3. Das Grab der Prophetin
(Odin zwingt durch Zauberei die Todte zum Weissagen, und erfährt das bitterste Unglück seines Geschlechts.)

Nordisch

Aus Bartholin de caus, contemt. mortis, aus dem auch das 6te Stück genommen worden.


Auf stand Odin, der Helden höchster,
Und sattelt Sleipner und ritt hinunter
Zur Burg der Hela;
Da kam ihm entgegen der Höllenhund.
[305]
Blutig war ihm die Vorderbrust,
Und der gierge Rachen und das Zähngebiß!
Er riß den Rachen und bellt entgegen
Dem Zaubervater, und bellte lang.
Fort ritt Odin, die Erde bebte,
Bis er kam zur hohen Helaburg,
Ritt weiter Ostwärts dem Höllenthor
Da, wust' er, war der Seherin Grab.
Und sang ihr Zauber, den Todtenwecker,
Sah an den Nord und legte Runen,
Beschwur und fragt' und foderte Rede,
Bis sie sich unwillig erhub und sprach
Todtenlaut:
»Wer ist der Mann, ich kenn ihn nicht!
Der kommt die Ruhe zu stören mir?
Ich lag da lang bedeckt mit Schnee
Und Regen begossen und Thau betrieft,
Bin lange todt!«
»Wandrer bin ich, ein Kriegerssohn!
Gib du mir Kunde von der Hölle Reich;
Ich will sie dir geben aus meiner Welt.
Wem steht der Sitz dort goldbedeckt?
Wem steht das Bett dort goldgeziert?«
»Baldern 78 wartet der süsse Trank,
Reiner Honig und drüber der Schild!
Unglück harret der Asen Geschlecht! – –
Ich red unwillig, laß mich ruhn!«
»Noch nicht, Prophetin, ich will dich fragen,
Bis ich Alles weiß; ich will noch wissen,
Wer den Balder tödten wird?
Und Lebens beraubet Odins Sohn?«
[306]
»Hauder ists, der seinen Bruder uns sendet zu
Und Lebens beraubet Odins Sohn.
Ich sprach unwillig, laß mich ruhn.«
»Noch nicht, Prophetin! Ich will dich fragen,
Bis ich alles weiß, ich will noch wissen,
Wer wird dem Hauder den Mord vergelten,
Und Balders Mörder zur Flamme senden?«
»Rinda gebiert im Westenreich
Dem Odin einen Sohn, der kaum gebohren
In selber Nacht schon Waffen trägt.
Die Hand nicht wäscht, das Haar nicht kämmt,
Bis er Balders Mörder zur Flamme gesandt.
Ich sprach unwillig, laß mich nun ruhn!«
»Noch nicht, Prophetin, ich will fragen,
Bis ich alles weiß. Ich will noch wissen,
Wer sind die Jungfraun, die dort weinen?
Gen Himmel werfen für Schmerz den Schleir?
Nur das noch rede, denn sollt du ruhn.«
»O du kein Wandrer, wie ich gewähnt,
Bist Odin selbst, der Männer Erster.«
Und du nicht Vola, Prophetin nicht,
Drei-Riesen-Mutter 79 bist du vielmehr.
»Reit heim nun, Odin, und rühme dich,
Daß keiner wird kommen zu forschen wie du!
Bis Lock 80 wird los und die Dämmrung kommt,
Und die Götter fallen und die Welt zerbricht.«
[307]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Liedsammlung. Volkslieder. Zweiter Theil. Drittes Buch. 3. Das Grab der Prophetin. 3. Das Grab der Prophetin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-56F0-4