2

Blutregen

Im Frühjahr und im Sommer kann es wohl geschehen, daß man hie und da viel rote Tropfen, wie Regentropfen, noch naß oder vertrocknet auf dem Laub oder auf Gegenständen von hellerer Farbe wahrnimmt, die auf der Erde liegen, z.B. auf Tuch, das zum Bleichen in Grasgärten ausgebreitet wird. Und weil man nicht begreifen kann, woher das kommen mag, und weil man lieber etwas Unglaubliches, als etwas Natürliches glaubt, so faßt man's kurz, und sagt, es habe Blut geregnet, und das bedeute Krieg.

Allein, wie nicht alles Schwefel ist, was gelb aussieht, so ist auch nicht alles Blut, was eine rote Farbe hat. Diesmal geht die Sache so zu. Aus einem kleinen Ei, das den Winter über irgendwo an einer Hecke oder an einem Baumzweig klebte, brütet im Frühjahr die Sonnenwärme ein kleines lebendiges Räuplein aus. Nach wenig Wochen, wenn sich die Raupe groß und rund gefressen hat, kriecht sie irgendwo in die Höhe, wenn sie nicht schon oben ist, hängt sich mit dem Hinterteil des Körpers fest, mit dem Kopfe abwärts, streift die Raupenhalle ab, und verwandelt sich in eine eckige Gestalt, die man Puppe nennt, ohne Kopf, ohne Füße und Flügel. Man sieht dem Ding nicht an, was es sein und werden soll. Aber wieder nach kurzer Zeit spaltet sich die Haut, und es kommt etwas mit kleinen zusammengeschrumpften Flügeln und einem dicken[44] unförmlichen Hinterleib hervor, dem man wohl ansieht, daß es gern ein Schmetterling oder Sommervogel werden möchte. Nach wenigen Stunden, wo es stille sitzen bleibt, sind die schönen farbigen Flügel gewachsen und ausgebreitet. Aus dem Hinterleib gehen sechs bis acht rote Tropfen ab, die auf die Erde herabfallen, alsdann ist der Sommervogel gemacht, und flattert leicht und fröhlich in der Luft herum, und von Blume zu Blume. Das kann der liebe Gott, aus einer häßlichen und verachteten Raupe einen schönen und fröhlichen Sommervogel machen. Wo nun ganze Hecken oder Bäume im Frühjahr mit Gespinst überzogen sind, in welchem viele Tausend solcher Eier verborgen sein können, da brütet auch die Sonnenwärme alle auf einmal aus. Alle, die davonkommen, können daher auch, wenn sie reichliche Nahrung haben, zu gleicher Zeit ihre Vollkommenheit erreichen, zu gleicher Zeit sich in Puppen verwandeln, und zu gleicher Zeit als Schmetterlinge wieder aus der Puppe zurückkehren. Wo nun viele dergleichen nahe beisammen sind, da gehen sie auch viele rote Tropfen von sich, ehe sie davonfliegen. Hundert in einem Garten können schon 6–800 Tropfen geben, und das ist alsdann der eingebildete Blutregen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hebel, Johann Peter. Prosa. Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Mancherlei Regen. 2. Blutregen. 2. Blutregen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-43AE-D