Merkwürdige Schicksale
eines jungen Engländers

Eines Tages reiste ein junger Engländer auf dem Postwagen zum erstenmal in die große Stadt London, wo er von den Menschen, die daselbst wohnen, keinen einzigen kannte, als seinen Schwager, den er besuchen wollte, und seine Schwester, so des Schwagers Frau war. Auch auf dem Postwagen war neben ihm niemand, als der Kondukteur, das ist, der Aufseher über den Postwagen, der auf alles achthaben, und an Ort und Stelle über die Briefe und Pakete Red und Antwort gehen muß; und die zwei Reisekameraden dachten damals nicht daran, wo sie einander das nächstemal wiedersehen würden. Der Postwagen kam erst in der tiefen Nacht in London an. In dem Posthause konnte der Fremde nicht über Nacht bleiben, weil der Postmeister daselbst ein vornehmer Herr ist, und nicht wirtet, und des Schwagers Haus wußte der arme Jüngling, in der ungeheuer großen Stadt, bei stockfinsterer Nacht, so wenig zu finden, als in einem Wagen voll Heu, eine Stecknadel. Da sagte zu ihm der Kondukteur: »Junger Herr, kommt Ihr mit mir! Ich bin zwar auch nicht hier daheim, aber ich habe, wenn ich nach London komme, bei einer Verwandten ein Stüblein, wo zwei Better stehen. Meine Base wird Euch schon beherbergen, und morgen könnt Ihr Euch alsdann nach Eures Schwagers Haus erkundigen, wo Ihr's besser finden werdet.« Das ließ sich der junge Mensch nicht zweimal sagen. Sie tranken bei der Frau Base noch einen Krug englisches Bier, aßen eine Knackwurst dazu, und legten sich dann schlafen. In der Nacht kam den Fremden eine Notdurft an, und mußt hinausgehn. Da war er schlimmer dran, als noch nie. Denn er wußte in seiner dermaligen Nachtherberge, so klein sie war, so wenig Bericht, als ein paar Stunden vorher in der großen Stadt. Zum Glück aber wurde der Kondukteur auch wach, und sagte ihm wie er gehen müsse, links[170] und rechts, und wieder links. »Die Türe«, fuhr er fort, »ist zwar verschlossen, wenn Ihr an Ort und Stelle kommt, und wir haben den Schlüssel verloren. Aber nehmt in meinem Rockelorsack mein großes Messer mit, und schiebt es zwischen dem Türlein und dem Pfosten hinein, so springt inwendig die Falle auf! Geht nur dem Gehör nach! Ihr hört ja die Themse rauschen, und zieht etwas an, die Nacht ist kalt.« Der Fremde erwischte in der Geschwindigkeit und in der Finsternis das Kamisol des Kondukteurs, statt des seinen, zog es an, und kam glücklich an den Platz. Denn er schlug es nicht hoch an, daß er unterwegs einmal den Rang zu kurz genommen hatte, so, daß er mit der Nase an ein Eck anstieß, und wegen dem hitzigen Bier, so er getrunken hatte, entsetzlich blutete. Allein, ob dem starken Blutverlust und der Verkältung bekam er eine Schwäche und schlief ein. Der nachtfertige Kondukteur wartete und wartete, wußte nicht, wo sein Schlafkamerad so lange bleibt, bis er auf der Gasse einen Lärm vernahm, da fiel ihm im halben Schlaf der Gedanke ein: Was gilt's, der arme Mensch ist an die Haustüre kommen, ist auf die Gasse hinausgegangen, und gepreßt worden. Denn wenn die Engländer viel Volk auf ihre Schiffe brauchen, so gehen unversehens bestellte starke Männer nachts in den gemeinen Wirtsstuben, in verdächtigen Häusern und auf der Gasse herum, und wer ihnen alsdann in die Hände kommt und tauglich ist, den fragen sie nicht lange, »Landsmann, wer bist du?« oder »Landsmann, wer seid Ihr?« sondern machen kurzen Prozeß, schleppen ihn, – gern oder ungern, – fort auf die Schiffe, und Gott befohlen! Solch eine nächtliche Menschenjagd nennt man Pressen; und deswegen sagte der Kondukteur: »Was gilt's, er ist gepreßt worden!« – In dieser Angst sprang er eilig auf, warf seinen Rockelor um sich, und eilte auf die Gasse, um womöglich den armen Schelm zu retten. Als er aber eine Gasse und zwei Gassen weit dem Lärmen nachgegangen war, fiel er selber den Pressern in die Hände, wurde auf ein Schiff geschleppt, – ungern – und den andern Morgen weiters. Weg war er. Nachher kam der junge Mensch im Hause wieder zu sich, eilte, wie er war, in sein Bette zurück, ohne den Schlafkameraden zu vermissen, und schlief bis in den Tag.[171] Unterdessen wurde der Kondukteur, um 8 Uhr auf der Post erwartet, und als er immer und immer nicht kommen wollte, wurde ein Postbedienter abgeschickt, ihn zu suchen. Der fand keinen Kondukteur, aber einen Mann mit blutigem Gewand im Bett liegen, auf dem Gang ein großes offenes Messer, Blut bis auf den Abtritt, und unten rauschte die Themse. Da fiel ein böser Verdacht auf den blutigen Fremdling, er habe den Kondukteur ermordet und in das Wasser geworfen. Er wurde in ein Verhör geführt, und als man ihn visitierte und in den Taschen des Kamisols, das er noch immer anhatte, einen ledernen Geldbeutel fand, mit dem wohlbekannten silbernen Petschaftring des Kondukteurs am Riemen befestigt, da war es um den armen Jüngling geschehn. Er berief sich auf seinen Schwager, – man kannte ihn nicht – auf seine Schwester, man wußte von ihr nichts. Er erzählte den ganzen Hergang der Sache, wie er selber sie wußte. Aber die Blutrichter sagten: »Das sind blaue Nebel, und Ihr werdet gehenkt.« Und wie gesagt, so geschehn, noch am nämlichen Nachmittag nach engländischem Recht und Brauch. Mit dem engländischen Brauch aber ist es so: Weil in London der Spitzbuben viele sind, so macht man mit denen, die gehenkt werden, kurzen Prozeß, und bekümmern sich nicht viele Leute darum, weil man's oft sehen kann. Die Missetäter, so viel man auf einmal hat, werden auf einen breiten Wagen gesetzt, und bis unter den Galgen geführt. Dort hängt man den Strick in den bösen Nagel ein, fährt alsdann mit dem Wagen unter ihnen weg, läßt die schönen Gesellen zappeln, und schaut nicht um. Allein in England ist das Hängen nicht so schimpflich wie bei uns, sondern nur tödlich. Deswegen kommen nachher die nächsten Verwandten des Missetäters, und ziehn so lange unten an den Beinen, bis der Herr Vetter oben erstickt. Aber unserm Fremdling tat niemand diesen traurigen Dienst der Liebe und Freundschaft an, bis abends ein junges Ehepaar, Arm in Arm, auf einem Spaziergang von ungefähr über den Richtplatz wandelte, und im Vorbeigehen nach dem Galgen schaute. Da fiel die Frau, mit einem lauten Schrei des Entsetzens, in die Arme ihres Mannes: »Barmherziger Himmel, da hängt unser Bruder!« Aber noch größer wurde der Schrecken,[172] als der Gehenkte bei der bekannten Stimme seiner Schwester die Augenlider aufschlug, und die Augen fürchterlich drehte. Denn er lebte noch, und das Ehepaar, das vorüberging, war die Schwester und der Schwager. Der Schwager aber, der ein entschlossener Mann war, verlor die Besinnung nicht, sondern dachte in der Stille auf Rettung. Der Platz war entlegen, die Leute hatten sich verlaufen, und um Geld und gute Worte gewann er ein paar beherzte und vertraute Pursche, die nahmen den Gehenkten, mir nichts dir nichts, ab, als wenn sie das Recht dazu hätten, und brachten ihn glücklich und unbeschrieen in des Schwagers Haus. Dort ward er in wenig Stunden wieder zu sich gebracht, bekam ein kleines Fieber, und wurde unter der lieben Pflege seiner getrösteten Schwester bald wieder völlig gesund. Eines Abends aber sagte der Schwager zu ihm: »Schwager! Ihr könnt nun in dem Land nicht bleiben. Wenn Ihr entdeckt werdet, so könnt Ihr noch einmal gehenkt werden, und ich dazu. Und, wenn auch nicht, so habt Ihr ein Halsband an Eurem Hals getragen, das für Euch und Eure Verwandten ein schlechter Staat war. Ihr müßt nach Amerika. Dort will ich für Euch sorgen.« Das sah der gute Jüngling ein, ging bei der ersten Gelegenheit in ein vertrautes Schiff, und kam nach 80 Tagen glücklich in dem Seehafen von Philadelphia an. Als er aber hier an einem landfremden Orte mit schwerem Herzen wieder an das Ufer stieg;[173] und als er eben bei sich selber dachte: »Wenn mir doch Gott auch nur einen einzigen Menschen entgegenführte, der mich kennt«; siehe da kam in armseliger Schiffskleidung der Kondukteur. Aber so groß sonst die Freude des unverhofften Wiedersehens an einem solchen fremden Orte ist, so war doch hier der erste Willkomm schlecht genug. Denn der Kondukteur, als er seinen Mann erkannte, ging er mit geballter Faust auf ihn los: »Wo führt Euch der Böse her, verdammter Nachtläufer? wißt Ihr, daß ich wegen Euch bin gepreßt worden?« Der Engländer aber sagte: »Goddam, Ihr vermaledeiter Überall und Nirgends, wißt Ihr, daß man wegen Euch mich gehenkt hat?« hernach aber gingen sie miteinander ins Wirtshaus zu den 3 Kronen in Philadelphia, und erzählten sich ihr Schicksal. Und der junge Engländer, der in einem Handlungshaus gute Geschäfte machte, ruhte nachher nicht, bis er seinen guten Freund loskaufte und wieder nach London zurückschicken konnte.

[1809]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Hebel, Johann Peter. Prosa. Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Merkwürdige Schicksale eines jungen Engländers. Merkwürdige Schicksale eines jungen Engländers. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-43EA-5