Friedrich Hebbel
Die Kuh

[489] In seiner Wohnstube, die sehr niedrig und auch etwas räucherig war, weil es dem Hause nach dem herkömmlichen Brauch des Dorfs am Schornstein fehlte, saß der Bauer Andreas an dem noch vom Großvater herstammenden alten eichenen Tisch und überzählte vielleicht zum neunten Male ein kleines Häuflein Taler-Scheine. Er hatte die Pfeife im Munde, und daran konnte man sehen, daß es Sonntag sei, da er sich die mit dem Rauchen verbundene kleine Zeit-und Geld-Verschwendung bei seiner knappen, ängstlich-genauen Natur an keinem anderen Tage erlaubt haben würde; sie brannte aber nicht und war auch noch gar nicht angezündet gewesen, obgleich das Talglicht, wobei es hätte geschehen sollen, schon lange geflackert haben mußte. Um ihn herum, bald zum Vater auf die Bank kletternd und ihm ernsthaft zuschauend, bald den durch die offen stehende Tür aus- und einwandelnden gravitätischen Haushahn jagend und neckend, spielte sein Kind, ein munteres, braunes Knäblein von zweieinhalb bis drei Jahren. »Den da – murmelte Andreas und hielt einen der Scheine mit sichtlichem Behagen in die Höhe – bekam ich für die Fuhre Sand, die ich dem Maurermeister Niclas in die Stadt lieferte, als es, wie mit Mulden, vom Himmel goß; ich kenne ihn an dem Riß. Ein braver Mann; ich hatte ihm einen Groschen wie der herauszugeben, aber er ließ mir den wegen meiner durchnäßten Haut. Freilich, einen Schnaps habe ich nicht dafür getrunken, wie er wollte!« »Diesen hier – fuhr er fort – habe ich am sauersten verdient, es ist der mit dem großen Tintenfleck! Wer dem Apotheker einen ganzen Futtertrog voll Kamillen bringen will, der muß sich oft bücken, und das ist nach dem Feierabend nicht bloß für die Faulen mühsam!« »Der zerfetzte und wieder zusammengeklebte – begann er nach einer Pause von neuem – ärgert mich jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, ich werde den Verdruß nicht los. Anderthalb hättens sein sollen, wenn sie auch gerade nicht ausdrücklich zum voraus bedungen waren. Drei[489] Klafter Holz! Ins Bein hieb ich mich obendrein vor übergroßem Eifer, weil ichs den Leuten gern, ehe der Regenguß kam, in den Keller schaffen wollte! Und ein solcher Abzug! Dabei trägt die Frau goldene Ohrringe, und das Kind weiß nicht, ob es eine Semmel ohne Butter essen will oder nicht!« »Brüllts nicht schon,« Er sprang auf und eilte ans Fenster. »Nichts da – sagte er zurückkehrend – das kam aus dem Stall des Nachbars! Nun, morgen wird aus dem meinigen geantwortet werden! Na, Junge – hiebei klopfte er sein Knäblein auf die Wange und reichte ihm eine dem Hahn entfallene bunte Feder – noch heute erhalten unsere beiden Esel Gesellschaft. Dein Vater hats endlich so weit gebracht, die Kuh ist schon unter wegs! Du mußt das Pferd schaffen, wenn du groß wirst! Hörst du?« Das Kind nickte, als ob es verstände, was es doch noch nicht verstehen konnte. Andreas setzte sich wieder an den Tisch. »Freilich, freilich – begann er abermals, indem er einen Zehn-Taler-Schein ergriff – es würde noch eine gute Weile gedauert haben, wenn das Glück mich nicht begünstigt hätte! Ha, ha! Das war ein Fischfang, der sich der Mühe verlohnte, obgleich der Fisch nicht zu den eßbaren gehörte. Ei, daß ich doch immer, wie jenen Abend, von ungefähr darauf zukäme, wenn sich einer ersäufen will, und die Rettungs-Prämie erwischte! Ich bringe jeden ans Ufer, ärger kann sich keiner sträuben, als der Leinweber sich sträubte, er hätte mich fast in den Grund des Teichs mit hinabgerissen! Noch fühl ich seine Klauen in meinem linken Arm, und ernstlich hat ers gemeint, denn drei Tage nachher schnitt er sich den Hals ab! Doch was gelingt unsereinem nicht, wenn man weiß, daß einem eine Belohnung von zehn Talern gewiß ist! Lange währts aber, es wird ja schon Nacht! Daß der Müller meiner Geesche Bier und Brot vorgesetzt hat, kann ich mir nicht denken! Dann müßte sein Profit größer sein, als ich glaubte, und er hätte mich trotz aller Vorsicht angeführt! Ich will einmal vor die Tür gehen!« Andreas stand auf und tat jetzt den ersten Zug aus der Pfeife »ja so – rief er aus – du brennst noch nicht, und ich meine, schon eine halbe Stunde zu schmauchen! Nun, umsonst will ich dich nicht gestopft haben.« Er nahm ein altes brüchiges Zeitungsblatt vom Tisch, in das die Scheine eingewickelt gewesen waren. »Jetzt brauche ichs nicht mehr – sprach er, indem er es beim Licht anzündete – noch heute geht das Geld [490] aus dem Hause, denn der Müller kommt gewiß mit, ich täts an seiner Stelle auch!« Er steckte die Pfeife in den Brand und warf das Blatt an die Erde. Das Kind hatte dem plötzlichen Aufflammen desselben mit leuchtenden Augen zugesehen, es rief jetzt: Ah! und hob das Blatt wieder auf. »Brenn dich nicht!« sagte Andreas und ging hinaus. Es war völlig finster geworden, und der qualmige Nebel, der den Tag über die Sonne verhüllt hatte, verhüllte jetzt die Sterne. »Wo sie nur bleibt! – murrte Andreas, sich mit dem Rücken verdrießlich an den Türpfosten lehnend – nun werd ich bald ungeduldig! Ob sie aufs neue zu dingen angefangen hat? Glück zu, aber vor dem will ich den Hut anziehen, der da noch einen Groschen abzwackt, wo ich den Handel schloß! Ich könnte ihr entgegengehen, doch sie hat den Pflügerjungen ja bei sich, und dann ist hier auch das Kind. Zwar, das könnt ich zu Bett bringen!« Andreas ging wieder hinein. »Satan!« rief er aus und blieb einen Moment mit weit aufgerissenem Munde und fast aus den Höhlen tretenden Augen auf der Schwelle der Stube stehen. Der Knabe kniete auf der Bank, die er erklettert hatte, und verbrannte beim Licht eben mit Frohlocken den letzten Kassenschein; das Flackern des Zeitungs-Blatts hatte ihm eine unendliche Freude gemacht, aber die Freude hatte nicht lange genug gedauert und, um sie zu erneuern, tat er alles nach, was er vorher seinen Vater, aufmerksam und neugierig zu ihm emporschauend, hatte tun sehen. »Au!« schrie das Kind nach einer Weile, denn das als letztes zu lange festgehaltene Papier brannte es auf die Finger; »mehr!« setzte es hinzu, als es, das Auge nach der Tür wendend, den fast versteinerten Andreas erblickte. Dies Wörtchen weckte diesen aus seiner Erstarrung; »mehr, du Teufelsbrut?« rief er aus, stürzte auf sein Söhnchen zu, faßte es, seiner selbst nicht mehr mächtig, bei den Haaren und schleuderte es ingrimmig gegen die Wand, als ob es eine giftige Schlange wäre, deren Stich er eben gefühlt hätte. »Mehr!« sagte er dann, »noch mehr, viel mehr«, und riß den am Ofen-Gestell hängenden neuen Strick herunter, mit dem er die Kuh hatte anbinden wollen, denn ein schneller, scheuer Blick zur Wand hinüber hatte ihm gezeigt, daß das Kind laut- und leblos mit geborstenem Schädel und mit verspritztem Gehirn am Boden lag. Er tat einen Schritt vorwärts, aber die Beine wollten unter ihm brechen, und er griff [491] um sich herum in die Luft, wie nach einem Gegenstand, an dem er sich halten könne; da ließ sich in geringer Entfernung von seinem Hause klar und deutlich das so lange ersehnte Gebrüll vernehmen. Dies schien ihm die Kraft zu einem plötzlichen Entschluß zu geben; er rief: »Gute Nacht, Andreas!« und stürzte mit dem Strick auf die Hausflur hinaus. Hier stand eine Leiter, die auf den Boden führte, von dem er schon am Mittag einen Haufen Stroh zum Streuen für die Kuh vorsorglich herabgeworfen hatte; diese Leiter eilte er so schnell hinauf, daß ihm sein Hut, den er nach Bauern-Sitte im Hause, wie auf dem Felde trug, darüber entfiel. Nun verschwand er in der Luke und bald darauf knackte der Dachstuhl. Fast in demselben Augenblick wurde es laut vor der Tür. »Nun, Andreas, bist du eingeschlafen? – rief eine weibliche Stimme – das pflegst du doch sonst nicht zu tun, eh du deine Grütze im Leibe hast!« »Spring hinein, Hans, und weck ihn!« Hans, ein nach Art der Mist-Gewächse lang aufgeschossener, aber spindeldürrer Junge, tat, wie ihm geheißen wurde, während Geesche die Kuh festhielt. Gleich darauf kam er wieder heraus und stotterte: »Aber Frau, aber Frau!« ohne mehr hervorbringen zu können. »Was ists? Was gibts?« rief Geesche, von seiner Leichenblässe und seinem Zähngeklapper erschreckt, und stürzte hinein. Hans griff nach dem Licht und sagte: »Der Bauer ist nicht da«, dann leuchtete er nach dem Ort hin, wo das Kind lag. Mit einem jähen Schrei sank die Mutter um und blieb bewußtlos liegen. Hans verlor die Besinnung nun völlig. »Bauer, Bauer, wo ist er? wo bleibt er?« rief er wohl hundert Mal hintereinander und rannte, das Licht in der Hand, im ganzen Hause, wie toll, umher. Als er aus der Küche zurückkehrte, wo er ins Ofenloch hineingeleuchtet hatte, stolperte er am Fuß der Leiter über Andreas' Hut, der dort niedergefallen war. »Hat er sich oben versteckt, Bauer? – rief Hans – komm er jetzt nur herunter, wir sind da!« Da keine Antwort erfolgte, stieg er selbst empor. Als er den Kopf in die Bodenluke steckte und, eine neue Leitersprosse ersteigend, Hals und Schultern nachschob, stieß er auf Widerstand, der von etwas herrührte, das ihn anfangs zurückzudrängen, sich dann zu spalten und auseinanderzuteilen schien. Der Angstschweiß brach ihm aus, ihn fing zu fiebern an, und ohne zu wissen, daß ers tat, stieg er noch höher. Jetzt war es [492] ihm, als ob sich ein sehr schwerer Mensch, wie zum Reiten, auf seinen Nacken setzte, zwei steife Beine, in denen er an den breiten Messingschnallen der Schuhe die seines Wirts erkannte, kamen, wie Zinken einer Gabel, links und rechts auf seiner Brust zum Vorschein, und durch das eine derselben wurde ihm das Licht aus der Hand gestoßen. Nun stieß er noch einen unartikulierten Laut aus, dann überschlug er sich rücklings, stürzte und brach das Genick. Das Licht war nicht verloschen, ohne vorher den Haufen losen Strohs zu entzünden, und in wenigen Minuten stand das Haus in Flammen. Ob Geesche, als dies alles geschah, aus ihrer Bewußtlosigkeit noch nicht wieder erwacht und willenlos in der aufs schnellste von Rauch und Qualm gefüllten Stube erstickt war, oder ob sie aus Verzweiflung über das fürchterliche Ende ihres Kindes verschmäht hatte, sich zu retten, hat sich nicht ermitteln lassen. Soviel steht fest, daß von ihr, wie von Andreas, Hans und dem Knäblein nur ein verschrumpftes Gerippe aus dem Hause herausgekommen, und daß auch die Kuh, dem diesen armen Tieren angeborenen unseligen Trieb folgend, ins Feuer hineingelaufen und mit verbrannt ist.

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TextGrid Repository (2012). Hebbel, Friedrich. Erzählungen. Die Kuh. Die Kuh. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3AC6-B