Das schlaue Mädchen

In einer großen Stadt hatten viele reiche und vornehme Herren einen lustigen Tag. Einer von ihnen dachte: »Könnt ihr heute dem Wirt und den Musikanten wenigstens 1500 Gulden zu verdienen gehen, so könnt ihr auch etwas für die liebe Armut steuren.« Also kam, als die Herren am fröhlichsten waren, ein hübsches und nett gekleidetes Mädchen mit einem Teller, und bat mit süßen Blicken und liebem Wort um eine Steuer für die Armen. Jeder gab, der eine weniger, der andere mehr, je nachdem der Geldbeutel beschaffen war und das Herz. Denn kleiner Beutel und enges Herz gibt wenig. Weiter Beutel und großes Herz gibt viel. So ein Herz hatte derjenige, zu welchem das Mägdlein jetzt kommt. Denn als er[211] ihm in die hellen schmeichelnden Augen schaute, ging ihm das Herz fast in Liebe auf. Deswegen legte er zwei Louisd'or auf den Teller und sagte dem Mägdlein ins Ohr: »Für deine zwei schönen blauen Augen.« Das war nämlich so gemeint:

»Weil du schöne Fürbitterin für die Armen, zwei so schöne Augen hast, so geb ich den Armen zwei so schöne Louisd'or, sonst tät's eine auch.« Das schlaue Mädchen aber stellte sich, als wenn es die Sache ganz anders verstünde. Denn weil er sagte: »Für deine zwei schöne Augen« – nahm es ganz züchtig die zwei Louisd'or vom Teller weg, steckte sie in die eigene Tasche, und sagte mit schmeichelnden Gebärden: »Schönen herzlichen Dank! Aber seid so gut und gebt mir jetzt auch noch etwas für die Armen.« Da legte der Herr noch einmal zwei Louisd'or auf den Teller, kneipte das Mägdlein freundlich in die Backen, und sagte: »Du kleiner Schalk!« Von den andern aber wurde er ganz entsetzlich ausgelacht, und sie tranken auf des Mägdleins Gesundheit, und die Musikanten machten Tusch.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Hebel, Johann Peter. Prosa. Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Das schlaue Mädchen. Das schlaue Mädchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4256-C