertrauend, »kämen wir.
Auch fürchten wir den Weg nicht; aber sieh!
Dort hab ich drei Wildschweinchen aufgezogen,
Seit ihre Mutter sie gebar. Die müßten
Umkommen, wenn wir sie verlassen, oder
(Sie werden uns gewiß als Hündchen folgen)
Verschmachten auf dem Wege, wenn sie sehn
Das ausgebrannte Feld, darauf die Glut
Der Sonne liegt.«
»Darüber fürchte nichts,«
Sprach ich, »wir wollen uns im Schatten lagern,
An Bächen sie erfrischen. Kommet nur!«
So kamen sie mit uns. Wir duldeten
Viel auf dem langen Wege, watend jetzt
Durch wilde Ströme, jetzt in Ungewittern
Von Güssen überströmt. Es laureten
Auf uns die Tiger. Endlich kamen wir
In unserm Flecken an. Dem Jüngling war
Beschwerlich unsre Kleidung; eingepreßt,
Konnt er in ihr nicht schreiten, klettern nicht
Auf Bäume, die hier fehlten. Er vermißte
Das schöne Grün, den dunkeln kühlen Wald.
Und ob wir dann und wann mitleidig auch
Sie in entlegne Schatten führten, ach!
Es war nicht ihr geliebter Schatte. Brennend,
Verzehrend lag auf ihnen hier die Glut
Der Sonne. Fieber, Kopf- und Augenweh
[267]
Und tiefe Schwermut, Ekel aller Speisen,
Kraftlosigkeit, Auszehrung folgeten.
Am ersten schwand die Mutter hin; sie ward
Getauft und starb mit christlicher Ergebung.
Die Tochter, Arapotija, die Blüte
Des Tages sonst, man kannte sie nicht mehr.
Verblühet war sie und verdorrt; sie folgte
Der Mutter bald ins Grab. Ihr folgeten
Viel Tränen ; denn sie war die Unschuld selbst.
Der tapfre Bruder überstand die Reihe
Der Übel, überstand sogar zuletzt
Der Übel schrecklichstes, die Blattern. Er
War folgsam, fleißig Lind gefällig, fand
Sich ein zum Unterricht; doch immer still.
Ich ahnte nichts. Da kam ein Indianer
Und sprach geheim: »Mein Pater, unser Waldmann
(Ich fürcht es) ist dem Wahnsinn nah. Er klagt
Zwar keine Schmerzen; aber: ›Jede Nacht‹,
Spricht er ›erscheint mir wachend meine Mutter
Und meine Schwester Immer sprechen sie:
Ich bitte, laß dich taufen; denn wir holen
Dich bald und unvermutet ab, o Sohn,
O Bruder, in die grünen Schatten.‹ – Also
Spricht täglich er und kennt den Schlaf nicht mehr.«
Ich eilte zu ihm, sprach ihm Mut zu. Heiter
Erwidert er: »Mir fehlt, o Vater, nichts.
Ich kenne keine Schmerzen, aber schlafen
Kann ich nicht mehr; denn alle Nächte sind
Die Meinigen um mich und sprechen flehend:
›Ich bitte, laß dich taufen; denn wir holen
Dich bald und unvermutet ab, o Sohn,
O Bruder, in die grünen Schatten.‹« –
»Freund,
Die Deinigen sind jetzt im Himmel,« sprach ich,
[268]
»Jedoch die Taufe soll dir werden.« – Sehnlich
Erfreut' er sich; es ward der Tag bestimmt,
Johannistag. Zehn Uhr am Morgen ward er
Getauft, er war so heiter, war so froh!
Am Abend, ohne Krankheit, ohne Schmerzen
War er entschlafen. –
So erzählt der Priester
Und lässet jeden denken, was er mag.
Ich denke: Guter Vater, warum ließest
Du nicht die Blumen, wo sie standen und
Erquicktest sie? Du hörtest, was die Mutter
Für ihre Tierchen fürchtete: »Sie werden
Verschmachten in der Sonne Glut!« – O lasset
Doch jede Pflanze blühen, wo sie blüht!
Die Schattenblume zehrt der Mittag auf.

117.

Gewiß, es ist nicht gleichgültig, nach welchen Grundsätzen Völker aufeinander wirken; und doch gibt es nicht eine Geschichte der Völker, der alle Grundsätze über das Verhalten der Nationen gegeneinander fehlen? Gibt es nicht eine andre, in der dieverderblichsten Grundsätze als billige und preiswürdige Maßregeln aufgestellt sind? Eben deshalb wissen manche nicht, warum sie nur das Betragen der Europäer gegen die Neger und die Wilden verdammen sollen, da ja ähnliche Grundsätze in der gesamten Völkergeschichte mit mehr oder minder Modifikationen zu herrschen scheinen.

Die meisten Kriege und Eroberungen aller Weltteile, auf welchen Gründen beruheten sie? welche Grundsätze haben sie geleitet? Nicht etwa nur jene Streifereien der asiatischen Horden, auch die meisten Kriege der Griechen und Römer, der Araber, der Barbaren. Vollends die Ketzer- und Kreuzzüge, [269] das Verhalten der Europäer gegen Zauberer und Juden, ihre Unternehmungen in beiden Indien. – Wie bedauret man in allem diesem manchen großen Mann, der fast übermenschliche Taten als ein Betrogener, als ein Verrückter tat! Mit der edelsten Seele ward er ein Bestürmer und Räuber der Welt, der für seine Taten von Höfen, die so undankbar gegen ihn als barbarisch gegen die Völker waren, meistens auch bösen Lohn erntete. Man erstaunt über die Gegenwart des Geistes, die Vasco di Gama, Albuquerque, Cortes, Pizarro und viele unter ihnen in Umständen der größesten Gefahr zeigten; See- und Straßenräuber zeigten oft ein Gleiches. Wer aber, der kein Spanier und Portugiese ist, wird sich getrauen, die Taten dieser Helden, Cortez', Pizarros oder des großen Albuquerque vor Suez, Ormuz, Kalekut, Goa, Malakka zum Gegenstande eines Heldengedichts zu machen und die damals geltenden Grundsätze noch jetzt zu preisen? 272 Die Lobredner der Bartholomäusnacht, der Judenermordungen sind mit Schimpf und Schande bedeckt; zu hoffen ist's, daß auch die Räuber und Mörder der Völker, trotz aller erwiesenen Heidentaten, bloß und allein den Grundsätzen einer reinen Menschengeschichte nach, einst damit bedeckt stehen werden.

Ein Gleiches gilt von den Grundsätzen über das, was man sich im Kriege erlaubt hält. Erkennt man Plündern, Verstümmeln, Schänden, Vergiften der Brunnen und der Waffen für ehrlose Mittel des Krieges; sind es inwärtige Aufhetzungen der Untertanen, die nicht zum Heer gehören, Vendéekriege, Entwürfe zur Aushungerung der Nationen, treulose Vorspiegelungen nicht ebensowohl? Jedermann verabscheuet Albuquerques Entwürfe, der ganz Ägypten in eine Wüste verwandeln wollte, indem man ihm den Nil nähme, der Mekka und Medina, Länder, die in keinem Kriege mit den Portugiesen begriffen waren, plündern wollte. – Dergleichen Gewaltsamkeiten gegen fremde, ruhige Völker, Anstiftungen von Treulosigkeit im Herzen des Feindes u.f. strafen am Ende sich selbst. Wer einen offenen und geheimen Krieg zugleich [270] führt, verläßt sich meistens auf die Wirkung seiner geheimen Mittel so sehr, daß auch die offenen ihm mißraten. Aufwiegelung und Verrat lohnten selten ihre Urheber anders als mit Verlust und Schande. Wer Grundsätze wegdrängt, auf denen einzig noch der Rest von Ehre und gutem Namen der Völker im Kriege beruhet, vergiftet die Quellen der Geschichte und des Rechts der Völker bis auf den letzten Tropfen. –

Eine traurige Übersicht gäbe es, wenn man jede geschriebene Geschichte der Völker in ihren Kriegen und Eroberungen, in ihren Unterhandlungen, in ihren Handelsentwürfen nach den Grundsätzen durchginge, in welchen gehandelt und geschrieben wurde. Wie ehrlicher waren unsre Väter, die alten Barbaren, die bei ihren Zweikämpfen nicht nur auf Gleichheit der Waffen sahen, sondern Platz, Licht und Sonne unparteiisch teilten. Wie ehrlicher sind die Wilden in ihren Unterhandlungen und Friedensschlüssen, in ihrem Tausch und Handel! Gewalt und Willkür mögen gebieten, worüber sie Macht haben, nur nicht überGrundsätze des Rechts und Unrechts in der Menschengeschichte. 273

Der Hunnenfürst

Ein Hunnenfürst ward von raubgierigen
Tataren oft befehdet. Jetzo fodern
Sie zum Geschenk von ihm sein bestes Pferd.
[271] Die Feldherrn rufen: »Krieg!« – »Wie?« sprach er, »Krieg
Um eines Pferdes willen? Gebet's hin!« –
Bald kamen wieder die Tataren, fodernd
Sein schönstes Weib. Die Feldherrn rufen: »Krieg!,«
»Wie?« sprach er, »Krieg um einer Sklavin willen,
Die mir gehört; um ein vergnügen Krieg?
Gebt hin die Sklavin.«
Und sie kamen wieder
Land fodernd. »Was sie fodern, hat soviel
Nicht zu bedeuten,« sprach der Feldherrn Zelt.
»Nein!« sprach der Fürst, »so lang es mich nur galt,
Mein Pferd, die Sklavin, gerne gab ich's hin,
Des Volkes Blut zu schonen; doch mein Land,
Des Staates Eigentum muß ich als Fürst
Verwalten, nicht verschenken. Auf! zur Schlacht!«
Sie stritten, siegten, schützeten ihr Land;
Und im Triumph zurück kam Roß und Weib.

Das Kriegsgebet

Zum Kriege zog ein Schach und sein Wesir,
Zum Kriege mit dem Bruder. Eben ging
Die Straße eines Heil'gen Grab vorüber;
Sie stiegen ab und beteten am Grabe.
»Was betetest du?« sprach der König zum Wesir.
»Daß Gott dir Sieg verleihe.«
»Ich,«
Erwiderte der König, »betete,
Daß Gott ihn meinem Bruder gebe, wenn
Er ihn des Thrones werter hält als mich.«
[272]

Kahira

Kahira, Königin der Berbern, ahnend
Des Reiches Untergang, versammlete
Das Volk und sprach also:
»Was sollen uns die Schätze?
Was soll uns Gold und Silber,
Das uns die gier'gen Räuber
Mit neuen Kräften anzieht?
Ich tat, was ich vermochte,
Ich handelte großmütig,
Gab frei die Kriegsgefangnen,
Und ihrem tapfern Feldherrn,
Dem Letztgefangnen, sehet,
Begegn ich noch als Schwester.
Auf! meine guten Berbern,
Vielleicht verschafft uns Armut,
Was Großmut nicht verschaffte,
In edler Freiheit Ruh.
Laßt uns das Gold im Schutte
Der Wohnungen begraben;
Uns gnüget die Natur!«
Sie sprach's, und jedermann gehorchte. Schnell
Verwandelte sich die zerstörte Stadt
In eine frohe Zeltenwüstenei.
Jedoch umsonst. Die Räuber
Erscheinen mächt'ger wieder.
»Geh,« sprach sie zu dem Feldherrn,
»Geh zu dem Heer der Deinen,
Und wie ich Dir begegnet,
Begegne meinen Söhnen.
Ich kann sie nicht beschützen –
Nun, Brüder, auf zur Schlacht!«
[273]
Die Schlacht begann; Kahira stritt voran
Und sank. Mit ihr ersank der Berbern Reich;
Nicht ihre Großmut. Die der Königspflicht
Nicht Schätze nur, nicht nur Bequemlichkeit
Aufopferte, die selbst ihr Mutterherz
Dem Feind hingab, sie gab's dem edeln Mann.
In ihren Söhnen ehrete der Feldherr
Kahira, die großmüt'ge Königin.

Das Kriegsrecht

Mahmud beherrschte Indien Da trat
Ein armer Inder vor ihn: »Herr, es kommt
Aus Eurem Heer ein Mächtiger zu mir,
Der fodert, daß ich ihm das Meinige,
Mein Haus und Weib abtrete. Ungestüm
Ist seine Fodrung.«
»Wenn er wiederkommt,
So sage mir's.«
In dreien Tagen kam
Der Inder nicht zum Sultan. Endlich schlich
Er scheu heran, und Mahmud eilt' ins Haus
Mit seiner Leibwach. Es war Nacht. »Hinweg
Die Lichter!« rief er, »tötet ihn!«
Gesagt, getan.
»Jetzt bringet Licht herbei!«
Der Sultan sah den Leichnam und fiel betend
Zur Erde nieder.
»Gebt mir Speise jetzt!«
Er hielt vergnügt ein armes Mahl und sprach:
»Hört, was ich tat. In meinem Heere, glaubt ich,
Kann niemand die Gerechtigkeit so frech
Verletzen, solche Foderung zu tun,
Als meiner Liebling' oder Söhne einer.
Drum ward das Licht hinweggeschafft, daß dies
[274]
Des Richters Auge nicht verblendete.
Ich sah den Leichnam an mit Furcht; und Allah
Sei Dank! es ist nicht meiner Lieben einer.
Ich kenne diesen toten Frevler nicht.
Dafür dann dankt ich Gott und esse jetzt;
Denn seit ich auf den Ausgang wartete,
Aß ich bekümmert keinen Bissen Brot.«
Des Brutus Tat war strenge und gerecht;
Des Sultans strenge, menschlich, fromm und zart.

Das Seerecht

Die See war wild, das Schiff dem Sinken nah,
Und alles Schiffvolk sah den Abgrund vor sich,
Da wagt der edle Hauptmann in den Hafen
Des Feindes sich: »Ich übergebe dir
Mich und mein Volk; ich rettete ihr Leben –«
»Bei Gott!« sprach der Gebieter, »keine Schmach
Werd ich an dir auf meinen Namen laden.
Auf freier See, hätt ich dich da ertappt,
So wärst du mein Gefangner, und dein Schiff,
Dein Schiffvolk wäre mein; doch jetzo, da
Der Sturm dich in den Hafen wirft, so seid
Ihr mir nicht Feinde, seid Unglückliche,
Seid Menschen. Ladet aus, um euer Schiff
Zu bessern; handelt in dem Hafen, frei
Wie wir. Dann segelt fort mit gutem Glück.
Erst, wenn ihr über die Bermudas seid
Auf hohem Meer, dann seid ihr Feinde mir.
Jetzt seid ihr mir vom Unglück und dem Sturm
In meinen Schutz empfohlen. Ladet aus.«
[275]

Der betrogne Unterhändler

Als Irokesen und Franzosen sich
In Kanada bekriegten, lud der Feldherr
Der Gallier die Irokesenhäupter
Zur Friedensunterredung. Ein beglaubter
Missionar bewegte sie dazu
In guter Meinung; doch der Feldherr fand
Es rühmlicher, die Irokesenhäupter
In Ketten der Galeere zuzusenden.
Betäubet von der unerhörten Schmach,
Entflammete die Nation. Da schlich
Der Älteste der Wilden eilig zum
Missionar: »Wir haben dir vertraut
Und sind mit unerhörtem Schimpf betrogen.
Ich weiß, du bist nicht schuld daran; du meintest
Es redlich; doch nicht jeder Jüngling denkt
In unsrer Nation wie ich. Drum flieh!
Flieh, Fremder! Eher laß ich nicht von dir,
Bis ich dich sicher weiß.« – Er ließ ihn über
Die Grenze hin geleiten. – Edler Mann!

118.

Da jetzt im unseligsten Kriege, in dem ein zeitiger Friede so schwer wird, von Entwürfen zum ewigen Frieden viel gesprochen wird, so teile ich Ihnen einen zu diesem Zweck gemachten wirklichen Versuch in den Worten dessen mit, der ihn berichtet.

Zum ewigen Frieden

Eine irokesische Anstalt


Die Delawaren wohnten ehedem in der Gegend von Philadelphia und weiterhin nach der See zu. Von da aus taten sie oftmals Einfälle in die Dörfer der Cherokesen, mischten sich [276] unerkannt in ihre nächtlichen Tänze und ermordeten während derselben plötzlich viele. Noch heftiger und älter waren die Kriege der Delawaren mit den Irokesen. Nach dem Vorgeben der Delawaren waren sie den Irokesen immer überlegen, so daß diese endlich einsehen, daß bei längerer Fortsetzung des Krieges ihr völliger Untergang die unausbleibliche Folge sein müßte.

Sie sandten also Gesandte an die Delawaren mit folgender Botschaft: »Es ist nicht gut, daß alle Nationen Krieg führen; denn das wird endlich den Untergang der Indianer nach sich ziehen. Darum haben wir auf ein Mittel gedacht, diesem Übel vorzubeugen; es soll nämlich eine Nation die Frau sein. Die wollen wir in die Mitte nehmen; die andern kriegführenden Nationen aber sollen die Männer sein und um die Frau herum wohnen. Niemand soll die Frau antasten, noch ihr etwas zuleide tun und wenn es jemand täte, so wollen wir ihn gleich anreden und zu ihm sagen: ›Warum schlägst du die Frau?‹ Dann sollen alleMänner über den herfallen, der die Frau geschlagen hat. Die Frau soll nicht in den Krieg ziehen, sondern soviel möglich den Frieden zu erhalten suchen. Wenn also die Männer um sie herum sich einmal miteinander schlagen und der Krieg heftig werden will, so soll die Frau Macht haben, selbige anzureden und zu ihnen zu sagen: ›Ihr Männer, was macht ihr, daß ihr euch so herumschlagt? Bedenkt doch, daß eure Weiber und Kinder umkommen müssen, wo ihr nicht aufhört. Wollt ihr euch denn selbst vom Erdboden vertilgen?‹ Und die Männer sollen alsdann auf die Frau hören und ihr gehorchen.«

Die Delawaren ließen sich's gefallen, die Frau zu werden. Nun stellten die Irokesen eine große Feierlichkeit an, luden die Delawar-Nation dazu ein und hielten an die Bevollmächtigten derselben eine nachdrückliche Rede, die aus drei Hauptsätzen bestand. In dem ersten erklärten sie die Delawar-Nation für die Frau, welches sie durch die Redensarten: »Wir ziehen euch einen langen Weiberrock an, der bis auf die Füße reicht, und schmücken euch mit Ohrgehängen,« ausdrückten [277] und ihnen damit zu verstehen gaben, daß sie von nun an mit den Waffen sich nicht weiter abgeben sollten. Der zweite Satz war so gefaßt: »Wir hängen euch einen Kalabasch mit Öl und mit Arznei an den Arm. Mit dem Öl sollt ihr die Ohren der übrigen Nationen reinigen, damit sie aufs Gute und nicht aufs Böse hören; die Arznei aber sollt ihr bei solchen Völkern brauchen, die schon auf törichte Wege geraten sind, damit sie wieder zu sich selbst kommen und ihr Herz zum Frieden wenden.« Der dritte Satz, darin sie den Delawaren den Ackerbau zu ihrer künftigen Beschäftigung anwiesen, war so ausgedrückt: »Wir geben euch hiemit einen Welschkornstengel und eine Hacke in die Hand.« Jeder Satz wurde mit einem Belt of Wampum (Gürtel von Muschelschalen) bekräftigt. Diese Belte sind bis daher sorgfältig aufgehoben und ihre Bedeutung von Zeit zu Zeit wiederholt worden.

Seit diesem sonderbaren Friedensschluß sind die Delawaren von den Irokesen Schwesterkinder benannt worden; die drei Delawar-Stämme heißen einander Mitgespielinnen. Diese Titel aber werden nur in ihren Ratsversammlungen, und wenn sie einander etwas Erhebliches zu sagen haben, gebraucht. Von besagter Zeit ist die Delawar-Nation die Friedensbewahrerin gewesen, der der große Friedensbelt in Verwahrung gegeben und die Kette der Freundschaft anvertrauet ist. Sie hat darüber zu wachen, daß dieselbe unverletzt erhalten werde. Nach der Vorstellung der Indianer liegt die Mitte der Kette auf ihrer Schulter und wird von ihr festgehalten; die übrigen Indianernationen fassen das eine Ende und die Europäer das andre an. 274

So die Irokesen. Es waren Zeiten in Europa, da dieHierarchie die Stelle dieser Frau vertreten sollte. Auch sie trug das lange Kleid; Öl und Arznei waren in ihrer Hand. Man gibt ihr schuld, daß sie, statt ihr Friedensamt zu verwalten, [278] oft selbst Kriege zwischen den Männern erregt und angefacht habe; wenigstens hat ihr Öl die Ohren der Völker noch nicht gereinigt, ihre Arznei die Kranken noch nicht geheilet.

Sollen wir statt ihrer in der Mitte Europas einerwirklichen Nation Weibskleider anziehen und ihr das Friedensrichteramt auftragen? Welcher?

Wie könnte sie's aber verwalten, da oft über einige Pelze an der Hudsonbai, über einige Flecken am Paraguaistrom in deren Lage bisweilen die Kriegführenden selbst sich geirrt haben, über einen Hafenplatz im Stillen Meer, Über Neckereien der Gouverneurs gegeneinander weltverwüstende Kriege geführt werden? Ja, wie oft entsprangen diese aus einer Grille des Monarchen, aus einer niedrigen Kabale des Ministers! Eine Geschichte vom wahren Ursprunge der Kriege in Europa seit den Kreuzzügen wäre ein siebenfacherHudibras, das niedrigste Spottgedicht, das geschrieben werden könnte. In einer Welt, in der dunkle Kabinette Kriege anspinnen und fortleiten, wäre alle Mühe der Friedensfrau verloren.

Leider auch bei den Wilden selbst erreichte diese Anstalt ihren Zweck nicht lange. Als die Europäer näherdrangen, sollte auf Erfordern der Männer selbst die Frau an der Gegenwehr mit Anteil nehmen. Man wollte, wie man sich ausdrückte, zuerst ihr den Rock kürzen, sodann gar wegnehmen und ihr das Kriegsbeil in die Hand geben. Eine fremde, unvorhergesehene Übergewalt störte das schöne Projekt der Wilden zum Frieden untereinander; und dies wird jedesmal der Fall sein, solange der Baum des Friedens nicht mit festen, unausreißbaren Wurzeln von innen heraus den Nationen blühet.

Wie manche andre Mittel haben die Menschen schon versucht, streitsüchtigen Nationen Einhalt zu tun und ihnen die Wege zu sperren. Zwischen Gebürgen wurden ungeheure Mauern errichtet, Zwischenländer zur Wüste gemacht, abschreckende Fabeln ersonnen und in diese Wüste gepflanzet. In Asien sollte ein heiliges Reich den Streifereien der Mogolen ein Ziel setzen; der große Lama sollte die Friedensfrau sein.

[279]

In Afrika wurden Obelisken und Tempel die Freistätten des Handels, die Mutter von Gesetzgebungen und Kolonien. In Griechenland sollten Orakel, Amphiktionen, das Panionium, Panätolium, der Achäerbund u.f. wo nicht einen ewigen, so doch einen langen Frieden bewirken; mit welchem Erfolg, hat die Zeit gelehret. Am besten wäre es, wenn, wie bei jenem Handel im innern Afrika, die Nationen einander selbst gar nicht sehen dörften. Sie legen die Waren hin und entfernen sich, bieten und tauschen. Einander erblickend, ist Betrug und Zank unvermeidlich. – Meine große Friedensfrau hat einen andern Namen. Ihre Arznei wirket spät, aber unfehlbar; vergönnen Sie mir dazu einen andern Brief.

Al Hallils Rede an seinen Schuh 275

Mit Tausenden von meinem Volke zog
Ich auch einher am Tage jenes Zorns,
Der alle Ebnen Ubedas mit Blut
Und Rach erfüllte. Rosse wieherten
Beim Schalle der Trommeten; Staub erhob
Zum Himmel sich. Die Mächt'gen jubelten,
Die Ketten klirrten, die vor Abend noch
Der Überwundnen Träne netzen sollte.
Einmütig reichten Untergang und Tod
Die Hände sich und schritten vor dem Heer.
Da schlug in mir das Herz noch eins so stark:
»O Rüstung zum Verderben!« sprach ich tief
Im Winkel meiner Brust. – »Allmächtiger!
[280]
Wir können keinen Floh erschaffen, und
Wir töten Menschen. Blut vergießen wir
Und loben dich.«
Mein Herz schlug stärker; ich
Trat in den Sumpf. Vergeblich mühte sich
Mein Fuß, den Schuh hinauszuziehen. Fest
War er. Die tapfern Heere schritten fort;
Die Lanzen blinkten; Schwerter funkelten;
Ein Feldgeschrei, ein wüstes Sausen füllte
Mein Ohr; ich stand betäubt und sprach also
Zu meinem Schuh:
»Wie? mein Begleiter, jetzt
Verlässest du mich und erwartest lieber
Den Moder hier? Und soll ich dich denn auch
Verlassen, wie in dieser Welt zuletzt
Sich alles flieht? Du, Guter, gingest freilich
Nie mit mir böse Wege; keinem Pfade
Der Frevler drücketest du je dich ein.«
Die Auen, die von Blute strömen, blieben
Uns fremd; dem zügellosen Sieger eiltest
Du nimmer nach. Wir gingen sanfte Wege,
Jetzt, wenn die Sonn im Abendmeer ersank,
Jetzt in den Schatten der friedsel'gen Nacht,
Der Ruhegeberin, der Reichen, die
Uns ihre Schätz am weiten Himmel zeigt
Und nieden uns der Freuden schönste schenket.
Dann sagte leise mir der Mond ins Ohr:
›Sohn der Aëscha, geh zu deiner Treuen,
Sie wartet deiner, lieblicher als ich.‹ –
Die Wege gingen wir; nicht jene, denen
Du strenge jetzt unwillig dich entziehst.
Ich folge deinem Rat. Gehabt euch wohl.
Ihr Helden, jetzt durch Mord und Totschlag! – Mögen
Die Löwen eure Siege brüllen! wetze
Der Tiger seine Klaun dazu; es singen
[281]
Erschlagne Heere drein, und Drachen zischen
Aus Wüstenein zerstörter Wohnungen. –
Du stiller Mond, den sie mit Mordgeschrei
Erschrecken, scheine nicht auf sie; und nie
Umfange sie mit deinem sanften Arm,
Die sie verscheuchen, du friedsel'ge Nacht.«

119.

Meine große Friedensfrau hat nur einen Namen: sie heißt allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft.

Ich habe ein sehr sinnreiches Manuskript gelesen, in dem der Menschengeschichte folgende Sätze zum Grunde lagen: 1. Menschen sterben, um Menschen Platz zu machen. 2. Und da ihrer weniger sterben als geboren werden, so macht die Natur durch gewaltsame Mittel Raum. 3. Dahin gehören nicht nur Pest, Mißwachs, Erdbeben, Erdrevolutionen, sondern auch Völkerrevolutionen, Verwüstungen, Kriege. 4. Wie eine Tierart die andre vermindert, so setzt das Menschengeschlecht sich selbst in Proportion und wehrt der Überzahl. 5. Es gibt in ihm also erhaltende undzerstörende Charaktere. –

Schreckliches System, das uns vor unsrem eignen Geschlecht Schauder und Furcht einjagt, indem wir nach ihm jedem ins Angesicht, auf seinen Gang und auf seine Hände sehen müssen, ob er ein fleisch- oder grasfressendes Tier sei, ob er einen erhaltenden oderzerstörenden Charakter an sich trage. Gewiß hat uns die Natur an Mitteln nicht entblößt, uns vor dieserzerstörenden Gattung unseres eignen Geschlechts zu sichern; nur sie gab uns diese Mittel als Waffen nicht in die Hände, sondern in Kopf und Herz. Die allgemeine Menschenvernunft und Billigkeit ist die Matrone, die Öl und Arznei am Arm, die einen Fruchtstengel in der Hand trägt, nicht etwa nur als Symbole, sondern als die stillwirkenden Mittel, wo nicht zu einem ewigen Frieden, so gewiß doch zu einer allmählichen Verminderung der Kriege. Lassen Sie mich, da wir hier [282] auf des ehrlichen St.-Pierre Wege geraten, auch seiner Methode uns nicht schämen und die große Friedensfrau (pax sempiterna) mit festen Grundsätzen in ihr Amt weisen. Sie ist dazu da, ihrem Namen und ihrer Natur nach Friedensgesinnungen einzuflößen.

Erste Gesinnung

Abscheu gegen den Krieg


Der Krieg, wo er nicht erzwungene Selbstverteidigung, sondern ein toller Angriff auf eine ruhige, benachbarte Nation ist, ist ein unmenschliches, ärger als tierisches Beginnen, indem er nicht nur der Nation, die er angreift, unschuldigerweise Mord und Verwüstung drohet, sondern auch die Nation, die ihn führet, ebenso unverdient als schrecklich hinopfert. Kann es einen abscheulichern Anblick für ein höheres Wesen geben als zwei einander gegenüberstehende Menschenheere, die unbeleidigt einander morden? Und das Gefolge des Krieges, schrecklicher als er selbst, sind Krankheiten, Lazarette, Hunger, Pest, Raub, Gewalttat, Verödung der Länder, Verwilderung der Gemüter, Zerstörung der Familien, Verderb der Sitten auf lange Geschlechter. Alle edle Menschen sollten diese Gesinnung mit warmem Menschengefühl ausbreiten, Väter und Mütter ihre Erfahrungen darüber den Kindern einflößen, damit das fürchterliche Wort Krieg, das man so leicht ausspricht, den Menschen nicht nur verhaßt werde, sondern daß man es mit gleichem Schauder als den St. Veitstanz, Pest, Hungersnot, Erdbeben, den schwarzen Tod zu nennen oder zu schreiben kaum wage.

Zweite Gesinnung

Verminderte Achtung gegen den Heldenruhm


Immer mehr muß sich die Gesinnung verbreiten, daß der ländererobernde Heldengeist nicht nur ein Würgengel der Menschheit sei, sondern auch in seinen Talenten lange nicht [283] die Achtung und den Ruhm verdiene, die man ihm aus Tradition von Griechen, Römern und Barbaren her zollet. So viel Gegenwart des Geistes, so viel zusammenfassende Vorsicht und Voraussieht und schnellen Blick er fodern möge, so wird der edelste Held vor und nach der Schlacht nicht nur das Geschäft beweinen, dem er seine Gaben aufopfert, sondern auch gern gestehen, daß, um Vater eines Volks zu sein, wenn nicht mehr, so doch edlere Gaben in fortgehender Bemühung und ein Charakter erfodert werde, ein Charakter, der seinen Kampfpreis weder einem Tage zu verdanken hat noch ihn mit dem Zufall oder dem blinden Glück teilet. Alle Verständige sollten sich vereinigen, durch echte Kenntnis alter und neuer Zeiten den falschen Schimmer wegzublasen, der um einen Marius, Sulla, Attila, Gengischan, Tamerlan gaukelt, bis endlich jeder gebildeten Seele Gesänge auf sie und auf Lips Tullian gleich heroisch erschienen.

Dritte Gesinnung

Abscheu der falschen Staatskunst


Immer mehr muß sich die falsche Staatskunst entlarven, die den Ruhm eines Regenten und das Glück seiner Regierung in Erweiterung der Grenzen, in Erjagung oder Erhaschung fremder Provinzen, in vermehrte Einkünfte, schlaue Unterhandlungen, in willkürliche Macht, List und Betrug setzt. Die Mazarins, Louvois, Du Terrai und ihresgleichen müssen nicht nur im Angesicht des ehrlichen Volks, sondern der Weichlinge selbst, wie sie sind, erscheinen, so daß es wie das Einmaleins klar wird, daß jeder Betrug einer falschen Staatskunst am Ende sich selbst betrüge. Die allgemeine Stimme muß über den Wert des bloßen Staatsranges und seiner Zeichen, selbst über die aufdringendsten Gaukeleien der Eitelkeit, selbst über früheingesogene Vorurteile siegen. Mich dünkt, man sei im Verachten einiger dieser Dinge jetzt schon weit und vielleicht zu weit fortgeschritten; es kommt darauf an, daß man das Schätzenswerte [284] bei allem, was uns der Staat auflegt, auch redlich und um so höher achte, je mehr es die Menschheit der Menschen fördert.

Vierte Gesinnung

Geläuterter Patriotismus


Der Patriotismus muß sich notwendig immer mehr von Schlacken reinigen und läutern. Jede Nation muß es fühlen lernen, daß sie nicht im Auge andrer, nicht im Munde der Nachwelt, sondern nur in sich, in sich selbst groß, schön, edel, reich, wohlgeordnet, tätig und glücklich werde und daß sodann die fremde wie die späte Achtung ihr wie der Schatte dem Körper folge. Mit diesem Gefühl muß sich notwendig Abscheu und Verachtung gegen jedes leere Auslaufen der Ihrigen in fremde Länder, gegen das nutzlose Einmischen in ausländische Händel, gegen jede leere Nachäffung und Teilnehmung verbinden, die unser Geschäft, unsre pflicht, unsre Ruhe und Wohlfahrt stören. Lächerlich und verächtlich muß es werden, wenn Einheimische sich über ausländische Angelegenheiten, die sie weder kennen noch verstehen, in denen sie nichts ändern können und die sie gar nicht angehn, sich entzweien, hassen, verfolgen, verschwärzen und verleumden. Wie fremde Banditen und Meuchelmörder müssen die erscheinen, die aus toller Brunst für oder gegen ein fremdes Volk die Ruhe ihrer Mitbrüder untergraben. Man muß lernen, daß man nur auf dem Platz etwas sein kann, auf dem man stehet, wo man etwas sein soll.

Fünfte Gesinnung

Gefühl der Billigkeit gegen andre Nationen


Dagegen muß jede Nation allgemach es unangenehm empfinden, wenn eine andre Nation beschimpft und beleidigt wird; es muß allmählich ein gemeines Gefühl erwachen, daß jede sich an die Stelle jeder andern fühle. Hassen wird man den frechen Übertreter fremder Rechte, den Zerstörer fremder [285] Wohlfahrt, den kecken Beleidiger fremder Sitten und Meinungen, den prahlenden Aufdringer seiner eignen Vorzüge an Völker, die diese nicht begehren. Unter welchem Vorwande jemand über die Grenze tritt, dem Nachbar als einem Sklaven das Haar abzuscheren, ihm seine Götter aufzuzwingen und ihm dafür seine Nationalheiligtümer in Religion, Kunst, Vorstellungsart und Lebensweise zu entwenden, im Herzen jeder Nation wird er einen Feind finden, der in seinen eignen Busen blickt und sagt: »Wie, wenn das mir geschähe?« – Wächst dies Gefühl, so wird unvermerkt eineAllianz aller gebildeten Nationen gegen jede einzelne anmaßende Macht. Auf diesen stillen Bund ist gewiß früher zu rechnen als nach St. Pierre auf ein förmliches Einverständnis der Kabinette und Höfe. Von diesen darf man keine Vorschritte erwarten; aber auch sie müssen endlich ohne Wissen und wider Willen derStimme der Nationen folgen.

Sechste Gesinnung

Über Handelsanmaßungen


Laut empört sich das menschliche Gefühl gegen freche Anmaßungen im Handel, sobald ihm unschuldige frönende Nationen um einen Gewinn, der ihnen nicht einmal zuteil wird, aufgeopfert werden. Handel soll, wenn auch nicht aus den edelsten Trieben, die Men schen vereinigen, nicht trennen; er soll sie, wenngleich nicht im edelsten Gewinn, ihr gemeinschaftliches und eigenes Interesse wenigstens als Kinder kennen lehren. Dazu ist das Weltmeer da; dazu wehen die Winde; dazu fließen die Ströme. Sobald eine Nation allen andern das Meer verschließen, den Wind nehmen will, ihrer stolzen Habsucht wegen, so muß, je mehr die Einsicht ins Verhältnis der Völker gegeneinander zunimmt, der Unmut aller Nationen gegen eine Unterjocherin des freiesten Elements, gegen die Räuberin jedes höchsten Gewinnes, die anmaßende Besitzerin aller Schätze und Früchte der Erde erwachen. Ihrem Stolz, ihrer Habsucht zu dienen, wird kein [286] fremder Blutstropfe willig fließen, je mehr der wahre Satz eines vortrefflichen Mannes anerkannt wird, »daß die Vorteile der handelnden Mächte einander nicht durchkreuzen und daß diese Mächte von einem gegenseitigen allgemeinen Wohlstande und von der Erhaltung eines ununterbrochenen Friedens vielmehr den größten Nutzen haben würden«. 277

Siebente Gesinnung

Tätigkeit


Endlich der Kornstengel in der Hand der indischen Frau ist selbst eine Waffe gegen das Schwert. Je mehr die Menschen Früchte einer nützlichen Tätigkeit kennen und einsehen lernen, daß durchs Kriegsbeil nichts gewonnen, aber viel verheert wird, je mehr die schmähenden Vorurteile von einer mit göttlichem Beruf zum Kriege gebornen Kaste, in der von Vater Kain, Nimrod und Og zu Basan an Heldenblut fließe, verächtlich und lächerlich werden, desto mehr Ansehen wird der Ährenkranz, der Apfel- und Palmzweig vor dem traurigen Lorbeer erhalten, der neben dunkeln Zypressen wächst und [287] samt Nesseln und Dornen nur Lazerten und Bubonen unter sich liebet.

Die sanfte Verbreitung dieser Grundsätze sind dasÖl und die Arznei der großen Friedensgöttin Vernunft, deren Sprache sich endlich niemand entziehen kann. Unvermerkt wirkt die Arznei, sanft fließt das Öl hinunter. Leise tritt sie zu diesem und jenem Volk und spricht in der Sprache der Indianer: »Bruder, Enkel, Vater, hier bringe ich dir ein Bundeszeichen und Öl und Arznei. Damit will ich deine Augen reinigen, daß sie scharf sehen; ich will damit deine Ohren säubern, daß sie recht hören; ich will deinen Hals glätten, daß meine Worte geschmeidig hinuntergehen; denn ich komme nicht umsonst; ich bringe Worte des Friedens.«

Und der Angeredete wird antworten: »Schwester, dieser String of Wampum soll dich willkommen heißen. Ich will die Dornen aus deinen Füßen ziehen, die dir etwa möchten hineingefahren sein. Ich will die Müdigkeit, die dich auf der Reise befallen hat, wegschaffen, daß deine Knie wieder stark und mutig werden. Das rote Kriegsbeil und die Keule sollen in die Erde verscharret sein, und über sie wollen wir einen Baum pflanzen, der bis in den Himmel wachse. Solange Sonne und Mond scheinen und auf- und niedergehen, solange die Sterne am Himmel stehen und die Flüsse mit Wasser fließen, soll unsre Freundschaft dauren.« 278

Wenn, wie ich fast glaube, ein ewiger Friede förmlich erst am Jüngsten Tage geschlossen werden wird, so ist dennoch kein Grundsatz, kein Tropfe Öl vergebens, der dazu auch nur in der weitsten Ferne vorbereitet.

120.

Jede Aufmunterung zu guten Gesinnungen, ohne auf die Förmlichkeit ihrer Ausführung ängstliche Rücksicht zu nehmen, ist eine Trostpredigt. Oft sagt der Blöde: »Wenn wird, [288] wenn kann dies geschehen?« und tut darüber gar nichts. Oft hält er sich zu früh und zu genau an die Bestimmung der Förmlichkeiten des Ausgangs und vergißt darüber das Wesentliche der Hülfsmittel, diesen Ausgang zu fördern. Viele Beispiele der Geschichte legen dies klar an den Tag.

In den alten Schriften der ebräischen Nation z.B. waren schöne Wünsche und Entwürfe für die Zukunft gepflanzet. Hoffnungen eines großen Lichts, das allen Völkern aufgehen, eines Bandes der Freundschaft, das alle Nationen umfassen sollte, einer Religion, die ins Herz geschrieben, eines goldnen Friedens, an dem alles teilnehmen würde, glänzten wie eine Morgenröte. Sobald man in diesen Entwürfen und Ahnungen den Geist des Weissagenden, seinen Zweck und die herrschende Gesinnung der Rede verkannte, als man sich an den Buchstaben hing und die Erfüllung förmlich bestimmte, da kamen Torheiten ans Licht; Träumereien, mit deren jeder man um so weiter vom Sinn der Weissagung abwich, je förmlicher man bestimmte.

Nicht anders war's im Christentum, als man auf die sichtbare Ankunft des Herren hoffte. In allen Schwärmersekten, die das Tausendjährige Reich zustande bringen wollten, war's nicht anders. Mit mancher neuen Philosophie, fürchte ich, ist's eben also. Wie nahe der Erfüllung hat man sich bei manchen Systemen geglaubt, und wie schrecklich ward man betrogen! Die glänzende Höhe, die man dicht vor sich sah, rückte weiter und weiter. Da gibt der Getäuschte dann alle Hoffnung auf und läßt die Hände sinken. –

Verbreiter guter Gesinnungen, schadet ihnen, schadet euch selbst nicht durch Bezeichnung eines Äußern, das bloß von der Zeit und von Umständen bestimmt werden kann! Pflanzt den Baum; er wird von selbst wachsen; Erde, Luft, Sonne werden ihm Gedeihen geben. Sichert gute Grundsätze; durch eigne Kraft werden sie wirken – nicht anders aber als mit Modifikationen, die Zeit und Ort ihnen allein geben können und geben werden.

[289]

Der Fürst

Zerteile dich, trübes Gewölk!
Denn unter dir wandelt der Edle,
Auf dessen Scheitel ein Strahl
Göttliches Glanzes traf.
Es leuchtet Segen durch Länder und Reiche,
Die seinem Winke gehorchen,
Die an den Stufen seines Throns
Suchen und finden ihr Glück.
Lob dem Erbarmenden, der ihn zum Pfleger
Der Menschheit setzte! Heil der Stunde, da
Sein großes Herz zum ersten Male schlug!
Edler! siebenmal edler als Tageslicht,
Was soll dir Glanz des Goldes?
Was soll dir Schimmer des Lobes?
Größe, die du willst, ist Glückseligkeit der Völker.
Name, den du suchst, ist der Name Vater.
Führ ihn! denn dein heilig Herz
Ist Wohnung väterlicher Huld;
Und jedes Blut der Deinen ist das deine,
Und jedes Leben deiner Kinder deins.
Der Fürsten Feinde, das scheue Gevögel der Nacht,
Heuchler und Schmeichler scheuen das Licht,
Welches der Himmel dir gab,
Die Demut, womit er dich hoch belieh;
Sie nahen nicht dem Thron, worauf der Herr der Welt
Dir gab zu sitzen; fern ihm schwärmen sie.
Weisheit und Menschenliebe treten,
Du winkest sie herbei, vor deinen Stuhl –
[290]
Du hörest ihre Rede, die dir sagt:
»Du bist ein Mensch! Auch du, o Fürst, bist Staub!
Sei deines Thrones wert, sei groß und gut.
Sei gut: dann bist du groß.«

Ruhm und Verachtung

Du Tal des Irrtums, dahinab nur selten
Der Wahrheit Sonne scheinet, soll ich mich
Verwundern, wenn, erhitzt von Phantasie,
Die dich bewohnen schneller noch erkalten
Als glühend Eisen unter Schmiedes Hand?
Du mit dem Fluch von Täuschereien schwer-
Beladne Erde, soll ich staunen, wenn
Auf dir Bewundrung bald Verachtung wird?
Da Zufall, Glück und Gunst und eitler Schimmer
Zu deiner Achtung gnug ist.
Jenem, der,
Den Donner in der Hand, auf Nationen
Verderben schleudert und der Völker Glück
Zerschmettert, jenem knieest du und rufst:
»Hier, Arm der Gottheit!«
Und wenn ihn das Glück,
Die falsche Braut, verließ, wenn ihn der Sieg
Nicht seinen Liebling nennet, kehrest du
Dein Antlitz von ihm weg.
Oft führet Wahn
Zum Altar eines Götzen, den auch Wahn
Und Trug erschufen; Schwärmerei und Wahn
Streun ihren Weihrauch ihm; da rufest du
Entzückt: »Hier ist der Weisheit letzter Spruch!«
Weh ihm, dem Götzen! weh dem Altar! Bald
Wird über ihn die Maus hinlaufen, bald
Der Sperling auf ihm hüpfen.
[291]
Tolles Ding
Um Ehr und Schand, um Ruhm und um Verachtung
Des Menschenvolks. Mit beiden Händen teilt
Der Tor sie Toren aus.
Du fromm Geschlecht!
O suche Ruhm und Achtung nur bei dem,
Der nicht wie Menschen nur Gebräuchen frönt,
Bei dem der Wert des Guten ewig gilt.
Wer bei dem Ewigen den Wechsel sucht,
Wer bei dem Höchsten Ungerechtigkeit
Erwartet, der verleugnet ihn.
Bewahre
Mich, Herr! bewahre mein Geschlecht für Ruhm
Bei Toren; Schand und Spott ist er vor dir.

Al Hallils Klagegesang

Laßt mich weinen! Das Weinen bringt nicht Schande.
Laßt mich klagen! denn klagen soll der Betrübte.
O Humane! 279 wie soll ich dich jetzt nennen?
Himmlische Namen hast du; wer kann sie sprechen?
Schaut, o schauet den Schmerz in meiner Seele,
Engel, die ihn ins Tal des Todes führten.
Gottesboten, ihr führtet ihn als Brüder,
Euren Bruder. Ich seh ihn freundlich lächeln
Mitten im Todestal. Er warf die Hülle
Leicht von sich und ersah den offnen Himmel.
Laßt uns folgen, ihr Brüder! – Beider Welten
Vater wird uns auch dort die Hütte bauen. –
O Humane, wie soll ich dich jetzt nennen?
Himmlische Namen hast du; wer mag sie sprechen?
[292] Heil der keuschen Mutter, die dich geboren!
Denn sie mehrte die Zahl der Engel mit dir.
Wie der Bach, der das Paradies durchschlängelt,
War dein Herz; wie der Morgenstern dein Innres.
Sanft wohltätiges Licht der Sonne, freundlich
Wie die Sommernacht, wie der Silbermondstrahl.
Auge warst du dem Fürsten, wie dem Armen;
Eins nur kanntest du nicht, das Gift der Schlangen.
Worte des Trostes gabst du uns, nicht Wermut,
Heucheltest nie uns Demut, nie uns Freundschaft.
Ungesehen auch warst du edel, übtest
Im Verborgenen Guts, wie Gott, dein Vater.
Nie erwartetest du, was du nicht selber
Leisten konntest, o du der Menschheit Zierde.
Und gewelket sobald sind deine Blüten!
Deine Zweige, wie sinken sie zur Erde!
Klagt mit mir, Jungfrauen! o klagt, ihr Knaben!
Seine schöne Gestalt ist uns entnommen!
Nie eröffnet sich uns sein holder Mund mehr.

121.

Wenn in einem Felde der Wissenschaft menschliche Gesinnungen herrschen sollten, so ist's im Felde derGeschichte; denn erzählt diese nicht menschliche Handlungen? und entscheiden diese nicht über den Wert des Menschen? bauen diese nicht unsres Geschlechts Glück und Unglück?

Man sagt, »die Geschichte erzähle Begebenheiten,« und ist beinah geneigt, diese für so unwillkürlich, ja für so unerklärbar anzusehen, wie man in den dunkelsten Jahrhunderten die Naturbegebenheiten nicht ansah, sondern anstaunte. Ein erregter Krieg oder Aufruhr gilt der gemeinen Geschichte wie ein Ungewitter, wie ein Erdbeben; die ihn erregten, werden als Geißel der Gottheit, als mächtige Zauberer betrachtet; und damit gnug!

[293] Eine Geschichte dieser Art kann die klügste oder die stupideste werden, nachdem der Sinn des Verfassers war.

Die stupideste wird sie, wenn sie in einem sogenannt großen und göttlichen Mann alles bewundert und keine seiner Unternehmungen an ein Richtmaß menschlicher Vernunft zu bringen sich erkühnet. Manche morgenländische Geschichten von Nadir-Schah, Timur-Long u.f. sind so geschrieben; wir lesen eine lobjauchzende Epopee, mit einer dürren oder abscheulichen Tatenreihe fröhlich durchwebet.

Europa hat an diesem morgenländischen Geschmack vielen Anteil genommen, nicht etwa nur in den Zeiten der Kreuzzüge, sondern auch in den meisten Lebensbeschreibungen einzelner Helden, in der Geschichte ganzer Sekten, Familien und Familienkriege. Man staunt, wenn man die Andacht und Anhänglichkeit des Schriftstellers an seinen verehrten Gegenstand wahrnimmt, und kann nichts anders sagen als: »Er hat aus dem Becher der Betäubung getrunken; Wein der Dämonen hat ihm die Sinne benebelt.«

Die klügste Geschichte dieser Art ist die kälteste, etwa wie Machiavell Sie trieb und ansah. Auch sie vergißt Recht und Unrecht, Laster und Tugend, indem sie, rein wie ein Geometer, den Erfolg gegebener Kräfte ausmißt und fortgehend einen Plan berechnet.

Daß aus dieser machiavellischen Geschichte, wenn sie scharf siehet und richtig rechnet, viel zu lernen sei, ist keine Frage. Beschäftigt sie sich nicht mit dem verflochtensten, wichtigsten Problem, das unserm Geschlechte vorliegt? Menschenkräfte im Verhältnis ihrer Wirkungen und Folgen.

Wäre nur dies Problem auch rein aufzulösen! Auf dem Schauplatz der Erde, selbst in ihren engesten Winkeln, läuft so vieles durcheinander; gegenseitige Kräfte stören einander, und in alles mischen sich Umstände, Zeit, Glück, der tausendarmige Zufall. Der Klügste ward hintergangen; der Besonnenste verfehlte seinen Zweck. Also wird diese Schule des Unterrichts oft eine Romanschule, da man dem glücklichen Helden Klugheit leihet, die er nicht hatte, und von schimmernden [294] Erfolgen nach einem falschen Kalkül rückwärts rechnet, oder sie wird, wenn die besten Kräfte durch einen Zufall mißraten, eine niederschlagende Lektion, eine Schule der Verzweiflung. Überhaupt aber macht dieser Wetzstein der Klugheit das Gemüt leicht zu scharf, zu schartig.

Wer kann Machiavells »Prinzen« ohne Schauder lesen? Wenn ihm auch alles gelänge, wäre er ein würdiger Fürst? Wäre er in seinem Busen glücklich? Entsetzlich ist's, die Menschheit nur als eine Linie zu betrachten, die man nach Gefallen zu einem Zweck krümmen, schneiden, verlängern und verkürzen darf, damit ein Plan erreicht, damit die Aufgabe nur gelöset werde.

Also können wir uns vom Menschengefühl nicht trennen, indem wir die Geschichte schreiben oder lesen; ihr höchstes Interesse, ihr Wert beruhet auf dieser Menschenempfindung, der Regel des Rechts und Unrechts. Wer bloß für Klugheit schreibt, gerät leicht in Dünkel; wer nur für die Neugierde schreibt, schreibt für Kinder.

Was bestimmt aber diese Regel des Rechts? Auch hier gibt's eine zu warme und zu kalte Geschichte.

Die erhitzte will zur Ehre Gottes alles bewirken und erlaubt sich zu diesem vermeinten Zweck Frevel und Unsinn. So unterjochte Timur eine halbe Welt, den muhammedanischen Glauben auszubreiten, und wollte im höchsten Alter noch das ruhige China bekriegen. So zogen die Nationen Europas zum Heiligen Grabe, so würgten die Spanier in Amerika, so marterte und verfolgte die Inquisition. Schreckliche Leidenschaften der Menschen umhülleten sich mit dem Mantel Gottes und zerstörten und quälten. –

Die kalte Geschichte rechnet unter der Regel eines angeblichen positiven Rechts nach Staatsplanen, und auch sie wird in Befolgung dieser oft sehr warm.Wohl des Vaterlandes, Ehre der Nation wird in ihr das Feldgeschrei und bei trüglichen Unterhandlungen die Staatslosung. Die Athener, die Römer – was rechneten sie nicht zum Wohl ihres Vaterlandes, zu ihrem Ruhm, mithin zu ihrem Recht? Was erlaubten sich[295] der Papst, die Klerisei, die christlichen Könige nicht zum angeblichen Wohl ihrer Reiche? Erzählt die Geschichte dies alles gleichgültig oder gar zutrauend, glaubend, so gerät man mit ihr in ein Labyrinth der verflochtensten, widrigsten Staatsinteresse, persönlicher Anmaßungen und Staatslisten. Ein großer Teil der Begebenheiten unsrer zwei letzten Jahrhunderte, die sogenannten Denkwürdigkeiten (mémoires), Lebensbeschreibungen, politische Testamente sind in diesem Sinn, dem Geist Richelieus, Mazarins und früher noch Karls V., Philipps 11., Philipps des Schönen, Ludwigs Xl., XIII., XIV., kurz, im Geist derspanisch-französischen Staatspolitik geschrieben. Ein fürchterlicher Geist, der sich zum Wohl des Staats, d.i. zum Ruhm und zur größeren Macht der Könige, zur Sicherheit und Größe ihrer Minister alles erlaubt hielt! In welcher Geschichte er durchblickt, schwärzt er das Glänzendste mit dem Schatten der Eitelkeit, der Truglist, der Anmaßung, der Verschwendung. Vergessen ist in ihm die Menschheit, die nach ihm bloß für den Staat, d.i. für Könige und Minister, lebet.

Allgemach sind wir auch diesem Nebel entkommen, aber ein anderes Glanzphantom steigt in der Geschichte auf, nämlich die Berechnung der Unternehmungen zu einer künftigen bessern Republik, zur besten Form des Staats, ja aller Staaten. Dies Phantom täuschet ungemein, indem es offenbar einen edleren Maßstab des Verdienstes in die Geschichte bringt, als den jene willkürliche Staatsplane enthielten, ja gar mit den Namen Freiheit, Aufklärung, höchste Glückseligkeit der Völker blendet. Wollte Gott, daß es nie täuschte! Die Glückseligkeit eines Volks läßt sich dem andern und jedem andern nicht aufdringen, aufschwätzen, aufbürden. Die Rosen zum Kranze derFreiheit müssen von eignen Händen gepflückt werden und aus eignen Bedürfnissen, aus eigner Lust und Liebe froh erwachsen. Die sogenannt beste Regierungsform, die unglücklicherweise noch nicht gefunden ist, taugt gewiß nicht für alle Völker, auf einmal, in derselben Weise; mit dem Joch ausländischer, übel eingeführter Freiheit würde [296] ein fremdes Volk aufs ärgste belästigt. Eine Geschichte also, die bei allen Ländern auf diesen utopischen Plan nach unbewiesenen Grundsätzen alles berechnet, ist die glänzendsteTruggeschichte. Ein fremder Firnis, der den Gestalten unsrer und der vorigen Welt ihre wahre Haltung, selbst ihre Umrisse raubet. Viele Schriften unsrer Zeit wird man zwanzig Jahr später als wohl- oder übelgemeinte Fieberphantasien lesen; reifere Gemüter lesen sie jetzt schon also.

Also bleibt der Geschichte einzig und ewig nichts als der Geist ihres ältesten Schreibers, Herodots, der unangestrengte milde Sinn der Menschheit. Unbefangen sieht dieser alle Völker und zeichnet jedes aufseiner Stelle, nach seinen Sitten und Gebräuchen. Unbefangen erzählt er die Begebenheiten und bemerkt, wie allenthalben nur Mäßigung die Völker glücklich mache und jeder Übermut seine Nemesis hinter sich habe. Dies Maß der Nemesis, nach feineren oder größeren Verhältnissen angewandt, ist der einzige und ewige Maßstab aller Menschengeschichte.

»Was du nicht willst, das dir geschehe, das tue keinem andern«; die Rache kommt, ja sie ist da, bei jeder Verirrung, bei jedem Frevel. Alle Mißverhältnisse und Unbilligkeiten, jede stolze Anmaßung, jede feindselige Verhetzung, jede Treulosigkeit hat ihre Strafe mit oder hinter sich; je später, desto schrecklicher und ernster. Die Schuld der Väter häuft sich mit zerschmetterndem Gewicht auf Kinder und Enkel. Gott hat den Menschen nicht erlaubt, lasterhaft zu sein als unter dem harten Gesetz der Strafe.

Wiederum belohnt sich auch in der Geschichte das kleinste Gute. Kein vernünftiges Wort, was je ein Weiser sprach, kein gutes Beispiel, kein Strahl auch in der dunkelsten Nacht war je verloren. Unbemerkt wirkte es fort und tat Gutes. Kein Blut des Unschuldigen ward fruchtlos vergossen; jeder Seufzer des Unterdrückten stieg gen Himmel und fand zu seiner Zeit einen Helfer. Auch Tränen sind in der Saat der Zeit Samenkörner der glücklichsten Ernte. Das Menschengeschlecht ist ein Ganzes; wir arbeiten und dulden, säen und ernten füreinander.

[297] Wie milde, wie sanft aufmunternd, aber auch wie ernst und zusammenhaltend ist dieser Geist der Menschengeschichte! Er läßt jedes Volk an Stelle und Ort, denn jedes hat seine Regel des Rechts, sein Maß der Glückseligkeit in sich. Er schonet alle und verzärtelt keines. Sündigen die Völker, so büßen sie; und büßen so lange und schwer, bis sie nicht mehr sündigen. Wollen sie nicht Kinder sein, so erzieht die Natur sie als Sklaven.

Keiner politischen Verfassung tritt dieser Geist der Geschichte zerstörend in den Weg. Er wirft nicht das Haus dem Ruhigen über dem Kopf zusammen, ehe ein anderes besseres da ist, zeigt aber dem zu Sichern mit freundlicher Hand Fehler und Mängel des Hauses und führt mit stillem Fleiß Materialien herbei zur Stützung des alten oder zum Bau eines bessern.

Nationalvorurteile tastet er nicht an; denn in ihnen als Hülsen oder harten Schalen muß manche gute Gesinnung wachsen. Er läßt sie wachsen. Wenn die Frucht reif ist, verdorret die Hülse, die Schale zerspringt. Ihm ist's recht, wenn der Franzmann und der Engländer sich ihre humanité und humanity englisch und französisch malen; desto weniger wird der Ausländer um sie zu seinem Verderb buhlen. Aus seinem Herzen muß eine Geliebte hervorgehn, die für ihn gehöret.

Am heiligsten sind dem Geist der Menschengeschichte gutmütige Toren und Schwärmer; sie sind ihm unter der besondersten göttlichen Obhut. Ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Erde; die man für Schwärmer hielt, haben dem menschlichen Geschlecht die nützlichsten Dienste geleistet. Trotz alles Spottes, trotz jeder Verfolgung und Verachtung drangen sie durch; und wenn sie nicht zum Ziel kamen, so kamen sie doch weiter und brachten weiter. Lebendige Winde waren sie über dem abgestandenen Sumpf; oder sie dämmeten ihn und machten ihn fruchtbar. Leeren Spott über sie erlaubt sich nie der Geist der Geschichte; höchstens bedauren wird er sie, nicht brandmalen.

Alle überfeinen Einteilungen der Menschen nach Prinzipien, [298] aus denen sie ausschließend handeln sollen, sind dem Geist der Geschichte ganz fremde. Er weiß, daß in der Menschennatur das Principium derSinnlichkeit, der Einbildungskraft, des Eigennutzes, der Ehre, des Mitgefühls mit andern, der Gottseligkeit, des moralischen Sinnes, des Glaubens u.f. nicht in abgetrennten Kammern wohnen, sondern daß in einer lebendigen Organisation, die von mehreren Seiten geregt wird, viele von ihnen, oft alle lebendig zusammenwirken. Jedem von ihnen läßt er seinen Wert, seinen Rang, seinen Ort, seine Zeit der Entwicklung; überzeugt, daß alle, auch unbewußt, zu einem Zweck, dem großen Principium der Menschlichkeit, wirken. Alle also läßt er zu ihrer Zeit an Stelle und Ort blühn, Sinnlichkeit und die Künste der Phantasie, Verstand und Sympathie, Ehre, moralischen Sinn und heilige Andacht. Er zwingt so wenig den Magen zu denken als den Kopf zu verdauen und quälet niemand mit der Zergliederung, ob auch jeder Bissen Brot, den er in den Mund steckt, ein allgemeines moralisches Grundgesetz aller vernünftigen Wesen im Kauen und Verdauen gebe. Kaue jeder, wie er kann; die Geschichte behandelt die Menschen nicht als Wortfinder und Kritiker, sondern als Täter eines moralischen Naturgesetzes, das in ihnen allen spricht, das zuerst linde warnet, dann härter straft und jede gute Gesinnung durch sich und ihre Folgen reich belohnet. Reizet Sie nicht dieser Geist der Menschengeschichte?

122.

Sie scheinen zu glauben, daß eine Geschichte der Menschheit nicht statthabe, solange man den Ausgang der Dinge nicht weiß oder, wie man zu sagen pflegt, den Jüngsten Tag noch nicht erlebt hat. Ich bin nicht dieser Meinung. Möge sich das Menschengeschlecht verbessern oder verschlimmern, möge es einst zu Engeln oder Dämonen, zu Sylphen oder zu Gnomen werden: wir wissen, was wir zu tun haben. Nach festen Grundsätzen unsrer Überzeugung von Recht und Unrecht [299] betrachten wir die Geschichte unsres Geschlechts, möge sein letzter Akt ausgehn, wie er wolle.

Monboddo z.B. siehet in seiner Geschichte und Philosophie des Menschen 280 ihn als ein System lebendiger Kräfte an, in welchem sich das Elementarische, das Pflanzen-, Tier- und Verstandesleben unterscheide. Das animalische Leben, meint er, sei im besten Zustande gewesen, da die Menschen tierähnlich lebten. Er findet hievon noch Ähnlichkeit bei den Kindern. Die Alter, die der Mensch als Individuum durchgehe, hält er auch für die Laufbahn des ganzen Geschlechtes. Dies führt er also in seinen ersten nackten Zustand in freier Luft, in Regen, in Kälte zurück und zeigt, was die Bekleidung, das Wohnen in Häusern, der Gebrauch des Feuers, die Sprache auf das Menschengeschöpf gewirkt haben. Er zeigt die Fähigkeiten, die es hatte, zu schwimmen, aufrecht zu gehen, Übungen anzustellen, und findet in diesem Zustande den Grund jenes längeren Lebens, jener größeren Gestalt und Stärke, von der uns die Sage der Urwelt erzählet. Aus Beispielen und Nachrichten erweiset er, wie durch Veränderung der Lebensweise, durchs Fleischessen und den Trank geistiger Getränke, durch die sitzende Lebensart bei Künsten, Gewerben, Spielen, durch feinere Nahrungsmittel, Wollüste und Zeitvertreibe der Körper des Menschen geschwächt, verkleinert, sein Leben verkürzt worden – Dagegen zeigt er, wie der Verstand des Menschen durch Gesellschaft und Künste zugenommen, wie die Sagazität eines Naturmenschen von der Klugheit des zivilisierten Mannes sich unterscheide, wie alle Künste aus Nachahmung entsprungen und die Idee des Schönen bloß dem zivilisierten Zustande eigen sei. In beiden Altern der Menschheit findet er Nationen, Familien, Individuen unterschieden, unser Geschlecht aber überhaupt in Abnahme animalischer Kräfte und hat hierüber Erinnerungen gegeben, die jeder anwende, wie er mag und kann. –

[300] Gehen wir in dies alles ein (wie denn Monboddos System, einiger Eigenheiten des Verfassers wegen, gewiß nicht lächerlich gemacht zu werden verdienet), nehmen wir an, was auch die Geschichte lehret, daß fast alle Völker der Erde einmal in einem roheren Zustande gelebet und nur von wenigen die Kultur auf andre gebracht sei, was folget daraus?

1. Daß auf unsrer runden Erde noch alle Zeitalter der Menschheit leben und weben. Da gibt's Völkerschaften im Kindes-, Jünglings-, Mannesalter, und wird deren wahrscheinlich noch lange geben, ehe es den seefahrenden Greisen Europas gelingt, durch gebrannte Wasser, Krankheiten und Sklavenkünste sie zum Greisesalter zu befördern. Wie uns nun jede Pflicht der Menschlichkeit gebeut, einem Kinde, einem Jünglinge sein Lebensalter, das System seiner Kräfte und Vergnügen nicht zu stören, so gebietet sie solches auch Nationen gegen Nationen. Sehr angenehm sind mir in diesem Betracht mehrere Unterredungen der Europäer, insonderheit der Missionare, mit ausländischen Völkern, z.B. Indiern, Amerikanern; die naivsten Antworten voll guten Herzens und gesunden Verstandes waren fast immer auf Seite der Ausländer. Sie antworteten kindisch-treffend und richtig; dagegen die Europäer mit Aufdringung ihrer Künste, Sitten und Lehren meistens die Rolle abgelebter Alten spielten, die völlig vergessen hatten, was einem Kinde gehörte.

2. Da die Unterscheidung elementarischer, animalischer, vegetativer und Verstandeskräfte nur ein Gedanke ist, indem jeder Mensch aus allen diesen, wenngleich in verschiedenem Verhältnis, bestehet, so hüte man sich, diese und jene Nation ganz für animalisch zu halten, um sie als Lasttiere zu gebrauchen. Der reine Intellectus bedarf keines Lasttiers, und sowenig also der intellektuellste Europäer der Pflanzen- und Tierkräfte in seinem Lebenssystem entbehren kann, sowenig ermangelt irgendeine Nation ganz des Verstandes. Vielgestaltig ist dieser allerdings in Ansehung der ihn regenden Sinnlichkeit nach der verschiedenen Organisation der Völker; indessen ist und bleibt er in allen Menschengestalten nur ein[301] und derselbe. Das Gesetz der Billigkeit ist keiner Nation fremd; die Übertretung desselben haben alle gebüßet, jede in ihrer Weise.

3. Wenn intellektuelle Kräfte in mehrerer Ausbildung der Vorzug der Europäer sind, so können sie diesen Vorzug nicht anders als durch Verstand und Güte (beide sind im Grunde nur eins) beweisen. Handeln sie impotent, in wütenden Leidenschaften, aus kaltem Geiz, in niedrig-vermessenem Stolze, so sindsie die Tiere, die Dämonen gegen ihre Mitmenschen. Und wer leistet den Europäern Bürgschaft, daß es ihnen nicht an mehreren Enden der Erde wie in Abessinien, China, Japan ergehen könne und ergehen werde? Je mehr ihre Kräfte und Staaten in Europa altern, je mehr unglückliche Europäer einst diesen Weltteil verlassen, um dort und hier mit den Unterdückten gemeinschaftliche Sache zu machen, so können intellektuelle und animalische Kräfte sich in einer Weise verbinden, die wir jetzt kaum vermuten. Wer siehet in die vielleicht schon gepflanzte Saat der Zukunft? Kultivierte Staaten können entstehen, wo wir sie kaum möglich glauben; kultivierte Staaten können verdorren, die wir für unsterblich hielten.

4. Sollte in Europa auf Wegen, die wir zu bestimmen nicht vermögen, die Vernunft einmal so viel Wert gewinnen, daß sie sich mit Menschengüte vereinigte, welch eine schöne Jahrszeit für die Glieder der Gesellschaft unsres ganzen Geschlechtes! Alle Nationen würden daran teilnehmen und sich diesesHerbstes der Besonnenheit freuen. Sobald im Handel und Wandel das Gesetz der Billigkeit allenthalben auf Erden herrschet, sind alle Nationen Brüder; der Jüngere wird dem Älteren, das Kind dem verständigen Greise mit dem, was es hat und kann, willig dienen 281

5. Und wäre diese Zeit undenkbar? Mich dünkt, sie müsse selbst auf dem Wege der Not und des Kalküls erscheinen.

[302] Selbst unsre Ausschweifungen und Lastertaten müssen sie fördern. In Verhältnissen des Menschengeschlechts müßte keine Regel, in seiner Natur keine Natur herrschen, wenn nicht durch innere Gesetze dieses Geschlechts selbst und den Antagonismus seiner Kräfte diese Periode herbeigebracht würde. – Gewisse Fieber und Torheiten der Menschheit müssen mit Fortrückung der Jahrhunderte und Lebensalter abbrausen. Europa muß ersetzen, was es verschuldet, gutmachen, was es verbrochen hat, nicht aus Belieben, sondern nach der Natur der Dinge selbst; denn übel wäre es mit der Vernunft bestellt, wenn sie nicht allenthalben Vernunft und das Allgemeingute nicht auch das Allgemeinnützlichste wäre. Die Magnetnadel unsrer Bestrebungen sucht diesen Pol; nach allen Irren und Schwankungen wird und muß sie ihn finden. –

6. Daß also niemand aus dem Ergrauen Europas den Verfall und Tod unsres ganzen Geschlechts auguriere! Was schadete es diesem, wenn ein ausgearteter Teil von ihm unterginge? wenn einige verdorrete Zweige und Blätter des saftreichen Baumes abfielen? Andre treten in der Verdorreten Stelle und blühen frischer empor. Warum sollte der westliche Winkel unsres Nordhemisphärs die Kultur allein besitzen, und besitzet er sie allein?

7. Die größesten Revolutionen des Menschengeschlechts hingen bisher von Erfindungen oder von Revolutionen der Erde ab; wer kennet diese in der unabsehlichen Folge der Zeiten? Klimate können sich ändern; aus mehreren Ursachen kann manches bewohnte Land unbewohnbar, manche Kolonie zum Mutterlande werden Wenige neue Erfindungen können viele ältere aufheben; und da überhaupt die höchste Anstrengung (unleugbar der Charakter fast aller europäischen Staatskunst) notwendig nachlassen oder überstürzen muß: wer vermag die Folgen hievon zu berechnen? Wahrscheinlich ist unsre Erde ein organisches Wesen; wir kriechen auf dieser Pomeranze wie kleine, kaum merkbare Insekten umher, quälen einander und bauen uns hie und da an. Wenn der [303] Himmel fällt, sagt das Sprüchwort, wo bleiben die Sperlinge? Wenn hier oder dort die Pomeranze modert, tritt vielleicht eine andre Generation auf, ohne daß deshalb die erste eben am intellektuellen Teil ihres Systems, amVerstande, untergegangen wäre. Was sie eher hinrichten konnte, war Ausschweifung, Laster, Mißbrauch ihres Verstandes. Gewiß sind die Perioden der Natur in Ansehung aller Geschlechter aufeinander kalkulieret, daß, wenn die Erde Menschen nicht mehr wärmen und nähren kann, Menschen ihre Bestimmung auf ihr auch erfüllt haben werden. Die Blüte welket, sobald sie ausgeblühet hat; sie lässet aber auch Frucht nach. Wäre also die höchste Äußerung intellektueller Kraft unsre Bestimmung, so foderte eben diese von uns, dem künftigen, uns unbekannten von einen guten Samen nachzulassen, damit wir nicht als weichliche Mörder sterben.

Monboddo sieht unsere Erde als eine Erziehungsanstalt an, aus der unsre Seelen gerettet werden. Der einzelne Mensch kann und darf sie nicht anders ansehen; denn er kommt und geht vorüber. Auf der Stelle, auf welcher er ohne sein Wollen erscheinet, muß er sich helfen, so gut er kann, und das System seiner Elementar- und vegetativen, seiner animalischen und intellektuellen Kräfte ordnen lernen. Allmählich sterben sie ihm ab, bis der ausgebildete Geist verflieget. – Auch hier ist Monboddos System konsequent, das ich, unvollendet wie es ist, mancher andern kaufmännisch-politischen Geschichte der Menschheit vorziehe. Zu einer Geschichte unsres Geschlechts gehören kaufmännisch-politische Konsiderationen nur als ein Bruchstück; ihr Geist ist sensus humanitatis,Sinn und Mitgefühl für die gesamte Menschheit.

Der Geist der Schöpfung

Auch ich war Pilgrim in der Wüstenei,
Und matt vom Wege sprach ich: »Herr der Welt!
Ein Blick von dir verjüngt die Schöpfung. – Sieh!
Die Sonne brennt auf mich; im Sande glüht
[304] Mein nackter Fuß, und meine Zunge lechzt.
Ich wanke. Herr, mein Licht erlischt.«
Da sah
Ich vor mir einen schmalen Rasen, rings
Umflochten von Gebüsch. Ein Palmbaum stand
An einer Quelle, und auf Baum und Büschen
Hing unter Blüten manche schöne Frucht.
Ich kostete, ich trank, ich dankte Gott
Und legte mich zur Ruhe nieder. Sanft
Umhüllete der Schlaf mein Auge, bis
Ein Wundertraum mich schnell erweckete.
Der Geist der Schöpfung stand vor mir und sprach:
»Steh auf, o Mensch! Du hast genug geruht
Auf diesem Beet von zehentausend Pflanzen
Und Kräutern meines Herrn. Du bist gestärkt.
Die Hindin dort will auch verschmachten. Scheu
Erwartet sie, daß du aufstehest.« – Auf
Sprang ich und sah die Hindin mir zu Füßen,
Die Mutter war. Sie blickte froh mich an
Und sprang zu ihrer Weide.
»Guter Gott,«
Rief ich, »der du für alles sorgest. Wenn
Dein Wink dort Sonnen lenkt, so denkst du auch
Des Wandrers in der Wüste, daß sein Stab
Nicht breche, daß die Hindin nicht verschmachte.«

Die Zeitenfolge

Komm, Unzufriedner, näher! Tritt herzu,
An dessen Herzen Mißvergnügen nagt.
Schuf irgendwen der Allmacht Hand zur Qual?
Er, der nur Huld ist,
ist, schuf er je zum Unglück?
[305]
Es sprach der Mächtige (die Wahrheit spricht
In allen seinen Werken): »Euer Tagswerk
Sei Seligkeit. Mit diesem Segen laß ich,
Geschöpfe, euch aus meiner Hand.«
Und sieh!
Da standen sie, die Lebenden, unwissend,
Was Leben war. Sie schöpften Odem wie
Nach einem schweren Traum; sie sahn die Welt!
Und Engel ließen sich auf Wolken nieder,
Bewundernd dieser Schöpfung neuen Raum,
Die Wohnung süßer Freuden; sahn im Geist
Glückselige zukünft'ger Zeiten wallen
Und riefen, voll von himmlischem Gefühl:
»Du hast hier reiche Saaten ausgestreut,
Allgütiger! Wer kann die Ernte fassen
In diesen Segensgründen? Trauen wird
Der Gute dir! Gelingen wird sein Werk.«
So sangen sie. Hebt eure Augen auf,
Ihr Menschen, sehet eures Vaters Schöpfung
Und hofft auf ihn. Auch in der Menschheit kann
Sein Werk nicht fehlen.
Du der Welten Vater!
Ich weiß es, Worte tun es nicht vor dir.
Beredsamkeit verstummet. Wie sich Kinder
Der Blumen freun, freun wir uns deiner Schöpfung.
Wie ihrer zeitlichen Versorger sie
Zutrauend harren, hoffen wir auf dich
Und üben froh dein Werk. Die schönste Gabe
Des Sterblichen ist ein zufriednes Herz.

Das Gegengift

Preis sei dem Geber! jede seiner Gaben
Ist huld- und weisheitvoll. Er teilte sie,
Er wog sie ab zur langen Dauer und
[306]
Vollkommenheit der Schöpfung.
Seine Erde
Gab er nicht Engeln; Menschen gab er sie.
Der Menschen Bester ist, wer selten strauchelt,
Ihr Edelster, wer bald vom Fall aufsteht.
Tief keimete das Laster in der neu
Geschaffnen Erde; wild schoß es empor,
Gift seine Blüte, seine Früchte Tod.
Da schuf er ihm ein mächtig Gegengift,
Für Torheit ein Verwahrungsmittel, Arbeit.
Sie macht, er uns zum heiligsten Gesetz,
Den Fleiß zur Pflicht.
Arbeitsamkeit verriegelt
Die Tür dem Laster, das dem Müßigen
Zur Seite schleicht und hinter ihm das Unglück.
Willst du dem Feinde fluchen, wünsch ihm Muße;
Auf Muße folgt viel Böses und des Kummers
Gar viel.
Arbeitsam wirkt die Seele froh;
Langweil'ger Müßiggang beschäftigt sie
Zur Reue, zum Verderben. Torheit leitet
Den Müßigen; Mutwill und Vorwitz führen
Ins Dunkel ihn, wo Gott nicht ist.
Arbeitet,
Ihr Weisen in dem Volk, befördert euer
Und vieler Glück.
Wo wohnt Beruhigung?
Wo Segen der liebreichen Gottheit? Wo
Genuß der Tage? Wo das edelste
Vergnügen? Nur in Arbeit! – – –

[307] 123.

Von frühen Jahren habe ich mich auch in die fremdesten Hypothesen zu setzen gesucht, und ich kam fast von allen mit dem Gewinn einer neuen Seite der Wahrheit oder ihrer Bestärkung zurück; darf ich aber bekennen, daß ich der Hypothese von einer radikalen bösen Grundkraft im menschlichen Gemüt und Willen durchaus nichts Gutes abgewinnen kann? 282 Ich lasse sie jedem Liebhaber; meinem Verstande bringt sie kein Licht, meinem Herzen keine freudige Regung.

Gewöhnlich leitet man die Hypothese von zweien einander feindseligen Grundursachen der Dinge von den Persern her; ihre böse Anwendung aber sollte man nicht daher leiten. In der Physik war's offenbarKindheit der Wissenschaft, wenn man die Nacht für böse, den Tag für gut erklärte; die Gesetze, die beide hervorbringen, sind gut und höchst einfach. In der Moral sind sie es ebensosehr; und die Philosophie der Perser ging gerade darauf hin, dies auszuführen. Die Finsternis, sagte sie, sei Unform; das Licht, seiner Natur nach, bilde, leuchte und erwärme. Trotz aller Widerstrebungen sei Ahriman schwach; Ormuzd werde und müsse ihn überwinden. Ihre Religion foderte also in Gedanken, Worten, Handlungen zu diesem Siegeskampf als zum eigentlichen Geschäft des menschlichen Lebens auf. Licht zu schaffen und fortzubreiten, wirksam zu sein in jedem Guten, zu reinigen, zu erfreuen, sei unser Geschäft. Eben deshalb stehen wir zwischen Licht und Dunkel. –

Das Christentum ging mit tiefergreifenden Regungen auf diesem Wege fort. Kein sklavisches Volk, das sich ewig unter dem Joch krümmt und an Ketten windet, sollte nach ihm das Menschengeschlecht sein, sondern ein freies, fröhliches Geschlecht, das ohne Furcht eines machthabenden Henkergeistes das Gute des Guten wegen, aus innrer Lust, aus angeborner Art und höherer Natur tue, dessen Gesetz ein [308] königliches Gesetz der Freiheit, ja dem eigentlich kein Gesetz gegeben sei, weil die Gottesnatur in uns, die reine Menschheit, des Gesetzes nicht bedörfe.

Unverkennbar ist dies der Geist des Christentums, seine native Gestalt und Art. Nur dunkle barbarische Zeiten haben den großen Lehnsherren des Bösen, dessen angebornes Erbvolk wir sei'n, von dem uns Gebräuche, Büßungen und Geschenke zwar nicht wirklich, aber gewandsweise befreien könnten, der Stupidität und Brutalität antichristlich wiedergegeben. Wer wollte in diese Miltonsche Hölle greifbarer Nacht und solider Finsternis zurückkehren? –

Über der Erde sehen wir von dieser massiven Urhölle nichts. Wo Böses ist, ist die Ursache des BösenUnart unsres Geschlechts, nicht seine Natur und Art. Trägheit, Vermessenheit, Stolz, Irrtum, Hartsinn, Leichtsinn, Vorurteile, böse Erziehung, böse Gewohnheit: lauter Übel, die vermeidlich oder heilbar sind, wenn neues Leben, Munterkeit zum Guten, Vernunft, Bescheidenheit, Billigkeit, Wahrheit, eine beßre Erziehung, bessere Gewohnheiten von Jugend auf einzeln und allgemein einkehren. Die Menschheit ruft und seufzet, daß dieses geschehe, da offenbar jede Untugend und Untauglichkeit sich selbst straft, indem sie keinen wahren Genuß gewähret und eine Menge Übel auf sich und auf andre häufet. Offenbar sehen wir, daß wir dazu da sind, dies Reich der Nacht zu zerstören, indem niemand es für uns tun kann und soll. Nicht nur tragen wir die Last unsres Unglücks, sondern unsre Natur ist zu diesem und zu keinem andern Werk eingerichtet; es ist Zweck unsres Geschlechts, der Endpunkt unsrer Bestimmung, uns dieser Unart zu entladen. Das ganze Universum treibt, wenn uns die Früchte des Werks nicht locken, mit Nesseln und Dornen. – Was soll also Verzweiflung als unter einem nie abzuwerfenden Joch? wozu der Traum einer von der Wurzel aus unwiederbringlichen Menschheit?

Keine Hypothese kann uns wert sein, die unser Geschlecht aus seinem Standort rückt, die es bald an die Stelle der gefallenen [309] Engel stellt, bald unter ihre Vormundschaft und Oberherrschaft erniedrigt. Die gefallenen Engel kennen wir nicht, aber uns kennen wir und wissen, wenn und warum wir gefallen sind, fallen und fallen werden. –

Das Dasein jedes Menschen ist mit seinem ganzen Geschlecht verwebet. Sind unsre Begriffe über unsre Bestimmung nicht rein, was soll diese und jene kleine Verbesserung? Sehet ihr nicht, daß dieser Kranke in verpesteter Luft liegt? Rettet ihn aus derselben, und er wird von selbst genesen. Beim Radikalübel greift die Wurzeln an; sie tragen den Baum mit Gipfel und Zweigen.

Das Werk ist groß; es soll aber auch so lange fortgesetzt werden, als die Menschheit dauret; es ist das eigenste und einzige, das belohnendste und fröhlichste Geschäft unsres Geschlechtes.

Und wie wird dies Geschäft betrieben? Bloß durch Erweiterung und Verfeinerung der Verstandeskräfte? Intelligenz ist des Menschen edler Vorzug, das unentbehrliche Werkzeug seiner Bestimmung. Wissenschaft alles Wissenswürdigen, Verstand alles Brauchbaren, Schönen und Edeln ist erleuchtender Sonnenglanz in der dunkeln Dunstkugel der Erde; er darf und muß sich so weit erstrecken, als er sich erstrecken kann, vom letzten Nebelstern über die gesamte Natur an die Grenzen der werdenden Schöpfung.

Verstand ist der Gemeinschatz des menschlichen Geschlechts; wir alle haben daraus empfangen, wir alle sollen unsre besten Gedanken und Gesinnungen hineintragen. Wir rechnen mit Kombinationen der Vorzeit; die Nachwelt soll mit unsern Kombinationen rechnen, und allerdings geht dieser Kalkül ins Große, Weite, Unendliche hinaus. Wer unternimmt's zu sagen, wohin das Menschengeschlecht in seinen fortgesetzten, aufeinandergebaueten Bemühungen gelangen könne und vielleicht gelangen werde? Jede neuerlangte Potenz ist die Wurzel zu einer zahllosen Reihe neuer Potenzen.

Verstand indessen tut's nicht allein; auch den Dämonen schreiben wir einen dämonischen Verstand zu; der unsre sei [310] menschlich, von tätiger Güte begleitet. Blicke umher! Wieviel wahre und echte Wissenschaft ist ungebraucht in der Welt! wieviel Verstand liegt unterdrückt und begraben! wieviel andrer wird mißgebrauchet! Scheinwahrheit, starres Vorurteil, heuchelnde Lüge, träge Lust, vernunftlose Willkür verwirren unser Geschlecht. Ein gestärkter großer und guter Wille also, Übungen von Jugend auf, Kampfpreise und Gewöhnung, daß uns das Schwerste zum Leichtesten werde, und vor allem jenes unerläßliche Bestreben nach dem Notwendigen, was unser Geschlecht fodert, mit Vorbeilassung alles Entbehrlichen und Schlechten: sie allein können den Verstand zum Guten geltend machen, ihm aufhelfen und das Werk fördern. Wie lange haben wir uns mit dem Unnützen beschäftigt? Zeigen uns nicht Jahrtausende der Menschengeschichte unsern Unverstand, unsre kindische Trivialität und Feigheit?

Einheit unsrer Kräfte also, Vereinigung der Kräfte mehrerer zu Beförderung eines Ganzen im Wohlaller – mich dünkt, dies ist das Problem, das uns am Herzen liegen sollte, weil jedem es sein innerstes Bewußtsein wie sein Bedürfnis stille und laut saget.

»Gesetzgeber, Erzieher, Freunde der Menschheit,« sagt ein edler Mann unsrer Nation, 283 »lasset uns unsre Kräfte vereinigen, um dem Menschen zu beweisen, daß in den unendlich verschiedenen Lagen des Lebens er das innere Glück nirgend finde als in derwirksamen und tätigen Einheit seines Charakters. Strebend nach eigner Vollkommenheit, die Vorschriften einer allgemeinen und wohltätigen Vernunft frei und standhaft befolgend, wird er Verirrungen, Verbrechen, inneren Vorwürfen entgehen. Als Mensch und Bürger wird er die Glückseligkeit [311] im Zeugnis seines Gewissens finden. So bringt der Mensch die unendliche Verschiedenheit seiner Empfindungen, Gedanken, Bestrebungen zur Einheit eines wahren, reinen, wirksamen, moralischen Charakters.«

Und darf ich dies edle Bild weiter hinausprägen, so liegt im Menschengeschlecht eine unendliche Verschiedenheit von Empfindungen, Gedanken, Bestrebungen zur Einheit eines wahren, wirksamen, rein moralischen Charakters, der dem ganzen Geschlecht gehöret. Wie jede Klasse von Naturgeschöpfen ein eignes Reich ausmacht, auf andre Reiche bauend, in andre hineingreifend, so das Menschengeschlecht mit dem besondern und höchsten Abzeichen, daß die Glückseligkeit aller von den Bestrebungen aller abhängt und in ihm bei der größesten Verschiedenheit in dieser sehr erhabnen Einheit allein stattfinde. Wir können nicht glücklich oder ganz würdig und moralisch gut sein, so lange z.B. ein Sklave durch Schuld der Menschen unglücklich ist; denn die Laster und böse Gewohnheiten, die ihn unglücklich machen, wirken auch auf uns oder kommen von uns her. Die Anmaßung, der Geiz, die Weichlichkeit, die alle Weltteile betrügt und verwüstet, haben ihren Sitz bei und in uns; es ist dieselbe Herzlosigkeit, die Europa wie Amerika unter dem Joch hält. Dagegen auch jede gute Empfindung und Übung eines Menschen auf alle Weltteile wirket. Die Tendenz der Menschennatur fasset ein Universum in sich, dessen Aufschrift ist: »Keiner für sich allein, jeder für alle, so seid ihr alle euch einander wert und glücklich.« Eine unendliche Verschiedenheit, zu einer Einheit strebend, die in allen liegt, die alle fördert. Sie heißt (ich will's immer wiederholen) Verstand, Billigkeit, Güte, Gefühl der Menschheit.

Freude

Freue dich, edles Herz, das hold der Freude ist!
Schuf nicht der Schöpfer der Welt
Alles zur Freude?
Wer sich freuet, erfüllt der Schöpfung Zweck,
[312]
Süße Gabe des Gebers, gieße dich ganz in mich!
Noch ist mein Herz von Tücke nicht befleckt.
So hüpfe dann das vergängliche Paradies hindurch,
Du nicht mit drückenden Lasten beschwertes Herz.
Sei froh des Vergangenen!
Jeglicher Labung froh, die du dem müden Pilger
Darreichen konntest; danke dem Herrn der Welt,
Der dir zu reichen sie gab.
Häuser, die deine Hände gestützt,
Hütten, die deine Hände befestigten,
Siehe sie froh! – Besuche des Greises Grab,
Der sich an deinen Troststab lehnete.
Komme der große Tag, an welchem der Schöpfung Herr
Gericht hält! wann die Scharen um ihn stehn
Voll heiliger Erwartung. Sanfte Stille
Verbreitet sich die sieben Himmel hindurch.
Du trittst, ein Jüngling, mit tausendmal Tausend
hervor,
Anzubeten. Der Spruch des Richters ist:
»Was ihr der Menschheit tatet, tatet ihr
Mir selbst. Geht ein zu eures Herren Freude.«

124.

Und warum verhehlen wir eine Norm der Ausbreitung des moralischen Gesetzes der Menschheit, die uns so nahelieget? Das Christentum gebietet die reinste Humanität auf dem reinsten Wege. Menschlich und für jedermann faßlich, demütig, nicht stolz-autonomisch, selbst nicht als Gesetz, sondern als Evangelium zur Glückseligkeit aller gebietet und gibt es verzeihende Duldung, eine das Böse mit Gutem überwindende [313] tätige Liebe. Es gebiete nicht als Gegenstand der Spekulation, sondern gibt sie als Licht und Leben der Menschheit, durch Vorbild und liebende Tat, durch fortwirkende Gemeinschaft. Es dienet allen Klassen und Ständen der Menschheit, bis in jeder jedes Widrige zu seiner Zeit von selbst verdorret und abfällt. der Mißbrauch des Christentums hat zahlloses Böse in der Welt verursacht: ein Erweis, was sein rechter Gebrauch vermöge. Eben daß, wie es gediehen ist, es so viel gutzumachen, zu ersetzen, zu entschädigen hat, zeigt nach der Regel, die in ihm liegt, daß es dies tun müsse und tun werde. Der Labyrinth seiner Mißbräuche und Irrwege ist nicht unendlich, auf seiner reine Bahn zurückgeführt, kann es nicht anders als zu dem Ziel streben, den sein Stifter schon in dem von ihm gewählten Namen »Menschensohn« (d.i. Mensch) und im Gerichtsspruch des letzten Tages ausdrückte. Wenn die schlechte Moral sich an dem Satz begnügt: »Jeder für sich, niemand für alle!,« so ist der Spruch: »Niemand für sich allein, jeder für alle!« des Christentums Losung.

Der Himmlische

Heil und Gebet dem Mann in Himmelglanz,
Zu dessen Füßen jetzt die Sterne wallen;
Wie Mond und Sonne glänzt sein Angesicht.
Er denke unser, wenn wir beten, wenn
Sich unser Herz zum Armen freundlich neigt,
Und lasse jeden Wandrer Schatten finden
Und jedem Durstenden zeig er den Quell.
Er war es selbst einst, der Menschlichkeit
Die Menschen lehrte, der Erbarmen, Sanftmut
Und Milde zur Religion uns gab.
Heil und Gebet dem Mann, der Menschlichkeit
Die Menschen lehrte, der Erbarmen, Sanftmut
Und Milde zur Religion uns gab.

Fußnoten

1 Die Namen der korrespondierenden Freunde sind unter die Briefe nicht gesetzt; denn was können uns Buchstaben bezeichnen, das die Briefe nicht selbst erklärten? Anmerk. d. Herausg.

2 Sie sind jetzt auch deutsch übersetzt: »B. Franklins Jugendjahre, übersetzt von Bürger,« Berlin 1792. A. d. H.

3 Es wird davon eine niedliche Ausgabe im Deutschen veranstaltet werden; denn die meisten, alle sehr interessante Stücke, sind zerstreut oder gar nicht bekannt. A. d. H.

4 »Nekrolog von Schlichtegroll,« Gotha 1791.

5 Die in der Folge angeführten Namen sind alle aus dem ersten Jahrgange des »Nekrologen«. Mehrere waren damals noch nicht erschienen. A. d. H.

7 Eine sehr bekannte deutsche Geschichte, über welche jetzt der zweite Teil von Schubarts selbstgeschriebenem Leben Auskunft gibt. A. d. H.

8 »Œuvres posthumes de Frédéric II.,« Berlin 1788.

9 Ein von Götz übersetztes Gedicht Friedrichs. A. d. H.

10 Diese und einige andre Bemerkungen Friedrichs haben sich gottlob seitdem hie und da verändert. A. d. H.

11 Die Folge des Briefwechsels enthält eine Fortsetzung dieses Auszuges. A. d. H.

12 Anspielung auf Horaz' Ode 9, B. 4.:

Non, si priores Maeonius tenet

Sedes Homerus, Pindaricae latent

Ceaeque et Alcaei minaces

Stesichorique graves Camenae.

A. d. H.

13 Die folgenden Verse sind aus Kleists erster eigner Ausgabe des »Frühlings« genommen; wer will, vergleiche sie mit der jetzt gangbaren Ausgabe. A.d.H.

14 Seitdem sind Gleims Zeitgedichte in einer Sammlung erschienen (1792), die keinem, der an dem Geiste der Zeit Anteil nimmt, uninteressant sein kann. A.d.H.

15 Des Dichters Vater war der erste in Holstein, der den Bauern seines Guts Freiheit und Eigentum gab Die Königin Sophia Magdalena aus dem Hause Brandenburg, Großmutter des jetzigen Königes von Dänemark, gab den Bauern des Amts Hirschholm auf seinen Rat und nach der Einrichtung, die er trotz aller in den Weg gelegten Schwierigkeiten mit Mut durchsetzte, Freiheit und Eigentum.

16 Den Norwegern ist die Überfahrt nach Westindien leichter als den Dänen, deren Schiffe der Kattegat oft aufhält. Jene dieses Vorteils zu berauben, verpflichtete man die Schiffer, vor der Fahrt nach Westindien erst in Kopenhagen einzulaufen. Man nannte das: sich präsentieren.

17 Die nordische Parze. Braga ist der Gott der Dichtkunst. A. d. H.

18 Die Stelle ist aus Gerstenbergs »Gedicht eines Skalden,« Kopenhagen und Leipzig 1766. A. d. H.

19 In der Folge des Briefwechsels finde ich diese Anlagen entwickelt A. d. H.

20 Der erste Teil dieses Gesprächs ist aus Lessings »Ernst und Falk, Gespräche für Freimaurer,« Wolfenbüttel 1781, genommen, denen der zweite Teil des Gesprächs eine andre Wendung gibt. A. d. H.

21 S. das Ende des vorigen Briefes. A. d. H.

22 Adelung hat sogar dem verbannenswürdigen Ausdruck »das Mensch« einen langen Artikel einräumen müssen. A. d. H.

23 Heyne hat diesen Zweck alter griechischer Institute in mehreren seiner »Opuscula academica« vortrefflich gezeiget. A. d. H.

24 Ernesti Rede »De humanitatis disciplina« ist hierüber bekannt. A. d. H.

25 Daher noch der Ausdruck: »Er ist ein homo!« – »Du homo!« u. f. A. d. H.

26 Weder Wachter noch Adelung haben diesen Ursprung der Endung im Wort »Mennisk« bemerkt, er scheint aber der wahre; denn wenn man das Wort »Mensch« nach niedersächsischer, d.i. der alten und echten Art, ausspricht, so heißt es Mens-ch (Mensk), d.i. ein elender unbewehrter Mann, ein Männlein. A. d. H.

27 S. hierüber Dufresne, artic. Homo: Homines denariales, chartularii, fiscales, ecclesiastici, de corpore, pertinentes, commendati, casati, feudales, exercitales, ligii, de manu mortua, de suis manibus, de manupastu etc. A. d. H.

28 Meiner Gesinnung nach ist es eines der schönsten Verdienste Spaldings, daß er zu jener Zeit, 1745, in seiner Lage, uns Shaftesburys »Moralisten« bekannt machte. Mehr als dreißig Jahre nachher ist zuerst die Übersetzung des ganzen Shaftesbury gefolget: Shaftesbury philosophische Werke, Leipzig 1776–1779. A. d. H.

29 Daß dieses keine Schwedenborgsche Geisterversammlung oder eine andre geheime Gesellschaft sei, ist aus dem letzten Briefe des Zweiten Teils dieser Sammlung klar. Die Sichtbar-Unsichtbaren und Unsichtbar-Sichtbaren sind nichts mehr und minder alsgedruckte Schriften. A. d. H.

30 Das war Realis' wahrer Name. In Jöchers Lexikon findet man ihn; die Anzeige der Unternehmungen des Mannes aber ist kaum berühret. A. d. H.

31 Die Materie ist hiemit nicht geendet; sie hat noch einige Briefe erhalten, die späterhin werden mitgeteilt werden. A. d. H.

32 »The Botanic Garden, containing the Loves of the Plants, with Philosophical Notes,« London 1788.

33 »Orlando Furioso,« Canto XXXIV, Str. 75, 77, 79, 81. A. d. H.

34 Alles dies findet man im 7. Teil der Londoner Ausgabe von Thuans Geschichte beisammen. Auch die »Commentarios de vita sua,« in denen nebst andern das Gedicht »Posteritati« vorkommt. Die hier (frei Übersetzte Ode »Veritati« (Der Wahrheit) steht Tom. I voran seiner Geschichte. In Gruters »Deliciis Poëtarum Gallorum« fehlen Thuans beste Stücke gänzlich. A. d. H.

35 »Vie du Dauphin, père de Louis XV, écrite sur les mémoires de la Cour, enrichie des écrits du même Prince, par l'Abbé Proyart,« Lyon 1782.

36 Das englische Original kenne ich nicht. Die Französische Übersetzung heißt: Discours historiques, critiques et politiques sur Tacite par Gordon, Amsterdam 1742. Die deutsche hat den unförmlichen Titel: »Die Ehre der Freiheit der Römer und Briten nach Gordons staatsklugen Betrachtungen über den Tacitus,« Nürnberg 1764. A. d. H.

37 Vor der Zweibrücker Ausgabe des Tacitus ist Crollius' lange Vorrede über diese Materie sehr schätzbar. A. d. H.

38 Christoph. Forstneri »Notae politicae ad C. Tacitum,« Argent 1650.

39 le Brets »Magazin zur Geschichte«. A. d. H.

40 Briefe zu Beförderung der Humanität. Samml. 1, Br. 5.

41 Winterthur 1791, 1793. Von J. G. Müller.

42 Lemgo 1774–1778.

43 Mémoires pour la vie de Petrarque, Amsterdam 1764, 3 Quartbände. Ihre Übersetzung, Lemgo 1774–1778, ist sehr gut und zweckmäßig. A.d.H.

44 Müllers »Bekenntnisse merkwürdiger Männer,« Band 2, S.169 u f.

45 »Comenii Hist. fratrum Bohemorum. Accedit ei Panegersia de rerum humanar. emendatione. Edid. Buddeus, Halae 1702«. Rieger in seiner »Geschichte der böhmischen Brüder« führt an, daß in der Waisenhausbibliothek zu Halle noch mehrere Handschriften von Comenius da sein sollen; wären nicht einige davon für unsre politisch-pädagogischen Zeiten des Drucks wert? A. d. H.

46 Vgl. das Ende des 54. Briefes.

47 Schmidt, »Neuere Geschichte der Deutschen,« Buch 4, Kapitel 9 u. f.

48 Wegelin ist seitdem gestorben. Er ruhe sanft! Sein Geist hat viel gedacht, viel kombinieret. Ich wünschte nicht, daß seine hinterlassenen Schriften untergingen; jeder seiner Aufsätze ist eine Sammlumg unverarbeiteter Gedanken, die wenigstens immer eigne Gedanken veranlassen oder verbessern und bestärken. Dergroße König selbst hat seine Schriften gelesen und geehrt. A. d. H.

49 Schlözer, »Allgemeines Staatsrecht,« Göttingen 1793.

50 Beziehet sich auf das Ende des 54. Briefes.

51 Felleri, »Otium Hannov.,« S. 108.

52 Epist. Leibnit. edit. Korthold, Teil 1, S. 366; Feller, »Ot. Hannov.,« S. 217.

53 Feller, S. 121.

54 Feller, S. 412.

55 Feller, S. 147.

56 Feller, S. 27, an einen Engländer.

57 Feller, S. 19.

58 Feller, S. 4f.

59 Korthold epist. Leibnit. Teil 1, S. 88.

60 Feller, »Ot. Hannov.,« S. 165.

62 Korthold. epist. Leibn. Teil 3, S. 278.

63 Korthold. epist. Leibn. Teil 3, S. 392.

64 »Murrs., Journal zur Kunstgeschichte,« Teil 7, S. 123 u. f.

65 Zur Erläuterung dieses Umstandes wird in den schätzbaren Zusätzen zu Eckardts Lebensbeschreibung folgendes angegeben »Der König war damals nicht mehr in Hannover. Der Monarch stand eben nicht allzu wohl mit dem Wiener Hofe, und es mißfiel ihm, daß Leibniz 1713 ohne Erlaubnis nach, Wien gegangen und über anderthalb Jahre außen blieb, auch die Reichshofratsstelle angenommen hatte. Se. Majestät sagten daher einstmals, da ein Hündchen, welches verlorengegangen, zu Hannover ausgetrommelt wurde, halb im Scherz, halb im Ernst: ›Ich muß wohl meinen Leibniz auch austrommeln lassen, um zu erfahren, wo er stecken mag.‹« – Eine merkwürdige Erläuterung.

66 Ich darf voraussetzen, daß den Lesern dieser Briefe die in ihnen angeführten Denkmale der Kunst, wenn nicht in den Urbildern, so doch in Abgüssen, Abdrücken, Zeichnungen, Kupfern oder aus Beschreibungen, z.B. in Winckelmanns »Geschichte der Kunst,« Stolbergs »Reisen« u.a., endlich wenigstens aus der Mythologie bekannt sind; ihnen also eine Klassifikation nach der reinsten und höchsten Bedeutung nicht unangenehm sein werde. A. d. H.

67 Allegorie, S. 13.

68 »Priscae artis opera ex epigrammatibus graecis partim eruta partim illustrata«. »Comment. Soc. Goetting. hist. et phil.,« Band 10, S. 80.

69 Brunk, »Analect., Band 3, S. 202.

70 Herders »Zerstreute Blätter,« 1. Sammlung, S. 90; Anthol. Steph., Buch 1, Kapitel 87.

71 Anthol. Stephan., Buch 4, Kapitel 9.

72 Brunk, »Analecta,« Baud 3, S. 4.

73 Brunk, Band 1, S. 121.

74 »Zerstreute Blätter,« 1. Sammlung, S. 12.

75 »Zerstr. Bl.,« 1. Sammlung, S. 84; Anth. St., Buch 1, Kapitel 87.

76 Anthol. Steph., Buch 4, Kapitel 9.

77 »Zerstr. Blätter,« 1. Sammlung, S. 6; Anthol. Steph., Buch 1, Kapitel 87.

78 Zur Erläuterung mögen dienen die aus der Anthologie übersetzten Epigramme, »Zerstr. Blätter,« 1. Sammlung, S. 9–12, 16–19, 22, 23, 31, 34, 39, 45 ff., 52, 55, 56 ff, 62–70, 81, 86, 91, 98; 2. Sammlung, S. 14, 23, 34–41, 44, 45, 62–67, 78, 79, 85, 87, 94, 95. Die Stellen bei Homer, Sophokles und Euripides, auf welche sich der Brief beziehet, sind jedermann bekannt. Die Epigramme, die Stolberg, Voß, Conz u.a. übersetzt haben, wünschte ich gesammlet zu finden. A. d. H.

80 Nicht leicht ist mir ein Andenken unerwartet-erfreulicher gewesen als das in dieser Schrift; denn von den »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« ist hier die Rede. Dankbar gebe ich's zurück, ob es gleich, was das Buch betrifft, in die Wolke eines leisen Zweifels gehüllt scheinet. Gebe mir das gute Glück Raum und Zeitumstände, jene »Ideen,« zu denen diese Briefe vorbereitend mit gehören, zu vollenden. Ohne ein Newton zu sein wußte ich den Charakter unsres Geschlechts, seine Anlagen und Kräfte, seine offenbare Tendenz, mithin auch den Zweck, wozu es hienieden bestimmt ist, in kein simpleres Wort zu fassen als Humanität, Menschheit. Andre vortreffliche Denker sind mir seitdem hierin gefolget (wobei es einem jeden überlassen bleibt, sich den Begriff der Humanität enger zu denken), unter denen ich nur eine neuere gedankenreiche Schrift anführe: »Über Humunität,« Leipzig 1793, deren Verfasser ich nicht kenne. Im folgenden Teil dieser Briefe werden einige Blätter über die Kräfte der menschlichen Intelligenz eingerückt werden, die der bezweifelten Aufgabe ein großes Licht geben. A. d. H.

101 Diese Fragmente fehlen. A.d.H.

102 Synesius ward im Jahr 410 Bischof zu Ptolemaïs und bedung sich dabei ausdrücklich, daß er weder seine Frau verlassen noch eine Auferstehung des Leibes glauben dürfe. Seine Hymnen sowohl als seine andern Schritten sind ein Gemisch des Christentums und der alexandrinischen Philosophie, in welcher Hypatia seine Lehrerin gewesen war. A.d.H.

103 Für Verständige bedarf es der Erinnerung nicht, daß es auch im christlichen Zeitalter bis zur Eroberung Konstantinopels und fernerhin griechische Dichter gegeben habe. Es gab griechische Dichter, aber keine Poesie Griechenlandes in denn Sinne, von dem hier die Rede ist. A.d.H.

104 Meierotto, »De rebus ad auctores quosdam classicos pertinentibus,« Berlin 1785, S. 131 u.f.: »Iudicium aequalium de Horatio«.

105 Was Übriggeblieben ist, hat Wernsdorf in den poet. lat. minorib., T. III samt den Nachrichten von dem, was untergegangen ist, mit großem Fleiß gesammelt. A.d.H.

106 Boëthius' und Ausons Gedichte sind zur Zeit des allgemeinen Verfalls der römischen Sprache und Poesie merkwürdige Erscheinungen. Beide Dichter waren Christen, und doch lassen sie es sich in ihren Gedichten wenig merken; der erste gar nicht, der zweite ist gleichsam wechselweise Christ und Heide. Beide suchen wie aus Trümmern vergangener Zeiten Schlitze hervor: jener Philosophie, die er in alle Silbenmaße seines Seneca ordnet, dieser das Andenken an alle ihm werte Sachen und Menschen. Beide, insonderheit Boëthius, sind den folgenden dunkeln Jahrhunderten leitende Sterne gewesen; wie denn auch in ihm und in mehreren Dichtern der letzten Zeit bereits sichtbarerweise ein neuer Geschmack hervorgehet, der den folgenden Zeiten verwandt und ihnen daher lieber war als der große Geschmack der alten klassischen Dichter. Von Boëthius haben wir nach zwei merkwürdigen Übersetzungen des vorigen Jahrhunderts (Nürnberg 1660, Sulzbach 1667, letzte vom Sulzbachschen Kanzler Knorr von Rosenroth) neulich eine unsrer Zeit gemäßere erhalten auf welche viel Fleiß gewandt ist: »Trost der Philosophie aus dem Lateinischen des Boëthius von F. K. Freytag,« Riga 1794. In den Silbenmaßen ist der Übersetzer dem Dichter nicht gefolget; die seinen aber sind edel und streben im Rhythmus der Jamben dem Milton nach. Boëthius ist ein Philosoph für alle Zeiten. A.d.H.

107 Luthers Vorrede zum Psalter.

108 Plinius' Brief an Trajan.

109 Von Prudentius. Unser alter Gesang: »Hört auf mit Klagen!« ist eine Nachahmung einiger Strophen dieses alten Hymnus, der beim Prudentius anfangt: »Deus, ignee fons animarum«.

110 Der Graf Roscommon übersetzte diesen Gesang ins Englische: »The Day of Wreath, that dreadful day,« und starb mit den Worten aus ihm:

Prostrate, my contrite heart I rend,

My God, my Father, and my Friend,

Do not forsake me in my End.

Unser deutsches Lied »Es ist gewißlich an der Zeit« ist eine Nachahmung dieses Gesanges.

111 Übersetzt von Wieland im »Teutschen Merkur,« Februar 1781.

112 Vom deutschen Mönch Gottschalk (älter als Otfried), dem sehr hart begegnet ward. Er schrieb dies als ein Vertriebner im Gefängnis.

113 Nähere Kenntnis von diesem sonderbaren System der nordischen Prosodie findet man in Olaus Wormius' litteratura Danica, Hickes' thesaur. linguar. septentrion. und ähnlichen Werken. Wer ihrer entbehrt, ziehe die »Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur,« Schleswig 1767, T. I, S. 150, zu Rat, eine Sammlung Briefe, die weit mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie erlangt. Das System der Alliterationen, daß gewisse Worte im Anfange und in der Mitte des Verses von einem Buchstaben anfangen und einen ähnlichen Vokal haben, ist, wie mich dünkt, mehr angestaunt als erklärt worden; sein natürlicher Grund ist der Bau der Sprache selbst, der Genius des Volks, das sie sprach, und die Art, wie man die Worte antönte. A.d.V.

114 In Crescimbenis »L'istoria della volgar poesia,« in Velasquez-Diez' Geschichte der spanischen Dichtkunst und denen daselbst angeführten Schriften, in mehreren Abhandlungen des um die Provenzalen sehr verdienten Curne de St. Palaye in der »Akademie der Aufschriften,« Millots »Histoire des Troubadours,« Abt Andrès' Storia d'ogni letteratura, T. I, II, kann man sich über diese merkwürdige Erscheinung weiter belehren. Sie ist die Morgenröte der neueren europäischen Kultur und Dichtkunst.

115 Dieser Unterschied zwischen der alten [und neuen] Prosodie, von dem viele keinen deutlichen Begriff haben und der doch zum Unterschiede der alten und neuen Poesie viel beiträgt, ist am besten in Isaak Voß' bekannter Abhandlungen De cantu veterum, übersetzt in der »Sammlung Vermischter Schriften,« Teil 1, Berlin 1759, in des Abt Dubos »Betrachtungen über Poesie und Malerei,« in Muratoris Abhandlung »De rhythmica veterum poesi« »Antiqu. ital. med. aevi,« T. 3, S. 664, sonst aber auch in Klopstocks u.a. grammatischen Schriften vorgetragen, wie er denn zur Poesie jeder neueren Sprache gehöret.

116 Ich rücke diese Briefe hier ein, weil der so lange geführte Streit über den Anteil, den die Römer, die Araber, die Normänner u.f. an der Bildung uns res Geschmacks und unsrer Literatur haben, noch nichts weniger als beigelegt ist. Warton z.B. in der Geschichte der englischen Dichtkunst, Tyrwhitt in seinen Anmerkungen zu Chaucer, Arteaga in der Geschichte der italienischen Oper, Andrès in der Storia d'ogni letteratura u.f. sind noch weit auseinander, und doch ließt alles Material so nahe beisammen vor uns. A.d.H.

117 Zahlreiche Proben und Nachrichten hierüber finden sich in Herbelot Morgenländischer Bibliothek, »Jones' Commentar.« de Poesie Asiat. Richardsons Vorrede zu seinem Persischen Wörterbuch, übersetzt Leipzig 1779, Andrès Storia d'ogni letteratura, aus Casiri, ja in der Geschichte der Araber selbst. A.d.H.

118 »Neuer Büchersaal,« T. 10, S. 220 u.f.

119 Proben davon geben W. Jones' Commentar. de Poesi Asiat. und alle von ihm und andern bekanntgemachten Poesien der Araber. An Leidenschaft und Bildern sind sie reich; ihr Geschmack aber in Komposition dieser Bilder ist von dem unsrigen ganz verschieden

120 »Rhythmi cum alliteratione avidissimae suntaures Arabum. In florilegio hoc (Elnawabig vel Ennawawig, quod vocabulum designat scaturientes partim poëtas, partim versus vel rhythmos nobiliore quadam vena se commendantes) linguae Arabicae genius egregie relucet, nativum que illum cernere licet characterem, qui per rhythmos et alliterationes mera vibrat acumina«. Schultens in der Vorrede zu Erpenius' Arabischer Grammatik. Mich dünkt, weder unsre Sprache noch unsre Nation habe diesen angebornen witzsprudelnden Reimcharakter. A.d.H.

121 But those that write in rhyme still make

The one verse for the other's sake;

For one for sense and one for rhyme

I think sufficient for a time.

Butlers »Hudibras,« P. II, C. 1.

122 For rhyme the rudder is of verses,

With which, like ships, they steer their courses.

Butler.

123 Mehrere Nachrichten hierüber gibt die Geschichte der sogenannten Waldenser, Albigenser, bons hommes u.f., deren verschiedne Namen sowohl als erlittene grausame Verfolgungen bekannt sind. In Legers Geschichte der Waldenser sind ihre in der Provenzalsprache geschriebene Schriften angeführt; ausführlichere Nachricht gibt die »Hist. générale de Languedoc,« T. 3. Des Wiclifs, mithin auch Huß' und Luthers Reformation hangen mit dieser ersten Insurrektion gegen den herrschenden Klerus zusammen wie die feinere Kultur in Europa mit den ersten Versuchen der provenzalischen Dichtkunst. A.d.V.

124 Anspielung auf das Wort »Stanza,« das ein Zimmer, eine Kammer bedeutet. A.d.H.

125 Ich weiß es sehr wohl, daß zum innern Verständnis dieser Fragmente und Briefe eine Kenntnis nicht nur der Geschichte, sondern auch der Dichtungen aller mittleren Jahrhunderte gehört, und ich stand lange bei mir an, ob ich nicht hie und da, so wie von christlichen Hymnen, so auch von Arabern, Provenzalen, Italienern, Franzosen und Spaniern Proben einrücken sollte. Das Buch hätte sich vergrößert; ich fürchte aber nicht der innere Verstand dessen, was hier vorgetragen ist; denn die Produkte des Geistes, worauf sich das Vorgetragene beziehet, müssen im Zusammenhange erwogen und nach so vielen National- und Zeitumständen unterschieden werden, daß der Kommentar hierüber ein neues, siebenfach größeres Buch geworden wäre. Entweder muß der Leser also den Verfassern dieser Fragmente und Briefe glauben, oder er muß die Früchte genannter Zeiten selbst kosten, zu denen ihm J. A. Fabricius in seiner »Biblioth. Latina« und medii aevi, Hamberger im 3. und 4. Teil seiner »Zuverlässigen Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern« und die Geschichte jeder Nationaldichtkunst dieser Völker das Verzeichnis liefert. Beides, sowohl Briefe als Fragmente, sind Resultate von so mancherlei Untersuchungen und Zusammenstellungen, daß nur der ein Urteil darüber haben kann, der denselben weiten Weg gegangen, den die Verfasser dieser Aufsätze genommen zu haben scheinen. A.d.H.

126 Warton, »on Spenser's ›Faery Queen‹« u.a. Wenn wir den gelehrten Fleiß betrachten, den die Engländer auf ihre alten Dichter, z.B. Warton auf Spenser, Tyrwhitt auf Chaucer, Percy auf die Balladen und so viele, viele der belesensten Männer auf ihren Shakespeare und ihr altes Theater, gewandt haben, und sodann uns betrachten – was sagen wir?

127 S. Schilters »Thesaur.« A.d.H.

128 Siehe die »Horen,« November, Dezember 1795; Januar 1796.

129 Siehe »Briefe zu Beförderung der Humanität,« T. 7, 8.

130 »Die den Deutschen ohnehin seit langer Zeit eigene Nachahmungssucht erhielt ungemeine Nahrung durch das immer mehr zur Gewohnheit werdende Reisen. Man wird kaum die Lebensbeschreibung eines etwas bedeutenden Mannes vom Adel der damaligen Zeiten finden, wo nicht seiner getanen Reisen Erwähnung geschähe. Fremde Sprachen, Sitten und Moden waren dasjenige, voraus ihre Landesleute nach der Heimkunft schließen sollten, was sie für einen Mann vor sich hätten. Selbst die vielen vom Adel sowohl als dem Volk, die wegen der Kriegsdienste so häufig nach Frankreich und den Niederlanden zogen, brachten meistens anstatt des fremden Geldes, das sie zu erhaschen geglaubt, nichts zurück als fremde Moden und Grimassen. Dadurch ward der Abstand von den vorigen Sitten in kurzer Zeit so groß, daß mehrere deutsche Fürsten selbst in ihren Testamenten ihre Söhne vor fremder Pracht warnten.« Schmidt, »Geschichte der Deutschen,« T. 9, S. 129.

131 Gelesen in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1759.

132 Viele große Liebhaber der französischen Lektüre wußten nicht, wer Cotin sei, und verwandelten ihn sehr gelehrt in Catin.

133 Lange vor Prémontval hatten Deutsche über diesen Mißbrauch geklagt; eine Bibliothek von Beschwerden der Deutschen und Spöttereien der Ausländer wäre hierüber anzuführen. Piccart, ein ebenso gescheiter als gelehrter Mann (»Observat. politic. Dec.,« Dek. 111, Kap. 10), zeigt, wie anders Griechen und Römer über den Gebrauch fremder Sprachen in ihrem Vaterlande gedacht haben. Desgleichen viele andre. Was half aber alles dieses? »Gens peregrinandi avida et exterorum morum, dum se receperit domum, aut simulatrix aut retinens,« sagt Barclay in seinem »Icon animorum« Kap. 5, wo er die Deutschen seiner Zeit in mehreren Zügen treffend schildert. A. d. H.

134 Z.B. von Anhalt, von Weimar, von Braunschweig, von Liegnitz u.f. Einige derselben übersetzten selbst, und zwar sehr gute Bücher, aus dem Italienischen, Französischen, Spanischen. Mehrere Fürstinnen sahen das Übel und flehten und warnten. Siehe Mosers »Patriotisches Archiv der Deutschen« und seine andern Schriften hin und wieder. A. d. H.

135 Es wäre zu wünschen, daß diese Aufsätze, kurze Gespräche, von Häslein oder von einem andern Kenner der Sprache gesammlet oder im Bragur wieder erschienen. Sie sind's wert A. d. H.

136 »Lessings sämtliche Schriften,« Berlin 1792, T. 8, S. 44.

137 »Lessings Leben, T. 1, S. 82.

138 »Lessings Leben,« T. 1, S. 84.

139 »Lessings Leben,« T. 1. S. 85.

140 »Lessings Leben,« S. 95.

141 »Wende alle Mühe an, daß du dich in etwas merkbar machest«.

142 »Leben,« S. 96.

143 »Sämtl. Schr.,« T. 8, S. 30, 31.

144 Meines Erachtens verdienen Lessings wenige Oden diesen Namen sehr wohl; sie haben ihren eignen Gang und Charakter. In die vollständige Sammlung seiner Schriften ist ein neues schätzbares Stück gekommen, »Der Eintritt des Jahrs 1754 in Berlin« (T. 2, S. 31) und vier »Entwürfe zu Oden« (S. 202–212), durch die man den Geist der Horazischen Ode, »den Flug, der irrt und sich nicht verirret,« vielleicht besser kennenlernt als durch lange Kommentare über den römischen Dichter A. d. H.

145 »Sämtl. Schr.,« T. 8, S. 37.

146 Geschrieben im Jahr 1754, »Sämtl. Schr.,« T. 8, S 47.

147 B. 8, S. 56. Wie viele, viele andre!

148 »Schriften,« B. 8, S. 60, 61.

149 »Schriften,« B. 8. S. 62, 63.

150 »Schriften,« T. 8, S. 76, 77.

151 T, 28, S. 245.

152 T. 27, S. 4.

153 T. 27, S. 429.

154 Verfasser der »Preußischen Kriegslieder«. Die Vorrede, mit der Lessing diese Lieder gesammlet herausgab, ist ein Muster von Bestimmung des Werts und des Charakters dieser Gedichte als einer neuen; individuellen Gattung, die sie auch sind. Die ganze Vorrede verdiente, hergesetzt zu werden; sie trägt den Charakter der Lieder selbst. Siehe »Lessings Schriften,« T. 8, S. 98. A. d. H.

155 T. 29, S. 24, 30.

156 Das bekannte Heldenlied der Spartaner: Streitbare Männer waren wir, Streitbare Männer sind wir u. f., von Lessing übersetzt, steht jetzt in dieser vollständigen Sammlung seiner Schriften, T. 2, S. 195. A. d. H.

157 Am Schluß der Vorr. der »Kriegslieder«.

158 T. 29, S. 31, 55.

159 T. 29, S. 65, 77.

160 Literaturbr. Br. 1.

161 Sollte dies bei der ganzen Kunstrichterei nicht das erste Erfordernis sein? Der Schriftsteller schreibtfür Leser; sind diese verdorben, so schreibt jener und der Verleger verlegt für ihren verdorbenen Geschmack. Die vielen schlechten Schriftsteller Deutschlands schreiben alle für ihr Publikum und kennen es sehr gut, ebenso auch die Verleger. Leser zu bilden muß also der Kunstrichter erste Bestrebung sein; die Schriftsteller werden selbst wider Willen folgen. In den höheren Wissenschaften wird jeder Stümper ausgezischt und verachtet; denn sein kleines, aber bestimmtes Publikum ist der Sache verständig A. d. H.

162 Wenn ist dies? Hier schleicht sich eben die schädlichste Parteilichkeit ein. Will man ein Werk schön finden, so singt man Theodizeen und bemäntelt die Fehler. -Überhaupt ist das Gleichnis von der Welt, wie sie der Philosoph betrachtet, auf Werke der Menschen, zumal auf Kunstwerke, unanwendbar. Ist das Ganze schön, so kann die strengste Zergliederung ihm keinen Nachteil bringen; denn ein lebendiges Ganze bestehet nur in Teilen; und daß bei diesem schönen Ganzen die mangelhaften Teile mit strenger Unparteilichkeit bemerkt werden, ist um so notwendiger, weil in ihnen das Fehlerhafte und Übertriebene gewöhnlich zuerst Nachahmer findet. Zwiefaches Maß und Gewicht ist wie allenthalben so auch in der Kritik der Gerechtigkeit ein Greuel und der Sache des Ganzen äußerst verderblich. A. d. H.

163 T. 26, S. 184.

164 Lit. Br. 52.

165 T. 27, S. 23.

166 T. 28, S. 292.

167 »Leben und Nachlaß,« T. 1, S. 250.

168 »Was die Großen nicht geben wollen, möge das Schauspiel geben.«

169 T. 29, S. 141.

170 Ankündigung der »Dramaturgie,« des reichsten kritischen Werks Lessings. Aus dem reichsten Vorrate sind hier nur wenige Stellen gewählt, die Lessings Charakter näher zeigen, seinen durchdringenden, schneidenden Verstand sowie seine Billigkeit und Schonung beweiset die »Dramaturgie« von Anfangs bis zum Ende. A. d. H.

171 »Dramat.,« St. 14.

172 Ein bekanntes Drama von Du Belloy.

173 »Dramat.,« St. 18.

174 »Dramat.,« St. 19.

175 »Dramat.,« St. 25.

176 »Dramat.,« St. 36.

177 »Dramat.,« St. 73.

178 »Dramat.,« St. 82.

179 Sollte diese bescheidne Äußerung Lessings nicht etwas ungerecht gegen ihn selbst sein? Jeder muß sich am besten kennen, und Lessing war kein Demütiger, der durch eine falsche Bescheidenheit ein größeres Lob zu erjagen suchte, noch ein Fauler, der Talente in sich ableugnete, um sie nicht brauchen zu dörfen. Nichts aber ist trüglicher als die Meinung, die wir von uns selbst in einzelnen Lebensperioden fassen und hegen; wir bringen die Umstände außer uns oft zuwenig, oft zuviel in Anschlag. Setzet Lessing in ein Land, an einen Ort, in Umstände, unter denen die lebendige Quelle von Jugend auf sich emporarbeiten konnte, wo ihr tausend lebendige Kräfte, ungesehen und unbemerkt, halfen: er hätte weniger des Druckwerks, der Röhren nötig gehabt, aus sich herauszupressen, was von selbst mit reichen, frischen, reinen Strahlen aufgeschossen wäre. Nicht die Kritik, sondern der leere Luftraum erstickt und tötet. Er presset unter Bedürfnissen, unter Verhältnissen, die dem Geist keinen Tropfen Erquickung (pabulum vitae) geben, und jagt zuletzt den Verzweifelnden hie- und dorthin, allenthalben am flache Wände. Lessings Lebensumstände dringen dem Verwundernden die Frage ab, nicht, warum er nicht mehr hervorgebracht, sondern wie er in seinen Lagen das und so viel und so kräftig habe hervorbringen können, was er geleistet. Dazu half ihm, wie er sagt, Kritik; aber Kritik kann Kräfte nicht geben, sondern nur regeln, ordnen. Also war die Kenntnis der Alten, die Bekanntschaft mit fremden Sprachen, mit glücklichern Genies unter lebhaftern Völkern in bessern Zeiten das Feuer, daran er sich wärmte, das künstliche Glas, wodurch er sein Auge stärkte. Und wehe dem besten deutschen Kopf, der sich nicht aus seiner in diese alte oder fremde Welt zuweilen zu setzen weiß! Er wird und muß in die Zunft jener Geschöpfe geraten, die (siehe »Dramat.,« Bl. 22) in deutscher Alltagskleidung, in einer engen Sphäre kümmerlicher Umstände innerhalb ihrer vier Pfähle herumträumen. Alle wissen wir, welche Witterung es sei, die die Senne des besten Bogens erschlafft und die gefüllteste Maschine ihrer elektrischen Kraft sanft entladet. A. d. H.

180 »Dramat.,« St. 101–104.

181 O daß er gegangen wäre! damals gegangen wäre! Er lebte vielleicht noch.

182 T. 27, S. 159.

183 »Siehe, wie sehr ich ein Mann aus der alten Welt bin!«

184 Vorrede zu den »Antiquar. Briefen«.

185 »Antiqu. Br.,« 51.

186 »Antiquar. Br.,« 57.

187 »Br.,« 57.

188 T. 12, S. 169.

189 »Berengar. Turon.,« T. 13, S. 11, 12.)

190 T. 13, S. 26.

191 T. 13, S. 46.

192 »Freundschaftl. Briefwechsel,« S. 26, 37.

193 S. 52, 100.

194 »Freundschaftl. Briefwechsel,« T. 2, S. 15.

195 T. 2. S. 49.

196 T. 30, S. 167.

197 T. 30, S. 214.

198 T. 30, S. 223.

199 Beiträge zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel, 1773.

200 T. 30, S. 236, 237.

201 T. 30, S. 237, 238.

202 Ebengenannte Beiträge aus den Schätzen der Wolfenbüttelschen Bibliothek, 1773.

203 T. 29, S. 385.

204 Wahrscheinlich »Über die bürgerliche Gesellschaft«.

205 T. 28, S. 329.

206 Von Ramler.

207 T. 27, S. 36.

208 T. 27, S. 39.

209 Wie nimmt man sich seines eignen baufälligen Hauses an? Man bessert es ernstlich oder reißt es nieder und bauet ein andres; in beiden Fällen aber erkundigt man sich, was denn eigentlich Schadhaftes an ihm sei. Der Ungenannte gab vieles dafür aus, was es nicht ist; Lessing nahm vieles, was er dafür erkannte, gewandsweise, gymnastisch in seinen Schutz. Dies ist nicht der reine Weg zur Wahrheit, obgleich darauf sehr viel Scharfsinn, hie und da unnötig, angewandt worden ist. Ich kann also den Weg, den Lessing in Führung dieser Streitigkeit nahm, nicht ganz billigen, wie er denn auch seine eigentliche Absicht nicht erreicht hat. A. d. H.

210 T. 30, S. 309, 310.

211 T. 27, S. 42.

212 T. 30, S. 391, 392.

213 Daß es leichtsinnige sowie mutwillige Verblendungen aus gewohnten Vorurteilen, ja aus mancherlei Leidenschaften einen bittern Haß gegen die Wahrheit oder gegen ernste Untersuchungen der Wahrheit nicht nur geben könne, sondern wirklich gebe, hat L. nicht leugnen wollen und auf seinem Lebenswege selbst erfahren. A. d. H.

214 D.i. der Wahrheit immer zu nahen; denn das schließt der Trieb nach Wahrheit und ihr Begriff selbst ein. A.d.H.

215 T. 5, S. 145.

216 Er spricht von kleinen historischen Umständen der Geschichte des Christentums im Anfange derselben. A.d.H.

217 T. 5, S. 160 u.f.

218 Lessing wollte damit nicht sagen, daß wir den Buchstaben, d.i. den literaren Sinn, nach seiner wahren, zeitmäßigen, ungezweifelten Bedeutung nicht kennenlernen sollten. Eben diesen, mithin den Geist der Schriften des Christentums, sollten wir kennenlernen. A.d.H.

219 T. 6, S. 23, 1662.

220 T. 6, S. 174 f.

221 T. 6, S. 261.

222 T. 27, S. 74–75.

223 An seinen Bruder, T. 30, S. 463.

224 T 30, S. 464.

225 T. 30, S. 471, 473.

226 T. 30, S. 490.

227 »Leben und Nachlaß,« T. 1, S. 410.

228 T. 29, S. 496.

229 Auf Lob der Journale zielet dieses nicht, sondern auf die ganze Wirkung, die L. mit seinen letzten Bemühungen zu machen hoffte und die er freilich zu kurz nahm. Alles hat seine Wirkung getan und wird sie tun; seine »Beiträge,« seine Schriften über die »Fragmente,« sein »Nathan«: in der Hand der Vorsehung ist nichts verloren. Nur seine Laufbahn war vor der Zeit zu Ende; er verlechzte.

230 Geschrieben den 19. Dez. 1780 (T. 28, S. 356). Der letzte seiner gedruckten Briefe ist vom 26. Jan. 1781 (T. 29, S. 498). Er starb den 15. Febr. 1781.

231 Siehe Vorrede zum 2. T. Lessingscher Schriften, Berl. 1784.

232 »Anti-Goeze,« VI; »Lessings Schr.,« T. 6, S. 233.

233 Über das Mikrologische mancher seiner Untersuchungen sowie überhaupt über die Bildung seines Stils hat Lessing sich frank und frei erkläret. Siehe »Sämtliche Schriften,« B. 13, Vorr. IX, S. 390; B. 6, S. 174 f.

234 »Less. Schr.,« B, 25, S. 376

235 »Leben und Nachlaß,« T. 2, S. 103.

236 Humaniora, St. 2 oder 3 des Jahrs 1796.

237 Berlin 1787.

238 »A la démarche, à l'habitude du corps ce danseur prétend connoître la caractère d‹un homme. Un étranger se présente un jour dans la salle. ›De quel pays êtes-vous?‹ lui demande Marcel. ›Je suis Anglois.‹ – ›Vous Anglois?‹ lui réplique Marcel: ›Vous seriez de cette Isle où les citoyens ont part à l'administration publique et sont une portion de la puissance souveraine?‹ Non, Monsieur! ce front baissé, ce regard timide, cette démarche incertaine ne m'annoncent que l'esclave titré d'un Electeur.« Helvétius, »De l'esprit,« Disc. II, Chap. 1, Note 2.

239 Wilson in his »Life of the King James« says: »Though Lord Bacon had a pension allowed him by the king, he wanted to his last; living obscurely in his lodgings at Gray's Inn, where his lonely and desolate condition wrought upon his ingenious and therefore then more melancholy temper, that he pined away. And he had this unhappiness after all his height of plenitude, to be denied beer to quench his thirst. For having a sickly taste, he did not like the beer of the house, but sent to Sir Folk Greville, Lord Brook in his neighbourhood (now and then) for a bottle of his beer, and after some grumbling, the butler had order to deny him.« – »Lord Chancellor Bacon,« says Howell in his letters, »is lately dead of a long languish illness. He died so poor, that he scarce left money to bury him, which did argue no great wisdom, it being one of the essential properties of a wise man to provide for the main chance.« Die Niederträchtigkeiten im Faktum und Urteil sind der Übersetzung unwürdig.

241 Die französische Schrift »De la félicité publique ou considérations sur le sort des hommes dans les différentes époques de l'histoire,« Amsterd. 1772, behandelt ein Thema, dem nicht gnug Aufmerksamkeit gewidmet werden kann. Wozu die Geschichte, wenn sie uns nicht das Bild der glücklichen oder unglücklichen, der verfallenden oder sich aufrichtenden Menschheit zeiget?

242 Siehe unter hundert andern des menschlichen Levaillants neuere Reisen ins Innere von Afrika, Berl. 1796, mit Reinhold Forsters Anmerkungen. »Nicht nur am Vorgebürge der guten Hoffnung,« sagt dieser schätzbare Gelehrte (T. 1, S. 69), »sondern auch in Nordamerika, an der Hudsonbay, in Senegal, am Gambia, in Indien, kurz, allenthalben, wohin Europäer kommen, betriegen sie die armen Eingebornen im Handel. Besonders macht England, das neue Karthago, den Namen der Europäer in allen andern Weltteilen verabscheuet.« – So Forster. Und wäre es mit dem Betriegen allein ausgerichtet! Der Hefen von Europa hat Gärungen gemacht und erhält Gärungen in allen Weltteilen. A.d.H.

243 Unparteiische und unübertriebene Bemerkungen darüber findet man in Reinhold Forsters Anmerkungen wie zu mehreren, so zu Hamiltons Reise um die Welt, Berlin 1794.

244 Mit Recht nennen die französischen Geschichtschreiber die Namen derer, die 1572 zum Bartholemäusfest ihre Hände nicht bieten wollten: »... la cour ordonna dans toutes les provinces les mêmes massacres qu'à Paris; mais plusieurs commandants refusèrent d'obéir. Un Sr. Herem en Auvergne, un la Guiche à Macon, un Vicomte d'Orte à Bayonne et plusieurs autres écrivirent à Charles IX la substance de ces paroles, qu'ils périroient pour son service, mais qu'ils n'assassineroient personne pour lui obéir.« Was diese Männer mit gesunder Hand schrieben, zeigte der Neger.

245 Die entehrendste Negerstrafe.

246 »C'est à ce même Cardinal Espinosa que Philippe II donna le coup de la mort par un mot de réprimande: ›Cardinal‹, lui dit-il, ›souvenez-vous que je suis le Président!‹« [...] Espinosa en mourut de douleur quelques jours après. Dans une syncope, qui lui prit, on se pressa tant de l'ouvrir pour l'embaumer, qu'il porta la main au rasoir du chirurgien, et que son cœeur palpita encore après l'ouverture de l'estomac. [...] la crainte qu' on avoit que ce Cardinal ne revînt en santé, fit hâter sa mort, pour contenter le Prince, les Grands [...].« – »Mémoir. historiques, politiques« par Amelot de la Houssaye, T. 1, S. 210.

247 In Jamaika ist eine freie Negerrepublik, deren Unabhängigkeit im Jahr 1738 von den Engländern anerkannt und bestätigt werden mußte.

248 Delaware, ein Fluß in Nordamerika. Die Quacker nennen sich, Freunde.

249 Mich dünkt, der Brief ziele hier auf eine Stelle in Homes Geschichte der Menschheit, der es bei großem Reichtum der Materialien in mehreren Stücken an festen Grundsätzen mangeln dörfte. – In den meisten Kommerz- und Eroberungsreisen werden die Völker auf gleiche Weise geschichtet A. d. H.

250 Als Dunbar, von dem einige Beiträge zur Geschichte der Menschheit auch unter uns bekannt sind, des D. Tuckers, eines eitrigen Staatsschriftstellers, »True Basis of Civil Government« las, sagte er: »When the benevolence of this writer is exaltet into charity, when the spirit of his religion« (er war ein Geistlicher, Dechant von Bristol) »corrects the rancour of his philosophy, he will acknowledge in the most untutored tribes some glimmerings of humanity and some decisive indications of a moral nature.« Manchem Schriftsteller möchte man diesen Geist der Anerkennung der Menschheit im Menschen wünschen. A. d. H.

251 Teils in seinen Pastoralschriften, teils in den Aufsätzen seines Zöglings, des Herzogs von Bourgogne, ist dieses ersichtlich.

252 »Directions pour la Conscience d'un Roi« – nachgedruckt à la Haye 1747.

253 Überhaupt hielt er von bloßen Ergötzungsschriften nicht viel; bei unsern Urenkeln, glaubte er, wurden sie ganz außer Mode sein. Als unter lautem Beifall ein dergleichen Gedicht vorgelesen ward und man ihn fragte, was er von diesem Kunstwerk denke: »Eh mais, cela est encore fort beau,« antwortete er und meinte, dies »encore« werde nicht ewig dauren. Siehe »Eloge de St. Pierre« von d'Alembert.

254 »Œuvres de morale et de politique« de l'Abbé de St.-Pierre (Charles Irenée Castel), T. 1–16, Rotterd. 1741.

255 »Reise nach den Inseln Frankreich und Bourbon,« Altenb. 1774, Vorrede, S. 3.

256 »Études de la Nature,« Par. 1773. Man erwartet jetzt von ihm ein Werk, »Harmonie de la Nature pour servir aux éléments de la Morale,« das nicht anders als in einem guten Geist abgefaßt sein kann. Während der Revolution hat er sich weise betragen.

257 Der Lobspruch ist bekannt: »L'humanité avoit perdu ses titres; Montesquieu les a retrouvés.« Voltairen selbst ist, was man auch dagegen sage, dieMenschheit viel schuldig. Eine Reihe von Aufsätzen zur Geschichte, zur Philosophie und Gesetzgebung, zur Aufklärung des Verstandes u.f. bald in spottendem, bald in lehrendem Ton sind ihr geschrieben. Seine »Alzire,« »Zaïre« u.f. desgleichen. A.d.H.

258 »System der Gesetzgebung,« Ansbach 1784.

259 »Principi di una Scienza nunva,« zuerst herausgegeben 1725.

260 Antonio Genovesi »Politische Ökonomie« ist im Deutschen durch eine Übersetzung bekannt; Galanti »Beschreibung beider Sizilien« desgleichen. Des ersten Storia del Commercio della gran Bretagna von Carry und seine Lehrbücher zeigen ebensoviel Kenntnisse als philosophischen und bürgerlich tätigen Geist. Auch Montesquieu hat er mit Anmerkungen herausgegeben. A. d. H.

261 Hierüber hat der Verfasser dieses Briefes eine besondere Abhandlung entworfen, die aber hieher nicht gehöret. A. d. H.

262 Daß Sammlungen von Besonderheiten des Menschengeschlechts hie und da, hierin und darin als Register, als Repertorien zu gebrauchen sind, wollte der Verf. dieses Briefes nicht leugnen; nur sie sind, als solche, noch keine Geschichte. A. d. H.

263 Br. 115.

264 De Pagès, »Voyage autour du monde,« Bern 1783.

265 S. 17; 18–62.

266 S. 137–148; 155–195.

267 T. 2.

268 Unter vielen andern nenne ich G. Forsters und Levaillants, vom letzte insonderheit seine neuere Reisen. Die Grundsätze, die in ihnen herrschen, wie Menschen und Tiere zu betrachten und zu behandeln sind, geben eine Hodopädie, die insonderheit den Engländern zu mangeln scheinet. Ihre Urteile über fremde Nationen verraten immer den divisum toto orbe Britannum, wo nicht gar den monarchischen Kaufmann; da ein Reisebeschreiber eigentlich kein ausschließendes Vaterland haben müßte A. d H.

269 Wer könnte es besser als Reinhold Forster geben? auch nur, wenn er ein schon gedrucktes Verzeichnis von Reisebeschreibungen mit seinen Urteilen begleiten wollte. A. d. H.

270 Vom ehrlichen Dobritzhofer erzählt in seiner »Geschichte der Abiponer,« T. 1, S. 113, Wien 1783. Eine ähnliche erzählt er S. 83 u.f., die eine gleiche Darstellung verdiente.

271 So heißt bei den Paraguayern die Morgenröte.

272 Einer unsrer Dichter versuchte es mit Cortes; er hörte aber weislich auf.

273 Von der Denkart der Römer hierüber in ihren besten Zeiten lese man den Lipsius, doctrina politica mit ihrem Kommentar, den Grotius, »Der iure belli et pacis« oder auch den guten Montaigne, Buch 1, Kapitel 5, Kapitel 6. Sie ist für unsre Zeiten sehr beschämend. A.d.H.

274 Loskiels Missionsgeschichte in Nordamerika, S. 160.

275 Diese und einige der folgenden Beilagen sind aus einer kleinen Schrift von vier Bogen gezogen, »Reden al Hallils,« Stendal 1781. Der Verfasser, den ich zu kennen wünschte, verzeihet gewiß, daß sie hier in einer veränderten Gestalt erscheinen A. d. H.

277 Pinto, Über die Handelseifersucht; übersetzt in der »Sammlung von Aufsätzen, die größtenteils wichtige Punkte der Staatswirtschaft betreffen«. Liegnitz 1776. Der Verfasser erstgenannter Abhandlung hat ihr folgende Stelle aus Bulion vorgesetzt: »Diese Zeiten, wo der Mensch sein Erbteil verliert, diese barbarischen Jahrhunderte, wo alles umkommt, haben jederzeit den Krieg zu ihrem Vorläufer und fangen mit Hungersnot und Entvölkerung an. Der Mensch, der nur durch die Menge etwas vermag, der bloß in der Vereinigung und Verbindung mit seinesgleichen stark ist, der nicht anders als durch den Frieden glücklich ist, hat die Wut, sich zu seinem Unglück zu bewaffnen und zu seinem Untergange zu streiten. Gereizt durch einen unersättlichen Geiz, verblendet durch eine noch unersättlichere Ehrsucht, entsagt er den Empfindungen der Menschlichkeit, wendet alle seine Kräfte gegen sich selbst an, bemühet sich, einer den andern zugrunde zu richten, und verursacht endlich seinen wirklichen Untergang Und nach diesen Blut- und Mordtagen, wenn der Nebel des Ruhms verschwunden ist, so sieht er mit einem traurigen Auge die Erde verwüstet, die Künste begraben, die Nationen geschwächt, sein eigen Glück zugrunde und seine wahre Macht vernichtet.«

278 Lauter Ausdrücke der Amerikaner bei ihren Friedensschlüssen und bei der Einweihung ihrer Friedensfrau.

279 Al Hallil nennet ihn Houmana.

280 »Ancient Metaphysics,« Band 3, Lond. 1784. Dieser Teil des großen Werks wäre wegen der gesammleten Tatsachen eines deutschen Auszuges gewiß wert. A. d. H.

281 Unter vielen andern erinnere ich hier abermals An Levaillants neuere Reise. Der Unterschied, den er zwischen Nationen, die von Europäern verderbt sind oder mißhandelt werden, und zwischen autonomischen Völkern bemerkt, ist schneidend. Seine Grundsätze, wie mit diesen umzugeben sei, sind auf der ganzen Erde anwendbar.

282 Von der sogenannten Erbsünde ist hier nicht die Rede; denn diese ist Krankheit. A. d. H.

283 »Essai sur la Science« 1796, vom Herrn Koadjutor von Dalberg. In diesem Entwurf sowohl als in der Schrift »Vom Bewußtsein als allgemeinem Grunde der Weltweisheit« (Erfurt 1793), in den »Betrachtungen über das Universum« (Erfurt 1777) und in jedem kleinsten Aufsatz ist das Thema dieser Schrift, »l'unité, composée de l'infini,« Inhalt und Sinnbild und »le caractère vrai, pur, énergique et moral« Charakter.

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Theoretische Schriften. Briefe zur Beförderung der Humanität. Briefe zur Beförderung der Humanität. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5DA1-D