432. Sage von Attalus, dem Pferdeknecht, und Leo, dem Küchenjungen

Zur Zeit, als Theoderich und Childebert, die Frankenkönige, in Hader und Zwietracht lebten, und viele edele Söhne zu Geiseln gegeben oder in Knechtschaft gebracht wurden, trug sich auch folgende Begebenheit zu:

Attalus, von guter Abkunft und ein naher Verwandter des heiligen Gregor, geriet in die Dienstschaft eines Franken im trierischen Gebiet und wurde zum Pferdewärter bestellt. Der Bischof Gregor, um sein Schicksal besorgt, sandte Boten aus, die ihn aufsuchen sollten, endlich auch fanden und seinem Herrn Gaben anboten, um Attalus freizukaufen. Der Mann verwarf sie aber und sprach; »Einer von solcher Geburt muß losgekauft werden mit zehn Pfunden Goldes.« Also kamen die Abgesandten unverrichteterdinge wieder heim zu Gregor; aber Leo, einer seiner Küchendiener, sprach: »Wofern Ihr mir erlauben wollet, ihn aufzusuchen, könnte ich ihn vielleicht aus der Gefangenschaft erledigen.« Der Bischof war froh und gestattete es ihm; da kam auch Leo an jenen Ort und suchte den Knaben heimlich fortzuschaffen, allein er konnte nicht. Darauf verabredete er sich mit einem andern Manne und sprach: »Komm mit mir dahin und verkaufe mich in dem Hause des Franken; der Preis, den du empfängst, soll dein Gewinn sein.« Der Mann tat's und schlug [397] ihn um zwölf Goldgulden los; der Käufer aber fragte den Knecht, welchen Dienst er verstünde? »In Zubereitung aller Dinge, die auf der Herren Tische gegessen werden, bin ich gar geschickt und befürchte nicht, daß einer mich darin übertreffe; denn selbst königliche Gerichte kann ich bereiten, wenn du dem König ein Gastmahl geben wolltest!« Jener antwortete: »Nächsten Sonntag werden meine Nachbarn und Freunde zu mir eingeladen werden; da sollst du ein Mahl zurichten, daß alle sagen, in des Königs Hause hätten sie Besseres nicht gefunden.« Leo sagte: »Mein Herr, lasse mir nur eine Menge junger Hähne bringen, so will ich dein Gebot schon erfüllen.« Als nun das geschehen war, stellte er auf den Sonntag ein solches und dermaßen köstliches Essen zu, daß alle Gäste nicht genug loben konnten. Die Freunde des Herrn kehrten nach Haus zurück, der Herr aber schenkte dem Küchenknecht seine Gunst und gab ihm Gewalt und Aufsicht über alle seine Vorräte. So verlief ein Jahr, und der Herr liebte ihn immer mehr und setzte alles Vertrauen auf ihn. Einmal ging nun Leo auf die Wiese nahe beim Haus, wo Attalus der Pferde wartete, und fing an mit ihm zu reden; und sie legten sich weit voneinander auf die Erde, mit sich zugedrehten Rücken, damit niemand mutmaßen möchte, daß sie zusammen sprächen. »Zeit ist es«, sagte Leo, »daß wir an unser Vaterland denken; ich mahne dich, wenn du heut nacht die Pferde in den Stall gebracht hast, so laß dich nicht vom Schlaf bewältigen, sondern sei munter, wann ich dich rufe, daß wir uns alsobald fortmachen können.« Der Franke hatte aber wieder viele Verwandten und Freunde zu Gast geladen, unter andern den Schwiegersohn, der mit seiner Tochter verheiratet war. Als sie nun um Mitternacht aufstiegen und schlafen gehen wollten, reichte Leo seines Herrn Schwiegersohn einen Becher zu trinken. Der scherzte und sprach: »Wie, Leo? Möchtest du wohl mit deines Herrn Pferden durchgehen und wieder in deine Heimat?« Er antwortete gleichsam scherzweise die Wahrheit und sagte: »Ja, heut nacht, wenn's Gottes Wille ist.« – »Wenn mich nur«, erwiderte der Schwiegersohn, »meine Leute gut bewachen, daß du mir nichts von meinen Sachen mit entführest.« So im Lachen schieden sie voneinander. Wie aber alle entschlafen waren, rief Leo den Attalus aus dem Bett. »Hast du ein [398] Schwert?« – »Nein, bloß einen kurzen Spieß.« – Da ging Leo in seines Herrn Gemach und nahm Schild und Lanze. Der Herr aber fragte halbwach: »Wer bist du und was willst du?« – »Leo bin ich, dein Diener; und ich wecke den Attalus, daß er früh aufstehe und die Pferde zur Weide führe. Denn er verschläft sich und ist noch trunken.« Der Herr sprach: »Tu, wie du meinst.« Und nach diesen Worten schlief er von neuem ein. Leo aber ging zur Tür hinaus, wappnete den Jüngling; und die Stalltüre, die er noch abends zur Sicherung der Pferde mit Hammerschlägen vernagelt hatte, stand jetzt offen, gleichsam durch göttliche Schickung. Da dankte er Gott seines Beistandes, und sie nahmen die Pferde mit aus dem Stall und entwichen; auch einen Falken nahmen sie nebst den Decken. Beim Übergang der Mosel wurden sie aufgehalten und mußten Pferde und Decken im Stich lassen; und auf ihre Schilde gelegt, schwammen sie den Strom hinüber. Als die Nacht kam und es dunkel wurde, gingen sie in einen Wald und bargen sich. Und schon war die dritte Nacht gekommen, und noch keinen Bissen Speise hatten sie in ihren Mund gebracht und wanderten in einem fort. Da fanden sie auf Gottes Wink einen Baum voll Obst, dem, das man Zwetschen zu nennen pflegt, und erlabten sich daran. Darauf langten sie in Campanien (Champagne) an; bald hörten sie hinter sich Roßtritte und sprachen: »Es kommen Männer geritten, werfen wir uns zur Erde, daß sie uns nicht erspähen!« Und siehe, ein großer Dornstrauch stand daneben; dahinter traten sie, warfen sich nieder zu Boden mit aus der Scheide gezogenen Schwertern, damit, wenn sie entdeckt würden, sie sich alsbald wehren könnten. Die Reiter aber, als sie zu der Stelle gelangt waren, hielten gerade vor dem Dornstrauch still; ihre Pferde ließen den Harn, und einer unter ihnen sprach: »Übel geht es mir mit diesen beiden Flüchtlingen, daß wir sie nimmer finden können; das weiß ich aber, so wahr ich lebe, würden sie ertappt, so ließ ich den einen an den Galgen hängen, den andern in tausend Stücken zerhauen mit Schwertschlägen.« Der die Worte sprach, war ihr Herr, der Franke, welcher aus Reims herkam, sie zu suchen, und sie unfehlbar gefunden hätte, wo nicht die Nacht dazwischengekommen wäre. Nach diesem ritten die Männer wieder weiter, jene aber erreichten noch selbe [399] Nacht glücklich die Stadt, gingen hinein und suchten einen Bürger auf, den sie fragten, wo Paullulus, des Priesters, Haus wäre. Der Bürger zeigte ihnen das Haus. Als sie aber durch die Gasse gingen, läutete das Zeichen zur Frühmette; denn es war Sonntag. Sie aber klopften an des Priesters Türe, und sie ward aufgetan. Der Knabe fing an zu erzählen von seinem Herrn. Da sprach der Priester: »So wird wahr mein Traum! Denn es träumte mir heut von zwei Tauben, die flogen her und setzten sich auf meine Hand. Und eine von ihnen war weiß, die andere schwarz.« Die Knaben sagten dem Priester: »Weil ein heiliger Tag heute ist, bitten wir, daß du uns etwas Speise gebest; denn heute leuchtet der vierte Tag, daß wir kein Brot noch Mus genossen haben.« Er barg aber die Knaben bei sich, gab ihnen Brot mit Wein begossen und ging in seine Metten. Der Franke war auch an diesen Ort gegangen und hatte die Knaben gesucht; als ihm aber der Priester eine Täuschung vorgesagt, kehrte er zurück. Denn der Priester stand in alter Freundschaft mit dem heiligen Gregor. Als sich nun die Knaben mit Speisen zu neuen Kräften gestärkt hatten und zwei Tage in diesem Hause geblieben waren, schieden sie und kamen glücklich bei Bischof Gregorius an, der sich über ihren Anblick freute und an dem Halse seines Neffen (Enkels) Attalus weinte. Den Leo aber mit all seinem Geschlechte machte er frei von der Knechtschaft und gab ihm ein eigen Land, wo er mit Frau und Kindern als ein Freier das Leben beschloß.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Zweiter Band. 432. Sage von Attalus, dem Pferdeknecht, und Leo. 432. Sage von Attalus, dem Pferdeknecht, und Leo. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0021-C