Der unschuldig Gehenkte

Folgende unglückliche Begebenheit hat sich auf dem Spessart zugetragen. Mehrere Knaben hüteten miteinander an einer Berghalde unten an dem Wald das Vieh ihrer Eltern oder Meister. In der Langweile trieben sie allerlei, und ahmten untereinander, wie dieses Alter zu tun pflegt, die Handlungen und Geschäfte der erwachsenen Menschen spielend nach. Eines Tages sagte der eine von ihnen: »Ich will der Dieb sein.« – »So will ich das Oberamt sein«, sagte der zweite. »Seid ihr die Hatschiere«, sagte er zum dritten und vierten, »und du bist der Henker«, sprach er zum fünften. Gut! Der Dieb stiehlt einem seiner Kameraden heimlich ein Messer und setzt sich auf flüchtigen Fuß; der Bestohlene klagt bei Oberamt; die Hatschiere streifen im Revier, attrappieren den Dieb in einem hohlen Baum und liefern ihn ein. Der Richter verurteilt ihn zum Tode. Unterdessen hört man im Wald einen Schuß fallen; Hundegebell erhebt sich. Man achtet's nicht. Der Henker wirft dem Malefikanten kurz und gut einen Strick[174] um den Hals und henkt ihn im Unverstand und Leichtsinn an einen Aststumpen an einem Baumstamm, also daß er mit den Füßen nicht gar kann die Erde berühren, denkt, ein paar Augenblicke kann er's schon aushalten. Plötzlich rauscht es im dürren Laub im Wald; es knackt und kracht im dichten Gehörst; ein schwarzer wilder Eber bricht zottig und blitzend aus dem Wald hervor und läuft über den Richtplatz. Die Hirtenbuben, denen es ohnehin halb zumut war, als ob es doch nicht ganz recht wäre, mit einer so ernsthaften und bedenklichen Sache Mutwillen zu treiben, erschrecken, meinen, es sei der böse Feind, vor dem uns Gott behüte, laufen vor Angst davon, einer von ihnen ins Dorf, und erzählt, was geschehen sei. Aber als man kam, um den Gehenkten abzulösen, war er erstickt und tot. Dies ist eine Warnung. Das Oberamt und die Hatschiere kamen nachher auf drei Wochen ins Zuchthaus, und der Henker auf sechs. Daß aber der Eber soll der schwarze Feind gewesen sein, hat sich nicht bestätigt. Denn er wurde von den nacheilenden Jägern erlegt und zum Forstamt geliefert; der Schwarze aber befindet sich noch am Leben.

[1809]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Hebel, Johann Peter. Prosa. Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Der unschuldig Gehenkte. Der unschuldig Gehenkte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-444F-E