[8] Cassander

Cassander ist natürlich ein alter Schauspieler. Er ist so alt, daß sein Charakter sich bereits verändert. In früheren Jahren hatte er einen offenen Verstand, eine leichterregte Phantasie. Man kennt doch die Geschichte vom Karpfen: sein Freund, der Fürst Tartaglia, hatte einen Karpfen gezähmt. Karpfen sind bekanntlich sehr dumme Tiere und deshalb schwer zu zähmen; der Principe Tartaglia aber besaß jene Gabe, mit den Tieren umzugehen: er war energisch, liebenswürdig und vor allen Dingen konsequent. Er war von eiserner Konsequenz; und die Konsequenz ist es hauptsächlich, die auf das Tier wirkt. Der Karpfen folgte dem Principe wie ein Hündchen auf die Straße, in Gesellschaften, in den Ballsaal, zum Spieltisch; ein Hündchen hätte man natürlich nicht derart überallhin mitnehmen können, denn auch der klügste Hund hebt plötzlich in einem unpassenden Moment an einem Stuhl oder Tisch das Bein hoch. Diesen Karpfen also besaß der Principe Tartaglia, als er noch in Neapel lebte; nach Rom brachte er ihn nicht mit, denn das Tier war damals schon verunglückt; er hatte ihn einmal zur Probe mitgenommen, ein Wolkenbruch geht über Neapel los, der Principe eilt nach Hause, damit die Prinzessinnen die gewaschenen Unterhosen hineinnehmen, die vor den Fenstern zum Trocknen hängen; der Karpfen folgt ihm, gerät in eine tiefe Gosse und ertrinkt. Niemand in Rom glaubte diese Geschichte, aber Cassander glaubte sie. Das war vor vierzig Jahren. Wenn heute ihm jemand sagt: »Der Direktor hat alle Gagen ausbezahlt«, so antwortet er: »Du lügst«; so phantasielos ist er in seinem Alter geworden, so skeptisch, so schwerbeweglichen Geistes, so – wissenschaftlich mit einem Worte.

[9] Merkwürdig ist dabei, daß er sich nunmehr auf die Dichtung geworfen hat. In den neueren Stücken fallen ihm immer nur kleine Rollen zu; zwar, er sagt mit Recht von sich: »Wenn ich auf der Bühne bin und nichts sage, dann steht immer ein Schauspieler da«; aber seine Kraft wird doch nicht ausgenutzt, sie liegt brach, sie schreit nach Betätigung. So hat er ein großes Epos begonnen: Die Schöpfung; sieben Bände wird das Epos haben, jeder Band vierundzwanzig Gesänge. Er stellt sich neben Homer, Dante und Lorenconi mit diesem Werk.

Aber was geht uns hier Cassanders Epos an!

Cassander hat eine einzige Tochter namens Colombine. Natürlich verlangt er, daß sie den reichen, vornehmen Duca heiraten soll, den Duca, der einen Wagen hat und einen Silberdiener, den Duca, in den Isabella, Aurelie, Coraline verliebt sind; aber der Duca liebt nur Colombinen. Colombine indessen findet, daß der Duca zu alt ist für sie, und hat eine Liebschaft mit dem Kapitän, eine Liebschaft, ja eine für bürgerliche Begriffe recht weitgehende Liebschaft. Cassander weint, er ermahnt sie, er erzählt aus seinem Leben, vom Fürsten Tartaglia, der auch eine Liebschaft hatte, ehe er den Karpfen zähmte, und natürlich das Mädchen nicht heiratete, wie er den Karpfen hatte; nun ist sie alt geworden, die anderen Liebhaber haben sie auch nicht geheiratet, sie hat jetzt eine Garküche; für einen Soldo darf man dreimal in den Ölkessel stechen, und was dann an der Gabel bleibt, das hat man. »Das ist ja meine Mutter«, ruft Colombine lachend, »das verwechselst du ja!« Cassander wird böse und verstummt; der Kapitän kommt und sagt, daß Cassander gleich zur Probe muß; er wird inzwischen Colombinen Gesellschaft leisten. »Ach, was habe ich denn für eine Rolle!« klagt Cassander. »Nichts habe ich zu sagen, als: ›Meine Herrschaften, gehen wir zu Tisch‹. Braucht man für eine solche Rolle einen Cassander? Gewüstet wird mit dem Talent! Es ist himmelschreiend! [10] So behandelt man Künstler!« »Aber Papachen,« antwortet ihm Colombine und reicht ihm Hut und Stock, »wer soll denn sonst die Rolle spielen! Auf diesem Satz steht ja das ganze Stück! Wenn der Satz nicht herauskommt, dann ist das Stück gefallen!« »Du hast recht, mein Kind«, antwortet besänftigt Cassander; »gerade diese Rollen sind die schwierigsten, sie erfordern die reife Meisterschaft, das ganze Können. Davon versteht natürlich das Publikum nichts. Aber dem wahren Künstler genügt der Beifall des Kenners.« Mit diesen Worten setzt Cassander seinen Hut auf, nimmt seinen Stock und geht zur Probe, zur Generalprobe. Der Kapitän bleibt inzwischen bei Colombinen.

Die Generalprobe nimmt den erwünschten Verlauf. Lelio beginnt einen Streit mit dem Souffleur und nennt ihn einen Idioten, denn irgendein Ärger muß vorfallen. Cassander spricht seine Worte, und wie er diese Worte spricht, da steht er allein auf der Bühne, alle anderen Schauspieler sind verschwunden, wenigstens man merkt sie nicht. Das ist die Macht des Talents. Aber im Abgehen stolpert er über einen rostigen Nagel, der da vorsteht, man weiß nicht weshalb; er fällt, reißt sich eine große Schramme ins Bein mit dem Nagel; Mezzetin hilft ihm auf, Coraline zieht ihm den Strumpf aus, Isabelle verbindet ihn mit ihrem Taschentuche; es war rein, die Taschentücher der männlichen Kollegen sind voller Schnupftabak; der Principe Tartaglia weint, Cassander aber lacht und erklärt, daß die Verletzung ganz harmlos sei. »In deinen Jahren!« antwortet ihm der Principe besorgt. »Wessen Jahre?« fragt Cassander scharf, und alles verstummt.

Aber die Verletzung ist nicht harmlos. Das Bein schwillt an, der Doktor kommt, der richtige Doktor, nicht der Schauspieler, schüttelt den Kopf, spricht von Schneiden, verordnet vorläufig Umschläge und Bettruhe; dann geht er, indem er eine Prise nimmt.

[11] »Bettruhe?« ruft Cassander, als der Doktor das Haus verlassen hat und außer Hörweite ist. »Bettruhe? Was denkt dieser Scharlatan von einem Künstler?« »Aber Papachen, er hat gesagt, es ist gefährlich«, ruft Colombine. »Gefährlich? Und wer spielt meine Rolle heute abend?« entgegnet Cassander. »Du wirst doch nicht ins Theater gehen wollen!« ruft entsetzt Colombine. »Wer spielt meine Rolle?« fragt Cassander. »Aber Papachen, da kann doch ein anderer einspringen!« sagt Colombine. »Einspringen? In eine solche Rolle? Ist das künstlerische Gewissenhaftigkeit? Und wenn schon Einspringen möglich wäre, wer sollte es? Auf meinem Satz steht das ganze Stück. Wenn der Satz nicht herauskommt, so ist das Stück gefallen!«

Cassander steigt aus dem Bett, zieht die amarantfarbene Hose an, die hellblauen Strümpfe. »Das geschwollene Bein!« jammert Colombine. »Die Schuhe her!« kommandiert er; weinend bringt ihm Colombine die Schuhe, hilft ihm in den pfirsichfarbenen Rock. Dann geht er, auf Colombinens Arm gestützt, humpelnd zum Theater. Unterwegs begegnen ihnen die Theaterbesucher; stumm zeigt er auf die Leute, endlich sagt er: »Es wird ein volles Haus, es ist aber auch eine Glanzrolle für mich.«

Der Vorhang geht hoch, das Haus ist besetzt bis auf den letzten Platz. Das Schauspiel beginnt, die Verwicklungen folgen, es naht der Höhepunkt, Cassander erhebt sich, auf seinen Stock gestützt, und sagt: »Meine Herrschaften, gehen wir zu Tische.« Tosender Beifall, die Galerie rast. Majestätisch sieht sich Cassander im Theater um, geht dann langsam humpelnd durch die Kulisse ab.

Ächzend faßt er den Arm des Inspizienten; der Inspizient sieht ihm ins Gesicht, erschrickt; da fühlt er auch schon die Last des schwerer werdenden Körpers. Vorsichtig legt er den Ohnmächtigen auf den Boden, winkt einen unbeschäftigten Schauspieler [12] herbei; es wird ein Wagen geholt, Cassander hineingelegt und in die Klinik gefahren. Eben ist das Theater aus, als der Wagen abrollt, die Leute strömen aus dem Tor. »Nein, dieser Cassander, wie er heute wieder die paar Worte sagte!« ruft Einer aus; dem ohnmächtigen Cassander fliegt ein glückliches Lächeln über das Gesicht.

Der Arzt in der Klinik macht eine sehr ernste Miene, als er das dunkel gefärbte, geschwollene Bein sieht. Schnell wird Cassander entkleidet, auf dem Operationstisch festgeschnallt ...

Nach einigen Stunden darf Colombine ihren Vater besuchen. Er liegt in einem freundlichen Stübchen, in einem weißen, sauberen Bett. Wie sie eingetreten ist und die Tür hinter sich zugezogen hat, sieht er sie lange an, dann schlägt er die Bettdecke zurück, das Bein ist abgeschnitten. Laut jammernd sinkt Colombine neben dem Bett in die Kniee. »Auf dem Felde der Ehre«, sagt mit dumpfer Stimme Cassander.

Eine lange Weile schluchzt Colombine. Endlich hört sie ihren Vater wieder sprechen: »Der Schauspieler Cassander ist gestorben, von heute an lebt nur noch der Dichter Cassander.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Ernst, Paul. Erzählungen. Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Cassander. Cassander. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A236-5