93. Blümelisalp

Mehr als eine Gegend der Schweiz erzählt die Sage von einer jetzt in Eis und Felstrümmern überschütteten, vor alten Zeiten aber beblümten, herrlichen und fruchtbaren Alpe. Zumal im Berner Oberland wird sie von den Klariden (einem Gebirg) berichtet:

Ehmals war hier die Alpweide reichlich und herrlich, das Vieh gedieh über alle Maßen, jede Kuh wurde des Tages dreimal gemolken, und jedesmal gab sie zwei Eimer Milch, den Eimer von dritthalb Maß. Dazumal lebte am Berg ein reicher, [129] wohlhabender Hirte und hob an stolz zu werden und die einfache alte Sitte des Landes zu verhöhnen. Seine Hütte ließ er sich stattlicher einrichten und buhlte mit Kathrine, einer schönen Magd, und im Übermut baute er eine Treppe ins Haus aus seinen Käsen, und die Käse legte er aus mit Butter und wusch die Tritte sauber mit Milch. Über diese Treppe gingen Kathrine, seine Liebste, und Brändel, seine Kuh, und Rhyn, sein Hund, aus und ein.

Seine fromme Mutter aber wußte nichts von dem Frevel, und eines Sonntags im Sommer wollte sie die Senne ihres Sohnes besuchen. Vom Weg ermüdet, ruhte sie oben aus und bat um einen Labetrunk. Da verleitete den Hirten die Dirne, daß er ein Milchfaß nahm, saure Milch hineintat und Sand daraufstreute, das reichte er seiner Mutter. Die Mutter aber, erstaunt über die ruchlose Tat, ging rasch den Berg hinab, und unten wandte sie sich, stand still und verfluchte die Gottlosen, daß sie Gott strafen möchte.

Plötzlich erhob sich ein Sturm, und ein Gewitter verheerte die gesegneten Fluren. Senne und Hütte wurden verschüttet, Menschen und Tiere verdarben. Des Hirten Geist samt seinem Hausgesinde sind verdammt, so lange, bis sie wieder erlöst worden, auf dem Gebirg umzugehen: »Ich und min Hund Rhyn und mi Chu Brändli und mine Kathry müssen ewig uf Klaride syn!« Die Erlösung hangt aber daran, daß ein Senner am Karfreitag die Kuh, deren Euter Dornen umgeben, stillschweigend ausmelke. Weil aber die Kuh, der stechenden Dornen wegen, wild ist und nicht stillhält, so ist das eine schwere Sache. Einmal hatte einer schon den halben Eimer vollgemolken, als ihm plötzlich ein Mann auf die Schulter klopfte und fragte: »Schäumt's auch wacker?« Der Melker aber vergaß sich und antwortete: »O ja!« Da war alles vorbei, und Brändlein, die Kuh, verschwand aus seinen Augen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Erster Band. 93. Blümelisalp. 93. Blümelisalp. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0136-5