[285] Ein Brief

1864.


Aus meines Krankenzimmers Haft, wo böse Sicht
Den einst so rüst'gen luftgewohnten Wandersmann
Aufs Lager hinwarf, send' ich meinen Gruß dir heut,
Zwar kein Tyrtäus, wenn ich gleich zur Dänenfahrt
Beharrlich aufrief, aber ganz so lahm, wie er.
Und während draußen über Strom und Hügel nun
Und durch den herbstlich bunten Wald im Sonnenduft
Die Tage wandeln, deren frischer Hauch mir sonst
So manches Lied im Busen weckte, schmacht' ich hier
In dumpfen Wänden zu verstummter Rast verdammt,
Dem flügelwunden Kranich ähnlich, der mit Harm
Den hellen Ruf des Bruderschwarms von fern vernimmt.
Im weitern freilich, wenn nicht eben allzu arg
Das Übel wütet, oder das erhitzte Blut
Bei Nacht den Schlummerlosen ängstet, fühl' ich mich
So elend nicht, dem liebevoll manch treu Gemüt
Die trübe Zeit teilnehmend zu erheitern strebt.
Bald kommt ein Freund und sagt mir, was die Welt bewegt,
Und breitet willig vor dem vielfach Fragenden
Die Schätze neuen Wissens aus, bald füllt ein Strauß
Von späten Rosen, den der Wirtin Güte band,
Den Raum mit Wohlgerüchen, bald, nach Schwalbenart
Mein Bett umflatternd, schwebt mein blühend Töchterchen
Leichtfüßig, jedes Winks gewärtig, aus und ein
Und scheucht mit heitrem Plaudern mir die Grillen fort.
Dazwischen greif' ich, weil ein ernster Tagewerk
Der Arzt verbot, nach alten Büchern, wie sie just
Zur Hand mir liegen. Tiecks zerlesnen Phantasus
Durchblättr' ich wieder, kühl umweht vom Dämmerlicht
Des Märchenwaldes, oder Fouqués Zauberring,
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Der einst des Knaben fabelhaft Entzücken war,
Als zwischen hohen Dächern kauernd, heimlich er,
An Stirn und Wangen glühend, Blatt um Blatt verschlang,
Und der noch heute durch des Planes kühnen Wurf
Und bunte Fülle mein erinnernd Herz ergötzt.
Auch läßt der Herbst, als wollt' er seinem Freunde nicht
Ganz treulos werden, dann und wann ein Lächeln mir
Aufs Lager fallen. Von der Erde seh' ich zwar
Nichts, als den Wipfel eines großen Apfelbaums
Und durchs Gezweig mit seiner Türme Zwillingsbau
Den alten Dom, der mir am Sonntag Orgelton
Herübersendet und gedämpften Chorgesang;
Doch drüber weithin breitet sich der Himmel aus
Und zeigt bei Tag auf leuchtend blauem Grunde mir
Den Zug der Wolken; aber, wenn der Abend sinkt,
Zum Feuermeere wird er, drin phantastische
Gebirge schwimmen, Gärten, die von Purpur blühn,
Und goldne Schlösser, bis das prächt'ge Farbenspiel,
Nachdem es aller Edelsteine Glut durchlief
Vom Licht des Saphirs zum geschmolznen Blutrubin,
Gemach erlischt, und silbern, einer Fackel gleich,
Der Abendstern aus dämmergrünen Lüften taucht.
Das ist die Stunde, da im Buch vergangner Zeit
Erinnrung bildert. Weithinaus, wohin die Fahrt
Des Lebens einst den nimmermüden Pilger trug,
Schweift, wachen Traums, in fessellosem Flug der Sinn
Und sucht die Stätten seiner alten Freuden auf.
Aus Sonnennebeln hell mit ihren Tempeln steigt
Die Burg Athens; das alte Schloß im Habichtswald,
Das forstumrauschte, wo der Dichter still gereift,
Taucht grüßend auf, am Lurleifelsen braust der Rhein,
Ein Echo weckend ungestümer Jugendlust,
Und fern, vom weißen Säntisgipfel überragt,
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Azurnen Schimmers, wie ein Stück vom Himmel, blaut
Der See von Lindau, dessen üppig Rebgestad'
Den schönsten meiner Herbste sah. – Wo sind sie hin,
Die goldnen Tage? Wo die Treuen, die mit mir
Den Segen ihres Strahls geteilt? Ach, fröstelnd rinnt
Durch meine Brust der Schauer der Vergänglichkeit,
Und tiefe Wehmut fällt mich an –
Doch plötzlich rauscht
Der Pforte Vorhang; leise mit der Kerze tritt
Mein Kind herein, ein lieblich Bild der Gegenwart,
Und wie es sorgsam mit beschwingter Hand mir nun
Die Kissen ordnet und sich zärtlich an mich schmiegt:
Da weicht der Schatten, der mein bangend Herz beschlich,
Und dankbar fühl' ich, ausgesöhnt mit meinem Los,
Wie reich ich noch gesegnet bin, und lebe gern.

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TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Spätherbstblätter. Vermischte Gedichte. Ein Brief. Ein Brief. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BA77-0