[107] Elfenleiden

In geheimer stiller Freude
Blickt' ich eine Rose an,
Die im Perl- und Purpurkleide
Schwellend aufzublühn begann.
Bange doch vielleicht zu Muthe
War's dem Elfen, klein und traut,
Der in ihrem Kelche ruhte,
Drin sein Häuschen er gebaut.
Wenn ein Knöspchen platzend springet,
Kracht's ihm wohl wie Donnerklang,
Wenn ein West die Rose schwinget,
Macht ihm Erdebeben bang!
Wie ihr Kelch sich aufthut Allen,
Schreckt ein Abgrund schwindelnd ihn,
Und des Blüthenstaubes Fallen
Stürzt auf ihn als Schneelavin'.
[108]
Eine Ueberschwemmung drohte
Seiner Wohnung, Hab' und Haut,
Als es kühl aus Morgenrothe
Perlen in den Kelch gethaut.
Als mein Athem freier wehte,
Schien's ihm Sturmwinds Ungestüm,
Und vielleicht gar als Komete
Droht' mein heitrer Blick ob ihm.
Und mit Bangen sonder Gleichen
Harrt der Kleine ängstlichscheu,
Was wohl all der Schreckenszeichen
Grausenhaftes Ende sei?
Doch mit tiefer stiller Freude
Blickte ich die Rose an,
Die im Perl- und Purpurkleide
Blüthenvoll sich aufgethan.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Gedichte. Gedichte. Lieder aus dem Gebirge. Elfenleiden. Elfenleiden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0DAC-A