Joseph von Eichendorff
Geschichte der poetischen
Literatur Deutschlands

Erster Teil

Einleitung

Die deutsche Nation ist die gründlichste, innerlichste, folglich auch beschaulichste unter den europäischen Nationen, mehr ein Volk der Gedanken als der Tat. Wenn aber die Tat nichts ist ohne den zeugenden Gedanken und nur erst durch den Gedanken ihre welthistorische Bedeutung erhält, so dürfen wir wohl sagen, daß diese beschauliche Nation dennoch eigentlich die Weltgeschichte gemacht hat. Dieser Hang, die Dinge in ihrer ganzen Tiefe zu nehmen, scheint von jeher der eigentümliche Beruf der germanischen Stämme zu sein. An ihrem tiefen Freiheitsgefühl ist das römische Weltreich, in welchem die andern mehr oder minder aufgingen, einst zusammengebrochen. Die germanischen Völker waren es, die das Christentum, da es unter den Byzantinern kränkelnd zu Hofe ging, zuerst in seiner vollen Würde erkannten und ihm seine weltgeschichtliche Wirksamkeit gaben. In den Kreuzzügen waren allerdings die Franzosen und Engländer weit voraus, aber die Deutschen, als sie endlich dem allgemeinen Zuge folgten, bewahrten diesen Kämpfen, die bei jenen immer politischer wurden, am getreuesten ihren ursprünglichen religiösen Charakter. Die Minnehöfe blühten in Deutschland weniger, aber ihre Minne war ernster und keuscher als an den welschen Minnehöfen. So hat diese Nation später sich ihre eigentliche ideale Waffe, die Buchdruckerkunst, selbst erdacht, sie hat das Pulver erfunden, womit dann die Franzosen ihre schönsten Burgen sprengten, sie hat endlich die Reformation erzeugt und das neue Weltkind in ihrem eigenen Herzblut ausgebadet. Die Idee ist ihr Schwert, die Literatur ihr Schlachtfeld.

Ideen lassen sich aber nicht in Provinzen einfangen und begrenzen, sie sind ein Gemeingut der Menschheit und greifen über die einzelnen Nationen hinaus. Daher hat das deutsche [529] Volk auch, auf Unkosten seines Patriotismus und Nationalgefühls, einen beständigen Zug nach dem Weltbürgertum verspürt. Sehr begreiflich; wir wollen die ganze Wahrheit und finden sie natürlicherweise weder bei uns noch bei unseren Stammesverwandten genügend ausgeprägt, wir greifen daher, wo irgend ein Lichtblick aufleuchtet, in die Vergangenheit, in die Fremde, und lassen diese ebenso bald wieder fallen, wenn wir uns getäuscht oder noch immer nicht vollkommen befriediget sehen. Darüber gehen freilich oft ganze Generationen in täppischer und lächerlicher Nachäfferei zugrunde, wie die Geschichte unserer Poesie, die bald mit der römischen Toga, bald in rasselndem Ritterharnisch, dann wieder in arkadischer Schäfertracht oder mit Haarbeutel und Stahldegen einherschritt, hinreichend nachweist. Aber wer frägt bei Eroberungszügen und Weltschlachten nach dem verlorenen Pulverfutter? Aus jeder dieser Invasionen ins Ausland und in die verschiedensten Zeiten ist uns doch immer irgendeine Beute geblieben, und so haben wir ohne Zweifel in Kunst und Wissenschaft nach und nach einen weitschichtigen Besitz und eine universelle Umschau erfochten, wie keines der mitlebenden Völker. Wir sind die geistigen Erben fast aller gebildeten Nationen.

Jener Grundzug des deutschen Charakters, die Beschaulichkeit und der Ernst, der uns alles zu durchforschen und zu prüfen nötiget, bedingt indes gleichzeitig auch den Trieb, aus der allgemeinen Rundschau immer wieder in uns selbst heimzukehren, das Errungene innerlich zu verarbeiten und die eigene besondere Natur möglichst eigentümlich auszuprägen. Und diese einsiedlerisch individualisierende Eigentümlichkeit führt, wie bei den einzelnen Stämmen, so auch in den geistig bevorzugten Persönlichkeiten, notwendig zu der größten Mannigfaltigkeit. In Frankreich hat die dynastische Politik den freien Adel zu Hofe gezähmt und die Physiognomie der Provinzen verwischt, in England die Reformation fast alles uniformiert. In Deutschland dagegen geht jene Sonderbündlerei durch die ganze Geschichte. Vom Uranfang an sitzen die alten Sassen ein, jeder für sich auf seinem Hofe ohne Städte, im Mittelalter gruppieren sich zahllose Kleinstaaten, wie Planeten mit eigenem Licht und Kreislauf, um die Zentralsonne des Kaisers. Welcher Reichtum der verschiedensten Bildungen vom kaiserlichen Hoflager durch die vielen kleinen Residenzen bis zur einfachen Ritterburg hinab; dann das bunte Leben der Reichsstädte und [530] endlich die noch fortdauernde Mischung von Katholisch und Protestantisch! Es ist natürlich, diese Mannigfaltigkeit mußte auch in unserer Literatur, namentlich in der Poesie, sich abspiegeln, und nicht nur in dem sehr verschiedenen Klange des Volksliedes in Pommern, Tirol, Westfalen oder Österreich, sondern auch bei den Heroen unserer Literatur. Oder wo wäre bei uns jene stereotype Familienähnlichkeit der einzelnen Dichter, wie wir sie bei den französischen Klassikern finden? Man denke nur z.B. an Lessing und Klopstock, an Goethe und Schiller! Jeder zieht, unbekümmert um den andern, mit seiner scharfen Eigentümlichkeit aus, um sich eine neue Welt zu erobern. Da gibt es denn freilich auch tüchtige Wunden und Scharten, und es fehlt niemals an dem Troß gemeiner Landsknechte, die nicht für die beste Sache, sondern um den besten Lohn an Geld oder Weltlob mitfechten wollen und alles möglichst verwirren. Wir streifen sonach allerdings fast beständig an die Grenzen der Anarchie. Aber im großen ganzen ist es doch immerhin ein frischer Wellenschlag, wenn auch die siebente Welle sich immer wieder rückwärts überstürzt; ein unausgesetzter herzhafter Kampf, der uns einerseits vor Stagnation und anderseits vor dem Geistesdespotismus einer Pariser Hauptstadt bewahrt, denn welcher Tyrann wäre mächtig genug, so viele absonderlich formierte Köpfe und Querköpfe unter einen Hut zu bringen? Nirgends hat daher, etwa Spanien ausgenommen, das volkstümliche Element so dauernd und tapfer mit der Kunstdichtung der Gelehrten, die Gelehrtenpoesie dann ihrerseits wieder mit der Kirche, die Romantik mit dem unpoetischen Verstande gerungen wie in Deutschland, wo der ganze Boden mit den Trümmern der wechselnden Niederlagen bedeckt ist und die Geister der Erschlagenen und die versprengten Troßbuben noch beständig mitten unter den Siegern umherirren, die bald selbst wieder die Besiegten sein werden.

Bei dieser Universalität und individuellen Mannigfaltigkeit unserer Literatur ist es denn nicht zu verwundern, wenn dieselbe im Verlauf der Jahrhunderte jetzt endlich zu einer Masse herangewachsen ist, die sich kaum mehr bewältigen läßt. Es ist wie im Meere, auf dem die konträrsten Winde sich so ungestüm kreuzen, daß man schon einigermaßen des Steuers mächtig sein muß, um nicht schmählich unterzugehen oder von den regelmäßig streichenden Passatwinden und Strömungen verjährter Vorurteile nach ganz verkehrter Richtung verschlagen zu [531] werden. Nur wenige aber haben in dieser industrieseligen Zeit, wo nur Kauffahrer vom Butter- zum Käsemarkt zu segeln pflegen, Lust und Gelegenheit, sich in dem Pilotenhandwerk auf solchem Geisterschiffe einzuüben. Und doch verlangt jeder Gebildete billigerweise wenigstens einige Kenntnis dieses wichtigen Zweiges der Nationalgeschichte. Das Material ist allerdings mit lobenswertem Fleiße bereits hinreichend zusammengetragen, aber großenteils noch ungeordnet oder, was noch schlimmer, nach jenem windigen Passatsystem willkürlich, oft gradezu falsch registriert. Es scheint uns daher jetzt vorzugsweise auf eine bloße Orientierung, d.h. darauf anzukommen, aus der Masse die hervorragendsten Momente, die dem Ganzen Farbe und Gestalt geben, hervorzuheben und auf diese Weise aus jenem Material ein klares organisches Bild möglichst herauszuarbeiten. Nur von den einsamen Höhen gewinnt man einen freien Blick über die labyrinthische Landschaft, in welcher man unten sonst den Wald vor Bäumen nicht sieht.

Indem wir jedoch aus dem ungeheuern Vorrat hier vorweg die Poesie ausscheiden, haben wir gleichwohl dadurch nur wenig gewonnen. Denn diese Beschränkung ist eigentlich nur eine scheinbare. Wir haben schon oben bemerkt, daß das Leben der Deutschen am entschiedensten durch die Literatur und ihre Literatur wiederum vorzugsweise durch die Poesie vertreten wird. Unsere Poesie aber ist kein bloßer Luxus, keine isolierte Kunstfertigkeit zum Nutzen und Vergnügen des müßigen Publikums; sie hat, mehr als bei andern, ihre innere Notwendigkeit in dem allgemeinen Organismus der Nationalbildung. Sie ist daher so mannigfaltig wie diese Bildung selbst, und ihr Einzelnes wird nur aus dem Ganzen verständlich. Ein Blick in die Vergangenheit läßt diesen beständigen Parallelismus zwischen der Poesie und den übrigen Zweigen der Literatur deutlich erkennen.

Ziehen wir, wie billig, zunächst die Philosophie in Betracht, so sehen wir zwei aus den Trümmern des Altertums hervorgegangene Hauptströme das ganze Mittelalter durchziehen, die Philosophie des Aristoteles und die des Plato. Die Aristotelische suchte die Fülle der Erscheinungen und Erfahrungen zu begreifen und zu ordnen, sie war mehr ein Schematismus der Wissenschaften als eine Wissenschaft. Die Platonische dagegen ging, nicht ohne christliche Ahnungen, tiefer auf den Urquell aller Wissenschaft, auf eine allen Erscheinungen zugrunde liegende [532] göttliche Weltseele. Jene entsprach mehr dem Verstande, diese mehr der Phantasie und dem Gefühl; beide zusammen umfaßten also so ziemlich das ganze intellektuelle Gebiet der menschlichen Natur. Beide aber waren im Mittelalter teils durch orientalische Umdeutungen, teils durch das Bestreben, sie mit dem Christentum und der durch dasselbe veränderten Weltansicht zu vermitteln, mannigfach alteriert, verstümmelt und fast sagenhaft geworden. – Später, nachdem die Welt gealtert, gewann indes der Verstand allmählich immer mehr die Oberhand, und es entstand namentlich in Deutschland eine Art mathematischer Philosophie.Leibniz zeichnete mit seinem System angeborener Ideen einen abstrakten Grundriß des Verstandes, dessen Linien und Konturen von dem bei solcher Prädestination vorweg gebundenen inneren Walten des Geistes nicht belebt werden konnte, während er ebenso mechanisch auch in Raum und Zeit nur die Ordnung der nebeneinander bestehenden oder aufeinander folgenden Dinge erkannte. Wolff führte diese Lehre in die Schule ein, wodurch sie bald in ein totes Formelwesen ausartete und die Lichtblicke ohne weitere Folge blieben, womit Leibniz, den Herder einen Dichter in Philosophie und Mathematik nennt, in seiner fragmentarisch-divinatorischen Natur beständig über sein eigenes System hinauslangt. – Kein Wunder daher, daß durch diese Bresche nun in Deutschland die Philosophie des Auslandes immer siegreicher eindrang. In Frankreich hatte es Descartes unternommen, die Entstehung der Welt, wie ein sich selbst fabrizierendes Uhrwerk, aus hypothetischen Wirbeln zu erklären und das Dasein Gottes streng mathematisch aus der menschlichen Vernunft zu erweisen, also gewissermaßen den Schöpfer zum Geschöpf des Erschaffenen zu machen. Vergebens suchte der Engländer Locke mit dieser Philosophie der Sinnlichkeit noch den Glauben an eine Gottheit zu vereinigen; der einmal emanzipierte Menschengeist, da dergleichen Palliative nicht genügen konnten, stürmte von Zweifel zu Zweifel bis zum nackten Atheismus fort, den Voltaire und Diderot für die Gebildeten salonmäßig zu bekleiden bemüht waren. Diese flache Freidenkerei scheuchte Lessing mitten unter seinen kritischen und theatralischen Jugendarbeiten zu einem verzweifelten Kampfe auf Tod oder Leben auf. Mit fast verwegener Kühnheit stellte er die Sache auf die äußerste Spitze aller ihrer Konsequenzen, von wo sich plötzlich der unverschleierte Blick in den gähnenden [533] Abgrund auftut, um die Welt zur endlichen Wahl und Entscheidung zu nötigen, entweder über die Kluft, wenn sie's vermöchte, hinwegzusetzen oder resolut umzukehren. Aber die Welt tat weder das eine noch das andere, akzeptierte jene Konsequenzen als eine neue, willkommene Eroberung und jubelte nur um desto selbstgefälliger am Rande des Abgrundes fort, ohne ihn zu merken.

In diesem Heidenlärm des eingebildeten Fortschritts erscheint Kant gewissermaßen als ein Reaktionär, indem er die übermütig gewordene Vernunft lediglich auf das Gebiet der Erfahrung zurückweist und jenseits dieses Gebiets ihr die Fähigkeit zur Erkenntnis der übersinnlichen Welt abspricht. Es ist weder unseres Berufs noch der Ort hier, näher zu erörtern, wie Kant dennoch einen sogenannten Vernunftglauben statuiert und also mit seinem eignen System in Widerspruch gerät. Wir wollen, unserer eigentlichen Aufgabe gemäß, hier nur erwähnen, daß er von der tieferen Bedeutung der Poesie kaum eine Ahnung hatte, da er dieselbe im Grunde für ein bloßes Zerstreuungsmittel hielt und sie daher auf das Prokrustesbett seiner rigoristischen Begriffsmoral strecken wollte, weshalb denn auch in einer Zeit, wo schon Klopstock, Goethe und Herder blühten, Pope und Haller seine Lieblingsdichter waren. – Aber sehr bald wurden die Schranken, in die Kant die Vernunft eingehegt, von Fichte gewaltsam wieder durchbrochen. Fichte wollte jenseits des Kantschen bedingten Wissens eine unbedingte Denkfreiheit geltend machen, er unternahm es wirklich, über den Abgrund, den Lessing aufgetan, hinwegzusetzen, das Prinzip des Protestantismus in seiner ganzen Strenge als souveränes Ich über die Welt auf die letzten unwirtbaren Gipfel des Idealismus emporzuheben, und es ist jedenfalls ein denkwürdiger Anblick, mit welcher athletischen Kraft er mit dieser an sich unmöglichen Aufgabe gerungen. Dieses Extrem konnte indes keinen Bestand haben. Schelling suchte daher, wie schon die Bezeichnung seiner Lehre als »Naturphilosophie« andeutet, das die Natur und Geschichte verschmähende, unbedingte Wissen mit dem bedingten der äußern Wahrnehmung zu vermitteln und den geheimnisvollen Goldgrund, den Schimmer Gottes, der alle Erscheinungen durchleuchtet, in wesentlich Platonischer Anschauung nachzuweisen.

Zu allen diesen philosophischen Evolutionen nun stand unsere Poesie beständig in einem wahlverwandtschaftlichen [534] Verhältnis, entweder auf ihren besondern Wegen nachfolgend oder als Divination, Ahnung, Aperçu, gleichsam prophetisch ankündigend. So sehen wir sie schon im Mittelalter in jene zwei Hauptstrahlen der vom Altertum ererbten Philosophie sich spalten. Der Geist des Aristoteles zeigt sich in einer oft ganz trockenen scholastischen Richtung, die, wo sie namentlich dogmatische Gegenstände berührt, nicht selten sogar ans Sophistische streift; er zeigt sich in der haarspaltenden Kasuistik des überkünstlichen Minnegesangs und scheint in der dialektischen Verstandespoesie des berühmten Wartburgkriegs die Hauptrolle gespielt zu haben. Bei weitem gewaltiger und tiefer dagegen geht die andere, Platonische Anschauungsweise durch die größern und bedeutenderen Dichtungen des Mittelalters in der mystisch-allegorischen Symbolik, womit damals Geschichte und Sage z.B. in den Gedichten von König Artus' Tafelrunde und dem Heiligen Gral aufgefaßt wurden. – Als so dann die mathematische Philosophie aufkam, ward auch sofort der freie Dichterwald zu einem wunderlichen französischen Garten mit geometrisch abgezirkelten Bäumen, Alleen und Scherbenbeeten verschnitten, wo die Musen in Reifröcken die ungezogene Natur bewachten, ja unter dem spärlichen Blumenflor sogar einzelne Gedichte vermittelst künstlicher Gruppierung von kurzen und langen Versen allerlei allegorische Figuren, als: Palmbäume, Tempel usw., abbilden sollten. – Der Herrschaft von Descartes und Locke aber, die durch das Medium des Materialismus notwendig zu einer epikureischen Auflösung führte und die wir daher als die Philosophie der Sinnlichkeit bezeichneten, entsprach ebenso eine Poesie der Sinnlichkeit. Jene Philosophie ist zwar glücklicherweise in Deutschland niemals allgemein geworden; dennoch tauchen auch bei uns vereinzelte Symptome derselben auf, in einem völlig dissoluten, atheistischen und sittenlosen »Seelenpriapismus«, einem Naturdienst, welcher Wollust und Andacht als Schwesterkinder poetisch feiert. Wir erinnern hier nur an Mauvillons Freundeskreis, der fanatisch gegen alle und jede Religion gerichtet war; an Unzer, an Heinses Jugendschriften, an den Freiherrn von der Goltz und dessen Gedichte in Grécourts Geschmacke.

Bald darauf übte die Kantsche Philosophie einen unverkennbar deprimierenden Einfluß auf die deutsche Dichtung. Es konnte auch füglich nicht anders sein. Indem diese Lehre die Poeten an der Schwelle des Allerheiligsten von der Erkenntnis [535] Gottes und der überirdischen Dinge zurückwies, verwandelte sie notwendig die Religion in bloße Moral, welche, so isoliert vom Glauben und dem lebendigen Zusammenhange mit den göttlichen Dingen, zu einem abstrakten Tugend-Stoizismus erstarrte. Und diese abstrakte Moral sehen wir denn bei Kosegarten idyllisch schwärmen, in Tiedges Urania vornehm vom Katheder dozieren und mit Schillers Marquis Posa die Bretter betreten, um endlich in zahllosen pragmatisch-psychologischen Romanen und bürgerlichen Schauspielen ziemlich seicht wieder zu verlaufen. Es ist daher ebenso natürlich als charakteristisch, daß, mit Ausnahme von Schiller, alle bedeutenden Dichter jener Zeit, Herder, Goethe und Jean Paul, entschiedene, zum Teil erbitterte Gegner Kants waren, und Schiller selbst wurde durch seine fast leidenschaftliche Teilnahme für Kant ohne Zweifel in seiner poetischen Produktion mehr aufgehalten als gefördert. – Inzwischen hatte schon früher eine ungestüme, philosophisch exaltierte Jugend voraneilend die extreme Lehre poetisch angekündigt, welche sodann von Fichte wissenschaftlich formuliert werden sollte. Wir meinen die Sturm- und Drangperiode der Originalgenies und Starkgeister in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: das leibhaftige absolute Ich, das in seinen Gedichten, Romanen und Schauspielen die ganze Vergangenheit ausstrich und die Weltgeschichte von vorn anfangend aus eigner Machtvollkommenheit sich selber Moral, Sitte und Religion machen wollte. – Der Naturphilosophie endlich entsprach unsere neuere Romantik. Gleich jener Philosophie hat die Romantik aus dem beschränkten Erfahrungsgebiete Kants sowie von der stofflosen Luftspiegelung der Fichteschen Ichheit, kühner wie beide, wieder zu der innern Wahrnehmung des Übersinnlichen und der in der äußeren Welt waltenden ewigen Naturkraft sich zurückgewendet, sie ist aber auch sehr häufig der naheliegenden Gefahr dieser Philosophie, dem Irrtum einer phantasierenden Naturvergötterung, nicht entgangen. Novalis versuchte es, auf diesem Wege durch eine tiefsinnige Symbolik alles Lebens eine Weltwissenschaft poetisch darzustellen, während Werner in seinen frühesten Dramen in pantheistischer Leere abirrte. Am innigsten unter den Dichtern schließt sich wohl Goethe, ohne es zu wissen und zu wollen, der naturphilosophischen Anschauung an, indem er überall unbefangen und unmittelbar in das Leben greift und uns daher in den klar durchsichtigen äußeren Erscheinungen[536] mehr oder minder die verborgene Weltseele enthüllt, wenngleich er uns nirgends bis zu dem letzten wahren und eigentlichen Grund der Dinge blicken läßt. – Welchen Einfluß die Hegelsche Philosophie auf die Poesie ausübt, läßt sich jetzt noch kaum bestimmen, da sie ihren Kreislauf noch immer nicht abgeschlossen hat. Auffallen jedoch muß es, daß ihr die moderne Poesie des Hochmuts und des Hasses auf der Ferse gefolgt ist.

Gleich wie wir also eine philosophische Poesie besitzen, so haben wir auch eine philologische Poesie. Die Reformation hatte zum Behuf ihrer biblischen Kritik und Exegese die Philologie auf einmal aus der natürlichen bescheidenen Stellung verrückt, die sie im Mittelalter fortdauernd eingenommen. Die Philologie war das verzogene Kind der protestantischen Theologie und hat sich daher sehr bald völlig emanzipiert und aus einem bloßen Mittel höherer Bildung zum Zweck dieser Bildung gemacht. Sie ist ohne Zweifel der unentbehrliche Schlüssel zu den geistigen Schätzen des Altertums; aber ebenso gewiß ist es doch ein seltsamer Irrtum, den Schlüssel als die Hauptsache als den Schatz selbst, zu nehmen. Und das geschah in der Tat. Auf den protestantischen Schulen wurde nun namentlich auch die Poesie eine bloße Hülfswissenschaft der Philologie. Homer, Pindar, Sophokles und Virgil hatten nur gedichtet, um der Nachwelt die Regeln der alten Grammatik anschaulich zu machen, oder höchstens um den gelehrten Scharfsinn an neuen Konjekturen und Lesarten zu üben; die Schüler sollen lateinisch und griechisch dichten, ja antik denken und glauben lernen. Diese servile Nachahmung der Alten – welche, wie die damaligen Römer, alles für barbarisch erklärt, was nicht römisch oder griechisch ist – hat aber die moderne Barbarei herbeigeführt: die stupide Verachtung unseres Mittelalters und seiner großen Dichterwerke. Eine solche totale Rückwendung zum klassischen Altertum wird überall schulmäßig als notwendig und überaus heilsam gepriesen. Wir können beides, auf die Gefahr hin, verketzert zu werden, keineswegs so unbedingt zugeben. Notwendig allerdings war es nur für die Protestanten, weil sie mit dem Mittelalter gebrochen hatten und also gleichsam von vorn wieder anfangen und einen neuen Anknüpfungspunkt erst suchen mußten. Aber natürlicher und heilsamer wäre es gewesen, an den nationalen Bildungsgang anzuknüpfen, der durch den Dreißigjährigen Krieg zwar gestört, [537] aber durchaus nicht vernichtet war. Dies taten in Spanien Lope de Vega, in England Shakespeare, und als dort die neuern Poeten, hier Ben Jonson sich zu den Alten wandten, folgte hier und dort der Verfall der Poesie.

Und was war denn faktisch die hochgepriesene Wirkung für Deutschland? Zunächst jene lächerliche gelehrte Hofpoesie, die an die Stelle der vertriebenen Heiligen die heidnischen Götter mit Haarbeutel und Stahldegen setzte und ihren alleruntertänigsten Pegasus vor den Triumphwagen krähwinkliger Heroen und Mäzenaten spannte. Sodann das große Mißverständnis der Aristotelischen Poetik, das uns langehin zu ziemlich possierlichen Affen der französischen Bühnenregelmäßigkeit machte. Später dann wieder die sogenannte Poesie der Grazien, eine salondüftelnde Lebensweisheit und liederliche Leichtfertigkeit, welche wir füglich entbehren konnten. Und endlich durch die Gräkomanen eine Verrenkung und Verzerrung der Sprache, die mit Klopstocks Oden und Bardieten beginnt und bei Voß eine schreckenerregende Virtuosität erreicht; ja man kann in diesem Betracht gewissermaßen auch Platen noch zu den philologischen Dichtern rechnen.

Wir sind weit entfernt, die sonnenklare altklassische Schönheit und ihren wohltätigen Einfluß, namentlich in formaler Hinsicht, zu verkennen. Das gründlichere Studium des Altertums hat ohne Zweifel zur Bildung unserer Sprache, da sie eben in inneren und äußeren Kämpfen beispiellos verwildert war, wesentlich beigetragen und uns in einer engen philisterhaften Zeit den kräftigenden Blick auf eine größere, heroische Zeit wieder eröffnet. Aber ebenso entschieden müssen wir die Abgötterei anklagen, die mit dem Griechentum, als dem einzig Würdigen, getrieben wurde und uns ganz übersehen ließ, daß unsere eigene Sprache früher einen Wohllaut, eine Anmut und dichterische Kraft besaß, die der Entwickelung und Sorgfalt nicht weniger fähig und wert waren, sowie daß das Mittelalter uns noch häufigere und größere Vorbilder von Heldenmut, Freiheit und Tugend darbietet, deren moralische Gewalt über die jugendlichen Gemüter um so wirksamer sein mußte, da sie uns innerlich verwandt und verständlicher sind als die der alten Welt. Und so hat denn diese Altertümelei in der Tat großenteils den nationalen Quietismus verschuldet, der um Hekuba weint und für Glück und Unglück des deutschen Vaterlandes kein rechtes Herz hat. Das Große der alten Welt [538] ist das Reinmenschliche, das allen Völkern gemein ist, bei jedem Volke aber sich naturgemäß anders gestalten muß, um wirklich lebendig zu werden. Jedenfalls hat sonach durch jenes Sichversehen in das griechische Wesen unsere ganze Poesie etwas Fremdes, Gelehrtes und Irreligiöses erhalten, das sie unpopulär und zu einem bloßen Steckenpferde der sogenannten Gebildeten machte. Auch haben unsere größten Dichter, wie Goethe, Schiller und Tieck, jederzeit ein gut Teil Mittelalter sich reserviert, und namentlich Goethes bedeutendste Werke: Götz, Tasso und Faust, sind grade diejenigen, auf die das Altertum am wenigsten influiert hat.

Auch die wandelbaren Prinzipien der Erziehungslehre sind bei uns durch eine sehr mannigfaltige pädagogische Poesie vertreten. Der steifen Anstandsschule der guten alten Zeit, wo die Kinder nur frisiert und gepudert vor ihren Eltern erscheinen durften, entspricht genau die gleichzeitige mathematische Zopfpoesie, die das ganze Leben als eine feierliche Menuett mit geometrisch abgemeßnen Touren und symmetrischen Bücklingen auffaßte. Bald darauf folgte plötzlich Basedows Natursturm, eine Art Urwälderei und natürlicher Moral; jeder sollte, wie Kraut und Rüben, bloß aus einem angebornen Naturell herauswachsen und zu allgemeiner Nützlichkeit praktisch dressiert und verbraucht werden. Goethe hat diese Wirtschaft, wir wissen nicht recht, ob im Ernste oder ironisch, jedenfalls aber sehr treffend in der pädagogischen Provinz seiner Wanderjahre geschildert. Als poetisches Gegenbild aber erschienen nun sogleich zahllose rührende Romane von unübertrefflichen Wilden, es kam das Weib, wie es sein sollte, der Jüngling, der Gatte, die Köchin, wie sie sein sollten; ja selbst Ifflands Schauspiele gehören recht eigentlich hierher. Später jedoch hatten die Pädagogen sich ein Eldorado erdacht, zu dessen Eroberung die Jugend zurechtgemacht werden sollte. Sie sollte schlechterdings dereinst Kirche und Staat reformieren und hierzu frühzeitig heroisch gestimmt und gestählt werden; es wurde daher selbst das freie Spiel der Kinder als Turnkunst in ein spartanisches System gebracht und von der Kirche und Religion nur der Haß gegen das katholische Mittelalter beibehalten. Aber die geharnischten Jungen akzeptierten natürlicherweise das ihnen prädestinierte Heldentum vor der Tat; so entstand die Altklugheit, aus der Altklugheit der Dünkel und aus diesem die neueste politische Poesie, die grade die [539] Unreifsten beschäftigt und begeistert hat und im Grunde auch nur eine versifizierte Turnübung war; so wie denn überhaupt diese ganze, beständig wechselnde, pädagogische Poesie nur eine psychologische Experimentalpoesie ist und sein kann. – Neuerdings endlich scheint wieder eine ganz materielle Richtung vorzuwalten, eine allgemeine Realschule zu Erzielung einer industriellen Reichsritterschaft, wo der erfinderische Eigennutz die Heldenrolle übernommen hat und die Geldaristokratie, anstatt des alten Adels, in den dampfenden und klappernden Fabriken über ihre Leibeigenen ziemlich barbarisch verfügt. Hiermit aber hat die Poesie, als eine brotlose Kunst, gar nichts zu schaffen, gegen welche sich daher auch eine auffallende Gleichgültigkeit und Verachtung überall bemerkbar macht.


Vorstehende Skizze, die leicht noch ins Unendliche fortgeführt werden könnte, mag hinreichen, um die oben erwähnte große Mannigfaltigkeit unsrer poetischen Literatur anzudeuten. Sie zeigt aber auch, daß auf diesem vergleichenden Wege, anstatt eines geschlossenen Gesamtbildes dieser Literatur, vielmehr eben nur ihr Zerfall in sehr verschiedene verwandtschaftliche Gruppen klarzumachen ist. Es gibt bekanntlich mehrere Gesichtspunkte, unter welchen der Wert und die Gestaltung einer Literatur überhaupt sich auffassen läßt.

Der unfruchtbarste derselben ist wohl der ästhetische, die Beurteilung nämlich nach einer allgemeinen Theorie der Kunst. Eine poetische Zeit denkt nicht an ihre Schönheit, weil sie dieselbe von selbst besitzt, gleich wie ein Gesunder seine Gesundheit nicht merkt. Erst wenn die Schönheit abhanden gekommen, wird die verlorene absichtlich gesucht oder philosophisch konstruiert, und so entsteht die Ästhetik. Wir hatten allerdings zu jeder Zeit auch eine ästhetische, d.h. nach den eben gangbaren Schönheitsregeln gemachte Poesie. Aber jeder wahre Dichter hat, meist ohne es zu wissen, seine eigene Ästhetik. Jene allgemeinen Theorien sind begreiflicherweise einem beständigen Wechsel unterworfen und zu subjektiv, um als Norm zu gelten, und es wäre ebenso ungerecht als unhistorisch, irgendeine entferntere Periode der Poesie nach der gegenwärtig eben beliebten Theorie abschätzen zu wollen. Man denke hier z.B. nur an die unübersteigliche Kluft zwischen Gottscheds und Lessings Lehre, oder in neuerer Zeit auch [540] zwischen Jean Paul und Solger, von denen jeder in gewissem Sinne recht hat oder doch recht zu haben glaubte.

Ein anderes Verfahren ist das chronologisch-geographische, das wohl auch historisch genannt zu werden pflegt, indem hier die Literatur nach ein für allemal geschichtlich bestimmten Zeitabschnitten, die aber durch ganz andere Ereignisse bedingt sind, zurechtgelegt und innerhalb dieser Abschnitte wieder in eine sächsische, östreichische, schwäbische, niederrheinische usw. eingeteilt und durch Jahreszahlen möglichst genau begrenzt wird. Das gibt allerdings einen bequemen Schematismus für die Schule, allein die dadurch bezweckte Ordnung ist durchaus nur illusorisch. Das poetische Element geht wie ein Frühlingshauch durch die Luft über die Kalenderjahre und provinziellen Marken hinweg und hat seine eigenen imaginären Provinzen; die mühsam gezogenen Grenzen und Abschnitte greifen prophetisch, ergänzend oder verwirrend beständig ineinander, ja oft staut die leichtbewegliche Luftströmung weit zurück, um dann plötzlich wieder Jahrhunderte zu überspringen. Es herrscht also hier ein anderes geheimnisvolleres Gesetz als in der politischen Historie.

Tiefer schon greift der nationale Gesichtspunkt, die Würdigung nämlich einer Literatur nach ihrer Übereinstimmung mit dem Geiste der Nation, welcher sie angehört. Wir haben oben den deutschen Nationalgeist als einen vorzugsweise nach innen gewandten bezeichnet und als natürliche Folge davon die freie Ausbildung individueller Eigentümlichkeiten erkannt, woraus wieder die auffallende Mannigfaltigkeit unserer Literatur sich selbst erklärt. Und in diesem Sinne dürfen wir allerdings, wenn wir von weltlichen Interessen und untergeordneten Parteizwecken absehen, die deutsche Literatur unbedenklich eine nationale nennen. Die italienische Poesie ging schon sehr früh auf die Denkart und Kunstformen ihrer klassischen Vorzeit zurück, die aber, bei der seitdem durch das Christentum völlig veränderten Weltlage, nicht mehr wahrhaft national sein konnte; während in der englischen der Einfluß der heterogensten, einander oft gradezu widersprechenden Völkerelemente, mit einem Wort: die geistige Komposition eines Mischvolkes sich häufig fühlbar macht und bis heut noch nicht vollkommen beendigt und geschlossen scheint. Unter allen ist ohne Zweifel die spanische Poesie die nationalste; aber sie ist es auf eine ganz andere Weise als die unsere. In Spanien ist es [541] die Freude und begeisterte Verherrlichung einer durch Jahrhunderte erkämpften Errungenschaft von Religion, Ehre und Ritterlichkeit, welche ihr prächtiges, aber durchaus einförmiges Zauberlicht über alle Dichtungen und Dichter wirft, die sich daher nur durch die größere oder geringere Kunstvollendung voneinander unterscheiden. In Deutschland dagegen ist eben das Ringen selbst, der sich beständig erneuernde Kampf um jenes Eldorado, und, da jeder einsam für sich kämpft, die totale Verschiedenheit das Charakteristische und Nationale. Betrachten wir aber diesen Kampf genauer, so erkennen wir, daß derselbe, wie wir auch schon aus dem oben angedeuteten Zusammenhange der Dichtkunst mit der Philosophie ersehen, in seinem Grundzuge unausgesetzt grade de höchsten Gütern des Lebens, der Erkenntnis Gottes und der überirdischen Dinge gilt. Der durchgreifende Gesichtspunkt zur Beurteilung der deutschen Literatur, der hiernach zugleich auch den nationalen mit umfaßt, wird also nur der religiöse sein können.

Es geht durch alle Völker und Zeiten ein unabweisbares Gefühl von der Ungenüge des irdischen Daseins und daher das tiefe Bedürfnis, dasselbe an ein Höheres über diesem Leben, das Diesseits an ein Jenseits anzuknüpfen, Vergangenheit und Gegenwart beständig mit der geheimnisvollen Zukunft zu vermitteln. Und dieses Streben, durch welches alle Perfektibilität und der wahre Fortschritt des Menschengeschlechts bedingt wird, ist eben das Wesen der Religion. Wo aber dieses religiöse Gefühl wahrhaft lebendig ist, wird es sich nicht mit müßiger Sehnsucht begnügen, sondern in allen bedeutenderen Erscheinungen des Lebens sich abspiegeln; am entschiedensten in der Poesie, deren Aufgabe, wenngleich auf anderem Gebiet und mit anderen Mitteln, offenbar mit jenem Grundwesen der Religion zusammenfällt, also in ihrem Kern selbst religiös ist.

Und so ist denn auch in der Tat, genau genommen, die Geschichte der poetischen Literatur, dem Kreislaufe des Blutes vom und zum Herzen vergleichbar, eigentlich nichts anderes als das beständig pulsierende Entfernen und wieder Zurückkehren zu jenem religiösen Zentrum. Alle Revolutionen der Poesie sind durch die Religion gemacht worden. Schon im Altertum und namentlich bei dessen poetischstem Volke, den Griechen, ging die Poesie, da der alte Götterglaube, auf [542] dem sie ruhte, verloschen war und philosophisch umgedeutet wurde, von ihrer ursprünglichen strengen Größe zu skeptisch vermittelnder Weltlichkeit, von Äschylus zu Euripides über. Das Christentum sodann, die ganze Weltansicht verwandelnd und wunderbar vertiefend, schuf aus der anarchischen Verwirrung, welche dieser Geisterkatastrophe unmittelbar folgte, an die Stelle der alten Verherrlichung des Endlichen die romantische Poesie des Unendlichen. Späterhin war es abermals der auf demselben Gebiet durch die sogenannte Reformation herbeigeführte Umschwung, welcher unsere Poesie in eine völlig veränderte Bahn mit sich fortriß; und noch in neuester Zeit entstand aus der religiösen Reaktion gegen den Unglauben einer flachen Aufklärung die moderne Romantik, die noch bis heut nicht ganz verklungen ist.

Und das kann auch nicht anders sein. Denn was ist denn überhaupt die Poesie? Doch gewiß nicht bloße Schilderung oder Nachahmung der Gegenwart und Wirklichkeit. Ein solches Übermalen der Natur verwischt vielmehr ihre geheimnisvollen Züge, gleich wie ja auch ein Landschaftsbild nur dadurch zum Kunstwerke wird, daß es die Hieroglyphenschrift, gleichsam das Lied ohne Worte, und den Geisterblick fühlbar macht, womit die verborgene Schönheit jeder bestimmten Gegend zu uns reden möchte. Auch die noch so getreue Darstellung der Vergangenheit gibt an sich noch keine Poesie, wenn der historische Stoff nicht durch überirdische Schlaglichter belebt und gewissermaßen erst wunderbar gemacht wird; und jedenfalls wird sie stets an Genialität der wirklichen Geschichte weit nachstehen müssen, die der göttliche Meister nach ganz anderen ungeheueren Dimensionen und Grundrissen dichtet, wofür wir hienieden keinen Maßstab haben. Aber ebensowenig darf die Poesie auch anderseits eine unmittelbare Darstellung der übersinnlichen Welt unternehmen wollen; denn diese entzieht sich, wie der Abgrund des gestirnten Himmels in unbestimmte Lichtnebel zerfließend, in ihrer unermeßlichen Ferne und Höhe beständig der Kunst und ihren irdischen Organen; wie denn an dieser Aufgabe auch wirklich die größten Dichter, Milton, Klopstock u.a. gescheitert sind. Die Poesie ist demnach vielmehr nur die indirekte, d.h. sinnliche Darstellung des Ewigen und immer und überall Bedeutenden, welches auch jederzeit das Schöne ist, das verhüllt das Irdische durchschimmert. Dieses Ewige, Bedeutende ist aber eben die Religion [543] und das künstlerische Organ dafür das in der Menschenbrust unverwüstliche religiöse Gefühl.

Auch das hat die Poesie mit der Religion gemein, daß sie wie diese den ganzen Menschen, Gefühl, Phantasie und Verstand gleichmäßig in Anspruch nimmt. Denn das Gefühl ist hier nur die Wünschelrute, die wunderbar verschärfte Empfindung für die lebendigen Quellen, welche die geheimnisvolle Tiefe durchranken; die Phantasie ist die Zauberformel, um die erkannten Elementargeister heraufzubeschwören, während der vermittelnde und ordnende Verstand sie erst in die Formen der wirklichen Erscheinung festzubannen vermag. Ein so harmonisches Zusammenwirken finden wir bei allen großen Dichtern, bei Dante, Calderon, Shakespeare und Goethe, wie sehr auch sonst ihre Wege auseinandergehen. Der Unterschied besteht nur in dem Mehr oder Minder jener drei Grundkräfte. Wo aber dieser Dreiklang gestört und eine dieser Kräfte alleinherrschend wird, entsteht die Dissonanz, die Krankheit, die Karikatur. So entsteht die sentimentale, die phantastische und die Verstandespoesie, die eben bloße Symptome der Krankheit sind.

Es geht, wie durch die physische Welt, so auch durch das Reich der Geister, eine geheimnisvolle Zentripetal- und Zentrifugalkraft, ein beständiger Kampf zwischen himmlischer Ahnung und irdischer Schwere, welcher in dem großen Ringe, der die Geister wie die Planeten umfaßt, je nach den engeren oder weiteren Kreisen, die sie um den ewigen Mittelpunkt beschreiben, Licht oder Schatten, belebende Wärme oder erstarrende Kälte, sehr verschieden verteilt. Aber das, was in dem Sonnensystem als unvermeidliches Naturgesetz erscheint, ist im Geisterreich ein Akt der Freiheit, die Notwendigkeit dort wird hier durch freie Wahl zur Tugend oder Sünde, je nachdem die natürliche Harmonie bewahrt oder willkürlich gebrochen wird. Wir scheuen uns daher nicht, diesen höchsten Maßstab alles Lebens auch an die bedeutendste Manifestation des Geisterreichs, an die Literatur, anzulegen. Und diesen großen Weltgang, namentlich in den einzelnen Zweigen und Evolutionen unserer Poesie, näher nachzuweisen, ist eben die Aufgabe, die wir nachstehend zu lösen versuchen wollen, auf die Gefahr hin, daß dann vielleicht manches Hochgepriesene klein, manches Geringgeachtete groß erscheinen dürfte.

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Schließlich nur noch die Bemerkung, daß wir in dem Abschnitt von der neueren Romantik den Inhalt unserer früheren Schrift über denselben Gegenstand mit wenigen Zusätzen wieder aufgenommen haben, weil dieses Werkchen im Buchhandel vergriffen ist, weil unsere dort ausgesprochenen Ansichten und Überzeugungen seitdem unverändert geblieben sind, und weil es hiernach jedenfalls eine ebenso unnütze als unerträgliche Arbeit wäre, dasselbe mit anderen Worten sagen zu wollen.

1. Das alte nationale Heidentum
I
Das alte nationale Heidentum

Es geht in der alten Geschichte eine noch nicht ganz überwundene Fabel um, die Meinung nämlich, daß die Deutschen, als sie in die Weltgeschichte eintraten, noch Wilde waren, die, etwa wie die Irokesen, Botokuden und andere Menschenfresser, in ihren Urwäldern in Erdhöhlen hausten und ihren Gesang dem Zwitschern der Vögel oder dem Geheul der Wölfe ablernten. Eine Tradition, die von den Künstlern bis in die neueste Zeit fortgepflanzt wurde, indem sie in den illustrierten Geschichtshandbüchern unsere Vorfahren als leibhaftige Bärenhäuter darzustellen pflegen. Und allerdings scheinen auch vielfache Nachrichten von damaligen Schriftstellern diese Ansicht zu bestätigen. Da ist meistenteils von nichts anderem als von undurchdringlichen Sümpfen, Auerochsen und Barbaren die Rede, und noch Julian, der Apostat, berichtet, daß ihm die Volkslieder der Deutschen am Rhein wie das Gekrächz schreiender Raubvögel geklungen.

Allein einmal ist es schon an sich eine historische Unmöglichkeit, daß solche Wilde dem Stoße der römischen Zivilisation dauernd widerstehen, ja endlich gar die in allen Kriegskünsten weit überlegene Macht der Römer brechen konnten. Die Roheit ist niemals eine Weltkraft; die Geschichte aller Zeiten lehrt das grade Gegenteil. Die Kelten in Gallien und Spanien mußten damals in der römischen Bildung aufgehen oder sich vor ihr in die unzugänglichsten Gebirge flüchten, und noch neuerdings hat die europäische Zivilisation die wilden Ureinwohner Amerikas fast spurlos vernichtet. Sodann darf man auch nicht vergessen, daß wir jene alte Zeit nur im römischen Spiegel erblicken, der aber damals schon zu künstlich [545] geschliffen war, um so ganz fremde Zustände rein und einfach zu reflektieren; abgesehen davon, daß überdies die Römer eigentlich nur die Grenzvölker kannten, die, beständig im Feldlager und gerüstet gegen ihren Erbfeind, notwendig ein wilderes und ungeregelteres Aussehn haben mußten als das unberührte Wesen im Innern und Norden Deutschlands.

Demungeachtet waren die Römer ein viel zu praktisches und welterfahrenes Volk, um nicht das Großartige des deutschen Wesens zu empfinden und über den totalen Gegensatz zu erstaunen, in welchem dasselbe zu der übrigen alten Welt gestanden. Und wir können dieses Erstaunen nur teilen, wenn wir aus den wenigen bis auf uns gekommenen Zügen jener Zeit in der Tat schon die Physiognomie und sittliche Grundlage des Rittertums erkennen, das nachher, als es durch das Christentum erst seine Weihe und rechte Bedeutung erhalten, ganz Europa regenerieren sollte.

Es ist zunächst der erfrischende Hauch eines unverwüstlichen Freiheitsgefühles, der uns aus jener schönen Waldeinsamkeit entgegenweht. Zwar bestand eine Gliederung jedes Stammes in Adel, Freie und Dienstmannen unter einem erblichen Fürsten oder Könige. Aber wie der wahrhaft Freie überall die Freiheit ehrt, so waren auch die Dienstmannen weder Leibeigene noch Sklaven im römischen Sinne; der Adel hatte größtenteils nur Ehrenrechte, und die Gewalt des Fürsten war sehr beschränkt, da ihm das wirksamste und gefährlichste Organ derselben, das Recht des Blutbanns und des Heerbanns fehlte. Denn der Krieg wurde vom versammelten Volk und Adel beschlossen und bei dessen Ausbruch jedesmal ein besonderer Heerführer (Herzog) erwählt, und ebenso durften Todesurteile nur von einem gleichfalls von Volk und Adel gewählten Priester der Nation gesprochen und festgesetzt werden. Überdies hatte jeder Freie das Recht, in den allgemeinen Volksversammlungen bewaffnet zu beraten. Jeder also fühlte sich als ein lebendiges Glied des Ganzen, und die ganze Nation war ein zu Schutz und Kampf bereites Heer von Wehrmannen (Germanen), die jederzeit den Tod unbedenklich einer schimpflichen Gefangenschaft vorzogen.

Damit jedoch diese höchste persönliche Freiheit nicht in Willkür auseinanderfallend sich selbst vernichte, vereinigten sich, namentlich in Zeiten der Gefahr, mehrere Stämme zu einem nationalen Völkerbunde, dessen Verletzung, als das [546] einzige Kapitalverbrechen, mit dem Tode, sowie Feigherzigkeit im Kriege mit der Acht bestraft wurde. Innerhalb dieser größeren Kreise aber bildeten sich jederzeit wieder eigentümliche Waffenfreundschaften, indem einzelne Kampflustige einem durch Macht oder Heldenruhm hervorragenden Führer als freie Gehülfen sich anschlossen und von ihm dann mit erobertem Lande beteilt zu werden pflegten. Nur muß man sich hüten, dabei etwa an die späteren Karikaturen dieser Zustände, an Condottieri und Landsknechte zu denken, die nur dem wechselnden Glück und höherem Solde folgten. Hier handelte es sich nicht um materielle Interessen, sondern um ein persönlich moralisches Band, das keine irdische Macht zu lösen vermochte, um eine Waffenbrüderschaft auf Sieg oder Tod; und es war eine unauslöschliche Schande ebenso für das Gefolge, den Waffenherrn zu überleben, wie für diesen, seine Edeldiener jemals zu verlassen. Wir erblicken also hier schon die ersten Lineamente der nachherigen Lehensverfassung, oder vielmehr deren eigentliche Bedeutung und sittlichen Grund: die Tugend aufopfernder Treue, die bei uns sprichwörtlich geworden und einen wesentlichen Charakterzug des deutschen Mittelalters bildet. Wie in den Einrichtungen des Lebens daher spiegelt auch schon in unseren ältesten Heldengedichten diese unerschütterliche Treue sich ab und führt, namentlich im Nibelungenliede, die tragische Katastrophe herbei, indem der grimme Hagen aus Treue gegen seine Königin Brunhild den Siegfried erschlägt und dann mit seinen Herren unbedenklich nach dem Hunnenlande in den sicher vorausgesehenen Tod geht; während dagegen die Burgunderkönige lieber Leben und Land lassen, als ihre Freiheit durch die verlangte Auslieferung des getreuen Hagen zu erkaufen.

Wir erwähnten schon oben, daß der Vorrang des Adels mehr sittlicher als materieller Art war. Er scheint, außer dem Recht des ersten Vorschlages auf den Bundesversammlungen, vorzüglich in dem stets höher geachteten Kriegsdienst zu Pferde bestanden zu haben. Vor allem aber in der historischen Erinnerung an die Taten der Vorfahren, in einem traditionellen Heldenruhm des Geschlechts, den zu behaupten und zu vermehren der Stolz der Nachkommen war. Ebenso wurde in Kriegszeiten der Herzog, wie Tacitus ausdrücklich sagt, nicht nach Geburt, sondern nach Verdienst gewählt. Endlich war auch jeder Freie in persönlichen Dingen selbständig auf sein [547] eigen Schwert gewiesen; er hatte das Recht der Selbsthülfe gegen jeden einzelnen Beleidiger, ja, in äußersten Fällen sogar die Pflicht der Blutrache. Und so entwickelte sich schon so frühe ein anderes charakteristisches Element des Rittertums: der wunderbare Geist der Ehre, jene erhabene Gesinnung, die, wie ein weltliches Gewissen über alle materiellen Rücksichten hinausgehend, die rohe Kraft bändiget und im Bunde mit der Religion die Nationen groß macht.

Am folgenreichsten aber vielleicht für alle künftigen Zeiten hat sich wohl die hohe Stellung erwiesen, welche die Frauen bei den Germanen einnahmen, während sie bei den andern alten Völkern zu dumpfer Sklaverei herabgewürdiget oder höchstens, wie in Rom und Griechenland, als pikanter Zeitvertreib und Zierat des souveränen Männerlebens geduldet wurden. Bei den Germanen dagegen war die Strenge und Innigkeit der nach freier Wahl und Neigung geschlossenen Ehen ein Gegenstand allgemeiner Verwunderung der Römer, und wir sehen die Frauen überall an Kampf, Not und Freude der Männer tröstend, hülfereich und erfrischend teilnehmen. Daher bestand, wenigstens bei den adligen Geschlechtern, die Morgengabe der Frau in Schlachtroß, Schild und Waffe. Denn die Frauen folgten dem Heere in den Krieg, die Verwundeten pflegend und nicht selten durch ihren beseelenden Mut die wankende Schlacht wendend, oder, wenn alles verloren schien, sich selbst einem freiwilligen Tode weihend. So ergänzten sich fortdauernd beide Geschlechter, Kraft und Milde. Und nur aus solcher wechselseitigen Achtung konnte die Macht geistiger Liebe hervorgehen, deren Glanz das ritterliche Mittelalter so wunderbar beleuchtet und die das Christentum als ebenbürtig anerkannt hat.

Man sagt, der allgemeine Schönheitssinn der Griechen sei vorzüglich durch den täglichen Anblick der Tempel und Kunstwerke auf allen öffentlichen Plätzen geweckt und genährt worden. Mit noch größerem Rechte darf man behaupten, daß die ernste und strenge Schönheit unserer Heimat einen ähnlichen Zauber auf ihre Bewohner ausgeübt hat; dieses von Gebirgen, kräftigen Strömen und grünen Tälern durchzogene Land mit seinen Felsentrümmern und geheimnisvollem Quellenrauschen, wo, nach der Beschreibung des älteren Plinius, »tausendjährige Eichen mit gegeneinander strebenden, ineinander verschlungenen Wurzeln und Ästen, hohe Schwibbögen, [548] Gänge und Gestalten bilden, sonderbar ähnlich den kühnen Gebäuden der Menschenkunst, nur größer, lebendiger und freier, wie zu einem Riesentempel der Natur erhoben«. Daher bauten die germanischen Völker nur wenige Städte, sondern wählten ihren Wohnsitz, ohne Rücksicht auf gemeines Bedürfnis, am liebsten auf freien Höhen oder in einsamen Tälern. Daher das tiefe Naturgefühl, das in Deutschland alle Wandelungen der Jahrhunderte überlebt hat, und noch bis heut, wie ein erfrischender Waldeshauch, auch unsere Poesie, wenn wir etwa den wesentlich germanischen Shakespeare ausnehmen, von der Poesie aller anderen Nationen unterscheidet.


Wenden wir uns nun nach diesem kurzen Überblick des innern Lebens jener Zeit, die, wie wir gesehen, poetische Elemente genug aufzuweisen hat, zu ihrer Poesie selbst, so müssen wir uns abermals lediglich auf das Zeugnis der Römer verlassen. Diese römischen Nachrichten aber sind verworren, lückenhaft und durchaus unzureichend. Wir haben schon oben gelegentlich Julians verwerfendes Urteil über den deutschen Kriegsgesang vernommen; andere urteilen nicht günstiger und klagen besonders über die vermeintliche Härte und Ungeschlachtheit der germanischen Sprache. Nur Tacitus, dessen Tiefsinn und unbeugsame Wahrheitsliebe freilich alle andern überwiegt, spricht auch hier mit besonnener Anerkennung des deutschen Wesens. Er gedenkt ihrer begeisternden Schlachtgesänge, Götter- und Heldenlieder und rügt die vornehme Beschränktheit der Griechen, die nur das Ihrige kannten und schätzten und der Lieder von Hermanns Heldentaten nicht achteten, die noch damals durch alle deutschen Gauen erklungen.

Diese Rüge aber und der scheinbare Widerspruch jener alten Nachrichten erklärt sich einfach daraus, daß die Griechen und Römer dazumal nur eine bereits überfeinerte Kunstdichtung, die Deutschen nur eine Volkspoesie besaßen, welche zu allen Zeiten einander unverständlich und daher auch stets gegeneinander ungerecht sind. Eine eigentliche Volkspoesie in so umfassendem Sinne haben überhaupt die andern alten Völker niemals gehabt. Bei den Griechen durchzogen besondere, mehr oder minder geschulte Sänger das Land, und in ihrem Homer sind die alten Volkssagen bereits in eine sehr fühlbare Kunstdichtung verschmolzen, gleichwie auch unsere vaterländischen Sagen später in unserem Nibelungenepos zusammengefaßt [549] und zu ihrer jetzigen Gestalt verarbeitet wurden, als die Heldenlieder, die es enthält, nicht mehr lebendig von Mund zu Munde gingen. Bei den ältesten Römern dagegen gehörte die Poesie ganz und gar dem Gottesdienste an, und Vates war mit Dichter, Priester oder Seher, Carmen für Dichtung und jederlei gottesdienstliche Formel gleichbedeutend. Ebenso befand sich bei den Kelten, deren Gebräuche und Einrichtungen bisher mißverständlich den germanischen Völkern angefabelt worden, die Poesie ausschließlich in den Händen einer besonderen Künstlerklasse, der Barden, die nur das poetische Organ ihres Druidenordens war. Die Deutschen aber hatten weder Druiden noch Barden, d.h. weder eine erbliche Priesterkaste noch eine von den Priestern abhängige Dichterzunft. Ihre Dichterschule war das Leben und ihre Poesie die Freude und Seele dieses Lebens. Die Helden waren selbst die Dichter, sie taten, wie sie sangen, und sangen, was sie taten, allen gleich verständlich, weil in allen wesentlichen Lebensansichten noch ein gemeinsamer Geist die ganze Nation verband, die nicht in Herren und Sklaven, wie bei andern gleichzeitigen Völkern, und noch nicht wie bei uns in Gebildete und Pöbel zerfallen war. Daher sehen wir hier Fürsten und Mannen an der fröhlichen Sangeskunst gleichmäßig teilnehmen; der Held Horant betritt singend die Hallen der soeben von ihm eroberten Burg, Regner Lodbrog haucht im Gesange sein Leben aus, selbst der schon christliche König Alfred geht als Sänger verkleidet in das feindliche Dänenlager, und der Spielmann Volker im Nibelungenliede schwingt mit gleicher Gewalt den Fidelbogen wie das Schwert. Daher kreiste an den Königshöfen und in ihren Volksversammlungen die Harfe von Hand zu Hand, während die Zuhörer in den Gesang mit einstimmten, gleichsam wie der Chor der alten Tragödie in die besungene Handlung lebendig hineinrankend. Es war der Hauch nationaler Heldenerinnerungen, der durch die Wipfel dieses uralten Dichterwaldes in wunderbaren Liedern ging, von deren mächtigem Einfluß auf das ganze Leben die Römer voll Erstaunen erzählen.

Wollen wir uns aber das eigentliche Grundwesen dieser Volkspoesie klarmachen, so müssen wir auch hier auf die religiösen Quellen zurückgehen, die ihr ihre Eigentümlichkeit gegeben. Die Religion der alten Germanen war allerdings, wie die aller Urvölker, ein Naturglaube; sie verehrten die [550] Sonne, das Feuer und Wasser. Was uns aber dabei zunächst auffällt, ist die Einfachheit ihres Gottesdienstes, der weder Götzenbilder, noch irgend weitläufige Zeremonien kannte; ihr Tempel war der Wald mit seinen grünen Bogen und schlanken Säulenhallen. Vor allem aber ist es das Übersinnliche dieser Götterlehre, die sie von den andern Religionen des Altertums unterscheidet. Die Römer, und noch mehr die Griechen, zogen ihre Götter zur Erde in den Kreis der menschlichen Leidenschaften herab. Ihr Olymp, wenn wir durch den überreichen Fabelschmuck auf den eigentlichen Kern sehen und diesen als die sittliche Grundlage des Volksglaubens nehmen müssen, erscheint doch nur als ein fast kindischer Religionsversuch; ein lustiges Herrenhaus genialer Dynasten, die, weil sie sich selbst durchaus nicht zu regieren wissen, ein gar wunderliches Weltregiment führen. Wie unendlich größer, tiefer und wahrer als dieser Zeus oder Jupiter, der mit sultanischer Laune heut die Europa entführt und morgen wegen derselben Galanterie den Paris andonnert, ist die altgermanische Idee der ewigen Gerechtigkeit, des »Allvaters« Wodan, des höchsten Richters und Rächers des Unrechts. Weder König noch Volk hatten das Recht des Blutbanns, die seltenen Todesurteile wurden nur in Wodans Namen gesprochen und verkündigt. Und mit dieser Vorstellung hing wesentlich auch ihr fester Unsterblichkeitsglaube zusammen. Das Jenseits der Griechen war nur ein ungewisses nebelhaftes Schattenspiel des irdischen Daseins, die Walhalla der Germanen dagegen eine freudige Zuversicht, die in Schlacht oder Gefangenschaft heldenmütige Todesverachtung erzeugte.

Am unmittelbarsten aber blickt der Geist dieser Götterlehre uns aus der Edda an, seltsam fremd und doch befreundet. In diesem mythologischen Götter-und Heldengedicht, das von Deutschland ausgegangen und in der spätern skandinavischen Auffassung bis auf uns gekommen ist, waltet ein tragischer Tiefsinn, in welchem wir, da ein Einfluß des Christentums darauf historisch sich nicht nachweisen läßt, bereits eine Ahnung der göttlichen Wahrheit kaum verkennen können. Unter dem Baum des Lebens, der heiligen Esche Yggdrasill, die ihre Wurzeln durch alle Tiefen und ihre Zweige über das Weltall ausbreitet, kämpfen die Asen und Lichthelden mit den alten Naturkräften und Riesen der Finsternis. Aber alle diese Helden sind dem Untergange geweiht, der sich durch den [551] Tod Balders, des schönsten unter ihnen, wehmütig ankündigt. Denn die Dämmerung der Götternacht bricht unaufhaltsam herein, und noch einmal siegt die alte Finsternis und der furchtbare böse Loke, bis endlich die neue Götterwelt in himmlischer Verklärung emporsteigt.

Erblichen sind diese Göttergestalten vor dem neuen Morgenrot, verklungen alle Heldenlieder dieser Zeit, nur zwei erst vor kurzem in Merseburg wieder aufgefundene Zaubersprüche gemahnen uns noch wie rätselhafte Trümmer einer versunkenen Welt. Aber eine dunkle Erinnerung an die verschlossenen Heroen und Sagen ist im Volke geblieben und mit ihr jener wundervolle Naturklang und tragische Geist der Edda, der mythische Kampf mit den Riesen und Ungeheuern der Finsternis, und der großartige Untergang der alten Heldengeschlechter, der das Grundthema aller spätern Volksepen und mittelalterlichen Rittergedichte bildet.

2. Kampf und Übergang
II
Kampf und Übergang

Die alte Welt war allmählich eine Lüge geworden; Götter, an die niemand mehr glaubte, Staatseinrichtungen für Tugenden, die man nicht mehr verstand oder verlachte, und dabei noch immer die fortgeerbte römische Prätention einer Weltherrschaft, die doch nur von den sogenannten Barbaren noch gehalten wurde. Der Schutt der Jahrhunderte, auf dem nur üppige Giftblumen wucherten, mußte hinweggeräumt, das ganze trügerisch morsche Prachtgerüst erst gebrochen werden, damit es das neue Leben nicht weiter hindere. Und dies eben war die welthistorische Bedeutung der Völkerwanderung, jener rätselhaften Völkerströme, die erfrischend von Norden und Osten über den todmüden Süden hereinbrachen; und eben deshalb ist das einzige Wandervolk, welches diese Mission nicht begriffen und dem Lichte des neuen Lebens sich störrig verschlossen hatte, das wilde Heer der Hunnen, nachdem es die untergeordnete Aufgabe des bloßen Niederwerfens erfüllt, auch spurlos von dem großen Schauplatze wieder verschwunden.

Das deutsche Volk ist irgendwo mit Recht der Riese Christophorus genannt worden, der das Christkind durch die Fluten einer wildempörten Zeit getragen. Denn allerdings hatten die [552] südlichen Nationen schon lange vor den Deutschen sich zum Christentum bekannt; allein im byzantinischen Kaisertum war dasselbe in eine zweideutige, den weltlichen Staatsinteressen dienstbare Hofsache umgeschlagen, und in Rom hatte teils das ungeheure Gemisch der verschiedensten Nationalitäten und Religionen, teils die Anstrengung der Gelehrten, die alte Mythologie durch den Neuplatonismus philosophisch umzudeuten und wieder zu beleben, einen vielfach störenden und zersetzenden Einfluß ausgeübt. Man darf daher wohl behaupten, daß erst die jugendfrische und tiefere Auffassung der germanischen Völker das Christentum in Europa wirklich einheimisch gemacht hat.

Indem aber das Christentum den Blick von den geheimnisvollen Naturkräften zu dem Urgrund alles Kreatürlichen, von der Sinnenwelt zum Übersinnlichen wandte, mußte es notwendig überall eine totale Umwandlung der Lebensansicht und Gesamtbildung und somit auch ihres poetischen Ausdrucks herbeiführen. Dies konnte jedoch grade bei einem so treu und ernst gestimmten Volke, wie das deutsche, nicht plötzlich und nicht ohne bedeutende Kämpfe geschehen. So rang im nordöstlichen Deutschland das nationale Heidentum noch lange und hartnäckig mit Karl dem Großen und endete nur mit der völligen Unterjochung der Sachsen. Ebenso entzündete sich in England ein ähnlicher Kampf zwischen den eingewanderten heidnischen Angelsachsen und dem christlichen Keltenkönig Artus, den nachher die christliche Ritterdichtung sagenhaft verklärt hat. Und da nun die alte Odinslehre vom deutschen Boden vertrieben war, flüchtete sie zu den gotischen Stämmen in Schweden, wo sie noch lange die bedeutsame Gestalt bewahrte, wie sie uns in der isländischen Edda erhalten worden.

Bei dieser Nachbarschaft von Heiden und Christen und dem nationalen Verkehr derselben konnte es nicht fehlen, daß nun hier zunächst eine Art von Kriegszustand permanent wurde. Nicht nur mußten die gewaltsam bekehrten Sachsen ihre alten Götter ausdrücklich abschwören, auch die alten Heldenlieder, mit denen die heidnischen Traditionen fortwährend noch herüberklangen, wurden von den geistlichen Behörden als Teufelswerk verboten, woraus denn ihr gänzliches Verschwinden einigermaßen erklärlich wird. Ja, selbst die uralte Form dieser Lieder, die Alliteration oder der sogenannte Stabreim, der, wie eine poetische Runenschrift, die bedeutsamsten [553] Worte jedes Verses durch gleiche Anfangsbuchstaben betonte, ward jetzt mit Mißtrauen betrachtet und allmählich außer Gebrauch gesetzt. – Wir können vom poetischen und historischen Standpunkte aus allerdings nur bedauern, daß diese alten Heldengesänge auf diese Weise verloren gegangen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß das, was uns jetzt nur noch als ein schönes und harmloses Spiel der Phantasie erscheint, damals als wirklicher Volksglaube galt und also überwunden werden mußte.

Auch noch eine andere Folge des Christentums griff wenigstens mittelbar in die germanische Geistesentwickelung ein. Die Deutschen hatten nämlich das Christentum von den Römern und mit ihm die lateinische Sprache empfangen, die überdies, da sie bereits eine Weltsprache, auch zur Verbreitung der neuen Weltreligion am geeignetsten war. Die Sprachen der andern sogenannten romanischen Völker waren schon früher allmählich der übermächtigen römischen gewichen, oder sie hatten sich vielmehr, jede in ihrer Art, lateinisch regeneriert. Die deutsche Sprache aber war noch zu kerngesund, um nicht, mit Ausscheidung des fremden Elements, ihre Selbständigkeit und Eigentümlichkeit zu behaupten. Und so erhielten wir schon damals eigentlich zweierlei Sprachen, eine gelehrte und eine Volkssprache, ein Dualismus, den unsere Literatur noch bis jetzt nicht ganz beseitigt hat.

Unter den eingewanderten Völkern ragten ohne Zweifel die Goten an hohem Sinn und Bildung über alle anderen hervor. Weit entfernt daher, die alte Kultur zu zerstören, wie Attila mit seinen Hunnen tat, suchten sie vielmehr alles Große und noch Lebensfähige, das sie vorfanden, auf ihre Weise sich anzueignen. So wissen wir durch gleichzeitige Schriftsteller, daß der Gotenkönig Adolf seinen Ruhm darin suchte, die Herrlichkeit der Römer durch die Kraft der Goten wiederherzustellen und noch zu vergrößern, und daß es schon damals Römer gab, die lieber unter den Deutschen in Freiheit, ob wohl dürftig leben mochten als wie ehemals in steter Angst vor den Erpressungen der alten Regierung. Ihr großer König Theodorich sorgte gleichmäßig für die Erhaltung der römischen wie der gotischen Sprache und Bildung, beide, eine durch die andre wechselseitig ergänzend und neubelebend; und an seinem Hofe wurden die ersten christlichen Heldenlieder gesungen.

[554] Sie sind zwar sämtlich verloren, so wie die Lieder, welche später Karl der Große sammeln ließ, aber dennoch können wir auf diesen Spuren den Strom der deutschen Poesie aus dem alten Sagenwalde bis tief in das Mittelalter hinein verfolgen. Denn jene Gotenlieder, die von lateinischen Schriftstellern als Volksgeschichte in Prosa aufgelöst worden, feierten vorzüglich den Ruhm und die Taten des Heldengeschlechts der Amelungen, später auch Attila, Odoaker und Theodorich selbst in ihren Kreis mit aufnehmend; sie wurzelten also noch in den Nationalerinnerungen der ältesten Vorzeit. Eben diese Lieder aber waren es, wie wir anzunehmen berechtigt sind, welche die erwähnte Sammlung Karls des Großen bildeten, aus welcher dann wiederum vieles und vielleicht das Bedeutendste im Nibelungenliede und Heldenbuche nachgeklungen hat. Und so geben denn auch wirklich die Nibelungen, selbst in ihrer jetzigen kunstmäßigen Gestalt, noch ein lebensvolles Bild jenes allmählichen Überganges vom Heidnischen zum Christlichen. Hier sehen wir noch die starren Zacken des alten Urgebirges drohend hereinragen, aber schon wunderbar beglänzt von dem Morgenrot des Christentums, bei dessen Widerscheinen gleichwohl in den nur erst ungewiß beleuchteten Abgründen noch die alten Ungeheuer und Drachen sich widerwillig ringeln, unzähmbare Kraft, Rache, und alle die entsetzliche Naturgewalt menschlicher Leidenschaften, bis zuletzt die furchtbare alte Heldenwelt, wie im Zorne, vor dem milderen neuen Lichte tragisch zusammenbricht.

Erhalten hat sich von den Goten nur ein einziges schriftliches Denkmal, das aber von dem majestätischen Klange, dem Reichtum, Wohllaut und strengem Bau ihrer Sprache ein überraschendes Zeugnis gibt. Es ist dies die vom gotischen Bischof Ulfila verfaßte Übersetzung der vier Evangelien. Die im 16. Jahrhundert aufgefundene und später in Prag aufbewahrte Handschrift wurde am Schluß des Dreißigjährigen Krieges von den Schweden entführt und befindet sich gegenwärtig in Upsala; während erst im Jahre 1818 durch den Kardinal Mai auch noch die Briefe des Apostels Paulus in Ulfilas Übersetzung im lombardischen Kloster Bobbio entdeckt worden sind. Von Dichtungen aber besitzen wir aus der ältesten Zeit überhaupt, d.i. aus dem 8. oder 9. Jahrhundert, nur noch drei in ihrer damaligen Gestalt: das Hildebrandlied, den Walter von Aquitanien und den Beowulf.

[555] Das Hildebrandlied bekundet auf eine merkwürdige Weise den vorhin behaupteten Zusammenhang der uralten und spätern Sagenwelt, indem es den Inhalt des, also schon damals alten, Nibelungenliedes zum Hintergrunde hat. Denn Hildebrand ist der Waffenmeister Dietrichs von Bern (des Gotenkönigs Theodorich), mit dem er nach der furchtbaren Schlußkatastrophe der Nibelungen vom Hofe Etzels (des Hunnenkönigs Attila) in seine Heimat zurückkehrt. Hier hatte er vor dreißig Jahren seinen Sohn Hadubrand verlassen, der nun selbst seitdem zum Helden herangewachsen ist und dem Vater, den er nicht kennt, den Eingang verwehrt. Vergebens erzählt dieser ihm seine Geschichte, der mißtrauische und trotzige Sohn ist nicht zu überzeugen. Da ruft Hildebrand: »Weh, waltender Gott, jetzt kommt das Wehgeschick! Sechzig Sommer und Winter bin ich außer Landes gewallet, und nun soll mich mein Kind mit dem Schwerte hauen oder ich zum Mörder an ihm werden!« Aber es wäre unerhörte Feigheit, den Sohn vom Kampfe abzuhalten, nach dem ihm so gelüstet. Und so kämpfen sie miteinander auf Tod und Leben. – Man sieht, das ist noch wesentlich heidnische Tugend. Und dieselbe wildfremde Urgebirgsluft weht uns auch aus den beiden andern oben erwähnten Dichtungen an: wie dort Walter von Aquitanien, dem man die aus dem Hunnenlande entführte Braut und Schätze rauben will, in einem Engpasse der Vogesen mit zwölf Helden, und unter ihnen auch mit dem schrecklichen Hagen von Troni, kämpfen muß, wie sie einander Auge, Fuß und Hand abhauen und dann beim Friedensmahle über das Grauenvolle heiter scherzen; während in dem angelsächsischen Beowulf dieser heldenhafte Jütenkönig mit dem Seeungeheuer Grendel und dessen Mutter ficht, und dann in einem mörderischen Kampfe mit einem Drachen seinen Tod findet.

Außerdem blieben zwei große Sagenstoffe, die ein Jahrtausend überdauert haben. Der heidnische Siegfried, der mit seinem Schwert Balmung den goldhütenden Drachen Fafnir erschlägt, die Walküre Brunhild aus der Flammenburg erlöst und durch Verrat umkommt, erscheint demnächst von neuem als Christ im ersten Teile des Nibelungenliedes und macht später als der hörnerne Siegfried durch die Volksbücher die Runde, um uns endlich in Fouqués Sigurd dem Schlangentöter noch einmal zu begrüßen. Und dieselbe poetische Lebenskraft hat der berühmte Fuchs Reinhart bewährt, von seiner [556] ersten Ausfahrt im fünften Jahrhundert, als Reginhart mit den Franken über den Rhein, bis zu Goethes Hexametern vom Reineke Fuchs.

Der durch das Christentum erfolgte Umschwung aber übte einen doppelten Einfluß auf die Poesie aus. Während nämlich, wie wir schon oben angedeutet, mit dem erlöschenden Glauben an die heidnische Mythologie auch die in diesem Glauben wurzelnden Heldenlieder immer mehr verklangen, suchte man zugleich dem wachsenden christlichen Volksbewußtsein poetischen Ausdruck zu geben und die alte weltliche Poesie durch eine geistliche zu ersetzen. So entstand im 9. Jahrhundert das sogenannte Wessobrunner Gebet, das nur noch im Fragment vorhandene Gedicht Muspilli und die unter dem Namen Heliand (Heiland) bekannte altsächsiche Evangelienharmonie. Aber alle diese Gedichte, wiewohl durchaus christlichen Inhalts, können in ihrer ganzen Physiognomie die heidnische Abkunft noch keineswegs verleugnen. Es ist noch immer der Klang der alten Heldenlieder, aus denen sie hervorgegangen, die Form ist noch immer die alliterierende, ja Muspilli sogar noch die heidnische Benennung des Weltendes, von dem dieses Fragment handelt. Im Heliand aber erscheint Christus noch ganz wie ein Heldenfürst der alten Epen, der mit seinem Gefolge eine beglückende Volksfahrt hält und in den Versammlungen der Völkerstämme mit seinen Getreuen tagt. – Näher schon und an den äußersten Grenzen der alten und neueren Welt steht dagegen die oberdeutsche Evangelienharmonie des Benediktinermönches Otfried aus den dreißiger Jahren des neunten Jahrhunderts, indem hier bereits das volksmäßig Epische mehr in den Hintergrund und an die Stelle der Alliteration zum erstenmal der Reim getreten ist.

Allein abgesehen davon, daß zu allen Zeiten das Göttliche an sich undarstellbar ist, so war auch das christliche Leben noch nicht erstarkt genug, um die neue Weltansicht poetisch zu bewältigen. Es entstand daher vom 10. Jahrhundert ab eine momentane Stockung der poetischen Produktion, die sich erst innerlich sammeln und orientieren sollte. Man hatte noch Dringenderes zu tun, nämlich das Christentum erst mit den Sitten, Lebensgewohnheiten und Staatseinrichtungen zu vermitteln.

[557]
3. Die christliche Poesie
III
Die christliche Poesie

Die alten Mythologien waren, bis auf einige vorgreifende Ahnungen und Lichtblicke, wesentlich auf das Diesseits beschränkt, ihre Götter waren potenzierte Menschen oder Naturkräfte. Daher ist auch die alte Poesie, als der Reflex dieser religiösen Anschauungen, im Homer wie in den altdeutschen Heldenliedern, sinnlich, klar und rein menschlich. Als aber das Christentum das irdische Dasein in geheimnisvollen Rapport mit dem Jenseits gesetzt und jene zerstreuten Ahnungen als Vorzugsweise berechtigt in einen leuchtenden Brennpunkt zusammengefaßt hatte, so entstand auch sofort eine entsprechende Poesie des Unendlichen, die das Irdische nur als Vorbereitung und Symbol des Ewigen darzustellen suchte. Diese christliche Poesie ist daher übersinnlich, wunderbar, mystisch, symbolisch; und das ist eben der unterscheidende Charakter des Romantischen.

Die sogenannte klassische Poesie der Alten verhält sich zu der romantischen ungefähr wie die Plastik zur Malerei. Dort die Schönheit der menschlichen Gestalt versteinert und das tote Auge; hier das rätselhafte Spiel des Lichts in wunderbaren Farben und das lebendige Auge, durch das man in die geheimnisvollen Abgründe der Seele schaut. Wahrheit ist in der alten wie in der romantischen Poesie, aber dort die sinnliche, endliche, hier eine übersinnliche, überirdische Wahrheit. Daher macht die praktische Sicherheit, heitere Genüge und abgeschlossene Vollendung jener alten Poesie überall den befriedigenden Eindruck eines in ihrem beschränkten und klar umschriebenen Kreise fertigen Ganzen, wie denn auch wirklich seit den Griechen weder in der Plastik noch in der antiken Dichtung, trotz aller Vorliebe und Anstrengung, etwas Besseres oder auch nur Neues erfunden worden ist. Das eigentliche Wesen aller romantischen Kunst dagegen ist das tiefe Gefühl der Wehmut über die Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit der irdischen Schönheit und daher eine stets unbefriedigte ahnungsreiche Sehnsucht und unendliche Perfektibilität. Ihr ernster Geist ist, wie schon oft bemerkt, am deutlichsten in der sogenannten gotischen Baukunst ausgeprägt, wo die Gedanken mit allem irdischen Blütenschmuck aus der Tiefe sehnsüchtig zum Kreuze emporpfeilern in kühnen Bogen und Münstern, die fast niemals fertig geworden.

[558] Derselbe Geist hat auch das Rittertum geschaffen, auf dem die christliche Poesie des Mittelalters ruft. In gleichem Sinne, wie einst Schlegel die altdeutsche Baukunst eine versteinerte Musik genannt, könnte man das Rittertum die Musik des Heldenlebens nennen, die starre Memnonsäule heidnischer Jugend, die, vom Morgenrot des Christentums berührt, melodischen Klang gab. Der altgermanische Heldensinn hatte sich vor der wachsenden Zivilisation auf die natürlichen Felsenburgen Skandinaviens zurückgezogen und nachdem er dort in der Einsamkeit der freien Gebirge sich neu gestählt, seinen bewaffneten Weltgang angetreten. Als geborene Seekönige umschifften die kühnen Normannen alle Küsten von Norwegen und Island bis nach Italien und Sizilien, überall die schönsten Provinzen Europas sich erobernd, weniger aus Bedürfnis als aus romantischer Lust an Kampf, Gefahr und Abenteuer. Hier nahmen sie indes sehr bald mit aller Herzensfreudigkeit der Jugend das Christentum auf, und das Christentum vergeistigte ihnen dafür das ganze Heldenleben. Denn das altheidnische Heldenleben beruhte im Grunde doch nur auf materiellem Egoismus, auf der Freiheit und Verherrlichung der menschlichen Leidenschaften, der unbedingten Selbsthülfe, der Geschlechtsliebe und der Rache, die jederzeit blutdürstig ist; ein Zustand, der lediglich durch das Riesenhafte der Naturgewalt groß wird und erschüttert, wie Sturm, Gewitter oder Meeresbrandung. Das alles aber verwandelte nun das Christentum, ohne es abzuschwächen, indem es das Heldenleben nur anders motivierte, vorzüglich durch die tiefere Bedeutung, die es der Liebe und der Ehre gab. Die irdische Liebe verklärte sich in dem Bilde der heiligen Jungfrau, deren Himmelsglanz auf die irdischen Frauen zurückstrahlte und den ritterlichen Frauendienst durchaus mystisch gemacht hat. Ebenso wurde die Ehre eine moralische Macht, indem die Kraft und Tapferkeit nicht mehr um materiellen Gewinn oder Weltlob, sondern opferfreudig auf dem Felsen der Armut nur um Gottes willen kämpfen sollte; und Roland, obgleich bei Roncesvalles besiegt und getötet, ward dennoch als Sieger gefeiert, weil er für den Glauben gefallen. Es war eine allgemeine Idealisierung des gesamten Lebens, das sich kühn ein höheres Ziel gesteckt hatte.

So ging das Rittertum, dessen eigentliches Symbol das Kreuzesschwert ist, vorzüglich von Frankreich Über ganz Europa aus, aber nicht von den Franzosen, sondern von den [559] in Frankreich angesiedelten Normannen. Jene höhere Weihe des Rittertums aber in seinen allgemeinen großen Umrissen manifestierte sich in zwei welthistorischen Erscheinungen, in den Kreuzzügen und in den geistlichen Ritterorden, und am glänzendsten und dauerndsten in Spanien, wo in dem beständigen Kampfe gegen die Mauren eigentlich die ganze Nation ein einziger geistlicher Ritterorden war. Und dieser wesentlich tragische Doppelgeist des Rittertums, die gewaltige Naturkraft und die freiwillige Demütigung vor einem Höheren, mit einem Wort: das durch das Christentum verklärte Heldenleben ist denn auch der eigentliche Gegenstand der Poesie des Mittelalters, die fortan jeden weltlichen Kampf mehr oder minder zum Kreuzzuge gestaltet.


Alle Poesie nimmt ihren Ursprung aus der Sage. In der Sage aber sind die produktiven Seelenkräfte eines Volkes, Verstand, Phantasie und Gefühl, alle Blüte künftiger Bildung, wie ein Märchen, noch ungetrennt in einer gemeinsamen Knospe, wunderbar verhüllt und abgeschlossen. Die Sage wird, wie ein Naturprodukt, nicht erfunden, sie ist nur der innerliche Reflex der Erlebnisse eines Volkes, ihre Lapidarschrift sind die Taten dieses Volkes, welches sie poetisch nachträumt. Die Sage ist also ganz objektiv und führt daher einerseits zur Geschichte, die noch halb erdichtet, und andrerseits zum Epos, das noch halb historisch ist. Und gleich wie in der Sage auch die Götter-und die Heldenwelt noch nicht voneinander geschieden sind, so wiederholt sich derselbe Organismus auch im Epos; und in dem ältesten nordischen Heldengedichte, in der Edda, erscheint Odin zugleich als Gott, König, Held und Seher.

Das Epos ist sonach überall die früheste Dichtungsart oder vielmehr die poetisch verklärte Sage selbst. In der altdeutschen Heldenzeit unterscheidet man aber vorzüglich drei verschiedene Sagenströme, die im nationalen Epos ausmünden. In dem ersten und ältesten dieser Ströme vernehmen wir noch deutlich den gewaltigen Wogenschlag der Völkerwanderung, auf ihm kommen noch Heiden und Christen, der mythische Siegfried, die fränkischen, gotischen und burgundischen Helden Dietrich von Bern und die Wölfinge, Gunther, Gernot, Gieselher, Hagen und Volker, der Hunne Etzel, die normännischen Seekönige sowie die langobardischen Recken Rother, Ortnit, Hugdietrich und Wolfdietrich waffenbrüderlich dahergefahren. [560] Exklusiv christlich dagegen und schon in entschiedenem Kampfe mit dem Heidentum begriffen zeigt sich der zweite Sagenkreis, welcher die Geschichten Von Karl dem Großen, seinen Paladinen und deren Heldenfahrten gegen die Mauren umfaßt. In dem dritten Fabelkreise endlich, vom König Artus, von seiner Tafelrunde und dem heiligen Gral, ist das Heidentum schon fast überwunden, auf dessen Trümmern nun das neue christliche Rittertum aufgebaut wird; und der Inhalt dieses merkwürdigen Sagenkreises ist es insbesondere, der mit dem Tiefsinn und der strengen Kühnheit seiner Grundzüge überall an den wunderbaren Geist der altdeutschen Baukunst erinnert.

Aus dem ersten, umfassendsten Sagenkreise treten vorzüglich zwei leuchtende Gestalten, und zwar zu nächst erst einzeln in das Gebiet des Heldenliedes heraus, gleichwie beim wachsenden Morgenrot die höchsten Gebirgsgipfel aus der alten Nacht. Der eine ist der »hürnin« Siegfried, wie er, von dem verräterischen Schmiede in den Wald nach Kohlen geschickt, dort Riesen und Drachen erlegt, die schöne Kriemhild aus dem Drachenstein befreit und den verborgenen Schatz des Königs Nibelung erhebt. Der andere, Dietrich von Bern (Verona), kämpft in »Eckens Ausfahrt« mit dem Riesen Ecke, der in weiten Sprüngen wie ein Leopard durch den dichten Wald hinsetzt, daß sein Helm wie eine Glocke klingt und das Wild und Waldgevögel überall erschrocken auffährt und ihm verwundert nachschaut; und als Dietrich dann in dem endlich Überwundenen den starken Riesenhelden erkannt, gräbt er selbst ihm ein ehrlich Grab, dem Toten »Gnad dir Gott, lieber Ecke« nachrufend. Ebenso ficht Dietrich im »Laurin« gegen den durch einen Zauberring geschützten Zwergkönig Laurin, der in Tirol in einem schönen Rosengarten die aus Steiermark von ihm entführte Jungfrau Similde bewacht, und zuletzt, nachdem in einem furchtbaren Kampfe sein ganzes unterirdisches Zwergvolk erschlagen, in Verona die christliche Taufe empfangen oder nach einer andern Erzählung als Gaukler sein Brot verdienen muß.

Der eigentliche Hauptinhalt dieses ganzen Fabelkreises aber ist zusammengefaßt in dem Nibelungen-Epos, das in seiner frühesten, verlorengegangenen Gestalt wahrscheinlich zu den von Karl dem Großen gesammelten Heldenliedern gehörte. Und an diesem wunderbaren Gedicht läßt sich auch der allmähliche Übergang vom Heidnischen zum Christentum, wenngleich [561] nirgends ausdrücklich und absichtlich ausgesprochen, selbst in seiner gegenwärtigen Fassung noch deutlich erkennen. Dieselben Gestalten nämlich, die wir in den vorhin erwähnten zerstreuten Heldenliedern wie einzelne Felsenkuppen hervorragen sahen, Siegfried, Dietrich von Bern, Kriemhild und Brunhilde, finden wir auch im Nibelungenliede wieder, welches jenen altheidnischen Heimatsboden, auf dem es ruht, noch überall stillschweigend als wohlbekannt voraussetzt. Die Verteidigung und Verherrlichung des Christentums ist noch nicht die ausschließliche Aufgabe des Heldenlebens, die christlichen Helden verkehren noch als getreue Waffengenossen am Hofe des heidnischen Königs Etzel, »der jedem nach seinen Taten lohnt«. Aber die Physiognomie der Helden, der Gegend und Kämpfe, die ganze unsichtbare Atmosphäre, ist bereits wesentlich eine andere geworden. So hat der Dietrich der alten Sage noch durchaus etwas Elementarisches, z.B. in dem grausenhaften Kampfe mit Ecke, oder wenn er, vom Zwergkönig Laurin in einer unterirdischen Höhle gefangen, durch seinen zornigen Feueratem Fels und Bande sprengt und endlich im Tode von Geistern in eine unbekannte Wüste entführt wird. Vollkommen mythisch, ja siderisch, erscheint dort auch der ursprüngliche sagenhafte Siegfried als leuchtender Frühlingsgott, der auf prächtiger, aber kurzer Heldenfahrt alle schlummernden oder gebundenen Kräfte von den Ungeheuern und finstern Mächten der alten Nacht befreit; und seine furchtbar schöne Erdenbraut Brunhilde als eine von einem Flammenwalle eingeschlossene Walküre.

Man fühlt schon bei oberflächlicher Vergleichung, das ist derselbe Abgrund, den auch das Nibelungenlied vor uns auftut und aus dem besonders der grimme Hagen noch als starre Felsenzacke hervorragt; nur daß hier schon einzelne Streiflichter des Christentums wie Blitze einer Gewitternacht, alles anders, fast gespensterhaft beleuchten. Die wilde Blutgier, womit z.B. der hürnin Siegfried in seinem Kampfe mit dem Riesen dessen klaffende Wunden mit den Händen auseinanderreißt, ist hier schon an die furchtbare Tugend einer unerschütterlichen Treue geknüpft in dem finstern Hagen, der den Siegfried und seine liebsten Waffengenossen erschlägt, bloß weil er Brunhildens Dienstmann ist. Der schöne Siegfried selbst tritt aus seiner Götterdämmerung, die Walküre Brunhild aus den Lohen ihres Feuerwalles in die menschliche Heldenwelt hervor. Mit [562] einem Wort: die Drachen, Lindwürmer und alle Schrecken der alten Naturgewalten verwandeln sich hier in das Dämonische in der Menschenbrust; aber alles, Tugend, Haß, Eifersucht und Rache, ist noch ungeheuer und riesenhaft, und deutet, wie mit blutigem Finger, auf seinen Ursprung zurück. Und eben an dieser noch ungebändigten Naturkraft, dem hereinbrechenden Christentum gegenüber, geht in der erschütternden Schlußkatastrophe, die vom Anfang an wie ein langsam steigendes Gewitter drohend über allen hängt, das ganze Heldengeschlecht unter, gleichsam der Zusammensturz der alten Heidenwelt. Es ist ein wahrhaftes Weltdrama, die großartigste Tragödie, welche die deutsche, ja die europäische Literatur überhaupt aufzuweisen hat.

Zugleich zeigt dieses Gedicht am deutlichsten den volksmäßigen Gang der alten Poesie. Es ist organisch aus einer allmählichen Gruppierung der einzelnen Heldenlieder, wie sie damals noch von Mund zu Mund gingen und von denen neuerdings Lachmann zwanzig entdeckt und bekanntgemacht hat, wie ein Strom aus seinen Waldquellen entstanden und wahrscheinlich erst zu Anfang des 13. Jahrhunderts von einem unbekannten Meister in seine gegenwärtige Fassung gebracht worden. Leider ist dasselbe auch in dieser Fassung, ohne philologische Vorbereitung, noch immer eine Art Runenschrift und daher dem größeren Publikum unzugänglich. Simrock hat in seiner noch unübertroffenen Übersetzung die schwierige Aufgabe gelöst, das große Freskobild, wo es im Verlauf der Jahrhunderte nachgedunkelt, für unser verwöhntes Auge wahrhaft künstlerisch zu restaurieren, ohne die eigentümlich nationalen Grundzüge zu verwischen.

Bei weitem näher schon steht unserer christlichen Anschauungsweise das Lied von Gudrun, welches Kaiser Maximilian I. in einer Abschrift auf Schloß Ambras der Nachwelt aufbewahrt hat. Was im Nibelungenliede kaum nebenher erst angedeutet ist, wird hier zur Hauptsache. Das christliche Element, das wir dort nur in einzelnen Morgenblitzen erkannten, hat hier bereits über Freud und Leid seinen milden Glanz verbreitet; vor allem durch die ganz veränderte Auffassung des Frauencharakters, der hier die wildschöne Waffenpracht abgelegt hat und zum erstenmal in rührender Demut strahlt. Gudrun ist mit dem Könige Herwig verlobt, wird aber von dem Normannenkönig Hartmut entführt und in der Fremde, weil sie in unwandelbarer [563] Treue dem Räuber ihre Hand verweigert, von dessen Mutter Gerlinde als Magd gehalten und schimpflich mißhandelt. Demungeachtet sucht sie, als sie dann endlich durch ihren Verlobten mit Hülfe ihres Bruders wieder befreit wird, großmütig die Ermordung der bösen Gerlinde auf alle Weise zu verhindern; und ihr Bruder Ortwin, obgleich er sie unbewacht am Meeresstrande gefunden und sofort auf seinem Schiffe zurückführen könnte, sagt ritterlich: »Was mir im Sturm des Kriegs ist abgenommen worden, das will ich heimlich nicht entwenden, und eh ich heimlich stehle, was ich mit Waffenkampf erringen muß, eher mögen, hätte ich hundert Schwestern, sie hier alle sterben!« – Der wunderbare Gesang, womit im Eingange um Gudruns Mutter geworben wird, so wie Gudruns Heimweh am Seegestade des Normannenlandes, gibt fühlbar dem Ganzen schon einen durchaus romantischen Klang; und wenn das Nibelungenlied in eiserner Konsequenz mit den Schrecken der Rache schließt, endigt hier alles in Versöhnung und Frieden.

Zu diesem ersten großen Sagenkreise – wenn wir, wie billig, nicht die dabei beteiligten Volksstämme, sondern Stoff und Geist allein in Betracht ziehen – müssen endlich auch noch König Rother, die Rabenschlacht (Ravennaschlacht), eine versuchte Nachahmung des Nibelungenliedes, sowie Otnit, Hug- und Wolfdietrich und der Rosengarten, auf den wir weiterhin noch einmal zurückkommen, gerechnet werden. Die drei letzteren Gedichte, nebst dem schon oben erwähnten Laurin, bilden das sogenannte Heldenbuch, wo die Recken bereits allmählich von ihren Bergen in die Studierstube herabsteigen und zu Buch gebracht werden. Hier ist nicht mehr das Abenteuer um des Helden willen, sondern der Held um der willkürlichen Abenteuer willen, und immer ferner und verworrener schon verklingt das alte Heldenlied, um endlich in vielfachen Umarbeitungen bis zum Bänkelsängertone herabzusinken.


Der zweite, Karolingische, Sagenkreis führt uns bereits völlig aus dem streng Volksmäßigen zur Kunstdichtung und auf das eigentlich romantische Gebiet. Wir haben schon oben angegeben, was wir und unsere Zeitgenossen allgemein unter romantisch verstehen, müssen uns aber, um Verwirrung und Mißverständnisse zu vermeiden, hier zunächst gegen eine gelehrte Neuerung verwahren, wonach nur das ursprünglichRomanische romantisch genannt werden soll. Es kann uns im Grunde ziemlich [564] gleichgültig sein, woher wir das Romantische überkommen haben; es ist jedenfalls ein ganz eigentümlicher, vom klassischen Altertum wie von der nordisch-heidnischen Weltanschauung verschiedener Geist, der vorzüglich in Deutschland Aufnahme und Vertiefung erhalten hat und also wesentlich deutsch ist. Romanisch kann diese Erscheinung, trotz der verführerischen Klangähnlichkeit, schon darum nicht genannt werden, weil grade die romanischen Franzosen und Italiener sich am wenigsten dabei beteiligt haben, dieselbe vielmehr durch germanische Völker, durch die Goten in Italien und Spanien und durch die Normannen in Frankreich, ins Leben gerufen worden ist. Christlich wäre ohne Zweifel die angemessenste Bezeichnung dafür, wenn sie nicht zu allgemein wäre, indem wir, zumal in der neueren Zeit, eine Menge christlicher, ja geistlicher Gedichte besitzen, die nichts weniger als romantisch sind. Wir sehen daher, der Name romantisch mag nun alt oder von den Schlegels erfunden sein, überall keinen vernünftigen Grund, von einer Bezeichnung abzuweichen, die einmal ins Volksbewußtsein gedrungen und deren angebliche Unklarheit und Nebelhaftigkeit hier am wenigsten störend ist, da ja das Romantische selbst, nach allen Seiten ins Unendliche auslaufend, sich nirgend in feste und bestimmte Begriffsgrenzen einhegen läßt.

Die schon in grauer Vorzeit schlummernden Keime jenes romantischen Geistes aber sind vorzüglich durch die Kreuzzüge geweckt und lebendig geworden; ja, diese zweite Völkerwanderung, nicht nach den Goldgruben Kaliforniens, sondern zur Eroberung des Himmelreichs, diese ungeheuere Geistesbewegung, die wie Flut und Ebbe von unsichtbaren Himmelskräften allein regiert wird, ist schon an sich ein durchaus romantisches Weltereignis. Das ganze irdische Leben scheint plötzlich höher gerückt, andere Heldengestalten, die nur dem König aller Könige dienen mögen, schreiten mit Schwert und Fahne voran, und eine neue Welt, von der die Abendländer schon längst sehnsüchtig geträumt, steigt mit ihren Palmen, Elfen, Sagen und Geschichten märchenhaft auf. Es ist das idealisierte Abenteuer, das kühn an den Himmel geknüpfte Heldentum, der belebende Frühlingssturm des jungen Christentums, kurz: eine Zeit, die wir heutzutage als unbegreifliche Dummheit und Phantasterei in die beliebte Rumpelkammer des dickfinsteren Mittelalters werfen und deren Helden wir unbedenklich ins Irren- oder Arbeitshaus zu heilsamer Kur und Besserung verweisen [565] würden. Wir haben gewiß von unserem Standpunkt ebenso recht als jene Zeit von dem ihrigen, es handelt sich dabei eben nur darum, welches der wahrere und höhere Standpunkt sei.

Die Kreuzzüge sind es denn auch, die auf die Dichtungen des Karolingischen Sagenkreises wesentlich influiert haben. Das Charakteristische derselben ist der Kampf für das Christentum, und dieser Kampf, obgleich im fernen Westen gegen Mauren geführt, hat durchaus die Physiognomie und Färbung der Kreuzzüge. Alles hat hier bereits ein allegorisch geistliches Gewand angelegt: Karl der Große, als der Mittelpunkt des christlichen Völkervereins, fast regungslos in majestätischer Götterruhe über dem Ganzen waltend, und um den Allgewaltigen seine zwölf Paladine gleich den zwölf Aposteln gruppiert; ja selbst Judas, wie wir sogleich sehen werden, fehlt nicht.

Am schärfsten ist diese veränderte Anschauungsweise in dem herrlichen, aber fast einzigen würdigen Repräsentanten dieses Fabelkreises, in dem Rolandsliede, ausgeprägt. Und an diesem Gedicht erkennen wir zugleich am besten, wie das an sich Unscheinbare und Unbedeutende einzig und allein durch die erhöhete Auffassung und Gesinnung gehoben wurde. Der Gegenstand ist eine historisch beglaubigte Niederlage, die Karls Heer durch einen Überfall der Ungläubigen im Jahre 778 in den Pyrenäen erlitten und wobei ein Held Hruodlandus geblieben sein soll. Aber durch welche übermächtigen Schlaglichter, die alles wunderbar beleuchten, wird dieser einfache Vorgang hier in ein wahrhaft tragisches Weltereignis verwandelt! Karl der Große ist mit seinen zwölf Heldenfürsten gegen die Heiden in Spanien gezogen. Da beschließt in dem hartbedrängten Saragossa der Heidenkönig Marsilie, sich scheinbar der Taufe zu unterwerfen, um den Kaiser zum Abzug zu bestimmen und die harmlos Abziehenden dann zu vernichten, und zu diesem Zwecke wird eine Gesandtschaft zu Karl nach Corderes abgeordnet. Prächtig ist die Schilderung des rüstigen Heldenlebens in Karls Heereslager sowie des Kaisers selbst. »Seine Augen leuchten wie der Morgenstern, so daß man ihn von ferne kannte und niemand fragen durfte, wer der Kaiser sei; niemand war ihm gleich, mit vollen Augen konnten die Gesandten ihn nicht anschauen, der leuchtende Glanz seines Antlitzes blendete sie wie die Sonne um Mittag; den Feinden war er schrecklich, den Armen heimlich, im Volkskrieg siegselig, dem Verbrecher [566] gnädig, Gott ergeben, ein rechter Richter, der die Rechte alle kannte und sie allem Volk lehrte, wie er sie von den Engeln gelernt hatte; und mit dem Schwerte endlich war er Gottes Knecht.«

Die zwölf Fürsten des Kaisers wittern Marsilies Arglist, aber der verräterische Judas, Genelun, lauert auf eine Gelegenheit, seinen Stiefsohn Roland, den er tödlich haßt, im Einverständnis mit dem Heidenkönig zu verderben. Auf seinen Rat wird Roland mit der Hälfte Spaniens belehnt und bei seinem Einzuge mit den Seinigen in dem Tale Ronceval von einem zahllosen Heidenheer überfallen. Und diese Katastrophe ist der eigentliche Brennpunkt, der hier über das Ganze, sowie über die tiefere Bedeutung der Kreuzzüge überhaupt, sein eigentümliches Licht wirft. Von allen Seiten rettungslos umzingelt, kämpfen die christlichen Streiter gegen die stündlich wachsende Übermacht bis zum letzten Atemzuge mit ungebrochener Freudigkeit, denn sie streiten für das Gottesreich, zu dem, wie beim jüngsten Gericht, die Heldenseelen der Erschlagenen glorreich emporsteigen; und Roland, da endlich alles verloren, gibt sterbend sein Schwert Durendarte, nachdem er es vergeblich zu zertrümmern gesucht, in die Hand seines unsichtbaren Führers Jesus Christus zurück, damit es nicht durch weltlichen Kampf entweiht werde. Obgleich irdisch besiegt, ist er dennoch der Sieger in höherem Sinne, es ist das ritterliche Märtyrertum, das er errungen. Und in diesem Sinne wurde das Rolandslied häufig bei den Normannen als Schlachtlied gesungen, um den Mut durch ein erhabenes Vorbild zu beseelen.

Das Rolandslied ist allerdings deutschen Ursprungs, es gehört zu den Liedern, die, nach dem neuen Aufschwung, den das Rittertum durch die Kreuzzüge erhalten, im Frankenlande das Andenken Karls des Großen feierten und um das Jahr 1095 vom Bischof Turpin in einer lateinischen poetischen Chronik gesammelt, späterhin aber teilweise in französischer Sprache aufgezeichnet wurden, und aus einer dieser letzteren Aufzeichnungen ist das Rolandslied vom Pfaffen Konrad übertragen. Eine spätere, vielfach verstümmelnde Bearbeitung durch den Österreicher Stricker ist kaum der Rede wert.

Aus dem Karolingischen Sagen- und Liederkreise haben wir auch noch die Haimonskinder und den Wilhelm von Oranse. Allein das Gedicht von den vier Haimonskindern, das die weltliche Seite dieser Sagen, Karls Kampf mit seinen Vasallen, behandelt, [567] hat gar keinen deutschen Bearbeiter gefunden, sondern nur eine schlechte Übersetzung aus dem Niederländischen erlitten. Wolfram von Eschenbachs Wilhelm von Oranse dagegen, meisterhaft in der Form, steht nur in mittelbarem Bezug auf die Karlssagen und ist ein unvollendetes Bruchstück geblieben. Sonst enthält es alle die großen Grundzüge des Rolandsliedes, die nach dem Himmelreich strebende Ritterschaft und den Preis dessen, der »um Gott sich in Not läßt finden, denn ihm sind die himmlischen Sänger hold, deren Ton so hell erklingt«; und auch das bedeutendere Verständnis des weiblichen Gemüts, das wir oben als ein charakteristisches Symptom der neuen christlichen Poesie bezeichneten, findet hier in den Frauengestalten der Alyze und Arabele eine glänzende Vertretung.

Auch dieser Sagenkreis aber ging, und zwar früher und rascher als die anderen, seinem Verfall entgegen. Die Kreuzzüge, die ihn hervorgerufen, haben ihn auch verdorben. Alle fremdartigen Zaubereien, Märchen und Fabeln des Orients zogen in die einfachen Geschichten von Karl dem Großen überwältigend ein und verwandelten sie allmählich in einen rein phantastischen Boden für jede willkürliche Erfindung.


Wir sahen bisher das christliche Bewußtsein, allmählich wachsend, alle bedeutenderen Dichtungen jener Zeit durchdringen. Diese religiöse Weltansicht aber kulminiert endlich in den epischen Gedichten, welche aus dem dritten Fabelkreise vom heiligen Gral und Artus und seiner Tafelrunde hervorgegangen.

Es ist für unsere Betrachtung ziemlich gleichgültig, ob diese Sage, wie Gervinus meint, eine bloß willkürliche Dichtererfindung oder, nach Vilmar, orientalischen Ursprungs sei. In der christlichen Auffassung, die wenigstens in der Poesie Jahrhunderte lang Geltung hatte, war der heilige Gral eine aus köstlichem Stein gearbeitete und im Besitz Josephs von Arimathia befindliche Schüssel, in welcher nicht nur beim letzten Abendmahle Christi Leib seinen Jüngern dargereicht, sondern auch am Kreuze das Blut des sterbenden Erlösers aufgefangen worden, und das daher große Wunderkräfte besaß, alljährlich am Karfreitage durch die heilige Hostie erneut, welche eine leuchtend weiße Taube vom Himmel brachte und in den von schwebenden Engeln oder reinen Jungfrauen getragenen Gral niederlegte. Der Gral wurde in einem waldumkränzten runden [568] Tempel aufbewahrt, an dessen Wunderpracht und sinnreicher Konstruktion alle Glut dichterischer Phantasie sich wahrhaft erschöpft hat. Hüter aber, oder König des Grals zu sein, war der höchste Ruhm des Rittertums, denn nur ein tapferes, keusches, aller Welteitelkeit entsagendes Gemüt konnte zu dieser Ehre gelangen.

Der andere Teil dieser Sage dagegen ist notorisch britischen Ursprungs. Der fabelhafte christlich-keltische König Artus, unablässig gegen das aus Sachsen eindringende Heidentum kämpfend, hält prächtig Hof zu Kaarlleon in Wales inmitten seiner Heldengenossen, von denen die zwölf hervorragendsten um seine Tafelrunde sitzen. Die Fahrten dieser Helden, deren vorzüglichster Schauplatz der noch heut diesen Namen führende Wald von Brezilian in der Bretagne ist, sind der Gegenstand vieler britischen Erzählungen, welche, wie wir aus der neuerdings aufgefundenen Geschichte vom Peredur ersehen, nur das durchaus rohe und unkünstlerische Material sinnloser Abenteuer enthalten. Immerhin aber lag es ziemlich nah, jenen Kampf der Blüte britischer Ritterschaft um das Christentum mit dem höchsten Ziel alles Rittertums, mit dem Ringen nach dem heiligen Gral, in Verbindung zu setzen.

Dies tat der größte Dichter seiner Zeit und des Mittelalters überhaupt, Wolfram von Eschenbach, in seinem Parzival, indem er kühn jenes äußerliche Heldenleben abenteuernder Ritterschaft nur als den irdischen Gegensatz eines inneren geistigen Heldentums auffaßte. Der Grundklang dieses merkwürdigen Gedichts ist das tiefe Gefühl von der Unzulänglichkeit alles Weltruhmes, daher die Sehnsucht nach etwas Höherem und der Versuch, das Rittertum unmittelbar an das Ewige zu knüpfen. Parzival nämlich, dessen Seelengeschichte der eigentliche Gegenstand ist, wird in tiefer Abgeschiedenheit erzogen, aber von dem Glanze fröhlicher Ritter, die in blitzendem Waffenschmuck am Saum seines Waldes vorüberziehen, unwillkürlich in die Welt verlockt. Mit der Unbefangenheit jugendlichen Ungestüms stürzt er sich nun in die rauschende Flut des Weltlebens, König Artus will den tapferen Jüngling an seine Tafelrunde aufnehmen, sein ernstgestimmtes Gemüt aber strebt höher, er sucht den Gral. Ja seine einsame Wanderschaft führt ihn, scheinbar zufällig, eines Abends wirklich zu dem Tempel des heiligen Grals, dessen nächtliche Pracht sich wahrhaft geisterhaft vor dem Erstaunten auftut. Aber, noch immer in [569] irdischen Banden verstrickt, unterläßt er es mit dumpfer Gleichgültigkeit, dort nach dem ihm angetragenen Heile zu fragen, und als er am anderen Morgen erwacht, stehen die Hallen lautlos und öde, und er muß traurig wieder weiterziehn. So in lauer Halbheit vergeblich mit der Welt ringend, deren Lust und Glanz ihn doch nirgend zu befriedigen vermag, wendet sich nun Parzival verzweifelt und trotzig von Gott ab und stürmt in wüster Hast von Zweifel zu Zweifel, von Abenteuer zu Abenteuer fort. Da tritt ihm ein grauer Ritter mahnend entgegen und geleitet ihn zu dem Einsiedler Trevrizent, der den Verirrten belehrt, daß nur eine gänzliche innere Umkehr den Gral gewinnen könne. Jetzt ringt Parzival das hochmütig-verzagte Weltkind in sich gewaltig nieder, seine innere Reinigung auch äußerlich durch Kämpfe für die Sache Gottes mit dem Schwert bewährend, und zieht endlich siegreich als König in die Gralsburg ein.

Man sieht, es ist die ewig alte und neue Geschichte des inneren Menschenlebens, wie es zu allen Zeiten in erhabenen und starken Seelen sich kämpfend offenbart. Das Ganze aber mit seinem streng architektonischen Bau ist wie ein Münster, der von der breiten Grundlage irdischen Treibens zwischen sehnsüchtig emporrankenden Reben- und Blumengewinden allmählich in die feierliche Einsamkeit der höheren Luftschicht aufsteigt, wo über dem vertosenden Leben der Tiefe nur noch steinerne Heiligenbilder mahnend stehen, bis zuletzt alles sonnentrunken im Kreuze gipfelt. Der Tiefsinn und symbolische Gedankenzug erinnert häufig an Dante, noch mehr aber, trotz der ganz verschiedenen äußerlichen Form, an die Autos von Calderon, indem hier wie dort das durchgehends Allegorische in wirklichen Gestalten persönlich und lebendig wird.

Außer dem Parzival besitzen wir von Wolfram von Eschenbach leider nur noch zwei unvollendet gebliebene epische Fragmente: den Willehalm (Wilhelm von Oranse) und den Titurel. Auch das erstere, das jedoch zu der Gral- und Artussage in gar keiner Beziehung steht, bekundet wieder den gedankenvollen Ernst des Dichters in dem unverwandten Streben der Ritterschaft nach dem Himmel sowie in der tief wahren Charakterzeichnung der schönen Heidin Arabele, welche Vater, Gatten und Kinder verläßt, um Christin zu werden, dann aber vor der Schlacht um Schonung der Heiden fleht und den Christen zürnt, weil sie wähnten, sie habe nur aus menschlicher Liebe ihren[570] Göttern entsagt, »sie hätte auch dort Liebe gelassen und holde Kinder bei einem Gatten, an dem sie keine Untat gefunden; um Gottes Huld trüge sie jede Schuld und einen Teil auch um den Marquis (Willehalm)«. – Der Titurel dagegen knüpft unmittelbar an die Gralsage an. Es ist die Geschichte des alten Gralkönigs Titurel, besonders hervorleuchtend durch die noch unübertroffene Schilderung des wunderbaren Liebespaares Tschionatulander und Sigune. Hier tönt aller Nachtigallenlaut der zartesten Jugendliebe in Sigune, von welcher Tieck so schön und wahr sagt: »Gestorben, wie man sagt, sind längst Isalde und Sigune, ja, du lächelst über mich, denn sie haben wohl nie gelebt, aber das Menschengeschlecht lebt fort, und jeder Frühling und jede Liebe zündet von neuem das himmlische Feuer, und darum werden die heiligsten Tränen in allen Zeiten dem Schönsten nachgesandt, das sich nur scheinbar uns entzogen hat und aus Kinderaugen, von Jungfrauenlippen, aus Blumen und Quellen uns immer wieder mit geheimnisvollem Erinnern anblitzt und anlächelt, und darum sind auch jene Dichtergebilde belebt und unsterblich.«

Es ist indes überall dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Der Tiefsinn und die kräftige Darstellung Wolframs sind immer nur die Gabe seltener Geister und können nicht leicht zu allgemeinem Verständnis der Menge gelangen, welche das Behagen bloßer Unterhaltung, einen mäßigen Spaziergang durch ihre Küchengärten den unbequemen Höhen und großen Aussichten vorzuziehen pflegt. Und so sehen wir denn auch innerhalb dieses Sagenkreises dem Parzival eine ganze Reihe größtenteils unbedeutender Dichtungen gegenüberliegen. Wir übergehen hier die bloßen Nachahmer, den Albrecht von Scharfenberg, welcher das Wolframsche Bruchstück von Titurel zu einer langweiligen Geschichte der Tempelritterschaft des Grals in die Breite geschlagen, sowie den unbekannten Dichter des Lohengrin, wo, bei mancher Schönheit im einzelnen, Parzivals Sohn Lohengrin mit gleicher Langweiligkeit bedacht ist und nicht die geringste Familienähnlichkeit mit seinem Vater bewährt. Beide Gedichte jedoch, der sogenannte jüngere Titurel und Lohengrin, galten lange für Wolframs Werke, dessen Namen sie frech usurpiert hatten, zum Beweise, wie berühmt und dennoch unerkannt in seinem eigentlichen Geiste Wolfram gewesen. – Aber selbst bei anderen, welche die Sage selbständiger behandeln, zeigt sich der große [571] Abstand. Der bedeutendste unter ihnen ist ohne Zweifel Hartmann von der Aue. Aber in seinen beiden Gedichten, in Erek und Enite sowie in Iwein, hat er von der Gralssage nur den weltlichen Teil derselben, Königs Artus' Hofhaltung, die Wolfram als bloßen Gegensatz aufgegriffen, herauszufinden vermocht. Anstatt Wolframs einsamen Berggipfeln, seinen großen Intentionen und Weltsymbolen haben wir hier nur die sprachgewandte Liebenswürdigkeit eines frommen, friedlich gestimmten Gemüts, anstatt der himmelstürmenden Kühnheit des Rittertums nur dessen passive Tugenden: Mäßigung, Milde, Zucht und feine gesellschaftliche Sitte, die wir loben müssen, ohne davon ergriffen zu werden.

Man sieht wohl, Hartmanns Rittermoral war leichter nachzumachen als der Parzival, König Artus' Tafelrunde allgemein faßlicher als die Gralsburg. Und so wurden denn auch in der Tat nach Wolframs Zeiten fast alle Helden dieser Tafelrunde poetisch, oder vielmehr unpoetisch genug, einzeln verarbeitet, teils als Nachahmung Hartmanns, wie der Wigalois des Wirnt von Grafenberg, teils bloß roh und stoffartig allen Abenteuerwust der alten britischen Erzählungen zusammenfegend, wie im Lanzelot vom See von Ulrich von Zatzikhofen, im Wigamur und Gauriel von Muntabel.


Wo irgend der religiöse Glaube wahrhaft lebendig das Innerste eines Volkes durchdrungen, wird er sich nicht mit der kirchlichen Devotion begnügen, sondern, wie die Seele den Leib, zugleich die ganze Physiognomie der Lebenseinrichtungen bestimmen und vor allem seine Liebe, Sehnsucht, Furcht und Hoffnungen auch in der Poesie, die ja überall der Spiegel des nationalen Seelenlebens ist, künstlerisch darzustellen streben. Wir sahen im Parzival das Rittertum mitten aus dem wilden Gestein der vorchristlichen Sage, durch die es seine Wurzeln getrieben, plötzlich wie eine Eiche emporpfeilern und mit Ästen und Zweigen geheimnisvoll rauschend in den Himmel greifen. Es ist der ernste Geist der neuen Zeit, den Wolfram, wie kein anderer vor und nach ihm, erkannt und hieroglyphisch anzudeuten gewagt hat. Das alte, rauhe, noch halbheidnische Heldentum der übermütigen Kraft, der Habgier, des Hasses und der Rache verwandelt sich in einen Heroismus der Selbstbezwingung, Entsagung und himmlischen Minne. Derselbe Geist, der sich in dem Klosterleben [572] zeigt, welchem grade die kräftigsten Gemüter zu strenger Buße oder in lebendiger Erkenntnis der Armseligkeit des Irdischen sich zuwandten, der die geistlichen Ritterorden geschaffen und in dem idealen Kampfe der Kreuzzüge ganze Nationen gleichsam zu einem großen Ritterorden vereinte, erscheint nun auch in der Poesie als Legende.

Unter der großen Menge legendarischer Dichtungen jener Zeit kann man füglich, nach Inhalt und Zeitfolge, mehrere einzelne Gruppen unterscheiden, die sich aber freilich, da allen die unwandelbare Überzeugung von der bergeversetzenden Wunderkraft des rechten Glaubens zum Grunde liegt, nicht kompendienartig und haarscharf voneinander abgrenzen lassen. Den Anfang machen die apokryphischen Geschichten von der Jugend Christi und der heiligen Jungfrau. Dann, organisch aus diesen sich fortbildend, folgen die Gedichte von den einzelnen Heiligen und Märtyrern; und endlich, in immer weiteren Kreisen auslaufend, die das Kirchliche mit dem Weltlichen vermittelnden geistlichen Erzählungen. Es wird hier genügen, bei jeder Gruppe nur die bedeutendsten Werke zu nennen und wenigstens einige davon mit kurzen Worten näher zu bezeichnen, um Gedanken und Darstellungsweise anschaulicher zu machen.

Die apokryphischen Geschichten stehen dem eigentlichen Mittelpunkte aller dieser Gruppen, dem Evangelium, noch am nächsten. Sie bilden miniaturartig gleichsam die bunt ausgemalten Initialien zu den Evangelien und sind in ihrer innigen Beschränkung kirchliche Idyllen, die Evangelien, wo sie die frühesten Lebensjahre Christi und seiner heiligen Mutter kaum andeuten, mit frommer Erfindung oder nach uralten christlichen Sagen liebevoll ergänzend. Solche lieblich-umhegte, einfach-herzliche Idyllen, in denen Frühlingsgrün und Himmelsbläue ineinander spielen, sind: »Die heilige Familie« von dem Kartäusermönch Bruder Philipp, und insbesondere »Die Kindheit unseres Herrn« von Konrad von Fußesbrunnen, beide aus dem 13. Jahrhundert. – Noch älter ist die von dem Tegernseer Mönch, dem Pfaffen Wernher, im Jahre 1173 gedichtete Legende von dem ersten Jugendleben der heiligen Jungfrau, mit deren Geburt »wird erlöschet der Zorn über die Unwürdigkeit zu Gott zu gelangen, und die fleischliche Gier, da wird auch der Mensch geladen zu Gottes Tische, zu dem lebendigen Brot, das die Seele nimmt aus der Not; der Mensch[573] ward Engels Genoß; Gott die Welt da segnete und Heil vom Himmel regnete, da Gott leuchtete überall usw.« – Hierher gehört endlich auch »die goldene Schmiede« Konrads von Würzburg, und es ist ein wahrer Jubel, mit anzusehen, wie da der wackere Meister in seiner einsamen Werkstatt unermüdlich schmelzt und fügt und schmiedet und hämmert, daß wunderbare Funken überall umhersprühen, um mit Gold, Smaragden, Karfunkel und allem köstlichsten Edelgestein, das die Erde birgt, seine hohe »Himmelskaiserin« Maria würdig auszuschmücken; denn »wenn auch seine Rede auf zu Berge flöge wie ein edler Adler, über ihr Lob hinaus vermöchten die Schwingen seiner Worte ihn nicht zu tragen, und wenn man ausrechnet das Gestirn, und der Sonnen Staub und allen Sand und alles Laub vollkömmlich hat gezählet, dann erst wird ihr Preis recht gesungen!«

Aus diesem friedlichen Stilleben treten die eigentlichen Heiligen-Legenden bereits immer weiter in die Welt und ihren verworrenen Kampf heraus. Zu den ältesten Legenden dieser Gruppe gehört – außer der nach ihrer frühesten Abfassung von Karl Simrock übersetzten vom »ungenäheten Rocke Christi« – die noch in einem Bruchstücke aus dem 9. Jahrhundert vorhandene, späterhin aber von dem bereits erwähnten Dichter Hartmann von der Aue meisterhaft bearbeitete Legende vom »heiligen Georg vom Stein« sowie die wunderliche Sage »vom Pilatus«, in welcher der römische Statthalter dieses Namens mit einem deutschen grimmen Königssohne Pontus identifiziert wird, der sich nach Christi Tode wegen seines ungerechten Urteilsspruches selbst um das Leben bringt, dessen Leichnam sodann erst in die Tiber, später in die Rhone geworfen wird, aber immer wieder herausgeholt werden muß, weil er als ein böser Geist überall große Überschwemmungen verursacht, bis man ihn endlich in den See am Pilatusberge in der Schweiz versenkt, wo er liegt bis an den Jüngsten Tag, aber die bösen Wetter in den Bergen erzeugt und den See zornig aufwühlt, so oft man einen Stein hineinwirft. – In der Legende vom heiligen »Alexius« des vorhin genannten Konrad von Würzburg entsagt Alexius, der Sohn eines reichen römischen Bürgers, am Abend seines Hochzeittages der Welt und ihren Freuden, gibt den goldenen Ring seiner Braut Adriatica zurück und zieht in ärmlicher Kleidung hinaus. Nach mancherlei strengen Bußübungen und Pilgerfahrten [574] wird er zuletzt in einem Meersturm nach Rom verschlagen. Hier findet er in dem Palast seines Vaters unter der Treppe als Bettler eine Lagerstatt, von allen unerkannt, so bleich waren Antlitz und Locken durch die freiwillige Not geworden. Die Diener verhöhnen den vermeintlichen Bettler, der Vater fragt ihn nach seinem Sohne, die treue Adriatica nach ihrem Gemahl. Dort stirbt er bald darauf, nachdem er seinen Lebenslauf auf ein Pergament niedergeschrieben und dieses fest in seine Hand geschlossen hatte; im Augenblick seines Todes aber fangen alle Glocken Roms von selbst zu läuten an, und es verbreitet sich die Kunde, daß unter der Treppe des Palastes der Heilige verschieden. Nun versuchen erst der Vater, dann die beiden Kaiser Arkadius und Honorius, und endlich selbst der Papst vergeblich, das Pergament aus der erstarrten Hand des Toten zu ziehen, sie öffnet sich nur der stillweinenden Adriatica. Wunderlieblich endlich ist in der Legende von der heiligen »Elisabeth« das zarte Bild der Heiligen gleichsam von einem milden Glorienschein umgeben: wie sie während der Messe mit innerlichen Augen das göttliche Wunder schaut, dann in ihrer Gefährtin Isentrut Schoße einschlummert und im Schlafe bald lächelt und bald weint, in ihrer Sterbestunde aber unsichtbar himmlischer Gesang ertönt.

Das Wesentliche der geistlichen Erzählungen, die wir oben als die dritte legendarische Gruppe unterschieden, ist, wie bereits erwähnt, die versuchte Vermittelung oder wohl auch willkürliche Vermischung des Weltlichen mit dem Göttlichen, indem sie entweder Novelle und Profanhistorie unmittelbar an das Kirchliche anknüpfen oder ihre Geschichten, auch ohne solchen kirchlichen Boden, nur durch großartige Züge christlicher Tugenden beseelen. So ist z.B. in dem aus dem 13. Jahrhunderte herrührenden Gedichte »Heraklius« eine ziemlich zweideutige Liebesgeschichte, welche übrigens die Grundlage unserer heutigen Theater-Griseldis bildet, mit dem Feste der Kreuzeserhöhung lediglich dadurch in Verbindung gesetzt, daß Heraklius zu letzt Kaiser wird und als solcher von den Persern das von ihnen geraubte heilige Kreuz wieder erobert. – Das vortreffliche sogenannte »Annolied« (um 1170) enthält, neben dem Lebenslaufe des Erzbischofs Anno von Köln, zugleich auch eine bedeutend konfuse Profangeschichte, insbesondere des Julius Cäsar, der mit seinen »guten Helden aus dem deutschen Lande« den Pompejus [575] in die Flucht jagt. – Hiermit nahe verwandt sind die beiden beinah gleichzeitigen großen Reimchroniken: die sogenannte »Kaiserchronik« und die etwas spätere »Weltchronik« des Rudolf von Ems. Die erstere verbindet, im guten alten Stil, die Legende fast aller Heiligen ebenfalls mit einer verworrenen Profanhistorie, während in der Weltchronik die Geschichte des Alten Testaments bis auf Salomo, zugleich aber die Geschichte der heidnischen Völker sehr anmutig erzählt wird, so daß also hier das Göttliche und Weltliche schon immer weiter auseinanderfällt oder doch, fast unvermittelt, nebeneinander her läuft.

Geistlicher, obgleich ohne eigentlich kirchlichen Hintergrund, ist die andere, oben erwähnte Art christlicher Erzählungen, wie der arme Heinrich und der gute Gerhard. Im »armen Heinrich« von Hartmann von der Aue (aus den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts) ist es die rührende Gestalt eines armen, kindlichfrommen Mädchens, die freiwillig in den Tod gehen will, um einen reichen Herrn vom Aussatz zu retten, der nach damaliger Sage nur durch das Blut einer reinen Jungfrau geheilt werden konnte. Der Kranke trägt sein Unglück nicht mit Geduld, sondern ingrimmig und unter ungestümen Verwünschungen, wird aber durch die christliche Liebe und Aufopferung der Jungfrau so erschüttert, daß er sich zu Geduld und Gottergebung wendet, sonach auch ohne Blutvergießen geheilt wird und dem frommen Mädchen endlich seine Hand reicht. – Im »guten Gerhard« des Rudolf von Ems dagegen wird Kaiser Otto der Rote, der sich selbstgefällig seiner guten Werke gegen Gott rühmt, durch das Beispiel anspruchloser Bescheidenheit eines Kölner Kaufmanns zu Demut und Buße bekehrt. – Allenfalls könnte zu diesem ganzen Kreise, wenigstens als letzter Ausläufer, auch noch die Erzählung vom »Herzog Ernst« insofern gerechnet werden, als der Held zur Sühne eines verübten Mordes einen Zug nach Jerusalem unternimmt und in diesem Gedichte dieselbe Verwirrung von historischen Personen und Zeiten sich wiederholt, die wir vorhin im Annoliede und in den Reimchroniken bemerkt haben. Außerdem aber bringt dieser abenteuerliche Ritterpilger auch noch alle phantastischen Fabeln und Wunder des Orients, wie sie in den Kreuzzügen umliefen, aus Jerusalem mit nach Hause. Denn er hat auf seiner Irrfahrt das »Schnabelvieh« der Kraniche, die eine indische Jungfrau entführt hatten, [576] geschlagen, für den König der einäugigen Arimaspen gegen die Völker der Plattfüße und Langohren gekämpft, am Magnetberg des Labbermeeres Schiffbruch gelitten und von dort, in ein Seehundsfell eingenäht, sich durch einen Greifen forttragen lassen. Man sieht, er ist der Übergang und erste Hauptanführer nach dem Lande der ungeheuerlichen Reise- und Lügenpoesie, die in ihrer Übertreibung später ins Komische umschlug und deren wir weiterhin noch besonders erwähnen werden.


Was insbesondere jene Reimchroniken wohlmeinend, aber ungeschickt und unkünstlerisch und daher vergeblich erstrebten, eine Vermittelung des Kirchlichen mit dem Weltlichen, ist in den alten Gedichten, welche speziell antike Geschichten und Sagen zum Gegenstande haben, wirklich erreicht worden. Es sind vorzüglich dreierlei Stoffe, die sie behandeln: die wunderbaren Taten und Heereszüge Alexanders des Großen, die Geschichte des Aeneas und der Trojanische Krieg. Alle diese Gedichte haben das miteinander gemein, daß sie nicht aus den klassischen Originalen, Homer oder Virgil, sondern aus mannigfach abgeleiteten Quellen und Volkssagen schöpfen, und daß alle ihre griechischen und römischen Helden in Kostüm, Physiognomie und Reden durchaus deutsch sind. Aber ganz abgesehen von diesen Äußerlichkeiten, welch ein innrer Abstand dieser Gedichte von unserer modernen Auffassung des Altertums! Während in unseren heutigen Nachbildungen das Christentum, gleichsam verlegen, geblendet und beschämt in der heidnischen Schönheit bis zur Abgötterei aufzugehen pflegt, schreitet dort der Glaube noch geharnischt und unangefochten mitten durch die schöne Fremde, die verlockenden Fernen als eine neue Provinz sich erobernd. Die alten Helden und Halbgötter müssen sich der Feuertaufe unterwerfen, und das Charakteristische jener Gedichte ist eben die Christianisierung des Antiken, eine freie Übersetzung ins Christliche.

Am leuchtendsten tritt dieser Charakter grade in dem schönsten und bedeutendsten dieser Gedichte, in dem »Alexander« des Pfaffen Lamprecht hervor. Hier haben wir, anstatt der antiken Ruhe und Selbstgenüge, das überall durchtönende Gefühl von der Vergänglichkeit aller irdischen Größe und Schönheit und daher die Wehmut, das immer weiter und höher strebende Sehnen und zuletzt die Demut, die der Kraft [577] so wohl ansteht; mit einem Wort: alle eigentümlichen Züge eines christlichen Ritters ohne Furcht und Tadel. Wie morgenkühl und taufrisch ist da in dem Briefe, in welchem Alexander seinem Lehrer Aristoteles die ihm zugestoßenen Abenteuer beschreibt, der Wunderwald geschildert, wo beim Rauschen der Wipfel zwischen rieselnden Quellen und Vogelsang hohe duftige Blumen stehen, deren halbaufgeschlossenen Knospen wunderschöne Mädchen entsteigen und ihren lieblichen Gesang mit dem der Waldvögel vermischen. Aber der Sommer gehet dahin: »die Blumen all verdarben, die schönen Mägdlein starben, ihr Laub die Bäume ließen, die Brunnen all ihr Fließen, die Vögelein ihr Singen – die Freuden all zergingen.« Man würde indes sehr irren, wenn man glaubte, daß durch solche zarte Wehmut etwa der Kraft irgend Eintrag geschieht. Vielmehr tut Alexander schon als Knabe, »wenn ihm etwas übel wider seinen Sinn fuhr, wie der Wolf tut, wenn er über seinem Raube steht«, und ficht in den späteren Kämpfen »mit grimmigem Mut, wie der zornige Bär tut, wenn ihn die Hunde bestehen, die er mit den Klauen mag fangen, an denen rächet er seinen Zorn«. Und es ist ebenso groß als wahr, wenn der Held sodann, auf die Frage, warum er als ein Sterblicher die Welt so in Bewegung setze und nicht Mäßigung lerne, den zagen Warnern zur Antwort gibt: »Uns ist von der höchsten Gewalt eingepflanzt, zu üben, welche Kraft wir erhalten haben; das Meer ist dem Winde gegeben, es aufzuwühlen.« Als aber Alexander nun bis an das Ende der Welt gekommen, erfaßt ihn auf dem höchsten Gipfel irdischer Macht der menschliche Schwindel; er will auch das Paradies haben und Zins von den englischen Chören. »Hie muget ir tumpheit horen!« ruft da der Dichter aus. Aber der Held pocht vergeblich an das Himmelstor, die Scharen der Engel beachten es nicht, und der Alte am Tore warnt ihn vor Gierigkeit, denn die Gierigkeit sei der unersättliche Schlund der Hölle. So, von der himmlischen Warnung wunderbar getroffen, kehrt Alexander um und wendet sich fortan von Kampf und Habsucht zur Demut. »Da ward ihm vergeben«, – von der ganzen eroberten Welt aber blieb ihm nichts übrig, als »Erde sieben Schuhe lang, wie dem allerärmsten Mann«.

Gedankenarm dagegen und im Grunde nur eine neutralisierende Abschwächung der antiken Größe sind die anderen bis auf uns gekommenen Gedichte dieser Gattung. Demungeachtet [578] zählen sie noch immer zu dieser Reihe, durch eine traditionelle Erbschaft christlicher Gesinnung und ritterlicher Ehrenhaftigkeit. In der »Eneit« (einer Bearbeitung von Virgils Aeneide) von Heinrich von Veldeke entschädigt wenigstens einigermaßen die Unschuld und Reinheit der irdischen Liebe in den eingeflochtenen Episoden; und Herbort von Fritzlar erklärt in seinem »liet von troje« gleich vornweg, daß er nie einen Mann loben werde, der untreu sei, und ob sich auch alle anderen Tugenden in ihm vereinten. Außerdem aber zeichnet sich die Eneit und insbesondere der »trojanische Krieg« von Konrad von Würzburg durch eine Sprach-und Reimgewandtheit und eine Anmut der Formen aus, die gewissermaßen den Übergang zur höfischen Kunstdichtung, vom alten Epos zum Minnegesange bildet.


Die Lyrik ist von aller Poesie die subjektiveste, sie geht nicht auf die gewordene Tat, wie das Epos, und nicht auf die werdende Tat, wie das Drama, sondern auf den eigentlichen tieferen Grund von beiden: auf den inneren Menschen; sie hat es mit der Stimmung und nicht mit der äußeren Manifestation dieser Stimmung zu tun. Wie das Epos die Poesie der Vergangenheit, der Sage und traditionellen Heroengeschichte, so ist die Lyrik, da sie an die Individuen gewiesen, wesentlich die Poesie der Gegenwart und folglich unruhig und wandelbar wie diese; von den Wellen der Zeit erweckt und getragen, gleichsam eine unsichtbare geheimnisvolle Äolsharfe, die von den wechselnden Lüften gespielt wird und einer wunderbaren unendlichen Modulation fähig ist. Sie ist daher auch ihrer Natur nach musikalisch und singbar, und ihr eigentliches Organ ist das Lied.

Aus dieser ihrer Eigentümlichkeit aber läßt sich die Geschichte der Lyrik leicht erklären und in wenige Hauptzüge zusammenfassen.

Sie kann nämlich hiernach nirgend den Anfang einer Nationalpoesie bilden, wo vielmehr das Epos liegt. Denn die poetische Wahrnehmung des äußerlich Gegebenen, es sei nun Mythe oder historische Tatsache, geht naturgemäß überall der subjektiven Verarbeitung dieses Gegebenen voraus, und es bedarf schon einer weiter fortgeschrittenen Zivilisation, um das Innerliche künstlerisch zu verklären. Auch sind in der Tat die ersten lyrischen Versuche aller Völker, wie namentlich die [579] Schlachtlieder der alten Deutschen, eben nur epische Fragmente und Erinnerungen an die sagenhafte Heldenzeit.

Sodann hat die Lyrik diesen idealen Zug nach dem Inneren mit dem Wesen des Christentums gemein. Daher tritt sie überall erst durch das Christentum selbständig und vorwaltend auf, während sie bei den Alten stets nur noch episodisch an das Epos oder Drama, wie eine blütenreiche Liane am Hauptstamm, angelehnt erscheint.

Als Poesie der Gegenwart mußte ferner die Lyrik immer mehr aus der klösterlichen Beschaulichkeit in das wirkliche Leben hervortreten, von der Geistlichkeit zu den Laien übergehen und grade in der reichsten Gegenwart, in der ungeheuren Bewegung und Anregung der Kreuzzüge, ihre eigentliche Blütenzeit feiern. Aber diese Poesie war eben darum nicht mehr eine halbhistorische, von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbende Tradition, sondern individuell und persönlich geworden. Und so fiel sie denn auch sehr bald den Rittern anheim, als dem Stande, der das äußere Leben am entschiedensten bestimmte und führte. Daher kommen nun die fahrenden Sänger und Harfner allmählich in Verachtung, wir sehen fast nur adelige Dichter; ja Kaiser, Könige und Fürsten, wie Konrad IV., Heinrich VI., Friedrich II., Wenzel II. von Böhmen, Heinrich der Löwe, verschmähen es nicht, sich den zahllosen Sängern anzureihen. Da jedoch die Ritter an Bildung noch hoch über dem anderen Volke standen, so nahm bei ihnen die Poesie einen fast exklusiven höfischen Kunstcharakter an; und so entstand der Minnegesang.

Eben durch ihre subjektive Natur aber ist die Lyrik auch bei den verschiedenen Nationen, die ja in der Weltgeschichte mehr oder minder gesonderte Volksindividualitäten darstellen, verschiedener und bezeichnet jeden besonderen Volkscharakter schärfer als andere Zweige der Poesie. Ja, wir möchten sie in diesem Betracht vorzugsweise eine deutsche Kunst nennen, wegen der größeren Innigkeit, die an der Glätte des Liedes romanischer Völker nirgend recht haften will und doch der eigentliche Grundklang aller Lyrik ist. Diese Innigkeit ist allerdings, wie jedes Talent, ursprünglich eine freie Gabe Gottes, steht aber fortwährend in so lebendiger Wechselbeziehung mit der Geschichte der Nation, daß sich hier Ursache und Wirkung schwer voneinander sondern lassen. Schon das erste Auftreten der germanischen Völker mitten zwischen den [580] vom Morgenrot des Christentums wunderbar beleuchteten Trümmern der alten Welt mußte ihrer an sich ernsten Sinnesart eine tiefere, gedankenvollere Richtung geben. Ebenso wirkten weiterhin auch die Kreuzzüge hier anders ein als bei den anderen Nationalitäten. Denn die romanischen Völker – die Spanier in der Heimat, die Franzosen im Orient – streiften gleichsam im Fluge die Blüten der ersten Begeisterung, ja die letzteren gründeten im Siegesjubel neue Königreiche, die freilich ebenso rasch wieder verschwanden, als sie entstanden waren. Die späteren Kreuzzüge der Deutschen dagegen waren unglücklich und endigten tragisch mit dem Tode eines großen Kaisers. Daher drängten hier die gewaltigen Ereignisse zur Entsagung, zur Wehmut über die Vergänglichkeit aller menschlichen Größe, vom äußeren Ruhmesglanz zum Streben nach innerer Weihe.

Es ist hiernach schwer begreiflich, wie in neuerer Zeit von namhaften Literarhistorikern die fröhliche Kunst der Troubadours und Provenzalen so hoch über das deutsche Minnelied erhoben werden konnte. Offenbar hat hierbei der politische Historiker dem poetischen Urteil vorgegriffen. Allerdings glänzten die Troubadours an prächtigen Minnehöfen und bildeten selbst an den Höfen der Könige durch Lob und Tadel eine politische Macht, während die meisten deutschen Dichter in der einsamen Freiheit ihrer Berge und Burgen sangen. Allein Politik und Königshöfe sind nie und nirgend die rechte Schule der Poesie, und so mußte auch hier das, was den deutschen Sängern äußerlich fehlte, innerlich ihrem Liede zugute kommen. Der Minnegesang der Troubadours mag daher immerhin reicher, künstlicher, beweglicher und mannigfaltiger sein; der deutsche dagegen ist bei weitem intensiver, keuscher, inniger, natürlicher und gedankenvoller. Wir finden bei den Troubadours im Grunde schon alle Eigenschaften, die uns bei den heutigen Franzosen, je nach der individuellen Ansicht anwidern oder blenden: Nationaleitelkeit, maßlose Ruhmredigkeit, Frivolität, dialektische Virtuosität und sehr viel Politik. Da aber die Lyrik eben die Geschichte der Seele ist, so entscheidet hier nicht die noch so reich auf der Oberfläche glänzende Äußerlichkeit, sondern einzig die Tiefe, und diese ist ohne Zweifel auf deutscher Seite.

Der deutsche Minnegesang ist bereits öfters und treffend mit der Frühlingszeit verglichen worden, die mit ihren Blumen [581] und Vogelsang im Schimmer der ersten Jugendliebe wie eine zauberische Feeninsel unversehens auftaucht. Auch nannten die Sänger sich selbst gern Nachtigallen, und schon Gottfried von Straßburg, dessen wir weiter unten noch besonders erwähnen werden, erkannte freudig an, »daß diese Nachtigallen ihres Amtes wohl pflegten und lobwürdig ihre süße Sommerweise mit lauter Stimme sangen, das Herz mit Wonne füllten und der Welt hohen Mut gaben, die alles Reizes entblößt und sich selbst lästig wäre, wenn nicht der liebe Vogelgesang dem Menschen, dem ja nach Liebe sein Herz stand, die Freude und Wonne und die mancherlei Lust ins Gedächtnis riefe, die edle Herzen beseligt; daß es freundlichen Mut und innigliche Gedanken weckt, wenn der süße Gesang der Welt ihre Freuden zu sagen beginnt.« – Dieser Minnegesang aber war eben nur der Widerklang und poetische Ausdruck des damaligen Lebens, seinen Gegenstand bildeten fast ausschließlich dieselben geistigen Elemente, die auch das Rittertum in seiner schönsten Blüte umfaßte: Gottesdienst, unverbrüchliche Treue im Herren- und Frauendienst und endlich dieser Frauendienst selbst.

Außer mehreren Liedern, die von Kaiser und Reich und Lebensmannen handeln, besitzen wir nämlich aus jener Zeit auch viele eigentlich geistliche Lieder von den göttlichen Dingen, unter denen sich besonders die des Minnesängers Spervogel durch ungesuchte Erhabenheit auszeichnen. Ja, eine der musikalischsten Liederformen, die Leiche, ist aus der sogenannten Sequenz des Kirchengesanges entstanden; während späterhin die weltlichen Tage- oder Wächterlieder, wo der Wächter von der Zinne den kommenden Tag verkündet und die Liebenden an das Scheiden mahnt, gleichfalls geistlich umgedeutet wurden.

Den bei weitem überwiegenden Stoff des Minnegesanges aber bildete, wie schon der Name andeutet, der Frauendienst. Dieser scheint uns indes keinesweges, wie andere wollen, aus dem mit der zunehmenden Zivilisation wachsenden Bedürfnis der durch Erwerb immer mehr belästigten Männer nach häuslichem Trost und Erholung entstanden zu sein. Ja, unsere sogenannte Häuslichkeit, die sich mit dem Stilleben ihrer Krautgärten begnügt, ist grade ein rechtes Gegenspiel jenes phantastischen Kultus, wo der Rittersänger von Land zu Land schweifend und toastierend, die Dame, die er feiert, oft nicht [582] einmal von Angesicht gesehen hat. Wie hätte auch sonst grade späterhin, als die Sorge des Mannes für Haus und Hof doch offenbar immer lästiger geworden, der fromme, freudige Glaube aber gesunken war, jene Verehrung beinah in rohe Verachtung der Frauen umschlagen und der alte Frauendienst allmählich ganz in Verfall geraten können? Der Frauendienst, in seiner ersten ungetrübten Blüte, wuchs vielmehr lediglich aus der christlichen und also idealeren Auffassung der irdischen Schönheit – die Natur mit ihren Bergen, Wäldern und Vogelsang mit eingeschlossen – und aus dem daraus folgenden Gefühle der unsichtbaren Gewalt, welche die Unschuld und Reinheit dieser Schönheit, die im Weibe ihre höchste Blüte hat, über das zerfahrene Treiben und die verworrenen Leidenschaften des Mannes ausübt. Es ist, wie Gervinus richtig bemerkt, mehr die Verehrung des weiblichen Geschlechts als einzelner Frauen. Daher sehen wir diese Verehrung überall kühn an das höchste Ideal geistiger Schönheit, an die Verherrlichung der Jungfrau Maria geknüpft, als des himmlischen Symbols weiblicher Milde und Reinheit, das seinen überirdischen Glanz verklärend auf alle irdischen Frauen herniederstrahlte. Vergeblich suchen wir in allen anderen Sprachen einen Ausdruck für unsere deutsche Minne, für jene höhere Liebe, »die alle Enge und Weite umspannt; die auf Erden und im Himmel thront, die überall, nur in der Hölle nicht, gegenwärtig ist«.

Wir bemerkten schon vorhin, daß die Lyrik, als die spezifisch subjektive Poesie, sich von den Massen auf die Individuen zurückzog und natürlicherweise, namentlich im Minnegesange, eine kunstreichere Form annahm. Doch darf man sich hier die Kluft noch keineswegs so bedeutend denken, wie sie etwa in neuerer Zeit die sogenannten Gebildeten vom sogenannten Volke scheidet. Der Adel teilte noch immer das tiefe Naturgefühl des Volkes und stand im Wissen nur wenig über demselben; Wolfram von Eschenbach selbst konnte weder lesen noch schreiben. Daher sind diese ritterlichen Minnelieder noch ganz frei von aller gelehrten Prätention und Pedanterie, und wurden nicht, wie die späteren Kunstgedichte, deklamiert, »gesagt«, oder gar aufgeschrieben, sondern stets, wie das Volkslied, gesungen; und wer nicht selbst singen konnte, hielt sich sein »Singerlein«, einen Knaben oder Jüngling, der die Weise der Geliebten vorsingen mußte. Und welch [583] ein überreicher Frühling mußte das sein, der so plötzlich ganz Deutschland von einem Ende zum andern durchklungen, da wir, ungeachtet so vieles verlorengegangen, dennoch Lieder von hundertsechzig Minnesängern besitzen. Gleichwie aber die Nachtigallen sich gern und dankbar in schattenreichen Gärten niederlassen, wo ihnen liebreicher Schutz und Pflege geboten wird, so gruppierten sich auch diese Sänger sehr bald um die kleineren deutschen Höfe, unter denen besonders der des thüringischen Landgrafen Hermann und die babenbergischen Herzoge von Österreich durch ihre Kunstliebe und ungemessene Gastfreiheit gegen die Dichter sich unsterblich gemacht haben. Wie rein aber die Saiten dieser Sänger gestimmt sein mußten, zeigt schon der Umstand, daß damals die heilige Elisabeth an der Seite ihres Gemahls zu Eisenach Hof hielt, wo sie von den Flügeln dieses melodischen Gesanges zur göttlichen Minne emporgehoben ward und schwerlich einen störenden Mißklang geduldet hätte.

Ein Denkmal jener poetisch bewegten Zeit ist uns in dem Wettgesange übriggeblieben, der von einem späteren Dichter unter dem Namen des Sängerkrieges auf der Wartburg in ein Ganzes zusammengefaßt worden. Dieser Wartburgkrieg ist zwar, wenigstens in seinen hier angeführten Nebenumständen, offenbar nur sagenhaft, beruht aber, wie alle Sage, ohne Zweifel ursprünglich auf historischem Boden. Es scheint in der Tat um das Jahr 1207 ein solches poetisches Turnier auf der Wartburg stattgefunden zu haben, bei welchem Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Ofterdingen, ja sogar ein entschieden mythischer Sänger, der Ungar Klingsor, aus dem Stegreif mitgefochten haben sollen. Manches in dem Gedichte mag vielleicht aus diesem Kampfspiel noch wörtlich übernommen sein, das Ganze, wie es uns hier dargestellt wird, mit seinen rätselhaften Spitzfindigkeiten, macht jedoch einen fast wehmütigen Eindruck, als Nachklang einer großen untergegangenen Dichterzeit, die der neuere Sänger nicht mehr verstanden hat.

Zu den frühesten Minnesängern gehören, außer dem schon erwähnten Spervogel, der von Kürenberg, Walram von Gresten, Dietmar von Aist und der im Kreuzheere vor Philomelium heldenmütig gefallene Friedrich von Hausen. Auch die eigentlich erzählenden Dichter: Gottfried von Straßburg, Heinrich von Veldeke, Hartmann von der Aue und Wolfram [584] von Eschenbach mit seinen schönen Tage- und Wächterliedern, reihten sich diesem Frühlingschore an.

Der ausgezeichnetste unter ihnen aber ist Walther von der Vogelweide, dessen Gedichte von Simrock trefflich übersetzt und von Lachmann und Uhland vielfach besprochen und erläutert worden sind. Manche neuere protestantische Schriftsteller, wieder einmal die heutige Weltansicht um eine Handvoll Jahrhunderte zurückdatierend, haben ihn vergnüglich zu den Ihrigen zählen wollen. Auch hat er allerdings in seinen Gedichten oft an Papst und Geistlichkeit scharf genug gerügt, was zu rügen war, denn »sie bannten, die sie wollten, und nicht den, den sie sollten; da störte man das Gotteshaus«. Aber man übersieht eben hierbei, oder will vielmehr nicht sehen, daß er überall nur das damalige politische Treiben des römischen Hofes rügt um des Heils der Kirche willen, welcher er getreulich anhing, und ohne Zweifel gegen den neuen Protestantismus mit großer Entrüstung protestiert haben würde.

Walther steht schon darum an der Spitze jener Sänger, weil er, fern von aller konventionellen Spielerei, am entschiedensten und männlichsten die dreierlei Elemente umfaßt, die wir oben als das Charakteristische des Minnegesanges bezeichnet haben. Kein anderer sang so rein, so süß und wahr wie Walther von der ewigen Schönheit der Frauen, »wenn lieblich lacht in Lieb ihr süßer roter Mund und Pfeil' aus spielenden Augen schießen in Mannes Herzens Grund«. Dieser liebliche Frauendienst aber ruht bei ihm, wie ein Heiligenbild auf Goldgrund, auf einem tiefen religiösen Gefühle. »Da dacht ich mir viel ange (angstvoll), wie man zu Welt hier sollte leben: und keinen Rat ich konnte geben, wie man drei Dinge erwürbe, der keines nicht verdürbe. Die zwei sind Ehre und fahrendes Gut, das oft einander Schaden tut, das dritte ist Gottes Hulde, der zweien Übergulde; die wollt ich gern ineinen Schrein. Ja leider, das kann nimmer sein, daß Gut und weltlich Ehre und Gottes Hulde mehre zusammen in ein Herze kommen. Stieg und Wege sind ihnen benommen, Untreue ist in der Saße (Hinterhalt), Gewalt führt auf der Straße, Friede und Recht sind sehre wund. Die drei zusammen haben kein sicheres Geleite, nur zwei, die werden ehe gesund.« – Ebenso ernst wahrt er in Lied und Tat den Herrendienst, indem er mit unwandelbarer Treue in Glück und Not zu seinen rechtmäßigen Kaisern hält. – Wie wahr und ergreifend endlich ist bei ihm die Wehmut und [585] Klage über die Vergänglichkeit der irdischen Dinge: »O weh, wohin geschwunden sind alle meine Jahr! hat mir mein Leben geträumt oder ist es wahr? Was ich je wähnte, daß es wäre, ist das icht (etwas)? Darnach hab ich geschlafen und ich weiß es nicht. Nun bin ich aufgewacht, und mir ist unbekannt, was einst vertraut mir war wie meine andre Hand. Leut und Lande, da ich von Kindheit bin erzogen, die sind mir fremd geworden, als wär es all erlogen. Die mir Gespielen waren, die sind träge und alt, und öde liegt das Feld, verhauen ist der Wald – nur daß das Wasser fließet, so wie es weiland floß –, wie ich gedenke manchen wonniglichen Tag, der mir zerronnen ist, wie in das Meer ein Schlag: Immer mehr o weh!«

Und mit dieser Klage wollen wir von jenem lieblichen Reich der Liederträume Abschied nehmen. Der Frühling ist längst verrauscht, und ein scharfer trockener Herbstwind streift über das verwandelte Land. Aber wem erwecken solche ferne Klänge, wie das Alphorn dem Schweizer, nicht noch heut ein wunderbares Heimweh nach seiner stillen harmlosen Jugendzeit, deren Erinnerung in jedem gesunden Herzen unvergänglich ist.


Die Poesie hat, wie jedes geistige Leben, ihren notwendigen Entwickelungsprozeß, der sich, weil er der natürliche ist, bei allen Völkern wiederholt. Die erste jugendlich frische, fast noch kindliche Anschauung der Welt erzeugt das Epos. Diese Anschauung, je lebendiger sie ist, weckt indes sehr bald ein nach den verschiedenen Individualitäten verschiedenes Interesse und Mitgefühl an dem großen Sagenstoff; die Poesie wird eine mehr innerliche und wesentlich lyrisch. Eine solche bloß experimentale und vorbereitende Trennung der beiden ursprünglichen Grundelemente aller Poesie kann aber nirgend von Dauer sein und strebt unablässig nach Wiederversöhnung. Und diese Vermittelung ist eben das Wesen des Dramas, wo das lyrisch Subjektive, ohne sich selbst aufzugeben, in der darzustellenden Handlung wiederum objektiv wird. Man begreift hiernach leicht, daß schon das bloße Bedürfnis solcher Vermittelung einen höheren Grad, wir möchten nicht sagen, menschlicher Bildung, sondern künstlerischer Ausbildung und Reife voraussetzt als jene Vorbereitungszeit. Daher erscheint auch das Drama, gewissermaßen Epos und Lyrik in ein Ganzes zusammenfassend, überall zuletzt. Daher hat das Mittelalter [586] eigentlich noch gar kein Drama; wohl aber schlummern in diesem großen Völkerfrühlinge schon alle verhüllten Keime dazu, welche bei den Völkern des Abendlandes das Christentum allmählich ins Leben rief, nachdem die Alten ihren künstlerischen Zyklus geschlossen hatten, und das klassische Drama in der allgemeinen Fäulnis längst in sich selbst zerfallen war.

Das Drama ist überall, bei den Alten wie bei den neueren Völkern, religiösen Ursprungs und aus dem natürlichen Bedürfnis hervorgegangen, den religiösen Kultus durch Wechselgesänge zu feiern, zu beleben und zu erläutern. Das Drama ist ferner, seiner Natur nach, in seinen ersten Anfängen durchaus tragisch, die versuchte Darstellung des Konfliktes zwischen Subjektivem und Objektivem, des unvergänglichen Kampfes der in der Menschenbrust begründeten Sehnsucht und Forderung des Ewigen und Unendlichen gegen die begrenzenden Schranken des Endlichen. Wo aber, auch vom bloß künstlerischen Standpunkt betrachtet, fände wohl die Poesie in der ganzen Weltgeschichte einen so tief tragischen Stoff als im christlichen Glauben? Was waren den Alten ihre wetterwendischen Götter mit ihren menschlichen Launen und Tücken, ihr Ajax und Hektor gegen die einzige Heldengestalt Christi, wie Er, in jenem ungeheueren Kampfe des Unendlichen mit dem Irdischen allen voranschreitend, zuletzt verkannt, verraten und von allen verlassen in furchtbarer Einsamkeit durch alle Grauen und Schrecken des Todes geht, um das arme Menschengeschlecht aus seiner uralten Knechtschaft zu befreien!

Und so ist denn diese große Welttragödie auch wirklich der Ausgangspunkt und erste Gegenstand unseres Dramas; ja die Kirche selbst vermittelte den Übergang. Es ist bekannt und von anderen bereits hinreichend nachgewiesen, wie dramatisch bald im Anfange der christliche Gottesdienst sich gestaltete. Die ganze christliche Weltansicht von Erschaffung der Welt bis zu Christus war durch korrespondierende Wechselgesänge und mimisch-plastische Darstellungen schon in der zwölfstündigen Urliturgie angedeutet, deren tiefe Symbolik, in ihre Hauptzüge zusammengedrängt, uns noch bis heute in dem heiligen Meßopfer aufbewahrt ist. Fast ebenso alt war die Sitte, während der Passionszeit die Leidensgeschichte Christi in der Kirche aus den Evangelien vorzulesen, wobei die Reden Christi von dem Priester, dagegen die Reden der Apostel, [587] des Herodes, des Pilatus, der Hohenpriester und des jüdischen Volkes von verschiedenen Personen vorgetragen wurden. Es ist aber natürlich, daß man hierbei in den Text der Evangelien, teils zur Erläuterung, teils zur Verstärkung des Eindrucks, sehr bald Versifikation, kirchliche Traditionen, ja sogar Rezitative und einzelne Gesangstücke mit einwob, während schon im 12. Jahrhundert ein Kostüm der Vortragenden und höchstwahrscheinlich auch eine Art von Aktion hinzukam. Auch diese Anfänge aber nahmen in nächster Folge denselben Gang, den wir oben bei der Legende bemerkten. Erst war Christus, seine Geburt, sein Wandel, sein Leiden und sein Sieg der einzige Gegenstand und alles streng an die Evangelien angeschlossen; später aber wurden allmählich auch einzelne Momente und Gestalten des großen Weltdramas, wie die Jungfrau Maria, die Heiligen und Märtyrer, zum Gegenstande eigener Darstellungen gemacht. So entstanden die ersten christlichen Dramen, die Mysterien; und aus ihnen – da die Aufgabe, das Übersinnliche darzustellen, nur annähernd und sinnbildlich gelöst werden kann – die wesentlich allegorischen Moralitäten, wo Feld und Wald, die einzelnen Seelenkräfte, die biblischen Gedanken, ja der Gedanke selbst, neben historischen Personen, wie eine wunderbare Hieroglyphenschrift, redend und handelnd auftraten. Und so lebenskräftig und unversehrt war damals noch der Glaube, daß es keineswegs zu Ärgernis und Störung, sondern durch den Gegensatz vielmehr nur zur Verstärkung des Eindrucks gereichte, als nach und nach auch derbe Scherze und komische Zwischenspiele eingeschoben wurden, in denen besonders ein Marktschreier, der an die zum Grabe wallenden Frauen Salben und Spezereien verkauft, und der um die falschen Silberlinge schachernde Judas die Lieblingsrollen übernehmen mußten.

Die Spur dieser geistlichen Dramen läßt sich mit Sicherheit bis in das 4. Jahrhundert verfolgen, aus welchem ein aus dem Griechischen übersetztes Passionsspiel, angeblich von dem Kirchenvater Gregor von Nazianz, bis auf uns gekommen ist. Auch aus dem 9. Jahrhundert, wo sie wahrscheinlich unter Karls des Großen geistreicher Mitwirkung allgemeiner wurden und wobei besonders der Abt Angilbert tätig war, besitzen wir noch ein lateinisches Drama in Versen über die Geburt Christi, und aus dem 10. die sechs legendarischen Moralitäten der Benediktinernonne Roswitha (Helene von [588] Rostow im Kloster Gandersheim am Harz). Im 12. Jahrhundert aber sehen wir schon in den meisten großen Städten eigene Brüderschaften zur Aufführung von Passionsspielen sich vereinigen; so in Rom die del Gonfaloni, die der Batutti in Treviso, und 1404 die Confrèrie de la Passion in Paris. Während also Mysterium und Moralität hiernach im Süden und Westen Europas, sowie in England, schon einen Zyklus stehender Vorstellungen bildeten, der sich den Festen des Kirchenjahres anschloß, scheinen sie in Deutschland erst im 14. Jahrhundert sich allgemein verbreitet zu haben. Wenigstens erhalten wir wunderlicherweise durch Eulenspiegel die früheste Andeutung davon, welche aber zugleich beweist, wie bald das geistliche Schauspiel hier national geworden, indem dort von einer solchen Vorstellung auf einemDorfe die Rede ist. Die erste Aufführung dagegen, von der wir bestimmte Kunde haben, ist ein Spiel von den klugen und törichten Jungfrauen, welches 1322 die Predigermönche in Eisenach gaben und das den Markgrafen Friedrich von Meißen so gewaltig ergriff, daß er in tiefem Hinbrüten vom Schlage gerührt wurde.

Dem gottesdienstlichen Ursprunge und Charakter entsprach auch die ganze äußere Erscheinung dieses Schauspiels. Gleich den Liturgien, aus denen sie hervorgegangen, bestanden sie in lateinischen Rezitativen, erst später wurden zur Erklärung und Erweiterung des Bibeltextes gereimte Verse in der Landessprache eingeschoben und gesprochen. Die Schauspieler waren Geistliche, der Schauplatz die Kirchen oder, wenn diese nicht Raum genug boten, die Kirch-und Klosterhöfe. Die Bühne selbst aber hatte gewöhnlich drei Stockwerke übereinander, von denen das obere und untere Himmel und Hölle, das mittlere die Erde vorstellte. Das gesamte Personal stand oder saß im Halbkreise auf der Bühne in der jedesmaligen Tracht der Zeit, nur Gott Vater, die Engel und Apostel in priesterlichen Gewändern, Christus als Bischof. Alle intonierten vor Beginn des Schauspiels das: veni sancte spiritus, worauf der »expositor ludi«, als Heiliger oder wohl auch als der »alte Heidenmann« Virgilius, mit den nötigen Aufklärungen über Zeit, Ort und Gegenstand das Spiel eröffnete und überhaupt die Stelle des Prologs und Chorführers vertrat, während die andern, wenn die Reihe an sie kam, aus jenem Halbkreise vortraten und dann wieder dahin zurückkehrten, die Chorknaben aber die geistlichen Zwischengesänge ausführten. Die Vorstellung,[589] meist an den Nachmittagen, dauerte oft mehrere Tage (Tagewerke) und bedurfte besonders in der späteren Zeit eines sehr zahlreichen Personals; ja ein im Jahre 1498 zu Frankfurt gegebenes Passionsspiel hat nicht weniger als zweihundertfünfundsechzig Personen. Wie volksmäßig aber diese Stücke geworden, bezeugt schon der Umstand, daß sie, gleich dem alten Epos, nicht aufgeschrieben wurden, sondern als Nationalgut traditionell von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbten. Daher sind auch, außer einigen Oster- und Heiligenspielen, grade von den gangbarsten, den Passionsspielen, bis jetzt nur drei vollständige Texte aufgefunden, während wir von anderen lediglich einige sogenannte Spielbücher besitzen, welche bloß im allgemeinen den Gang des Stückes und die Anfänge und Stichworte der Reden angeben.

So waren denn also auch auf diesem Gebiet schon früher die Fundamente zu einem kühnen Münsterbau gelegt, der alle mannigfaltigen Erscheinungen des Lebens symbolisch erfassen und sehnsüchtig bis zum Kreuze emporranken sollte. Allein der Bau blieb unvollendet, wie die meisten Münster. Nur in dem tiefernsten Spanien, das bis in die neuere Zeit für seinen Glauben ritterlich gefochten, hat das Mysterium in Calderons Autos seine künstlerische Vollendung und Verklärung erlebt. Warum es aber in Deutschland sich nicht ebenso naturgemäß fortentwickeln konnte, sondern mit seinem ersten, fast rätselhaften Rohbau abschloß, werden wir weiterhin Gelegenheit genug finden, näher nachzuweisen.

4. Weltliche Richtung
IV
Weltliche Richtung

Wir verließen oben bei Wolfram von Eschenbach das Epos auf einer Höhe, wie sie in aller Literatur nur selten erreicht wird. Sein Parzival ist durchaus eine tiefsinnige Symbolik der christlichen Lebensansicht. Allein wir stoßen in diesem Gedicht zugleich auch häufig auf eine geharnischte Entrüstung des Dichters, auf bitteren Spott und herbe Ironie, die schon auf bedenkliche Symptome der Zeit und auf einen scharfen Gegensatz des Dichtergemüts mit der Wirklichkeit hindeutet. Zwar hat der ernste Ton, den Wolfram angeschlagen, als der bei weitem noch volksmäßigste, lange und unter allen damaligen Dichtweisen am dauerndsten nachgeklungen; zahllose Fortsetzer und[590] Nachahmer quälten sich ab, ihn fortzuspinnen, und was allgemein gelten wollte, suchte unter Wolframs Schild, ja womöglich unter seinem Namen sich in der Welt einzuführen. Aber es ist seit dem Sündenfalle in der menschlichen Natur ein furchtbarer Zwiespalt, dessen Wiederversöhnung eben die große Aufgabe des Christentums ist. Es geht durch die ganze Geschichte, neben der unabweisbaren Sehnsucht nach Erlösung, eine Opposition des menschlichen Trotzes und Hochmuts, ein uralter, mehr oder minder verhüllter Protestantismus, der selbst und aus eigener Kraft und Machtvollkommenheit das Erlösungswerk zu übernehmen sich vermißt. Er versucht sich in den verzweifelten Anstrengungen der Waldenser und floriert in dem welthistorischen Kampfe der Hohenstaufen mit der Kirche. Es ist natürlich, dieser Geist mußte auch in der Poesie sich abspiegeln, und der mit Wolfram gleichzeitige Gottfried von Straßburg ist der Führer und Meisterdieser antikirchlichen Kunst.

In seinem berühmten Gedichte Tristan und Isolde kehrt er gradezu den Parzival um, mit offenbar feindseliger Absichtlichkeit geschäftig, den hehren Bau, den Wolfram aufgeführt, zu untergraben und niederzureißen, um über dem Schutte zwischen prächtigen Giftblumen für die irdische Genußseligkeit der emanzipierten menschlichen Natur einen bequem gemütlichen Lustgarten anzulegen. Wir sind weit davon entfernt, die Poesie mit unzeitigem Rigorismus einzig nach der kurzen moralischen Elle messen zu wollen; allein hier handelt es sich nicht mehr um Moral, sondern um Vernichtung von Religion, Tugend, Ehre und allem, was das Leben groß und edel macht. Hier wird zum erstenmal das, in allen späteren Romanen bis zum Ekel wiederholte, Dogma von der unbedingten Geschlechtsliebe verkündigt, welcher alles andere untertänig weichen und die ganze Welt nur zu würdigem Aufputz und Zierat dienen soll. Ja, der Dichter sagt: »Das Weib, das aus dieser Art schlägt und die gerne Lob und Ehre bewahrt, sei ein Mann an Gesinnung und nur mit Namen ein Weib.« Und wahrlich, die Heldin Isolde ist nicht aus dieser Art geschlagen und wird daher auch als ein Muster der Weiblichkeit aufgestellt. Der Stoff des Gedichtes ist durchaus gemein: die Verführungsgeschichte einer verheirateten Frau, die gern Lob und Ehre und Seele ihrer ehebrecherischen Liebesbrunst opfert; ein artiger, sich vor den Damen niedlich machender Fant, wie wir ihm wohl allezeit unter den eleganten Pariser Pflastertretern begegnen, der sich in seiner liebenswürdigen [591] Flatterhaftigkeit zuletzt noch gar in eine zweite Isolde verliebt; und endlich ein schwacher Ehemann, der nicht bloß gefoppt, sondern auf das schändlichste verraten und betrogen wird und welcher am Ende noch alle Schuld allein tragen soll, weil er sich unterstanden hat, sein tolles Weib zu hüten und in ihren sauberen Kunststücken zu stören. Überhaupt aber muß man dem Dichter nachrühmen, daß er mit wahrhaft dämonischer Konsequenz alles jenem Dogma von der alleinseligmachenden Geschlechtsliebe beugt und unterordnet und auf diese Weise in moralischer Beziehung eine vollkommen verkehrte Welt zutage bringt. Da wird verräterische List und Betrug als Kardinaltugend belobt, das gewissenlose Beharren bei der Sünde heißt Treue, und die Treue der Hofleute, die es mit dem betrogenen Ehemanne gut und ehrlich meinen, wird als Untreue gebrandmarkt; ja der freigeisterische Dichter scheut sich nicht, mit der Heiligkeit des Eides und des Gebetes frevelhaften Spott zu treiben. Isolde hat nämlich, um die ihr zuerkannte Feuerprobe des Gottesgerichts für sich unschädlich zu machen, eine List erfunden, »die ihr in Not und Gebet und Fasten der gnädige Christ eingegeben«. Nun schwört sie, in »göttlicher Andacht« betend, keck den falschen Eid und faßt dann unversehrt das glühende Eisen an – »da ward es offenbar, daß der viel tugendhafte Christ viel schlaffer wie ein Ärmel ist, er ist allen Herzen bereit, zum Guten und zum Betrug, sei es Ernst, sei es Spiel, er ist ja, so wie man will.« – Und eine solche gleißende und funkelnde Kette von Abscheulichkeiten wird nicht etwa mit verhüllter Ironie vor uns aufgerollt, sondern unbefangen und scheinbar harmlos, als ob sich das alles eben so ganz von selbst verstünde. Wie schade um so viel Schönheit, die hier an das absolut Häßliche verschwendet ist, um diese scharfe und tief wahre Charakteristik des Lasters, um so viel bewundernswerte Gewandtheit und Anmut, die, wie ein lieblicher Strom, alles in ihre melodischen Zauberwirbel hinabzieht!

Es ist in dem Ganzen allerdings eine indirekte tiefmoralische Lehre verborgen; aber wer mag sie in diesem betäubenden Duft der Giftblumen erkennen und herausfinden, ohne sich vielleicht tödlich zu verwunden? Auch lag eine solche verhüllte ernste Mahnung schwerlich in der Absicht des Dichters, der vielmehr ausdrücklich erklärt, daß sein alleiniges Ziel die Darstellung des vollen Reizes und Genusses der irdischen Liebe [592] sei, »eines so seligen Dinges, daß niemand ohne ihre Lehre weder Tugend noch Ehre habe«. Wir bezweifeln daher, daß er, wie manche gutmütig vermuten, wenn er das zuletzt abgebrochene Gedicht wirklich vollendet hätte, zum Schluß noch den Teufel als Vogelscheuche oder als Pfropfen auf seine schäumende Champagnerflasche gesetzt haben würde. Der weltliche Meister Gottfried wußte gewiß recht gut, daß der Teufel in solchem Handel nur dann seine unfreiwillige Schuldigkeit tut, wenn er mit seinen Schaudern und Schrecken insgeheim schon die ganze Geschichte durchschritten und notgedrungen mitten im Taumel der trunkenen Weltlust die grauenhaften Abgründe und den ganzen geheimnisvoll lauernden Hintergrund der Geisterwelt auf Augenblicke aufgedeckt hat, wie etwa in der Mozartschen Geistermusik zum Don Juan.

Es ist hiernach begreiflich, daß Gottfried, welcher der Schwäche der Menge schmeichelte und sie gleichsam in den poetischen Adelstand erhob, faßlicher und beliebter war als Wolfram, der sie streng und unbequem zum inneren Kampfe mit sich selbst herausforderte. Daher hinterließ Wolfram zwar viele Nachahmer, die ihn nicht verstanden und plump zu überbieten suchten, aber keine Dichterschule wie Gottfried, weil wohl höhere Formengewandtheit, nicht aber Adel der Gesinnung und der gedankenvolle Tiefsinn des Genies sich lernen und einschulen lassen. Das Verhältnis beider war ungefähr ebenso wie in neuerer Zeit zwischen Klopstock und Wieland. Gottfrieds unvollendeter Tristan fand nicht nur zwei ziemlich ungeschickte Fortsetzer in Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg; auch sein Geist verbreitete sich wie ein heimlich zehrendes Fieber in den verschiedensten Krankheitssymptomen über mehrere Dichtergenerationen, aus denen Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg als die bedeutendsten hervorragen.

Das Charakteristische der Gottfriedschen Schule aber ist eben die laxe weltmännische Lebensansicht des Meisters, die mit Sage und Heldentum nichts mehr anzufangen weiß, daher am liebsten nach gewöhnlichen, ja gemeinen Stoffen greift und, um das Kleine groß zu machen, allen Nachdruck fast ausschließlich auf eine geleckte Form der Darstellung legt. Die Dichter, da sie nichts Bedeutendes aus der Geisterwelt zu offenbaren haben, dichten nicht mehr aus innerem Bedürfnis, sie wollen geständlich nicht belehren oder erheben, sondern nur angenehm unterhalten. Kein Wunder daher, daß die Besseren unter ihnen allmählich [593] ein Überdruß und Verzagen an der Würdigkeit ihrer Kunst überkommt und häufig in laute Klagen ausbricht.

So ist Heinrich von dem Türlin in seinem Gedicht von der (Abentiure) Krone schamlos bemüht, die schlanken Gottfriedschen Umrisse der sinnlichen Liebe ganz ins Nackte und Feiste herauszuarbeiten, und in der Heidin (angeblich von Rüdiger von Hindihofen) bildet das alles schon den Kern und Zweck des Ganzen, bis nach und nach der trübe Strom, allen Schlamm aufwühlend, in farbigen Schiller der Fäulnis ausläuft. – Nichts von alledem enthält Flore und Blancheflur von Konrad Flecke, die unschuldige, einfache Geschichte von der Jugendliebe zweier Kinder; dafür drängt sich hier die breite Gemütlichkeit, Schwäche und Weichlichkeit Gottfrieds, die dieser im Tristan noch liebenswürdig zu machen verstand, unangenehm in den Vordergrund. Die artigen Kinder wissen schon in ihrem fünften Jahre den ganzen Katechismus der Liebe auswendig, sie dichten und sprechen nur von Minne, Blumen und Vögelein, und der Knabe, da sie dann getrennt werden, fällt in Ohnmacht, während das Mädchen sich mit ihrem Griffel erstechen will; Szenen, die fast schon an die spätere Liebeskarikatur Siegwarts erinnern. – Dagegen hatKonrad von Würzburg vorzüglich und mit großem Glück und Geschick die formale Seite Gottfrieds erfaßt; seine meisterhaft gereimten Erzählungen gehen fast in lauter Duft und Blumen auf, während in seinem »Schwanritter« der abenteuerliche Stoff mit seinen noch etwas altfränkisch eckigen Gliedern überall das neue, knappe und elegante Kleid aus den Nähten zu reißen droht. – Rudolf von Ems endlich ist allerdings nichts weniger als frivol, folgt aber getreulich der von Gottfried eingeschlagenen Bahn von den Gipfeln des Lebens ins platte Land. Sein »Wilhelm von Orleans« handelt, unter Beseitigung alles Wunderbaren, von den gewöhnlichsten und prosaischsten Verhältnissen der Gegenwart, von Haus und Hof, guter Wirtschaft und anderen nützlichen Dingen; und der trockene, aber wackergesinnte Dichter hat sonach ganz recht, wenn er zuletzt selbst darüber stutzig wird und die lügenhaften Mären bereut, die er früher im lieben Wahn auf Ehre und Ruhm mit sündhaftem Munde gedichtet.

Man sieht, wir sind hier unversehens bereits in eine ganz andere Luftschicht geraten, das Rittertum steigt allgemach von seinen Felsenburgen zu den Meierhöfen der Niederungen herab, um fein ordentlich Junkertum zu treiben. Diese Unterhaltungsdichter [594] bilden schon sichtbar den Übergang zu unserem modernen Roman, während die aufgelösten Elemente des alten Epos, einzeln und mannigfach zerstreut, sich vor dem abtrünnigen Adel in die sogenannten Volksbücher flüchten. Es scheint daher der geeignete Ort, diesen auch in seiner Unförmlichkeit noch höchst interessanten Ausgang hier etwas näher ins Auge zu fassen.

Unter diesen Volksbüchern machen sich nun zunächst verschiedene Gruppen bemerklich, in denen sich jene Elemente, die in den älteren Gedichten mehr oder minder ein organisches Ganze bilden, einzeln abgelagert haben. So ist von dem noch halbheidnischen Urgebirge der Nibelungen fast nur eine einzige Felsenzacke, die wilde Kraft des hörnernen Siegfrieds übriggeblieben, wie er seinen Vater Sieghard verläßt, im Walde den Drachen tötet, mit dessen Fett er sich bestreicht, daß von dem erstarrenden Drachenblute sich ihm der ganze Leib, nur zwischen den Achseln nicht, mit einer Horndecke überzieht; und wie er dann des Königs Gilibaldus Tochter, die ein Drache entführt hatte, errettet, sie zur Ehe nimmt und endlich vom grimmen Hagenwald an der Quelle erschlagen und in der Folge von seiner Gattin gerächt wird: alles in bloßen schmucklosen, aber sicheren und kräftigen Umrissen. – Auch aus dem karolingischen Sagenkreise wird nur der weltliche Teil im Kaiser Octavian und vorzüglich in der Historie von den vier Haimonskindern repräsentiert: der furchtbare Vasallentrotz gegen den gleich eisernen Kaiser Karl neben rührender Treue; der gutmütige, ehrliche Held Reinhold mit seinen ungeheueren Leidenschaften, mit seiner Klinge Florenberg und dem Heldenrosse Bayard, daneben seine drei tapferen Brüder und sein Vetter, der schlaue Nekromante Malagys; gleichsam nur ein verfärbtes Abbild des wilden, man möchte sagen, mit Blut geschriebenen Gedichts von den älteren Haimonskindern oder Reinhold von Montalban. – Das unmittelbar Kirchliche und Legendarische dagegen erscheint hier nicht mehr in seiner großen symbolischen Auffassung, sondern nur in einzelnen Gestalten, in der Geschichte der seligen Euphemia, der heiligen Pfalzgräfin Genoveva und vor allen in unseres Herrn Jesu Christi Kinderbuch (Beschreibung der Kindheit Jesu, der Flucht nach Ägypten usw.), einer wunderlieblichen »Idylle in der Religion«, wie es Görres nennt, welche zwar zunächst dem Leben Marias und Christus' vom Kartäusermönch Philippus [595] (im 13. Jahrhundert) nachgebildet ist, aber ursprünglich zu den alten apokryphischen Schriften gehört, die schon Papst Gelasius I. im Jahre 495 von den echten heiligen Büchern schied. – Die Wunderwelt der alten Dichtungen aber wird hier durch eine besonders reichhaltige Gruppe vertreten. In der Reise des engelländischen Ritters Johannis de Montevilla sind fast alle Wunderdinge, die Alexander der Große auf seinem sagenhaften Zuge angetroffen, mit eingeflochten: das Paradies im fernen Indien auf dem Berge von Adamanten, der bis zum Monde reicht; das Höllental, über welchem der Teufel in Gestalt eines grauenvollen Hauptes schwebt; das dunkle Land, aus dem beständig Menschenstimmen tönen, der goldene Baum mit den künstlichen Vögeln, der Vogel Phönix, die Amazonen usw. Hierher gehört auch der einer Erzählung in den »Gesta Romanorum« entlehnte Fortunatus mit seinem Säckel und Wünschhütlein, sowie die aus dem gleichnamigen Gedichte Heinrichs von Veldeke in Prosa aufgelöste Historie vom Herzog in Bayern und Österreich, der von seinem Vater, dem Kaiser Otto, aus seinem Lande verjagt wird, nach Jerusalem wallfahrtet, Schiffbruch am Magnetberge leidet, auf einem Floß durch den Karfunkelberg fährt und in Indien für die Pygmäen gegen das Volk der Kraniche ficht. Dagegen haben aus der in den Kreuzzügen eroberten orientalischen Feenwelt die Erd-, Luft- und Feuergeister, wie eine leichte Luftspiegelung, die jeder Hauch phantastisch wandelt, sich im »Schloß der afrikanischen Höhle Xaxa« angesiedelt. Diese Feenwelt wird aber in ihrer neuen Heimat durch ein tiefes religiöses Gefühl gehoben, von dem liebevollen Bestreben nämlich, gleichsam aus Schmerz und Mitleid mit ihrer heidnischen Schönheit, dieselbe menschlich und christlich und somit der ewigen Seligkeit teilhaftig zu machen. Ein Zug, der namentlich der bekannten Historie von der schönen Melusine einen so eigentümlich rührenden Reiz verleiht: wie sie, von irdischer Liebe bezwungen, sich treu und fromm zu den Menschen gesellt und dennoch, durch menschlichen Vorwitz verscheucht und einem geheimnisvollen Naturgesetz folgend, zuletzt von Gatten und Kindern scheiden und unter herzzerreißender Wehklage wieder in das Feenreich zurückkehren muß. Das schöne Thema wiederholt sich noch in manchen anderen Volkssagen, z.B. vom Donauweibchen. Jenes Volksbuch selbst aber ist aus einem altfranzösischen, schon im 14. Jahrhundert von Jean d'Arras verfaßten und 1500 in Paris [596] gedruckten Gedicht, dieses aber wiederum aus einer uralten Familiensage entstanden, wonach die Melusina noch oft in Witwenkleidern erscheint und jeden Samstag um die Vesperzeit sich badet, halb als schönes Weib und halb als Schlange, oder auch, wie die spätere weiße Frau, sich am Fenster des Turmes zeigt, einen furchtbaren scharfen Schrei ausstoßend, wenn ihre Nachkommen oder dem Lande ein großes Unglück bevorsteht. – Die einfältige fromme Schönheit der alten Minne endlich nimmt rührend Abschied von uns in der Magelone.

Es ist bekannt, daß diese fragmentarische, nur noch in einzeln abgerissenen Klängen nachhallende Poesie auch größtenteils formlos des Schmucks der Verse entbehrt. So macht sie den fast wehmütigen Eindruck von Trümmern einer untergegangenen Welt, die in der Waldeinsamkeit längst vergessen sind, die aber der ursprüngliche Boden, als wollte er nicht von ihnen scheiden, mit Efeu und wilden Blumen mannigfach umschlungen und überrankt hat. Das Volk träumt hier zum letzten Male von der alten Herrlichkeit, von der das Rauschen der Wipfel, die Waldvögel und Quellen den einsamen Hirten und Jägern noch immer Wunderdinge erzählen.

Diese Volkspoesie hat aber auch ihre Kehrseite. Die gleichzeitige Strömung des Urprotestantismus, die, wie wir gesehen, die oberen Regionen der Gesellschaft durchdrang und erkältete, mußte natürlicherweise in ihrem Fortgange auch die unteren Volksschichten berühren und um so reißender und geräuschvoller werden, je tiefer sie hinabkam. Es war hier allerdings im Anfange nur noch die frische, kecke Lust an der Negation und Neuerung, die sich ebenso natürlich zuerst gegen das Positivste und Konservativste im Leben, gegen die Kirche, kehrte. Wir sehen daher nur einige alte Gesellen, die wohl schon früher ziemlich unschuldig rumorten, plötzlich als entschiedene Lieblinge in der Volksgunst hervortreten. So: Morolf (den das Volk in Marcolph umtaufte), dannder Pfaffe Amis, und der Pfaff vom Kalenberg. In »Frag und Antwort König Salomonis und Marcolphi« zieht der Bauernwitz zunächst erst gegen die geistliche Schulweisheit zu Felde. König Salomon setzt vom Throne mit salbungsvoller Feierlichkeit alle seine weisen Sprüche dem Marcolph und seinem Weibe auseinander, welche dann sogleich jeden Spruch in ihrem Volksidiom parodisch verarbeiten. Über Geist und Ton dieses ergötzlichen Dialogs mag das plastische Signalement des tölpischen Gesellen vielleicht die kürzeste und [597] getreueste Auskunft geben. »Und die Person Marcolphi war kurz, dick und grob, und hat ein groß Haupt und eine preite Stirn, rot gerunzelte haarige Ohren, hängende Wangen, groß fließente Augen, der untere Lebs als ein Kalbslebs, ein stinkenden Bart, als ein Bock, plochent Händ, kurze Finger und dicke Füß, ein spitze hagerte Nasen und groß Lebsen, ein eselich Angesicht, Haar als ein Igel usw.« Man sieht, das Volk war in seiner Lustigkeit noch weit entfernt, seinen eigenen Anwalt zu verschonen. – Bedenklicher schon verhält es sich mit den beiden Pfaffen: Amis und vom Kalenberg. Nicht darum, weil hier derber Scherz und Schwank neben dem Heiligen und Kirchlichen ihr keckes Spiel treiben; denn wir sahen dieselbe Erscheinung auch in den dramatischen Mysterien, wo der unbefangene und seiner selbst noch sichere Glaube nicht den geringsten Anstoß daran nahm. Aber unangenehm auffallen muß es, daß hier alle erdenklichen Schelmenstreiche und Lächerlichkeiten mit einer gewissen Schadenfreude grade den Priestern, wie eine Narrenjacke, angehängt werden; ja, wenn wir genauer zusehen, finden wir hier bereits die rohen Fundamente gelegt zum künftigen Aufklärungspalais. Es erinnert wenigstens schon sehr lebhaft an Tartüff, an die spätere Jesuitenriecherei und alle die wohlfeile Weltweisheit, womit seitdem der Unglaube sich zu rechtfertigen und zu beschönigen sucht, wenn z.B. der Pfaffe Amis eine reiche und alberne Gutsbesitzerin, da ihr Mann eben nicht zu Hause ist, durch Scheinheiligkeit um ein Stück feiner Leinwand betrügt und dann bei dreißig Lichtern, die er um sich stellt, herrlich die Mette und eine Messe dazu singt und solchen Ablaß erteilt, daß der, welcher nach dem Ablaß auch den stärksten Appetit hatte, daran Genüge gehabt hätte: alle Sünden, die getan waren und noch getan werden sollten und wollten durch das ganze Leben, die wurden von dem Pfaffen alle vergeben.

Andere alte Stoffe dagegen verwandelten in dem neuen Klima allmählich ihre angeborene Physiognomie. Auch das uralte Tier-Epos beruhte ursprünglich auf dem eigentümlich deutschen Naturgefühl, auf der poetischen Anschauung des geheimnisvollen Geisteslebens der Tierwelt, dessen Darstellung der einzige Sinn und Zweck war. Jetzt aber sehen wir den alten einfachen Reinhart im Reineke Fuchs polemisch in Satire umschlagen, nicht in eine gewöhnliche Satire einzelner Personen oder Geschichten, sondern der mittelalterlichen Historie überhaupt. [598] Es ist, wie wir schon anderswo bemerkt haben, die Opposition des sich emanzipierenden Verstandes gegen den Geist des Rittertums, des Realen gegen das Ideale, des klugen Fuchses gegen den alt und matt gewordenen Löwen. – Noch kecker und unumwundener verfährt Till Eulenspiegel in dieser geistigen Revolution. Er hat aus den Schwänken und Schelmenstreichen der Amis, Kalenberg und aller Volksnarren sich ein schweinsledern kugelfestes Wams zusammengeflickt, an dem, wie bei seinem Vetter Marcolph, jederlei Tugend und Weisheit, die Tapferkeit an der List, höhere Bildung am hausbackenen Verstand, Gelehrsamkeit am Bauernwitz, abprallt und stumpf wird. Hier ist das Rittertum bereits zum Don Quichotte geworden, und Till ist sein Sancho Pansa.

Ebenso wenden sich nun die vielen Schelmenromane und lügenhaften Reisehistorien gegen das Wunderbare der alten Geschichten. In den Schelmenromanen müssen bereits Verschlagenheit und Zufall bei der Leitung des Ganzen die Stelle der göttlichen Vorsehung übernehmen; während in jener Reiseliteratur das Wunderbare des alten Abenteuers so übertrieben aufgeblasen wird, daß es an seiner eignen Ungeheuerlichkeit lächerlich zerplatzt. In dem ergötzlichen Guerillakriege der letzteren Gruppe hat sich besonders der »edle Finkenritter mit dem tapfern Monsieur Hans Guck in die Welt« einen Namen gemacht, indem er noch vor seiner Geburt die Welt durchwandert, seinem eignen Kopfe, den ihm der Wind abgewehet, nachläuft usw. Ihm folgt der zwischen Schelm und Prahlhans schwankende Schelmuffsky, der mit seinem »Bruder Graf« herumtiostiert, bettelhaft den Kavalier spielt, mit der »Frau Großmoguln« einen Ehrentanz aufführt, dann unversehens ins Lebbermeer gerät und uns endlich noch spät im Münchhausen einen Urenkel hinterlassen hat.

Ein anderes wichtiges Moment dieser Volkspoesie aber, die Sage vom Faust, ist, wenngleich einzelne zufällige Züge derselben an den mittelalterlichen Zauberer Virgilius erinnern, doch in seinem Grundwesen neueren Ursprungs und kann daher erst weiter unten in Betracht gezogen werden.


Dem sinkenden religiösen Glauben sank das Rittertum, das ihn verteidigen sollte, dem sinkenden Rittertume der Minnegesang nach, der durchaus vom Rittertum lebte und dessen eigentliche Blüte war. Denn wenn die Poesie überhaupt mit den religiösen [599] und sittlichen Zuständen der Nation innig zusammenhängt, so muß für deren Temperaturwechsel grade die Lyrik, als die subjektivste Dichtungsart und Darstellung der Gegenwart, am empfindlichsten sein und, sobald dort die Nation an ihrem Innersten ungewiß und irre wird, hier auch zuerst die Verwirrung eintreten. Um aber in jener Zeit diese Verwirrung vollkommen zu machen, spielt auch noch eine mißverständliche Verwechselung und Vermischung des Neuplatonismus und des wahren Plato mit hinein und erzeugt in der Poesie eine Art heidnisch-christlicher Mythologie, wo, wie in einem nebelhaften Traume, die Heiligen der Legende und die Götter des Olymps einander brüderlich begegnen. Daher sehen wir denn in dieser schwankenden Übergangsperiode auch die Lyrik in alle möglichen Richtungen und Gegensätze ausfahren, Didaktisches, Rhetorik, Mystisches und Schwank bunt ineinander wirrend, so daß eine genauere Grenze kaum mehr zu erkennen ist.

Schon in Ulrich von Lichtensteins »Frauendienst« (1255), wo Lyrisches und Episches konfus durcheinanderläuft: welche widerliche Verzerrung der Minne, welch ein durchaus unsittliches Verhältnis, das ihr zum Grunde liegt! Der verheiratete Sänger wirbt auf Tod und Leben um die Gunst einer gleichfalls verheirateten Dame, weil es Mode ist, und die Dame, obgleich beständig höhnend, duldet es, weil es Mode ist. Er trinkt ihr Waschwasser, schneidet sich ihr zuliebe seine Doppellefze und einen krumm gewordenen Finger ab, und sie bewahrt gerührt den ihr verehrten Finger und betrachtet ihn alle Tage. Er tiostiert ihr zu Ehren als Venus durch neunundzwanzig Tage, besucht sie, als Aussätziger verkleidet, und will, da die Dame denn doch noch klüger ist als der tolle Phantast, sich zuletzt noch gar ersäufen. – Man sieht, hier ist die Minne und der Frauendienst bereits rein konventionell geworden, die Dichter glauben und fühlen selbst nicht mehr, was sie singen, alles wird gemacht und affektiert, und das ist überall der Tod der Lyrik. Kein Wunder daher, daß nun der Minnegesang sehr bald ins Parodische und später immermehr in sein gerades Gegenteil, in das Materielle, Grobsinnliche und Obszöne umschlägt. Ganz den Eindruck wenigstens einer absichtslosen und unbewußten Parodie macht es, wenn jetzt Nithart die Szene von den Ritterhöfen in die Dorfschenke und die Minne unter die Knechte und Mägde verpflanzt, dabei aber, da er selbst noch zu den adeligen Sängern gehört, an die übermütig gewordenen bäurischen [600] Knollfinken rechts und links tüchtige Kopfstöße austeilt. Noch tiefer hinab führen dann der Tanhuser und Hadloub, wo der Minnegesang, mit Ausnahme einiger herzhaften Tanzweisen, in lauter Zech- und Schmausliedern austönt.

Aber wer hinkt, greift nach der Krücke; wo die Moral zu Ende geht, fängt das Moralisieren an. Und so folgt auch hier auf die invaliden Minnesänger die Gruppe der gnomischen Dichter, eine Erscheinung, die sich auch bei einzelnen Dichterindividuen wiederholt, wie z.B. bei Goethe, dessen wunderbares Lied zuletzt ebenfalls in Gnomologie ausgeht. Man könnte diesen Übergang die altgewordene Lyrik nennen: grämlich, superklug, grübelnd und lehrhaft in epigrammatischen Spitzen und Sprüchen, weil der innere Lebenshauch zu langatmigen Liedern nicht mehr ausreicht. Bei der versiegenden Produktionskraft lehnen sich nun jene Dichter begreiflicherweise immer mehr an die großen Vorgänger, und zwar vorzüglich an das Realistische Walthers von der Vogelweide, aber ohne dessen herzlichen Klang, und an den Ernst des Wolfram von Eschenbach, aber ohne dessen Tiefsinn; beides jedoch keineswegs entschieden getrennt, sondern wiederum verworren ineinanderlaufend, was oft die seltsamste Mischung von Dogma, Moral, Schwank und ritterlicher Konvenienz gibt. Hierher gehören u.a. Reimar von Zweter, der bei aller Frömmigkeit gleichwohl gegen Papst und Kirche polemisiert, der ältere Meißner, Wernher und Marner. Am schärfsten aber wird die Walthersche Richtung durch den heiteren Regenbogen sowie die Wolframsche durch den mysthischen Frauenlob bezeichnet. Die letzten Rittersänger, wie Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein, schlagen schon einfache volkstümliche Klänge an, während bürgerliche Dichter noch überkünstlich in den alten Minnegesang hineinpfuschen, z.B. Muskatblüt, der noch wirkliche Minnelieder hat, noch an den Herrenhöfen sang und die abenteuerlichsten Marienlieder dichtete. Ja, diese allgemeine Unruhe und Ratlosigkeit zeigt sich selbst in der rastlosen phantastischen Reisewut dieser Epigonen, die nicht mehr singend von Schloß zu Schlosse, sondern, wie mit Siebenmeilenstiefeln, von Weltteil zu Weltteil schweifen. So erblicken wir den Hugo von Montfort bald als Troßbube mit den deutschen Rittern in Preußen, bald in Rußland, Norwegen, England und Schottland, dann als Koch und Ruderknecht auf dem Schwarzen Meer, als Pilger in Jerusalem, als Sänger und Possenspieler [601] am Hofe des maurischen Königs von Granada und in Paris, wo ihm die Königin von Frankreich einen kostbaren Diamanten in seinen weißen Bart einband.

Weil aber jetzt der rechte Mittelpunkt, aus welchem allein bisher der Umkreis des irdischen Daseins bis zu seinen fernsten Stadien so scharf und klar beleuchtet worden, nach und nach abhanden gekommen war, so vermochte auch die am Gleichgültigen ermattende poetische Produktionskraft nicht mehr, die Erscheinungen des Lebens unmittelbar zu individualisieren, und nahm daher zu dem abstrakten Abbild desselben ihre Zuflucht. Und so sehen wir nun die Allegorie in das Lied einziehn und es bald gänzlich überwältigen. Eine der beliebtesten Allegorien war die Darstellung des Liebenden als Jäger, wie z.B. in der Jagd des Hadamar von Laber, wo das Herz des Jägers als rastlos umherspürender Hund und der Merker als Wolf erscheint, der den Hund zu zerreißen droht. Im Spiegel wird die Treue von ihrer Kaiserin Frau Abenteuer ausgesandt, um Liebestreue zu finden. In dem Gedicht von der Liebe und dem Pfennig streitet die Liebe gegen den Weltbeherrscher Pfennig, der am Ende die Liebe ins Wasser stößt. Die Minne selbst tritt nun als bloße allegorische Figur auf und wird – nachdem sie bei der allmählichen Herabstimmung sinnlich geworden, ganz konsequent – erst zur heidnischen Frau Venus, wie in der Mohrin, und endlich gar zur Teufelin, wie in dem Gedicht vom treuen Eckart. Ja, in dem vom Kaiser Maximilian 1517 entworfenen und von seinem Geheimschreiber Melchior Pfinzing ausgeführten Theuerdank werden nicht mehr die Minne, Gedanken und Gefühle, sondern die gewöhnlichsten Jagd-, Krieges- und Brautfahrten pomphaft allegorisiert; ein Werk, das nicht seine Poesie, sondern seine vornehme Herkunft und prachtvolle Ausstattung berühmt gemacht.

Diese Entartung des Minnegesanges aber war nicht geeignet, die Lyrik in der Höhe und allgemeinen Achtung zu erhalten die sie so lange behauptet hatte. Das Dichten hörte auf, eine freie ritterliche Kunst zu sein, und wurde ein besonderes Metier, das Lied war nicht mehr singbar, der Dichter nicht mehr ein Sänger, sondern ein »Sprecher«. Sehr natürlich daher, daß diese Poeten, wie sie so häufig klagen, nun als Bänkelsänger an den Höfen »hinausgeworfen« wurden und sich immer mehr zu den Städten wandten, von deren realistischem Zunftgeist die wachsende Opposition gegen das Rittertum ausging.

[602] Im Epos geht das Subjektive im Objekt, in der Lyrik das Objekt in der subjektiven Empfindung auf.Dort verschwindet der Dichter, die Ereignisse sprechen, wie in der Geschichte, für sich selbst; hier wird der Dichter zum alleinigen Sprecher, indem er uns nur den Nachhall gibt, den das Ereignis in seinem Herzen geweckt. Das Drama dagegen ist, wie wir schon oben angedeutet, die Durchdringung und Wiederversöhnung beider getrennten Elemente; eine Vereinigung, die jederzeit erst spät und nur dann mit Erfolg versucht wird, wenn beide Elemente selbständig ausgebildet und stark genug geworden, um sich aneinander messen zu können. Das Objekt ist hier entweder die Sage und historische Vergangenheit oder die unmittelbare Gegenwart oder der Konflikt der letzteren mit der jedem Zeitalter eigentümlichen idealen Gedankenwelt, wonach das Drama sich in Lustspiel, Schauspiel oder Tragödie verteilt. In allen diesen Verzweigungen aber wird Auffassung und Darstellung notwendig den subjektiven Farbenton des Dichters annehmen und, da der Dichter, er stelle sich, wie er wolle, selbst in seinen Idealen, immerdar ein Kind seiner Zeit bleibt, zu gleich in dem jedesmaligen besonderen Schliff des Zeitgeistes sich abspiegeln. Daher gibt das Drama, wo es sich wahrhaft volksmäßig ausgebildet hat, unter allen Dichtungsarten die schärfste Signatur der wechselnden Bildung, Gesinnung und Sitte einer Nation; daher erscheinen dieselben dramatischen Gegenstände verschieden in den verschiedenen Zeiten und Völkern, und die Jungfrau von Orleans, die bei Shakespeare eine Hexe ist, fährt bei Schiller visionär auf romantischem Gewölke gen Himmel.

Hiernach sehen wir denn auch unser Drama, obgleich es niemals zu nationaler Entwickelung gelangt ist, genau dieselben Bildungsphasen des Zeitgeistes durchmachen, die wir vorhin auch beim Epos und bei der Lyrik bemerkt haben. Auf das christliche Dogma gestellt, geht in den ursprünglichen Mysterien und Moralitäten noch alles Subjektive in den religiösen Geheimnissen auf, noch scheu und unbeholfen mit dem übermächtigen Stoffe ringend. Zwar werden schon früh komödienhafte Zwischenspiele mit eingeschoben, anfänglich jedoch nur in gewissenhaftem Dienst der Kirche, um die biblischen Texte volksmäßig zu paraphrasieren und durch den Kontrast noch mehr zu heben. Bei der wachsenden Verweltlichung des Lebens aber verweltlicht auch das Zwischenspiel immer mehr; einheimische und fremde Volksnarren, wie der Bott Jan Posset, [603] Pickelhäring, Stockfisch und der französische Jean Potage, laufen immer bunter, lauter und kecker dazwischen, so daß endlich die Kirche zögernd und ungern sich gedrungen sah, dieser Profanation durch Verbote entgegenzutreten. Allein zu offenbarem Nachteile beider. Denn jetzt vereinsamte das Mysterium, da das mit der Welt vermittelnde Zwischenspiel wegfiel, und das Zwischenspiel, leichtsinnig und trotzig, sagte sich von seiner ursprünglichen Bedeutung völlig los, ging aus der Kirche in die Schenke und verwilderte dort zum possenhaften Fastnachtsspiele; das Mysterium wurde langweilig und das Fastnachtsspiel gemein.

Aber die Scheidung von ursprünglich Verwandtem geschieht nirgends, ohne einen nachhaltigen moralischen Stachel im Innern zurückzulassen. Auch das exkommunizierte Zwischenspiel vergalt den geistlichen Bann mit heimlichem Groll. Dieser Groll war zwar anfangs noch keineswegs unmittelbar gegen den Glauben und die Kirche, um so schlagfertiger aber gegen alles Höhere im äußeren Leben gerichtet, das sich im Mittelalter auf der Grundlage der Kirche aufgebaut hatte. Und so sehen wir denn in dieser Übergangsperiode auch beim Drama dieselbe Erscheinung wie bei dem Epischen und Lyrischen: eine vorerst noch kaum sich selbst bewußte und daher harmlos lustige und ergötzliche Negation des Rittertums, seiner Tugenden, seiner Tapferkeit, seiner Minne und seiner Übertreibungen; nur daß hier die Stelle des Eulenspiegels und seiner Gesellen durch den Hanswurst vertreten wird, dessen Charakter weder polemisch noch satirisch, sondern durchaus parodisch ist.

Mit dem Wesen der Poesie mußte sich notwendig auch die Form nach und nach verwandeln, die ja selbst hier ein Teil des Wesens ist. In der allgemeinen Herabstimmung entstand aus dem singbaren Liede das gesprochene Gedicht, und aus der Rhetorik des gesprochenen: die poetische Prosa, ein zwitterhaftes Mittelding, das man auch wohl prosaische Poesie nennen könnte. Die Phantasie, welche alles Gewöhnliche und Wirkliche in eine höhere Region emporzuheben strebt und daher auch in ihrem Ausdruck luftig und ungewöhnlich ist, hatte wegen zunehmender Alterschwäche ihre Herrschaft allmählich an den Verstand abgetreten, dessen massiver Boden eben die praktische Wirklichkeit ist. Die Sprache der Phantasie aber ist die geheimnisvolle Musik des Verses, die Sprache des Verstandes die Prosa.

[604] Schon früher hatten die Reimchroniken hart und mühsam die schwerfälligen Fundamente zu der Übergangsbrücke gelegt, welche dann von den Volksbüchern, die wir in anderer Beziehung schon oben erwähnt, anmutig überbaut und vollendet wurde, indem sie die alten Gedichte für das neue Bedürfnis in Prosa auflösten. Wir müssen hier noch immer die unzerstörbare Gewalt des Inhalts bewundern, können aber nur bedauern, daß die schöne Form zertrümmert ward. Wie aber auf diesem tonlosen Wege die poetische Prosa zuletzt unvermeidlich bei der völlig prosaischen Poesie anlangen mußte, bezeugt am deutlichsten derWeißkunig, ein gleich dem Theuerdank vom Kaiser Maximilian I. entworfenes Geschichtswerk, das mit allegorischer Dichterprätention die Regierung dieses Kaisers sowie Kaiser Friedrichs III. verschnörkelt und hölzern schildert.

Den letzten und nicht geringsten Stoß nach der Prosa hin gab endlich auch die Erfindung der Buchdruckerkunst, indem nun gar an die Stelle des lebendigen Worts der Buchstabe, in die Stelle des persönlichen mimischen Sprechers der einsame Leser trat. Das gedruckte Buch hat, wie der Rechenknecht für das Gedächtnis, für den Geist überhaupt etwas Mumienhaftes, Stationäres und Abgemachtes, worauf sich zu jeder Zeit bequem ausruhen läßt, während die lebendige Tradition, solange sie wirklich lebendig, notwendig in einer beständigen Fortbildung begriffen ist. Durch den Druck ist aber in der Tat die ganze Literatur ein Buch geworden, in welchem jeder nach Belieben blättern mag und daraus ein allgemeiner Dilettantismus der Produzenten wie der Konsumenten entstanden. Ehedem dichtete der Sänger für eine gewisseideale Totalität seiner Nation, oder auch für einen bestimmten Kreis spruchfähiger Freunde und Gönner, und war in beiden Fällen des Verständnisses und geistigen Widerhalls gewiß; ganz abgesehen davon, daß bei der Kostbarkeit und zeitraubenden Mühe einer Vervielfältigung der Gedichte in der Regel nur das Beste sich erhalten und vererben konnte. Jetzt dagegen bringt jeder Phantast – das Volk sagt treffend: »er lügt wie gedruckt« – seine wohlfeile Weisheit auf den großen Plundermarkt, wo Perlen und Kraut und Rüben durcheinanderliegen und ein jeder nach seines Herzens Gelüsten aufs Geratewohl zugreifen kann. Eine erstaunliche Konfusion, die noch bis heut fortzuwachsen scheint; die Köchin liest beim Messerabwischen ihre »Jungfrau [605] von Orleans«, die Dame ihre »Mimili«. Eine maßlose Konkurrenz mag für alles Fabrikwesen ganz dienlich sein; hier führt sie selbst zur Fabrikation. Der arme Poet, wenn er wenigstens auf ein Dezennium unsterblich werden will, muß unausgesetzt seine Rivalen in der Gunst der chaotischen Menge durch immer neue Knalleffekte auszustechen suchen; und so erzeugt sich fortwährend ein ekelhaft zärtliches Verhältnis und Liebäugeln zwischen Dichterpöbel und Lesepöbel. Nun ist allerdings die Poesie nie und nirgends ausschließliche Sache der Aristokraten, der Gelehrten oder sonst einer Kaste, und wo sie es eine Zeitlang wirklich war, ist sie auch jedesmal schmählich zugrunde gegangen. Aber ebenso verderblich ist jene kommunistische Rebellion gegen die hohe Aristokratie, den Geburtsadel des Genies, der nun einmal auf diesem Gebiet von Gottes Gnaden souverän ist. Denn selbst das freie Volkslied wird nicht von der wüsten Menge, sondern von einzelnen berufenen Hirten und Jägern auf einsamer Alp oder vom Liebenden oder jauchzenden Tänzer und Zecher in glücklicher Stunde weniger erfunden, als vielmehr nur der durchs ganze Volk gehende Klang von Freud und Leid gefunden; und nur in diesem Sinne ist es wahr, daß das Volk dichte.

Die wahre Poesie ist indes glücklicherweise, wenngleich in der äußerlichen Form verwundbar, doch in ihrem Grundwesen unverwüstlich. Mitten in diesem weltlichen Getümmel flüchtete sie sich daher unerwartet aus dem Buche wieder zum lebendigen Worte, indem sie in ihrem neuen Prosa-Gewande noch einmal zu ihrer ursprünglichen Heimat, zur Kirche, zurückkehrte. Es ist nicht bloß der große Inhalt, sondern auch die wunderbare Poesie der Darstellung, welche die Predigten des Franziskaners Berthold von Regensburg so gewaltig machte, daß ihm Tausende folgten, wenn er von Bergen, an einsamen Feldkapellen oder im Walde zum Volke redete. In den PredigtenSusos, wie in den Betrachtungen des Thomas von Kempen, steigt die uralte Minne noch einmal in ihrer reinsten Flamme schlank und klar zum Himmel auf. Dieselbe Kraft poetischer Weihe hat in den PredigtenJohann Taulers und Geilers von Kaisersberg – obgleich der letztere, um populär zu sein, mit seinen seltsamen Vergleichungen schon öfters wieder ins Weltliche abschweift und gewissermaßen der Vorläufer Abrahams a Santa Clara ist – einen Blick in den Abgrund der göttlichen Geheimnisse eröffnet, von dem die scholastische Theologie nichts ahnte.

[606] Diese großen Männer bewähren am leuchtendsten den ewigen Bund von Religion und Poesie. Wie sehr irren daher diejenigen, welche aus Verstandeshochmut oder vielleicht noch häufiger aus schwächlicher Scheu und Zaghaftigkeit jenen Bund als eine sündhafte Profanation verleugnen möchten, weil sie in ihrer Gemütstrockenheit in der Poesie nur eitel Schmuck und Spiel zu erkennen imstande sind. Die Religion aber nimmt – es kann nicht oft genug wiederholt werden – den ganzen Menschen, mithin auch Gefühl und Phantasie in Anspruch, welches eben die Grundelemente der Poesie sind. Warum denn also dem Menschen grade für seinen höchsten Flug die ihm von Gott verliehenen Schwingen brechen? Alle Religion ist, weil unergründlich, wesentlich zugleich auch mystisch; die Mystik aber kann nicht unmittelbar in Begriffen, sie kann nur in Anschauungen, also nur symbolisch und bildlich zu uns reden; und es wäre daher töricht, ja frevelhaft, der Kirche das Bild und der Wahrheit der Religion ihre Schönheit rauben zu wollen.

5. Die Poesie der Reformation
V
Die Poesie der Reformation

Alle Poesie ist nur der Ausdruck, gleichsam der seelische Leib der inneren Geschichte der Nation; die innere Geschichte der Nation aber ist ihre Religion; es kann daher die Literatur eines Volkes nur gewürdigt und verstanden werden im Zusammenhange mit dem jedesmaligen religiösen Standpunkt derselben. So erscheint auch die deutsche Poesie der neueren Zeit von der sogenannten Reformation und deren verschiedenen Entwickelungen und Verwickelungen wesentlich bedingt. Die Reformation aber hat einen durch alle ihre Verwandlungen hindurchgehenden Faden: sie hat die revolutionäre Emanzipation der Subjektivität zu ihrem Prinzip erhoben, indem sie die Forschung über die kirchliche Autorität, das Individuum über das Dogma gesetzt, und seitdem sind alle literarischen Bewegungen des nördlichen Deutschlands mehr oder minder kühne Demonstrationen nach dieser Richtung hin gewesen.

Es geht durch unsere ganze Literaturgeschichte ein alter, Recht und Unrecht seltsam verwirrender Streit, der noch bis heut nicht beigelegt ist. Wenn man die einen anhört, sollte man [607] in der Tat meinen, die deutsche Poesie sei erst von der Reformation erfunden worden, während die anderen ihr allein den gänzlichen Verfall aller Kunst zuschreiben. Die Wahrheit liegt jedoch hier, wie fast überall in solchen Fällen, zwischen den beiden Extremen. Der Protestantismus der menschlichen Natur ist bei weitem älter als die Reformation; er hatte, wie wir oben gesehen, schon längst die beiden Pfeiler der alten Poesie, die Kirche und das auf ihr aufgebaute Rittertum, heimlich zerfressen und gelockert. Die Reformation hat diesen Protestantismus nur vollendet und zum allgemeinen Volksbewußtsein gebracht und ihm dadurch allerdings eine unberechenbare Kraft verliehen. Und eben darin liegt die Größe und welthistorische Bedeutung dieser geistigen Revolution, daß sie in der allgemeinen Verwirrung die ungewissen Zustände klarmachte und jeden nach seiner Farbe keck auf seine rechte Stelle wies; denn jede heimlich zehrende Krankheit kann nur, nachdem sie offen erkannt worden, durch eine entscheidende Krise geheilt werden.

Die Krise aber ist noch nicht die Heilung selbst, sie ist nur die Möglichkeit der Heilung und steigert vielmehr für den Augenblick das Übel auf Tod oder Leben; der Ausgang steht allein in Gottes Hand. Und so sehen wir denn auch die Reformation auf die Poesie, von der hier natürlicherweise allein die Rede sein kann, zunächst einen fast tödlichen Einfluß ausüben und zwar durch zwei ihrer Hauptmomente: durch den Umschwung des religiösen Glaubens und durch die scharfe Scheidung der berauschten und mit sich selbst höchstzufriedenen Gegenwart von der großen Vergangenheit des Volks.

Der Glaube nämlich, da ihm der rechte Inhalt genommen war, wurde nun allmählich auf die knappe Diät der bloßen Moral gesetzt, bei der eine gesunde Poesie nicht wohl bestehen kann. – Indem aber ferner die Reformation mit der neuen Weltansicht die ganze Weltgeschichte gleichsam von neuem anfangen wollte, zerriß sie zugleich auch willkürlich und gewaltsam den goldenen Faden der Tradition, die im Verlauf der Jahrhunderte die wechselnden Geschlechter verbunden. Es war natürlich, daß dieselbe, da sie hiernach ganz folgerecht das Mittelalter ignorieren oder als katholische dicke Finsternis überspringen mußte, in ihrer plötzlichen Isolierung und Verarmung nun, wie in der Religion auf ein vermeintliches Urchristentum, auch in der Poesie auf einen völlig neutralen Boden,[608] auf das griechische und römische Altertum zurückgriff, und anstatt der Kirchenheiligen die alten Heroen und Götter, an die Stelle der Legende die heidnische Mythologie setzte. Hierzu bedurfte sie jedoch vor allem andern der Philologie, die sich auch schon von anderer Seite wegen der nunmehrigen Übersetzungen und Auslegungen der Bibel unentbehrlich gemacht hatte und daher jetzt zu einer monströsen Wichtigkeit gelangte. Dies bedingte aber, wie sich von selbst versteht, Vorstudien, die das Volk nicht machen konnte und wollte, und so entstand die Gelehrtenpoesie, welche zunächst fast nur lateinisch redete. Nun wissen wir zwar sehr wohl, daß auch schon die mittelalterliche Poesie das klassische Altertum kannte und mannigfach benutzte, aber bloß, um es zu christianisieren. Ebenso wissen wir, daß der vornehme Minnegesang dem Volke großenteils fremd geblieben; aber er hing, wenn auch nicht im Tone, doch in seinem innersten Kern und Wesen noch überall mit dem Glauben, den Vorstellungen und Traditionen des Volkes lebendig zusammen, und diese adeligen Dichter waren am wenigsten in der Lage, sich als Gelehrte zu überheben, da ihre Hauptführer, wie z.B. Wolfram von Eschenbach und Ulrich von Lichtenstein, bekanntlich nicht einmal lesen und schreiben konnten. Jetzt dagegen wurde auf einmal eine noch bis heut nicht überbrückte Kluft zwischen Volk und Dichtern gerissen und mitten in Deutschland ein heidnischer Parnaß künstlich aufgetürmt, von dem die gelehrten Poeten mit derselben Verachtung auf das Volk herabblickten als das Volk zu ihnen hinauf, wo es nicht vielmehr völlig gleichgültig daran vorüberging. Wenn aber dennoch in späterer Zeit die deutsche Poesie allerdings einen sehr merkwürdigen und glänzenden Aufschwung nahm, so geschah dies nicht durch die neue Glaubenslehre, sondern in Folge einer Philosophie, die mit Katholisch und Evangelisch und mit dem Christentum überhaupt nichts mehr zu schaffen hat; und ist diese Philosophie wirklich nur durch die Reformation veranlaßt und möglich geworden, wie ihre Verteidiger von ihr rühmen, so ist dies wenigstens ein Verdienst, um das wir sie nicht beneiden möchten.

Jenes Isolieren und Verpflanzen der Poesie aus dem alten nationalen Boden in ein ganz fremdes Klima mußte nun zunächst das Epos, das nur von der Vergangenheit lebt, am empfindlichsten treffen. Daher verklangen nun die alten Volksgesänge, und die einzelnen Erinnerungen, die sich noch in die[609] Volksbücher und fliegenden Blätter herübergerettet hatten, wurden von den Gebildeten als mittelalterliches Unkraut verspottet und voll Entrüstung ausgejätet, damit es ihre Versailler Schnörkelgärten nicht überwuchere. Die Nibelungen und Parzival waren gänzlich vergessen und mußten später erst gleichsam wieder neu entdeckt werden. Der Schweizer Bodmer war es, der sie, gleich versteinertem Riesengebein, aus dem allgemeinen Schutt hervorholte, ohne jedoch sich selbst noch darin zurechtfinden oder bei den Zeitgenossen irgendeine Teilnahme dafür erwecken zu können. Erst der neueren Romantik war das bedeutende Verdienst vorbehalten, diese alte Heldenwelt wie der ebenbürtig und national zu machen.

Aber auch das Kunstepos ruhte jetzt und hätte recht klug daran getan, diese ganze Zeit zu verschlafen. Aber das tat es nicht; es schwieg nur so lange, bis die Gelehrten ihr Surrogat-Schaugerüste mühselig zusammengezimmert hatten. Der Reichsfreiherr Christoph Otto von Schönaich faßte sich endlich ein Herz und trat kühn mit seinem Cheruskerhelden Hermann hervor, der sich mit Allongeperücke und obligatem Galanteriedegen gar wunderlich ausnimmt. Der Stoff ist gewiß groß und der Patriotismus nicht gering; der Dichter aber verhält sich dabei eben wie ein damaliger Gardelieutenant zu einem Helden. Auch dieser Hermann war billigerweise längst begraben und vergessen, als er, zu gerechtem Erstaunen der verwandelten Welt, wie ein spukhafter Revenant, im Jahre 1805 noch einmal auf der Leipziger Messe erschien. – DerNimrod eines gewissen Heldendichters Naumann ist nur noch als literarisches Kuriosum bemerkenswert. Leider müssen wir aber hier auch den alten wackerenBodmer nennen, der, mit ebensoviel poetischem Sinn als Dichterungeschick, in seiner Noachide bis in die vorsündflutliche Zeit zurückgriff, für deren Nebelferne sich niemand lebhaft interessieren mochte; die schwerfällige Arche blieb schmählich auf dem Sande sitzen.

Da ging unerwartet mitten in dieser falbgrauen Nacht ein Dichtergestirn auf, das wir füglich als den Morgenstern der neueren Poesie begrüßen können.Klopstock versetzte 1748 durch die drei ersten Gesänge seiner Messiade die Mitwelt in eine seitdem nie wieder vorgekommene Bewegung und Bewunderung. Klopstock war überhaupt ein durchaus aufregender Geist und hatte das Ritterliche der alten Heldendichter. Wie diese verbrachte er seine Jugendzeit in freier Luft mit kräftigenden [610] Körperübungen, er war ein gewandter Reiter und Schwimmer und der berühmteste Meister im Schlittschuhlaufen; und wenn Wolfram von Eschenbach und die andern persönlich in Palästina mitfochten, so hat Klopstock ebenso tapfer auf der mehr innerlich gewordenen Walstatt für das Kreuz gestritten. Man muß sich nur die damaligen Zustände vergegenwärtigen, um seine hohe Bedeutung und seinen Mut gehörig zu würdigen. Auf der einen Seite standen die Orthodoxen, für jeden Andersdenkenden heimlich den Scheiterhaufen rüstend; und ihnen gegenüber die ebenso intoleranten Freigeister, die sich um Voltaires windige Fahne scharten. Kein Wunder daher, daß Klopstock bei seiner ersten wie aus den Wolken gefallenen Erscheinung von Gottsched und seinem hölzernen Gefolge auf das gemeinste verhöhnt und verlästert wurde, während ihn namentlich die ernstere und begabtere Jugend stürmisch als ihren Schutzheiligen ausrief, so daß er selbst zwischen den beständigen Weihrauchwolken sich mit einer gewissen priesterlichen Feierlichkeit bewegte.

Einen Teil dieses großen Interesses hatte indes seine Messiade auch dem Umstande zu verdanken, daß sie in ihren Vorzügen wie in ihren Mängeln unverkennbar ein echtes Produkt der Reformation ist, welche damals in der deutschen Literatur fast ausschließlich den Ton angab. Die Reformation hatte, wie schon oft bemerkt worden, die geoffenbarte Wahrheit mehr oder minder von deren individueller Auffassung und der Empfindung jedes einzelnen abhängig gemacht. Und dieses tiefe religiöse Gefühl, womit die Messiade den Buchstabenglauben der Orthodoxen gewaltig aus seiner Erstarrung geweckt und von neuem belebt hat, ist eben die unvergängliche Schönheit dieses Gedichts. Aber eben darum ist auch, dem Sinn und Wesen des Epos gänzlich zuwider, hier alles Objektive in dem subjektiven Gefühl des Dichters aufgegangen. Nicht die gewaltige überirdische Welt redet hier durch den Dichter, sondern der Dichter spricht in den Worten Gottes, in den Gesängen der Engel wie in den Flüchen der verdammten Dämonen. Ja, einer seiner Teufel ist gradezu sentimental und hat sich durch seine Liebenswürdigkeit besonders die Teilnahme der gerührten Frauen gewonnen, die für seine Begnadigung zärtlich besorgt waren. Überall hat hiernach das Lyrische, Elegische und Rührende die plastische Erzählung überwältigt, und es ist in diesem Betracht bezeichnend, daß Klopstock [611] bekanntlich als Schüler der Schulpforte durch einenTraum zu der Messiade inspiriert wurde und daß eben die ersten Gesänge derselben, die er noch als Jüngling gedichtet, auch die gelungensten sind.

Außer jener Souveränetätserklärung des subjektiven Dafürhaltens und Gefühls in religiösen Dingen hat indes die Reformation mit ihrer geistigen Bilderstürmerei auch den Himmel so ziemlich verödet und die frommen Traditionen und Heiligen der vergangenen Jahrhunderte in der finsteren Rumpelkammer des Mittelalters beigesetzt. Und auch diese Richtung der neuen Glaubenslehre macht sich in der Messiade empfindlich fühlbar. Wie viele erhabene Gestalten und Momente hätte die altkirchliche Tradition, selbst für seine Neigung zum Pathetischen und Rührenden, hier dem Dichter dargeboten! Klopstock verschmähte sie, weil er sie nicht kannte oder aus protestantischer Scheu vor katholischem Aberglauben, da freilich Sinn und Bedürfnis dafür längst verloren waren. Daher in seinem Gedicht die auffallende Armut an Handlung und lebendiger Anschauung; Gott und Menschen und Engel und Teufel machen eben nichts als lange rhetorische Debatten über das, was und warum sie es tun wollen. Da ist keine kühne Symbolik der göttlichen Geheimnisse, wie etwa bei Dante, sondern nur mehr oder minder willkürlich ideale, farb- und gestaltlos verschwimmende christliche Mythologie, welche nicht selten an die feierlich vorüberziehenden Schatten erinnert, womit Ossian die alte Helden- und Sagenwelt vernebelt.

Der besondere Nachdruck endlich, den die Reformation auf das Studium des Altertums gelegt, hat auch der Messiade wunderlicherweise eine gelehrte antike Färbung gegeben. Wir verkennen nicht einen Augenblick das unberechenbare Verdienst, das sich Klopstock durch seine ernste und geistvolle Behandlung der alten Metrik um die Reinigung und Veredelung der damals teils verwilderten, teils künstlich verdrehten Sprache erworben hat. Aber wir müssen durchaus in Abrede stellen, daß grade hier das Griechentum die natürliche oder auch nur entfernt angemessene Form der Darstellung war. Der Reim, den Klopstock überall verbannen wollte, ist keine leere Spielerei oder willkürliche Erfindung, er ist die geheimnisvolle Melodie zum Text, die Musik der Gedanken. Es ist überhaupt eine bloße Einbildung der Gelehrten, daß dieser Streckvers von Hexameter, der ja selbst bei den alten Römern nie volkstümlich[612] wurde, jemals wirklich deutsch geworden. Es bleibt immerhin ein erzwungener fremder Klang darin, ein leiser Anhauch gelehrter Stubenluft, der grade in dem Innerlichsten am empfindlichsten stört und verletzt. Oder wer möchte wohl im herzlichen Gebet zu Gott, oder auch nur mit seiner Geliebten, in Hexametern sprechen?

Allen diesen reformatorischen Eigentümlichkeiten der Messiade aber ist es vorzüglich zuzuschreiben, daß dieses großartig gedachte, hochgestimmte und durchaus christliche Gedicht niemals wirklich und lebendig ins Volk gegangen; und dieser halb mißlungene Versuch eines mächtigen Dichtergeistes zeigt eben nur, daß die Richtung, welche die Reformation in die Poesie gebracht, jedenfalls am allerwenigsten für das Epos geeignet war.


Diese Richtung drängte vielmehr notwendig vom Epos zum modernen Roman; und zwar durch die Wichtigkeit, die sie der Subjektivität eingeräumt, sowie durch die Herrschaft, die sie demzufolge dem Verstande zuteilen mußte. Beides aber widersprach der Natur des Epos. Das Epos ist der Mensch in der Welt, der Roman die Welt im Menschen. Dort verschwindet das Subjektive in dem großen Strom des Weltganges, der, weil er im Zweck und Ursprung unerforschlich, nur durch die Phantasie gleichsam divinatorisch aufzufassen ist. Im Roman dagegen ist nicht das Faktische, nicht die plastische Gewalt der Handlungen, sondern deren Motiv der eigentliche Gegenstand der Darstellung. Die pragmatische Motivierung aber, diese Naturgeschichte des inneren Menschen, ist wesentlich Sache des Verstandes, und der Verstand, da es ihm weniger um die Schönheit als um Deutlichkeit und Klarheit zu tun ist, wählt sich überall die freieste Form des Ausdrucks: die Prosa. Der Roman ist daher die Poesie des Verstandes in ungebundener Rede.

Hiernach können jedoch die sogenannten Ritter-und Volksromane, obgleich sie die alten Heldengedichte auch bereits in Prosa aufgelöst hatten, noch keineswegs zu den eigentlichen Romanen gezählt werden. Sie adoptierten die Prosa nicht aus innerem Bedürfnis, sondern aus leidiger Not, weil die Lesewelt für den Vers schon zu flügellahm geworden war. In ihnen ist noch gewaltiger Stoff, und nichts als Stoff. Die Phantasie, wenngleich schon bedeutend abgeschwächt, hat noch immer die Alleinherrschaft, ihre Helden stürmen noch immer von Tat [613] zu Tat, von Abenteuer zu Abenteuer, während der spätere Romanheld sich passiv in sich selbst zurückzieht, retardierend, reflektierend, exponierend und räsonierend, eine Art von Maulheld, der nicht die Ereignisse macht, sondern von den Ereignissen gemacht wird. Es handelt sich hier nicht mehr um ein großes objektives Weltbild, sondern um ein subjektives Seelengemälde.

Von diesem seinem Ziele ist indes der Roman der Periode, in welche wir hier eingetreten sind, noch weit entfernt. Der regierende Verstand stand soeben noch in der derbsten Blüte seiner Lümmeljahre, er hatte die Poesie, wie andere unnütze Dinge, prüfend in ihre Elemente zerlegt, und nun wollten die auseinandergefallenen Glieder nicht wieder zusammenpassen. Da schloß er aus Abscheu vor der gemeinen Volksphantasie, die, ihn beständig in seinem mühsamsten Kalkül störend, dazwischenfuhr, ein Schutz- und Trutzbündnis mit der ebenbürtigen Gelehrsamkeit. Und so erzeugten die beiden, wie bei der ersten Erdformation der Urwelt, jene mißgeschaffenen Ungeheuer von Romanen, wahre Mammuts und Mastodone, deren ungestalte Riesenleiber Gras und Blumen des Parnasses zertrampelten und sich Holz und Rinde ungeschlacht zum Fraße brachen.

Dies begab sich aber, bei der deutschen Gelehrtengründlichkeit, nicht ohne vorherigen Anlauf weitläufiger Vorstudien. Der unfruchtbare Verstand, da er sich der erfinderischen Phantasie vornehm entschlagen hatte, mußte nun erst beim Auslande in die Schule gehen und sich anfangs mit bloßen Übersetzungen begnügen. Unter diesem aus der Fremde herbeigeholten Sukkurs zeichnet sich besonders der berühmte Amadis von Gallien aus, ein Held zweifelhafter, wahrscheinlich ursprünglich portugiesischer Herkunft, der aber zunächst über Frankreich zu uns gekommen. Er tiostiert noch frisch und keck genug durch ganz Europa, gleichsam zum letzten Scheidegruß des alten Rittertums, hat sich indes auf seiner Fahrt doch schon manches Neue abgesehen. Unter seiner Pickelhaube macht sich bereits ein leiser Ansatz zum künftigen Haarbeutel bemerkbar; ja, seine funkelnde Pickelhaube selbst gemahnt uns nicht selten an Don Quichottes Barbierbecken, das bekanntlich Mambrins Helm vorstellen soll.

Endlich aber faßten sich denn doch die Gelehrten ein Herz und brachen massenhaft und unter nicht geringem Lärm mit [614] ihren Liebes- und Heldengeschichten aus den Studierstuben in die erstaunte Welt hervor. Alle diese Helden- oder Wundergeschichten, wie sie gleichfalls genannt werden, lassen sich trotz der Feindschaft und Gehässigkeit, womit sie zum Teil selbst untereinander hadern und streiten, dennoch an einigen allen gemeinschaftlichen Familienzügen leicht als eine Sippschaft erkennen. Was uns zunächst fast schreckhaft an ihnen auffällt, ist ihre monströse Unförmlichkeit, eine elementarische Konfusion aller möglichen und unmöglichen Dichtungsarten, die hier chaotisch nebeneinander liegen und kaum noch den Versuch machen, sich zu einem organischen Ganzen zu gestalten. Da sind mitten in die episch sein sollende prosaische Erzählung lange Reimereien, einzelne Lieder, zierliche Schäferspiele, ja ganze Dramen eingeschoben, und zwischendurch, um die Verwirrung vollkommen zu machen, laufen noch sogenannte »Nebengeschichten«, die mit der Hauptsache gar nichts zu schaffen haben und einen am Ende völlig unentwirrbaren Knäuel von Verwicklungen bilden. Kein Wunder daher, daß fast jeder dieser Romane mehrere Foliobände füllt, wie denn z.B. die »Aramena« des Herzogs Ulrich von Braunschweig nicht weniger als 6822 Seiten enthält.

Noch widerlicher aber berührt uns die allgemeine Herabstimmung des Lebens, die sich hier kundgibt. Die frische, kühne, wildfreie Waldeinsamkeit erscheint jetzt als ein französischer Lustgarten mit verschnittenen Bäumen, bunten Scherbenbeeten und geradlinigen Alleen; die ungezogenen Gebirgsquellen sind eingefangen, um unten als Fontänen artige Kunststücke zu machen, die Berg- und Waldgeister haben sich in bleiche stumme Statuen heidnischer Götter und Allegorien, die ganze Natur in einen großen Konversationssaal verwandelt. Aus den Rittern aber sind schnöde Kavaliere und Kammerherren, aus den alten Heldentaten und Abenteuern adelige Spazierfahrten und Hoffeste geworden. So wird von Jos. Ulr. König in seinem »August im Lager« eine ordinäre Heerschau allen Ernstes als hochwichtiger Heroismus gefeiert, wo unter anderen Allegorien auch die Eintracht erscheint, »das silberhelle Haar hinterwärts von einem Band umwunden und unausreißlich fest in einen Zopf gebunden«.

Hiernach ist denn auch die Liebe, da sie, wie beim Verfall des Minnegesanges, rein konventionell geworden, hier nur noch als eine einmal hergebrachte Arabeske und Einrahmung [615] des eigentlichen Textes verwendet; und was für eine Liebe! In der »Asiatischen Banise« von Zigler z.B. haranguiert eine liebende Prinzessin, mit einem Dolche in der Hand, den sie verschmähenden königlichen Liebhaber folgendermaßen: »So schaue demnach, unbarmherziger Tyranne, wie dieses verspritzte Blut auf ewig um Rache wider dich schreien und dein unempfindliches Herze Tag und Nacht vor den Göttern verklagen soll. Rühme dich nicht, diamantene Seele! daß dich deine Prinzessin bis in den Tod geliebet und um dieser Liebe willen ihre Brust durchbohret habe, denn dieser Stich wird mir durchs Herze, dir aber durch die Seele dringen, mir kurze Schmerzen und dir ewige Qual verschaffen: weil dich mein blutiger Geist auch bis ans Ende der Welt verfolgen, stündlich vor deinen Augen schweben und dir deine Grausamkeit vorrücken soll!« In solcher konvulsivischen Erhitzung suchte jetzt die Liebe, weil nicht mehr empfunden und durchaus unwahr, sich überall selbst zu überbieten; einem Furchtsamen vergleichbar, der seinen defekten Mut durch furchtbares Bramarbasieren zu verdecken und zu ersetzen meint. – Außer dieser gemeinsamen Physiognomie aber hat diese Literatur noch einen ganz allgemeinen Grundtypus: Das ist ihre unerhörte Langweiligkeit.

Wie verbreitet übrigens dieselbe gewesen, mag man schon daraus abnehmen, daß der Magister Schwab in Leipzig noch zu Gottscheds Zeiten allein aus dem 17. Jahrhundert über anderthalbtausend solcher deutscher Romane besaß. Es ist bei so immenser Fabrikation daher natürlich, daß sie, trotz aller Familienähnlichkeit, sich mehr oder minder in die Arbeit teilen mußten; und so wollen wir denn versuchen, sie nach ihrer speziellen Hantierung wenigstens in einige Hauptgruppen zu sondern.

Die bei weitem zahlreichste Klasse ist die der eigentlich Gelehrten, denen es lediglich um eine breite Schaustellung ihrer Gelehrsamkeit zu tun ist, wo alle erdenklichen Artikel des Wissens, nur leider eben die Poesie nicht, unter der Firma irgendeines gleichgültigen Liebespaares mit großer Prätention und Selbstschätzung an die lernbegierige Lesewelt ausgeboten werden. Man könnte ihre Romane poetische, gewissermaßen toll gewordene Realenzyklopädien nennen. Zierlicher nennt sie Birken in seiner Vorrede zur Aramena: »Gärten, in denen auf den Geschichtsstämmen die Früchte der Staats- und Tugendlehre [616] mitten unter Blumenbeeten angenehmer Gedichte herfürwachsen und zeitigen«; und Lohenstein sagt: »die Weisheit und ernste Wissenschaft müssen der Grund, jenes (das Dichten) der Ausputz sein, wenn ein gelehrter Mann einer korinthischen Säule gleichen soll.« – Solcher korinthischen Säulen aber gab es hier vorzüglich drei: Zesen, Zigler und Lohenstein selbst.

Philipp von Zesen benutzt in seiner »Assenat« beiläufig die magere Geschichte des Patriarchen Joseph, um uns in kurzhüpfenden Sätzen und langatmigen Anmerkungen über das Staatsregiment und den Hofprunk Ägyptens aufzuklären. Er verwahrt sich daher auch ausdrücklich gegen jeden Verdacht etwaiger Erfindung und nennt selbstzufrieden seinen Roman eineStaats– und Liebesgeschichte. Dabei hat er eine solche Freude darüber, etwas Originaldeutsches zu schreiben, »worin auch eine liebliche Ernsthaftigkeit gemischet wäre«, daß er in der Hitze seines puristischen Patriotismus flink alle Fremdwörter verdeutscht und dadurch eine wunderliche Abenteuerlichkeit der Sprache zutage fördert, die in der Tat höchst ergötzlich und jetzt wohl nur noch das einzige Genießbare an dem dickleibigen Buche ist. – Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen (1663–1697) dagegen hat sich insbesondere auf das Ethnographische gelegt. In seiner berühmten »asiatischen Banise, oder blutiges, doch mutiges Pegu, in historischer und mit dem Mantel einer Helden- und Liebesgeschichte bedeckten Wahrheit beruhend« schildert er uns die Sitten und Gebräuche eines barbarischen Volks und beginnt den Roman fürchterlich genug mit: »Blitz, Donner und Hagel, als die rächenden Werkzeuge des Himmels, zerschmettere die Pracht deiner mit Gold bedeckten Türme, und die Rache der Götter verzehre alle Besitzer der Stadt, welche den Untergang des königlichen Hauses befördert oder solchen nicht nach äußerstem Vermögen auch mit Daransetzung ihres Blutes gebührend verhindert haben. Wollten die Götter, es könnten meine Augen zu donnerschwangeren Wolken und diese meine Tränen zu grausamen Sündfluten werden: ich wollte mit tausend Keilen als ein Feuerwerk rechtmäßigen Zornes nach dem Herzen des vermaledeiten Bluthundes werfen und dessen gewiß nicht verfehlen; ja es sollte alsobald dieser Tyrann samt seinem götter-und menschenverhaßten Anhange überschwemmt und hingerissen werden, daß nichts als ein verächtliches Andenken überbliebe!« – Doch Daniel Caspar von Lohenstein überbot sie alle, indem er in seinem[617] »großmütigen Feldherrn Arminius nebst seiner durchlauchtigen Thusnelda« (1689) endlich alles, was damals die Gelehrten wußten oder zu wissen sich einbildeten, Geographie, Völker- und Länderkunde, Astrologie und Geschichte unausreißlich fest in einen ungeheueren Zopf zusammengebunden, der für jeden Kopf paßte und daher auch in der Tat eine geraume Zeit lang in die Mode kam.

Eine zweite, der vorigen nah verwandte Gruppe bilden die Rätselromane, riesenhafte Geschichtsscharaden, deren politische Nüsse, je härter sie zu knacken, nur um so willkommener und angesehener waren. Sie sind ganz besonders bezeichnend für ihre Zeit. Das invalide Rittertum hatte sich bei den Höfen in Pension gegeben, welche nun ihrerseits das Rittertum vorstellen sollten, und die Höfe, da ihnen der auf das Christentum gebaute Staatsorganismus abhanden gekommen, hatten dafür ihre Sache auf eine Kabinettsweisheit gestellt, die nicht durch die Treue, sondern durch die Überlistung und Schwäche der andern stark werden wollte; ein überkünstliches Gewebe von Halblügen, Schlauheiten und Täuschungen, das sie prächtig: ratio status nannten. Und eben dies ist der Gegenstand dieser Rätselromane. Sie handeln mit unendlicher Wichtigtuerei von den geheimen Hofintrigen, und wie der ratio status reden sie von dem und jenem und meinen etwas ganz anderes. So erzählt unsDietrich von dem Werder in seiner »Diana« (1644) eine Menge Liebeshistorien von Dinanderfo, Lodafo, Lastevin usw., und versteht darunter die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und seiner Helden; weshalb denn damals rühmend gesagt wurde, daß man diesen Roman »zum ersten Male der Fabel wegen, das erste- bis drittemal der Reden und Sachen und das viertemal der politischen Weisheit und verdeckten Geschichte wegen lesen müsse«. – Der Meister dieses Versteckspiels aber war der Herzog Anton Ulrich von Braunschweig. Sämtliche Prinzessinen seines Romans »Der durchlauchtigen Syrerin Aramena Liebesgeschichte« sind Allegorien von Ländern, Künsten und Ereignissen seiner Zeit; und in seiner »Octavia« bildet die Erzählung der römischen Geschichte von Claudius bis Vespasian nur den Rahmen für achtundvierzig Episoden, worin ebenso viele Begebenheiten und Zustände der damaligen Höfe rätselhaft angedeutet werden. Diese verhüllten Hofrätsel sind nicht mehr zu lösen, denn jene Zustände sind, wie das Buch, längst vergessen. Dauernder aber ist das [618] Andenken des Verfassers selbst, der ein tätiges und segenreiches Regentenleben mit seiner Rückkehr zur Kirche würdig beschloß.

Das alte Heldengedicht, oder wenn man es so nennen will: der Ritterroman, beruhte, wie wir oben gesehen, wesentlich auf der Kirche, ihrer Verherrlichung und Verteidigung. Nachdem aber die Reformation die alte Kirche erschüttert und in eine bloße praktische Erbauungsanstalt eingerichtet hatte, sind auch in der Poesie sofort an die Stelle der Mystiker die Moralisten eingerückt. Unter ihnen hat besonders der braunschweigische Superintendent Andreas Heinrich Buchholz sich hervorgetan. Seine beiden Romane: »Herkules und Herkuladisla« sowie: »des christlich deutschen Großfürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Walisca Wundergeschichte« (1659), in welchem letzteren die Bekehrung zum Christentum geschildert wird, haben dreierlei höchst löbliche Zwecke. Der wohlgesinnte Superintendent will nämlich zeigen, »daß die Deutschen nicht lauter wilde Säue und Bären sind«; er will ferner die beliebten Ungeheuerlichkeiten des Amadis, »die Amadisschützen«, aus dem Felde schlagen; und endlich dartun, wie die Gottesfurcht der eigentliche Mittelpunkt aller Tapferkeit und Liebe sei. Allein es ist ihm schlecht geglückt. Seine deutschen Großfürsten sind immer noch ganz waidliche Bären geblieben; auf seinem Feldzuge gegen Amadis ficht er gegen die altritterlichen Wunder mit ebenso ungeheuerlichen Wunderlichkeiten: Entführungen, Weltschlachten, Errettungen usw.; und die Gottesfurcht seiner Helden hat, trotz der zahllos eingemischten geistlichen Lieder und Gebete, etwas so trocken Schulmeisterliches, daß man an ihre Frömmigkeit sowie an ihre Tapferkeit oder Liebe nicht im mindesten glauben kann.

Einigermaßen glücklicher waren die Naturalisten in ihrem Kampfe gegen den vornehm künstlichen und bombastischen Schwulst des Arminius Lohenstein und seiner Genossen und Nachfolger, indem sie einfach der betrunkenen Anspannung eine nüchterne Abspannung entgegensetzten. Es scheint auf den ersten Blick nichts leichter, als das an sich Verkehrte über den Haufen zu werfen, wenn man die zähe Macht der Gewohnheit und der Gelehrtenprätention, welche jederzeit der Menge imponiert, nicht mit in Anschlag bringt. Jedenfalls aber ist dabei mit dem bloßen Gegensatze wenig geholfen; man muß entweder das Nichtsnutzige unwiderstehlich totlachen oder, was[619] freilich wirksamer und schwieriger ist, Besseres bieten. Beides war indes hier keineswegs der Fall. Christian Weise (1642–1708) sucht ganz ernst und ehrbar »die Sachen also vorzubringen, wie sie naturell und ungezwungen sind«, und lenkt daher in seinen Romanen (die drei klügsten Leute; die drei ärgsten Erznarren; der politische Näscher) von der modischen Verstiegenheit kopfüber ins Wirkliche, Gewöhnliche, ja Gemeine hinab, so daß Leibniz mit vollem Recht von ihm sagt: »daß er etwas schmutzig zu reden kein Bedenken trage.« Mit solcherlei Natürlichkeit war aber der Poesie ebensowenig gedient als mit der Unnatur Lohensteins. Und ebenso »naturell« und unwirksam ist auch die Religionsansicht, womit er überall das Gemeine würdig auszustatten sich bemüht. Einen Vorschmack davon gibt schon der ganz praktische Zweck, den er in seinen »notwendigen Gedanken der grünenden Jugend« der Poesie setzt, indem er dort sagt: »sofern ein junger Mensch zu etwas Rechtschaffenes will angewiesen werden, daß er hernach mit Ehren sich in der Welt kann sehen lassen, der muß etliche Nebenstunden mit Versschreiben zubringen.« Dieser gar nicht jugendlich grünende Gedanke ins Religiöse übersetzt, will eben nichts anderes sagen, als: kümmere dich nicht sonderlich um alles Höhere, sondern sei nur hübsch artig und fromm, damit es dir wohlgehe auf Erden; denn die Vernunft lehrt: »Nichts ist gut, was nicht einen guten Ausgang hat.« Ein Grundsatz, den uns Weises Romane in dem Charakter des sogenannten Curiosus eindringlichst predigen, und der von seinen zahllosen Nachahmern, z.B. in Riemers politischem Stockfisch, politischem Maulaffen usw., des breiteren ausgeführt wird. Also bildet sich schon damals die knollige Wurzel jener selbstsüchtigen Genußreligion und praktischen Lebensphilosophie, welche späterhin zur Weltherrschaft gelangen sollte.

Zu den Naturalisten, wenngleich in einem etwas umfassenderen Sinne, muß auch noch eine andere sehr zahlreiche Gruppe, die der Robinsonaden, Schäfer-und Schelmenromane, gerechnet werden. Der Faden der Tradition konnte unmöglich in der Religion abgerissen werden, ohne zugleich auch in dem ganzen darauf basierten Leben eine störende Lücke zu hinterlassen. Um sie auszufüllen, versuchte man daher, unter Beseitigung aller Überlieferung und Erbschaft der vergangenen Jahrhunderte, ein völlig neues Dasein willkürlich zu improvisieren, und griff, wie im Glauben auf ein vermeintliches Urchristentum, [620] hier auf einen sogenannten Naturzustand der Menschheit zurück. Allerdings war das damalige hochfrisierte Leben unpoetisch und närrisch genug. Der sogenannte galante Roman, z.B. v. Winklers »Edelmann«, August v. Bohses »hoher Personen unterschiedliche Liebesgeschichten« und »Liebeskabinett für Damen« und vor allen: »Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier« geben uns ein getreues Bild dieser zum Teil schon durch die Büchertitel angedeuteten Seltsamkeiten. Man mußte sich also wohl endlich aus dem konventionellen Zwange in die Freiheit hinaussehnen, und wäre es auch nur die momentane Täuschung einer Maskenfreiheit gewesen. Und eine solche Maskerade der vornehmen Sozietät war in der Tat der aus jenem Gefühl und Bedürfnis entstandene Schäferroman: eine imaginäre Welt, wo der galante Kavalier aus Langerweile zur Abwechslung einmal unter die Hirten flöten ging; es war eben nur ein anders gewickelter Zopf, eine Unnatur gegen die andre.

Gründlicher gingen in dieser Richtung die Robinsonaden zu Werke, indem sie nicht bloß das Kostüm wechselten, sondern wirklich ein Leben ohne Herkommen, Kultur und Gesetz herzustellen suchten. Ihr Urahn, der schon 1721 ins Deutsche übersetzte Robinson Crusoe des Engländers Daniel Defoe, tat es lediglich aus Not, sein einsames Naturleben ist daher noch vollkommen berechtigt und oft von rührender Schönheit. Seine zahllosen Nachkommen dagegen, der deutsche, italienische, sächsische, fränkische, westfälische, schlesische, geistliche, medizinische, moralische, unsichtbare Robinson usw., haben in ihrer abgeschmackten Abenteuerlichkeit schon etwas durchaus Willkürliches und die Prätention, aus der Not eine Tugend machen zu wollen. Eine ganze Kolonie von Robinsonen finden wir endlich auf der »Insel Felsenburg«, einem zu seiner Zeit sehr beliebten Romane von Schnabel, wo Seefahrer der verschiedensten Nationalitäten und Physiognomien unter ihrem »Altvater« auf eigene Hand einen Staat ohne Staat und eine Religion ohne Kirche gründen. Aber es gelingt nicht sonderlich; das Ganze kränkelt an weiter Gewissensfreiheit, gelegentliche Seeräubereien und Entführungen sind ihre Heldentaten, und das bißchen Frömmigkeit hat eine protestantisch abgeblaßte Färbung, die oft schon an den späteren Pietismus erinnert.

Man sieht, von diesen schiffbrüchigen Abenteurern bedarf es nur noch einer kleinen Schwenkung zu den eigentlichen [621] Schelmen. Man könnte jene Robinsonaden, da sie doch mehr oder minder einen angeblich besseren Naturzustand anstreben, immerhin noch die Idealisten, die Schelmenromane dagegen Realisten nennen, indem die letzteren die alte Aventüre gerade zu in die gemeine Wirklichkeit verpflanzen. Sie wollen nicht, wie die Robinsonaden, reformieren und anstatt der überlieferten langweiligen und unnatürlichen Sozietät etwas vermeintlich Höheres geben; sie setzen vielmehr keck die offenbare Anarchie entgegen und sind daher mit Zivilisation, Ehre, Sitte, Staat und Kirche in einem fortwährenden Krieg auf Tod und Leben begriffen. Sie repräsentieren auf eine bitterwahre, aber oft höchst ergötzliche Weise das gefallene, entadelte Rittertum, die aus dem Stegreif lebende Raubritterschaft der niederen Volksschicht. Ihr eigentümlicher Reiz liegt in dem poetischen Hauche, welcher die Freiheit selbst in ihrem extremen Mißbrauch noch begleitet.

Es ist begreiflich, diese allgemeine Herabstimmung mußte edlere Gemüter mit Zorn und Schmerz erfüllen und somit eine bisher größtenteils noch schlummernde Seelenkraft, den Humor, gewaltsam herausfordern. Gervinus nennt den Humor eine Krankheit des Geistes und Gemütes, die das Unerträgliche sich erträglich zu machen suche, wo einem Individuum oder Volke die Fähigkeit oder Möglichkeit gebricht, gesund und resolut im Glauben und in der Poesie zu leben. Und in der Tat, grade dies war jetzt der Fall, die durch die Reformation hervorgerufenen schwankenden Zustände waren die Krankheit, deren poetisches Symptom die Humoristik ist. Denn der Humor ist eben nichts anderes als der Konflikt der höheren menschlichen Anlage mit der jämmerlichen Gegenwart und Wirklichkeit, gleich wie Stein und Stahl in ihrem Zusammenstoße Funken geben, die oft das Nächste und Gewöhnlichste unerwartet scharf und seltsam beleuchten. Er hat daher in seinem Grundwesen etwas durchaus Tragisches, von dem er sich nur dadurch unterscheidet, daß er gegen das Unerträgliche nicht unmittelbar ankämpft, vielmehr von dem buntverworrenen Lebensteppich mit keckem Wurfe nur die fadenscheinige Kehrseite aufdeckt und so den falschen Glanz durch sich selbst vernichtet; sein Organ ist nicht das Pathos, sondern die Ironie und der Witz. Und eben dieser individuelle Tiefblick, der stets vom Besonderen auf das Allgemeine, von der zufälligen Erscheinung auf deren verhüllten Urgrund dringt und mit seinen [622] raschen Streiflichtern häufig das Abgebrochene und Sprunghafte der Lyrik annimmt, unterscheidet den Humor auch von der ganz äußerlichen Parodie und Satire. Oder wer möchte wohl Cervantes' Don Quichotte, diese große Tragödie des Rittertums, oder die Witzgefechte der weisen Narren Shakespeares Satire nennen? – Wir finden zwar, unter ähnlichen Verhältnissen und aus demselben Gefühle des Konflikts, schon in Wolfram von Eschenbachs Parzival einige humoristische Züge; aber erst unmittelbar nach der Reformation blitzen die blanken Geschosse, bei Sebastian Brant, Fischart u.a., immer dichter und deutlicher auf, bis endlich dieser oppositionelle Geist, mit dem fortwährend wachsenden Gegensatze von Ideal und Wirklichkeit, in künstlerischem Selbstbewußtsein völlig herrschend wird und in allen möglichen Abstufungen und Schattierungen den eigentlichen Inhalt unseres modernen Romanes bildet.

Und diese Wahrnehmung führt uns hier auf den einzigen wahrhaften und großartigen Roman jener Zeit; auf den »abenteuerlichen Simplicissimus« vonHans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, oder German Schleifheim von Sulsfort, auch Samuel Greifensonn von Hirschfeld, wie er sich abwechselnd annagrammatisch in seinen Werken genannt hat. Dieser im Jahre 1669 erschienene Roman hätte, der Zeitfolge nach, allerdings schon früher erwähnt werden sollen, ja, er gehört überhaupt nur insofern dem gegenwärtigen Abschnitte an, als er, wenngleich nicht als ein Werk der Reformation, doch nur in Folge der Reformation und in genauem Zusammenhange mit derselben ins Leben treten konnte. Wir stellen ihn aber absichtlich an den Schluß dieser Romanenschau, weil er fast alle vorbezeichneten Gruppen humoristisch in sich umfaßt und eben durch diese Humoristik die eigentliche Brücke vom Mittelalter zum modernen Romane darstellt.

Wie im Don Quichotte ist es auch hier das scheidende Rittertum, das furchtbare Epos des Dreißigjährigen Krieges, das in seinen geistigen Hauptmomenten, gleichsam als ein vom anbrechenden Morgen überraschtes verspätetes Gespenst, an uns vorübergeht; hier wie dort, nicht elegisch klagend, sondern in der scharfen Beleuchtung einer alles durchdringenden humoristischen Weltansicht. Gleich zum Anfang weht uns, wie ein Abschiedsgruß der alten Zeit, der Waldeshauch des Spessart an; aber mitten aus dieser mit tiefem Naturgefühl geschilderten [623] Waldidylle streckt uns auch schon überall die Verwilderung der bäuerischen Knollfinken ihre tölpelhaften Bärentatzen entgegen. Ein wahrer Triumph des überlegenen Witzes ist es, wie Simplex nun, aus jener Waldeinsamkeit in die Welt gestoßen, als Page des Kommandanten von Hanau in verstellter Narrheit die Verbildung der Vornehmen narrt, die ihn zu narren meint; oder wie er später, durch unverhoffte Glücksfälle reich geworden, selbst gar possierlich den galanten Freiherrn spielt, dessen Wappen ein Kopf mit Hasenohren und Schellen ist. Die politische und religiöse Weisheit jener Zeit wird durch einen wirklichen Narren vertreten, der sich für Jupiter hält, ein deutsches Weltreich ohne Fürsten und Abgaben, eine geläuterte Universalreligion ohne Kirche gründen und alle, die dawider glauben, mit Schwefel und Pech martyrisieren will. Dem Einsiedlertum, das damals häufig nur noch als ein löbliches Handwerk betrieben wurde, ist bei aller schuldigen Ehrfurcht überall etwas langbärtig »Antiquitätisches« beigegeben; und von der Konfusion der sich kreuzenden Religionsparteien sagt Simplex: »Zu welchem Teil soll ich mich dann tun, wann ja eins das andere ausschreiet, es sei kein gut Haar an ihm. Sollte mir wohl jemand raten, hineinzuplumpen wie die Fliegen in einen heißen Brei? Es muß unumgänglich eine Religion recht haben und die andern beide unrecht; sollte ich mich nun zu einer ohne reiflichen Vorbedacht bekennen, so könnte ich eben so bald eine unrechte als die rechte erwischen, so mich hernach in Ewigkeit reuen würde.« Aber er wählte doch und wurde katholisch. Und so kommt denn der ehrliche Simplex, nachdem er durch alle Wandelungen der wilden Zeit frisch und keck sich hindurchgeschlagen, zu der Überzeugung, daß im Leben nichts beständig als die Unbeständigkeit, und kehrt endlich selbst als Einsiedler in die Waldesstille wieder zurück, von der er ausgegangen.

Aus dem reichen Personal des Simplicissimus hob Grimmelshausen späterhin noch einzelne Gestalten selbständig hervor und verarbeitete sie zu besonderen höchst ergötzlichen Novellen, in denen gelegentlich die Treuherzigkeit des Simplex selbst ironisiert wird. So den »seltsamen Springinsfeld, einen weiland frischen, wohlversuchten und tapferen Soldaten und nachmalen ausgemergelten, abgelebten, doch dabei sehr verschlagenen Landstörzer und Bettler«, ferner »die Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage, wie sie anfangs eine Rittmeisterin, [624] hernach eine Hauptmännin, ferner eine Lieutenantin, bald eine Marketenderin, Musketiererin und letztlich eine Zigeunerin abgeben«; und endlich in seinem »wunderbarlichen Simplicianischen Vogelnest«, einen Vagabonden, welcher durch ein Vogelnest sich unsichtbar macht und aus diesem Versteck, gleich dem Studenten im »hinkenden Teufel«, die Sünden und Torheiten seiner Zeit belauert. Leider wollte indes der Dichter anderweit der Welt zeigen, daß er nicht bloß volkstümlich, sondern auch gelehrt sein könne wie andere. Er hat daher auch noch einige Romane im damaligen vornehmen Modetone geschrieben: »Proximus und Lympida«, »Dietwalt und Amelinde«, und »der keusche Joseph samt seinem Diener Musai«; und das alles hat er allerdings ebenso gut wie die Gelehrten, d.h. sehr schlecht und langweilig gemacht.


Wir verließen oben das Drama in seinem eben begonnenen Übergange vom Geistlichen zum Weltlichen. Es ist schon bemerkt worden, daß das Drama, da es unmittelbar das Leben darzustellen sucht, auch überall am genauesten den jedesmaligen Phasen der wechselnden Bildung sich anschließt. Und so mußte das selbe denn wohl auch von dem allgemeinen Umschwunge der Reformation unter allen Dichtungsarten grade am empfindlichsten getroffen werden. Die nächste Folge war, daß das schon früher immer mehr verweltlichte sogenannte Zwischenspiel der geistlichen Darstellungen sich jetzt, als selbständige Komödie, gänzlich von dem Mysterium lossagte. So aus seinem ursprünglichen Zusammenhange und Bedeutung herausgerissen, suchte es nun eine Zeitlang ungewiß und schwankend einen neuen zeitgemäßen Inhalt. Es lag nahe, auf die reiche nationale Volks- und Heldensage zurückzugreifen. Allein diese, wie sie vom Mittelalter aufgefaßt und überliefert worden, stand damals noch in zu lebendigem Bezug zu der alten Kirche und dem Wunderglauben, um der veränderten Gesinnung zuzusagen. Die Vergangenheit war ihr verleidet, die Zukunft aber mit ihren Idealen, Wünschen und Hoffnungen noch ein völlig gestaltloses Chaos; so warf sich denn die emanzipierte Komödie ausschließlich auf die Gegenwart und wurde zum bloßen Schwank-und Fastnachtsspiele.

Das Fastnachtsspiel aber folgte rasch und ungestüm allen verworrenen Affekten dieser Gegenwart, teils brutal verwildernd, wie jene Zeit überhaupt, teils in wütendem Haß gegen [625] die alte Kirche gerichtet. Zwei Nürnberger Hänse: der Wappenmaler Hans Rosenplüt und der Barbier Hans Folz, taten sich besonders als Ritter dieser Brettermuse hervor, und es ist fast unglaublich, welcher Wust von Roheit und Unfläterei da plötzlich von siegestrunkenen Magistern, Rektoren und Kantoren in plumpen Knittelversen zusammengereimt wurde. Neubauer in seinem »Pammachius« läßt den Papst sich gegen die dreifache Krone dem Teufel verschreiben, während Christus die Wahrheit und den Apostel Paulus an die Elbe zu Luther in die Lehre schickt, um gegen Rom und die Jesuwider zu kämpfen. In Nikolaus Manuels »sterbender Beicht« ist die Beichte, aus Ärger darüber, daß die Messe in Deutschland verklagt worden, an derschweinenden Sucht und Etica erkrankt, und da der Doktor nach dem heiligen Öl schreit, hat der Küster seine Schuhe damit gesalbt usw.

Aus diesem Pöbelgetümmel ragt der Nürnberger Schuster Hans Sachs (1494–1576) hoch und einsam hervor, mehr durch seinen vornehmen Charakter im besten Sinne als durch seine poetischen Leistungen. In seinen zahllosen Werken und Werkchen (er hinterließ, fast wie der Spanier Lope de Vega, weit über tausend Stück) spiegelt, echt dramatisch, sich der ganze geistige Inhalt seiner verhängnisvollen Zeit: die neue Opposition gegen die alte Kirche, der allmähliche Übergang der religiösen Bewegung ins Politische und endlich die Richtung auf die Wirklichkeit und das alltägliche Privatleben.

Er debütierte 1523 mit seiner berühmten »Wittenberger Nachtigall« und 1527 mit einer Schrift gegen das Papsttum (Eine wunderliche Weissagung von dem Babstumb usw.), welche ihm wegen der darin enthaltenen Beleidigungen gegen Kaiser und Papst eine ernstliche Rüge des Rates von Nürnberg zuzog, mit dem Befehl, »daß er seines Handwerks und Schuhmachens warte und sich enthalte, einig Büchlein oder Reimen hinfüro ausgehen zu lassen«. Hans Sachs wußte jedoch besser als der Rat, was seines Amtes sei; er fuhr unbeirrt fort, zu schreiben und gegen die Kirche zu polemisieren. Aber das grobe und lügenhafte Parteigezänk widerte seine edlere Natur an; seine religiöse Polemik ist überall würdig, gemäßigt und gerecht, soweit das letztere damals überhaupt irgend möglich war. Ja, es erging ihm in dieser ungeheuren Verwirrung fast wie dem ehrlichen Simplicissimus; er fühlt sich, wie er selbst sagt, »beständig von dreierlei Partei umtrieben: erstlich von [626] den Maulchristen, darnach von den Romanisten und von den Religiosen, sind eines Tuchs drei Hosen, die er nicht ziehen kann.«

Späterhin aber sehen wir ihn ebenso rüstig dem allgemeinen Zuge des Zeitgeistes von der Religion zur Politik folgen. Und hier vor allem, namentlich in seinen Kampfgesprächen, zeigt sich sein geistig vornehmes Wesen über den wüsten Lärm der Parteien erhaben und als ein wahres Gegenbild des unruhigen, fanatisch revolutionierenden Hutten, indem er es wagt, die ethische Seite der Politik herauszugreifen und die Rettung Deutschlands einzig auf Bürgertugend und ehrlichen Gemeinsinn zu stellen.

Zuletzt endlich zieht er in seinen eigentlichen Fastnachtsspielen sich gänzlich in das Privatleben, auf Kirchweihen, Jahrmärkte, Bierstuben, unter Bauern und Handwerker zurück. Aber das Gemeine, weit entfernt, ihn zu sich hinabzuziehen, wird vielmehr von ihm an sein sittliches und künstlerisches Richtmaß heraufgehoben. Ein ironischer Duft und unschuldiger Mutwille schwebt über dem derbplastischen Treiben: man fühlt, hier ist er bequem zu Hause und durchaus liebenswürdig. – Außerdem zwar führte ihn sein gesunder poetischer Instinkt auch im Drama noch häufig zu edleren und höheren Stoffen. Er hat viele Schauspiele nicht nur aus dem Alten und Neuen Testament, sondern auch aus der Geschichte, aus gleichzeitigen Novellen und aus den Romanen und Volksbüchern von Siegfried, Magelone, Artus, Tristan usw. Allein diesen »ernsten Historien« war, wie wir schon oben bemerkt, die ganze Anschauungsweise dieser Zeit und folglich auch ihr getreuester Sohn Hans Sachs nicht mehr gewachsen. In seinen biblischen Dramen ist die Religion in bloße Moral und Allegorie, in seinen historischen Stücken das Heldentum ins Spießbürgerliche umgeschlagen; und überall begegnet uns mehr oder minder das hölzern Eintönige und Handwerksmäßige einer sauber und praktisch wohleingerichteten Fabrik. Überhaupt aber war das Talent und Verdienst dieses Dichters mehr negativ als wirklich produktiv. Er ist nämlich, was alles freilich für die damalige Zeit nicht hoch genug angeschlagen werden kann, nirgend gemein; er hat niemals die breite Bahn zum stolzen Gelehrtenparnaß versucht, sondern stets herzlich zum Volke gehalten; er hat endlich die schon halbvergessenen dramatischen Elemente zwar nicht erfunden, aber wiedergefunden [627] und treulich gesammelt und gerettet; seine ganze dramatische Arbeit ist nur eine Studie und Vorbereitungsschule für das wirkliche Schauspiel. Und in dieser Beziehung hat er die größte Ähnlichkeit mit der dramatischen Dichterschule in England vor Shakespeare, nur daß diese ein junges Weltreich, Hans Sachs eine eng ummauerte Reichsstadt vor Augen hatte. Auch diesem Übelstande sollte indes bald und ganz unerwartet abgeholfen werden. Die sogenannten englischen Komödianten – von denen man nicht einmal mit Gewißheit weiß, ob sie Deutsche oder Engländer waren und ob sie deutsch oder englisch spielten – durchzogen unter ungeheuerem Beifallsjubel wie ein funkensprühendes Meteor ganz Deutschland vom Rhein bis zur Weichsel, mit neuen Stoffen, Formen und Kunstgestalten den dramatischen Horizont plötzlich nach allen Seiten hin ins Unermeßliche erweiternd. Der Eindruck mußte um so gewaltiger sein, da es die erste Bande Schauspieler von Profession und also dem bisherigen blöden und ungeschickten Dilettantismus der Handwerker bei weitem überlegen war. Die alte reichsbürgerliche Ehrbarkeit ist eben nicht ihr Metier, Mord und Brand das Hauptthema ihres wilden, bluttriefenden Schauspieles. Jedenfalls aber brachten sie aus England, wo die volkstümliche Komödie schon früher sich zu gestalten angefangen, mächtig anregend das ganze rohe Material des Wunderbaues mit herüber, den bald darauf Shakespeare hervorgezaubert hat.

In Deutschland fehlte leider der kühne Baumeister; es blieb alles bloßes Material. Vorzüglich zwei Dichter traten hier die wüste Erbschaft an, um sie unordentlich zu verwirtschaften. Der Prokurator und Notar Jakob Ayrer, abermals in Nürnberg, hatte sich aus dem englischen Nachlaß ganz besonders die Grausamkeit erwählt und ging, fast wie ein Trunkner, mit lauter Schauder, Blut und Schrecken dem schaugierigen Publikum verzweifelt zu Leibe. In dreißig Zeilen schneidet in seinem Servius Tullius zuerst Lucius Tarquin seiner Gattin den Hals ab und läßt sie verzappeln und vergiftet Tullia ihren Gatten. Im Kaiser Otto werden dem Conscentius Nase und Ohren abgeschnitten, dem Papst Johann die Augen ausgestochen, einer, der um die Kaiserin buhlt, wird verbrannt, einer, der sie verschmäht, hingerichtet, und der Kaiser mit ein Paar Handschuhen vergiftet; und im Mohamet schlägt der Sultan gleich anfangs seinem Bruder den Kopf ab und wundert sich, [628] daß seine Mutter um eine Handvoll Bluts dabei weinen mag usw. Diese kleine Probe, womit Gervinus den Vorhang lüpft, mag hinreichen, von dem unerhörten Grobianismus einen ungefähren Begriff zu geben.

Nicht so blutdürstig erweist sich der im Jahre 1613 verstorbene Herzog Heinrich Julius von Braunschweig, welchem wir schon oben beim Romane begegneten, in seinen zahlreichen Tragödien und Komödien, die er meist unter der Chiffre hibaldeha (d.i. Henricus Jul. Brunsvicensis a Luneburg. dux edidit hunc actum) hinterlassen hat. Seine dramatischen Schwänke vom Gastgeber, vom verlorenen Sohn u.a., sowie vor allem seine Komödie vom Vincentius Ladislaus Sacrapa von Mantua, bekunden ihn als einen begabteren Dichter, der wohl imstande gewesen, den aus dieser Verwirrung sich hervorarbeitenden höheren Geist zu erkennen. Überhaupt war noch keinesweges alle Hoffnung verloren. Die Anregung, die von den englischen Komödianten ausgegangen, hatte die bereits schwankende Richtung des Dramas zum Volkstümlichen, wie es schien für immer, entschieden und befestiget; ja der verständige Herzog Heinrich suchte durch die Einrichtung eines Hoftheaters in Braunschweig die Volkskomödie mit der höheren Bildung zu vermitteln und somit zum wahrhaften Nationalschauspiele zu machen, was sie in Spanien schon war. Aber zu spät! Die furchtbare Katastrophe, nach welcher alle politisch religiösen Leidenschaften schon lange hinarbeiteten, brach herein: Der Dreißigjährige Krieg vernichtete das deutsche Theater von Grund aus.

Dies wäre indes am Ende noch der geringste Schade gewesen; denn an der bisherigen Bühne war, wie wir gesehen, eben nicht sonderlich viel verloren, und ein ehrlicher Krieg stählt und kräftiget überall das Volk, das sich sonach sehr bald ein besseres Theater wieder aufgebaut hätte. Allein dieser Krieg war kein ehrlicher und hatte für Deutschland, ganz abgesehen von der materiellen Zerstörung und Verarmung, zwei eigentümlich verderbliche Folgen. Einmal nämlich war das ganze vorgeschobene Motiv des Krieges im Grunde nur eine große Lüge; die Fürsten, mit wenigen ehrenhaften Ausnahmen, kämpften nicht mehr für den Glauben, sondern um Klostergüter, Abteien und fette Bistümer, und oktroyierten leichtfertig, je nach dem wechselnden Bedürfnis, ihren Untertanen bald diese, bald jene Religion, fast wie jener Weltnarr im Simplizissimus mit Schwefel [629] und Pech martyrisierend, wer dawider glaubte. Das alles aber hatten ihnen die armen Untertanen sehr bald abgesehen; das ganze deutsche Volk ging unter die Landsknechte, die nun, gleichviel ob unter katholischen oder protestantischen Fahnen, ebenfalls nicht für die bessere Lehre, sondern um den besseren Sold einander die Hälse brachen und martyrisierten. So entstand nach und nach eine allgemeine religiöse Gleichgültigkeit und Indifferenz. – Sodann aber wurde dieser Krieg von Fremden auf deutschem Boden geführt, und Deutschland, von dieser nachhaltigen, schwedischfranzösischen Invasion innerlich zersetzt und aufgelöst, gewöhnte sich, in schmählichem Selbstvergessen lediglich nach der Fremde auszusehen. Und so entstand die Sprachmengerei und plumpe Nachäffung, die uns so lange lächerlich gemacht.

Beide Nationalkalamitäten konnten natürlicherweise auch auf die deutsche Poesie nicht ohne Einfluß bleiben. In unserer Poesie ist fortan das religiöse Element so gut wie ausgestrichen; an die Stelle des Glaubens tritt der Aberglaube an das Ausländische. Am meisten aber mußte das Theater darunter leiden. Das Theater braucht jederzeit einen gewissen Wohlstand, behäbige Geselligkeit und äußeren Apparat; das Drama ist der Luxus der Poesie, und an Luxus konnte das bankerotte Deutschland jetzt am wenigsten denken. Als daher nun die Deutschen ihre plötzlich von den Brettern auf das wirkliche Schlachtfeld verpflanzte grausame Tragödie verblutend zu Ende gespielt hatten, war alle dramatische Tradition fast bis auf die Erinnerung erloschen, und was davon noch übriggeblieben, war wüst und verwildert, wie das Volk und seine Sprache. Das Schauspiel mußte, gleichsam stammelnd, ganz von vorn wieder anfangen und knüpfte instinktartig noch einmal an die Kirche an. Der Nürnberger Johann Klaj trug nach beendigtem Gottesdienst rezitativisch, ohne Dialog und nur zuweilen von Chören unterbrochen, Szenen aus Christi Leben vor. Aber damit war diesem Geschlechte wenig gedient, die Kirche war vernichtet und das Volk noch vom Blutdampf berauscht. Aus der halbverschütteten Wurzel schoß wüstes Gestrüppe üppig hervor; alles Unkraut der ehemaligen Komödie: schamlose Zoten, handgreifliche Späße, Prügeleien und Burzelbäume mit gelegentlichem Feuerwerk und anderem Schaugepränge; das alles filzte sich überwuchernd zu dem sogenannten »Mordspektakel« zusammen, eine neue Ausgeburt [630] des Krieges. Der grobianische Gesell und Gumpelmann betrat die Bühne, daß die Bretter krachten; der Hanswurst hatte alle Helden überlebt.

Da erbosten sich, wie billig, die Gelehrten über diese Pöbelwirtschaft und spitzten voll Verachtung die Federn, um die Sache aus ihren griechischen und lateinischen Kompendien gründlich zurechtzumachen. Wir übergehen hier, als gar nicht zur Poesie gehörig, die Flut von Schulkomödien biblischen, historischen und antiquarischen Inhalts, welche von protestantischen Pastoren, Rektoren und Kantoren abgefaßt und von Studenten, meist in lateinischer Sprache, pflichtschuldigst gespielt wurden. Das wesentlich noch immer geistliche Schauspiel war also aus der Kirche in die akademischen Hörsäle, Rathäuser und Schützenhöfe verlegt, und an die Stelle der leitenden Geistlichen traten die Professoren. Ihre Stücke sind indes eben nur dramatische Schulexerzitien und von der er wachsenen Nachkommenschaft längst in den großen Makulaturkorb der Literatur geworfen. In Frankreich dagegen war zu dieser Zeit die weltberühmte Aristotelische Tragödienfabrik bereits im schönsten Flor und Gange, und von dorther holte man sich daher fortan die richtige Schablone.

Schon Opitz, der überhaupt mehr Ausländisches als Eigentümliches hat, mehr reproduzierte als erfand, lenkte auf diese Bahn hin, durch seine Übersetzungen von Sophokles' Antigone, von Senecas Trojanerinnen sowie des italienischen Schäferspieles Daphne. Durch das letztere vorzüglich verschuldete er den nachfolgenden Schwarm von Schäfereien, wo Hirten mit Haarbeutel und Hirtinnen im Reifrock, mit den Schäferromanen an Unnatur wetteifernd, galante Diskurse miteinander führen und in der Tat etwas frappant Schafmäßiges haben. Mit diesem vornehmen Idyll nahe verwandt sind die sogenannten Wirtschaften, dialogisierte Bonmots und allegorische Witze, eine Art halbimprovisierte Maskeraden, die an den Höfen von fürstlichen Personen und Kavalieren aufgeführt wurden und in denen selbst Leibniz einmal bei einer Hoffestivität zu Charlottenburg die Rolle eines marktschreierischen Quacksalbers gespielt haben soll.

Das alles waren indes nur dilettantische Versuche. Den eigentlichen Übergang vom Volke zu den Gelehrten eröffnet erst der Schlesier Andreas Gryphius (1616–1664). Er selbst steht noch ungewiß und zweifelhaft in der Mitte zwischen beiden. [631] Seine Lustspiele haben durchaus noch den alten volkstümlichen Klang, ja, sein Scherzspiel im schlesischen Volksdialekte, »die geliebte Dornrose«, ist eine Fastnachtsposse im allerbesten Sinn; und doch zieht er in seinem »Peter Squenz« gegen die bettelhafte Volkskomödie der Handwerker und im »Horribilicribrifax« gegen ihre grobianischen Gumpelmänner und Prahlhänse schlagend zu Felde. Umgekehrt wendet er sich in demselben Lustspiele mit ebenso scharfem Hohne in seinem karikierten Sempronius gegen die anmaßende Schulweisheit der Gelehrten, während er selbst doch in seinen Tragödien sich den Seneca zum Muster gewählt und sogar den antiken Chor eingeführt hat. In diesen Trauerspielen aber ist eigentlich der Dichter selbst die tragischste Person, wie er unablässig in finsterem Groll und Schmerz mit dem ungeheuren Unglück des Vaterlands, mit der verwilderten Sprache und den Mißgeschicken seines eigenen Lebens männlich ringt, überall das Hohe ahnend, wofür er doch nirgend den rechten Ausdruck finden kann und daher häufig auf die ausschweifendste Ungeheuerlichkeit der Rede verfällt und in steter unruhiger Hast nach den entgegengesetztesten, antiken, romantischen und modern politischen Stoffen um sich greift. Er hat einen Leo Armenius und einen Karl Stuart, einen Papinianus und eine christliche Märtyrerin Catharina von Georgien; und spricht von »rosenweißen Wangen« und von »schwefelichter Brunst der donnerharten Flamme«.

Seine zahlreichen Nachahmer hatten seinen Ernst und Schmerz vergessen und nur seine Extravaganzen sich gemerkt. Unter ihnen aber hat der Breslauer Lohenstein (1635–1683), ein guter Jurist und schlechter Dichter, wie in seinem Romane Arminius, so auch in seinen Trauerspielen wiederum den Kernschuß getan, indem er den hinterbliebenen Redeschwulst sich zum speziellen Ziele ausersehen und die vom Lebenssturm wirr durchwühlten Locken des Gryphius, als ein meisterhafter Sprachverkünstler, in eine förmliche Staats-und Allongeperücke aufkräuselte und auftürmte. Zugleich zeigt Lohenstein am deutlichsten, wie diese Gelehrten von der Geschmacklosigkeit, brutalen Roheit und Sittenlosigkeit der Pöbelkomödie, die sie zu bekämpfen meinten, nur formell unterschieden waren, ja dieselbe wo möglich noch überboten. So z.B. jubelt in seiner »Agrippina« die Buhlerin Poppäa auf der Leiche der auf des Sohnes Geheiß ermordeten Agrippina. In der »Epicharis« [632] trinken zwar in den ersten Akten nur die Verschworenen unter greulichen Flüchen einander Blut zu, und mehrere Personen werden bloß gefoltert; dagegen geht es im vierten Akte um so wütender, und zwar auf der Bühne, ans Köpfen, Zungenausreißen und Aderzerschneiden, während die Atilla nackt bis zur Ohnmacht gepeitscht wird. Überall bilden Mord, Wollust, Notzucht und Blutschande das Hauptthema des Dichters; sehr begreiflich daher, daß die römische Kaiserzeit und die Barbarei des türkischen Hofes der eigentliche Schauplatz seiner Tragödie, Nero sein Lieblingsheld ist. Dazu kommt noch, wie in den damaligen Romanen der schwerwuchtende Ballast Von »Realien«, antiquarischer, geographischer und historischer Kuriositäten, um sich über das gemeine Volk erhaben zu zeigen. Wahrlich, der wenigstens doch natürliche Büffellaut der Pöbelkomödie ist noch unschuldiger und erträglicher, als dieser prätentiöse Kannibalismus. Der Abgott seiner gelehrten Zeitgenossen aber, ja unsterblich, wurde Lohenstein vorzüglich durch seinen abenteuerlich forcierten Wortschwall. Und in diesem Fache hat er in der Tat so Unerhörtes geleistet, daß man es selber nachlesen muß, um es zu glauben. So heißt es z.B. in seiner Tragödie Agrippina:


»Megära: Erzmörder! Wie die blut'gen Striemen,
Die meine Schlangenrute schlägt,
Orestens schwarzen Nacken blümen,
Weil er die Mutter hat erlegt,
So soll auch dich (Nero) mit zehnmal ärgern Schmerzen
Die Peitsche röten, Glut und Schwefel schwärzen.
Tisiphone: Kommt Schwestern, helft mir Ruten binden,
Kommt, leiht mir euer nattricht Haar,
Helft Harz vom Phlegeton anzünden,
Reicht Schwefel, Pech und Zunder dar.
Entblößet ihn, braucht Fackel, Flamm und Rute,
Bis sich der Brand lösch in des Mörders Blute.«
Und sein Drama Ibrahim Bassa wird durch folgenden Monolog der Asia eröffnet:
»Wehe! weh! mir Asien! ach! weh!
Weh mir! ach! wo ich mich vermaledeien,
Wo ich bei dieser Schwermutssee,
Bei so viel Ach selbst mein betränt Gesicht verspeien,
[633]
Wo ich mich selbst mit Heulen und Zeter-Rufen
Durch strengen Urteilsspruch verdammen kann!
So nimm dies lechzend Ach, bestürzter Abgrund an!
Bestürzter Abgrund! O die Glieder triefen
Voll Angstschweiß! Ach des Achs! Der laue Brunn
Der dürren Adern schwellt den Jäscht der Purpur-Flut!
Mein Blutschaum schreibt mein Elend in den Sand!«

Dieser pomphafte Parademarsch aber war denn doch zu lächerlich steif und pedantisch, um nicht endlich einen Gegenstoß hervorzurufen. Der Führer der Revolte ist derselbe Christian Weise (1642–1708), den wir schon oben beim Roman in gleichem Kampfe angetroffen, ein wackerer Mann von gesunder Einsicht und den besten Intentionen. Auch hier wollte er, wie Lope de Vega in seiner berühmten arte nuevo de hacer comedias, nach Aristoteles, antiker Form und allem Regelzwang nicht fragen, sondern »bei seiner Freiheit bleiben, an der Einfalt seine Lust behalten, die der Natur am nächsten komme, und jede Person nach ihrem Naturell reden lassen«. Und mit dieser einfachen Beschwörungsformel trat er aller Karikatur der Gelehrten, der komischen wie der tragischen, ihren bebänderten Schäfern und breitmäuligen Helden, herzhaft entgegen und florierte hiernach natürlicherweise zumeist im Lustspiel und in der Posse, machte aber auch im Trauerspiel wie Shakespeare, das Komische geltend. Er hatte gewiß überall vollkommen recht, nur leider nicht die erforderliche Kraft, sein gutes Recht gebührlich durchzusetzen. Denn das bloß »Naturelle«, worauf er zurückging, hat noch nirgend die Unnatur bezwungen; und zudem war dieses Naturelle grade damals in Deutschland unglücklicherweise nicht mehr poetisch, was es zu Lopes Zeiten in Spanien allerdings noch gewesen. Weise geriet daher in seinen Komödien, die durchaus nur »eine akkurate Vorstellung einer Begebenheit« sein sollten, unwillkürlich immer mehr in das andere Extrem, von den sublimen Helden unter gemeine Wäscherinnen, Bauern und Handwerksburschen, aus dem Tempel in die Schenke, und verbannte unnützerweise den Vers, wovor sich Lope wohl gehütet hatte.

Inzwischen hatte, wie wir gesehen, Klaj durch seine Deklamation die modernen Kantaten und Oratorien eingeleitet, die Schäfereien mit ihren eingestreuten Arien und Rezitativen waren, seitdem Peri Opitzens Daphne komponiert, fast schon [634] wirkliche Singspiele geworden, die Tragödien in lauter Schall und Knall, die Volkskomödien in wüstem Schaugepränge aufgegangen; als endlich Weise allen Regelnzwang aufhob und somit dem Dilettantismus die willkommne Freiheit gab, alle diese Elemente, deren jedes für sich bereits zu langweilen anfing, lustig durcheinander zu mischen. So kam es, daß nun Christliches und Heidnisches, Pathos und Pickelhäring, Oratorium und Zote, Prozession und Ballett in ein neues dramatisches Monstrum: in die Oper, diesen auf Noten gesetzten Gesamtunsinn des Zeitalters, unaufhaltsam zusammenschoß. Christian Dedekind, den seine Freunde Christi Dudelkind nennen, schrieb für den Kapellmeister Bernhard in Dresden Opern geistlichen Inhalts, wo Apoll und Pythia an der Krippe des Christkindes vorkommen. In seinem sterbenden Jesus erhängt sich Judas auf der Bühne, während der Satan dazu als Echo singt; und als sodann Judas am Stricke zerplatzt, rafft Satan seine Eingeweide in einen Korb zusammen und singt abermals eine Arie dazu, während eine andere Arie des über die Verkündigung der Morgenländer zornigen Herodes beginnt:


»Donner und Hagel, Hammer und Nagel,
schmiedendes Eisen,
stechende Spitzen, Mäßer zum Schlitzen
will ich dir weisen« usw.

In Bostels »Mustapha« marschieren deutsche, tatarische, polnische und türkische Armeen in Kostüm auf; in der Oper »Semiramis« werden alte Damen in feuerspeiende Lanzen verwandelt, und im »Jason« steigt das Schiff Argo singend zum Himmel, wo es in einen Stern verwandelt wird. Aber auch die Wucht der Gelehrsamkeit durfte nicht fehlen; neben grunzenden Bären und anderen Ungeheuern wurden Staatsmaximen, Mandate und Schulmoral in Arien abgesungen, ja es gab Opern über Bierbrauen und Schlächterei.

Kein Wunder daher, daß endlich die Theologen donnernd dazwischenfuhren und namentlich in Hamburg ein wütender Pamphletenkampf für und wider die Oper entbrannte. Allein die geistlichen Bannstrahlen wollten nirgend mehr zünden, das damalige Opernfieber scheint ebenso epidemisch gewesen zu sein als das heutige. Denn selbst die Universitäts-Fakultäten zu Wittenberg und Rostock entschieden jenen Streit zugunsten der Oper. Ihr zuliebe wurde in Dresden das erste stehende [635] Theater gegründet; Leipzig, Nürnberg und Hamburg, wo die Seitenszenen neununddreißigmal, die Mittelszenen einige hundertmal verändert werden konnten, folgten dem Beispiele, in Wien kostete jede einzelne Oper an 60000 Gulden, und um 1700 zählte man bereits zehn Opern auf ein Schauspiel. Doch zogen sich sehr bald die besten, Postel und Hunold, aus moralischen Rücksichten von den Operntexten auf Epos und geistliche Dichtung, Sebastian Bach und Händel, nachdem sie eine ganze Reihe längst vergessener Opern komponiert, auf die Kirchenmusik zurück, und Feind, selbst einer der rüstigsten Operndichter, mußte zuletzt eingestehen, daß nach dem Geschmack der Welt Opern aufzuführen, ebenso pläsierlich als schwer, ebenso rühmlich als tadelhaft, ebenso schön als ärgerlich und in den meisten hamburgischen Opern etwas wider Anstand und christliche Sitte sei.

Mit diesem Gange des Dramas mußte natürlich auch die Schauspielkunst gleichen Schritt halten, deren Aufgabe ja nicht die Komposition, sondern eben nur die Virtuosität ist, das von den Poeten Erfundene treu und geistreich abzuspielen. Als daher die Gelehrten feierlich in Reih und Glied traten, machten auch sofort die Schauspieler eine gelehrte Miene und avancierten von Handwerkern zu Studenten. Veltheim, selbst ein gebildeter und sprachenkundiger Magister aus Halle, warb nämlich um 1670 ein Freikorps von Studenten, welches unter der stolzen Firma: »Berühmte Bande und kursächsische Hofkomödianten« in allen größeren Städten Deutschlands umherzog. Um vor allem ein würdigeres Repertoire zu schaffen, gab er eine prosaische Übersetzung des Moliére heraus, griff in seinen Stoffen häufig auf Corneille und den durch die Jesuitenspiele bekanntgewordenen Calderon zurück und suchte den Hanswurst, als »Kurtisan«, zum spanischen Gracioso zu veredeln. Aber der wohlgesinnte Mann wurde sehr bald von dem unaufhaltsamen »Mordspektakel« übergerannt und erfand in die ser Not das Improvisieren, um den hergebrachten Staatsaktionen, zu denen er sich nun wieder bequemen mußte, wenigstens durch gelegentliche Impromptus ein besseres Ansehn zu geben. Er bedachte hierbei nicht, daß zu dieser Art verwegenen Mitdichtens ein eigentümlicher Geist und Witz vonnöten, der den wenigsten allabendlich zu Gebot steht, und daß bei weitem die meisten Schauspieler nicht die ewige Kunst, sondern die momentane Gunst der Menge suchen. Und so [636] ward denn grade dieses Improvisieren ein willkommener Kanal, auf dem von neuem die alte Unfläterei einzog und alle besseren Intentionen wieder durchlöcherte. Vergebens wurden dagegen die sogenannten »Dirigierbücher« eingeführt und darin Plan und Gang des Stückes sowie die Stelle und der ungefähre Inhalt der Improvisation vorgeschrieben. Jos.Stranitzky und Franz Schuch nahmen die volle unbedingte Freiheit des Stegreifspiels für ihren Hanswurst in Anspruch, der überdies in den wandernden Komödiantenbanden des Eckenberg u.a. in die schlechteste Gesellschaft, unter mitziehende Luftspringer, Seiltänzer, Taschenspieler und Zahnbrecher geraten war.

Man sieht, eine Reform war hier ebenso notwendig als schwierig, und diese Athletenarbeit nahm Gottsched (1700–66) auf seine breiten Schultern. Wir haben schon einmal bemerkt und müssen es immer wiederholen: um das Verkehrte zu bewältigen, muß man es entweder vor den Augen der Welt zu Tode lachen oder das Bessere und Rechte dagegen aufstellen. Das letztere tat Shakespeare der wilden englischen Volkskomödie gegenüber; Gottsched wollte beides und machte nur sich selber lächerlich. Es ist wahr, Gottsched hat den Lohenstein überwunden; allein das war eben nur ein Kampf der nüchternen Prosa mit der toll gewordenen Prosa. Ebenso hat er ohne Zweifel die unleidliche Theateranarchie gebrochen; aber nicht wie Shakespeare, durch selbstschöpferische Entwickelung der mit der Anarchie ringenden nationalen Freiheiten, sondern nach Tyrannenart durch Unterjochung aller Freiheit. Das Schauspiel sollte, nach ihm, eine deutsche Volksschule sein; und doch wandte er sich vornehm vom Volke ab nach Frankreich, zu den Hofdichtern Ludwigs XIV. und ihrem Zeremonienmeister Boileau, und gründete in Leipzig eine Kommandite der Pariser Tragödienfabrik, in welcher seine Frau und sämtliche Professoren, Rektoren und Schulmeister an Übersetzungen oder sogenannten Originalstücken nach Pariser Mustern im Schweiße ihres Angesichts arbeiten mußten. Was sollte denn also die beständige Grandiloquenz von Deutschheit und deutschen Originalwerken unter solchem Proletariat von Deutschfranzosen?

Mitten im schönsten Flor dieser hölzernen Poetenfabrik aber geriet der stolze Fabrikherr unverhofft in einen heftigen Streit mit den über den anmaßenden Lärm entrüsteten Schweizern, [637] deren Führer Bodmer war; eine durchaus poetische Natur, nur leider selbst kein Dichter, der freilich hier vor allem anderen not tat. Die Reformation hatte, wie wir gesehen, der ganzen modernen Bildung zwei Hauptrichtungen gegeben: einerseits vom Übernatürlichen zur Natur, andrerseits von der Phantasie zum Verstande. Beide Richtungen aber mußten in ihren Konsequenzen sehr bald miteinander kollidieren, da die Natur immerhin etwas Mystisches und Wunderbares sich nun einmal nicht abdisputieren läßt, zu dessen Wahrnehmung der Verstand kein Organ hat. Und dieser echt protestantische Konflikt war es, der damals auf dem Felde der Literatur sich in Bodmer und Gottsched verkörpert hatte. Bodmer, der selbst ein Buch von dem Wunderbaren geschrieben, behauptet, das Wunderbare, in Verbindung mit dem Wahren, sei die Urquelle der poetischen Schönheit, indem der Dichter durch die Kraft seiner Phantasie ganz neue Wesen schafft oder wirkliche Wesen zur Würde einer höheren Natur erhebt. Er erkannte daher die Schönheit von Tasso, Ariost und Milton und war der erste, welcher die längst vergessenen Minnesänger, den Parzival und die Nibelungen wieder bekannt machte. Er wirft den deutschen Dichtern Mattherzigkeit und Trockenheit vor, »die sie durch ihre Philosophie und ihre Liebhaberei am Verstandeswesen sich erwarben, die die Lustbarkeiten der Einbildungskraft unterdrücke«.

Gottsched aber entgegnet: das sei ja eben das Preiswürdige bei der Sache! die Vernunft sei gottlob geläutert bei uns und die ausschweifende Einbildungskraft in ihre Schranken gewiesen; das habe den Fall Lohensteins bewirkt und dauerhafte Schönheiten dafür zuwege gebracht. Er spricht von den »Teufeleien des Tasso«, von den »abgeschmackten Hexereien des Shakespeare«, verwirft Oper und Kantate, »weil der Verstand dabei nichts zu denken habe«, er will, daß die tragische Schreibart stets »auf Stelzen, die komische barfuß gehe«, und weiß, in völliger Impotenz der Phantasie, die Fabel nur durch den lahmen Gelehrtenwitz zu retten, daß man voraussetzen müsse, die Bäume und Tiere, die da reden, hätten vielleicht in einer anderen Welt Verstand und Sprache. – Mit einem Wort: Bodmer verfocht volkstümlich die aufstrebende Gelehrtenrepublik; Gottsched den literarischen Absolutismus. Jener erkannte und förderte überall das strebsame Neue, eiferte für Addison, Milton, Klopstock und für »das allgemeine Recht [638] der Menschen« im Literaturstaate, während Gottsched den französierten Aristoteles zum alleinigen Diktator ausrief und das Vermeintlich goldene Zeitalter der Poesie mit seinen Winkeldichtern Pietsch, Schönaich, Schwabe, Derschau etc. für alle Zeiten abschließen wollte. Beide aber haben eigentlich nur indirekt gewirkt; das Resultat des ganzen Kampfes war nicht eine bessere Poesie, sondern nur der erste Anstoß zu einer Kritik, die allerdings hinterher der Poesie zustatten kam; und der scharfsichtige Liscow sagte daher damals, mit verdeckter Beziehung auf Gottsched, sehr treffend: »obgleich die Esel zur Musik ungeschickt seien, so mache man doch aus ihren Knochen die schönsten Flöten, und so gäben die elenden Schriften Anlaß zu sinnreichen Widerlegungen und Spottgeschichten.«

Überhaupt aber hat Gottscheds ganzer Lebenslauf etwas durchaus Tragikomisches: wie er erst das Aufgebot seiner Schulmeister in den Krieg führt, dann – da diese sich teils invalid erwiesen, teils rebellisch zu den Bremer Beiträglern übergehen – den Kürassierlieutnant Freiherrn v. Schönaich zum Oberfeldherrn ernennt, schlauerweise Voltaire zum Sukkurs ruft und endlich durch ein Vorspiel, in welchem ihn die Neuber auf das Theater brachte, sowie durch Rosts und Pyras Spottgeschichten schmählich Krone und Zepter einbüßt. So hatte ihn die Nemesis erreicht; der Hanswurst, den er in Leipzig feierlich in den Bann getan, hatte ihm zum Valet über die stattliche Professorperücke, die so lange wie eine furchtbare Donnerwolke nach allen Seiten Blitze geschleudert, unversehens seine Schellenkappe gestülpt, welche er, ohne sie selbst zu gewahren, bis an sein Lebensende zu großem Ergötzen des Publikums mit gravitätischem Anstande trug.

Wir sagten, das Resultat des Gottsched-Bodmerschen Kampfes war nicht die bessere Poesie, sondern die Kritik. Denn Bodmer hatte nur erst eine Poesie überhaupt wieder möglich gemacht, indem er die Dichter von dem unsinnigen Regelnzwange der Gelehrten befreite und dadurch allerdings einen unberechenbaren Impuls gab, der jedoch erst bei den folgenden Generationen sich wahrhaft produktiv erweisen sollte. Gottscheds bedeutendster Schüler aber, Johann Elias Schlegel, der gewiß alles geleistet, was sich unter dem Gottschedschen Banner irgend leisten ließ, zeigt eben nur die gänzliche Unmöglichkeit dieser Schule. Seine Tragödien gehen, [639] dem Kommando des Meisters gemäß, sämtlich »auf Stelzen, und die Lustspiele barfuß«, so daß von den letzteren Lessing sagen mußte, es herrsche darin das kälteste, langweiligste Alltagsgewäsche, das nur in dem Hause eines meißnischen Pelzhändlers vorfallen könne. Ein anderer Dichter, Christian Felix Weiße in Leipzig, trat in seiner Jugend gleichfalls getreulich in die breitspurigen Fußtapfen Gottscheds, den er jedoch später, von Lessing scharf in die Schule genommen, in seinen Lustspielen, besonders in den »verwandelten Weibern oder der Teufel ist los« und in den »Poeten nach der Mode«, verhöhnte und auf das höchste erzürnte. Dennoch kehrte er bald darauf in seinen Trauerspielen: Eduard und Richard III., Romeo und Julie, Jean Calas etc., von neuem zu Gottscheds Stelzen zurück, bis endlich sein leichtes Liedertalent im Singspiele – wovon noch manches, wie »Lottchen am Hofe«, »die Liebe auf dem Lande«, »die Jagd« etc. den ältesten Theaterfreunden erinnerlich ist – seinen eigentlichen bequemen Ausdruck gefunden und also das mächtige Bollwerk, das Gottsched mit ungeheuerem Fleiß und Haß gegen die Oper aufgetürmt hatte, wieder niederwarf.

Dagegen hatte jener Kampf unleugbar die natürliche Folge jedes rechtschaffenen Krieges: er hatte den alten Schlendrian in seiner verjährten Philisterwirtschaft gründlich gestört und ein neues Geschlecht jugendlicher Streiter erzogen, welches nun dem groben Geschütze Gottscheds gegenüber ein tüchtiges Freikorps bildete. Der besonnene Karl Christian Gärtner, Cramer und Adolf Schlegel, der Vater von A. W. und Friedrich von Schlegel, setzten im Jahre 1742 den Gottschedschen »Belustigungen des Verstandes und Witzes« ihre »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« (von dem Verlagsorte dieBremer Beiträge genannt) entgegen, eine Zeitschrift, die bei dem Gelehrtenprozeß in Sachen der Poesie auch dem unbefangenen Urteil und Interesse der Damen Sitz und Stimme zuerkannt und in der Literatur gewissermaßen Revolution gemacht hat. Denn viele junge Sachsen, die anfangs noch zu Gottsched gehalten, seinen langweiligen Kamaschendienst aber endlich unerträglich gefunden hatten, wie Rabener, Ebert, Zachariae, Gellert und Giseke, traten jetzt zu den Bremern über; zu ihnen gesellten sich später auch: Lessing, Hagedorn, Gleim und Klopstock, und eroberten, immer weiter vordringend, mit wesentlich Bodmerschen Waffen ganz neue Provinzen, an die[640] Bodmer selbst noch nicht zu denken gewagt. Es war in Deutschland der erste kritische Feldzug. Ohne Kritik aber konnte die Poesie, nachdem sie sich einmal mit dem Verstande so eng verbunden, nicht mehr bestehen. Und so wollen wir denn dem Federkriege Gottscheds und Bodmers, so unerheblich er an sich erscheint, seiner Nachwirkung wegen gern die wohlverdiente Ehre lassen.


Die Lyrik, nachdem sie das Rittertum überwunden, ging, ihrem unverwüstlichen Geiste nach, zum Volke, d.i. zum Landvolk, unter Hirten, Jäger, wandernde Handwerksburschen und alle frischen Gesellen, die unter freiem Himmel hantieren. Mit ihrer noch vom alten Minnegesang überkommenen Kunstform aber wandte sie sich zu den Städten, von wo aus zugleich auch die humanistische und klassische Literatur mit eindrang und diesen Übergang noch komplizierter und verwickelter machte. Und so haben wir jetzt einerseits den Meistergesang und andrerseits das Volkslied, ein Geschwisterpaar, dem man jedoch kaum eine Familienähnlichkeit mehr ansieht.

Der Meistergesang ist allerdings aus den letzten halbverschollenen Traditionen des alten Minnegesangs entstanden; doch nur das leere Prachtgerüst ist davon geblieben, alles Ritterliche mit seiner Schönheit und seinen Unarten und Ausschweifungen sorgfältig ausgeschieden. Knapp, ehrbar, nüchtern und pedantisch wie er ist, könnte man den Meistergesang vielmehr eine unbewußte und unfreiwillige Parodie des Minnegesangs, den ins Spießbürgerliche übersetzten Minnegesang nennen. Auch der Meistergesang hat anfangs fast nur religiöse Gegenstände, namentlich den Marienkultus, behandelt, aber grübelnd und karikiert; er sollte die Stelle der alten Asketik vertreten, ohne den alten Heldenmut, der zur wahren Asketik erforderlich, und so wurde er sehr bald lediglich eine Arche der Lutherischen Lehre. Den Gesängen durften durchaus nur Texte aus der Bibel, die bei ihren Hauptsingen jederzeit auf einem Pulte aufgeschlagen lag, untergelegt werden, und jede Abweichung, alle »papistischen« Gedanken und Stellen waren als »falsche Meinungen« auf das strengste verpönt.

Da hiernach das Wesen des Minnegesanges abhandengekommen, so warf man sich nun lediglich auf die Form desselben und übertrieb diese, die ohnehin schon bei den Rittersängern überkünstlich gewesen, bis ins Unglaubliche. Da gab [641] es zweihundertzweiundzwanzig verschiedene Singstrophen, darunter manche Strophe zu hundert Reimen, es gab einen blauen und roten Ton, eine gelb-Veiglein-Weise, eine gestreift-safranblümleinweis, eine kurze Affenweis, eine Fett-Dachsweis usw.; alles durch die sogenannte Tabulatur in unverbrüchliche Regeln gebracht. Dieses kindische Wesen, wo das Weberschiffchen des Reimes nach vorgeschriebenen Mustern in tausend wechselnden Verschlingungen hin und her läuft, hat die meiste Ähnlichkeit mit der Leinweberei. Und doch, indem es förmlich studiert werden mußte, ist es auch wieder eine Art von Gelehrtenpoesie; um so verkehrter, da die Poeten nicht Gelehrte, sondern Schuster, Schneider, Lohgerber und andere Handwerker sind, die allabendlich vom Schusterschemel ihren hölzernen Pegasus besteigen und nach der Tabulatur zureiten. An den Sonntagen aber nach dem Nachmittagsgottesdienst versammelten sie sich mit Frau und Kindern in der Kirche, im Rathause und zuletzt in den Handwerkerherbergen, um ihr Wochenfabrikat vorzulegen und »Schule zu singen«. Obenan saß da feierlich der Vorstand, das sogenannte Gemerk; die Merker kritisierten und fällten das Endurteil, die besten Gedichte wurden in ein großes Buch zusammengeschrieben, das der Schlüsselmeister aufbewahrte, und wer so glücklich war, einen neuen Ton zu erfinden, ward vom Kronmeister gekrönt oder mit einem Kleinod belohnt.

Manche neueren Literarhistoriker halten dem Meistergesange, wenigstens vom moralischen Standpunkte, eine auffallend warme Lobrede. Wir aber können bloß deshalb, weil er allerdings eine Erfindung der Reformation war, die Philisterei, d.i. das ernste Wichtigtun mit Lappalien, unter welchem Namen es auch erscheine, durchaus nicht als eine würdige und angemessene Abenderholung abgearbeiteter Handwerker anerkennen. Und philisterhaft war dieser Meistergesang, wir mögen ihn nun von seiten des Inhalts oder seitens der Form betrachten. Wir meinen vielmehr, ein Abendgebet, ja selbst eine herzhafte Lustbarkeit nach der Tagesarbeit wäre stärkender und heilsamer gewesen als diese »holdselige« Kunst, die notwendig bei vielen nur ein ganz nutzloses und vergebliches Streben, Autorneid, Eitelkeit und Eigendünkel erwecken mußte. Jedenfalls war es ein schlimmes Zeichen der Zeit, daß diese guten Leute und schlechten Poeten, die doch jeden Pfuscher ihres Handwerks entrüstet aus ihren Zünften stießen, [642] nicht einmal eine Ahnung davon hatten, daß sie selbst die echten Bönhasen der Poesie waren. Der einzige wirkliche Dichter unter ihnen, Hans Sachs, soll freilich selbst eine Unzahl von Meistergesängen verfertiget haben, hütete sich aber wohl, sie in die Sammlung seiner Poesien aufzunehmen.


Diesen poetisierenden Handwerkervereinen stehen die Sprachgesellschaften der höheren Stände ziemlich gleichartig gegenüber. Wie bei den Meistersängern handelt es sich auch in diesen Gesellschaften um die bloße Form; wie jene ihre Töne und Weisen, so haben diese ihre künstlich verschlungenen Beiwörter und eine (wenngleich nicht so benannte) Tabulatur von prosaischen Zwangsregeln und Schäferlichkeiten. Ihr gemeinsamer und sehr zeitgemäßer Hauptzweck war, die verwilderte deutsche Sprache zu reinigen und vom Latein, das allen Ausdruck der Gebildeten an sich gerissen, zu emanzipieren; ihr Vorbild die in Italien zur Veredelung der Vulgarspache bereits seit geraumer Zeit bestehenden sogenannten Akademien. Allein die Italiener griffen dabei auf ihr nationales klassisches Altertum zurück, und da unsere Sprachgesellschaften sich auf dasselbe, hier aber volksfremde Element stützen wollten, so schlug bei ihnen alles in eitel Philologie und Purismus um.

Den Reigen eröffnet die 1617 in Nachahmung der italienischen Akademie della Crusca gestiftete fruchtbringende Gesellschaft (auch Palmenorden genannt), welche erst in Köthen, dann in Weimar blühte und deren erster Vorstand der anhaltische Herzog Ludwig war. Jedes Mitglied sollte dafür sorgen, daß die deutsche Sprache, ohne Einmischung fremder Worte, in ihrem rechten Wesen erhalten werde, und empfing bei seinem Eintritt ein Symbol und Beinamen aus dem Pflanzenreich mit dazugehöriger Devise, z.B. der Herzog Ludwig ein Weizenbrot und die Bezeichnung: der Nährende nebst der Devise: »Nichts Besseres«. Unstreitig hat dieser Orden seinen Zweck noch am besten erfüllt, oder doch wenigstens einige Frucht gebracht, und zwar nicht durch seine poetischen Leistungen, sondern dadurch, daß vorschriftsmäßig vorzüglich nur der Adel darin aufgenommen wurde, welcher damals noch die höhere Bildung repräsentierte und beherrschte und daher allerdings am geeignetsten war, die deutsche Sprache und Poesie wieder in Ansehen zu bringen. Denn während seiner sechzigjährigen Dauer zählte der Orden auf einen König, drei Kurfürsten, neunundvierzig [643] Herzöge, vier Markgrafen, zehn Landgrafen, neunzehn Fürsten, sechzig Grafen, fünfunddreißig Freiherren und sechshundert Adlige kaum hundert Bürgerliche. Doch beschränkte sich die Tätigkeit dieser Herren fast nur auf Übersetzungen, und von ihren eigenen Früchten gibt es wenigstens einen schlechten Beischmack, wenn das fleißigste und gefeiertste Mitglied: Dietrich von dem Werder (der Vielgekrönte) vorzüglich mit seinem »Sieg und Krieg Christi« allgemeine Verwunderung erregte, weil er darin durch hundert Sonette in jedem einzelnen Verse die beiden Worte Sieg und Krieg angebracht.

Wie weitgreifend indes der Impuls dieser Gesellschaft gewesen, zeigt schon der Eifer, womit sehr bald mehrere ähnliche Orden dem aristokratischen Beispiele folgten. So entstand in Straßburg eine aufrichtige Tannengesellschaft, ein Schwanenorden in Holstein durch den Dichter Rist und die deutschgesinnte Genossenschaft in Niedersachsen durch Philipp von Zesen, der so deutschgesinnt war, daß er mit zelotischem Purismus die Natur zur »Zeugemutter«, das Theater zur »Schauburg«, den Vers zum »Dichtlinge«, die Venus zur »Lustinne« oder »Schauminne«, Pallas zur »Kluginne«, das Fenster zum »Tageleuchter«, den Affekt zur »Gemütstrift«, ja sogar die Nase zum »Löschhorn« machte.

Die meiste Ähnlichkeit aber mit den Meistersängern, mit ihrer Formseligkeit, ihrem Bibelpedantismus und der durchaus protestantischen Färbung, hatte der 1644 von Klaj und Harsdörffer gleichfalls in Nürnberg gegründete Blumenorden der Pegnitzschäfer. Auch hier haben wir wieder die alte Kinderei des Nürnberger Spielzeuges, eine ganze Tabulatur von Springreimen, Echos, Bilderreimen, Rückreimläufer, Reimfolgerungen, Menglingsreden, Letterhäufungen und onomatopoetischen Gedichten, die den Gesang der Vögel sowie die Laute der Tiere nachahmen und zeigen sollen, daß selbst die Tiere und Elemente deutsch reden; und Harsdörffer schreibt eine Poetik: den »poetischen Trichter«, um den lernbegierigen Zeitgenossen in sechs Stunden diese deutsche Dicht-und Reimkunst beizubringen. Auch hier hielt man sich, gleich den Meistersängern, an die Bibel, suchte aber dabei, wie in der Religion das Urchristentum, einen angeblichen Urzustand der Gesellschaft herzustellen und die ganze Bibel in eine Schäferei umzuwandeln. Denn die goldgüldene Zeit war: als Adam und Eva alles Vieh der Erde geweidet, die Erzväter waren Hirten, die im kühlen [644] Schatten der Bäume den »wolkenfliegenden Luftpsaltern und Schnabelharfen« den Gesang ablauschten, und David, da er zugleich Schäfer und Poet und gekrönt war, wurde zu ihrem Gesellschafter aufgenommen. Die Gemütlichkeit dieser goldgüldenen Zeit mußte natürlich auch eine Menge poetischer Frauenzimmer in ihren Kreis ziehen, und so gehen denn diese Pegnitzschäfer vergnüglich »durch von der Vögel hellzwitschernden und zitschernden Stimmlein erhallende Wiesen, bei hellquellenden Springbrunnen hin, die durch das spielende Überspielen ihres glattschlüpferigen Lagers lieblich platscherten und klatscherten«. Wie aber diesen Springbrunnen, Vögeln und Lustwandelnden nicht der Atem vergangen, ist schwer zu begreifen, wenn man bedenkt, daß z.B. Birken zum Lobe des Hauses Österreich eine Schäferei von vierhundert Seiten verfaßt, und in seiner »Guelfis« die Ehre des Hauses Braunschweig-Lüneburg nebst der Dannenbergischen Heldenbrut etc. in ein Schäfergedicht verarbeitet hat.

Alle diese Gesellschaften aber hatten, ganz abgesehen von ihren Abgeschmacktheiten, vorzüglich dreierlei eigentümliche Nachteile in ihrem Gefolge. Erstens hatten sie das natürliche Verhältnis von Poesie und Sprache völlig umgekehrt, indem sie die erste lediglich zur Dienerin der letzteren machten. Sodann wurden sie durch die Schonung und Lobhudelei der einzelnen Mitglieder untereinander eine offenbare Schule der Mittelmäßigkeit und brachten endlich das gemeine Sklaventum der Adelsprotektion in die freie Dichtkunst, so daß es das ausdrücklich ausgesprochene Ideal dieser Poeten war, »großer Herren Gunst zu erreichen«.

Und dies führt uns am natürlichsten auf die damalige Hofpoesie, welche jenes Ideal in der Tat glücklich erreicht hat. Das Charakteristische dieser Hofpoeten ist das Hündische, womit sie nach unten bellen und nach oben wedeln. Denn während sie auf die plebejische Schulmeisterpoesie, vor der sie doch nichts als die stärkere Anmaßung voraushaben, voll Verachtung herabblicken, richten sie die ihrige, wie sie selbst sich ausdrücklich rühmen, lediglich zum Dienste hoher Gönner ab, »um deren Verdienste gegen den Neid zu verteidigen und deren Fehler zu beschönigen«. Das Kunststück besteht einfach darin, daß sie die Alltäglichkeiten und verschwenderischen Spielereien der hohen Gönner, ihre Hochzeiten, Hoffeste, Jagden oder militärische Paraden ohne weiteres sehr ernsthaft [645] für Heldentaten ausgeben und ihre fürstlichen Lobgedichte, damals ganz passend »fürstliche Wirtschaftsgedichte« genannt, feierlichst in heroische Gedichte umstempeln. Das sehr unlöbliche Handwerk dieser vornehmen Bettelmuse wird vorzüglich durch drei Koryphäen repräsentiert. Johann von Besser aus Kurland (1654–1729), der als der einzige heroische Dichter Deutschlands bewundert wurde, eroberte durch seinen Heroismus erst in Berlin, dann in Dresden ein ganzes Füllhorn von Gunstbezeugungen, Beförderungen und Dukaten und zuletzt noch, nebst dem Adelsstande, sehr bezeichnend die Stelle eines Zeremonienrates. Sein Nachfolger, der Dresdner Hof- und Zeremonienrat Ulrich von König (1688–1744), den wir bei seinem »August im Lager« schon kennen, setzte das rentable Geschäft fort; und ebenso dichtete sich Karl Gustav Heräus in Wien zu gleichen Ehren und Würden herauf und führte, um die Sache noch feierlicher zu machen, dabei den heroischen Hexameter ein. – Diese ganze Poesie ist eben nichts als Zeremonie. Goethe sagt irgendwo: um mit Erfolg vornehm zu tun, müsse man wirklich vornehm sein; das war aber die feile Gesinnung dieser Poeten keineswegs. Und so waren sie denn überall bloß eine neue Art von Hofnarren und von diesen nur durch gänzlichen Mangel an Witz, durch ihre Perücke und ihren Servilismus unterschieden.


Das Volk selbst wurde von all dieser Poeterei entweder gar nicht berührt, oder wo es zufällig geschah, nur aufs äußerste gelangweilt und nahm sich daher die Freiheit, es besser zu machen und auf seine eigene Weise fortzusingen. Das Volkslied hat allerdings den Grundcharakter aller Lyrik überhaupt; es stellt nicht die Tatsachen, sondern den Eindruck dar, den die vorausgesetzte oder kurz bezeichnete Tatsache auf den Sänger gemacht. Von der Kunstlyrik aber unterscheidet es sich durch das Unmittelbare und scheinbar Unzusammenhängende, womit es die empfangene Empfindung weder erklärt noch betrachtet oder schildernd ausschmückt, sondern sprunghaft und blitzartig, wie sie es erhalten, wiedergibt, und gleichsam im Fluge plötzlich und ohne Übergang, wo man es am wenigsten gedacht, die wunderbarsten Aussichten eröffnet. Das Volkslied mit dieser hieroglyphischen Bildersprache ist daher durchaus musikalisch, rhapsodisch und geheimnisvoll wie die Musik, es lebt nur im Gesange, ja viele dieser Volksliedertexte sind gradezu[646] erst aus und nach dem Klange irgendeiner älteren Melodie entstanden. Hier gibt es keine einzelnen berühmten Dichter; die einmal angeschlagene Empfindung, weil sie wahr und natürlich und allgemeinverständlich ist, tönt durch mehrere Generationen fort; jeder Berufene und Angeregte bildet, moduliert und ändert daran, verkürzt oder ergänzt, wie es Lust und Leid in glücklicher Stunde ihm eingibt. So ist das Volkslied, in seiner unausgesetzt lebendigen Fortentwickelung, recht eigentlich das poetische Signalement der Völkerindividuen. Gleichwie aber Kraft und Ausdruck der Empfindung nicht bei allen Individuen überhaupt derselbe sein kann, so erhält auch das Volkslied bei den verschiedenen Volksstämmen, je nach ihrer klimatischen und geistigen Struktur, seine besondere Physiognomie und Eigentümlichkeit. Wir sind nun zwar keineswegs der Meinung, daß der Volksgesang jemals den ganzen Umfang und Reichtum der Dichtkunst zu umfassen und zu erschöpfen vermöchte; jedenfalls aber ist er der Grundstock aller nationalen Poesie, die in der Naturwahrheit des Volksliedes ihre Wurzel hat. Selbst in ihrer vollendetsten Kunstform, im Drama, klingt bei Calderon die Volksromanze, bei Shakespeare das Volkslied Altenglands fühlbar hindurch.

Die bedeutendste Anzahl der deutschen Volkslieder fällt in das 15. und 16. Jahrhundert, wo die Anfänge der Reformation und die Türkenkriege eine ungewöhnliche Bewegung und somit auch eine erhöhte poetische Stimmung anregten. Ihren Hauptinhalt bilden Natur und Liebe. Ihre Liebe, ohne alle sentimentale Bleichsucht, ist kerngesund, oft derb oder koboldartig neckend, noch öfter fromm und immer treu. Goethe, dessen eigene Jugendlieder durchaus volkstümlich sind, trifft es am besten, wenn er sagt: »Hangen und Bangen in schwebender Pein – himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt, glücklich allein ist die Seele, die liebt!« – Im Naturliede, zu dem wir die zahllosen Jagd-, Hirten-, Räuber- und Wanderlieder rechnen, überrascht uns häufig, wie bei der Kindheit, ein innig vertrauliches Verständnis der äußeren Natur und ihrer Symbolik und der tiefe Blick in die geheimnisvolle Geisterwelt der Tiere. Die Wälder rauschen wunderbar herein, die Quellen weinen mit, wenn der wandernde Handwerksbursch vom Liebchen scheidet, die Wolken bestellen Grüße aus der Fremde in die Heimat, die Nachtigall singt das Unaussprechliche, und das Reh in seiner Einsamkeit hebt die klugen Augen und [647] lauscht der nächtlichen Klage; alles märchenhaft wie in Träumen. – Die Kriegslieder dagegen, meist »von einem, der dabei gewesen«, schildern nicht die Großtaten einzelner Helden, sondern den frischen Waffenklang der Schlacht und dessen Widerhall im Volke, wie die Schweizerlieder auf die Sempacher und Murtenschlacht; oder sie tönen, gleich Trompetenstößen, die wilde Lust am Soldatenhandwerk aus, wie die zahlreichen Landsknechtslieder. – Ihre Zechlieder endlich, die Weingrüße und Weinsegen, sind weit entfernt sowohl von der forcierten Lustigkeit der modernen Trinklieder als von der feierlichen Ressourcenseligkeit, die das Trinken pedantisch wie ein hochwichtiges Geschäft betreibt. Sie haben vielmehr fast alle etwas »Schwartenhalsiges« und »Schwarakisches«, das mitten im tollsten Jubel keck und ironisch über sich selber lacht; wie z.B. »der liebste Buhle, den ich han, der liegt beim Wirt im Keller, der hat ein hölzin Röcklein an und heißt der Muskateller«, oder: »Behüt dich Gott vor St. Urbans Plag (Podagra), und beschirm mich auch vor dem Strauchen, wenn ich die Stiege hinab muß tauchen, daß ich auf meinen Füßen bleib und fröhlich heimgeh zu meinem Weib und alles das wisse, was sie mich frag. Nun behüt mich Gott vor Niederlag.«

Auch auf dieses reiche Besitztum der Nation kat die protestantische Literarhistorie für ihre Partei ihre breite Hand gelegt, indem sie die Sache so darzustellen sucht, als sei das deutsche Volkslied eigentlich erst durch die Reformation und durch die Ausrottung des »entstellten papistischen Christentums« entstanden oder wenigstens in den rechten Flor gebracht worden. Gewiß hat der erste Beginn der Reformation, wir haben es oben selbst gesagt, eine bedeutende geistige Revolution und diese Revolution eine unverhältnismäßige Menge von Liedern angeregt, gleich wie die Kanarienvögel um desto eifriger singen, je größer der Lärm um sie her ist. So viel sollte indes doch billigerweise jeder Unbefangene wissen, daß grade die älteren Volkslieder, wo also noch die Klänge und Erinnerungen aus der katholischen Vorzeit herüberreichen, die reinsten, harmlosesten, keuschesten und kräftigsten, mit einem Wort: die besten sind, und daß namentlich die Liebeslieder des 15. Jahrhunderts noch häufig an das Minnelied erinnern. Wie aber hat nun die Reformation in ihrem wachsenden Fortgange darauf eingewirkt? Das Volkslied, als unmittelbarer Naturlaut, geht notwendig überall vom Idealen auf das wirkliche Leben, es ist [648] wesentlich plastisch. Die Zeit aber, wie sie durch die fortschreitende Reformation charakterisiert wurde, war vom lebendigen Glauben und von sinnlicher Anschauung gleichmäßig abgewendet und auf theologisch-politische Grübelei oder bloße Moral gewiesen, die durchaus nicht plastisch ist und sich daher nirgend zum Liede eignet. – Das Volkslied bedarf ferner einer allgemeinen Teilnahme der Nation, um durchs ganze Land belebend von Mund zu Mund zu gehn und so durch die Generationen gleichsam immer neu sich selber fortzudichten, wie die englischen Balladen von den Bürgerkriegen und die Romanzen von den Glaubenskämpfen in Spanien. In Deutschland dagegen hatte die Reformation die große Vergangenheit in Verruf getan, sie hatte dem Gottesdienste den Marienkultus, die Heldengestalten der Heiligen, den äußeren Schmuck, kurz: alles poetisch Darstellbare genommen, sie hatte endlich das Volk in zweierlei Nationen zerklüftet, die auf einmal einander fremd, ja feindselig gegenüberstanden. Welche schönen Romanzenstoffe z.B. bot dazumal der Türkenkrieg! Er ließ das fortgrübelnde protestantische Deutschland völlig kalt. Vergebens rüttelte Soliman furchtbar mahnend an den Toren des Reichs und drohte den ganzen Westen in Barbarei zu begraben, vergebens suchte Karl V. Hülfe in dieser entsetzlichen Gefahr; der Reichstag hatte anderes zu tun und formulierte Sittenzensuren gegen Kleider-, Trink- und Spielnarren, als hätte es niemals eine höhere Moral und Sittlichkeit gegeben; man wollte lieber türkisch als katholisch sein. Soll dies die gerühmte damalige Einkehr zur Innerlichkeit sein, so war es wenigstens eine erbärmliche Umkehr von Lieb und Eintracht zu eitel Haß und Eifersucht und Mißgunst.

Wir sagten vorhin, das Volkslied lebe wesentlich in der Gegenwart; wie aber möchte eine Gegenwart, der jene höhere Sittlichkeit und die Nationaltugenden, die allein des Singens wert, abhanden gekommen waren, dem Volksliede ferner herzhaften Klang und Atem geben? Und so verwandelte das letztere, namentlich in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhunderts seine jugendlichlichfrische Physiognomie immer mehr ins Grobe, Platte, Greuliche und Gemeine. Die schönen Hirten-, Wander- und Jägerlieder, die fühlbar nur ein Widerhall des Waldhorns waren, kehren nun altersmüde von den grünen Bergen in die schmutzigen Handwerksstuben und Zechen ein. »Jede Zunft«, sagt Gräter im Bragur, »hat ihr eigenes Ruhm- und [649] Preislied. Man findet der Weißgerber Ruhmlied, der Rotgerber Preislied, das Loblied der Schmiede, der Barbiere und Bader, der Hafner Loblied, der Bäcker Ehrenlied, der Metzger, Weber, Küfner, Wagner und Schneider Ruhmlied, ja sogar die Bauern haben ein solches Ehrenlied ihres Standes. Jedes dieser Lieder fängt mit einer Art von Aufruf an, geht dann in das Lob, die Geschäfte und die widerfahrenen Ehren des Standes über und schließt mit einem allgemeinen Segen für die Zunft oder den Stand, worin die Wohlfahrt in diesem Leben, Gesundheit alle Stund, jedem die schönste Frau auf der Welt, die tausend Gulden hat usw., angewünscht wird.« Hiernach wurde denn auch sehr bald das freie Singen ein Handwerk »professionierter Dichter und Komponisten«, die das Volkslied machen wollten. Es wiederholt sich hier im kleinen der jetzige Gang der deutschen Lyrik überhaupt: wie unter den Gebildeten in die hohe Gelehrtenschule, so wird sie hier in die Trivialschule des Verstandes genommen. Die Phantasie wird vom Verstande korrigiert, das unmittelbare Gefühl redselig eingeleitet und erklärt; anstatt der alten Berggeister, Kobolde und Nixen kommt die wunderlich entstellte lateinische Mythologie, statt des überraschend kühnen und sicheren Wurfs die Allegorie, das Halbwissen und die lehrhafte Altklugheit. Bei dem allmählichen Aufsteigen der neuen Sonne der Aufklärung schwand der wunderbare Morgenduft, die Vögel ließen ihr Singen, die Quellen und Wälder ihr Rauschen, und das Volk schwieg wie blödsinnig vom Sonnenstich. So war in der brütenden Mittagsschwüle das deutsche Volkslied fast überall verhallt, so daß es erst durch Herder in seinen Völkerstimmen von neuem entdeckt und von Görres, Arnim und Brentano wieder national gemacht werden mußte. Nur in den von der Reformation unberührten Landschaften: in Kärnten, Vorarlberg, in Tirol und im deutschen Kuhländchen Mährens hat es sich noch bis heut lebendig erhalten.


Da es nun der Reformation mit dem Volksliede nicht gelingen wollte und konnte, das vielmehr unaufhaltsam immer roher und obszöner wurde, da ferner die Reformation beständig vom Leben auf das Buch, die Bibel, hinwies und zu deren Interpretation der Philologie bedurfte, so trat die letztere jetzt als eine Weltmacht in die Literatur. Es begannen die humanistischen Studien des Altertums, die lateinische Sprache[650] wurde die Sprache der Poesie. Dazu kamen die Nachwehen des Dreißigjährigen Krieges, der, als ein eigentlicher Bürgerkrieg, den bloßen Haß zum Feldherrn eingesetzt, mit den Sitten die Sprache verwildert und allmählich die katholische und protestantische Literatur voneinander isoliert hatte; zum großen Nachteile beider. Denn während die katholische Literatur in dem allgemeinen Getümmel sich scheu verbarrikadierte und abschloß, den Protestanten draußen fast gänzlich das Feld überlassend, gingen diese, im Rausch der neuen Ungebundenheit, mit ihren Siebenmeilenstiefeln weit über das vernünftige Ziel hinaus.

Allerdings waren diesmal, was ihnen selten begegnet, die Gelehrten vollkommen in ihrem Recht und Berufe. So konnte es unmöglich bleiben. Der in Unfläterei und Welschtum toll gewordenen Sprache mußte vor allem andern nur erst die Zwangsjacke angelegt werden, wozu der gediegene Panzer der lateinischen Grammatik und Prosodie ohne Zweifel gar wohl geeignet war. Aber die Einführung des Altklassischen ging schulmäßig und schwerfällig vonstatten, während in den Nachbarländern, in Italien, Frankreich und in den Niederlanden schon die emanzipierte Vulgarsprache blühte. Nach deren Beispiele und in dem ganz richtigen Gefühl, daß eine Poesie in toter Sprache totgeboren sei, trat daher nun auch in Deutschland zunächst der Palmenorden nebst seinen Tochtergesellschaften jener lateinischen Pegasusreiterei entgegen; jedoch, wie wir oben gesehen, fast ohne allen Erfolg. Bei weitem wirksamer dagegen zeigte sich, wie immer in solchen Fällen, ein freier Verein einzelner, nur durch gemeinsamen Geist verbundener Männer, den man, von seinem ursprünglichen Vaterlande, dieerste schlesische Schule benannt hat, obgleich dieselbe erobernd sich über mehrere benachbarte Provinzen erstreckte.

Die Wirksamkeit dieser Schule war wesentlich eine vorbereitende, ohne selbständigen Inhalt, und daher bloß formell. Der wüste Garten der Poesie sollte zunächst nur von dem überwuchernden Unkraut gereinigt, und da es an einheimischen Blüten fehlte und überdies manche wilde Blume mit dem Unkraut zugleich weggeworfen wurde, einstweilen mit fremden Zierpflanzen bestellt werden. Zu dieser Ordnungsmacherei bedurfte es eines selbstgeordneten Geistes, den kein übermächtiger Trieb verlockte, neue weitaussehende Wege einzuschlagen, für welche die Zeit doch keineswegs schon reisefertig war; es gehörte dazu ein gelehrter Mann mit großer, nach allen Seiten hin [651] flexibler Empfänglichkeit und wenig eigener Schöpfungskraft, sorgsam und mittelmäßig genug, um überall vermittelnd aufzutreten und die Mittelmäßigen an seine Fersen zu bannen. Und ein solcher Mann warMartin Opitz, der berühmte Gründer und Führer dieser Schule.

Opitz war ganz und gar ein protestantischer Dichter. Seine außerordentlichen Erfolge verdankt er eben dem zeitgemäßen Unternehmen, die beiden Grundelemente der Reformation, Verstand und Moral, gegen die Phantasie auf die Dichtkunst anzuwenden und sich hierzu der humanistischen Studien zu bedienen, für welche grade der Boden seines speziellen Vaterlandes durch Melanchthons Schüler, Trotzendorf, vorzüglich vorbereitet war, so daß damals mit Recht gerühmt wurde, daß kein deutscher Stamm so viele Gelehrten habe als die Schlesier, und nirgend so viele aus dem Volke die Wissenschaften lernten und verständen. Wer, sagt Opitz selbst:


»nicht scharf und geistig ist, nicht auf die Alten zielt,
nicht ihre Schriften kennt, der Griechen und Lateiner,
als seine Finger selbst, und schaut daß ihm kaum einer
von ihnen außen bleibt, wer die gemeine Bahn
nicht zu verlassen weiß, ist zwar ein guter Mann,
doch nicht auch ein Poet.«

Wir müssen freilich grade umgekehrt behaupten, daß der gute Mann, und wenn er auch alle Griechen und Lateiner wie seine eigenen Finger kennte, darum doch noch kein Poet wäre. Auch jene Reformation der Poesie durch Verstand und Moral nützt nichts; der Verstand kann ordnen, aber nicht dichten, und die bloße Moral ist kein poetischer Stoff. Es bleibt sonach von aller Poesie nichts als die Form. Und diese war denn auch das Steuer, das Opitz ergriff, um die Poesie aus ihrem bisherigen seichten Fahrwasser wieder auf die hohe See hinauszulenken. Sein von Natur sauberes und delikates Talent führte ihn auf die »Reinlichkeit der Verse und Reime«; er machte zuerst die neue Prosodie: das Gesetz, aus dem Akzent das Maß der Silben zu erkennen, allgemein und für alle Folgezeiten geltend. Ja er gängelte und schulte förmlich die ungeschickte deutsche Sprache an den Mustern der Alten und des modernen Auslandes, indem er Sophokles' Antigone, Senecas Trojanerinnen und mehrere holländische, französische und italienische Dichtungen mit einer für jene Zeit bewundernswerten Meisterschaft übersetzte.

[652] Sein eigentlicher und erfolgreichster Beruf aber war der eines geistigen Vermittlers. Wenn er von den Dichtern verlangte, im Deutschen zu Verfahren »wie die Lateiner mit den Griechen, und die neuen Skribenten (des Auslandes) mit den Alten«, so nötigte er da durch die lateinischen Skribenten Deutschlands, künftig das Altklassische, wie die Holländer, Italiener etc., in ihrer Muttersprache nachzubilden und also eine geistige Durchdringung beider anzubahnen. Indem er ferner die lehrhafte Moral als einen Hauptbestandteil in die Poesie einführte, gelang es ihm, die letztere mit der eifersüchtigen und unduldsamen Theologie sowie mit den praktischen Prosaköpfen zu Versöhnen. Noch wirksamer endlich zeigte sich hier, fast wie bei Goethe, eine gewisse Vornehmigkeit seines ganzen Wesens. Denn er verfertigte zwar ebenfalls eine Unzahl von Gelegenheitsgedichten, aber er verkaufte sie nie, wie die Dichterlinge seiner Zeit, sondern legte vielmehr, wie wir sogleich sehen werden, mit seiner Poesie nach grandioserem Maßstabe einen Großhandel an. Und hiermit stimmt auch vollkommen seine allerdings würdige und höhere Auffassung der Dichtkunst überhaupt, wonach der Dichter mit unverzagtem Gemüt uns das Große und Starke singen soll:


»Poeten sollen mir Bericht von Weisheit geben,
und sagen, wie ich doch in diesem armen Leben
die bösen Lüste fliehn, das Kreuze tragen soll –
O weg mit solcher Kunst, weg, weg mit solchen Sachen,
so die Gemüter nur verzagt und weibisch machen,
die leichtlich, wie man will, durch der Gedichte Schein
und äußerlichen Glanz, zu überreden sein.«

Und so vermittelte er in der Tat durch seinen persönlichen Vorgang den ganz verachteten Dichtern eine neue und würdigere Stellung zur allgemeinen Meinung, die damals eben nur ihre feilen Bettelpoeten kannte.

Diesem nach allen Seiten umblickenden und biegsamen Vermittlertalente entspricht denn auch der moralische Charakter des Dichters, dessen diplomatische Wendungen wir leider nicht, wie wir gern möchten, seinen konziliatorischen Absichten allein zuschreiben können. So läßt er sein schönes, aber stark protestantisch gefärbtes »Trostgedicht in Widerwärtigkeiten des Krieges« über ein Dezennium ungedruckt, um bei Kaiser Ferdinand II. vorher die Lorbeerkrone und den Adelstand zu [653] erwerben. Während er, um nach Wien empfohlen zu werden, für den Grafen von Dohna das zur Katholisierung der Schlesier geschriebene »manuale des Jesuiten Martin Becarus« anonym ins Deutsche überträgt, übersetzt er zugleich für den katholikenfressenden Rat zu Breslau des Hugo Grotius Gedicht »von der Wahrheit der christlichen Religion«; und wendet sich unermüdlich an alle Großen der entgegengesetztesten Parteien, an den Pfalzgrafen Friedrich V. und an Kaiser Ferdinand II., an den Grafen Dohna und an Oxenstierna, an den König von Polen und die Bürgermeister von Danzig, Thorn und Elbing mit überall gleichtönenden Lobgedichten, Dedikationen usw.

Kein Wunder daher, daß auch seine Poesien selbst eigentlich nur ein diplomatisches Werk sind: künstlich, tendenziös, konventionell und geziert. Er dichtete mit dem bloßen Verstande; daher war alles Form und Nachahmung, daher der Bruch mit der Musik, dieser Seele der Lyrik. Am empfindlichsten rächte sich dies natürlicherweise an den beiden lyrischen Polen: in seinem geistlichen und in seinem Liebesliede. In seinen Kirchenliedern, wenn man sie so nennen will, quält sich der Verstand trostlos ab, aus lauter Antithesen, Witz, heidnischer Mythologie und Reinlichkeit der Verse eine fingierte Andacht aufzubauen, die »bei kalter Gottesfurcht sich brennend anstellt«; und es wäre geradezu komisch, sie singen zu wollen. Seine Liebe aber, z.B. in der Schäferei Daphne, ist eben nur ein marmorner Cupido, der aus künstlich verschnittenen Hecken nach gelehrten Herzen zielt und niemals trifft. Er empfand nicht, wenn er sang, und verachtete daher selber, was er sang. Und so zeigt sich bei ihm schon deutlich der Keim jener falschen, selbstmörderischen Theorie, die, um sich vor der gebildeten Welt nicht bloßzustellen, immer das scheinbar ernstlich Gemeinte vornehm wieder desavouiert und endlich bei uns alle Innigkeit und Wahrheit aufzuzehren droht. Hierdurch aber sowie durch seine angebahnte Poetisierung der humanistischen Studien und die übersetzungsfertige Universalität, womit er alles Ausländische zu nationalisieren strebte, ist Opitz in der Tat, zwar nicht der Vater, aber der wichtigste Geburtshelfer der neuen deutschen Dichtkunst geworden.

Was Opitz anstrebte, hat sein Freund, der Wittenberger Professor Buchner, in seinem Wegweiser zur deutschen Dichtkunst (1661) in ein förmliches System gebracht. Der Inhalt dieses poetischen Kanons läßt sich, trotz aller seiner Weitschweifigkeit, [654] einfach in der Souveränetätserklärung des Verstandes zusammenfassen: die Dichter sollen Philosophen sein und ergötzend belehren. Es ist daher nicht gar so erstaunlich, daß er allen Ernstes einen gewissen Kistenmacher über den Homer setzt. Wohin aber dieser Wegweiser führen mußte, zeigt außer dem nüchternen Tscherning und einer zahllosen Menge anderer Opitzianer, deren nähere Bekanntschaft ebenso unnütz wäre als sie selbst, besonders der übermäßig fruchtbare Pastor Johann Rist (1607–67) zu Wedel an der Elbe, welchem nur als ein guter Dichter gilt, wer »auf eine vorgenommene Materie die poetischen figmenta der Alten fein mythologice zu akkommodieren und nach Art derselben, auch der jetzt lebenden rechtschaffenen Poeten, in einer kontinuierenden Allegorie zu schreiben, die Gemüter der Menschen mit zierlichen exclamationen, artlichen prosopopoeien u. dergl. rhetorischen Figuren zu bewegen weiß«. Auch das bezeichnende Vornehmtun gegen die Liebe teilt dieser zu seiner Zeit hochgefeierte Vielschreiber, wenngleich nicht in so feiner Art, mit seinem Meister Opitz. Er schrieb einen Haufen herzloser Liebeslieder, um sie dann, »als sein Verstand kam«, ebenso herzlos zu desavouieren; er stellte die »vermaledeite Fastnachtfeier« ab und enthielt sich der daktylischen und anapästischen Maße, da die andächtige Seele sich nicht mit Hüpfen und Springen, sondern mit Sehnen und Seufzen nach dem himmlischen Jerusalem wenden solle. – Man sieht, die deutsche Lyrik wurde nun teils von einer engbrüstigen theologischen Moral, teils von einer stupiden Gelehrsamkeit, also von einem doppelten Purismus gedrückt, der sie von aller Poesie purifizierte.

Wie aber ein rechter und gesunder Sinn von solchem Unsinn zwar gehindert und beirrt, aber nicht gebrochen werden kann, sehen wir an den beiden einzigen wirklichen Dichtern dieser Schule, an Fleming und Gryphius. Der Sachse Paul Fleming (1609–1640), der durch seine Reise nach Persien seinen Gesichtskreis weit über die Studierstube hinaus erweitert hatte, kehrt aus der gelehrten Fiktion fröhlich zu Natur und Leben zurück, das prätiose Vornehmtun gegen die Poesie verwandelt sich bei ihm in elegische Wehmut über die Unzulänglichkeit des Worts, das auszutönen, was er fühlt; die Liebe, da sie wahr und rein und daher ihrer selbst sich nicht zu schämen braucht, ist innig und oft wahrhaft hinreißend. Er »setzt in vollem Bügel auf das schöne Wesen ein, von dem ihm Daphnes edle Zweige dreimal [655] um sein braunes Haar geschossen«, und erkennt in seiner Poesie den Teil in sich, »der ewig bleibe und frisch, wenn das andere mit dem Besen zusammengekehrt werde«. Fleming hat zuerst das von Opitz künstlich und mühsam gestimmte Instrument wirklich tönend gemacht und schied singend wie ein sterbender Schwan mit seinem schönen Todeslied vom Leben.

Diesem durchaus liebenswürdigen Weltkinde steht der finstere Ernst des Schlesiers Andreas Gryphius († 1664) ergänzend gegenüber. In seinen Oden und den berühmten »Kirchhofsgedanken« hat die geächtete Phantasie plötzlich alle Gelehrsamkeit, Schäferei und fade Zierat vonon sich geworfen und steht fast gespenstisch in der steifleinenen Zeit. Seine ganze Lyrik zieht wie ein Gewitter über die lachenden Gefilde Flemings hinweg; die schöne Erde ist in bleifarbenes Dunkel versenkt und der Himmel darüber drohend und schreckhaft in greller Beleuchtung. Es ist ein religiöses Gemüt, dem die neue Lehre allen milden Trost und Segen der Kirche genommen und das daher nun zürnend an den Fesseln dieses Erdenlebens rüttelt, aus dem es sich ungestüm heraussehnt. Wir haben schon oben beim Drama dieses einsamen Dichters und namentlich seiner bedeutenden Lustspiele gedacht, die hiernach freilich mehr wie ein Werk der tiefen Weltverachtung als der Heiterkeit erscheinen. Und so bewährt sich an ihm wieder die alte Erfahrung, daß in solchen heftigen melancholischen Gemütern Groll und Spott, Zorn und Lachen, Licht und Schatten dicht nebeneinander liegen.

Dieser Charakter führt uns von selbst zu einer zahmeren und abgeblaßten Spielart jener Weltverachtung: zu dem Königsberger Dichtervereine. Simon Dach (1605–1659) ist hier als der eigentliche Mittelpunkt und fast alleinige Repräsentant zu betrachten. Denn Heinrich Albert, Robert Robertin, G. Mylius, Faber und andere, gruppieren sich mehr nur als ein dilettantischer Freundeskreis um ihn her. Bei allen aber ist es mehr oder minder eine Poesie von Kirchhofgedanken, die an pietistischer Hypochondrie dahinsiecht. Sie sangen einander mit Grabesliedern an und glaubten die Zeit ihres Todes vorauszuwissen. Daß Dach wegen seines fast einzigen völlig herzensfreudigen Liedes vom »Annchen von Tharau«, das noch jetzt im Munde des Volkes fortlebt, von den Theologen verketzert und verleumdet wurde, finden wir ganz in der Ordnung oder vielmehr Unordnung der konfusen Ansichten. Verfänglicher aber und [656] schwieriger war die Aufgabe, als er gegen dieselbe sterile Moral die Behauptung verfechten mußte, daß die Poesie überhaupt keine Lüge sei, was sie doch, wenn wir eben Fleming, Gryphius und Dach selbst ausnehmen, damals in der Tat geworden war.


Wo aber die Naturwahrheit fehlt, verfällt die Poesie notwendig der Willkür, der grillenhaften Mode und einer fortlaufenden Reihe experimentierender Kunststücke, um die innere Lüge zu verdecken und zu beschönigen, gleich wie ja auch in der moralischen Welt eine Sünde die andere erzeugt. Und so war es denn auch der ersten schlesischen Schule ergangen. Ihre einzige Tugend zwar: die Reinlichkeit der Sprache ist geblieben und hat diese Schule nach mannigfachen bösen Rückfällen, Irrungen und Mühsalen glücklich überlebt. Aber ihre Gelehrsamkeit, da sie anfing, dumpfig zu werden, mußte durch immer höhere Schichten frischen Vorrats, ihr falscher Schmuck beständig durch neuen Brillantschliff ergänzt werden, und beides zusammen gab den weltberühmten Schwulst der zweiten schlesischen Schule. In das Restaurationsgeschäft hatten vorzüglich zwei Schlesier,Hofmannswaldau und Lohenstein sich geteilt. Hofmannswaldau, eigentlich nur Lyriker, übernahm es in seinen Madrigalen, Sonetten und Epigrammen, sowie in seinen »erotischen Heldenbriefen«, die alte Muse mit Pariser Schminkpflästerchen und dem Flitterstaat »verschärfter« Beiwörter lieblich herauszuputzen; während Lohenstein, den wir schon als Tragiker kennengelernt, unter Stöhnen, Flüchen und wütenden Exklamationen seinen sprichwörtlich gewordenen Bombast uns als Erhabenheit andonnern will, so daß schon Breitinger treffend von ihm sagte: »Der Dichter zankt bald in lauter Gleichnissen und Metaphern mit sich selbst, bald buhlt er um eine Schöne in Schwulst und Wahnwitz, bald erklärt er die Wunder der Natur in einem doktormäßigen Ernste, plötzlich gerät er in Verzückung außer sich und fliegt über die Wolken, und im Augenblick fällt er wieder so tief, daß er mit kindischen Sprichwörtern, mit spitzfindigen Spielen und schiefen Gleichnissen ohne Maß um sich wirft. Die höchste Hitze und der höchste Frost wechseln bei ihm ab, das Zeichen einer äußerst verderbten Schreibart wie der schwersten Krankheit im menschlichen Körper.«

Beide mußten indes, um die Sache einigermaßen pikant zu machen, noch ein drittes Ingredienz, das Opitz, Fleming und [657] Gryphius noch nicht gekannt, zu Hülfe nehmen: das Obszöne in seiner unglaublichsten Roheit und Nacktheit. Das plötzliche Umsichgreifen dieser Pariser Hofpest, die überdies hier noch plump und karikiert erscheint, gibt uns einen schlimmen Begriff von der krankhaften Disposition der damaligen Bildung in den höheren Regionen der Gesellschaft, von denen beide Poeten fast abgöttisch verehrt wurden. Die große Lüge dieser Poesie überhaupt aber bezeugt der Umstand, daß Hofmannswaldau wie Lohenstein mitten in diesem Kloak von Unsittlichkeit ganz unangefochten einen sehr ehrbaren Lebenswandel führten und daß z.B. in der Hofmannswaldauschen Gedichtsammlung sich Schmutz und Geistliches dicht nebeneinander vertragen. Die Poesie war eben nur eine gelegentliche Spieluhr, die nach Belieben weggesetzt oder wieder aufgezogen wurde, um bald ein Zotenlied, bald ein Kirchenlied künstlich abzuflöten.

So konnte es natürlicherweise nicht dauernd bleiben. Schon die vier Schlesier, Johann von Assig, Hans Aßmann von Abschatz, Benjamin Neukirch und der jüngere (Christian) Gryphius, setzten einen merklichen Dämpfer auf die Lohensteinische Phrasenposaune, brachten es aber damit eben nicht weiter als zur bloßen Negation, zu einer fatalen nüchternen Art von juste milieu, das nun weder bombastisch noch poetisch war. Entschiedener dagegen machte, wie im Roman, so auch hier Weise wieder Reaktion, indem er sein »Naturelles« der Hofmannswaldau-Lohensteinschen Unnatur keck entgegenstemmte. Hier wie dort aber führte dieses Ungenierte sehr bald zur Plattheit und zu einem vagen Dilettantismus, der einer Flut von handwerksmäßigen Gelegenheitsdichterlingen, wie Wentzel, Neumeister, Postel, Hunold etc., unaufhaltsam alle Schleusen auftat. Darüber entstand nun zwischen diesen und den Altschlesiern ein heftiges Gezänk, das indes doch wenigstens die gelehrte Welt einigermaßen stutzig machte, und einen geistreichen Mann, Christian Wernicke, veranlaßte, in seinen Epigrammen (Poetische Versuche in Überschriften, 1697) beide Parteien unbarmherzig zu geißeln. Seine folgenden Verse geben noch immer die treffendste Überschrift jener ganzen Periode:


»Der Abschnitt? gut. Der Vers? fließt wohl. Der Reim? geschickt.
Die Wort? in Ordnung. Nichts als der Verstand verrückt.«

[658] Von jenen elenden Reimern sind, nebst Wernicke, nur noch Canitz und Günther auszunehmen. Friedrich Rudolf Ludwig Freiherr von Canitz (1654–1699) war ein nobler Charakter; dabei sprachenkundig, vielgereist, welterfahren, höfisch-gewandt, eleganter Dilettant in allem gelehrten Wissen, in Frankreich geschult und am Berliner Hofe wohlgelitten, kurz ein vollkommener Kavalier der damaligen Zeit. Als solcher konnte er weder den bausbäckigen Bombast Lohensteins noch die Unsauberkeiten Hofmannswaldaus und am wenigsten die Weisesche Ungeschliffenheit brauchen. Er hielt sich daher ans Ausland, an Boileaus Poetik, die er zuerst praktisch in Deutschland eingeführt. Er machte durch würdigere Haltung in Stil und Stoff die Poesie wieder courfähig, und auch für Damen lesbar, und galt lange für ein unübertreffbares Muster. Diese sprachliche und sittliche Reinheit ist aber auch sein einziges und höchstes Verdienst, und Gervinus bemerkt ganz richtig, daß selbst sein berühmtestes Gedicht auf den Tod seiner Doris, in welchem noch die Schweizer heftige und ungestüme Leidenschaften fanden, uns jetzt nur als ein trockenes Verstandeswerk mit gezirkelten und überlegten Reimen erscheine.

Ein entschiedenes und schroffes Gegenbild von Canitz ist der studentisch wilde Schlesier Christian Günther, ein verfrühter Vorläufer der späteren Kraftgenies. Sein kurzer Lebenslauf (1695–1723) war ein beständiger Kampf gegen das Philistertum jeglicher Farbe, in welchem er endlich verblutend erlag. Wie ein Renommist haut er in seinen Gedichten nach allen Seiten um sich, auf Hofschranzen, aufgeblasene Gelehrte, pedantische Pastoren und schlechte Poeten. »O lächerliche Zeit«, ruft er aus, »nimm zwei Peitschen in die Hand, sechs Schellen auf den Kopf und einen Fuchsschwanz, so zeigst du, was du bist: der andere Eulenspiegel.« Er hatte das Recht, diese Zeit also anzufahren, denn er war aufrichtig, empfand, was er sang, und hatte ein tiefes Gefühl für Freiheit und Recht. Aber seine Stimme verhallte, da sein eigenes Leben wüst und ungezügelt war; er blieb weit über die akademischen Jahre hinaus ein Wittenberger Student nach damaliger roher Weise bis zu seinem frühen Tode. Er hat darin Ähnlichkeit mit dem Romantiker Zacharias Werner, daß er, wie dieser, überall sich selbst, seine Sünde und Reue, oft mit erschütternder Wahrheit zum Gegenstande seiner Dichtungen macht. Es ist wahrhaft tragisch, wie dieser verlorene Sohn reumütig zu seinem Vater zurückkehrt und immer[659] wiederkehrt, bei seinem ewigen Seelenheil nur um Versöhnung flehend. Aber sein Vater war nicht der Vater des Evangeliums, der Sohn »sollte den Bettel (die Poesie) liegenlassen und den Brotkorb anhängen«, das konnte dieser nicht, und so verstieß er ihn ungehört in seiner höchsten Not; da gab er verzweifelt sich selber auf und ging zugrunde. Günther ist ein abschreckendes Bild jener ratlosen Poesie, die ihren rechten religiösen Mittelpunkt verloren. Er erinnert daher allerdings häufig auch an unsere neuesten Genialitäten: er will die Welt reformieren, er will sich und die Frauen vom gemeinen Sittenzwang befreien. Aber er tut es nicht aus borniertem Hochmut, er erkennt noch überall den bösen Dämon in ihm selbst und ringt mit ihm; und dieser durchaus ehrliche, aber glaubenlose und mithin vergebliche Kampf macht seine Poesie, wenn nicht ästhetisch, doch psychologisch denkwürdig.

Es gibt einige Erscheinungen der Poesie, welche, wenngleich keine Erfindung der Reformation, doch in ihrer vorzugsweisen Aufnahme und künstlerischen Vollendung der Reformation eigentümlich sind. Dahin rechnen wir das Lehrgedicht und die Satire sowie die Sagen vom ewigen Juden und vom Faust.

Wir haben schon wiederholt das Übergewicht des Verstandes über die Phantasie als das allgemein Charakteristische der reformatorischen Bewegung hervorgehoben und daß die natürliche Tätigkeit des Verstandes nicht produktiv, sondern ordnend, mithin wesentlich erklärend und lehrhaft sei. Das Lehrhafte hat allerdings auch schon im Mittelalter sich häufig geltend gemacht. Im Grunde ist selbst Wolfram von Eschenbachs Parzival ein Lehrgedicht im höheren Sinne, indem es die geistige und religiöse Bedeutung des Rittertums darzustellen strebt, nur mit dem wesentlichen Unterschiede, daß hier das religiöse Geheimnis von der Phantasie aufgefaßt und, wunderbar wie es ist, auch als ein Wunder gestaltet wird. Nachdem aber das Wunderbare der Religion in dem neuen Geschlecht immer mehr verblaßt und fast nur die moralische Seite derselben zurückgeblieben war, so entstand aus dieser vorherrschend verständigen Religionsansicht jetzt die modern didaktische Poesie.

Wir übergehen natürlicherweise gänzlich die schon oben berührte täppische Lehrhaftigkeit, welche die Poesie zu einer Trivialschule der sogenannten Realien zu machen beflissen war, [660] wie z.B. Lohenstein in seinem Arminius und dessen redselig gelehrte Zeitgenossen zu allgemeinerer Belustigung der Nachwelt getan; wir meinen hier lediglich das moralische Eingehen auf Seelenzustände, auf Sitten, Mißbräuche und Gebrechen des geselligen Lebens. Es versteht sich jedoch von selbst, daß ein solcher Übergang vom Wunderbaren zum Praktischen, wie die Reformation selbst, nicht plötzlich eingetreten, sondern schon längst allmählich verbreitet war. Bereits aus dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts besitzen wir den hierhergehörigen welschen Gast des Thomasin von Zirclaere, und vom Jahre 1229 die vermutlich von Walther von der Vogelweide verfaßte Bescheidenheit des Freidank, eine Sammlung didaktischer Sprüche, welche damals die weltliche Bibel genannt wurde, sowie denWindsbeke und die Windsbekia, Unterweisungen eines Vaters an seinen Sohn und einer Mutter an ihre Tochter. Am schärfsten aber wird jener Übergang durch den 1300 verfaßten Renner des Hugo von Trimberg, eines bambergischen Schullehrers, bezeichnet. Hier fühlen wir in der moralischen Krank heit der Welt, welche belehrend geheilt werden soll, schon immer deutlicher alle Symptome der nahenden Reformation. Das Hauptthema dieses ziemlich willkürlich und verworren, wie ein durchgehender »Renner«, hin und her fahrenden Gedichts ist nämlich der »Fraß«, d.h. die Unersättlichkeit, Maßlosigkeit und Hoffart der Zeit. Jeder fühlt sich beengt und unzufrieden, jeder will über seinen Stand, Beruf, mit einem Wort: über sich selbst hinaus, weil mit dem weichenden religiösen Glauben die Demut und innere Genüge abhanden gekommen. Da gibt es keine Autorität mehr als den subjektiven Eigenwillen, das Kind ist schon altklug, der Schüler will den Lehrer, der Laie die Kirche meistern. Als Arkanum dagegen aber wird einzig und allein die Bibel, und zwar lediglich die praktische Moral derselben, verordnet, und dabei auf den allerdings mitverderbten Klerus schon weidlich geschimpft. Kein Wunder daher, daß dieser Renner während der Reformation der beliebteste Tummelgaul des Volkes wurde und noch lange nachher geblieben ist. Wie sehr indes bei dieser bloß praktischen Weltansicht die Poesie zu kurz kam, zeigt schon eine gelegentliche Äußerung Trimbergs selbst: »daß ja doch der Esel mehr nutze als die schön singende Nachtigall.« – Denselben Charakter hat eine Menge anderer didaktischer Dichtungen jener Zeit, als: das Buch der Tugend von Hans Vintler, die Gestirne, das Schachzabelbuch [661] und die weisen Meister. Überall ist es vorzüglich der Hochmut der Zeit, welcher bekämpft wird, aber nicht mit den blanken Waffen der Religion, sondern durch menschliche Vernunft und eine gewisse moralische Lebensklugheit bekämpft wird.

Alle diese Schriften waren weit verbreitet und wurden vom Volke wahrhaft verschlungen. Fragen wir aber nun nach der eigentlichen Wirksamkeit dieser Volksschule, so gibt uns darauf der nicht allzu fern liegende Bauernkrieg, die sittliche Fäulnis und Zerfallenheit, die uns Hans v. Schweinichen in seinen Denkwürdigkeiten schildert, und endlich die Bestialität des Dreißigjährigen Krieges eine furchtbare Antwort. Und das konnte auch nicht anders sein; denn es ist nur ein bequemer und daher sehr beliebter Quietismus, von solcher verständig moralisierenden Richtung mehr Heil erwarten zu wollen als von den Schrecken der alten asketischen Ansicht der Kirche. Ohne Zweifel wurde durch jene Schriften die moralische Intelligenz im Volke gesteigert. Aber die Intelligenz für sich, und wo ihr nicht eine gleichstarke Willenskraft zur Seite steht, ist gar nichts wert, weil sie nirgend lebendig an die Tiefe des Gewissens reicht. Das tut allein die Gottesfurcht, die ohne Demut und Liebe, diesen rechten Werkmeisterinnen der Tugend, undenkbar ist.

Es ist natürlich, daß mit jener laxeren Betrachtungsweise allmählich an die Stelle des Gewissens die bloße moralische Scham treten mußte, eine Art geistiger Polizei, mit der man sich gelegentlich vor der Welt wohl abzufinden weiß; und ebenso natürlich, daß hiernach die Sünde nicht als absolutes Übel, sondern vielmehr nur als vor der Welt verächtlich und lächerlich dargestellt wurde, welches letztere aber, eben die eigentümliche Aufgabe der Satire ist. Nur bei bedeutenden Störungen der ursprünglichen harmonischen Bildung durch tiefgreifende Gegensätze des gesamten inneren Lebens wird die Satire und in höherer Potenz der Humor erzeugt. Denn wenn das Leben in seinen Fundamenten erschüttert, hier ein Pfeiler, dort eine Klammer willkürlich herausgerissen ist, da sinkt das ganze Gebäude nach, wird windschief und folglich lächerlich. Die Satire ist daher immer komisch, das Komische, sehr verschieden von harmloser Lust, immer auch satirisch, gleich wie ja auch schon bei den Alten die komische Maske eine Satire des menschlichen Angesichts war. Hiernach ist es aber sehr begreiflich, [662] wie grade zur Zeit der Reformation die Satire zur höchsten Blüte und fast ausschließlichen Herrschaft gelangen mußte. Denn die Reformation hatte eigentlich das ganze Leben gegensätzlich gemacht und ein Chaos miteinander ringender Elemente entbunden: geistige Ansprüche, denen die menschlichen Kräfte nie und nirgend gewachsen sind, und übermütige Kräfte, die den rechten Mittelpunkt und mithin ihr Ziel verloren; höhere Intelligenz bei tiefster sittlicher Verwilderung und altnationale Erinnerungen mitten im verwüstenden Sturm der Neuerung. Alle diese schroffen und an sich unversöhnlichen Gegensätze hat die damalige Satire mit oft ergreifender Wahrheit treu und scharf erkannt und gezüchtiget, und sie hatte ein vollkommenes Recht daran. Anders dagegen verhält es sich mit ihren bis zum Überdruß und Ekel wiederholten Angriffen gegen die Kirche. Die heiligen Dome waren im Laufe der Jahrhunderte vom gemeinen Markt des Lebens mannigfach umbaut und verunziert; aber die Kirche war und blieb unerschüttert in ihren ewigen Pfeilern. Nur der Augenpunkt, die ganze Weise, sie anzusehen, war ein anderer und schief geworden. Diese Satiren schildern daher wider Wissen und Willen in der Tat nur ihre eigene Ohnmacht des Glaubens, nicht die Kirche, wie sie wirklich war und noch heute ist, sondern wie sie unter dem verschobenen Gesichtswinkel ihrer Zeit erscheint. Diese bittere Selbsttäuschung wird z.B. bei dem größten deutschen Satiriker jener Zeit, bei Fischart, auch in anderer Beziehung klar. Die alten Heldenlieder und nationalen Epen sind ohne Zweifel für alle Zeiten groß und schön; und dennoch, bei der gänzlich veränderten Weltansicht, findet sie Fischart nur lächerlich und spottwürdig. Ähnliches sehen wir in des unsterblichen Cervantes Don Quichotte, nur daß hier das scheidende Rittertum als der eigentliche und unverwüstlich poetische Hintergrund noch überall tragisch hindurchleuchtet.

Wir wollen versuchen, diese allgemeine Charakteristik nun an den hervorragendsten Repräsentanten mit wenigen Worten etwas spezieller auszuführen.

Bei Sebastian Brant (1458 – 1521) ist die Satire gleichsam noch nicht fertig, sie ringt hier noch mit ihren ursprünglichen und ungeschiedenen Grundelementen; das Didaktische ist vorwaltend und daher die Komik noch etwas trocken und knapp. Aber auch der Humor taucht bereits auf, wenn der Dichter, nachdem er in seinem berühmten »Narrenschiff« die Geiznarren, Putznarren, [663] Ehrnarren und alten Narren etc. glücklich untergebracht und jedem seine Kappe zugeschnitten hat, sich selbst nun als Büchernarr an die Spitze der Schiffsgesellschaft stellt. Brant steht noch wesentlich auf dem alten asketischen Boden; ja er trifft recht eigentlich den Nagel auf den Kopf, wenn er von seiner Zeit sagt: »Jeder dünkt sich nur allein weise und allein gut, trachtet wohl bei andern zu löschen, da es bei ihm selber brennt, stößt sich, selbst ein Narr, an andern; strebt eigenrichtig immer nach etwas Besonderem und sucht alleinklug Wege, wo keine sind. Rat hören ist jetzt verschmäht, unbedacht stürzt sich jeder – und das ist aller Narren Gebrauch – nach dem Neuen und immer Neuen.« – Geiler von Kaisersberg trug daher auch kein Bedenken, das »Narrenschiff« als Text seiner berühmten Predigten aufzunehmen. Dabei ist aber dennoch Brant selber dem Neuen verfallen: er baut zur Vergebung der Sünden nicht mehr auf die Barmherzigkeit Gottes und die Fürbitte Marias, sondern setzt alles auf eine vernünftige Selbsterkenntnis, die sich allein selbst helfen soll, und weist zu diesem Zweck gelehrt von den Heiligen auf die Beispiele der alten Heiden, auf Penelope, Lucretia, Plato und Sokrates.

Bei weitem schärfer, rücksichtsloser, ja häufig roh und grausam, schneidet Brants Zeitgenosse, der Franziskanermönch Thomas Murner, in das wilde Fleisch seiner Zeit, deren echter Sohn er doch selber in seiner Maßlosigkeit, in seinem Trotz, hochmütigem Selbstgefühl und unstetem Wesen sein Leben lang geblieben ist. Aber man würde sehr irren, wenn man – wie aus oberflächlicher Unkenntnis oder Parteivorurteil häufig geschehen – in der Gewaltsamkeit dieser wilden Natur nichts als rohe Klopffechterei erkennen wollte. Denn ganz abgesehen von seinem für alle Zeiten eminenten satirischen Talent, womit er an schlagendem Witz und Unmittelbarkeit lebendiger Darstellung, kurz in allem, was die Satire poetisch macht, Brant hoch überragt, so geht auch durch sein ganzes Treiben und Übertreiben ein fast tragisch-finsterer Zug ernster Überzeugungen. Erst wird sein ungestümer Charakter von den neuen Ansichten, die reine Weltverbesserung in Aussicht stellen, unwiderstehlich mit fortgerissen; er ficht in seiner »Narrenbeschwörung«, in seiner »Badenfahrt«, »Gäuchmatte«, »Schelmenzunft« und »Mühle von Schwindelsheim« gegen alles Verrottete, er wird insbesondere mit der Scheinheiligkeit der falschen Mönche handgemein, ja, er übersetzt sogar Luthers [664] Schrift von der babylonischen Gefangenschaft ins Deutsche. Als er aber nach und nach erkannt, wo das alles eigentlich hinauswill, schreibt er 1522 sein Buch: »Von dem großen lutherischen Narren, wie ihn Dr. Murner beschworen hat«, das speziell gegen Huttens destruktives Gebahren gerichtet ist, und welches Vilmar mit Recht die bedeutendste satirische Schrift auf die Reformation überhaupt nennt, die jemals erschienen sei. So zieht dieser ruhelose Geist mitten in der großen Revolution überall ingrimmig die Sturmglocke der Gegenrevolution.

Mit Johann Fischart (gest. 1589) tritt endlich die Satire selbständig und in einer seitdem noch unübertroffenen Vollendung auf. Auch Fischart beginnt, um sich nach damaligem Brauch die Sporen zu verdienen, mit einem Ritterzuge gegen die Kirche. Dahin gehören namentlich sein »Nachtrabe«, »der Barfüßer Kuttenstreit«, »der Bienenkorb des heiligen römischen Immenschwarms, seiner Hummelszellen oder Himmelszellen, Hurnaußnester, Brämengeschwür und Wespengetös« und »das vierhörnige Jesuitenhütlein« wider die »Jesuwider, die Schüler des Ignatz Lugiovoll, die Sauiter, Götzsuiter« usw. – Immer deutlicher erweist sich hier überall die Satire als die eigentliche Poesie des Verstandes; ja, seine »Flohhatz« ist ein Rechtshandel zwischen den Flöhen und Weibern in vollständig prozessualischer Form. In seinem wichtigsten Werke aber, in dem durch Rabelais' Vorgang veranlaßten »Gargantua und Pantagruel« sehen wir das seltsame Ringen jener einstürmenden Gegensätze des Lebens, das wir vorhin als den eigentlichen Grund der Satire hervorgehoben: Altes und Neues, Zorn und ausgelassene Lustigkeit, Härte und Zartsinn, Wahrheit und trotzige Selbstverblendung. Es ist eine Weltausstellung, ein ungeheuerer Mummenschanz menschlicher Charaktermasken, wo die auf das abenteuerlichste verkappten Gedanken und Wortlaute bunt durcheinanderwirren; ein fast betäubendes Summen, Zischen, Schnarren, Flüstern, Necken, Stoßen und Drängen, in welchem der Meister wie ein Magier waltet, der die Kobolde, die er heraufbeschworen, mit seiner heiteren Zauberformel gar wohl zu beherrschen weiß. Auch versäumt der Dichter nicht, selbst zuweilen auf den Ernst zu deuten, der hinter diesem tollen Spuke lauert. »Wohin meinst du aber«, sagt er, »du mein kurzweiliges Geschöpf, daß dies Vorgespielte, Vorgetrabte, Vorgelaufene an- und vorgebaut werde? Gewiß zu nichts anderem, als du, mein [665] Jünger, und etliche andere deiner Mitnarren nicht gleich nach dem äußeren betrüglichen Schein urteilen lernet – so will sich auch gebühren, daß man hie dies Büchlein recht eröffne und dem Inhalt gründlich nachsinne, so wird sich befinden, daß die Spezerei darin von mehrerem und höherem Werte ist, als die Büchse von außen anzeigt und verheißet, das ist, daß die fürgetragene Materie nicht so närrisch und auf der Abweise geschaffen, wie die Überschrift vielleicht möcht fürwenden.« – Fischart dürfte wohl vor allen auf sich selber anwenden, was Brant von den satirischen Schriftstellern überhaupt gesagt: »Der Schreiber ist wie der Reiter, er nimmt heimlich, wie jener öffentlich, mit der Feder, was jener mit der Lanze; der eine wagt seinen Leib ins Trockene und Nasse, der andere seine Seele ins Dintenfaß.«

Was Fischart künstlerisch zu einer Weltsatire verarbeitet, hat Hans Michael Moscherosch in seinen »Gesichten Philander's von Sittewald« eigentlich nur beschrieben. Denn was darin Satire heißen soll, erstickt größtenteils in einem Wust von lateinischen Versen, ausländischen Phrasen und einer á la mode Gelehrsamkeit, gegen die er seltsamerweise doch selbst zu Felde zu ziehen vorgibt. Dagegen ist die in demselben Buch enthaltene und später von Arnim in seinem Wintergarten zu einer Novelle benutzte, überaus lebendige Schilderung des »Soldatenlebens« im Dreißigjährigen Kriege von grauenhafter Naturwahrheit und ein unvergängliches Denkmal menschlicher Verwilderung.

Goethe sagt irgendwo, daß sich unsere Zeiten mehr und mehr zur Wiederbelebung der Verhältnisse in Huttens Zeiten schicken – und der alte Seher hatte recht. Ulrich von Hutten (1488–1523) ist ein Vorbild unserer heutigen jugendlichen Weltverbesserer, denen nur seine Kraft und sein Talent fehlen, um es ihm gleichzutun. Hutten stand vollkommen auf der Höhe der Bildung seiner Zeit; und doch blieb er, weil dieser Bildung trotz aller christlichen Phrasen das Christentum mangelte, sein ganzes Leben hindurch ruhe – und ratlos, ein verlorener Schiffer, ohne Steuer und Kompaß ins Ungewisse treibend. Die Gelehrsamkeit befriedigte ihn nicht, die Poesie freute ihn nicht, seine Religion war die Politik und die Politik seine Poesie; er griff mit ungestümer Hast nach den Zügeln des Weltlaufs, ohne jemals sich selber zügeln zu können. Als Jüngling der stillen Klosterzucht eigenmächtig entronnen, dann von Armut, Not und Elend von Land zu Land verfolgt, endlich [666] durch einen Herzog von Württemberg, der seinen Vetter ermordet, auf das äußerste gereizt, atmet er in seiner ersten Polemik nur Haß und Rache. Der geistreichste und großartigste Demagog Deutschlands, stachelt er nun mit allen damals noch unverbrauchten Künsten das Volk und identifiziert seine persönliche Schmach mit der Schmach der Nation, die Genugtuung verschaffen soll. Er stellt sich überall als Märtyrer dar, während ihm doch die gemeine Meinung als sichere Leibgarde beständig zur Seite stand; er gibt vor, alles nur um Gottes und des Volkes willen zu tun, sich überall von dem brennenden Ehrgeiz, der ihn verheerte, reinwaschend; und wußte doch recht gut, daß in jener Zeit nur auf diesem Wege Weltruhm zu erwerben war. Da sich jedoch dieser Gaul, trotz aller Sporen, dem Ungeduldigen sehr bald noch zu flau und träge erwies, so schlägt er sich jetzt plötzlich zu dem bisher von ihm tiefverachteten Adel. Ritter und Städte sollen als ein Mann zusammenstehen, Abfall von Kaiser und Reich und Tyrannenmord sollen unter so dringenden Umständen erlaubt sein und die Gebildeten mit dem Schwerte Wahrheit und Freiheit erzwingen. Aber wahr soll nur sein, was er und seine gelehrten Gesellen als Wahrheit oktroyiert, und Freiheit nur die blutige Zertrümmerung der Kirche. So wühlte Hutten unablässig den Abgrund auf, in welchem er selbst zuletzt einsam und tatenlos untergehen sollte; denn es ist die Art solcher Zeit, daß sie, wie Kronos, ihre eigenen Kinder verschlingt. Hinter ihm aber kam die Anarchie; sein glänzend kriegerischer Vorgang hatte die Leidenschaften entfesselt, und durch den einmal geöffneten Damm brach nun eine trübe Flut von Pasquillen, Spottliedern, Pamphleten und Flugschriften ins Land, die sämtlich die Kirche mit Kot bewarfen und von deren Schmutz und Roheit sich jeder Unbefangene nur mit Entrüstung und Ekel abwenden kann.

Auch ein uraltes Gedicht mußte dem neuen Zuge folgen; der ursprünglich deutsche Reinhart oder Reginhart (der kluge Ratgeber), nachdem er lange in Frankreich umhergeschweift und endlich über die Niederlande wieder zu uns heimgekehrt ist, hat sich allmählich in den modernen Reineke Fuchs verwandelt. In dem alten Tiergedicht ist es das deutsche Naturgefühl, die Freude an Wald und Feld und ihren Bewohnern, Reinhart, Isengrim und Brun; der geheimnisvolle Geisterblick der Tierwelt, der unwillkürlich an das verborgene Tier im Menschen mahnt. Im Reineke Fuchs dagegen meistert der Verstand [667] die phantastische Sage und kehrt, fast wie die prosaische Auflösung einer Gespenstergeschichte, das alte Verhältnis gradezu um. Die geselligen Zustände der Menschen treten aus der Wildnis immer deutlicher und aufdringlicher in den Vordergrund und werden mit Absicht und Bewußtsein in der Tierwelt abgespiegelt, und das alte harmlose Epos macht zeitgemäß Opposition gegen Hof und Kirche. Hier ist die Lebensklugheit des alleinseligmachenden Subjekts, ein Machiavellismus der Revolution der eigentliche Nerv des Ganzen.

Man sieht, bei dieser Wendung der Anschauungen mußte notwendig das Epische immer mehr in Allegorie übergehen, und so entstand nun das allegorisch-satirische Tiergedicht und die Fabel, wo die Tiere eben nur noch maskierte Menschen sind. Unter diesen neuen Tiergedichten behauptet, außer der schon erwähnten »Flohhatz« des Fischart, der Froschmäuseler von Georg Rollenhagen, unter den Fabeln die des Erasmus Alberus und des Burkard Waldis durch Frische und Lebendigkeit der Darstellung bei weitem den ersten Rang. Endlich aber fällt dieser kecke Heereszug gegen die Narrheit der Welt, da er immer matter und kurzatmiger wird, in bloße Anekdoten und Sittensprüche auseinander, wie bei Zinkgref, oder er spitzt sich zu einzelnen Epigrammenpfeilen, wie bei dem in seiner Art vortrefflichen Logau.


Wir haben oben, außer der Satire, noch zwei andere poetische Gestalten, den ewigen Juden und den Faust, als eigentümliche Geistererscheinungen der Reformation bezeichnet. Der ewige Jude geht zwar sagenhaft schon im 13. Jahrhundert um, aber erst jetzt wurde er persönlich in den engeren Kreis der Dichtung aufgenommen; ja man will den unheimlichen Gesellen in der Mitte des 16. Jahrhunderts im nördlichen Deutschland und namentlich in Hamburg leibhaftig gesehen haben. Ein solches Wiederbeleben und Fixieren eines so ungewöhnlichen Stoffes ist aber nirgend bloß zufällig, sondern jederzeit das Produkt der herrschenden Volksstimmung. Es konnte nicht fehlen, das eigenwillige Lossagen von der Kirche mit seinen Ausschweifungen, seinem Hohn und Frevel, mußte in ernsten Gemütern, wie trotzig sie sich auch äußerlich stellen mochten, ein Gefühl der Schuld erwecken und unwillkürlich an den Hartherzigen erinnern, der einst gegen das Kreuz protestiert, es verspottet und verspien hatte, und nun von der rächenden Hand Gottes[668] ewig ruhelos bis zum jüngsten Tage von Land zu Land getrieben wurde. In dieser Bedeutung ist unverkennbar der düstere alte Mahner mit dem feurigen Kreuzeszeichen an der Stirn aufgefaßt und ein Symbol jener heimlichen Volksschauer geworden.

Noch unmittelbarer aber hängt die Sage vom Faust mit dem reformatorischen Geistesumschwunge zusammen, ja, sie ist bekanntlich erst in dieser Zeit entstanden. Mag immerhin, was nicht mehr zu bezweifeln, ein Schwarzkünstler Faust wirklich gelebt und die Nachwelt ihn, wie den Eulenspiegel mit allen Volksschwänken, nachträglich mit allen früheren Zauberkunststücken des Albertus Magnus, Teutonicus, Scotus usw. ausgestattet haben; der Faust der Sage ist dennoch der eigentliche Typus der damaligen Seelenzustände. Es ist fast unglaublich, wie diese Sage neuerdings von manchem sonst so verständigen Literarhistoriker als Polemik gegen den Papismus und dessen »zu großen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen« bezeichnet werden konnte. Der Faust ist vielmehr grade der Repräsentant der reformatorischen Heiligsprechung der menschlichen Vernunft, des schon in den Satiren als Signalement der Zeit bezeichneten »Fraßes«, jenes unersättlichen Hochmuts des Verstandes, der, nur an seine eigene Unfehlbarkeit glaubend, sich mäkelnd und willkürlich meisternd über die Offenbarung stellt und sich selbst erlösen will; dem der in solchen Katastrophen doppelt geschäftige Lügengeist unbedingte göttliche Freiheit vorspiegelt und der endlich, da der strenge Himmel verschlossen und die falsche Erdenlust vergänglich ist, sich in dämonischer Ungenüge mit seinem Herzblut dem Teufel verschrieben. Es ist ganz charakteristisch und treffend, daß der Faust hier als vagabondierender Hofnarr allerlei lächerliche Zauberpossen treibt, die ihn im Grunde als einen törichten Fant erscheinen lassen, durch ihren Gegensatz aber den dunklen Hintergrund des Ganzen nur um so schauerlicher hervorheben. Erst später, nachdem man jenen noch etwas kindischen »Fraß« philosophisch aufgefüttert und ausgebildet hat, ist die volle Bedeutung der Sage, die ganze furchtbare Tiefe dieses Seelenabgrunds mit seinen gespenstischen Zacken und Spitzen und schadenfroh neckenden Irrgeistern wahrhaft künstlerisch beleuchtet worden. Doch dies spielt schon in eine andere Phase unserer Poesie hinüber, wo wir noch einmal auf den Faust zurückkommen wollen.

[669] Ein anderer Zweig der poetischen Literatur, der ebenfalls dem inneren Bedürfnis der Reformation seine besondere Pflege und Verbreitung zu verdanken hat, ist das neuere Kirchenlied. Daß die Poesie, nicht nur als allgemeine Weltkraft, sondern auch als spezielle Kunst, sich, gleich der Baukunst, Plastik und Malerei, mit der Religion sehr wohl verträgt, bezeugen die epischen Dichtungen Wolframs von Eschenbach, und in engeren, mehr kirchlichen Kreisen die wundervollen und unvergänglichen Hymnen der alten Kirche, wie: Dies irae, Stabat mater etc. Allein das eigentliche Kirchenlied ist, seinem Wesen nach, durchaus populär, es ist das auf die göttlichen Wahrheiten und die christliche Gemeinde angewandte Volkslied. Es muß daher, um wahrhaft wirksam zu sein, gleich dem weltlichen Volksliede, auf dem allgemeinen Bewußtsein des Volkes ruhen und von diesem selbst, nicht von Gelehrten und Theologen für das Volk gedichtet werden. So sehen wir denn auch wirklich schon sehr früh aus dem kirchlichen Kyrie eleison die sogenannten »Leisen« entstehen: deutsche geistliche Lieder, die bei Bittgängen, Kirchweihen, Prozessionen und Wallfahrten vom Volke gesungen wurden; und den heiligen Bernhard begrüßten und begleiteten auf seiner Reise durch Deutschland überall jubelnde Volkslieder. Ja, selbst jene lateinischen Kirchengesänge waren, gleich dem heiligen Meßopfer, ihrer Bedeutung nach allen verständlich und mit dem Volksglauben lebendig verwachsen. Und an diese organischen Vorgänge hatte denn auch das protestantische Kirchenlied, zum Teil durch Übersetzungen oder Umarbeitungen der alten Hymnen, sich ursprünglich angeschlossen.

Zwischen beiden war und blieb jedoch auch hier der durch die Reformation bedingte Grundunterschied von objektiver und subjektiver Auffassung. Die alte Hymnik ist ganz objektiv, sie feiert, wie Vilmar richtig bemerkt, die Taten Gottes, die Schöpfung, Erlösung und Heiligung an und für sich, ohne auf die Wirkung dieser göttlichen Taten im Herzen der Menschen einzugehen. Das protestantische Kirchenlied dagegen wählt grade diese Wirkung, die Empfindungen des menschlichen Herzens bei jenen göttlichen Geheimnissen zu seinem Hauptgegenstande, indem es dieselben auf die individuelle Erfahrung der Gnade bezieht. Man könnte in formeller Hinsicht die großen, kühnen und allgemeinen Züge der Hymnik mit dem Freskogemälde, das neue Kirchenlied mit dem Genrebild vergleichen. [670] Die mehr häusliche Innerlichkeit des letzteren machte die geistliche Dichtung allerdings lyrischer und folglich volksmäßiger, baute aber auch notwendig die Brücke zur subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Abweichung und Profanation.

Jeder Krieg, weil er das Haupthemmnis aller Poesie, die Gleichgültigkeit bricht, hat etwas Aufregendes, jugendlich Frisches; und die Reformation war in ihrem Ursprunge ein Krieg gegen die Kirche. In jedem Kampfe aber ist der angreifende Teil bei weitem im Vorteil über den angegriffenen. Daher sehen wir bei den Neugläubigen die stürmische Begeisterung des Eroberers, bei den Katholischen dagegen plötzlich einen momentanen Stillstand und die bloße Abwehr der Verteidigung, die niemals populär ist. Die ersten protestantischen Kirchenlieder sind schöne Kriegslieder, mitten im Getümmel der Geisterschlacht oder in Zeiten der Not auf nächtlicher Runde und Feldwacht erfunden, voll männlicher Zuversicht im Glück und Unglück, und alle ohne Gesang kaum denkbar. Auch hier hat Luthers heldenhafte, durchaus volksmäßige Persönlichkeit und hinreißende Sprachgewalt mit seinem: »Eine feste Burg ist unser Gott« die Bahn gebrochen. Er selbst fügte seinen Liedern die Melodien bei; und wie in prophetischer Ahnung der unmelodischen Zukunft sagt er: »Ich bin nicht der Meinung, daß durchs Evangelium alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wie etliche Abergeistliche vorgeben, sondern ich wollte alle Künste, sonderlich die Musica, gern sehen im Dienste des, der sie gegeben und geschaffen hat.«

Schon außerhalb des unmittelbaren Kampfplatzes stehen Paul Gerhardt und der ihm nahverwandte Johann Franke. Der Grundton von Gerhardts Liedern ist die Siegesfreudigkeit. Kein Dichter vor oder nach ihm hat mit solcher einfachen und tiefen Innigkeit eben das ausgedrückt, was wir vorhin als die eigentliche Bedeutung und Aufgabe des protestantischen Kirchenliedes bezeichneten: die subjektive Wirkung der göttlichen Wahrheiten auf das menschliche Gemüt, die stille Einkehr in sich selbst, und er durfte wohl von sich sagen: »fröhlich ist, was in mir ist.« Aber diese liebenswürdige Frömmigkeit beruht lediglich auf der Intensität der gläubigen Empfindung, die überall nur eine individuelle Gabe ist. Wir sehen daher die in sich begnügte Sicherheit und Heiterkeit Gerhardts schon bei Simon Dach in leise Wehmut und elegische Klagen über den schroffen Gegensatz des irdischen Lebens ausgehen. Bei [671] heftigeren Gemütern endlich bricht diese innere Ungenüge in finstere Schwermut, ja erschütternde Verzweiflung aus. So will Andreas Gryphius wie mit feurigem Schwert den Himmel stürmen. In seinen »Kirchhofsgedanken« und »geistlichen Oden« ringt er fast grauenvoll mit der Welt, aus Sturm und Schiffbruch, Todesangst und Sterbenot nach der Sonne der göttlichen Erlösung, und preist die schmerzenreichen Streiter glückselig, die, ihre Brüste schlagend und ihr Haar raufend, hienieden Tränen säen, um dereinst, wenn der Frost wird schwinden und die Felder prangen, in höchster Lust und ohne Trübsal zu lachen und nach der Flucht der Jammertage die Frucht der Saat zu ernten.

Allein die Reformation war keine von den Jahrhunderten getragene Tradition, sie appellierte an ein angebliches reines Urchristentum, das jedenfalls so weit über alle lebendige Volkserinnerung hinaus lag, daß die ganze neue Errungenschaft erst schriftmäßig beglaubigt und systematisiert werden mußte. Überdies wußte das Volk, das, je nach der Laune seiner weltlichen Herrschaften, bald katholisch bleiben, bald protestantisch, bald wieder katholisch werden sollte, am Ende gar nicht mehr, woran es war. So kam die Sache notwendig immer mehr in die Hände der Theologen und Gelehrten, die jederzeit die besondere Gabe haben, alles unpopulär zu machen. Die protestantische Theologie geriet nun ihrerseits selbst in die anfängliche ungünstige Lage der katholischen Partei, in die ängstliche Absperrung und Abwehr nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen ihre eigenen abgezweigten Sekten der Reformierten, Wiedertäufer usw., und mußte in dieser Isolierung um so gewisser und rascher verknöchern, da sie wesentlich auf der Negation beruhte, welche in sich kein Organ lebendiger Regeneration besitzt. Aus demselben Grunde mußte auch die geistliche Dichtung dasselbe Schicksal teilen, je sorgfältiger und eigensinniger sie alles Poetische der Kirche: die Legende, die Verehrung Marias und der Heiligen, die Schrecken des Fegefeuers etc. als abergläubische Greuel von sich ausschied. Da kamen die langweiligen Evangeliendichtungen, Reimereien von Bibelstellen, Psalter und gereimte Sonntagsepisteln, von Michael Weiß bis Lobwasser. Man eiferte zelotisch gegen den frommen Gerhardt, weil er seine Lieder bei einer Pfeife Tabak gedichtet, und verketzerte Simon Dach wegen seines schönen Liedchens auf »Annchen von Tharau«. Alles wurde jetzt unsingbar, [672] gereimte Theologie, mehr oder minder eine orthodoxe Tendenzpoesie, welche sich, wie alle vorwaltende Tendenz, am allerwenigsten mit dem Volksliede verträgt. Aber außerdem war grade diese Tendenz auch mit dem Gange der Zeit überhaupt unvereinbar. Man wollte einerseits die göttlichen Geheimnisse mit dem Verstande beweisen, was an sich unmöglich ist und jedenfalls allen Glauben als einen überflüssigen Luxus aufhebt, da man nicht glauben kann, was man schon weiß. Oder man sollte andererseits blindlings auf den Buchstaben der Bibel schwören, was wiederum dem ganzen Sinne der Reformation offenbar widersprach. Denn »der wahre Lutheraner«, sagt Lessing, »will nicht bloß bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muß.«

Das Kirchenlied aber, dem man auf diese Weise die Theologie untergeschoben hatte, bei der es nichts mehr zu singen fand, ging daher lieber ganz aus der Kirche ins Haus, von der Religion zur bloßen Moral über. Es entstand nun eine Unzahl von Morgenliedern und Abendsegen, Lieder beim Trunk, Lieder für Schwangere, für Reiter, für Mägde beim Schüsselwaschen, für die Handwerker auf der Wanderschaft und in der Werkstatt, worunter z.B. eine einzige dieser Sammlungen: »Des geistlichen und evangelischen Zion's neue Standeslieder«, nicht weniger als einhundertsiebenundvierzig Lieder für Amtsschreiber, Barbiere und Bauern enthält. Diese Lieder, da sie sich so populär machten, entlehnten denn auch häufig vom weltlichen Volksliede nicht nur Melodie und Liederanfänge, wie: »O Welt, ich muß dich lassen«, »herzlich tut mich verlangen«, »Ach Gott, wem soll ich's klagen«, »Ein Fräulein zart« u.a., sondern selbst einen großen Teil des Textes; z.B.: »Gassenhauer, Reuter- und Bergliedlein, christlich moraliter und sittlich verändert durch Herm. Heinrich Knausten. 1571«, oder: »Nye christlike Gesenge unde Lede up allerlei ardt Melodien der besten olden dudeschen Leder dorch Herm. Vespasium, Prediger tho Stade. 1572«. Ja, einer von ihnen, Bartholomäus Ringwaldt aus Frankfurt a. O., wird so kordial, daß er in einem seiner Lieder Gott fragt, warum er denn sein Angesicht so mit Plundern bedecken wolle und ihn als ein Mann mit schrecklichen Gebärden anlaufen, er solle doch die Nebelkappe abnehmen usw.

[673] Gegen diese Verweltlichung sowie gegen jene Starrsucht der Orthodoxen erfolgte nun die Reaktion des Pietismus, der vor allem den toten Buchstabenglauben durch eine Steigerung des Gefühls neu zu beleben suchte. Die Pietisten lenkten allerdings mehr als die zuletzt erwähnte Gruppe wieder auf das Objektive des Christentums ein, aber nur, um es in der luftigen Wandelbarkeit einer bloß subjektiven Auffassung ebenso schnell wieder zu verflüchtigen. Sie waren, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, im Eifer des Gefechts von einem Extrem zum andern, aus der abgeschlossenen Enge der Orthodoxie in das Grenzenlose individueller Empfindung geraten; sie hatten freilich den Buchstabenglauben flüssig gemacht, aber kein sicheres Bett bereit für den plötzlich losgebundenen Strom, der nun in tausend Bächlein das Land überrieselte und bedeutend unter Wasser setzte. Es war weniger eine Religion als eine häusliche Privatandacht, die endlich in der Gemeinde der Herrnhuter ihren Mittelpunkt fand. Aus dieser Individualisierung des Christentums aber entstand einerseits der verhätschelnde Kultus des menschlichen Herzens, und daher das läppisch Tändelnde und Süßliche eines gottselig schwelgerischen Selbstgenusses, dem, wie Homburg in seinen geistlichen Liedern versichert, der Seelenbräutigam Christus wie ein himmelsüßer Bissen schmeckt, wie Balsam riecht und süßer ist als kandierten Zuckers Kraft. Andererseits erzeugte die Einbildung einer solchen persönlichen Liebschaft mit Christus sehr natürlich auch jene Art von hochmütiger Zerknirschung, die sich für ein ganz absonderlich auserwähltes und begnadigtes Werkzeug Gottes hält; und Ziegler z.B. in seinen Elegien über das Leben Christi weiß seinen eigenen Wert nicht hoch genug herauszustreichen, da Gott sich zum Knecht gemacht, um ihn zu erlösen.

Inzwischen hatte Opitz der geistlichen Dichtung bereits nach zweierlei Seiten hin eine gelehrte Richtung gegeben: teils nach der Antike und heidnischen Mythologie, teils zum italienischen Schäferspiel; und an das letztere lehnten die Pietisten mit ihrem Religionsidyll sich an. Hirten singen Schäferlieder beim Kripplein Jesu, Christus wird als Daphnis gefeiert; da sind lauter honigsüße Wiegengesänglein und Sonntagsseufzerlein. Ein Hauptmann Basse bringt einen »andächtigen Seelenspaziergang«, Mitternacht »feuerheiße Liebesflammen einer in Jesu verliebten Seele«, Benjamin Prätorius eine »spielende Myrtenau« [674] und ein »jauchzendes Libanon«, Johannssen »sulamitische Freudenküsse einer gläubigen Seele«, und Johann Georg Albinus windet in seiner brünstigen Verzückung einen Zypressenkranz aus den fünf Wunden Jesu »mit über die Nacht emporgehobenem Sinn aber krankem Haupt, gehemmten Lebenslichtern, knackenden Gliedern, einem wie gebackenen Leib und schlotternden Zähnen«. Graf Zinzendorf endlich, sonst ein bedeutender und ehrenwerter Charakter, pflegt von Gott nur als von dem »Papächen« oder »süßem Mamächen« zu reden und gibt, wider Wissen und Willen, den Kern des ganzen kindischen Wesens in seinem albernen Liede:


»Ich liebe mein Papächen,
Ich liebe mein Mamächen
Und Bruder Lämmelein;
Ich lieb die lieben Engel,
Ich lieb den obern Sprengel,
Das Kirchlein und mein Herzelein.«

Hoch über ihnen, wie Meister über schülerhaften Stümpern, stehen dagegen die gleichzeitigen katholischen Mystiker: Balde, Scheffler und Friedrich von Spee, sie alle an Gehalt und Form weit überragend. An Gehalt, weil sie von den bloßen Aufwallungen des »Herzeleins« auf deren Urgrund, auf die ewigen Wahrheiten der Religion selbst, unmittelbar zurückgriffen und daher jederzeit wußten, was sie wollten; und an poetischem Ausdruck, weil ein großer Inhalt alles kleinliche Geschwätz darüber von selbst unmöglich macht. Die moralische Prüderie der Pietisten, ihr weichliches Schöntun mit den wunden Stellen der Seele, die lügenhafte Affektion jener schlotternden Zerknirschung: das alles wird bei Jakob Balde auf einmal furchtbarer Ernst in einer heldenhaften Asketik, welche die Krankheit des Menschengeschlechts nicht durch überzuckerte Palliativmittelchen beschwichtigen, sondern vielmehr schonungslos ihre Krise herbeiführen und durch eine totale innere Umkehr heilen will. Und diesem strengen Geiste entspricht auch vollkommen die streng klassische Form seiner, meist lateinischen, Gedichte. – Ebenso entschieden hat Johann Scheffler (oder Angelus Silesius, wie er sich nach dem spanischen Mystiker Joh. ab Angelis gewöhnlich nannte) die tändelnde Spielerei mit der Brautschaft Christi in die ganze Tiefe ihrer eigentlichen Bedeutung versenkt, indem er in seiner »Psyche« und insbesondere [675] in den Sinnsprüchen seines »cherubinischen Wandersmannes« auf die Gottwerdung der menschlichen Seele mit einer Kühnheit hinweist, die schon häufig als Pantheismus gedeutet worden, obgleich er selbst ausdrücklich sagt: daß durch diese Vergötterung die Seele nicht in Gott oder sein ungeschaffenes Wesen verwandelt, sondern nur mit dem göttlichen Wesen überformt, vereiniget und eins werden soll. – Bei Friedrich von Spee dagegen wird die pietistische Liebelei zum wahrhaften Minnegesang, in dessen tiefster und schönster Bedeutung. Kein Dichter hat wohl so innig, wie Spee im »güldenen Tugendbuch« und in seiner »Trutz-Nachtigall«, die verborgenen Stimmen der Natur belauscht und verstanden: wie die Ströme und Wälder und Bächlein emsig zu Gottes Lobe rauschen und die Vögel von Ihm singen und die geheimnisvolle Sommernacht von Ihm träumt; als ob der Finger Gottes leise über die unsichtbaren Saiten der Schöpfung glitte. Es ist daher nur durch Mangel an lebendigem Naturgefühl erklärlich, daß diese herzlichen Naturlaute jemals mit der faden Lämmelei, das Kindliche mit dem Kindischen der Pietisten verwechselt werden konnte. Und dieselbe Liebe, die in seinen Liedern in der Tat trotz Nachtigallen tönt, hat der Dichter auch durch sein Leben bewährt. Er war der erste, der mit seiner »Cautio criminalis« mutig die grausamen Hexenprozesse bekämpfte, und starb 1635 in Folge der geistlichen und leiblichen Pflege, welche er den verwundeten Soldaten in Trier menschenfreundlich zugewendet.

Endlich müssen wir auch noch den ausgemachtesten Antipoden der Pietisten, den Wiener Hofprediger Abraham a Santa Clara (Ulrich Megerle, 1642–1709) hier anreihen. Nicht, als ob etwa Abraham jene wissentlich parodiert hätte; aber es läßt sich kaum ein entschiedenerer Gegensatz des reimelichen Pietismus denken als diese herzhafte Volksfrömmigkeit, die, weil sie ihrer innerlich sicher ist, sich mit Scherz und Lachen gar wohl verträgt und erwiesenermaßen unendlich tiefere Gewalt auf die Gemüter geübt hat, als es die schäferlichen Tränodisten jemals vermochten. Abrahams humoristische Satiren, die er Predigten nennt, sind wie ein wunderbares Kaleidoskop, wo der Dichter die Gebrechen der Welt zwischen Spott, Scherz, Witz und schneidendem Ernst unermüdlich immer anders wendet, so daß sie in dem scharfen Lichte seines Geistes stets neue und überraschende Klangfiguren bilden. Auch die deutsche Sprache hat [676] dieser verschwenderisch begabte Dichter mit einem wahren Schatz kühner und unmittelbar schlagender Wortfügungen bereichert, und es ist eine Schande und ein unersetzlicher Verlust für unsere Literatur, daß die sauertöpfische Altklugheit Norddeutschlands es vornehm verschmähte, damit ihrer Armut aufzuhelfen. Überhaupt haben die Protestanten, mit der schon damals beliebten Taktik, alle diese bedeutenden Dichter fast gänzlich ignoriert; denn Spee und Balde waren Jesuiten, Abraham gar Kapuziner, und Scheffler war zur Kirche zurückgekehrt. Nur in neuester Zeit erst ist Spees Trutznachtigall durch Clemens Brentano der Vergessenheit entrissen und Schefflers cherubinischer Wandersmann sowie Abrahams a St. Clara berühmtestes Werk: »Judas, der Erzschelm«, von neuem abgedruckt worden.

Auf protestantischer Seite aber hatte der von Opitz angeschlagene Gelehrtenton auch in der geistlichen Dichtung sich immer weiter verbreitet. Den Übergang machen hier Rist, Heermann, Neumark und Buchholtz, obgleich bei ihnen noch immer der einfache Goldgrund des älteren Kirchenliedes durch die neue Kunstdichtung hindurchschimmert, welche, nach mancherlei nicht erwähnenswerten Wendungen und Verwandlungen, endlich in Klopstock kulminiert. Klopstocks geistliche Lieder sind nicht mehr singbare Volkslieder für die Gemeinde, sondern Oden für die Vornehmen, und könnten etwa nur noch in Oratorien als Bravourarien abgesungen werden. Auf demselben Wege suchten J. A. Cramer, Adolf Schlegel, Funk u.a. das Christentum durch angespannte Poesie nobel zu machen; aber der stolze Pegasus machte Miene, mit der alterschwachen Religion durchzugehen. Darüber erschrak der gottesfürchtige Gellert, dem überdies zu so hohem Schwung der Atem fehlte, er ließ die geheimnisvolle Schönheit des Christentums, zu der sich jene verstiegen, auf sich beruhen und verlegte sich auf die Prosa der Moral. Gellert mit seinen nüchternen Liedern gehört, um mit Shakespeare zu reden, zu den guten Leuten und schlechten Musikanten, die das Erhabene wie ein löbliches Handwerk treiben; einem wohlwollenden Arzte vergleichbar, der, um den Patienten nicht anzugreifen, ihn durch Zureden und bloße Diät kurieren will. Und von jetzt ab erblicken wir eine seltsame Bewegung und Rührsamkeit unter den theologischen Doktoren. Spalding, Zollikofer u.a. suchen eifrigst das Christentum dem gebildeten Zeitgeiste, mit dem sie [677] heimlich längst fraternisiert, zu akkommodieren und darnach auch den Kirchengesang zurechtzumachen, indem sie ihn von allem Positiven säubern. In ihren sogenannten Kirchenliedern ist daher keine Spur des alten gläubigen Herzensklanges, vielmehr nur eine gewisse mitleidige, diplomatische Herablassung zu dem dummen Volke bemerkbar. Lessing schrieb über die Klopstockschen geistlichen Lieder an Gleim: »Wenn Sie schlecht davon urteilen, so werde ich an Ihrem Christentum zweifeln, und urteilen Sie gut davon, an Ihrem Geschmack.« Jetzt aber paßte der Zweifel auf beiden Seiten: auf das Christentum und auf den Geschmack.

Doch wir wollen gegen diese Liederkünstler nicht ungerecht sein. Die Zeit war eine andere und das Kirchenlied eigentlich unmöglich geworden; es fehlte weniger der Gemeinde das Lied als dem Liede die Gemeinde, denn diese hatte den alten Glauben schon verloren und die neue Vernunftreligion noch nicht begriffen. So hatten denn in diesem Interregnum die Poeten freies Spiel; das Lied wurde erst unkirchlich, dann antikirchlich, bis endlich die Poesie in neuester Zeit die längst vom Rost zerfressenen Fesseln der Religion, und die der Moral hinterdrein, völlig abgestreift und sich in heidnischer Nacktheit gegen das Christentum gewendet hat.

Und was machten unterdes die katholischen Dichter gegen diese liederliche Rebellion der Poesie? Wenige vereinzelte schüchterne Klänge abgerechnet, lange Zeit hindurch – nichts und am Ende noch etwas Schlimmeres: »Die Stunden der Andacht«, einer zimperlichen Andacht, die sich, dem philosophischen Indifferentismus zu Gefallen, alles Katholischen entäußert. Soll denn auch unsere Frömmigkeit bei dem Protestantismus betteln gehn? Wir lassen ihren religiösen Dichtungen, wenn sie es verdienen, gern und unumwunden volle Gerechtigkeit widerfahren; ja wir würden keinen Anstand nehmen, einige der besten Kirchenlieder von Dach, Gerhardt, Novalis oder Schenkendorf freudig als die unseren anzuerkennen, aber wir haben oben gesehen, wohin die geistliche Poesie der Protestanten unaufhaltsam geraten, da sie, sich selbst überlassen, frei waltete. Wo sie aber von den Konsistorien und Synoden zum liturgischen Gebrauch eingefangen wurde, ist sie unter der allgemeinen Zensur der fanatisch verschlimmbessernden Vernunftreligion ganz altklug und prosaisch geworden und daraus endlich die Gesangsbuchnot entstanden, die, der allgemeinen [678] Konfusion verfallen und eine wahre literarhistorische Musterkarte aufweisend, noch bis heute zwischen dem ästhetisch-religiösen, historisch-antiquarischen und kirchlich-praktischen Standpunkte ratlos hin und her schwankt und nichts Geringeres als »ein Gesangbuch der unsichtbaren Kirche, die nicht da oder dort, sondern Gott allein bewußt ist«, im Schilde führt.

Da ist also für uns nichts nachzuahmen noch abzulernen als etwa, wie wir es nicht machen sollen. Ebenso töricht, ja widersinnig aber wäre es, sich allzu schreckhaft von dem wüsten antichristlichen Vandalismus drüben zum anderen Extrem hintreiben zu lassen, in der geistlichen Dichtkunst, weil sie des Mißbrauchs empfänglich, die Kunst verwerfen und gleichsam wie eine vom Zeitgeist belagerte Festung hinter dem Bollwerk verbrauchter Formeln sich selber geistig aushungern zu wollen. Solche furchtsame, abschließende, bloß negative Moralität wird von dem geschäftigen Feinde über kurz oder lang notwendig überflügelt; wie der einfältige Vogel Strauß, der beim Anblick des Jägers die Augen zudrückt und meint, es habe keine Gefahr, weil er sie nicht sehen mag. Wohlmeinende Absicht allein ist noch keine Poesie; eine prosaische Poesie aber, wenn man sie so bezeichnen darf, verfehlt ihr Ziel nur um so gewisser, je größer und würdiger ihr Gegenstand ist. Wer diesen daher durch eine ängstlich abwehrende Beschränktheit in Auffassung und Darstellung geltend und populär machen wollte, wäre wie jener ehrliche Deutsche, der sich mit seiner französischen Einquartierung am besten zu verständigen meinte, wenn er das Deutsche wie ein Deutschfranzos gebrochen sprach. Wir haben so viele schöne geistliche Lieder und Sprüche von Friedrich Schlegel, von Werner, Clemens Brentano, von den ungenannten Dichtern in Diepenbrocks geistlichem Blumenstrauß und von Annette von Droste-Hülshoff in ihrem herrlichen geistlichen Jahr; warum werden sie in unseren stereotypen Gebet- und Gesangbüchern nicht zur Erfrischung des religiösen Sinnes benutzt?

6. Die Poesie der modernen Religionsphilosophie
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Die Poesie der modernen Religionsphilosophie

Die ganze Literaturgeschichte der Reformation ist hiernach fast nur eine Kriegsgeschichte der streitenden Parteien und ihr eigentlicher Kampfplatz der theologische. Selbst nach dem [679] noch immer wild schönen Dreißigjährigen Kriege, wo das Mittelalter totgeschlagen wurde, zanken sie fort, da die Todmüden nicht mehr fechten können, und zerfleischen einander wenigstens mit Worten; ein wüstes Plänkeln polemischer Nachzügler, immer matter, ferner und unverständlicher vertosend. Das Alte liegt in Trümmern, zwischen denen ein heimatloses Geschlecht, das von der Vergangenheit nichts weiß, aus den Knochen der Erschlagenen bleich und gespenstisch hervorstieret, und auf den Trümmern werden statt der alten Dome hölzerne Notkirchen gebaut und statt der Burgen viereckige Familienkasten zur Unterkunft der neuen Industrie-Ritterschaft.

Doch der Friede war, wie in der Politik der westfälische, auch auf diesem Gebiete nur scheinbar; die einmal national gewordene Zwietracht glomm, nicht bloß zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb derselben, unter dem Schutte fort und setzte, nachdem die welschen Winde darüber hingefahren, nicht mehr Städte und Länder, aber die Geister in Brand. Da man aufhörte zu glauben, fing man an, über den Glauben zu philosophieren. Denn alle Philosophie kann sich von ihrer ursprünglichen geheimnisvollen Heimat nicht lossagen und geht, wo sie redlich die Wahrheit sucht, stets auf die Lösung der höchsten und letzten Fragen: auf die Religion.

Leibniz stand noch auf der welthistorischen Wetterscheide zwischen der alten und neuen Zeit, zwischen Glauben und Denken. Er hatte von beiden vollauf und daher tiefgreifende leuchtende Ahnungen der göttlichen Wahrheit; aber er war zu zaghaft, konventionell und höflich, um es deshalb mit einer ganzen andersgesinnten Welt aufzunehmen. Der trockene Wolff, der Leibniz niemals verstand, wandte dessen kühne mathematische Kombination kleinlich auf die Logik und Moral an und wollte eine mathematische Religion wie ein Rechenexempel konstruieren. Kant war der eigentliche Philosoph der Reformation, indem er die einmal emanzipierte menschliche Vernunft nun auch ganz folgerecht zum waltenden Prinzip erhob. Aber er war auch der ehrlichste unter ihnen; er fragte nicht, was die Welt sei, sondern nur, wie sie von der menschlichen Vernunft wahrgenommen werde; er tolerierte jenseits ein geheimnisvolles Gebiet, in das die Vernunft nicht einzudringen vermag; die Vernunft soll daher in dieser Abgeschiedenheit und Resignation sich selbst genügen, sich [680] selber Sittengesetz und Tugend, also im Grunde eine Religion ohne Gott sein. Bei weitem entschlossener, kühner und ungestümer bricht Fichte über diese Kantsche Grenze hinaus, bis zur Vergötterung des reformatorisch emanzipierten Subjekts. Die Welt ist nichts, sie existiert nur in der subjektiven Vorstellung, das absolute Ich ist die Welt. – Inzwischen hatten schon früher einige fremde Eroberer die dämmernde Geisterverwirrung in Deutschland zu bedeutenden Invasionen benutzt, und zwar fast gleichzeitig in ganz entgegengesetzten Richtungen. Der immer redliche Rousseau übertölpelte uns durch stürmische Beredsamkeit mit seinem wilden Naturstaat ohne positiven Glauben, während der stets heimtückische Voltaire auf den von Locke gelegten englischen Fundamenten uns mit einem reinen Vernunftstaat überbaute, wo verfeinerte Kultur, eine wohlgeordnete Polizei und etwas Konfuziussche Sittenlehre alle Religion vertreten und überflüssig machen sollte. Beides ist eitel Materialismus, man mag nun, wie man doch füglich nicht anders kann, die Genealogie von Rousseaus Naturstand zu den menschenfressenden Karaiben und Orang-Utans bis auf den Urschlamm der Schöpfung zurückführen oder Voltaires polizeilichen Vernunftstaat bis zu seiner letzten Vollendung in eine chinesische Glückseligkeit hinauf purifizieren. Der Materialismus aber ist die Prosa des Denkens, mit der sich der überall poetisch gestimmte Deutsche niemals für die Dauer verträgt. Viel nachhaltiger hat daher ein anderer Fremdling, der geistreiche spanische Jude Spinoza in Deutschland gewirkt, da er die Philosophie in eine Region emporhebt, deren Unermeßlichkeit, wie der Anblick des Meeres, zugleich Gefühl und Phantasie mit sich fortreißt. Indem er jedoch mit seinem All im All Gott und die Welt identifiziert, mithin die Persönlichkeit Gottes wie die des Menschen und dessen innere Selbständigkeit und sittliche Freiheit aufhebt, macht auch er alle Religion nicht nur überflüssig, sondern gradezu unmöglich. Aus den Abgründen dieser schrecklichen Unsterblichkeitslehre aber hat die neuere Naturphilosophie ihre »Weltseele« herausgearbeitet, die, in ihren extremsten Konsequenzen von Irrtum zu Irrtum, notwendig zumPantheismus geführt. – So entwickelte sich also im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland jener merkwürdige unerhörte Geisterkrieg, wo die Schwerter der Gedanken unablässig bald hell leuchtende Strahlen, bald irr verlockende Funken nach allen Seiten umhersprühten, [681] ohne bis jetzt – wie früher der Glaube getan – ein allgemein versöhnendes Licht entzünden und verbreiten zu können. Und diese totale Aufregung des inneren Lebens hat allerdings auch unsere letzte klassische Periode der Poesie hervorgerufen, jedoch, wie jeder rechte Bürgerkrieg, auf ihrer glänzenden Fährte eine geistige Verwilderung und Anarchie hinterlassen, mit der wir noch heute vergeblich ringen.

Diesem einseitigen Despotismus der Vernunft aber entspricht denn natürlich wiederum auch die ganze Physiognomie unserer modernen Poesie. Es folgte nämlich zunächst daraus, daß die Poesie nun immer entschiedener vom Volke zu den sogenannten Gebildeten übergehen mußte. Denn diese Lichtfreunde hatten, wie schon lange vor ihnen in China, ihre besondere Religion für sich und verachteten mit unsäglicher Vornehmigkeit alle Dichtung, die noch auf dem altgläubigen mittelalterlichen Boden ruhte. Das verdutzte Volk aber konnte ihren Abstraktionen keineswegs so hastig und brünstig folgen, es hatte noch bedenkliche Rückfälle von zähen Gewohnheiten und Traditionen; verhöhnt und verlassen, wie es war, stolperte es daher beständig mit Knittelversen in das verrufene Gebiet hinaus und befestigte durch seine Unbeholfenheit die Kluft zwischen einer plebejischen und einer aristokratischen Poesie.

Die letztere hatte sonach mit ihrer Gelehrtenschere den nationalen Faden der dichtenden Jahrhunderte abgeschnitten, die Poesie sollte gleichsam ganz von vorn wieder angefangen werden. Das wäre allenfalls in Rousseaus Wildnis durch Artikulation der ursprünglichen rohen Naturkraft denkbar gewesen; in dem Voltaireschen Vernunftstaat, wie er es wirklich geworden, inmitten einer gleißenden Zivilisation und einer fremden Poesie, die grade damals bei den Nachbarn schon in höchster Blüte stand, war es unmöglich. Das bankerotte Deutschland, da es sich selbst enterbt und seine Vergangenheit sich hatte hinwegdisputieren lassen, mußte notwendig in der Fremde ein bettelhaftes Anlehen eröffnen. Es mußte zunächst erst alles durchprobiert, die ganze Skala europäischer Sangeskunst durchgemacht werden, um, wo möglich, den rechten Ton zu finden; gleich wie man den armen gefangenen Gimpel, wenn er sein freies Waldlied vergessen, nach der Drehorgel manierlich pfeifen lehrt. Daher die berühmte deutsche Ausländerei, die im achtzehnten Jahrhundert ratlos bald nach England,[682] bald nach Spanien und Frankreich und am liebsten nach dem französischen Altertum griff, das ihr lächerlicherweise als echt klassisch aufgeschwatzt und vorgeschossen wurde. Dies wird gewöhnlich Universalität genannt, mit dem stolzen Selbstgefühl, daß wir sonach im Zentrum der Weltpoesie sitzen und berufen sind, die verschiedenen einseitigen Manifestationen derselben zu versöhnen und zu vermitteln. Allein dann müßten wir doch notwendig selbst einen Zentralkern bilden, in welchem die auseinanderlaufenden Radien sich zu gemeinsamer Verklärung vereinigten. Wir müßten vor allem erst selbst eine Nation, d.h. eine feste brüderliche Phalanx von Glauben, Sitte und Denkart sein, wie es Calderons Spanien mit seiner Religion und Ritterlichkeit und Shakespeares England in seiner unerschütterlichen Vaterlandsliebe war. Dazu aber ist, wie wir alle wissen, bei uns zur Zeit noch wenig Aussicht vorhanden. Wir möchten daher jene Allerweltspoesie vielmehr das Theatralische nennen, womit Menzel unsere moderne Poesie treffend bezeichnet; den schon bekannten »Fraß« des Jahrhunderts, der nicht der unbewußten Nötigung des Genies, sondern einer selbstbewußten Willkür folgt; die liebenswürdige Fähigkeit, sich in alle möglichen und, wenn sich's eben trifft, auch unmöglichen Rollen hineinzustudieren, um sie dem erstaunten Publikum täuschend vorzuspielen. Der Schauspieler aber ist jederzeit nur ein passiver Dichter, er schafft nicht, sondern wird selbst allabendlich umgeschaffen, was bekanntlich eben nicht zur Festigung des Charakters dient, man müßte denn diesen etwa in eine allgemeine Charakterlosigkeit setzen wollen. – Alles dieses zusammengenommen mußte endlich auch in mehr formeller Beziehung eine wesentliche Umwandlung der poetischen Literatur zur Folge haben. Jene subjektive Wahl der heterogensten und fremdartigsten Stoffe machte, eben weil sie willkürlich war, zu ihrer Erklärung und Rechtfertigung eine beständige Exposition, eine gleichsam durch das Ganze zwischen den Zeilen fortlaufende Vorrede unvermeidlich, um den geneigten Leser nur erst auf den weitabgelegenen Gesichtspunkt und in die rechte Stimmung zu bringen; denn es galt nun weniger der Wahrheit, als der theatralischen Wahrscheinlichkeit. Bei der vorherrschenden Verstandesrichtung überhaupt appellierten die Dichter nicht mehr an den Glauben des Lesers; sie wollten überzeugen, während doch die frei schaffende Phantasie plötzlich ganze Jahrhunderte aufrollt und [683] in blitzartiger Beleuchtung das Wunderbarste klar, faßlich und glaublich macht. Es kam mithin jetzt nicht mehr auf eine unbefangene, unmittelbare, lebendig epische Darstellung der Handlung, sondern vielmehr darauf an, das Darzustellende nach seinen Anfängen, Motiven und moralischen Wirkungen pragmatisch zu zergliedern, dem Helden einen Polizeipaß mit genauer Personbeschreibung nach Haarwuchs, Kleiderschnitt und sonstigen besonderen Kennzeichen mit auf die Reise zu geben, mit einem Wort: über ihn zu reflektieren. Die Reflexion aber ist ihrer Natur nach überaus weitschweifig, sie verlangt die breiteste Grundlage, sie braucht viel Worte und eine möglichst freie und bequeme oder vielmehr laxe Form. Daher in dieser Zeit die ungemeine Fruchtbarkeit und auffallend vorwaltende Herrschaft des Romans, dieser eigentlichen Poesie des Verstandes.

Doch wir wollen, um der Zeit nicht vorzugreifen, nun die Anfänge und den allmählichen Fortgang der deutschen Poesie des achtzehnten Jahrhunderts in den einzelnen Hauptrichtungen und ihren Relationen untereinander möglichst klar zu machen versuchen.


Wir sahen oben, in welche Barbarei bis zum völligen Stumpfsinn vor Gottsched das, was man damals in Deutschland Poesie nannte, versunken war und wie athletisch Gottsched in dieser totalen Unwirtschaft aufzuräumen begann. Gottsched hatte gewiß seine Notwendigkeit und sein Verdienst, das wir ihm keineswegs verschränken mögen, indem er der wahnwitzigen Verstiegenheit der zweiten schlesischen Schule, gleich wie man Betrunkene durch ein kaltes Sturzbad nüchtern macht, korrekte Vorbilder entgegenwarf und die schwerfällige deutsche Zunge, wenngleich noch gebrochen und wunderlich genug, doch einigermaßen vernünftig wieder sprechen lehrte. Allein er war ein hochfahrender Grobian und warf mit dem Plunder zugleich alle alten Familienschätze, die er blödsinnig nicht erkannte, zum Fenster hinaus und machte in seinem Rigorismus völlig reine Tafel, wußte aber dann dafür nichts Besseres vorzusetzen als ungenießbare Pariser Schaugerichte. Er meinte es, wenigstens anfangs und bevor ihm der Zorn und Ärger über seine rebellischen Schulmeister zu Kopfe gestiegen, ohne Zweifel grundehrlich, denn dieser langjährige Diktator der deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit merkte es ja keineswegs, [684] daß er selbst von der Poesie nicht die geringste Ahnung hatte. Da war nichts als strenge Zucht, keine Liebe, kein religiöser Glaube, kein Gefühl und so bettelwenig Phantasie, daß er nicht einmal die Oper begriff, weil doch kein vernünftiger Mensch in der Leidenschaft singen könne.

In das leere Gefäß der Poesie, das er allerdings gänzlich gereinigt und ausgewaschen hatte, mußte also nun erst wieder ein Inhalt geschafft werden. Den ersten schüchternen Versuch hierzu machte der wackere Hamburger Ratsherr Brockes mit seinem »irdischen Vergnügen in Gott«. Es ist freilich ein trauriger Anblick, wenn das Dasein Gottes überhaupt erst bewiesen und sichergestellt werden soll, und zwar vermittelst der äußeren Sinne durch Betrachtung von Schneeflocken, Nelken, Thymian und anderem Kraut; ein ungeheurer Umweg nach dem Himmelreich, auf welchem übrigens noch heut viele Pädagogen in ihren kindischen Kinderschriften gedankenlos fortschlendern, wo die liebe Jugend ihren Herrgott wie ein Zuckerbrötchen schmecken und riechen soll. Wir können gewiß durch die Idee Gottes, wenn sie in uns bereits lebendig geworden, die äußere Natur symbolisch beseelen, nicht aber umgekehrt diese Idee von der Natur empfangen. Brockes improvisiert eine Art unschuldiger natürlicher Religion, er ist verliebt in die Natur, und seine oft überraschend schönen und treuen Naturschilderungen nehmen sich in dem neunbändigen Buche wie liebliche, sauber gemalte Randminiaturen aus; aber der Text dazu ist so weitschweifig und trocken, daß wir in der Verzweiflung der Langeweile lieber alle Erbauung aufgeben. – Kühner und kräftiger waltet der Schweizer Albrecht von Haller in dieser Region, indem er sie über die Brockesschen Kraut-und Blumengärten zu den ewigen Zinnen seiner väterländischen Berge emporhebt und aus dieser Adlerperspektive wohl auch, z.B. in dem poetischen Philosophem über den »Ursprung des Übels«, den Blick in die dunklen jenseitigen Gebiete schweifen läßt. Wahrlich, könnte das Erschaffene Göttliches offenbaren, so wäre es die tiefe unermeßliche Einsamkeit dieser großen Natur, wie sie Haller in seinem schönsten, gewaltigen Gedicht: »Die Alpen« ergreifend schildert. Aber das feierliche Schweigen der Natur deutet das Rätsel des Lebens nur geheimnisvoll an, ohne es jemals lösen zu können.

Beide, Haller wie Brockes, haben es daher als Dichter in der Religion nur bis zur bloßen Moral gebracht, die an sich bekanntlich [685] niemals an überflüssiger Poesie leidet. Es konnte demnach nicht fehlen, daß sich derselben nun die prosaischen Halbpoeten, denen stets das Moralisieren leichter wird als das Dichten, immer mehr als ihres ausschließlichen Metiers bemächtigen. Unter diesen ist der schon erwähnte Gellert der berühmteste und wirksamste geworden, weil der Mittelmäßigkeit, die bei weitem die Majorität der Lesewelt bildet, das Mittelmäßige stets am verständlichsten und willkommensten ist, solange sie etwa nicht, wie wohl zuweilen durch außerordentliche Geister geschieht, wider Willen in ein ihr wildfremdes Gebiet mit fortgerissen wird, wo sie dann gewöhnlich vor unnatürlicher Anspannung für einen Augenblick in einem übertriebenen und höchst lächerlichen Enthusiasmus ganz außer sich gerät. Gellert war weit entfernt von einem solchen Attentat gegen die Mittelmäßigkeit; es ist aber dennoch nicht ohne psychologisches Interesse für das Verständnis der Zeit, seinen literarischen Lebenslauf hier noch etwas näher zu verfolgen; denn auch er hatte seine bescheidenen Irrfahrten. Erst schifft er sich in einem ihm gar wunderlich zu Gesicht stehenden Anfall jugendlichen Leichtsinns mit schäferlichen Lustspielen ein, die sämtlich noch die Gottschedsche Allongeperücke tragen. Aber die allgemeine Strömung erfaßt ihn, und er segelt in seinem Romane von der schwedischen Gräfin, nicht ohne bedenkliche Anfechtungen und Sympathien, an der Kalypso-Insel der neuen Aufklärung haardicht vorüber. Dann im Dankgefühl für die glückliche Rettung stimmt er geistliche Lieder an, so voll Tugenden ohne positives Christentum, daß sie ihm jeder gebildete Chinese ohne Gewissensskrupel nachsingen könnte; bis er endlich mit seinen Fabeln und Erzählungen auf der ganz neutralen Moral sitzenbleibt. Gellert hat es ohne allen Zweifel überall gut gemeint, doch seine Persönlichkeit gehört der wohlverdienten kindlichen Pietät der Zeitgenossen, keinesweges der Poesie und der Kritik an. Seine Moral hat durchaus etwas Altjüngferliches; es wird aber doch niemand behaupten wollen, daß eine alte Jungfer, und wenn sie noch so fromm und tugendhaft wäre, deshalb jung und schön würde.

Dieser frömmelnde Schulmeisterton war indes bei aller Gutmütigkeit zu trivial und langweilig, um der, nachgrade der Schule entwachsenen, komplizierteren Bildung dauernd zu genügen. Man suchte sich daher allmählich und möglichst [686] geräuschlos davon loszumachen; so wie denn überhaupt von jetzt ab die deutsche Literatur immer entschiedener den Charakter der Revolution und, wie in allen Revolutionen, einen steten Wechsel von Gegensätzen, von Influenzen und Reaktionen darstellt. Denn die verschiedenen menschlichen Kräfte, Gelüste und Widersprüche, einmal freigegeben, müssen sich erst kämpfend aneinander messen und formulieren, um sich selbst zu begreifen und, will's Gott, endlich ein Gleichgewicht und eine Versöhnung wiederherstellen zu können. So ging man denn auch hier auf demselben außerkirchlichen Boden gemütlich einen Schritt weiter. Das Prinzip blieb und wurde nur anders aufgefaßt, indem man jener still vegetativen natürlichen Religion eine mehr plastische Naturreligion unterschob, deren Bibel nicht mehr Konfuzius, sondern Horaz, und von ihm das: carpe diem der eigentliche Kanon war. Der altväterschen, etwas schwierigen Kunst, selig zu sterben, wurde die bequemere und daher bei weitem plausiblere Kunst, glückselig zu leben, substituiert; eine vergnügliche Genußreligion, wo die Weisheit nur an sich denken sollte, auf daß es ihr wohlgehe auf Erden. Diese Weisheit zog sich daher auf ihr Tuskulum eines philosophischen Quietismus zurück, von dem sie alle großen Leidenschaften, die die Welt bewegen, sorgfältig abwehrte. Darum nahm sie auch noch ein gut Stück Moral mit hinüber, nicht um der Moral willen, sondern weil alle Unmäßigkeit geistig und leiblich den Magen verdirbt, mithin den ruhigen Genuß stört. Wollten aber diese Philosophen mit der Welt, galant wie sie damals war, in unangefochtener Zufriedenheit leben, so mußten sie natürlicherweise vor allem den antiquitätischen Bart und Magierrock ablegen und möglichst elegant im Frack auftreten, der nur in Paris proberecht zugeschnitten wurde. Handelte es sich ja doch überhaupt hierbei weniger um die ewig gleiche Sittlichkeit, als um die ewig veränderliche Sitte, nicht um den Anstand der Tugend, sondern um die Tugend des Anstandes. Man nannte es daher die Poesie der Grazien.

In der vordersten Reihe erscheint hier Friedrich von Hagedorn (1708–54), nicht nur als der erste, sondern auch als der ausgezeichnetste. Hagedorn hatte den großen Vorteil, daß er sich sein Tuskulum nicht, wie die meisten anderen, erst abstrakt zu erbauen und einzurichten brauchte, es war sein angebornes Erbteil. Von Natur genügsam und fröhlich gestimmt, äußerlich [687] in einer glücklichen, unabhängigen Lage, repräsentierte er selbst leibhaftig jene angenehme Philosophie und dichtete daher sorglos, wie er lebte und fühlte. Selbst wo er sich mit Chapelle, Pellison, Pavillon und anderen lockeren Gesellen leichtfertig auf den schlüpfrigglatten Pariser Salonboden begibt, bewegt er sich mit gewandter Sicherheit und liebenswürdiger Naivetät; überall eine für jene Zeit überraschende natürliche Leichtigkeit der Sprache und eine gesellige Heiterkeit, zu der sich seine Nachfolger Uz, Zachariae, Pfeffel etc. nur allzuoft sichtbar erst anstrengen und zwingen müssen. Diese größere Geistesfreiheit bewahrte ihn auch vor jener gelehrten Pedanterie einer stereotypen Freude, wie sie uns nach ihm in den Wein- und Gesellschaftsliedern der vorhin Genannten gleichfalls häufig anwidert. Ja, Hagedorn war sogar der erste, der, die beschränkte Umschau erweiternd, durch seine »Betrachtungen über die Malerei« auch die bildenden Künste in den Kreis dieser imaginären Einsiedlerschaft zog.

Dieser behäbige Glaube fand begreiflicherweise sehr bald seine Gemeinde, deren Vorstand über ein halbes Jahrhundert lang Gleim gewesen, und von dessen Heimat sie die Halberstädter oder auch die Hallesche geheißen ist. Gleim (1719–1803) war kein Dichter, er legte sich bloß den Hagedornschen Nachlaß in seiner etwas faseligen Art bequemer und praktischer zurecht. Der Kern seiner Lebensweisheit ist ein durch philosophische Würde und Anmut aufgesteifter Epikureismus, oder in Versen:


»Unschuldige Jugend, dir sei es bewußt, nur Feinde der Tugend sind Feinde der Lust,
Ja Jugend und Freude sind ewig verwandt, es knüpfte sie beide ein himmlisches Band;
ein reines Gewissen, ein ehrliches Herz, macht munter zu Küssen und Tänzen und Scherz.«

Er griff daher nach allen Seiten unermüdlich nach allem, was in diese lustige Moral einzuschlagen und sie irgend zu stützen schien. Er machte anakreontische, horazische, petrarkische und Minnelieder; d.h. er nannte es so, denn in der Tat hat es nicht die geringste Ähnlichkeit und keinen anderen Rapport damit als ein totales Mißverständnis jener großen Dichter. Ja, er versuchte sogar, da seine »Schäferwelt« in Hamburg als ketzerisch verbrannt worden war, jene neuen [688] Offenbarungen in seinem »Halladat« vermittelnd in das Christentum einzuschmuggeln. Und doch weiß man, daß dieser Halladat nur aus einer gelegentlichen Bekanntschaft mit dem Koran hervorgegangen ist. Wie bloß konventionell überhaupt diese ganze Poesie war, zeigt sich, grade des inneren Kontrastes wegen, am schlagendsten in seinen »Kriegsliedern eines preußischen Grenadiers«. Hier war endlich einmal ein großer und populärer Stoff, von der allgemeinen Begeisterung der Zeit getragen. Dennoch hielt es Gleim für unerläßlich, auch diesem Grenadier einen tüchtigen Zopf von mythologischer Gelehrsamkeit und vornehmer Schönrednerei anzuhängen, der ihn dem Volke, zu dem er doch singen sollte, völlig fremd und unkenntlich macht. Gleims Bedeutung liegt daher keineswegs in seiner dichterischen Produktion, sondern in der Propaganda, die er machte, in seiner gutmütig leichtgläubigen, unendlich rezeptiven Persönlichkeit und dem zudringlichen Enthusiasmus, womit er allen Poeten, guten und schlechten, brüderlich um den Hals fällt. Es gibt auch in den literarischen Steppen von Zeit zu Zeit gewisse Karawansereien, deren Besitzer aber mehr mit der Wirtschaft als mit der Poesie zu schaffen und bei der Aufnahme des Genius, anstatt des besseren Teils der Magdalena, den der hülfreichen und rastlos geschäftigen Martha erwählt haben. Eine solche Karawanserei war Gleims »Hüttchen« in Halberstadt, das in stetem Wechsel Wandermüde und Jugendfrische, Ehrenmänner und poetisierende Vagabonden auf ihrer Wallfahrt nach dem Parnaß beherbergte. Zehrung und Entgelt waren: Lob und Gegenlob, beides mit doppelter Kreide. Auch der ältere Jacobi verkehrte dort eine Zeitlang und setzte später, nur in größerem Stil, in Pempelfort die Wirtschaft fort, wo jedoch zum Teil schon vornehmere Geister einsprachen.

Um Gleim gruppierten sich mehrere jugendliche Dichter, die ihn fast alle weit übertrafen, von denen wir aber, da sie keine neue Bahn gebrochen, hier nur die hervorragendsten kurz erwähnen wollen. Unter ihnen stehen unbedenklich Kleist und Uz obenan.Christian Ewald von Kleist (1715–1759) wurde durch Gleim zum dichterischen Selbstbewußtsein geweckt und blieb dafür dankbar bis zu seinem Tode sein treuester Freund. Er hängt jedoch mit diesem Kreise eigentlich nur lose durch seine quietistische Gemütsrichtung zusammen, sein Epikureismus, wenn man es noch so nennen will, war von der edelsten [689] Art: der Hang zum ländlichen dolce far niente. Wie tief er aber das Stilleben der Natur und ihre Schönheit empfand, hat er in seinem berühmtesten Gedichte »der Frühling« kundgetan, dem Fragmente einer größeren, unvollendet gebliebenen Dichtung über das Landleben. Doch konnte ihn diese weichliche Ruhe nicht dauernd befriedigen, ein fast melancholischer Klang elegischer Klage weht durch alle seine Dichtungen, er sehnte sich aus den engen stillen Tälern in die bewegte Welt der Taten hinaus. Und seine Sehnsucht sollte erfüllt werden: der Sturm des Siebenjährigen Krieges riß ihn mit fort, und er focht und fiel heldenhaft in der Schlacht von Kunersdorf. – Auch Uz war eine ernstgestimmte Natur. Er tändelte nur eine Zeitlang, und zwar sinnreicher und gehaltener als die andern, mit den Halberstädtern und ging dann, seinem eigentlichen Berufe folgend, zu der seraphischen Ode Klopstocks über. – Dagegen vertiefte sich Zachariae gänzlich in die Parfümwolke von Amoretten und trug die leichtfertige Spielerei sogar in das Epos, das sich nun, nach Popes Vorgang, englisieren und zum sogenannten komischen Heldengedicht bequemen mußte. Seine Heldengedichte: »das Schnupftuch«, »Phaeton und Murner« etc., sind aber gar nicht komisch, sondern höchst langweilig und längst vergessen. Nur sein »Renommist«, wo ihn die Darstellung des wirklich Erlebten zur Naturwahrheit zwang, ist als eine ergötzliche Schilderung der damaligen Studentenwirtschaft bis auf uns gekommen. – Auch Johann Georg Jacobi war in Arkadien und schrieb entzückte Liebesbriefe an Gleim, der seinem »Jacobitchen« dafür zehntausend versiegelte Küsse zurückschickte. Er studiert mit den andern die Unsterblichkeit in der Verwandlung der Blumen, hält den Untergang der Erde für unmöglich, weil der Geliebten Fuß ihren Boden betrat, lacht pflichtmäßig über das Pfaffenwesen und macht, da er selbst Kanonikus in Halberstadt wird, während der nächtlichen Noviziatswache in der Kapitelstube ein Liebeslied an Bellinde. Goethe nannte ihn ganz treffend ein kindisches Ding. Aber Jacobi war zugleich eine flexiblere Natur als seine anderen Sangesgenossen und hat daher später, wo ihm der Aufschwung der neueren und mächtigeren Dichter imponierte, sich an diesen, in seiner »Iris«, auch noch zu mehreren trefflichen und völlig unarkadischen Liedern emporgehoben. – Nur der evangelische Pfarrer Götz konnte sich aus den Rosengirlanden niemals herauswickeln und blieb auf seiner »Mädcheninsel« [690] sitzen, mit welcher er, wahrscheinlich des französierenden Geschnörkels wegen, sogar den Beifall oder vielmehr die mitleidige Nachsicht Friedrichs des Großen erwarb. Wie sehr indes dieser alberne Grazienkultus überhaupt nur äußerlich und eine bloße üble Angewöhnung war, zeigt u.a. auch die Ängstlichkeit, womit Götz seine Poesien selbst vor der eigenen Familie geheimhielt und sich einer Weisheit schämte, welche ein anderer Halberstädter: Michaelis, am bündigsten mit den Worten umschreibt: »Mein Standpunkt ist dieses Rund; was außer ihm liegt, gehört nicht meinen Sorgen; der Erdball aber ganz, und meinem Geiste ward Licht, mein ganzes Wohl, das dieser Ball verflicht, auf diesem Balle ganz mir aufzuklären.«

Man hat diese Poeten in neuerer Zeit häufig mit den Minnesängern verglichen. Der Vergleich paßt nur insofern, als sie allerdings ihre Poesie mit dem Ende des Minnegesanges angefangen haben, mit der laxen Moral, mit der allegorischen Konfusion und Verkünstelung der letzten Minnesänger. Aber der Minnegesang ging vom volksmäßigen Marienkultus aus, dessen Schönheit auch die irdischen Frauen mit himmlischem Glanz verklärte; er hatte einen durchaus nationalen Hintergrund. Jene Grazienjäger dagegen standen gleich ursprünglich mitten in einer vergilbten heidnischen Mythologie, die nur die Gelehrten interessieren konnte. Die Minnesänger feierten wirkliche, lebendige, wenngleich phantastisch idealisierte Frauengestalten, sie dichteten in Wald und Feld, zu Roß, auf ritterlichen Heldenfahrten, sie sangen wie sie lebten, und sie lebten poetisch; während die Anakreontiker sich in ihren dumpfigen Studierstuben mit bloßen Chimären, mit Nymphen und Sylphiden herumherzten und gleichsam den Lebenswein aus leeren Flaschen tranken.

Eine solche Poesie konnte natürlich nur mit dem etwas sentimental gefärbten Verstande gemacht und demnach auch nur vom Verstande erzogen und gerichtet werden. Ähnliche Verhältnisse pflegen aber überall dieselben Erscheinungen hervorzurufen. Kein Wunder daher, daß, wie ehemals Gottsched, auch jetzt ein nüchterner und poetisch völlig impotenter Mann sich als Schultyrann dieses fröhlichen Gebiets bemächtigte. Ramler machte es zu seiner nicht beneidenswerten Lebensaufgabe, die Gedichte aller seiner Zeitgenossen durchzukorrigieren, er war der poetische Exerziermeister seiner Zeit, das kritische [691] Gewissen der Dichter, die sämtlich, selbst Gleim und den jungen Lessing nicht ausgenommen, mit liebenswürdiger Unbefangenheit und Resignation ihre Manuskripte seiner diktatorischen Schere unterwarfen. Beide Teile taten recht daran; die Dichter, denn ihre Darstellungsweise war ebenso salopp als ihre Moral; und Ramler hatte gleichfalls recht, das ganze leere Formelwesen lediglich formell anzufassen und, ohne nach Individualitäten zu fragen, an denen doch nichts zu verlieren war, alles nach einer Schablone, die man damals Geschmack nannte, zurechtzustutzen. Er selbst hat es niemals über eine ziemlich pedantische Nachahmung und Übersetzung von Horaz gebracht, und seine besten Leistungen, die Oden an Friedrich den Großen, haben bei weitem mehr patriotischen als poetischen Wert; aber seine strenge und saubere Technik hat mit mehreren Modifikationen bis zu unserer Zeit nachgewirkt.

Der eigentliche Großmeister aber jenes galanten Cotillonordens war Wieland. Erst durch Wieland wurde diese gemütliche Faselei in ein förmliches System und somit zum allgemeinen Selbstbewußtsein gebracht; es war in seiner Spitze und Vollendung der philosophisch formulierte Egoismus des sinnlichen Genusses. Um nun diesen Egoismus einerseits rechtfertigend zu begründen und andrerseits vor aller Störung möglichst zu verwahren, stellt Wieland die Poesie, die doch ihrer Natur nach eben das Höhere andeuten und erstreben will, gradezu auf den Kopf, indem seine ganze Dichtung klarmachen soll, daß es für den Menschen überhaupt nichts erreichbar Höheres, Großes und Edles gebe, welches er daher überall, wo es seiner Theorie hindernd in den Weg tritt, als bloße Illusion der Schwärmerei dem Witz und Spott der französischen Salonweisheit preisgibt. Dasselbe hat später auch Kotzebue getan; aber Wieland tat es ehrlich aus einem großen moralischen Irrtum, um die Menschheit zu beglücken, und Kotzebue aus Gemeinheit und leichtsinniger Bosheit, um die Menschen zu ärgern. Nur das Motiv also ist verschieden, der Effekt bleibt immerhin derselbe, und bei dem bedeutenden Einfluß, den Wieland auf die geistige Stimmung fast eines halben Jahrhunderts ausgeübt, lohnt es wohl der Mühe, sein Verfahren im einzelnen etwas näher zu beleuchten.

Zunächst fing auch er, wie die Halberstädter den Minnegesang, das Antike von hinten an, er merkte sich vom klassischen [692] Altertum nur die sittliche Fäulnis seines Verfalls, von der plastischen Schönheit das Nackte, von der durchsichtig heiteren Lebensansicht die Liederlichkeit, von den Philosophen den Epikur und nimmt sich in seinem französischen Frack nirgend verwunderlicher, ja possierlicher aus als unter den alten Griechen. So liebäugelt z.B. sein »Diogenes« aus seiner Tonne mit schönen Mädchen und spielt gegen einzutauschende Küsse den galanten Ratgeber. Gegen die hohe Bedeutung einer ganz anderen Welt richtet sich sein »Don Sylvio von Rosalva, oder der Sieg der Natur über die Schwärmerei, eine Geschichte, worin alles Wunderbare natürlich zugeht«. Aber dieser Don Sylvio kämpft zu zaghaft und versteckt, um aus solchem Hinterhalt etwas Erkleckliches ausrichten zu können. Er stichelt auf den Geschmack an französischen Feenmärchen, die niemand kennt, und meint damit eigentlich den alten Wunderglauben des Mittelalters, ebenso stichelt er auf den neuen Klopstockschen Aufschwung, was aber niemand merkt; so daß das Ganze sich als ein völlig vergebliches Scheingefecht verläuft. Mit größerem Recht bietet er gegen Richardsons allerdings ziemlich ungesunde Tugendhelden, die damals namentlich alle Weiberherzen eroberten, die Ritter des sogenannten gesunden Menschenverstandes auf; allein diese sind, trotz aller affektierten Natur und Wirklichkeit, ebensosehr nur gemachte Bücherhelden und jedenfalls noch unpoetischer als die Richardsonschen. Endlich dreister in immer weiteren Kreisen um sich greifend, stellt er überhaupt das Göttliche und Tierische im Menschen einander gegenüber und läßt, bei aller salbungsvollen Schönrednerei, das letztere, als verstünde sich das ebenso von selbst, regelmäßig siegen; z.B. in seinem »Agathon«, wo er geständlich sich selbst schildert, und dessen jugendlicher Platonismus, Unschuld und Glauben zuletzt an den Buhlerkünsten der Danae und der (eigentlich modern englischen und französischen) Philosophie des Sophisten Hippias kläglich scheitern muß. Dasselbe Thema variiert er in seiner »Musarion«, welche zwei starrköpfige Philosophen, einen Stoiker und einen Pythagoräer, durch ihre Nymphen und ihren Wein von ihrer exzentrischen Moral kuriert. Wie sein Diogenes junge Mädchen, so belehrt hier eine Hetäre ihren sentimentalen Geliebten Phanias über die verlorene Mühe des moralischen Rigorismus und bekehrt ihn zu ihrer angeblich stichhaltigeren leichtsinnigen Moral durch [693] leichte Scherze, womit sie das Überspannte auf eine sanfte und unmerkliche Art vom Wahren abzuschneiden weiß, durch sokratische Ironien und ihre »Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur, die mit all ihren Mängeln doch immer das liebenswürdigste Ding ist, das wir kennen«. Diese Lehre wird vom Autor ausdrücklich die Philosophie der Grazien genannt. Was wir aber unter einer solchen Grazie eigentlich zu verstehen haben, deutet er uns selbst gelegentlich an: eine Sünderin, die alles, was schön und liebreizend und bezaubernd ist, in ihrem Geist und in ihrem Umgange vereinigt; tadelnswürdig, insofern sie eine Sünderin ist, gleichwohl aber ausgeschmückt mit Witz, Geschmack, feiner Empfindung, Lebensart, Kenntnissen, Talenten, kurz mit tausend Verdiensten, »die selbst auf ihre Sünden ein sanft gebrochenes Zauberlicht werfen«.

Von solchem ewigen Abwägen und Schaukeln zwischen Idee und Tierheit, wo Gutes und Böses beständig einander wechselseitig neutralisieren, kann notwendig zuletzt nur der Nihilismus eines völlig nüchternen juste milieu zurückbleiben. Auch Wieland hat es daher, trotz seines Grundsatzes: »mit dem Kopfe Freidenker, im Herzen tugendhaft«, weder zur Tugend, noch zu Voltairescher Freigeisterei, sondern nur zu einem protestantischen Rationalismus, als Schriftsteller weder zur Philosophie noch Geschichte, weder zum Drama noch Epos, sondern lediglich zu einem Mittelding von allem diesen, zum sogenannten philosophischen Halbromane gebracht. Am augenfälligsten zeigt sich diese »Weisheit der Mitte« in seiner Auffassung der Liebe, die, z.B. in »Idris«, weder platonisch noch sinnlich sein soll. Das wäre also ungefähr das bekannte Messer ohne Griff, an dem die Klinge fehlt. Aber an dem Autor selbst sollte sich unglücklicherweise sehr bald bewähren, was er, wie in prophetischem Vorgefühl, in seinem »Theages« der Aspasia in den Mund gelegt: »Diese beiden Amors (der geistige Amor und der sinnliche Cupido) sind sich nahe verwandt, und es ist oft geschehen, daß sie ihre Kleidung gewechselt haben und daß der leibhafte Cupido erschienen ist, das Wort zu halten, welches der platonische Sylph gegeben. Cupido ist ein wahrer Proteus, der sich so gut in einen Platoniker als in eine Franziskanerkutte maskieren kann, und wenn er die Dame Phantasie auf seiner Seite hat, so weiß ich nichts, was die beiden Schelme nicht ausrichten könnten.« Und in der [694] Tat, diesem Schelm Cupido gelang das Unerhörte, der ehrbaren Familienvater Wieland in seiner Nadine und den scherzhaften Erzählungen plötzlich weit über die Grenzen seiner eigenen liberalen Grazien hinaus in das bodenlose Gesümpf der obszönsten Lüsternheit zu verlocken.

Das endliche Resultat aber aller dieser moralischen und unmoralischen Räsonnements und Darstellungen ist eine Art von Naturreligion, die er in seinem »goldenen Spiegel« unter der Leitung des weisen Psammis der Glückseligkeit eines kleinen Staates zum Grunde legt. Psammis lehrt nämlich in der Hauptsache: »die Natur habe alle unsere Sinne, jedes Fäserchen unseres Wesens, unser Gehirn und unser Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht; vernehmlicher konnte sie nicht sagen, wozu sie uns geschaffen habe. Wäre es möglich gewesen, uns des Vergnügens fähig zu machen ohne den Schmerz, so würde es geschehen sein. Solange man aber den Gesetzen der Natur folge, werde der Schmerz das Gefühl für jedes Vergnügen schärfen, und dadurch zu einer Wohltat werden. – Man genieße jeden Augenblick, aber ohne Mäßigung werden auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzes, der den Keim eines künftigen Vergnügens zernage. – Mäßigung sei Weisheit, und nur dem Weisen sei es vergönnt, den Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen voll einschenke, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der Weise versage sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, um sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommneren Genusse aufzusparen. – Nie suche man einen höheren Grad von Kenntnis; man wisse genug, wenn man gelernt habe, glücklich zu sein. – Keine Lust, kein angenehmes Gefühl sei versagt, das die Natur uns zugedacht habe. – Die Mäßigung werde nur empfohlen, weil sie unentbehrlich sei, vor Schmerzen zu bewahren und immer zu Freuden aufgelegt zu er halten. – Der Gehorsam gegen die Gesetze der Natur befehle, die Sinne zu ergötzen. – Der betrügliche Unterschied zwischen Nützlich und Angenehm sei daher aufgehoben; denn nützlich sei nur, was uns vor Unlust bewahre oder eine Quelle des Vergnügens sei.« – Hiernach sollen auch in diesem Musterstaate die Kinder vom dritten bis zum achten Jahre größtenteils sich selbst, das ist der Erziehung der Natur, überlassen werden und nach später empfangenem Unterricht gelehrt genug sein, wenn sie imstande sind, ihre Verfassung für [695] die beste zu halten und um Künste und Wissenschaften niemand zu beneiden. Im dreißigsten Jahre aber ist ein jeder verbunden, zu seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte zu nehmen usw. Zuletzt muß denn der weise Psammis selber eingestehen: »unser Volk ist ein Völkchen von ausgemachten Wollüstlingen; aber desto besser für uns!« Und dieses ganze Eldorado ist nicht etwa, wie es allerdings den Anschein hat, ironisch, sondern vollkommen ernst gemeint. Man sieht also auch hier, daß, da der Mensch doch irgend etwas glauben will, mit dem religiösen Unglauben der politische Aberglaube stets Hand in Hand geht.

Das Beste, was Wieland vermochte, hat er in zwei Werken von sehr verschiedener Richtung gegeben: im Oberon, und in den Abderiten. Allein im Oberon ist er offenbar nicht sattelfest genug zum Ritt ins alte romantische Land; dieses Hüons-Horn hat einen falschen Ton aufgeklärter Ironie, die nebst der Zauberei auch die Romantik vernichtet; und der Angelpunkt, um den sich eigentlich das Ganze dreht, ist auch hier wieder jenes »liebenswürdige Ding« von Herzen, an dem die verliebten Helden Schiffbruch leiden. DieAbderiten dagegen sind, ohne dergleichen phantastische Anfechtungen, bloß mit dem »gesunden Menschenverstande« gearbeitet, und es ist ihm daher hier ein sehr ergötzliches Bild des Kampfes zwischen Spießbürgertum und Weltbürgertum gelungen, in welchem der Philosoph Demokrit sich lachend die Märtyrerpalme erwirbt.

Man hat Wieland oft nachgerühmt, daß er zuerst den Mut hatte, die Poesie aus den Fesseln der Religion und Moral zu befreien. Das tat er wirklich, und er hatte ganz recht, denn eine gefesselte Poesie nützt weder der Religion noch der Moral. Nur geht er dabei von der seltsamen Voraussetzung aus, daß die Menschheit lediglich durch Erfahrung zu belehren und zu veredeln sei und daß man ihr folglich auch in der Poesie nicht Ideale, sondern die Menschen genau so vorführen müsse, wie sie wirklich sind. Hier ist aber ein doppelter Irrtum. Denn einmal wird, wie das Sprichwort und die Geschichte lehrt, durch Erfahrung niemand klug, geschweige denn tugendhaft, wozu vielmehr ganz andere Hebel und Flügel gehören. Auch heißt wohl jenes Prinzip im Grunde eben nichts anderes, als durch eigenen Schaden klug werden. Nun wäre es aber doch ein gar zu wunderliches und gewagtes Verfahren, jemanden [696] erst aufs Glatteis zu schicken, um zu probieren, ob er fallen wird, oder um ihn, wenn er gar einbricht, hinterdrein menschenfreundlich retten zu können; ganz abgesehen davon, daß es ein Widerspruch in sich ist, die kranke Wirklichkeit durch die Wirklichkeit, die ja eben gebessert werden soll, kurieren zu wollen. – Sodann soll die Poesie allerdings keine Magd, weder der Religion noch der Moral, sein, sondern durch ihre eigentümliche Zauberformel die Schönheit, wie und wo immer sie verborgen leuchtet, aus den Banden der tölpelhaften Riesen und Drachen und pfiffigen Philister erlösen. Aber die gemeine Wirklichkeit und ihre Laster, sie mögen sich noch so kokettisch-grazienhaft ausschmücken oder verschleiern, sind nirgend schön. Dagegen geht durch alle Zeiten und Völker das unvertilgbare Gefühl einer höheren, überirdischen, geheimnisvollen Schönheit, die der Religion, der Sittlichkeit und der Poesie gemeinsam ist und ohne welche die letztere in hochmütiger Absonderung niemals wahrhaft bestehen kann.

Daß aber Wieland dennoch so großen Sukzeß hatte, verwundert uns nicht im mindesten. Seine Irrtümer und Mängel waren eben das Steckenpferd der Zeit, und seine nüchterne Religionsphilosophie war gar zu niedlich, bequem und für jeden Komfort besorgt, um nicht alle materialistische Mittelmäßigkeit und allen invaliden Glauben, der doch am Ende auch seine anständige Kirche haben will, in gerechtes Erstaunen und Entzücken zu versetzen. Auch das befremdet uns keineswegs, daß er auf dem Pegasus ein ausgemachter Libertin und zu Hause ein ausgemachter Philister war, denn die Libertinage ist doch eigentlich auch nur eine anders gefärbte Philisterei, und er war kein selbständiger Charakter, vielmehr nur der Repräsentant und Sprecher der Charakterlosigkeit seiner Zeit, die er nicht bestimmte, sondern von ihr gestimmt wurde. Weich, biegsam, gutmütig und bis zum Exzeß für alles empfänglich, was nicht eigene Kraft erfordert, schwankte er daher beständig zwischen den Extremen der schwankenden Zeit, seinem Wahlspruch zufolge: daß wir nur »durch öftere Veränderungen in unserer Art zu denken« gut und weise werden. Erst dichtet er mit dem frommen Bodmer aneinem Tisch Psalmen und Patriarchaden und eifert gegen Gleim und Uz als »schwärmende Anbeter des Bacchus und der Venus, die man für eine Bande epikurischer Heiden halten sollte«. Aber schon damals blickt er zugleich bedenklich seitwärts aus seiner[697] »sublimen Glückseligkeit« und bekennt, »daß die Damen der Hauptressort seines Geistes gewesen und daß er ohne sie selbst seine christlichen Empfindungen nicht geschrieben hätte«. Dann, im Hause des Grafen Stadion mitten in das gelobte Land der modernsten Aufklärung versetzt, legt auch, wie der scharfblickende Lessing vorausgesagt, die junge Wielandsche Muse, die so lange die Betschwester gespielt und sich eine verständige erfahrene Miene anzunehmen bemüht hatte, plötzlich ihr altväterisches Käppchen ab und verwandelt sich in eine muntere Modeschönheit. In Weimar endlich war der inzwischen altgewordenen Muse die neue Zeit über den Kopf gewachsen, in der sie sich nie wieder ganz zurechtzufinden wußte.

Wir sind hiernach weit entfernt, über Wielands Persönlichkeit rechten oder richten zu wollen; die Sünde seiner Poesie war sicherlich nicht Lüge, sondern menschliche Schwäche. Aber ebenso gewiß hat seine leichtfertige französierende Lebensansicht für lange Zeit die deutsche Poesie frivol und die Kotzebues etc. möglich gemacht. Auch leugnen wir keineswegs, daß er die äußeren Formen, namentlich der Prosa, in einen leichteren und anmutigeren Fluß gebracht. Allein diese ganz ins Allgemeine gehaltene, schlüpfrigglatte Salonsprache ist uns stets wie eine Übersetzung aus dem Französischen vorgekommen. Dennoch wird sie noch bis heute oft als Mustersprache angepriesen. Als ob es überhaupt einen Normalstil gäbe für Poeten, deren jeder seinen eignen mitbringt, wie jeder ausgeprägte Charakter sein Gesicht.

Von Wielands Nachfolgern ist Moritz August von Thümmel (1738–1817) unstreitig der geistreichste, nicht wegen seiner ganz unbedeutenden Jugendschriften: »Wilhelmine« und die »Inokulation der Liebe«, die sich fast nur wie Wielandsche Stilübungen ausnehmen, sondern durch sein berühmtestes Werk: »Reise in die mittäglichen Provinzen Frankreichs«. Hier wird das Heilverfahren, womit Wieland die imaginäre Griechenwelt reformieren wollte, praktischer auf einen bücherversessenen deutschen Gelehrten angewandt und dieser durch Wein, schöne Mädchen und französische Lebensweisheit glücklich von seiner hypochondrischen Unschuld kuriert. Zwar hat der Genesene zuletzt, man sieht nicht recht warum, wieder einen höchst bedenklichen Rückfall, und der Autor desavouiert förmlich das ganze Heilverfahren; allein dieser moralische Zensurklecks am Schlusse vermag keinesweges das [698] brillante Kolorit des lüsternen Hintergrundes wieder auszulöschen. – Wohin aber die Wielandsche Richtung geringere Geister führen mußte, zeigt sich vorzüglich bei den beiden Österreichern Alxinger und Blumauer. Alxinger hat in seinem »Doolin von Mainz« und »Bliomberis« den Oberon verballhornt und Blumauer, z.B. in seiner Travestierung der Aeneide, die Grazienscherze Wielands zu gemeinen und übelriechenden Späßen verbraucht. Ja, ein liederlicher Dichterling durfte es, freilich zu Wielands unbegreiflicher Überraschung und Entrüstung, wagen, ihm seine unzüchtigen Gedichte in Grécourts Manier mit einem salve frater zu dedizieren.


Diesen galant tänzelnden und zuletzt bedenklich ausgleitenden Dichtern sehen wir eine andere Gruppe in den sogenannten Bremer Beiträgen sich gegenüberstellen. Die Bremer, oder wie sie eigentlich heißen: »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes«, entstanden aus dem Überdruß mehrerer jungen Poeten an der Gottschedschen Tyrannei, und wurzeln zum Teil noch in der Anschauungsweise des Halberstädtschen Kreises, aus welchem sogar Hagedorn und Gleim selbst sich anfangs daran beteiligten. Die übrigen nennenswerten Mitglieder dieser neuen Gruppe sind – außer Zachariae und Gellert, die wir in andrer Beziehung schon oben erwähnt haben – vorzüglich Ebert, Giseke, Cramer, Adolf Schlegel, Rabener, und zuletzt auch Klopstock. Alle diese mittelmäßigen Poeten – wenn wir, wie sich von selbst versteht, Klopstock ausnehmen – haben nichts Neues geschaffen, sondern bloß vorbereitet; sie bilden nur den mehr kritischen als produktiven Übergang von Hagedorn zu Klopstock. Mit dem ersteren sympathisiert am meisten noch Ebert in seiner Lyrik, und zum Teil auch Giseke, mit Klopstock dagegen Cramer und Adolf Schlegel. Rabener, der Satiriker unter ihnen, hat natürlicher weise seine besondere Domäne für sich, die er sich möglichst bescheiden und enge eingehegt. Behutsam und unter ironischen Bücklingen berührt er kaum die Schellenkappe, ohne den eigentlichen Narren der Zeit irgend herzhaft herauszufordern. Seine Satiren sind im Grunde nur ein Alteweibergeklatsch über die minuziöse Misere der damaligen Kleinstädterei und Dorfteufeleien und daher grade so langweilig als ihr Stoff.

Der allgemeine Grundcharakter aber, der diese Gruppe von der vorigen wesentlich unterscheidet, ist der größere Ernst [699] der Gesinnung und, mit diesem besseren Gewissen, auch die größere Wahrheit der Empfindung. So haben sie zunächst von dem Inhalt der Anakreontiker vorzüglich nur die Freundschaft mit herübergenommen und sie aus der Gleimschen Tändelei zu einer männlichen Tugend herausgebildet; ihre ganze Lyrik ist fast nur ein wehmütiger Nachklang ihres jugendlich aufstrebenden Zusammenlebens in Leipzig. Gellert sowie Schlegel, Rabener und Giseke sagen, daß die Freundschaft sie singen gelehrt, und Klopstock hat später in seiner Ode »Wingolf« die zerstreuten Genossen noch einmal im Geiste um sich versammelt und dem Jugendbunde ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Diese Wehmut und Treue konnte indes begreiflicherweise mit Crébillon, Grasset, Batteux etc. nicht bestehen; daher gingen sie, da ihre Poesie noch unsicher experimentierte und sich anlehnen mußte, immer mehr von dem leichtsinnigen Franzosentum der Halberstädter zu den tieferen Engländern über. Ebert übersetzte Glovers Leonidas und Youngs Nachtgedanken, welche der nachfolgenden Literatur für lange Zeit eine melancholische Mondscheinbeleuchtung gaben. Am fühlbarsten aber zeigt sich der Unterschied in dem redlichen Eifer, womit sie auf dem religiösen Gebiet sich der Mode gewordenen Freidenkerei entgegenstemmen. Giseke polemisiert gegen die Spinozisten, Cramer wendet sich zuletzt beinah ausschließlich zum Kirchenliede, und selbst der sanfte Gellert tritt plötzlich geharnischt gegen die Deisten auf. Allein es war mehr eine versuchte Vermittelung als ein offener Kampf. Sie fochten nicht mit den unmittelbaren Waffen der Religion, sondern wollten durch die poetischen Schönheiten derselben bekehren; ja Cramer hielt den Freigeistern die Bibel als »ein Werk des Geschmacks« vor, deren Betrachtung eine »Andacht des Witzes und einer regelmäßigen Einbildung« sei.


Diese Richtung, so unscheinbar und verschleiert sie beginnt, hat doch in ihren allmählichen Entwickelungen und Konsequenzen unsere ganze moderne Literatur revolutioniert. Sie erscheint sehr bald schon als entschiedenes Ästhetisieren des Christentums, laviert dann eine Zeitlang zwischen dem Kreuzfeuer einer sublimen Sentimentalität und des unsterblichen groben Menschenverstandes, beiden sich biegsam akkommodierend, bis endlich im siegreichen Fortgange das ursprüngliche Verhältnis völlig umgekehrt, das bisherige bloße Mittel [700] zum Zweck und an die Stelle der Religion die Kunst gesetzt wird, die nun allein das Christentum vertreten und die Erziehung des Menschengeschlechts übernehmen soll. Je näher wir aber nun dem unmittelbaren Kampfplatze rücken, um so schroffer, schärfer und rascher wechseln die Gegensätze; die sich kreuzenden Intentionen und Interessen werden komplizierter und verworrener und die unendlichen Staubwolken, die sie aufwühlen, immer dichter. Wir müssen uns daher, um den Faden nicht zu verlieren, notwendig darauf beschränken, aus dem großen Geistergetümmel nur die führenden Momente möglichst klar hervorzuheben.

Herder (1744–1803) war der erste eigentliche Ästhetiker des Christentums. In seinen frühesten und bedeutendsten religiösen Schriften: in der »ältesten Urkunde des Menschengeschlechts«, im »Geist der hebräischen Poesie« und in den »Briefen über das Studium der Theologie«, entschleiert er mit einem seiner Intention vollkommen entsprechenden und bis dahin unerhörten Glanz und Aufschwung der Sprache nicht sowohl das göttliche Geheimnis als vielmehr dasmenschlich Große der heiligen Schriften, er lehrt nicht Religion, sondern zeigt nur, wie schon sie sei, und vindiziert David und den Propheten auch alsDichtern den Vorrang über die Poesie des klassischen Altertums. Aber er beschränkte sich hierbei nicht auf die heiligen Schriften. Wie Brockes vor ihm fast kindisch versucht, hat Herder in einem höheren und umfassenderen Sinne in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« den religiösen Glauben zugleich auch aus der Schönheit der äußern und der Menschennatur zu interpretieren unternommen. »Gang Gottes in der Natur« – sagt er dort – »die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat, sie sind das heilige Buch, an dessen Charakteren ich buchstabiert habe und buchstabieren werde. Überall hat uns die große Analogie der Natur auf Wahrheiten der Religion geführt, und diesen Weg verfolgend, sehen wir zuletzt das dunkelstrahlende Licht als Flamme und Sonne aufgehen. –« Es ist dieselbe ganz außerordentliche Empfänglichkeit und poetische Divinationsgabe, die auch seine »Stimmen der Völker« hervorgerufen: gleichsam eine Generalkarte der Poesie, welche die poetischen Individualitäten aller Zeiten und Völker der Erde in ihren Volksliedern nachweist. Und diese Universalität der Weltbetrachtung führte gleichzeitig auch noch in [701] anderer Richtung zu einer literarischen Erscheinung, auf die wir später, wo sie sich selbständig entwickelt, noch einmal zürückkommen müssen.

Man sieht und fühlt es überall unwillkürlich heraus: Herders Christentum war weniger Sache der Erkenntnis als der Phantasie, mehr eine poetische Mythologie der Religion als ein tieferes Eindringen in die ewigen Grundlagen dieser Mythologie. Daher sinkt er, wo es unmittelbar ein solches Eindringen galt, in seinen Kirchenliedern, ungeschickt bis zur trocknen Nüchternheit herab; daher sehen wir ihn im zunehmenden Alter, als die jugendliche Schnellkraft der Phantasie versagte, immer mehr der rationalistischen Aufklärung verfallen und schmerzlich an sich selber irre werden. Auch dürfen wir es uns nicht verhehlen, daß er in seinen Völkerstimmen häufig den wahren Klang verfehlt und namentlich in der Übertragung des spanischen Volksepos vom »Cid« diese felsenkantige Heldengestalt mannigfach abgemeißelt und modernisiert hat. Aber man vergesse nicht, wie verknöchert damals die Theologie und wie gelehrt und pedantisch die Poesie von ihrem volkstümlichen Urquell abgewendet war. Und so hat denn Herder jedenfalls, worauf es zunächst ankam, nach beiden Richtungen hin einen erfrischenden Hauch gebracht, der noch jetzt belebend fortwirkt; ein unvergängliches Verdienst, das wir dankbar anerkennen sollen.

Dieselbe Anerkennung aus demselben Grunde verdient Klopstock, und zwar in so höherem Maße, als Herder eigentlich nur Nachdichter, Klopstock aber selbständig schöpferisch und also unendlich wirksamer war. Klopstock hat, was die besten seiner Zeitgenossen dunkel wollten, das von allen geahnte Morgenrot heraufbeschworen, er hat in der Tat die deutsche Poesie innerlich und äußerlich neugeschaffen, indem er ihr einen ewigen Inhalt und eine strenge würdige Form wiedergab. Er hatte zuerst den Mut, sie aus der trostlosen Verwirrung des Unglaubens und des gelehrten Aberglaubens auf ihren natürlichen Ursprung: auf Religion und Vaterlandsliebe, zurückzuweisen; und es lag nur in dem allgemeinen Mißverhältnis der einzelnen Menschenkraft zu so hohen Intentionen, wenn er sein großes Ziel nicht vollkommen erreichte.

Auch Klopstocks Christentum (wie sich hier überall von selbst versteht: als literarische Erscheinung) ist, gleich dem Herderschen, ein ästhetisches und spezifisch protestantisches, [702] indem es mit mehr oder minder poetischer Willkür, dem subjektiven Emanzipationsprinzip des Protestantismus gemäß, lediglich auf die schwanke Spitze des individuellen Gefühls gestellt wird. Seine Messiade sollte ein National-Epos werden; aber sie ist beides nicht geworden, weder ein Epos noch wirklich national, eben durch jene rein subjektive Auffassung. Denn das Epos ist, seiner eigentümlichen Natur nach, die Darstellung einer allgemeinen Weltanschauung, wo, wie in der Weltgeschichte, die Tatsachen reden und das Individuum demütig zurücktritt. Der Gegenstand der Messiade ist ungefähr derselbe wie in Eschenbachs Parzival: das göttliche Erlösungswerk. Allein Eschenbachs Epos ruht auf dem festen Grunde eines von der Zeit getragenen allgemeinen Glaubens, dessen symbolischer Typus nur der persönliche Parzival ist, während in der Messiade der Glaube gleichsam erst wieder neu aufgefunden werden muß. Daher dort alles objektiv, hier alles ideal: ein abstrakter Himmel und die bloße Rhetorik gestaltloser Engel und Dämonen, aus protestantischer Unkenntnis oder Abneigung aller altkirchlichen Tradition entkleidet, womit uns z.B. Dante so gewaltig durch Himmel und Hölle führt. Daher bei Dante und im Parzival lauter Handlung und in der Messiade lauter Empfindung und endlose Reden über diese Empfindung, mithin das Elegische vorwaltend. Ja selbst die Teufel werden hier rührend, und es ist bekannt, daß die Damen in zärtlicher Sorge den Dichter bestürmten, den liebenswürdigen Teufel Abadona am Ende des Werkes noch zu begnadigen. – Gleich wie demnach die Messiade kein Epos, so ist auch ihre Form nichts weniger als national. Wir geben gern zu, daß die Poeten vor Klopstock größtenteils triviale Reimschmiede waren, als sei der Reim nicht der Poesie wegen, sondern die Poesie nur um des Reimes willen da. Aber nicht der Reim war daran schuld, sondern die allgemeine Gedankenlosigkeit der Zeit. Es ist überhaupt ein seltsames Mißverständnis, die Poesie einer Nation von ihrer eigentümlichen Form, als etwas ganz Zufälligem, trennen zu wollen; beide gehören notwendig zueinander wie Leib und Seele und geben eben zusammen erst die Poesie. Und so ist denn auch der Reim so alt wie die deutsche Dichtung und hat durch alle Zeiten melodisch fortgetönt bis auf den heutigen Tag. Es war daher die eigentliche Aufgabe Klopstocks, ihm belebend seine uralte nationale Bedeutung und Würde wiederzugeben, anstatt ihn [703] in vornehmer Verachtung fortzuwerfen. Jedenfalls aber war der dafür gewählte Hexameter ein störender Mißklang und nur den Gelehrten verständlich und genehm.

Derselbe Grundirrtum hat auch seine Dramen verdorben. In seinen sogenannten Bardieten wird ebenso willkürlich ein ungermanisches Altertum mit ganz unhistorischen Druiden und Barden improvisiert und in einem Tränenbade von Empfindsamkeit bis zur völligen Unkenntlichkeit verwaschen. Gleich wie man damals die Religion auf ein angebliches Urchristentum zurückführen wollte, so ist hier das Deutschtum ohne irgendein Mittelglied an eine fabelhafte Urwelt geknüpft, die niemals war, und an eine nordisch-heidnische Mythologie, die niemand kannte. Es gibt wohl in der ganzen deutschen Literatur kaum etwas Unmöglicheres als diesen Klopstockschen Hermann in der »Hermannsschlacht«, ein weinerlicher Held, der nichts tut, als von dem, was er tun sollte, seine Thusnelda zärtlich unterhalten, und in einer wunderlich verzwickten Senecaschen Lapidarsprache mit dem Munde Schlachten liefert. Gleichwohl war die großartige Vaterlandsliebe, die diesen dramatischen Versuchen zum Grunde lag, etwas so unerhört Neues, daß sie ganz Deutschland aufrüttelnd elektrisierte und überall mannigfachen Widerhall weckte. Aus allen Gauen brachen plötzlich mit wütendem Schlachtgeschrei langbärtige Barden hervor, die Klopstocks Vaterländerei karikierten und unter denen Kretschmann als »Ringulph« am lautesten brüllte.

Das Wahrste in Klopstocks Dichtung sind seine Oden. In der Lyrik ist diese subjektive Gefühlspoesie in ihrer angeborenen Heimat und daher fast überall hinreißend, erschütternd oder erhebend. Nur daß auch hier das fremde antikisierende Idiom oft hemmend einwirkt und, wie bei Herder, namentlich das eigentliche Kirchenlied zerstört hat. Wer könnte auch nach alkäischem Versmaß künstlich skandierend beten? Ohne Zweifel ist durch solche Stilexerzitien unsere Sprache reinlicher, geschmeidiger und marmorglatter geworden; ob und was aber unsere Poesie dabei gewonnen, wäre noch eine andere Frage. Das gelehrte Silbenstechen, hinter dem sich das hohle Pathos so bequem verbirgt, ist eben nicht mehr wert und jedenfalls noch unpopulärer als die Schmetterlingsjagd nach Reimen.

Klopstocks reiche Erbschaft ist an die deutsche Dichterfamilie bis in die entferntesten Verwandtschaftsgrade verteilt [704] und versplittert worden. Das Bardengebrüll zwar, als bloße Modenarrheit, hatte sich bald heiser geschrien und wieder verloren. Um so eifriger aber wurde das antike Wesen von den nachfolgenden Odisten übernommen und gepflegt, um die eigene Armut damit anständig zu dekorieren. Unter ihnen ist J.A. Cramer der zarteste, Voß der gröbste und Ramler der eigentliche Virtuos dieser fremden Lyra. Auch der von Klopstock angeregte Patriotismus verwandelte bei den Epigonen seine ursprüngliche Gestalt und Bedeutung. Klopstock hatte Deutschland gemeint; aber es gab kein Deutschland, sondern nur Viele kleine Vaterländchen von Schwaben, Österreichern, Preußen, Katholiken, Lutheranern und Kalvinisten, die alle einander feindnachbarlich haßten. Vergeblich strebte Klopstock, und nach ihm der Wiener Jesuit Denis, über allen das alte Kaiserliche Banner wieder aufzupflanzen: das morsche heilige römische Reich, es hielt nicht mehr zusammen. In dieser Not hatten sich daher die meisten, wie Gleim, Ewald von Kleist, Ramler etc., endlich zu einem gemeinschaftlichen Kultus um die Heldengestalt der Zeit, um Friedrich II., zusammengeschart. Aber der große König, der kein Deutsch verstand, verachtete sie; und Liebe ohne Gegenliebe ist nie von gesegneter Dauer. So rächte es sich, daß Klopstock, die große Vergangenheit und alle nationalen Erinnerungen verschmähend, den Patriotismus unmittelbar an ein ideales Ur-Vaterland knüpfen wollte.

Von mächtiger Einwirkung dagegen, und die ganze Physiognomie unserer modernen Poesie bis auf den heutigen Tag bestimmend, war die von ihm emanzipierte und kühn an dem Höchsten im Menschen geschulte Empfindsamkeit. Die hausbackene Verständigkeit hatte sich nämlich damals soeben breit und gemächlich zu Neste gesetzt, um das Menschheitswohl auszubrüten, als ihr Klopstock das Kuckucksei des subjektiven Gefühls unterzulegen wagte. Die Brutwärme war aber gar zu gering; und so fuhr ihnen in dem kalten Klima unversehens der Bastard der falschen Sentimentalität mit aus: das dem Wahren und Großen nicht mehr gewachsene Gemüt, auf das Unbedeutende, Gemeine, ja Nichtswürdige angewendet, die Affektation mit den bloßen Flittern der Poesie, jene unmoralische innere Lüge, wie sie fast ein Menschen alter lang durch die Teegesellschaften und Leihbibliotheken ging und in den unerschöpflichen Romanen von Lafontaine das Land verwässerte, [705] während sie in Tiedges Urania sogar vornehm wurde und den philosophischen Katheder bestieg.

Ohne Gefühl oder, wenn man es so nennen will: ohne Empfindsamkeit, gibt es freilich begreiflicherweise überhaupt keine Poesie, denn das dichterische Gefühl ist eben die potenzierte Fähigkeit, das Große, Wahre und Schöne zu empfinden. Das Gefühl allein ist indes hiernach nichts an sich, es lebt, wie eine biegsame Liane, nur mit und in seinem Objekt, von dem es erst seine Bedeutung und Weihe oder seine Lächerlichkeit empfängt. Gleich wie aber im Körper, wenn die natürliche Harmonie der einzelnen Organe gestört ist, sich oft die verkehrtesten Appetite und Gelüste selbständig hervortun, so ist auch die Sentimentalität nur eine Verstimmung und Krankheit der Poesie, indem sie, wie bei einer Straßburger Gans, das Gefühl auf Kosten der anderen Seelenkräfte einseitig und monströs auffüttert und herausbildet und, je nach der Verschiedenheit des Gegenstandes ihrer absonderlichen Liebhabereien, die verschiedensten Grade und Abarten aufweist.

Auch hier, wie fast überall, hat Goethe den rechten Mittelpunkt getroffen. Der Inhalt seines Werther ist nicht dies oder jenes zufällige Symptom, sondern der eigentliche Grund der ganzen Krankheit, eben jenes unordentliche Überfüttern des subjektiven Gefühls, des »wie ein krankes Kind gehaltenen Herzchens«, dem sich Liebe, Ehe, Tatenberuf und der ganze Weltgang als nichtig und völlig unberechtigt akkommodieren und beugen soll. Ja, Gott selbst soll den kranken Jüngling mit verhätscheln helfen und vom Christentum für ihn eine besondere Ausnahme machen, da nur die um den Sohn Gottes sein sollen, die der Vater ihm gegeben hat, »ihm aber sein Herz sagt, daß ihn der Vater für sich behalten wolle«. In diesem merkwürdigen Romane ist, wie nirgend sonst, der Kampf dieses krankhaften Gefühls mit der Wirklichkeit wie ein Prozeß meisterhaft und mit der klarsten Besonnenheit bis zu seinen äußersten Konsequenzen hindurchgeführt und schließt mit wahrhaft poetischer Gerechtigkeit, da der Held nicht an Lotte, nicht an »den fatalen bürgerlichen Verhältnissen«, sondern an der allgemeinen Unmöglichkeit der eingebildeten Alleinherrschaft des überhobenen Gefühls zuletzt durch unvermeidlichen Selbstmord zugrunde geht. – Der Siegwart von Martin Miller erscheint dagegen nur wie eine abgeblaßte Karikatur Werthers, indem er, anstatt einer wenngleich falschen Weltansicht, sich [706] zahm und übergenügsam lediglich in das Schneckenhäuschen der Geschlechtsliebe zurückzieht, das er nun, mühsam und mit seinen Fühlhörnern fast blödsinnig umhertastend, durch mehrere Bände mit sich fortschleppen muß. Hier fängt die Krankheit gleich mit dem Tode an: der ganze Lebenslauf des Helden ist ein bloßes Verschmachten. Erst will er aus idyllischer Grille Mönch werden, da bringen ihn die Blicke seiner Marianne, die ihn im Konzert »bei einem Triller so schmachtend und bedenklich ansah, daß ihm die Tränen in die Augen schossen«, plötzlich auf Heiratsgedanken; dann wieder, da Marianne von ihrem barbarischen Vater in ein Kloster gesteckt wird, wendet er abermals sein Inwendiges um, wird nun wirklich Mönch, hängt ganze Stunden lang mit den Augen am stillen Mond und schreibt melancholische Episteln an Gott und seinen Engel Marianne, bis der verliebte Kapuziner endlich auf ihrem Grabe aus seinem langweiligen Dasein in das glückselige Land hinüberscheidet, »wo gekränkte Zärtlichkeit und Menschheit keine Tränen mehr vergießen«. Und das sollte ausdrücklich, dem selbstmörderischen Werther gegenüber, das Bild einer tugendhaften Liebe vorstellen! Uns aber kommt vielmehr der ganze Rührbrei mit seinem ewigen Mondschein, Tränenseufzern und Liebestrillern jetzt nur wie eine sehr ergötzliche Parodie der Sentimentalität vor, und die feierlichen Illustrationen Chodowieckis dazu, der dabei offenbar den Schalk im Nacken hatte, verstärken noch den komischen Eindruck.

Sehr berühmt und beliebt in dieser Mondscheinprovinz war auch der Schweizer Geßner. Rousseau war damals soeben mit seinem imaginären Heer von Wilden in die überbildete Sozietät eingebrochen und hatte durch seine angeblichen Urgefühle und Urtugenden allerdings die Sentimentalität bedeutend vorbereitet und vertieft. Der wohlgezogene Geßner suchte nun, bis zum »ersten Schiffer« und auf den »Tod Abel's« zurückgreifend, diese wilde Urwelt durch moderne Empfindsamkeit zu zähmen und anständig zu frisieren. Seine Idyllen haben daher durchaus etwas Theatralisches; die Dekorationen, wie sie ihm sein schönes Vaterland vormalte, sind zum Teil vortrefflich, wenn nur keine Menschen dabei wären und alles zu bloßer Komödie machten. – Diese Dekorationsmalerei ist später von Salis, Kosegarten und Matthisson als selbständiges Metier aufgenommen worden; von Salis am naturwahrsten; [707] am pomphaftesten mit forcierten Knalleffekten und nicht ohne einiges verspätete Bardengebrüll dazwischen von Kosegarten, während der elegante Matthisson die Landschaft sauber kräuselt und mit antiken Tempelchen und melancholischen Burgruinen verschnörkelt, dann alles mit griechischem Lavendelwasser überwaschend und wieder retuschierend, bis am Ende nichts übrigbleibt als eitel Lüge. Unter ihnen ist ohne Zweifel Hölty der unschuldigste und liebenswürdigste, und dem edlen Ursprung der Sentimentalität am getreuesten geblieben. Seine Empfindung ist in dem kleinen Kreise, den sie umfaßt, durchaus wahr, seine Natur wirklich in stilles Abendrot versenkt, seine ganze Poesie eine wehmütige Todesahnung.

Aus diesem Naturkultus und jener fabelhaften Urwelt haben Voß und Lafontaine die Sentimentalität endlich in das Familienleben der Gegenwart eingeführt und glücklich unter Dach und Haube gebracht. In Voß' »Luise« hat sich die Heimatlose, der dünnen Mondscheinkost überdrüssig, bei den Fleischtöpfen der »wirtlichen Hausfrau« behaglich zur Ruhe gesetzt und lehrt in Schlafrock und Pantoffeln salbungsvoll die Philosophie des Philistertums. Bei Lafontaine dagegen wird die Werthersche Abgötterei mit dem kranken Herzchen weitläufig zu einer praktischen Religion ausgesponnen, die alle Sünde mit Tränen, nicht der Reue, sondern der gekränkten Weichlichkeit, rein wieder abwäscht. Ein oder zwei überaus zärtliche Liebespaare, ein polternder Bramarbas von Husarenobersten und Onkel, der betrogen, und ein kindischer Papa, der gerührt wird, bilden die stehende Mythologie dieser Romane, die längst vergessen sind, aber fast ein Menschenalter hindurch als Hauspostille in keiner Familie fehlen durften und das ohnedem konfuse Gewissen der Gebildeten noch unendlich konfuser machten.

Neben diesen Kohlgärten hatte indes das Gefühl, das Klopstock wieder geltend gemacht, sich andere, mächtigere Bahnen gebrochen. Die dadurch erhöhete Stimmung ernsterer Gemüter konnte unmöglich weder mit dem trockenen Buchstabenglauben der Orthodoxen noch mit der ordinären Freidenkerei Voltaires sich dauernd zufriedenstellen. Und so sehen wir den aus Klopstocks Schule hervorgegangenen Stolberg, nachdem er lange mit der Zeit und mit sich selbst gerungen, sich plötzlich und gänzlich von jenen Abgründen zurückwenden und mit einem in solchen Dingen allein entscheidenden [708] Mute Freundschaft, häusliche Ruhe und Schriftstellerruhm an seine Überzeugung setzen. In diesem Sinne schreibt er im Jahre 1819 an Fouqué über das »Kunstgeschwätz, welches in atheistischem Sinne dem Menschen einräumen will, was eine Gabe Gottes ist. Diese Schwätzer fühlen nicht, und können nicht fühlen, wie sehr sie den Menschen, das Göttliche in ihm verleugnend, erniedrigen. – Kraftvolle Darstellung wahrhaft adeliger, durch Religion geheiligter Gesinnung, in welcher Kraft von der Selbstverleugnung ausgeht und dann in Demut einhergehet, welche im Vertrauen auf Gott den höchsten Heroismus gibt, dessen bedarf es nur.« – Aber die gesteigerte Empfindsamkeit, unmittelbar auf die Religion bezogen, erzeugte zugleich auch einerseits die angespannte Verstiegenheit der seraphischen Odisten, die Klopstock noch überfliegen wollten und von dem himmlischen Konzert nur die Posaune kannten; und andrerseits den Pietismus, der nur eine anders formulierte Sentimentalität ist.

Weit über allen festen Boden hinaus erhob Lavatern ein mystisches Ahnungsvermögen und eine Glaubenskraft, die fast zur Leidenschaft wurde. Unmittelbare Gemeinschaft mit der Gottheit ersehnte er. »Meine Seele«, schreibt er 1777 an Gaßner, »dürstet nach einem lebendigen Zeugen des lebenden Jesus. Ich bedarf nichts wenigeres als einen unmittelbaren Jesus. Mit Wort und Schall kann ich mich nicht mehr begnügen.« Und dieser Gesinnung gemäß sagt er (Handbibliothek für Freunde, 1791): »Ich halte den konsequenten Katholiken für eines der verehrungswürdigsten und seligsten Produkte der Menschheit, für das wundervollste Wunder – könnt ich nicht mißverstanden werden, ich würde die Hyperbel wagen zu sagen, für einen anbetungswürdigen Anbeter. Welche Kraft und welche Demut, welche Erhöhung und welche Vernichtung seiner selbst vereinigen sich in ihm!« – Ebenso schrieb er an Stolberg: »Ich verehre die katholische Kirche als ein altes, reichbeschnörkeltes, majestätisches, gotisches Gebäude, das uralte, teure Urkunden bewahrt. Der Sturz dieses Gebäudes wurde der Sturz alles kirchlichen Christentums sein.«

Fragt man nun, warum denn ein solcher Mann, bei dieser Gesinnung und bei seiner redlichen und unerschrockenen Offenheit, nicht wirklich katholisch geworden, so antwortet er selbst darauf in seinem Briefe an Stolberg vom 5. April 1800: »aus Abscheu vor der Intoleranz und vor der anmaßenden [709] Unfehlbarkeit der katholischen Kirche.« Allein diese rücksichtlich der Kirche von ihm offenbar mißverstandene Unfehlbarkeit hat er doch für seine eignen religiösen Meinungen unbedenklich und vielfach selbst in Anspruch genommen; denn »des Menschen Überzeugung ist sein Gott«, sagt er in demselben Briefe. Der Grund lag vielmehr ohne Zweifel tiefer, als er selbst es wußte. Die Idee eines leiblich gegenwärtigen Gottes war die Aufgabe seines Lebens und, da er sie nicht in der Kirche suchte, seine Krankheit. Es lag darin, daß er die von ihm so inbrünstig ersehnte fortwährende Offenbarung nicht, wie die Kirche in der Eucharistie, als eine allen Christen gemeinsame erfaßte, sondern in allen Lebensmomenten als ein spezielles Wunder an seiner Person allein erfahren wollte; eine Erwartung und Begierde, die gegen sein Lebensende immer ängstlicher und ungestümer wurde. Nicht ohne Grund vielleicht verglich daher sein Freund Cuningham diese stete Begier nach mehrerer Offenbarung mit Thomas' Zweifeln. – Und so wollen wir denn gern seine eigenen versöhnlichen Worte auf ihn selber anwenden: »Religion ist Gottes Verehrung nach dem Lichte, das jedem gegeben ist. Gott erntet nicht, wo er nicht gesäet hat, und sammelt nicht, wo er nicht hingelegt hat.«

Was Lavatern bedeutend macht, der heroische Glaube und die Idee einer ununterbrochenen göttlichen Offenbarung, sehen wir dagegen bei Jung-Stilling in extremer Einseitigkeit fast schon in Karikatur umschlagen. Sorglos studiert dieser in Straßburg fort, ohne zu wissen, wovon er morgen leben soll, denn Gott, weil er ihn darum gebeten, wird und muß ihm zur rechten Zeit weiterhelfen. Die flüchtige Äußerung eines ihm bis dahin beinah gänzlich unbekannten hysterischen Mädchens ist ihm eine göttliche Eingebung, und im Vertrauen darauf schließt er sofort mit ihr eine nachher gleichwohl übelgeratene Ehe. – Jener Offenbarungsglaube liegt nicht nur seiner Selbstbiographie (Heinrich Stilling's Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft, 1778) zum Grunde, sondern wird auch in seinen Romanen (Theobald, Herr von Morgenthau etc.) in allen Verzweigungen mannigfach variiert. Wir sind weit davon entfernt, die göttliche Leitung jedes einzelnen und die Kraft des Gebetes zu bezweifeln. Aber wäre Gottes Hand so sichtbar, wäre sie außer dem Bereich des Gewissens und der von ihm eingesetzten Heilmittel der Kirche überall auch in weltlichen [710] Dingen so unmittelbar stoßend, diktierend, so hätten wir eben keine Tugend mehr, sondern eitel Fatalismus. Und diesem Fatalismus verfiel allerdings auch Stilling eine Zeitlang. Selbst beim Beten, sagt er, habe ihm der Zweifel ins Ohr gelispelt: »Dein Beten hilft nicht; denn was beschlossen ist, geschieht.« Ebenso kann jener Glaube, da die göttliche Führung doch nur vermittelst unserer eigenen inneren Regungen, Wünsche und Stimmungen wirksam sein soll, menschlicherweise sehr leicht zur Selbsttäuschung oder zu einem geistlichen Hochmut führen, der sich in dieser unmittelbaren Familiarität für ein besonders auserlesenes Werkzeug Gottes hält; und es klingt wenigstens sehr bedenklich, wenn Stilling von einer frommen Gemeinde von »Stillingsfreunden« spricht oder uns erzählt, daß er und seine Frau zuweilen auf der Reise wie Engel Gottes aufgenommen worden und daß die Vorsehung etwas ganz Sonderbares und Großes mit ihm vorhaben müsse. – Nur wer durch vollkommene innere Heiligung seine Seele zum reinen Spiegel Gottes gemacht, mag ohne Täuschung darin lesen und Wunder erfahren, ja selber Wunder tun. Den Ernst dieser Bedingung und seine Ohnmacht, sie vollkommen zu erfüllen, fühlte der redliche Stilling in seinen stillsten Stunden gar wohl; daher oft seine tiefe Schwermut. »Wenn die Qual der Verdammten in der Hölle«, sagte er einst zu seiner Frau, »auch nicht größer ist als die meinige, so ist sie groß genug.« Und eben dieser durch sein ganzes Leben gehende Schmerz, der nur hohe Seelen heimsucht, macht seine Erscheinung so rührend und belehrend. Gleichwohl sind er und Lavater die unfreiwilligen Begründer jenes modernen exklusiven Pietismus geworden, der bis heut in seinen visionären Abirrungen sich als eine Mission Auserwählter geltend machen will.

Weit entfernt von dieser Unruhe, von diesem Schwanken zwischen Angst und maßlosem Vertrauen, ist Matthias Claudius, der wackere Wandsbecker Bote, der zwischen Diesseits und Jenseits unermüdlich auf und ab geht und von allem, was er dort erfahren, mit schlichten und treuen Worten fröhliche Botschaft bringt. Er gehört allerdings zu den Pietisten jener Zeit, insofern auch bei ihm ein starkgläubiges Gefühl den Kampf gegen Unglauben und toten Buchstabenglauben aufgenommen, aber er ist durchaus heiter und erscheint unter ihnen wie einer, der gefunden hat, was jene so rastlos suchen. Wie der Abendglockenklang in einer stillen Sommerlandschaft, wenn [711] die Ährenfelder sich leise vor dem Unsichtbaren neigen, weckt er überall ein wunderbares Heimweh, weiß aber mit seinen klaren Hindeutungen dieses Sehnen, wie schön oder vornehm es in Natur oder Kunst sich auch kundgeben mag, von dem Ersehnten gar wohl zu unterscheiden. Denn »der Mensch«, sagt er, »trägt in seiner Brust den Keim der Vollkommenheit und findet außer ihr keine Ruhe. Und darum jagt er ihren Bildern und Konterfeis in dem sichtbaren und unsichtbaren Spiegel so rastlos nach und hängt sich so freudig und begierig an sie, um durch sie zu genesen. Aber Bilder sind Bilder. Sie können, wenn sie getroffen sind, sehr angenehm täuschen und überraschen, aber nimmermehr befriedigen. Befriedigen kann nur das Wesen selbst, nur freies Licht und Leben – und das kann niemand geben, als der es hat.«

Man sieht, der Hergang dieser geistigen Bewegungen ist ein natürlich historischer. Die Achtung vor dem Alten war vernichtet, und das Neue befriedigte nicht; so entstand, in der Schwebe zwischen beiden, bei der Majorität die Gleichgültigkeit, der Indifferentismus. Die noch übrigen religiösen Gemüter machten daher Reaktion: es kam der Pietismus, d.i. die Revolution des Gefühls gegen den Verstand. Allein das Gefühl ist auch nur ein Faktor des religiösen Glaubens, und sie hatten demnach nur eine Einseitigkeit statt der anderen. Der Pietismus setzt das Positive, die göttliche Offenbarung, aus der Kirche in die Menschenbrust; jeder soll seine eigene Offenbarung, gleichsam sich selber Kirche sein. Und da das Gefühl an sich flexibler und ausschweifender ist als der Verstand, so hat der Pietismus die unsinnigsten und frevelhaftesten Sekten und namentlich in der Poesie, in deren Gebiet er, seiner Natur nach, stets unverständig hinüberspielt, einerseits die pantheistischen Dithyramben, andrerseits die schafmäßigen Liebesseufzer vom Lämmlein Jesulein ausgeboren. Dieser Pietismus ist den Katholiken ganz fremd, ja unmöglich; er ist von spezifisch protestantischem Charakter und, da die Extreme immer nur wieder die entgegengesetzten Extreme provozieren, wohl am wenigsten geeignet, wie manche noch immer sanguinisch hoffen, jemals eine wahrhafte Versöhnung der Konfessionen herbeizuführen.


Aber die halb zaghaften Versuche des Pietismus, wo es das Höchste im menschlichen Leben galt, dieses unsichere Umhertasten [712] des bloßen Gefühls nach dem Lichte, konnte zwei mächtigeren Geistern nicht genügen, die schon damals das Saatkorn einer neuen Zeit für die Nachwelt ausgeworfen; wir meinen: Lessing und Hamann.

Lessing ist, auch schon seiner Lebenszeit nach (1729–1781), hier zuerst zu nennen. Er hatte das zweischneidige Schwert der Kritik, das der Protestantismus in die Welt gelegt, mutig aufgenommen, aber nicht um des Protestantismus willen, sondern umneue Bahnen zu brechen. Denn so lose, falb und ungewiß, das fühlte er tief, durfte das deutsche Wesen nicht länger hängenbleiben; alles Halbe war ihm in den Tod verhaßt. Der Hochwächter seiner Zeit, wie ihn Gervinus nennt, klopfte er an Hütten und Paläste, rüttelte unbarmherzig Unglauben wie Aberglauben, den eigensinnigen Hochmut und die weichlichen Träumer auf und zwang die Welt, in den Dingen sich so oder so zu entscheiden. Und den gemeinen Schwindel kannte er nicht; auf den unwirtbarsten Höhen, wo anderen die Sinne vergehen, atmete er nur um so frischer auf.

Vor allem begann er damit, in der totalen Verwirrung die ungehörig verschwommenen Elemente der Bildung zu scheiden und zu ordnen. So löste er auch die Poesie aus ihren damaligen Banden französischer Altklugheit, sie sollte fernerhin weder der Moral noch dem Verstande dienen, ihre eigene Schönheit sollte ihre einzige Berechtigung sein. Schon damals, der herrschenden Modebegeisterung entgegen, ignorierte er den Ossian und rühmte Shakespeare, den noch niemand kannte.

Es konnte nicht fehlen, ein solcher Mann mußte die tiefste Bewegung der Zeit, die religiöse, auch am mächtigsten erfassen. In dieser Beziehung sind seine »Wolfenbüttler Fragmente« und »die Erziehung des Menschengeschlechts« besonders berühmt geworden. In den Fragmenten wird Christi Leben und Lehre als ein Versuch dargestellt, den Römern zum Trotz ein irdisches Messiasreich zu gründen, welcher Versuch, als er mißglückte, von den Jüngern dann in den Evangelien schlauerweise bloß geistig gedeutet worden sei. – Die andere Schrift dagegen nimmt die Offenbarung nicht für alle Zeiten geschlossen an, sondern als einen stufenweisen Akt der Erziehung Gottes, einstweilen an dem einzelnen Volke der Juden durchgeführt, weiterhin aber unausgesetzt über Christus hinausgehend.

[713] Wir wollen hier kein Gewicht darauf legen, daß Lessing selbst nur Herausgeber der Fragmente und der Erziehung des Menschengeschlechts ist; die ersteren werden nämlich dem Hamburger Reimarus, die anderen sogar von manchen dem bekannten Landwirt Albrecht Thaer zugeschrieben. Aber wenn man den ganzen Mann ins Auge faßt, fühlt man jedenfalls, indem er jene Schriften in die Welt sandte, konnte es seine Absicht nicht sein, der Richtung seiner Zeit zu schmeicheln, vielmehr dieser gradezu den Fehdehandschuh hinzuwerfen, um sie, seiner scharfen unverblendeten Natur gemäß, aus aller Schöntuerei und Halbheit kühn bis zu dem Kulminationspunkte zu treiben, wo es Christ oder Nichtchrist gilt; er wollte keine Scheinheiligkeit, er wollte keinen Scheinfrieden zwischen Vernunft und Religion. Er tat es – und das unterscheidet ihn himmelweit von seiner Zeit –, er tat es nicht aus eitler, frivoler Lust am Verneinen, sondern mit dem furchtbaren Ernst, der den Zweifel als eine blanke Waffe ergreift, um sich zu positiver Überzeugung durchzubauen. »Ich hungere«, sagte er von sich selbst, »nach Überzeugung so sehr, daß ich wie Erysichthon alles verschlinge, was einem Nahrungsmittel nur ähnlich sieht. – Die Inspiration der Evangelien ist der breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand herüber helfen, der tue es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn, er verdient einen Gotteslohn an mir.« Hiernach war er auch – wiederum ganz verschieden von seiner Zeit – weit davon entfernt, seine Zweifel für maßgebend oder für mehr als redliche Bestrebung auszugeben. »Ich besorge nicht erst seit gestern«, gesteht er schon im Jahre 1771, »daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zuviel weggeworfen habe. Es ist unendlich schwer zu wissen, wenn und wo man bleiben soll.«

Unsäglich aber haßte er insbesondere den flachen Rationalismus der »neumodischen Theologen«. »Man macht uns«, schreibt er an seinen Bruder, »unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte als an ihm (dem alten Religionssystem). Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, das man jetzt an die Stelle des alten setzen will, und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßte. Und [714] doch verdenkst Du es mir, daß ich das alte verteidige? – Ich bin von solchen schalen Köpfen auch sehr überzeugt, daß, wenn man sie aufkommen läßt, sie mit der Zeit mehr tyrannisieren werden, als die Orthodoxen jemals getan haben.« Das sind Worte, die heute noch ebenso schneidend treffen wie dazumal, und wie viele, die sich jetzt auf Lessing stützen, weil sie ihn nicht kennen, würden wieder das: kreuzigt ihn! über ihn ausrufen. Denn er dringt unerschrocken noch unmittelbarer vor, indem er ferner sagt: »Eine gewisse Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens beruht auf dem wesentlichen Begriff einer Offenbarung. Oder vielmehr die Vernunft gibt sich gefangen; ihre Ergebung ist nichts als das Bekenntnis ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist. Dies also, dies ist der Posten, in welchem man sich schlechterdings behaupten muß; und es verrät entweder armselige Eitelkeit, wenn man sich durch hämische Spötter hinauslachen läßt, oder Verzweiflung an den Beweisen der Offenbarung, wenn man sich in der Meinung hinauszieht, daß man es alsdann mit den Beweisen nicht mehr so streng nehmen werde.«

So ist es durchaus eine ernste tiefe Sehnsucht, die durch sein unruhiges Leben wie durch seine Schriften geht. Er ist ohne Zweifel der tragischeste Charakter unserer Literatur: wie er überall treu, offen und gewaltig nach der Wahrheit ringt und dennoch vom Dämon des Scharfsinns (wie Hamann es nennt) endlich überwältiget wird und an der Schwelle des Allerheiligsten unbefriedigt untergeht; aber sein großartiger Untergang ist für alle Zeiten eine belehrende Mahnung an alle, die da ehrlich suchen wollen.

Eine gleich hohe Erscheinung der deutschen Literatur war Hamann (1730–1788), wenngleich auf sehr verschiedenem Standpunkt. Wenn Lessing das religiöse Bewußtsein durch Kritik zu erobern suchte und von Zweifel zu Zweifel langsam, aber sicher vordrang, so war bei Hamann die Erleuchtung wie ein Wetterstrahl, der den Verirrten mitten in der Nacht eines fast verlorenen Lebens getroffen. Daher bei ihm, anstatt der Demonstration, das abgerissen Divinatorische, die überraschend tiefen Geisterblicke, die oft ganze nächtliche Landschaften plötzlich aufdecken und dann wieder versinken lassen, das Rhapsodische endlich und Dunkle, das ihm den Namen des nordischen Magus erwarb, das sich aber für den wohl aufhellt, [715] der seine Lebensaufgabe in ihrem vollen Umfange gefaßt hat. Diese Aufgabe aber war keine geringere als die Versöhnung von Glauben und Wissen durch ein höheres Erkennen, um von diesem Boden aus das geschmähte und verkannte Christentum mit Gedanken, Witz, Gelehrsamkeit und allen Waffen des Geistes zu verteidigen. Denn Vernunft und Schrift waren ihm in ihrem Grunde einerlei: Sprache Gottes. »Ich habe es«, sagt er, »bis zum Ekel und Überdruß wiederholt, daß es den Philosophen wie den Juden geht und beide nicht wissen, weder was Vernunft noch was Gesetz ist, wozu sie gegeben: zur Erkenntnis der Sünde und Unwissenheit – nicht der Gnade und Wahrheit, die geschichtlich offenbart werden muß und sich nicht ergrübeln noch ererben noch erwerben läßt. – Ohne Glauben sind Diät und Moral nichts als Quacksalbereien. – Der Glaube aber ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angriffe derselben unterliegen, weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen. – Das höchste Wesen ist im eigentlichsten Verstande ein Individuum, das nach keinem anderen Maßstabe, als den es selbst gibt, und nicht nach willkürlichen Voraussetzungen unseres Vorwitzes und unserer naseweisen Unwissenheit gedacht oder eingebildet werden kann. – Der Grund der Religion liegt in unserer ganzen Existenz und außer der Sphäre unserer Erkenntniskräfte. Daher jene mythische und poetische Ader aller Religionen. – Die Angst in der Welt ist der einzige Beweis unserer Heterogenität. Denn fehlte uns nichts, so würden wir uns in die Natur vergaffen, kein Heimweh würde uns anwandeln.«

Diese wenigen leuchtenden Züge dürften eben hinreichen, um klarzumachen, was er wollte. Um so mehr aber überrascht uns nach diesem unumwundenen Glaubensbekenntnis die Bemerkung, wie er dennoch zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion keinen anderen Unterschied findet als zwischen dem natürlichen Gehör und dem musikalischen Ohr und also ebenfalls der bloßen subjektiven Auffassung verfällt. Aber Glauben und Wissen, Verstand und Gefühl waren bei ihm gleich stark und zu übermächtig, um ineinander aufgehen zu können; es war ein riesenhafter Kampf, aber keine Versöhnung. Und so kehrt er in dem schmerzlichen Gefühl, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, häufig die Waffen gegen sich selbst und spielt mit oft herzzerreißenden Witzen über dem[716] großen Rätsel der Welt und seinen eigenen Seelenabgründen. Hamann ist ein philosophischer Humorist, und Claudius sagt treffend von ihm: »Er hat sich in ein mitternächtliches Gewand gewickelt; aber die goldenen Sternlein hin und her im Gewande verraten ihn und reizen, daß man sich keine Mühe verdrießen läßt.«


So hatte also Klopstock das Gefühl aus dem Schutt der Zeit wieder emporgehoben, die Sentimentalität aber sofort dem Gefühle eine krankhafte Empfindlichkeit angeheftet. Hamann hatte einen poetisch religiösen Urzustand mehr angedeutet als umschrieben und der Welt ein großes Rätsel aufgegeben, das jeder nach dem Maß seines Verstandes oder Unverstandes lösen zu können meinte. Endlich hatte Lessing, alle moderne Bildung zusammenfassend, ihren eigentlichen Elementargeist: den Protestantismus, gar wohl erkannt, und mit unbarmherzigem Scharfsinn aus allen seinen Verstecken bis zu seinen extremsten Konsequenzen getrieben, um, wie er selbst sagt, widerlegt zu werden. Allein die blödsinnige Zeit nahm die verwegene Herausforderung nicht an; sie nahm vielmehr mit jener vermeintlich unbedingten Berechtigung des Zweifels die Reformation für abgeschlossen an. Die Reformation aber hat, wie wir schon oft bemerkt haben und immer wieder bemerken müssen, einen durch alle ihre Verwandlungen hindurchgehenden Faden: sie hat die revolutionäre Emanzipation der Subjektivität zu ihrem Prinzip erhoben, indem sie die Forschung über die kirchliche Autorität, das Individuum über das Dogma gesetzt. Lessing hat demnach wider Willen dieses Prinzip, das er eben in dem Kreuzfeuer der Zweifel erst erproben wollte, in der Tat nur verstärkt und verschärft; und seitdem sind alle literarischen Bewegungen des nördlichen Deutschlands mehr oder minder kühne Demonstrationen nach dieser Richtung hin gewesen.

So sehen wir gleich in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts plötzlich eine übermütige Prometheusjugend über die fein abgezirkelten Felder der Literatur hervorbrechen, alle Schranken der Kultur und Konvenienz tumultuarisch vor sich niederwerfend. Gleich wie man im Christentum das Positive abgetan, um eine natürliche sogenannte Vernunftreligion aus sich selbst herauszuspinnen, so sollte nun auch in der Poesie die unbedingte Freiheit des Subjekts selbständig walten; [717] seine ursprünglichsten, unmittelbarsten Kräfte: Ahnungsvermögen, Divination, Instinkt, kurz, das Dämonische in ihm, das, was man damals Genie nannte, sollte, im Gegensatze aller Tradition, eine ganz neue Schöpfung erzeugen, die ihr Gesetz in sich selbst trüge und originell sei, wie die Natur; der Mensch wurde nicht an einem Höheren über ihm gemessen, sondern die Welt an dem genialen Individuum, das sein eigenes Ideal war. Und so erhob sich denn, um dieses souveräne Subjekt von jeglichem Hemmnis zu befreien, sofort ein Kampf auf Tod und Leben gegen alle historischen Formen in Kirche, Staat, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst; Ossian und Shakespeare wurden als vermeintliche Naturalisten zu Hülfe gerufen, in Göttingen entstand unter talentvollen Jünglingen ein Bund für Urtugend und selbst ein Voß tanzte bei Mondschein um die Bundeseiche!

Darin hatte diese burschikose Jugend ohne Zweifel recht und ihre Mission erfüllt, daß sie in dem französischen Garten der Poesie die bunten Scherbenbeete, die so lange Blumen gelogen, zertrümmerte, daß sie die verschnörkelten Buchsbäume entwurzelte und die steinernen Götzenbilder mit den Gottschedschen Allongeperücken umwarf. Als es aber dann darauf ankam, das Neue zu schaffen, versagte der subjektive Gott, die Schönheit wurde nackte Sinnlichkeit, die Kraft Roheit, die Natur gemein; das geniale Unkraut wuchs ihnen unversehens und unaufhaltsam über die Köpfe, und der Garten verwilderte.

Wir erinnern hier nur an den Livländer ReinholdLenz (1750–92), der im »neuen Menoza« die Geschwisterehe zweideutig verschönert, in seinem »England« Freigeisterei und Wollust, »die den Himmel preisgibt für Armiden«, unverhüllt zur Schau trägt, in seinem »Hofmeister« die unnatürlichsten Verhältnisse auf das widerlichste verzerrt. Alle diese verworrenen Dramen sind in Stoff, Komposition, Gesinnung und Sprache durchaus anarchisch, und der unglückliche Dichter mußte zuletzt von sich selber sagen: seine Gemälde seien alle ohne Stil, wild und nachlässig aufeinander gekleckt; ihm fehle zum Dichter Muße und warme Luft und Glückseligkeit des Herrens, das tief auf den kalten Nesseln seines Schicksals und halb im Schlamm versunken liege und sich nur mit Verzweiflung emporarbeiten könne; er murre darüber nicht, weil er sich das alles selbst zugezogen. – Noch zügelloser gestaltet [718] sich bei Wilhelm Heinse jenes Prinzip zum unbedingten, genußsüchtigen Egoismus, der jeden moralischen Maßstab verwirft, nur daß hier alles in ein förmliches System gebracht und philosophisch gerechtfertiget werden soll. In seinem Romane »Ardinghello« wird, unter Umstürzung aller bisherigen barbarischen Gesetzgebung, eine sogenannte platonische Republik improvisiert mit Gemeinschaft der Güter und der Weiber, damit wenigstens Mann und Weib mit ihrer Liebe »heilig« und frei würden. Da jedoch eine solche Republik nicht immer zur Hand ist, so lenkt Heinse in einem anderen Romane:

»Hildegard von Hohenthal«, etwas praktischer ein und debütiert die Lehre, man müsse sich doch lieber der Welt einigermaßen akkommodieren, um desto sicherer den Lebenszweck: »Seligkeit auf dem Erdboden«, zu erreichen, welche in dem Sinn der Liebe oder, wie er es letztlich definiert, in dem Drange, ein Kind zu zeugen, bestehe. Und so wird hier überall die materiellste Sinnlichkeit in lyrischem Taumel zu einem in sich gerechtfertigten und notwendigen Naturdienst; Wollust und Andacht sind Schwesterkinder, Schönheit allein ist das Dasein der Vollkommenheit, die Ehe gilt als lebendiger Tod und vieltausendjährige Sklaverei.

Bei weitem der entschiedenste aber unter diesen Revolutionärs war Klinger, der selbst mit seinem Drama: »Sturm und Drang« dieser Periode den Namen gegeben. Stolz fragt er, was denn die ganze Geschichte anderes sei als eine Satire auf die Vorsehung, und warum man sie denn im Sinne der orthodoxen Theologie lesen solle? Der Mann von Kraft handle aus selbstgeschaffenen Grundsätzen nur aus sich selbst und wisse, daß er das Schicksal in sich beherrsche. Und dieser autokratische Mann von Kraft, d.i. im Grunde Klinger selbst, ist denn auch der eigentliche Held seiner Dichtungen. Er will in seinem »Giafar« als leibhaftiger kategorischer Imperativ die Übel und Gebrechen der Gesellschaft durch die Stärke der Vernunft heilen; im »Raphael de Aquillas« durch übermenschliche Resignation, im »Falkenburg« durch beständige ideale Wolkenflüge; während er in der »Neuen Arria« unmögliche Mannweiber gegen Hofkabale, im »Stilpo« den blutdürstigen Haß gegen fürstliche Mörder und Tyrannen aufruft. So ging er unverzagt an die Weltverbesserung in seinen zahlreichen Dramen und Romanen: lauter moralische Konflikte und Dissonanzen, wo riesenhaft aufgeblasene, unwahre Tugenden gegen [719] ebenso unwahre Laster, Einbildungen gegen Einbildungen wie Drachen mit Lindwürmern ringen; eine Ungeheuerlichkeit, die unfehlbar sich selbst parodieren würde, wenn er nicht durch den bitteren sittlichen Ernst, womit er die Lanze einlegt, oft tragisch an Don Quichotte gemahnte.

In diesem Sturme ist Schiller aufgewachsen und hat sein von ihm zerwühltes Jugendfeuer ebenso heftig und verheerend wie jene Starkgeister gegen alles Bestehende gewendet. Seine »Räuber« rebellieren gegen Familienleben und gesellige Kultur, »Kabale und Liebe« gegen Rang und Stand, »Fiesco« gegen den konventionellen Staat. In den »Räubern« ringt der flammenhauchende Drache Karl Moor mit dem giftigen Lindwurme Franz; in »Kabale und Liebe« eine fabelhafte Tugend des Spießbürgertums mit einer ebenso fabelhaften Niedertracht der Aristokratie, im »Fiesco« idealer Stoizismus mit idealem Egoismus; bis endlich Schiller im »Don Carlos« die ganze eigentliche Intention und Bedeutung jener Stürmer und Dränger in dem modernen Liberalismus seines republikanischen Marquis Posa zusammenfaßte und abschließend in eine andere Bildungsphase überging. So ist Schiller in seinen Anfängen überall namentlich dem Geiste Klingers so nahe verwandt, daß »die Spieler« des letzteren als Vorbild der »Räuber« dienen und umgekehrt wieder der »Fiesco« auf Klingers »Günstling« influieren konnte.

Zu dieser wilden Freischar zählt auch Schubart, der in seiner »Fürstengruft« jenen glühenden Zorn der Weltverbesserung populärer und praktischer unmittelbar gegen die Fürsten kehrt, in seiner »schwäbischen Chronik« gegen die erste Teilung Polens entbrannte und dann seinen verwegenen Patriotismus durch eine zehnjährige Gefangenschaft auf dem Hohen-Asperg büßen mußte. Aber Not lehrt beten, und er endete mit geistlichen Liedern, in deren Überschwenglichkeit freilich das wüste Feuerwerk seiner Jugend noch mannigfach nachprasselt. – Hierher gehört ferner derMaler Müller mit seinem »Faust«, der »als ein ganzer ausgebackener Kerl, aus welchem ein Löwe von Unersättlichkeit brüllt, gegen das lahme vermatschte Menschengeschlecht steht«; sowie durch die derbe Wahrheit, mit der er in seinen vortrefflichen Idyllen (die Schafschur, das Nußkernen etc.) die einfache Natur des Volkslebens der Überbildung und der unwahren Geßnerschen Schäferwelt entgegenstellt. Andrerseits aber führt dieses durchaus eigentümliche [720] und eigensinnige Talent in seiner »Genoveva«, lange vor Tieck, vorahnend schon in die neue Romantik über. – Auch Heinrich von Gerstenberg hängt mit diesem Kreise durch die ungestüme Maßlosigkeit zusammen, womit er in seinem »Ugolino« den Hungertod einer ganzen Familie mit allen Graden, Zuckungen und Qualen der Agonie auf der Bühne zur Schau stellt. – Andere Mitkombattanten des wütenden Heeres sind kaum erwähnenswert, wie Philipp Hahn, der im »Aufruhr von Pisa«, »Karl von Adelsberg« etc. mit konvulsivischer Anspannung dem Shakespeare nachkräht; oder Leopold Wagner, welcher zur Strafe dafür, daß er Goethen den Plan zu seiner bluttriefenden »Kindermörderin« gestohlen, gleich dem ewigen Juden, als Fausts Famulus durch die Literatur aller Zeiten umgehen muß. – Nur ein Genius, mitten in dem Getümmel, hat alle diese gärenden Elemente als Stoff künstlerisch zu bewältigen gewußt und, was sie ahnten, irrten und strebten, für die Nachwelt poetisch registriert: Goethe in seinem Götz, im Faust und im Werther.

Eine Nachfeier der Sturm- und Drangperiode war der Göttinger Hainbund, zu welchem im Jahre 1772 mehrere gleichgestimmte Studenten: Voß, die beidenStolberg, Friedrich Hahn, Hölty und Miller, sich vereinigten, und denen sich später auch Bürger anschloß. Der etwas ältere Boie übernahm das kritische Protektorat und eröffnete den jungen Bündlern den Kampfplatz durch Herausgabe seines »Göttinger Musenalmanachs«, der daher als der erste jugendfrische Ausdruck so mannigfaltiger Talente von nicht geringem literarischen Interesse ist. Der Ursprung und eine Festfeier des Bundes, wie sie von Voß in seinen Briefen beschrieben worden, geben das unmittelbarste Bild von dem Wesen desselben. »Ach, den 12. September« – schreibt Voß an Brückner – »da hätten Sie hier sein sollen! Die beiden Millers, Hahn, Hölty und ich gingen noch des Abends nach einem nahgelegenen Dorfe. Der Abend war heiter und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauerhütte eine Milch und begaben uns darauf ins freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und sogleich fiel uns allen ein, den Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, faßten uns bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum, riefen den Mond und [721] die Sterne zu Zeugen unseres Bundes an und versprachen uns eine ewige Freundschaft. Dann verbündeten wir uns, die schon gewöhnliche Versammlung noch genauer und feierlicher zu halten.« – Und später schreibt er: »Klopstocks Geburtstag feierten wir herrlich. Eine lange Tafel war gedeckt und mit Blumen geschmückt. Oben stand ein Lehnstuhl ledig für Klopstock, und auf ihm seine sämtlichen Werke. Unter dem Stuhl lag Wielands Idris zerrissen. Die Fidibus waren aus Wielands Schriften gemacht. Boie, der nicht raucht, mußte doch auch einen anzünden und auf den Idris stampfen. Hernach tranken wir in Rheinwein Klopstocks Gesundheit, Luthers, Hermanns Andenken etc. Wir sprachen von Freiheit, die Hüte auf dem Kopf, von Deutschland, von Tugendgesang; und Du kannst denken, wie. Zuletzt verbrannten wir Wielands Idris und Bildnis.« – »Religion, Tugend, Empfindung und reinen unschuldigen Witz zu verbreiten, um den Strom des Lasters und der Sklaverei aufzuhalten«, war ihr Schwur, Freiheit und Tugend ihre Losung.

Man sieht, es ist dasselbe ungeduldige und zornige Mißbehagen am Bestehenden, dieselbe Wut zu reformieren, und dieselbe Unklarheit darüber, wie die Weltverbesserung anzufangen sei, wie bei den Starkgeistern, nur daß bei diesen die rohe juvenile Begeisterung weit über das Schwabenalter hinausreichte. In Göttingen dagegen war es eben nur der schöne Sommernachtstraum einer edlen, ethisch erhobenen Jugend; und man braucht nur die oben genannten ganz disparaten Glieder des Bundes in Gedanken durchzumustern, um zu begreifen, daß er auseinanderfallen mußte. Graf Friedrich Stolberg nahm die Sache am ernstesten und tiefsten und zeigte später wohl, wie und wo es anzufangen wäre, indem er die in solcher Allgemeinheit ganz hohlen Phrasen von Freiheit und Tugend auf ihre eigentliche Bedeutung: auf die Religion zurückführte und nach mancherlei Irrfahrten selbst zur Kirche zurückkehrte. Höltys Instrument war zu weich und zart gestimmt für solche Griffe und sprang auch bald entzwei. Miller aber, wie wir oben gesehen, ging unter die Sentimentalen und verschlimmbesserte die Welt mit seinen Siegwartiaden, während Voß stolz von den Jugendalpen niederstieg und nach dem dankbarern Marschlande des flachen Rationalismus übersiedelte, wo wir ihn weiterhin wiederfinden werden. Nur Bürger blieb sein Leben lang ein Student: unordentlich in Leben, Lieben [722] und Dichten, bald hinter dem Schreibtisch fleißig den Homer übersetzend, bald als stattlicher Ritter mit seinem »Karl von Eichenhorst« hoch auf dem Dänenroß, bald wieder sein Bündel schnürend und auf lustiger Wanderschaft in den Kneipen seines »Dörfchens« oder bei »Frau Schnips« einkehrend. Bürger war ein echter Sangesmund, der melodischste Klang war ihm eingeboren und hat z.B. in seiner unsterblichen »Lenore« Wunder getan. Das machte ihn so populär vor allen seinen Zeitgenossen, daß er Lust und Schmerz, den Dämon und den Engel in der eigenen Brust, überall sich selber ganz und unverhohlen gab. Aber seine Popularität hat eben deshalb häufig etwas Renommistisches, Forciertes, ja widrig Gemeines. Denn ihm fehlte zum Volksdichter, wonach er strebte, nichts als die sittliche Haltung und Würde, deren Mangel sich aber unter dem leichten durchsichtigen Gewande des Volksliedes nicht wie in der vornehmen Gelehrtenpoesie mit verschnörkelter Rhetorik verhüllen oder gar verschönern läßt.

Während dieser Episode hatten indes die Nachzügler und Marodeurs der Starkgeister noch immer eine Zeitlang in ihrer Weise fortrumort. Des Grafen Törring Agnes Bernauerin und Kaspar der Thoringer,Babos großer Bandit Abellino und Otto von Wittelsbach, Hahns Robert von Hohenecken, Möllers Graf von Walltron, und Maiers Fust von Stromberg schritten martialisch über die Bühne, daß die Bretter sich bogen und bebten. Auch die Romane wollten an biderber Mannlichkeit nicht nachstehen. Vulpius entsandte den Räuberhauptmann Rinaldini, Cramer seinen Hasper a Spada, Spieß ganze Schwärme von geharnischten Rittern und heimlichen Femrichtern in die schauerselige Lesewelt: lauter Waffengeklirr und Humpenklang, schreckliche Burgverliese, Schwerterwetzen, Fluchen und Zechen und Mordspektakel. Aber gestrenge Herren regieren nicht lange. Mit diesem tollen Lärm war das Reich der Starkgeister am Parnasse wieder vertost und jenes Titanengeschlecht an seiner eigenen Überschwenglichkeit geborsten. Sie taumelten und endeten wie Trunkenbolde, einige im Wahnsinn, wie Lenz, einige mit Ekel und absoluter Weltverachtung, wie Klinger. Der nüchterne Verstand aber, der schon lange schadenfroh zugesehen, überlebte sie alle.


Da kamen die sieben mageren Jahre, wo Nicolai in seiner Allgemeinen Deutschen Bibliothek die kritische Schere über [723] den üppigen Garten legte, alles verschneidend und bestutzend, was sich über das Niveau der Gewöhnlichkeit hinauszulangen unterfing. Es wurde sofort Toleranz und Gewissensfreiheit proklamiert für Juden, Türken und Heiden, jeder aber, der noch des Christentums und dergleichen Aberglaubens verdächtig, fanatisch als Narr oder heimlicher Jesuit verketzert. Nebenher lief auch noch, von Sulzer her, eine Nützlichkeitstheorie durchs Land, ja sogar über die Kanzeln; nicht etwa von dem, was zum ewigen Leben, sondern was für des Leibes Notdurft nütz ist, von Sparsamkeit, Runkelrüben und Kartoffelbau. Mit Fleiß im täglichen Haushalt und etwas negativer Moral, die eben niemanden totschlägt oder bestiehlt, meinte man mit dem Jenseits, wenn es überhaupt eines gäbe, schon fertig zu werden; den Spruch: »Trachtet nach dem Himmelreich, so wird euch das andere zugegeben« gradezu umkehrend. Mit einem Wort: das fragliche Subjekt, von der liederlichen Überspannung stark mitgenommen, hatte sich wie ein alter Roué die Schlafmütze über die Glatze gestülpt und wollte sich's als ein ruhiger, guter, fetter Bürger endlich einmal kommode machen in der Welt. Solcher Philister aber wußte dann freilich mit der Poesie ebensowenig anzufangen als die Poesie mit ihm, und in dieser Verlegenheit verfiel er darauf, mit dem bloßen Verstande zu dichten.

Schon Hermes hatte diesen praktischen Weg eingeschlagen und Poesie und Religion nützlich zu machen gesucht; die Poesie, indem er lehrhafte Tendenzromane für Frauen, für Töchter edler Herkunft, für Eltern und Ehelustige schrieb; die Religion, indem er sie lediglich auf die handgreiflichste Moral beschränkte. Selbst in seinem berühmtesten Romane »Sophien's Reise von Memel nach Sachsen« sind die Personen eigentlich nur hölzerne Wegweiser nach der oder jener häuslichen Tugend hin, denen man aber nicht ohne inneres Widerstreben folgen kann, da sie fast alle das Unglück haben, höchst langweilig und unliebenswürdig zu sein. Die Verstandespoesie ist überhaupt sehr arm. Sie kommt, da sie bloß von Erfahrung lebt, niemals über die Wirklichkeit hinaus und hat eigentlich nur zweierlei Organe: die Charakterschilderung, d.i. ein nach gewissen äußeren Kennzeichen systematisch geordnetes Herbarium der menschlichen Natur, und die Negation aller Erscheinungen, die über das Gebiet der gewöhnlichen Erfahrung hinausragen. In der ersteren Richtung hat Schummel in seinem[724] »Spitzbart« die Basedowschen Schulmänner, im »kleinen Voltaire« die freigeisterischen Deutschfranzosen, in der »Revolution in Scheppenstädt« die deutsche Karikatur der französischen Revolution; Müller von Itzehoe in seinem vielgelesenen »Siegfried von Lindenberg« das grobe pommersche Krautjunkertum;Engel im »Lorenz Stark« die Berliner Salonweisheit und von Knigge in seinem berühmten »Umgang mit Menschen« die höflichen Bücklinge und diplomatischen Kunstgriffe des geselligen Egoismus ganz wacker porträtiert. Alle diese Autoren tummelten noch ziemlich unbeholfen den englischen Pegasus, den ihnen Richardson und Smollett zugeritten. Sie sind, obgleich poetisch null, doch von bedeutendem historischen Wert, indem sie uns ein zum Erschrecken getreues und bis auf das kleinste Wärzchen ausgeführtes Daguerreotypbild des deutschen Michels jener wunderlichen Zeit hinterlassen haben.

Ihr dickköpfiger Meister Nicolai aber übertraf sie doch alle, da er die beiden vorhin bezeichneten Organe der Verstandespoesie gleichzeitig in sich zu vereinigen und insbesondere das Element der Negation tapfer zu handhaben wußte. Es ist für uns, die wir glücklicherweise längst außerhalb des Bereichs seiner groben Diktatur stehen, wahrhaft ergötzlich, ihm zuzusehen, wie entrüstet und unermüdlich er gegen alle Poesie, wo und wie sie irgend aufzuducken wagte, sogleich Front macht, protestiert und losschlägt, damit sie nur dem souveränen »gesunden Menschenverstande« nicht etwa was zuleid täte. Kaum war Goethes Werther erschienen, so bewarf er ihn in seinen »Freuden des jungen Werther's« mit dem Schmutz der widerwärtigsten Gemeinheit; Herders Völkerstimmen suchte er sofort in seinem »Kleynen feynen Almanach« durch Hohngelächter wieder zum Schweigen zu bringen und im »Sebaldus Nothanker« die Religion auf den Altenteil des prosaischsten Rationalismus zu setzen; während er auf seiner »Reise durch Deutsch land« sich verwundert und es sehr übel nimmt, daß der Katholizismus nicht protestantisch und ganz Deutschland überhaupt nicht berlinisch sein will. Wir sind weit entfernt, dem Romane: »Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker« eine zum Teil scharfsinnige Charakterisierung des Zeitgeistes absprechen oder gar behaupten zu wollen, daß die damaligen religiösen Zustände, der Orthodoxen wie der Pietisten, nicht einer derben Züchtigung bedurft [725] hätten. Aber das war nur ein willkommener Vorwand, hier ist es nicht auf eine Reform, sondern auf totale Ausrottung des Christentums abgesehen, und der freidenkerische Magister Sebaldus wird eben als Märtyrer dieser neuen Lehre dargestellt. Denn »so einfältig werde doch hoffentlich niemand mehr sein, sich einzubilden, Gott habe die heiligen Bücher unmittelbar und übernatürlich eingehaucht. Sie sind nur insofern eine Quelle der Wahrheit, als sie das Nachdenken über die Wahrheit befördern. Wer aber andere Quellen der Wahrheit zu finden glaubt, besonders wenn er mit mir auf gleiche gemeinsame Wahrheit zurückkommt, den verdamme wer will, ich nicht.« Nun sollte man hiernach doch wahrhaftig meinen, Nicolai sei lauter Toleranz gewesen. Allerdings für Heiden, Juden und Mohammedaner, nur nicht für die Kirche! Man verabscheut mit Recht die Mißbräuche der alten Inquisition, und die Autodafés waren ohnedem schon lange abgekommen. Aber die fanatische zornmütige Jesuitenriecherei, wie sie Nicolai nebst Gedike und Biester ein Menschenalter hindurch in ihrer blauen Monatsschrift getrieben; dieses heimtückische Verächtlichmachen, Verleumden, Verdrehen und Ehrabschneiden ist die moderne Inquisition.

Lessing, sagt man, war ein Freund von Nicolai. Eine gewisse Kriegskameradschaft hat allerdings zwischen ihnen bestanden, wie überall bei Kampfgenossen, die unter einer Fahne streiten. Aber nicht alle Kameraden sind Helden; es kommt eben nur darauf an, wie sie kämpfen; und beide haben sehr verschieden gefochten. Lessing, der, nie sich selber genügend, immer weiter und weiter bis ins Unendliche sich seine Ziele steckte, suchte erst, was Nicolai, in seinem bornierten Gesichtskreise, bereits gefunden und erobert zu haben und daher hartnäckig behaupten zu müssen glaubte. Wir haben oben gesehen, mit welchem tiefen Ernste Lessing auf dem religiösen Gebiete alle schneidenden Waffen des Zweifels gegen das Christentum wandte, damit die Welt ihn widerlege und belehre und sich und ihn endlich aus dem schwankenden Halbwesen zur vollen Klarheit hindurchschlage. Ebenso gab er seine dramatischen Versuche keinesweges etwa als endgültige Muster (denn er hielt sich selbst nicht für einen Dichter), sondern um andere anzuregen und auf die Bahn zu weisen, auf der sie aus der allgemeinen französischen Lüge auch hier vielleicht zur Wahrheit gelangen könnten. Auch Lessing gehört daher, schon [726] durch diese tendenziöse Richtung, mit seinen dichterischen Produktionen wesentlich der Verstandespoesie an. Wir statuieren freilich keinen Dichter ohne, wo möglich, recht großen Verstand, aber wir müssen ihm durchaus etwas vindizieren, das über dem Verstande liegt oder vielmehr diesen in einem weiteren Umkreise mit umfaßt; und eben dieses fehlte Lessing. Seine »Miß Sara Sampson«, sowie »Emilie Galotti« sind eben nur ein tief durchdachtes Schachspiel scharfumrissener Charaktere gegeneinander: Exposition, Szenenfolge, Handlung, alles notwendig Zug um Zug, kein Auftritt kann herausgenommen oder verschoben werden, ohne den ganzen Organismus zu zerstören; die geistvollsten und lehrreichsten Skizzen zu künftigen Tragödien. Aber man vermißt die schöpferische Wärme des Gefühls, jene wunderbare Zauberei der Phantasie, welche die Figuren erst lebendig macht; der Dialog ist epigrammatisch oder »lakonisch«, wie ihn Goethe nennt, und beiden Tragödien fehlt der versöhnende Schluß einer durchblickenden höheren Leitung, den auch die geistreichst kombinierte Wirklichkeit niemals zu geben vermag. Und auf dieser Bahn ist Leisewitz mit seinem »Julius von Tarent« sein bis zum Verwechseln getreuer Nachfolger geworden. Mit »Minna von Barnhelm« dagegen trat Lessing unmittelbar seinem Ziele näher, ja gewissermaßen schon über dasselbe hinaus. Was er vorhatte, war nämlich nichts Geringeres, als das Schauspiel aus der ganz konventionellen Unnatur des französischen Hoftheaters zur Naturwahrheit einer nationalen Bühne zurückzuführen. Zu diesem Zwecke wollte er Stoff und Form zugleich reformieren, er wollte einerseits den Heroismus von dem Kothurn eines angeblich klassischen Altertums möglichst auf den realen Boden der Gegenwart stellen, andrerseits das aufgeblasene Pathos wieder dem natürlichen Konversationstone zu nähern suchen. Beides gelang ihm vollkommen in dem genannten Lustspiel, das eine außerordentliche Wirkung machte und bei vornehm und gering populär wurde, weil hier dem modernen Heldenleben in der bewegten Zeit des Siebenjährigen Krieges ein großer nationaler Hintergrund gegeben war. Anders verhält es sich, wo dieser Boden künstlich erst geschaffen werden mußte, wie in Miß Sara Sampson, oder, wie in Emilie Galotti, die alte rauhe Römertugend willkürlich mitten in die neuen Verhältnisse verpflanzt werden sollte. Jedenfalls aber war der Weg, den Lessing zur Lösung [727] seiner kühnen Aufgabe eingeschlagen, keineswegs der richtige und wenigstens für die Tragödie ein sehr bedenklicher Umweg. Denn die Tragödie bedarf, wie das Epos, eines weiten Horizonts, einer poetischen Ferne, wo die Phantasie ihre blauen Berge und großen Konturen fein und ungehindert ziehen kann, während das Heldenbild von dem Rahmen der unmittelbaren Gegenwart fast jederzeit erdrückt wird, gleich wie es keinen Helden für seinen Kammerdiener gibt, weil ihn dieser nur in dem kleinlichen Kreise der gewöhnlichen Alltäglichkeit erblickt. Ja, auf diesem Gebiet üben in so unmittelbarer Nähe selbst die zudringlichen Kapricen der geselligen Konvention und des Kostüms eine störende und doch nicht zu beseitigende Gewalt aus. Es ist hier wie in der Plastik: wie die Standbilder der ritterlichen Feldherren des Siebenjährigen Krieges in Frack und Kamaschen, oder Friedrichs des Großen mit dem Haarzopf und dem windschiefen dreieckigen Hütlein über den gepuderten Seitenlocken. Auch die von Lessing versuchte, im Nathan jedoch wieder aufgegebene Herabstimmung der Tragödie vom Verse zu Prosa können wir ebensowenig als Klopstocks Scheu vor dem Reime als einen Fortschritt anerkennen. Die Rede wurde freilich dadurch natürlicher, aber das Natürliche darum nicht poetischer. Wir wissen recht wohl und haben es in neuerer Zeit sattsam erfahren, wie leicht sich aus Jamben hohle Phrasen drechseln lassen; allein der bloße Mißbrauch kann doch nirgend das an sich Rechte unrecht machen. Ohne Zweifel hätte der Vers z.B. die rohe Überschwenglichkeit Schillers in seinen Jugendarbeiten gezügelt und ihn zu größerer künstlerischer Besonnenheit genötigt. Und so hat denn Lessing, überall verkannt, mißverstanden und kläglich nachgeahmt, in der Tat durch seinen reformatorischen Vorgang allmählich auf ein Heldentum im häuslichen Schlafrock, zu der bürgerlichen Tragödie geführt, die im Grunde doch nur ein lederner Schleifstein ist.

Andere Verstandesdichter von unvergleichlich geringerem Range, wie Feßler und Tiedge, machten gar den unmöglichen Versuch, die ganze Kantsche Philosophie auf den Parnaß zu schleppen. Das stehende Programm zu Feßlers zahlreichen Romanen (Mark Aurel, Themistokles, Aristides, Attila usw.) ist »die Verbindung der empirisch-psychologischen Wahrheit mit dem intellektuellen Interesse, das richtige Verhältnis der ästhetischen Ideen zu den praktischen Vernunftideen«. Kant [728] hatte mit der bewunderungswürdigen Einsicht und Selbstbeherrschung eines Weisen seinen praktischen Vernunftideen nur bis zu jener Grenze Macht gegeben, wo das Reich des Übernatürlichen beginnt, dessen geheimnisvoller Ausdruck die Religion ist. Aber Feßler weiß es besser, indem er, die Grenze ignorierend, zunächst menschliche Vernunft und Tugend identifiziert und dann auf diesem Boden einer natürlichen Tugend wohlgemut Religion macht, welche eben der »reine, durch die Vernunft verfeinerte Genuß der Gaben der Natur« sein soll. Und aus dieser Fusion ergibt sich denn auch das Erstaunliche, daß seine antiken Helden, über die Vorurteile jeder positiven Religion hoch erhaben, sämtlich wahre Tugendusen sind. – Bei weitem feiner und eleganter, als in diesen schwerfälligen Romanen, tritt die Kantsche Philosophie in Tiedges »Urania« auf, wo sie in Frack und Glacéhandschuhen vor einem gemischten Publikum aus den gebildeten Ständen über Gott, Wahrheit, Unsterblichkeit, Tugend, Freiheit und Wiedersehen so rührende Vorlesungen hält, daß wohl noch heutzutage viele Damen darüber heilige Tränen »süßen Wähnens« »und hohen Ahnens« vergießen.

Diesem graziösen Kantianer wollen wir hier den ungraziösesten aller deutschen Dichter: Johann Heinrich Voß, mit wenigen Worten gegenüberstellen. Auch Voß zerarbeitete sich im Schweiß seines Angesichts ganz ehrlich an der fatalen Nützlichkeitstheorie, aber nicht, wie Wieland getan, für die hohe Aristokratie, sondern demokratisch nach der unteren Schicht der Gesellschaft hin. Ja, er wollte sich einst in allem Ernste in Baden als »Landdichter« anstellen lassen, um die Sitten des Volks zu bessern, die Freude eines unschuldigen Gesanges auszubreiten, jede Einrichtung des Staats durch seine Lieder zu unterstützen und besonders dem verachteten Landmann feinere Begriffe und ein regeres Gefühl seiner Würde beizubringen. Unter diesen feineren Begriffen war natürlicherweise vorzüglich auch eine vernünftige Religion gemeint, denn »Gut handeln ist schlechterdings die einzige Religion; und die wahren Antriebe, gut zu handeln, finden sich, wenn wir nicht frömmelnd sophistisieren wollen, in unserer Glaubenslehre nur insofern, als sie Lehre der gesunden Vernunft ist.« Also wieder eben nur das bis zur völligen Verschwindsucht purifizierte Christentum Nicolais, dessen handfestester Schildknapp Voß überhaupt in jeder Beziehung war. Wie Nicolai proklamierte er in Religionssachen zudringlich [729] überall unbedingte Denkfreiheit, und warf sich doch zum Großinquisitor Deutschlands auf, indem er seinen Heidelberger Kollegen Creuzer und vor allen seinen Jugendfreund und großmütigen Wohltäter Stolberg, weil dieser sich anders zu denken unterstand, mit heimtückischer Roheit bis in das Innerste des Hauses, des Familienlebens und des Herzens verfolgte, um ihn, da kein Scheiterhaufen mehr zu Gebote steht, moralisch zu morden. Wäre es nicht erlogen, was die Nicolaiten noch heut der blödsinnigen Menge beständig einreden wollen: daß bei den Jesuiten der Zweck die infamsten Mittel heilige, so war hiernach Voß selbst unstreitig der ausgemachteste Jesuit. Jedenfalls aber ist er der Großmeister des weitverzweigten Philisterordens deutscher Zunge. Ein kleinliches Jugendleben voll minuziöser Hemmungen und Quälereien, deren mühselige Überwindung ihm eine große Meinung von sich selbst und dem von Natur schon herben Landwein eine ganz ungenießbare Säure gab, hatte ihn allmählich zum eigentlichen Kleinstädter unserer Literatur gemacht. Daher diese eigensinnige, selbstgefällige Borniertheit, welche ihren Hühnerhof und Kohlgarten für die Welt hält, der politische Aberglaube, der hinter allen Hollunderbüschen lauernde Jesuiten wittert, dieser langverhaltene Ingrimm des »sassischen Bauern« (wie Görres ihn nennt), der sich von der vornehmen Erscheinung der gräflichen Freunde unwillkürlich gedemütigt fühlt und nun die eigene Plumpheit dem Aristokratismus zur Sünde anrechnet, jene fanatische Intoleranz, welche eine bloße spießbürgerliche Ehrbarkeit als die alleinseligmachende Religion proklamiert, denn


»Der Kelt und Griech und Hottentott
Verehren kindlich einen Gott.«

So wühlt er in philisterhaftem Mißverständnis der Natur, von der ihn nur das Knollige anspricht, sich immer behaglicher in die platteste Wirklichkeit hinein, dichtet Pferdeknechtsidyllen usw. und scheitert endlich fast komisch an dem verzweifelten Versuche, den deutschen Michel poetisch darzustellen. Sehr treffend sagt daher Schlegel in den kritischen Schriften von ihm: »Er hatte eine ganz einzige Gabe, die: jede Sache, die er verfocht, auch die beste, durch seine Persönlichkeit unliebenswürdig zu machen. Er pries die Milde mit Bitterkeit, die Duldung mit Verfolgungseifer, den Bürgersinn wie ein Kleinstädter, die Denkfreiheit wie ein Gefängniswärter.«

[730] Gegen die Epidemie der sentimentalen Mondsucht war allerdings der altkluge Verstand recht auf seinem Platz und hat auch mit Not- und Hülfsbüchlein und zahllosen Kinderschriften, an denen sich freilich im Grunde nur kindisch gewordene Alte erbauten, Erstaunliches geleistet. Nachdem er jedoch solchergestalt alle Verhältnisse gehörig ausgenüchtert und vor allem das Christentum durch das Medium des Rationalismus auf bloße bare Moral gesetzt hatte, so entstand hieraus eine zweite Kalamität: die Prosa der Tugend, welche wiederum durch ihre enorme Langweiligkeit ihren notwendigen Gegensatz, die Frivolität, hervorrief.

Beide Richtungen fanden ihre Vertreter in Iffland und in Kotzebue.

Iffland schwankte in seiner Jugend lange zwischen Kanzel und Theater; eine Wahl, die eben nicht viel Qual machen konnte. Denn das Theater rivalisierte damals sehr glücklich mit der Kirche, beide sollten bloße Sittenschulen sein, und Schiller selbst erklärte die Aufgabe der Schaubühne für eine religiöse, während viele Prediger Schillersche Sentenzen von der Kanzel paraphrasierten und in einigen Kirchen die Baßarie aus der Zauberflöte »In diesen heil'gen Hallen etc.« als Osterlied gesungen wurde. – Der Schatten Shakespeares, den die Kraftgenies, freilich etwas lärmend, heraufbeschworen, war unerkannt und unverstanden über die Bretter geschritten. Das vom trockenen Verstand geschulte todmatte Publikum hatte kein Auge mehr dafür, »wie der Herr in Blitzen schreibt die Weltgeschichte«, kein Herz mehr für die tiefe Naturwahrheit und Unmittelbarkeit in Lust und Schmerz, weder für die wahre Tragödie noch für das wahre Lustspiel. In dieser Not, da mit dem Mangel der Heißhunger stieg, mußte wohl für die Armut anderweit gesorgt werden. Iffland, ein echtes Kind seiner Zeit, stieg daher genügsam in die ordinären Visiten-, Arbeits- und Wochenstuben des Mittelstandes hinab, um dort zu predigen. Der Text ist die Religion des »guten Herzens«, jenes Wielandschen liebenswürdigen Dinges, das gar zu allerliebst ist, um nicht alle Sünden wiedergutzumachen, ja durch seine Gemütlichkeit Gott selber bis zu Tränen zu rühren. Da sehen wir denn anstatt der Welt, welche die Bretter bedeuten sollen, die Privatseligkeit des Familienzirkels, anstatt der Helden biedere Amtleute und Förster, verruchte Hofräte und Geheimsekretäre nebst einem obligaten Liebespaar aus dem Stamm der Zähregießen; [731] anstatt des Schicksals einen edlen Fürsten, der im letzten Akt großmütig in die Tasche greift und mit einer Hand voll Dukaten die ganze Misere glücklich wendet. Und dennoch, weil es Iffland nur um Belehrung zu tun war, sind seine Bühnengestalten nicht etwa wirkliche Menschen, sondern bloße abstrakte Charaktermasken ausbündiger Vortrefflichkeit oder Niedertracht, wie sie nie und nirgend vorhanden, mit einer oft wunderlich verdrehten Tugendlichkeit: Verbrecher aus Ehre, Deserteure aus Kindesliebe usw. Über den ganzen moralischen Salm aber goß er in der dürren Zeit reichlich das Lavendelwasser der sentimentalen Empfindsamkeit; und so florierte in Deutschland das bürgerliche Rührspiel, oder die Iffländerei, wie es später die Romantiker nannten.

Diesem Jean qui pleure konnte natürlich ein Jean qui rit nicht fehlen. Kotzebue blieb es vorbehalten, das letzte Stadium der Verstandesdichtung zu erreichen, indem er die allgemeine Indifferenz, welche der gewissenhafte Iffland noch mit der älteren Bildung zu vermitteln gestrebt, frech emanzipierte. Das Charakteristische der Kotzebueliteratur ist eben die konventionelle Charakterlosigkeit, eine Blasiertheit, die alles, was sie nicht begreift oder was sie geniert, vornehm verlacht. Schon früher wohl hatte man mit deutscher Plumpheit, aber immer noch mit einem gewissen Anstrich von Idealität, ähnliches versucht; Kotzebue aber war der erste, der es schamlos und prinzipienmäßig sich zur Aufgabe machte, alle sittlichen Mächte des Lebens, Religion, Ehre, Vaterlandsliebe, als altmodische Träumerei und Hirngespinst, zur Zielscheibe frivolen Witzes öffentlich an den Pranger zu stellen, und dafür einen glatten weltmännischen Nihilismus als das allein Verständige und Gentile zur Herrschaft zu bringen. Wo er aus dieser Rolle fällt – was ihm, bei den schon damals auftauchenden, ernsteren Richtungen, aus rivalisierender Eitelkeit zuweilen begegnete –, wo er, sagen wir, naiv oder pathetisch sein will, wird er völlig dumm und abgeschmackt, wie z.B. in der Gurli oder in Rollas Tod. Mit desto größerem Geschick, ja boshaftem Instinkt, wußte er dagegen in seinen eigentlichen Kotzebueaden die schlummernden Sünden und Schwachheiten der Nation gegen ihre Tugenden aufzurufen, einzig durch die perfide Eskamotage, womit er diese lächerlich und jene liebenswürdig darstellte, den Unglauben durch aufgeblasenes Weltbürgertum, Diebstahl durch zärtliche Familiensorge, Lüderlichkeit durch [732] ein sogenanntes gutes Herz, gefallene Mädchen durch leichtfertige Tränen gar preiswürdig zu Ehren und unter die Haube brachte. Und einen solchen Mann schämte sich das damalige Deutschland nicht zu seinem Theaterkönig auszurufen! Nicht weniger als zweihundertelf seiner Stücke wurden auf allen Theatern stürmisch beklatscht, die begeisterten Damen trugen Eulaliahauben, die Männer übersetzten ihn atemlos in alle Sprachen; kaum noch fanden burschikosere Spätlinge Raum genug, in Götzens Rüstung ungeschickt über die Bühne zu stolpern, während man in den zerfallenen Ruinen der deutschen Poesie dazwischen einige melancholische Grillen, wie Matthisson, Salis und andere verloren zirpen hörte.


So trostlos standen im allgemeinen die Sachen in dem letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts. Denn Goethe und Schiller, nachdem letzterer in den Räubern, im Fiesco und in Kabale und Liebe seinerseits die Genieseuche der Starkgeister gebüßt, beide, überdem soeben in wissenschaftlichen Studien befangen, schwiegen eine geraume Zeit, um sich zu neuem Anlauf zusammenzufassen. Aber die Langeweile, wie sie diese Stagnation notwendig über Deutschland verbreiten mußte, ist stets das unerträglichste aller Übel. Um ihr zu entgehen, entstand daher bei reicher begabten Geistern eine andere Art, die Zeit zu betrachten und darzustellen, nämlich die humoristische, indem der Gegenwart ein poetischer Vexierspiegel vorgehalten wird, in welchem dieselben Züge durch ihre kühn verwechselte und veränderte Kombination auf einmal überraschend fremd und neu erscheinen. Der Humor ist durchaus ein modernes Erzeugnis, das die Reformation zwar nicht geschaffen (denn er ist von jeher tief in der menschlichen Natur begründet), ihn aber erst zur vollen Geltung und Gestaltung herausgebildet hat. Denn er ist eben nichts anderes als das erwachende wehmütige Gefühl von der Unzulänglichkeit der innersten Zustände; der seine eigene usurpierte Alleinherrschaft verspottende Verstand, eine Art von Weltschmerz, der das Leben der Gegenwart nicht alsein abgeschlossenes Bild, sondern in seinen Widersprüchen und Dissonanzen auffaßt und mit der wachsenden Unruhe, Verwirrung und Trostlosigkeit sich in unseren Tagen bis zur modernen Zerrissenheit gesteigert hat.

Schon durch Hamanns Schriften, wie wir oben gesehen, blitzen häufig humoristische Streiflichter, die aber in ihrer [733] Vereinzelung nur noch als Bizarrerie erscheinen. Unsere eigentlichen Humoristiker dagegen sind Hippel und Jean Paul; und bei beiden ist es, wie es bei wahrhaften Dichtern nicht anders sein kann, wiederum das Tiefste im Menschenleben, das sie aufregt: der Konflikt des religiösen Gefühls mit dem Rationalismus bei Hippel, mit der humanistischen Weltanschauung bei Jean Paul.

In Hippel stehen zwei feindliche Naturen: die religiöse und skeptische, dicht beisammen und ringen wacker und auf Tod und Leben miteinander. Er hat ein tiefes Gefühl des Christentums, aber den Glauben nicht. In seinem Romane: »Lebensläufe nach aufsteigender Linie« (1778) wird die Offenbarung, nach Lessings Hypothese, als ein bloßes moralisches Erziehungswerk des Menschengeschlechts dargestellt, das von dem »Menschenfreunde« Christus großartig, aber vergeblich versucht wurde und daher nun von der dadurch emanzipierten menschlichen Vernunft fortgesetzt und vollendet werden soll. Denn »es liegt alles in uns – die Gottheit kann sich Menschen nicht anders als durch Menschen offenbaren – erhabene große Menschen sendet Gott zu Menschen, um ihnen zu sagen, was sie gleich alle wissen, wenn es ihnen nur gesagt wird. Wir sind alles und nichts. Das Licht der Vernunft, das in uns ist, muß angezündet werden, sonst bleiben wir beständig Kinder der Finsternis.« Allein die Personen, denen in dem Romane diese angezündete Fackel anvertraut ist, wie der »Professor Großvater« (Kant), Herr von G., der Pastor etc., dürfen gelegentlich für witzigen, oft tödlich verwundenden Spott nicht sorgen; und der eigentliche Held des Romans, d.i. der Autor selbst, rennt mit seinem christlichen Heimweh und Gedankenfluge beständig gegen sein eigenes System an, was ein ganz eigentümliches, fast tragisches Schauspiel gibt. In seinem Romane: »Kreuz- und Querzüge des Ritters A-Z« (1793) dagegen sucht der jugendlich schwärmerische Ritter eine unsichtbare Kirche, glaubt sie in der Freimaurerei glücklich gefunden zu haben, kommt aber in dem Weisheitstempel zuletzt nur an einen ungeheueren Vorhang, »der leider alles und hinter dem nichts ist«. Ja, diese Doppelgängerei zieht sich wunderlich durch des Dichters eignen Lebenslauf, der unausgesetzt zwischen Weltlichkeit und geistiger Asketik schwankt, und seinen Zeitgenossen und Freunden selbst ein psychologisches Rätsel geblieben ist.

[734] In größeren Dimensionen zeigt sich der Konflikt bei Jean Paul (Friedrich Richter). Jean Paul ist der ewige Jüngling unter unsern Dichtern, ein Jüngling bis in das Greisenalter, mit seinen überschwenglichen Hoffnungen, Freuden und Schmerzen und den prächtigen Träumen von Tugend, Freundschaft und Weltbürgertum. Nun denke man sich einen solchen Jüngling der gemeinen Wirklichkeit gegenüber, und man hat den ganzen Inhalt seiner Romane, die nur durch zufällig veränderte Szenerie voneinander verschieden sind. Überall ist es der Stoß jenes jugendlichen Idealismus gegen die wirkliche Welt; im »Titan« und »Hesperus« gegen die große moralische Lüge der sozialen Bildung, im »Siebenkäs« und »Fibel« gegen die bittere Not der Armut, welcher er tröstlich zuruft: »Mit Freuden darbt, hungert, dürstet jeder vor der Tür einer Silberkammer, wenn er weiß: sie tut sich ihm auf nach wenigen Tagen. Und wenn wir die tierdumme Furcht wegwerfen – sitzt nicht jeder von uns an der Tür einer solchen Kammer?« – Er sagt selbst, er kenne nur drei Wege. »Der erste, der in die Höhe geht, ist: so weit über das Getreibe des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfgruben, Häusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. Der zweite ist: gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich einheimisch in eine Furche einzunisten. Der dritte endlich, den ich für den schwersten und klügsten halte, ist der: mit den beiden andern zu wechseln.« Und diesen dritten Weg hat er selbst in seinen Schriften gewählt, ohne jedoch den beständigen Wechsel irgend zu vermitteln. Daher sind seine Romane, so wie die einzelnen hochangelegten Charaktere derselben, nirgend künstlerisch vollendet, sondern eben nur die Dissonanz jenes Konflikts. Da aber dieser Konflikt hierdurch nur um so greller hervortritt, so läßt der Dichter zur Erholung und Erfrischung endlich seine humoristischen Blitze durch die unerträgliche Schwüle spielen. Schon durch sein rührendes Stilleben geht überall, wie ein Lächeln durch Tränen, ein leiser ironischer Zug; aber mitten durch Wehmut und Schmerz bricht plötzlich ein erschütternder ethischer Zorn oder ein wahrhaft vernichtender Witz, scheinbar wie ein Seiltänzer über dem »kleinstädtischen Jahrhundert, an dem man gar nicht zierliche Pas, sondern gefährliche Sprünge bewundert«; eine oft Shakespearesche Melancholie des Witzes, die sich bei seinem Leibgeber Schoppe bis zum Wahnsinn [735] steigert. Und dieses beständige Wetterleuchten wechselnder Kontraste wird noch auffallender und verwirrender durch eine weichherzige Sentimentalität, die harmlos nur vom Mondschein zu leben scheint, bei einer streitlustigen Ritterlichkeit, die überall, wo es gilt, sogleich schlagfertig und sattelfest ist. Denn was ihn von allen Humoristikern des Auslandes unterscheidet, ist eben der tiefe sittliche Ernst und Scharfsinn seines Humors, womit er, anstatt mit den Jämmerlichkeiten bloß geistreich zu spielen, gegen alle Sünde, Unbill und Gemeinheit der Zeit unerschrocken die Lanze einlegt.


Es ist aus allen diesen Vorgängen leicht ersichtlich: das positive Christentum war, unter den Gebildeten wenigstens, so gut wie abgetan. Die ebenso wissensreichen als glaubensarmen Geister mußten daher auf eine Restauration in anderem Wege, auf eine Surrogatreligion, Bedacht nehmen. So erfand man die Humanität, d.h. das in allen anarchischen Übergangszeiten geltende Recht der Selbsthülfe, wonach die Menschheit, ohne höhere Autorität, sich aus sich selber durch die bloße Kraft der eigenen Vernunft selig machen sollte. Und diese Richtung hat denn auch unserer Poesie bis auf den heutigen Tag ihren neuesten Ausdruck und Charakter gegeben.

Auch hier, wie bei allen tiefgreifenden geistigen Bewegungen, sehen wir Lessing abermals im Vordertreffen. In seinem »Nathan der Weise« wirft er ein vorläufiges Probestück dieser modernen Religion ohne Religion, gleichsam als einen Zankapfel, der orthodoxen Borniertheit mutig ins Angesicht. Es ist keineswegs etwa der gewöhnliche Indifferentismus; mit der größten Entschiedenheit vielmehr wird hier aller Nachdruck eines übermächtigen Geistes auf die sittliche Kraft im Menschen gelegt und an dieser allein die Bedeutung aller Religionen gemessen; denn die göttliche Abstammung aller positiven Religionen lasse sich nur an ihren Früchten erkennen: »ob sie vor Gott und Menschen angenehm machen«. Daher sind in dem eingeflochtenen Gleichnis von den drei Ringen Judentum, Islam und Christentum völlig gleichberechtigte Offenbarungen der Menschennatur. Ja, das Christentum mit seinen etwas verblaßten Vertretern wird hier von den leuchtenden Heldengestalten Saladins, Nathans, von dem aufgeklärten Tempelherrn und der wunderlieblichen Recha sehr fühlbar in den Hintergrund gedrängt. Eben diese geständlich polemische Färbung [736] aber stört einigermaßen den vollen künstlerischen Eindruck dieses Meisterwerks, während dasselbe auch formell dadurch merkwürdig geworden, daß es den fünffüßigen Jambus für alle Folgezeit auf der Bühne eingeführt hat.

War nun einmal auf solche Weise alle positive Glaubensbasis weggenommen, so blieb auch in der Tat nichts anderes übrig, als an die menschliche Perfektibilität zu appellieren, an den Glauben, daß die Menschheit auch ohne übernatürliche Hülfe sich selbst erlösen, mithin zu diesem Zwecke alle ihre natürlichen Gaben und Kräfte selbständig bis ins Unendliche herausbilden könne und müsse. Und dies ist der eigentliche Grundgedanke der Humanität und dessen nähere Begründung die Lebensaufgabe Herders. Herder war der Gedankenerbe Hamanns, mit dem er auch bis an dessen Lebensende befreundet blieb; ja man möchte sagen, er stand, und zwar als der weibliche Teil, in einer geistigen Ehe mit ihm. Denn was Hamann ahnend oft ganz formlos hinwarf, hat Herder mit erwärmender Empfänglichkeit aufgenommen, nach dem Bedürfnis der Zeit formuliert und in die große Welt eingeführt. Aber weicher als Hamann, machte er hierbei der Zeit Konzessionen, die ihn dann selbst immer weiter mit fortrissen; er machte die, freilich dialektisch verknöcherte, Theologie fast bis zur Eleganz poetisch; er lehrte weniger Christentum als das allgemein Göttliche in der Menschennatur, das alle Menschen zu einer unsichtbaren, überall verbreiteten Gemeinde verbrüdern sollte, mit einem Wort: eben jene Universalreligion der Humanität, die schon an den äußersten Grenzen des Christentums steht. Dazu war dieser bedeutende Genius ganz besonders berufen durch die bewunderungswürdige Universalität seines Geistes, womit er sich in die eigentümliche Gemütslage und Vorstellungsweise jedes Volkes hineinzudenken, oder vielmehr hineinzufühlen, und alle diese verschiedenen Volksseelen mit dem allgemein Göttlichen in Beziehung zu setzen vermochte. Schon seine frühesten Schriften: »Geist der hebräischen Poesie« und »Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts«, wiewohl noch für die göttliche Offenbarung streitend, geben in ihrer wesentlich bloß poetischen Auffassung der Propheten und Mysterien ein glänzendes Zeugnis von jenem generalisierenden Trieb und Talent. In ihrer ganzen Bedeutsamkeit und Vollendung aber tritt diese Intention in seinem berühmtesten Werke: »Ideen zur Philosophie der Geschichte [737] der Menschheit« hervor. Er gibt uns selbst das Programm: »Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat, sie sind das heilige Buch, an dessen Charakteren ich buchstabiert habe und buchstabieren werde. Überall hat mich die große Analogie der Natur auf Wahrheiten der Religion geführt, und diesen Weg verfolgend sehen wir zuletzt das dunkelstrahlende Licht als Flamme und Sonne aufgehen. Es gibt keinen anderen Weg, und man kann ihn nicht sorgsam genug gehen.« Es ist eine geistige Ethnographie, die in allen Nationalgesichtern die allgemein menschliche Physiognomie nachzuweisen sucht ; eine Weltgeschichte aus der Vogelperspektive, wo alles Besondere verschwindet. Die Natur ist die Bibel, der perfektible Menschengeist die permanente Offenbarung, Christus durch Wort und Vorbild ein weltweiser Lehrer; das Ziel endlich eine universale Menschheitsreligion, in deren ununterbrochenen Entwicklungsgang das Christentum nur als eine zwar notwendige, aber vorübergehende Phase eingreift. So mochte er allerdings sagen: »Ob hierbei der Name Christi litaneimäßig genannt werde, ist dem Erhöheten gleichgültig. Wer Schlacken vom Golde zu unterscheiden weiß, wird sich nicht irremachen lassen und den Helden der Menschengüte, den stillesten Wohltäter seines Geschlechts in seiner Art, d.i. schweigend und nachahmend ehren. Am Namen: Christianer liegt wenig; gehe dieser unter oder bleibe. Von Schlacken gereinigt, kann seine Religion nicht anders als die Religion reiner Menschengüte, Menschenreligion heißen.« – Allein zu allen Zeiten haben immer nur wenige den hellen Blick und die sittliche Kraft Herders, um die Schlacken vom Golde zu unterscheiden; und was namentlich mehrere unserer neuen Naturforscher auf diesem angeblich einzigen Wege aus der geheimnisvollen Naturbibel herausbuchstabiert haben, ist keines wegs jene göttliche Sonne, sondern der krasse Materialismus, der nicht zu der von Herder gemeinten Humanität, sondern zur Barbarei führt.

Es ist aber überall ungerecht und daher ganz unzulässig, große Geister außerhalb ihrer Zeit, ihre Intention lediglich nach den Erfolgen beurteilen zu wollen. Erwägen wir demnach die damaligen religiösen Zustände, so müssen wir freudig anerkennen, daß, wie Lessing mit seiner verwegenen Kriegserklärung, so auch der mildere Herder durch eine erhöhete Weltansicht der orthodoxen Starrköpfigkeit sowie der pietistischen [738] Faselei gründlich das Handwerk gelegt und sein Jahrhundert umgestimmt hat. Und mit derselben universalen Empfänglichkeit, die sein Grundwesen ausmacht, erkannte er auch das Volkslied aller Zeiten und Nationen und hat in seinen schon oben erwähnten »Stimmen der Völker« einen Ton angeschlagen, der noch bis heut durch die deutsche Poesie erfrischend fortklingt.

Systematischer gefaßt und entwickelt wurde jene Humanitätsidee durch Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819). Auch bei Jacobi war, wenn wir unverblendet auf den Grund sehen, eigentlich doch der Mensch selbst wieder sein eigener Gott; auch Jacobi, allem Schulzwange fremd, suchte vermittelnd an diesem Göttlichmenschlichen Kunst und Wissenschaft, Leben und Politik zu messen, zu würdigen und zu beleben. »Wahrhaft über sich«, sagt er, »erhebt den Menschen nur sein Herz, welches das eigentliche Vermögen der Idee, der nicht leeren, ist. – Der Mensch offenbart Gott, indem er mit dem Geiste sich über die Natur erhebt und kraft dieses Geistes sich ihr als eine von ihr unabhängige Macht entgegenstellt, sie bekämpft, beherrscht. – Wie der Mensch an diese ihm inwohnende, der Natur überlegene Macht in ihm lebendig glaubt, so glaubt er an Gott, er fühlt, er erfährt ihn. Wie er an diese Macht in ihm nicht glaubt, so glaubt er auch nicht an Gott; er sieht und erfährt überall nur bloß Natur, Notwendigkeit, Schicksal. – Wer von diesem Geiste getrieben wird, der ist auf dem Wege der Gottseligkeit, und es ist gleichgültig, welche Mittel der Einbildungskraft (welche äußere Gestalt der Religion) ihn auf demselben unterstützen, etwa zuerst ihn erweckten und leiteten, fortwährend ihm behülflich sind.« Denn eine Offenbarung durch äußerliche Erscheinungen, sie mögen heißen, wie sie wollen, könne sich höchstens zur inneren ursprünglichen verhalten wie Sprache zur Vernunft, und diese letztere wahre Offenbarung nur durch Gefühle, dann durch weissagendes Verlangen, dann durch Empfindungen und Gedanken erfolgen.

Diese Humaniora einer gänzlich unpositiven Religion hat Jacobi in zwei philosophischen Romanen ziemlich ungeschickt darzustellen versucht. Im »All will«, der sich hiernach seiner guten Natur überläßt, welche verlangt, daß er jede Fähigkeit in sich erwachen, jede Kraft sich regen lasse; denn dies zu verstehen, ist ihm Weisheit, und ihm zu folgen Tugend. Und im »Woldemar«, der »wie in der Mitte der Schöpfung schwebt, aufgelöst und an sich ziehend aus dem feinsten Äther eine neue [739] Bildung«. Beide Helden haben es indes in ihren Studien nicht sonderlich weit gebracht. Allwills Weltweisheit wird an der praktischen Hausfrau Amalie zuschanden, und Woldemar schaudert zuletzt »vor dem Abgrund, an dem er noch stand: vor den Tiefen seines Herzens. Bei jeder Gelegenheit wiederholte nachher Woldemar: Wer sich auf sein Herz verläßt, ist ein Tor!«

Im Grunde aber sind Allwill und Woldemar eben niemand anderes als der Autor selbst. Denn Jacobi selbst fühlte tief das Unzureichende dieses rein subjektiven Glaubens. »Licht ist in meinem Herzen« – so klagt er – »aber sowie ich es in den Verstand bringen will, verlöscht es.« Vergebens schrieb ihm Hamann 1785: »Ich wünschte Sie so gern aus dem Labyrinth der Weltweisheit in die kindliche Einfalt des Evangeliums versetzen zu können!« – »Mit mir steht es so«, sagt Jacobi dagegen noch im Jahre 1817, »daß ich mit Falk und Twesten darüber vollkommen einig bin, daß wer die Religiosität der Väter wolle, auch die Religion der Väter wollen müsse. Wie ich aber dazu gelangen könne, diese historisch gediegene einmütige Religion der Väter zu wollen, daß sie mir auch wirklich und wahrhaft werde, das weiß ich nicht.« Daher schreibt er: »In Deine Klagen über die Unzulänglichkeit alles unseres Philosophierens stimme ich leider von Herzen ein; weiß aber doch keinen anderen Rat, als nur immer eifriger fortzuphilosophieren.«

Bei Jung-Stilling galt er für einen Deisten, bei anderen für einen Katholiken. Das Wahre ist, daß der große Zwiespalt der Zeit, den er zu vermitteln unternahm, in ihm selber unvermittelt war, daß er sich einen Glauben eingebildet, den er nicht rechtfertigen wollte und konnte, und daher einen Glauben verfocht, den er im Grunde nicht hatte, und sonach eingestehen mußte, »wie alles bei ihm auf die schwermütige Trauer über Natur des Menschen hinauslaufe«. – Er war nichts als ein bedeutsames feuriges Fragezeichen der Zeit, an die kommenden Geschlechter gerichtet, ein redlich Irrender, immerdar schwankend, aber schwankend wie die Wünschelrute nach dem verborgenen Schatze.

Der eigentliche Humanitätsdichter dagegen ist Jean Paul (Friedrich Richter, 1763–1825), dessen Persönlichkeit recht wie dazu geschaffen schien, diese Lehre poetisch zu beleben. Wir haben schon oben gesehen, wie die liebenswürdige Natur dieses Dichters mit einer hervorragenden sittlichen Kraft ausgerüstet [740] und gegen alles Schlechte gewendet war. Hiernach durfte grade er vor allen anderen wohl von der Gewalt dieser menschlichen Anlage eine hohe Meinung und jenes starke Gefühl haben, das eben die Seele der Humanitätsreligion ist. Daher stehen auch fast alle seine Romanhelden im Jünglingsalter, wo die Unschuld und Reinheit der Menschenseele noch unbefleckt in ihrer ursprünglichen Schönheit erscheint. So ist sein Emanuel im »Hesperus« ein moderner Einsiedler, der sich als ein »Gottmensch« hoch über die anderen Tier- und Pflanzenmenschen erhebt; und den exzentrischen Viktor, den die menschliche Unterjochung unter das Glück anekelt, nimmt der Tod jeden Tag einmal auf den erhabenen Arm und läßt ihn von da herunter bemerken, wie winzig alle Berge und Hügel, auch Gräber sind. Im »Titan« ist Albano, der sich selbst den Arm blutig ritzt, um leichter und weicher zu atmen, einer von jenen Paradiesvögeln, die fliegend schlafen und auf den ausgebreiteten Flügeln die unteren Erdstöße und Brandungen des Lebens verschlummern im langen schönen Traume von ihrem idealischen Mutterland. Ja selbst durch seine idyllischen Stilleben, wie im »Schulmeisterlein Wutz«, im »Quintus Fixlein«, »Siebenkäs« und »Fibel«, zieht sich jenes träumerische Verhimmeln aller Wirklichkeit. Diese Kleinbürger der Erde finden gegen alle Quälereien der Armut und Beschränktheit des Trostes übergenug in ihrer genügsamen Gemütlichkeit, ohne eines positiv religiösen Glaubens zu bedürfen. Es ist hiernach sehr begreiflich, daß diese ideale Schönmalerei vorzüglich in der stets wesentlich schwärmerischen Stimmung der deutschen Jugend so großen Anklang fand und zum Teil noch findet, wogegen seine eigentlichen Satiren (»Grönländische Prozesse«, »Auswahl aus des Teufels Papieren« etc.), da die Satire durchaus einen realen Boden verlangt, mißglückt und fast spurlos vorübergegangen sind. Sehr bezeichnend sagten die beiden Weimarschen Dichterheroen von ihm, er sei ihnen erschienen: »Wie aus dem Mond gefallen, voll herzlich guten Willens, die Dinge zu sehen, nur nicht mit dem Organe, mit dem man sieht.«

Jean Pauls großer Irrtum war, daß er jenen jugendlichen Enthusiasmus für zureichend, das sittliche Gefühl allein schon für Religion hielt. Der Mensch, meint er, wäre auf Erden eitel Spielwerk und Dunst,wenn er nicht fühlte, daß er es nicht wäre. Dieses Gefühl sei unsere Unsterblichkeit, Tugend aber Gehorsam gegen das erhabene Gesetz, das von einer Zone zur andern [741] in jeden Busen mit gestirnten Zügen brenne. Es gebe keine andere Offenbarung als diese noch fortdauernde, und unsere ganze Orthodoxie sei, wie der Katholizismus, erst in die Evangelien hineingetragen worden und habe das Bestimmte und Lebendige in Unbestimmtes und doch Einengendes jüdischchristlicher Doktrin verwandelt. Denn wir haben alle dasselbe Herz und denselben Gott, und die edle Seele steige über religiöse Zeremonien so gut auf als über bürgerliche, um in den reinen großen Himmel der Tugend zu dringen. – Allein diese Himmelfahrt ist doch nur eine gutmütige Täuschung. Wir haben keineswegs alle dasselbe Herz; und hätten wir es wirklich, wo gäbe es wohl etwas Unbestimmteres als diese Doktrin des alleinseligmachenden menschlichen Herzens? Das fühlte auch der redliche Mann gar wohl, so sehr er sich dagegen sträubte. Daher in allen seinen Schriften die trostlose Wehmut über die Unerreichbarkeit seiner subjektiven Ideale; daher die verzweifelten Luftsprünge seines Humors, womit er über die selbstgefertigten Schlagbäume des Nationalismus hinwegzusetzen versucht. Und zuletzt muß er's selber schmerzlich eingestehen, indem er an Jacobi schreibt: »Mein Innerstes und Bestes hat jetzt nur Hoffnung und Sehnsucht des Lichts, aber keines.«


Die Doktrin der Humanität aber kulminiert endlich in unseren beiden größten Dichtern, in Schiller undGoethe, und wurde von ihnen, wenngleich auf verschiedenen Wegen, zum förmlichen Nationalkultus erhoben. Beide, ihrer Zeit weit überlegen, suchten die verworrene geistige Verlassenschaft in poetischer Vertiefung zusammenzufassen, um daraus eine Weltanschauung sich herauszubilden, die für Zeit und Ewigkeit Weg und Richtung gäbe; beide aber verfehlten dennoch ihr letztes Ziel.

Schiller erstrebte mit allem Ernst eines guten Gewissens die Veredelung des Menschengeschlechts durch dessen ästhetische Ausbildung, durch eine Religion der Kunst. »Verjage«, sagt er, »die Willkür, die Frivolität aus den Vergnügungen der Zeitgenossen, so wirst du sie unvermerkt aus ihren Handlungen, endlich aus ihren Gesinnungen verbannen. Wo du sie findest, umgib sie mit edlen, mit großen, mit geistreichen Formen; schließe sie ringsum mit den Symbolen des Vortrefflichen ein, bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet.« Denn »die Schönheit ist es, durch welche man zu der Freiheit wandert«. Die Empfindungsfähigkeit für das Schöne[742] aber übt sich am vollkommensten an der Kunst, und »innerhalb der ästhetischen Geistesstimmung regt sich kein Bedürfnis nach jenen Trostgründen, die aus Spekulation geschöpft werden müssen; sie hat Selbständigkeit, Unendlichkeit in sich. Die gesunde und schöne Natur braucht keine Moral, kein Naturrecht – ja, sie braucht keine Gottheit, keine Unsterblichkeit, um sich zu stützen und zu halten.«

Also auch hier wieder lauter Bäume, die von selbst in den Himmel wachsen sollen; auch bei dem tugendhaften Schiller abermals, nur unter der neuen Maske der Kunst, die alte Erbsünde der Reformation: die Heiligsprechung der subjektiven Eigenmacht, die moralisch zur hochmütigen Selbsttäuschung, in der Poesie und namentlich im Drama zum falschen Ideale führt. Die antike Tragödie hat allerdings ebenfalls idealisiert, aber streng innerhalb der alten religiösen Grundanschauung. Das Menschliche wurde, wie äußerlich durch die Larve und den Kothurn, so auch geistig erhöht und verstärkt, aber der Held blieb rein menschlich und der höheren Macht über ihm unterworfen, was eben den furchtbaren tragischen Konflikt erzeugte. Und in diesem Sinne ist auch Shakespeare vollkommen antik. Die moderne Tragödie dagegen will ihren Helden zum Selbstgott machen und, als solchen, von aller göttlichen Führung emanzipieren. Das ist aber eine an sich unwahre Stellung, und weil sie eben unwahr ist, muß hier das rein Menschliche – nicht etwa, wie bei den Alten, bloß potenziert, sondern beständig erst künstlich konstruiert werden. Schiller ist der eigentliche Vater dieses modernen Ideals und sein Wahlspruch: »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne« das bezeichnendste Motto für alle seine Schauspiele. Oder vielmehr: in Schillers eigner Brust sind die Sterne des Schicksals seiner Helden und in den letzteren nur die verschiedenen philosophischen Ansichten und Theorien, die den Meister abwechselnd bewegten, poetisch abgespiegelt. In seinen Räubern steht der Dichter noch ganz in den philosophischen Flegeljahren der Klingerschen Geniemänner und Starkgeister, die ohne weiteres sich selbst ihr Schicksal machen. In Kabale und Liebe ist es die alles gleichwaschende Sentimentalität Rousseaus, im Marquis Posa der religiöse und politische Liberalismus, der damals die Weltbeglückung übernommen; während im Wallenstein, in Maria Stuart und in der Jungfrau von Orleans bereits eine gewisse abstrakte Romantik mit hereinspielt. Überall aber die Revolution [743] und Glorifizierung der subjektiven Allmacht; und alle Helden sind Philosophen, und alle philosophieren über sich und ihre Philosophie.

Schiller machte, nach idealer Willkür, die Poesie wie die Geschichte. In bezug auf die letztere gesteht er selbst mit der liebenswürdigen Offenheit eines ehrlich strebenden Mannes: »Ich werde immer eine schlechte Quelle für einen künftigen Geschichtsforscher sein, der das Unglück hat, sich an mich zu wenden. Aber ich werde vielleicht auf Kosten der historischen Wahrheit Leser und Hörer finden und hier und da mit jener ersten philosophischen zusammentreffen. Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie; und die Gegenstände müssen sich gefallen lassen, was sie unter meinen Händen werden.« Allein dasselbe begegnete ihm, wenn auch weniger bewußt, vielleicht in noch vollerem Maße mit seinen Dichtungen. Wir meinen hier nicht die häufige Verletzung der geschichtlichen Wahrheit, wie z.B. im Don Carlos, in der Jungfrau von Orleans, sondern die der Naturwahrheit, die sich ebenso seinen vorgefaßten Theorien beugen und anbequemen mußte. Daher so oft diese abstrakten, ganz unsinnlichen Begriffsgestalten; anstatt des unmittelbaren Naturlauts jene prächtige Rhetorik, jenes über sich selbst philosophierende Sentenziöse sogar unter den Bauern im Tell; überall eine sich selbst beschauende Poesie. Und wie übelberaten auch hier diejenigen waren, die das Unglück hatten, sich an ihn zu wenden, zeigt die bis auf den heutigen Tag noch nicht abgebrochene Heeressäule von Nachahmern, die wie auf Tugendstelzen über die Weltgeschichte dahinschreiten und unsere Bühne neuerdings mit einer rein konventionellen Poesie überflutet haben. Wenn aber Schiller demungeachtet, über Goethe, der Liebling der Nation geworden (was freilich seiner Zeit auch bei Kotzebue der Fall war), so liegt der Grund darin, daß er, wie kein Dichter vor ihm, den Ton seiner Zeit anschlug, indem er den trockenen Rationalismus poetisch verherrlichte, sowie in der Macht, die jederzeit ein ernstes, ehrliches Streben und der blendende Schmuck einer schwunghaften Sprache über die Gemüter übt. Denn es ist in gewissen Zuständen der Kultur nichts unverständlicher als das Einfache.

Bei weitem umfangreicher, als Schiller, hat Goethe die Idee der Humanität aufgefaßt: nicht bloß als Erziehung des Schönheitsgefühls durch die Kunst, sondern als die harmonische [744] Ausbildung aller menschlichen Kräfte und Anlagen, durch das Leben selbst. Er will durchaus »nach keinem Ideale springen«, sondern kämpfend und spielend seine Gefühle sich zu Fähigkeiten entwickeln lassen. Er vertraue sich daher ganz der Natur, »sie mag mit ihm schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen; er spricht nie von ihr, sondern was er Wahres und Falsches sagte, alles hat sie gesprochen, alles ist ihre Schuld, alles ihr Verdienst; habe er einen Fehler begangen, so könnte es keiner sein; und alle Ideale Lavaters sollen ihn nicht irreführen, wahr zu sein und gut und böse wie die Natur.«

Daß bei solcher absoluten Naturwüchsigkeit allepositive Religion unmöglich oder doch wenigstens sehr überflüssig wird, leuchtet von selbst ein. Da indes über das Goethesche Christentum so viel hin und her gestritten worden, so wollen wir hier versuchen, den Inbegriff seiner religiösen Ansicht, nach seinen eigenen überall zerstreuten Bekenntnissen, in wenigen Worten zusammenzufassen. »Lebe, und du wirst leben«, ist das Hauptdogma dieser Religion; denn der Durst nach Leben, die Erkenntnis der unsterblichen Naturordnung, die Ermunterung zu rühmlichen Gedanken und Taten: nur dies allein ist Unsterblichkeit. Daher hält er das Evangelium mit seinen Wundern und Geheimnissen für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur. Er findet vielmehr tausend geschriebener Blätter alter und neuer von Gott begnadigter Menschen ebenso schön und der Menschheit nützlich und unentbehrlich als die Evangelien und bemitleidet die Christomanie Lavaters, der seine ganze Kraft anwende, um ein Märchen wahr zu machen, eine hohle Kindergehirnerfindung zu vergöttern. Er gönne ihm gern dieses Glück, da er ohne dasselbe elend werden müßte; denn bei seiner Begierde, in einem Individuum alles zu genießen, sei es herrlich, daß aus alten Zeiten uns ein Bild übriggeblieben, an dem er sich bespiegeln und anbeten könne. »Nur das ist«, fährt er fort, »ungerecht und Raub, daß du alle köstlichen Federn der tausendfältigen Geflügel unter dem Himmel ausraufst, um deinen Paradiesesvogel damit zu schmücken; dies verdrießt uns, die wir als Söhne Gottes ihn in uns selbst und in allen seinen Kindern anbeten.« Ja, weil das positive Christentum das Selbstanbeten dieser Gottessöhne allerdings sehr empfindlich stört und demütiget, indem es all ihre Bildung und Fortentwicklung nicht als etwas schon Vollendetes, sondern nur als bloße Vorbereitung und Übergang zu [745] einem höheren Dasein gelten läßt, so zählt Goethe dieses überlästige Christentum zu den ihm widerwärtigsten Dingen, gleich Tabak, Knoblauch und Hundegebell, und liebt es, sich für einen ausgemachten Heiden auszugeben. An irgend etwas müsse freilich der Mensch glauben, um nicht an sich selber zu verzweifeln; aber ob er an Christ glaube oder Götz oder Hamlet, das sei eins. Denn mit dem Glauben verhalte es sich grade umgekehrt als mit dem Wissen: es komme gar nicht darauf an, daß man wisse, sondern was man wisse, während es beim Glauben nur darauf ankomme, daß man glaube. Das Wort der Menschen ist ihm daher Wort Gottes, und mit inniger Seele falle er dem Bruder um den Hals: Moses, Prophet, Evangelist, Apostel, Spinoza oder Machiavelli.

So hatte Goethe sich ein Christentum zu seinem Privatgebrauch gebildet, das aber denn doch diesen Namen nur wie lucus a non lucendo beanspruchen kann. Wir geben gern zu, daß bei zunehmendem Alter sein Widerwille gegen das Christentum an ätzender Schärfe verloren; allein diese abgeschwächte, bloß herablassende und jedenfalls sehr zweideutige Milde konnte jenen ersten frischen Eindruck nicht mehr verwischen. Auch fühlen wir uns keineswegs zu der Anmaßung berufen, hier etwa über das Innere des Dichters für Zeit und Ewigkeit richten zu wollen; wir wollten vielmehr nur pflichtgetreu darauf aufmerksam machen, welches Evangelium er in der Blüte seiner Wirksamkeit, da er noch wirklich Goethe war, unter seinen Zeitgenossen und bis in unsere Tage herein verbreitet hat.

Und diesem Evangelium gemäß hat er denn auch seine Poesie sich eingerichtet. Sein »Werther« läßt spielend und kämpfend seine natürlichen Gefühle in der ungebundensten Freiheit sich entwickeln, und »Wilhelm Meister« geht bei der Welt in die Lehre, die ihm alle seine Anlagen zu Fähigkeiten ausbilden soll; während die humanistische Selbsterziehung in den »Wanderjahren« zu einer förmlichen Universität des Menschengeschlechts erhoben ist, zu einer allgemeinen Weltbürgerei mit dem Wahlspruch: »Wo ich nütze, ist mein Vaterland.« Hier wird anstatt der Hausfrömmigkeit eine Weltfrömmigkeit und demnach zu beliebiger Wahl gleichzeitig eine ethnische und eine philosophische Religion gelehrt, die christliche Religion dagegen, »jene Verehrung des Widerwärtigen, Verhaßten, Fliehenswerten«, dem Abiturienten zuletzt nur ausstattungsweise noch mitgegeben, damit er wisse, »wo er dergleichen zu [746] finden habe, wenn ein solches Bedürfnis sich in ihm regen sollte«. – Allein die Zöglinge machen dieser Allerweltsschule keine sonderliche Ehre; sie führt den Werther zum Selbstmord, den Wilhelm Meister zur ökonomischen Philisterei und die Helden der »Wahlverwandtschaften« zum geistigen Ehebruch.

So ist Goethe der eigentliche Führer der modernen Kultur. Dafür hat er aber auch alle Höhen und alle Schauer und Abgründe dieser Bildung tief erkannt und in seinem »Faust« unsterblich gemacht. Faust ist ohne Zweifel nicht nur das größte Gedicht unserer Literatur, sondern zugleich die wahrhafte Tragödie der neuen Zeit: wie da der Titane das ewig Unergründliche erforschen will und in hochmütiger Ungeduld an der verschlossenen Pforte des geheimnisvollen Jenseits rüttelt, der Teufel aber dabei mit seinen entsetzlichen klugen Geisteraugen ihm beständig hohnlächelnd über die Achsel sieht und ihm von Gottgleichheit und überschwenglicher Weltlust zuflüstert und doch nichts zu geben vermag als immer neuen Hunger und Überdruß und Verzweiflung. Und doch, aus solchen schauerlichen Höhen, im zweiten Teil wieder der nüchterne Rückfall in die alte Humanitätskrankheit. Faust, den doch offenbar schon längst der Teufel geholt, erscheint hier auf einmal als völlig courfähiger Kavalier am himmlischen Hofe, Gott, dem himmlischen Hofstaate und dem vor lauter Respekt ganz dumm gewordenen Teufel mit seiner eminenten Weltbildung imponierend – eine opernartige Heiligsprechung dieser Bildung, die auf den Unbefangenen fast den Eindruck macht wie eine vornehme Umschreibung des trivialen Volkstextes: Lustig gelebt und selig gestorben.

Wir haben im Vorstehenden unumwunden den Grundirrtum der Goetheschen Poesie nachzuweisen versucht. Demungeachtet aber behaupten wir, daß er in der Richtung, welche die allgemeine Bildung der Zeit seit der Reformation genommen, unser größter Dichter ist. Goethe hat ohne Zweifel am besten erreicht, was diese vom positiven Christentum abgewandte Poesie aus sich selbst erreichen konnte: die vollendete Selbstvergötterung des emanzipierten Subjekts und der verhüllten irdischen Schönheit. Es ist durchaus ungerecht, die Virtuosität und durchsichtige Klarheit sowie die proteusartige Mannigfaltigkeit seiner Darstellung als bloßen Luxus, nur als zufälligen Schmuck betrachten zu wollen. Denn wo nun einmal durch die Ungunst der Zeiten der rechte Inhalt abhanden gekommen, [747] tritt notwendig die Form als Hauptsache ein. Und das ist eben Goethes unübertroffene Meisterschaft, daß er uns in seinen Dichtungen ein edles, köstliches Gefäß hinterlassen hat, für immer würdig des größten Inhalts, den ihm künftige Geschlechter wieder geben möchten. Ohne tüchtige Gesinnung gibt es freilich keinen tüchtigen Dichter; aber auch die Gesinnung ist nichts ohne die tüchtige Darstellung, welche eben das Organ aller Kunst ist und ohne deren lebendige Vermittelung alle idealisierte Tugendhaftigkeit nur ein toter Begriff bleibt. Wie jämmerlich erscheinen z.B. Klinger, Iffland, Lafontaine und andere, die im Grunde dasselbe Thema wie Goethe behandeln und es gewiß herzlich gut meinen und doch nur eine fratzenhafte Karikatur des Lebens zustande bringen. Wen überrascht dagegen nicht immer wieder neu in Goethes Liedern und Romanzen die wunderbare Tiefe seines Naturgefühls? Sein Götz von Berlichingen ist, trotz vielfacher Anachronismen, wahrer und historischer als alle unsere andern historischen Trauerspiele zusammen, selbst die Schillers nicht ausgenommen. Ja, seine unmittelbar aus der Gegenwart gegriffenen Romane: Werther, Wilhelm Meister und die Wahlverwandtschaften, sind ein fortlaufendes Epos der Bildung des Jahrhunderts, ihrer Leiden und Freuden, ihrer Irrtümer und Laster. Was seinen Helden fehlt, fehlt seiner Zeit, und kann nicht dem Dichter, sondern uns zum Vorwurf gereichen; und jedenfalls wird man aus jenem historischen Romanzyklus für alle Zukunft diese Zeit besser als aus den Geschichtsbüchern studieren und verstehen können.

Es ist schon oben angedeutet worden, wie Goethe mitten unter den Geniemännern seinen Anfang genommen und gleich ihnen seine Sache auf die Natur gestellt hatte. Aber während jene nur die Titanenspielten und sich zuletzt wohlfeil genug mit der flachen Wirklichkeit abfinden ließen, hielt er ernst, stark und treu zu der Mutter, die dafür ihr Wunderkind in alle ihre Geheimnisse einweihte. Seine Poesie war und blieb eine Naturpoesie im höheren Sinne. Da ist nichts Gemachtes; in gesundem, frischem Trieb greift sie fröhlich und ahnungsreich in die schöne weite Welt hinaus, sich von allem Nektar der Erde nährend und stärkend. Sie gibt alles, was die Natur Köstliches geben kann: plastische Vollendung und sinnliche Genüge, aber sie gibt auch nicht mehr. Ihre Harmonie ist ihre Schönheit, die Schönheit ihre Religion; so wächst sie unbekümmert in steigender [748] Metamorphose bis zur natürlichen Symbolik des Höchsten, vor dem sie scheu verstummt.

In grade entgegengesetzter Richtung, sahen wir, überschaute Schiller aus dem Empyreum der modernen Kultur und des Ideals die irdischen Dinge. Wie bei Goethe sich gleichsam alles von selbst versteht, jede seiner poetischen Gestalten, weil sie eben nicht anders kann, ihre angeborene geistige Signatur und verhüllte Idee fast wider Willen verrät, wie der Duft die Blumen oder das Auge die Seele; so sucht Schiller dagegen überall für das fertige Ideal erst den passenden Stoff, der es verkörpere.

Schiller suchte das Christentum ohne Christus, den Frieden zwischen dem Sinnlichen und Unsichtbaren ohne eine höhere Vermittelung, einzig und allein durch die selbständige sittliche Freiheit, zu welcher die Kunst den Menschen erziehen sollte, die aber auf diesem einseitigen Wege notwendig von dem ewig unbefriedigenden Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit befangen bleiben mußte. – Für Goethe dagegen war dieser Konflikt nicht vorhanden. Die Natur mit ihren mannigfachen Gebilden war ihm die ganze Offenbarung und der Dichter nur der Spiegel dieser Weltseele. Allein die Natur ist in ihrem Wesen auch mystisch, als ein verhülltes Ringen nach dem Unsichtbaren über ihr. Das fühlte er, wie er sich auch sträubte, und so beschloß er, wie die Natur ihr Tagewerk mit Symbolik, so das seinige im zweiten Teil des Faust mit einer unzulänglichen Allegorie der Kirche.

Beide Dichter hatten, jeder von seiner Seite, die große Aufgabe fast bis zur Lösung geführt; es fehlte nur noch die Stimme, die es wagte, das Zauberwort auszusprechen, um die höhere Vermittlung beider Ansichten zur Erscheinung zu bringen.

Zweiter Teil

7. Die neuere Romantik
[Novalis]

Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) erkannte die prosaische Versunkenheit seiner Zeit mit einer Tiefe des Gefühls, das man, in einem anderen Sinne als heutzutage, wohl einen Weltschmerz nennen dürfte. So lange schon, sagt er, waren sie »rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschliche Seele und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebenden Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden; sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft Aufklärung. In Deutschland betrieb man dieses Geschäft gründlicher; man reformierte das Erziehungswesen, man suchte der alten Religion einen neueren vernünftigeren, gemeineren Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch; alle Gelehrsamkeit ward aufgeboten, um die Zuflucht zur Geschichte abzuschneiden, indem man die Geschichte zu einem häuslichen und bürgerlichen Sitten- und Familiengemälde zu veredeln sich bemühte; Gott wurde zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feierlich bewirten und bewundern sollte. Das gemeine Volk wurde recht mit Vorliebe aufgeklärt und zu jenem gebildeten Enthusiasmus erzogen, und so entstand eine neue europäische Zunft, die Philanthropen und Aufklärer. Schade, daß die Natur so wunderbar und unbegreiflich, so poetisch und unendlich blieb, allen Bemühungen, sie zu modernisieren, zum Trotz.«

[753] Allein Novalis begnügte sich nicht damit, zu klagen oder anzuklagen. Kampffertig vielmehr ruft er in die morgenfrische Zukunft hinaus:


»Helft uns nur den Erdgeist binden;
Lernt den Sinn des Todes fassen,
Und das Wort des Lebens finden;
Einmal kehrt euch um.
Deine Macht muß bald verschwinden,
Dein erborgtes Licht erblassen,
Werden dich in kurzem binden,
Erdgeist, deine Zeit ist um.«

Man sieht, das ist kein bloßes ästhetisches Mißbehagen an dem und jenem Gebrechen der Zeit; es war das Grundübel des europäischen Gesamtlebens, was ihm am Herzen lag und das mithin auch nur durch eine höhere Weltkraft gebrochen werden konnte. Er wurde zuerst sich bewußt, oder hatte doch zuerst den Mut, es den Gebildeten klar und öffentlich zu sagen, daß die ganze neuere Bildung im Christentume wurzle und notwendig auf diese ihre Grundlage wieder zurückgeführt werden müsse, wenn sie fortan Bedeutung und Bestand haben sollte. »Längst«, sagt er, »hätte sich das überirdische Feuer Luft gemacht und die klugen Aufklärungsplane vereitelt, wenn nicht weltlicher Druck und Einfluß denselben zustatten gekommen wären. In dem Augenblick aber, wo ein Zwiespalt unter den Gelehrten und Regierungen, unter den Feinden der Religion und ihrer ganzen Genossenschaft entstand, mußte sie wieder als drittes tonangebendes und vermittelndes Glied hervortreten, und diesen Hervortritt muß nun jeder Freund derselben anerkennen und verkündigen.«

Jener zersetzenden Gewalt der negativen Wissenschaft erkennt er daher insofern eine welthistorische Gültigkeit zu, als sie durch ihre Extreme in der allgemeinen religiösen Erschlaffung der Völker indirekt die Krise und Genesung herbeigeführt. Denn »daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist, und grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden sind: dies kann einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr [754] glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor. Wie von selbst steigt der Mensch gen Himmel auf, wenn ihn nichts mehr bindet; die höheren Organe treten von selbst aus der allgemeinen gleichförmigen Mischung und vollständigen Auflösung aller menschlichen Anlagen und Kräfte als der Urkern der irdischen Gestaltung zuerst heraus.« – »In Frankreich hat man viel für die Religion getan, indem man ihr das Bürgerrecht genommen und ihr bloß das Recht der Hausgenossenschaft gelassen hat. Als eine fremde, unscheinbare Waise muß sie erst die Herzen wieder gewinnen und schon überall geliebt sein, ehe sie wieder öffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur freundschaftlichen Beratung und Stimmung der Gemüter gemischt wird.«

So erst wieder innerlich geworden, soll aber die Religion demnächst, als jene höhere Weltkraft, alle irdischen Verhältnisse, vor allem deren Gesamtausdruck: den Staat, beseelend durchdringen; und wir erkennen schon hier die Hauptzüge eines solchenchristlichen Staats, wenn er ferner sagt: »Ruhig und unbefangen betrachte der echte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten! Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphus vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht, und schon rollt die mächtige Last auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. Alle euere Stützen sind zu schwach, wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält. Aber knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Himmels; gebt ihm eine Beziehung aufs Weltall, dann habt ihr eine nie ermüdende Feder in ihm und werdet euere Bemühungen reichlich belohnt sehen. – – Haben die Nationen alles vom Menschen, nur nicht sein Herz, sein heiliges Organ?« –

Als eine entscheidende Annäherung zu diesem gewünschten Zustande betrachtet er daher zunächst das monarchische Prinzip. Denn »der König ist das gediegene Lebensprinzip des Staats; ganz dasselbe, was die Sonne im Planetensysteme ist. Man hat sehr unrecht, den König den ersten Beamten des Staats zu nennen. Der König ist kein Staatsbürger, mithin auch kein Staatsbeamter. Das ist eben das Unterscheidende der Monarchie, daß sie auf dem Glauben an einen höhergebornen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen [755] beruht. Unter meinesgleichen kann ich mir keinen Oberen wählen; auf einen, der mit mir in der gleichen Frage befangen ist, nichts übertragen. Die Monarchie ist deswegen echtes System, weil sie an einen absoluten Mittelpunkt geknüpft ist; an ein Wesen, das zur Menschheit, aber nicht zum Staate gehört. Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch. Diese Dichtung drängt sich dem Menschen notwendig auf, sie befriedigt allein eine höhere Sehnsucht seiner Natur.« – Er leugnet zwar keineswegs die Vorteile einer repräsentativen Demokratie, wo die vortrefflichsten Menschen der Nation einander ergänzen und in solchem Vereine sich ein reiner Geist der Gesellschaft entzündet. Allein er fügt hinzu: »Zuerst ziehe ich die vortrefflichsten Menschen der Nation und die Entzündung des reinen Geistes in Zweifel. Auf die sehr widersprechende Erfahrung will ich mich nicht einmal berufen. Es liegt am Tage, daß sich aus toten Stoffen kein lebendiger Körper, aus ungerechten, eigennützigen und einseitigen Menschen kein gerechter, uneigennütziger und liberaler Mensch zusammensetzen läßt. Freilich ist das eben ein Irrtum einer einseitigen Majorität, und es wird noch lange Zeit vergehen, ehe man sich von dieser simplen Wahrheit überzeugen wird. Eine so beschaffene Majorität wird nicht die Vortrefflichsten, vielmehr im Durchschnitt nur die Borniertesten und Weltklügsten wählen. Unter den Borniertesten verstehe ich solche, bei denen Mittelmäßigkeit zur fertigen Natur geworden ist, die klassischen Muster des großen Haufens; unter den Weltklügsten die geschicktesten Courmacher des großen Haufens. Hier wird sich kein Geist entzünden, am wenigsten ein reiner. Ein großer Mechanismus wird sich bilden, ein Schlendrian, den nur die Intrige zuweilen durchbricht. Die Zügel der Regierung werden zwischen dem Buchstaben und mannigfaltigen Parteimachern hin und her schwanken.« – Er zieht daher selbst die Despotie eines einzelnen noch jener Despotie vor. Denn »wenn der Repräsentant schon durch die Höhe, auf die er gehoben wird, reifer und geläuterter werden soll, wieviel mehr der einzelne Regent!«

»Sollte« – frägt er demnach an einer anderen Stelle – »sollte etwa die Hierarchie, diese symmetrische Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins, als intellektuale Anschauung des politischen Ichs sein? – Alte und neue Welt sind im Kampf begriffen. – Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte [756] sich selbst ins Gleichgewicht setzen; ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. – Auf dem Standpunkte der Kabinette, des gemeinen Bewußtseins ist keine Vereinigung denkbar. – Beide Teile sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust: hier die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten, glorreichen Staatsfamilie, und Freude des Gehorsams, dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen. Keine hoffe die andre zu vernichten, – Der Krieg wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise umhertreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Worte des Friedens vernehmen und ein großes Liebesmahl als Friedensfest auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder auferwecken und die Völker versöhnen.«

In der aufrichtigen Rückkehr der Völker zur Religion also sieht er die alleinige Rettung. Diese Rettung aber ist auf der vom Protestantismus eingeschlagenen Bahn unmöglich; vielmehr erkennt er grade in dem letzteren, den er einen Aufstand gegen den Buchstaben der ehemaligen Verfassung nennt, Grund und Anfang jenes allgemeinen Verfalls, welchen wir ihn oben beklagen hörten. Er sagt: »Mit Recht nannten sich die Insurgenten Protestanten; denn sie protestierten feierlich gegen jede Anmaßung einer Gewalt über das Gewissen. – Sie stellten auch eine Menge richtiger Grundsätze auf, führten eine Menge löblicher Dinge ein und schafften eine Menge verderblicher Satzungen ab; aber sie vergaßen das notwendige Resultat ihres Prozesses; trennten das Untrennbare, teilten die unteilbare Kirche und rissen sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein, durch welchen und in welchem allein die echte, dauernde Wiedergeburt möglich war. – So verlor die Religion ihren großen politischen, friedestiftenden Einfluß; – durch die Fortsetzung des sogenannten Protestantismus ward etwas durchaus Widersprechendes, eine Revolutions-Regierung permanent erklärt.«

[757] Er sucht nun die zerstörende Einwirkung der Reformation, und zwar zunächst auf die Wissenschaft, näher nachzuweisen. »Der gelehrte und geistliche Stand«, sagt er, »müssen Vertilgungskriege führen,wenn sie getrennt sind, denn sie streiten um eine Stelle. Diese Trennung tat sich nach der Reformation besonders in späteren Zeiten mehr hervor, und die Gelehrten gewannen desto mehr Feld, je mehr sich die Geschichte der europäischen Menschheit dem Zeitraume der triumphierenden Gelehrsamkeit näherte und Wissen und Glauben in eine entschiedene Opposition traten. Im Glauben suchte man den Grund der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wissen hoffte man sie zu heben. – Das Resultat der modernen Denkungsart nannte man Philosophie und rechnete alles dazu, was dem Alten entgegen war, vorzüglich also jeden Einfall gegen die Religion. Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählich in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr, der Religionshaß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Not obenan und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheueren Mühle, die, vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller, und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei. Ein Enthusiasmus ward großmütig dem armen Menschengeschlechte übriggelassen und als Prüfstein der höchsten Bildung jedem Aktionär derselben unentbehrlich gemacht, der Enthusiasmus für diese herrliche, großartige Philosophie, und insbesondere für ihre Priester und Mystagogen. Frankreich war so glücklich, der Schoß und Sitz dieses neuen Glaubens zu werden, der aus lauter Wissen zusammengeklebt war.«

Doch nicht nur um ihrer weitgreifenden Folgen willen weist er die Reformation zurück, die in dem sehr empfänglichen Frankreich, vielleicht eben weil sie sich dort nicht praktisch und äußerlich gestalten durfte, um so mehr in jene falsche Philosophie umgeschlagen. Auch in ihrem Prinzip, indem sie den historischen Boden lebendiger Tradition verläßt, findet er schon die Wurzel der unheilvollen Trennung von Glauben [758] und Wissen. »Luther«, sagt er, »behandelte das Christentum überhaupt willkürlich, verkannte seinen Geist und führte einen anderen Buchstaben und eine andere Religion ein, nämlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel, und dadurch wurde leider eine andere, höchst fremde irdische Wissenschaft in die Religionsangelegenheit gemischt, die Philologie, deren auszehrender Einfluß von da an unverkennbar wird. – Der heilige Geist ist mehr als die Bibel; er soll unser Lehrer des Christentums sein, nicht toter, irdischer, zweideutiger Buchstabe. – Dem religiösen Sinn war diese Wahl höchst verderblich, da nichts seine Irritabilität so vernichtet wie der Buchstabe; – jetzt wurde die absolute Popularität der Bibel behauptet, und nun drückte der dürftige Inhalt, der rohe abstrakte Entwurf der Religion in diesen Büchern desto merklicher und erschwerte dem heiligen Geist die freie Belebung, Eindringung und Offenbarung unendlich. Daher zeigt uns auch die Geschichte des Protestantismus keine herrlichen, großen Erscheinungen des Überirdischen mehr. – Mit der Reformation war es um die Christenheit getan. – Katholiken und Protestanten oder Reformierte standen in sektierischer Abgeschnittenheit weiter voneinander als von Mohammedanern und Heiden.«

Dagegen schildert er, namentlich in seinem Aufsatze: »die Christenheit oder Europa«, mit Begeisterung das katholische Mittelalter, als die Kirche Lehrerin und Beschützerin der Völker gewesen: »Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die Provinzen dieses geistlichen Reiches. – Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte. Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und strebte mit Eifer, seine wohltätige Macht zu befestigen. – Wie heiter konnte jeder sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heiligen Menschen eine sichere Zukunft bereitet wurde. – Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit, die, mit göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren zu retten bereit war. Sie erzählten von längst verstorbenen himmlischen Menschen, die durch Anhänglichkeit und Treue an jene selige Mutter und ihr himmlisches, freundliches [759] Kind die Versuchung der irdischen Welt bestanden, zu göttlichen Ehren gelangt und nun Vertreter menschlicher Gebrechen und wirksame Freunde der Menschheit am himmlischen Throne geworden waren. Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönen Versammlungen in den geheimnisvollen Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt und von heiliger Musik belebt waren. – Emsig suchte diese mächtige, friedenstiftende Gesellschaft alle Menschen dieses schönen Glaubens teilhaftig zu machen und sandte ihre Genossen in alle Weltteile, um überall das Evangelium des Lebens zu verkündigen und das Himmelreich zum einzigen Reich auf dieser Welt zu machen. Mit Recht widersetzte sich das weise Oberhaupt der Kirche frechen Ausbildungen menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinns und unzeitigen gefährlichen Entdeckungen im Gebiete des Wissens; denn er wußte wohl, daß die Menschen sich gewöhnen würden, alles Große und Wunderwürdige zu verachten und das eingeschränkte Wissen dem unendlichen Glauben vorzuziehen. – Das waren die schönen wesentlichen Züge der echt katholischen oder echt christlichen Zeiten.«

Nur der Katholizismus also bedeutete ihm das volle, ungetrübte Christentum. Denn »angewandtes, lebendiggewordenes Christentum war der alte katholische Glaube. Seine Allgegenwart im Leben, seine Liebe zur Kunst, seine tiefe Humanität, die Unverbrüchlichkeit seiner Ehen, seine menschenfreundliche Mitteilsamkeit, seine Freude an Armut, Gehorsam und Treue, machen ihn als echte Religion unverkennbar und enthalten die Grundzüge seiner Verfassung.«

Fassen wir nun alle die vorstehenden Äußerungen noch einmal zusammen, so erhalten wir in Kürze folgenden wesentlichen Inhalt: Novalis beklagt, mit allen edlen Gemütern seiner Zeit, die materialistische, tödliche Erschlaffung des geistigen Lebens in Europa. Als Grund dieses Verfalls erkennt er den nüchternen Abfall der Völker von der Religion, die einseitige Trennung und feindliche Gegenüberstellung von Glauben und Wissen. Diesen Abfall aber findet er in der Reformation angebahnt, im Protestantismus konstituiert und festgehalten. Nur die Rückkehr zur wahren Religion daher, d.h. zur katholischen Kirche, kann die ersehnte Rettung und Wiedergeburt bringen. »Die Christenheit«, sagt er demnach, »muß wieder lebendig und wirksam werden und sich wieder eine sichtbare [760] Kirche ohne Rücksicht auf Landesgrenzen bilden, die alle nach dem Überirdischen durstige Seelen in ihren Schoß aufnimmt. – Die anderen Weltteile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden.«

Die Erfüllung dieser Hoffnungen war indes unmöglich, solange jene asthenische, radikal prosaische Gesinnung das Leben niederhielt. Das Übel aber konnte wiederum nur durch sein Gegenteil gehoben, die als notwendig erkannte Rückkehr zur Kirche mithin am sichersten nur durch die Poesie vermittelt werden. Und dies war Novalis' Aufgabe. – Natürlich, daß er hiernach die Poesie nicht etwa im untergeordneten, bloß ästhetischen Sinne, sondern in ihrer großartigsten, allgemeinsten Bedeutung auffaßte, ja gewissermassen mit der Religion identifizierte. »Religionslehre«, sagt er, »ist wissenschaftliche Poesie. Poesie ist unter den Empfindungen, was Philosophie in Beziehung auf Gedanken ist.« – Ihr Organ: »das echte Gemüt ist wie das Licht, ebenso ruhig und empfindlich, ebenso elastisch und durchdringlich, ebenso mächtig und ebenso unmerklich wirksam wie dieses köstliche Element, das auf alle Gegenstände sich mit Abgemessenheit verteilt und sie alle in reizender Mannigfaltigkeit erscheinen läßt. – Es ist recht übel, daß die Poesie einen besonderen Namen hat, und die Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist gar nichts Besonderes. Es ist die eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes – die Liebe selbst ist nichts als die höchste Naturpoesie.« – »Poesie ist Darstellung des Gemüts, der innern Welt in ihrer Gesamtheit. – Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizismus gemein; er ist der Sinn für das Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende. Er stellt das Undarstellbare dar, er sieht das Unsichtbare, fühlt das Unfühlbare – er hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn der Weissagung und dem religiösen Sinn, dem Wahnsinn überhaupt.« – Indem er nun aber diese allgemeine, belebende Weltkraft unter das Banner der Religion stellte, wurde sie, als christliche Poesie, eine geistige Macht, die alle menschlichen Verhältnisse, das ganze diesseitige Leben adeln sollte, um es zur Versöhnung mit der Religion wieder fähig zu machen; sie war ihm ein Gottesdienst, der Dichter ein Priester, die Inspiration des gläubig Schauenden und echte dichterische Begeisterung ein und dasselbe.

[761] In diesem Sinne wollte er Predigten über die wichtigsten Momente und Ansichten des Christentums sowie ein christliches Gesangbuch schreiben, zu dem seine geistlichen Lieder der Anfang waren. Ja, er hatte den Plan, mehrere Romane zu dichten, in denen er seine Ansichten der Physik, des bürgerlichen Lebens, der Handlung, der Geschichte, der Politik und der Liebe niederzulegen beabsichtigte. Er wollte, sagt Adam Müller in seinen Vorlesungen über die Literatur, mit dem Geiste der Poesie alle Zeitalter, Stände, Wissenschaften und Verhältnisse durchschreitend, die Welt erobern.

Leider hat er nur einen dieser Romane, seinen »Heinrich von Ofterdingen«, kaum zur Hälfte vollendet. Hier ist es die Poesie selbst, deren oben angedeutete Weltherrschaft er zunächst begründen will. Halb Märchen, halb Roman, sucht diese Dichtung mit jenem universalen poetischen Lichte, und alles Sinnliche an das Unsichtbare knüpfend, das gesamte Leben mit allen seinen weltlichen Beziehungen (Ehe, Staat, Gewerbe usw.) in seiner ursprünglichen höheren Bedeutung und verhüllten Schönheit zu erfassen und, zumal in der Natur, die gebundenen Stimmen, den Geisterblick des Irdischen, zu lösen, deren poetischer Ausdruck eben das Märchen ist.


»Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen;
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen;
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurückbegeben;
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew'gen Weltgeschichten:
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.«

In diesen wenigen Worten gibt Novalis selbst die eigentliche Signatur des merkwürdigen Buches, das – wie Tieck nach den hinterlassenen Andeutungen des Dichters berichtet – mit einer Aussöhnung der christlichen Religion mit der heidnischen schließen sollte.

Durch seine Dichtungen überhaupt aber, auch wo sie das Entlegenste berühren, weht der belebende Hauch einer christlichen [762] Weltanschauung. Gleich wie das Christentum die Gegenwart nur als eine Himmelsleiter und Pilgerfahrt nach dem Reiche Gottes, das diesseitige Leben nur als eine Aufgabe betrachtet, deren Lösung in eine andere Welt hinüberreicht: so ist auch Novalis' Poesie durchaus eine weissagende, eine Poesie der Zukunft und der Sehnsucht, und seine geistlichen Lieder sind eben durch ihr herzliches Heimweh so unvergänglich schön. Daher bei ihm überall die Bedeutsamkeit des Traumes, wo, wie Jean Paul sagt, die Tore um den ganzen Horizont der Wirklichkeit die ganze Nacht offenstehen, ohne daß man weiß, welche fremde Gestalten dadurch einfliegen; daher seine scharfsinnige Vorliebe für das Übersinnliche, Mystische, Symbolische der Erscheinungen; und so endlich wird ihm auch die Liebe eine himmlische zu der heiligen Jungfrau, ja Maria als die göttliche Verklärung der irdischen Schönheit das eigentliche Herz seiner ganzen Poesie, deren innerstes Wesen in dem Liede erklingt:


»Ich sehe dich in tausend Bildern,
Maria, lieblich ausgedrückt;
Doch keins von allen kann dich schildern,
Wie meine Seele dich erblickt.
Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel
Seitdem mir wie ein Traum verweht,
Und ein unnennbar süßer Himmel
Mir ewig im Gemüte steht.«

Wir haben schon oben angedeutet, wie bei Novalis Poesie und Religion sich gewissermaßen identifizierten. Nachdem er (im Ofterdingen) in der Tugendlehre die Religion als Wissenschaft, die sogenannte Theologie im eigentlichen Sinne erkannt hat, stellt er gleich darauf die Poesie, nur als einen andern Ausdruck der Tugend, recht in den Mittelpunkt desselben Kreises. »Also«, sagt er, »ist der Geist der Fabel eine freundliche Verkleidung des Geistes der Tugend und der eigentliche Geist der untergeordneten Dichtkunst die Regsamkeit des höchsten, eigentümlichsten Daseins. Eine überraschende Selbstheit ist zwischen einem wahrhaften Liede und einer edlen Handlung; – so wie diese (die Tugend) die unmittelbar wirkende Gottheit unter den Menschen und das wunderbare Widerlicht der höheren Welt ist, so ist es auch die Fabel. Wie sicher kann nun der Dichter den Eingebungen seiner [763] Begeisterung oder, wenn auch er einen höheren überirdischen Sinn hat, höheren Wesen folgen und sich seinem Berufe mit kindlicher Demut überlassen. Auch in ihm redet die höhere Stimme des Weltalls, und ruft mit bezaubernden Sprüchen in erfreulichere, bekanntere Welten. Wie sich die Religion zur Tugend verhält, so die Begeisterung zur Fabellehre, und wenn in heiligen Schriften die Geschichten der Offenbarung aufbehalten sind, so bildet in der Fabellehre das Leben einer höheren Welt sich in wunderbar entstandene Dichtungen auf mannigfache Weise ab. Fabel und Geschichte begleiten sich in den innigsten Beziehungen auf den verschlungensten Pfaden und in den seltsamsten Verkleidungen, und die Bibel und die Fabellehre sind Sternbilder eines Umlaufs.«

Allein eben in dieser innerlichsten Gleichstellung lag die Gefahr des Irrtums, der dann später von Novalis' Nachfolgern leichtsinnig ausgebeutet wurde, wie es denn immer das Unglück der Nachahmer ist, daß sie nur die schwachen Seiten des Meisters sich abmerken und sie monströs ausbilden. In dem allumfassenden Sinne, wie Novalis die Poesie aufnahm, mußte sie allerdings vor allem auch die Religion in ihren Kreis ziehen und war vollkommen in ihrem Recht, insoweit sie die Liebe und das begeisterte Verständnis der Religion nach Kräften zu wecken und wiederzubeleben strebte. Indem sie aber, darüber hinaus, die Religion selbst durchdringen und beseelend gestalten wollte, deckte sich plötzlich ihre gänzliche Unzulänglichkeit auf; denn, wie poetisch auch immerhin das Christentum sei, sie mußte hier zuletzt auf einen übermenschlichen, positiven Inhalt stoßen, der nicht in ihr aufgehen konnte, weil er weder dem Verstande noch der Phantasie, sondern nur dem Glauben zugänglich ist. Gleich wie daher im Ofterdingen Liebe, Geschichte, Natur usf. sich in tiefsinnige Märchen verwandeln, so verwandelt sich dem Dichter unvermerkt und wider seinen Willen häufig auch das Christentum selbst in bloße Poesie. – Wir wollen versuchen, dies, wieder möglichst überall aus seinen eigenen Worten, deutlicher zu machen.

Wir sahen, er erstrebte eine allgemeine Rückkehr zum positiven Christentum und hatte seine Sache unumwunden auf die katholische Wahrheit gestellt. Wo er dem Zuge seines reichen Gemütes sich unbefangen überläßt, führt ihn dieses auch [764] immer unmittelbar dem Ziel entgegen. So feiert er fast in allen seinengeistlichen Liedern den wahrhaften, historischen Christus mit einer seitdem nicht wieder erreichten Innigkeit und Tiefe; ja, in seinen Marienliedern, in seiner Ansicht der Heiligen, der Märtyrer, geht er ganz in die Anschauungsweise der Kirche ein. – Aber ebensowenig dürfen wir es uns verhehlen, daß er demungeachtet auf diesem heiligen Boden noch nicht fest stand, daß jene innere Rückkehr in ihm selbst noch nicht vollbracht und also auch in seinen Dichtungen noch nicht zum vollen Durchbruch gekommen war. Es liegen vielmehr die Bausteine zum künftigen Münster noch unverbunden umher, Ahnung neben Zweifeln, kirchlicher Glaube neben einem kaum verhüllten Pantheismus; überall ein geheimes Hämmern, Schürfen und Ringen, wie eine himmlisch durchblitzte Nacht. So sucht er, weil in sich selbst noch nicht fertig, unermüdlich die Wahrheit am Zweifel, den Zweifel an der Wahrheit zu prüfen, dann wieder beide miteinander in Konkordanz zu bringen, zwischen unversöhnlichen Widersprüchen mit dem Scharfsinn der Verzweiflung zuweilen die Kirche selbst willkürlich zu deuten, ja eine neue Kirche in Aussicht zu stellen; und es ist gradezu ein peinlicher Anblick, wie er – oft dem Verständnis so nahe, daß es nur noch des passenden Ausdrucks dafür zu bedürfen scheint – sich plötzlich wieder abwendet, um das offen zutage Liegende auf den ausschweifendsten Umwegen durch alle tiefverschlungenen Schachte einer naturphilosophischen Mystik immer und immer wieder von neuem aufzusuchen. Oder wer möchte die Lehre der Kirche noch wiedererkennen, wenn er z.B. sagt: »Das Christentum ist dreifacher Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. Eine das Mittlertum überhaupt, als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. Wählt, welche ihr wollt, wählt alle drei, es ist gleichviel; ihr werdet damit Christen und Mitglieder einer einzigen, ewigen Gemeinde.«

Zwar sucht er sich gegen den Vorwurf des Pantheismus dadurch zu verwahren, daß er diesen nicht im gewöhnlichen Sinne nehme, sondern darunter die Idee verstehe, daß alles Organ der Gottheit, Mittler sein könne, indem er es dazu erhebe. Allein, abgesehen von der Zweideutigkeit dieser Entschuldigung selbst, können doch Äußerungen, wie die nachstehenden, [765] nur pantheistisch gedeutet werden. »Indem das Herz, abgezogen von allen einzelnen wirklichen Gegenständen, sich selbst empfindet, sich selbst zu einem idealischen Gegenstande macht, entsteht Religion. Alle einzelnen Neigungen vereinigen sich in eine, deren wunderbares Objekt ein höheres Wesen, eine Gottheit ist. – Dieser Naturgott ißt uns, gebiert uns, spricht mit uns, erzieht uns, läßt sich von uns essen, von uns zeugen und gebären und ist der unendliche Stoff unserer Tätigkeit und unseres Leidens. Machen wir die Geliebte zu einem solchen Gott, so ist dies angewandte Religion.« – »Der Staat und Gott, so wie jedes geistige Wesen, erscheint nicht einzeln, sondern in tausend mannigfaltigen Gestalten; nur pantheistisch erscheint Gott ganz, und nur im Pantheismus ist Gottganz, überall in jedem einzelnen.« – »Wem regt sich nicht das Herz in hüpfender Lust, wenn ihm das innerste Leben der Natur in seiner ganzen Fülle in das Gemüt kommt; wenn dann jenes mächtige Gefühl sich in ihm ausdehnt wie ein alles auflösender Dunst und er bebend in süßer Angst in den dunkeln, lockenden Schoß der Natur versinkt, die arme Persönlichkeit in den überschlagenen Wogen der Lust sich verzehrt und nichts – als ein verschluckender Wirbel im großen Ozean übrig bleibt?« – Hier sehen wir ihn also schon aus eigner poetischer Machtvollkommenheit das Christentum übergreifend umdeuten. Ja, in der unbefriedigten Unruhe solchen Unterfangens erwartet er, jenseits der Kirche, die er feiert, »eine neue Geschichte, eine neue Menschheit, die süßeste Umarmung einer jungen überraschten Kirche und eines liebenden Gottes und das innige Empfängnis eines neuen Messias in ihren tausend Gliedern zugleich. – Das Neugeborene wird das Abbild seines Vaters, eine große Versöhnungszeit sein, ein Heiland, der wie ein echter Genius unter den Menschen nur geglaubt, nicht gesehen werden, und unter zahllosen Gestalten den Gläubigen sichtbar, als Brot und Wein verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft geatmet, als Wort und Gesang vernommen und mit himmlischer Wollust als Tod, unter den höchsten Schmerzen der Liebe in das Innere des verbrausenden Leibes aufgenommen wird.« – In diesem Sinne sucht er aus und über dem Christentum eine höhere Kirche aufzubauen, die alle Religionen aller Zeiten umfassen soll. Er schreibt nämlich an einen Freund, nachdem er von dessen festem Bibelglauben gesprochen: »Wenn ich weniger auf urkundliche Gewißheit, [766] weniger auf den Buchstaben, weniger auf die Wahrheit und Umständlichkeit der Geschichte fuße; wenn ich geneigt bin, in mir selbst höheren Einflüssen nachzuspüren und mir einen eigenen Weg in die Urwelt zu bahnen; wenn ich in der Geschichte und den Lehren der christlichen Religion die symbolische Vorzeichnung einer allgemeinen, jeder Gestalt fähigen Weltreligion – das reinste Muster der Religion als historischen Erscheinung überhaupt – und also wahrhaftig auch die vollkommenste Offenbarung zu sehen glaube; wenn mir aber eben auf diesem Standpunkt alle Theologien auf mehr oder minder glücklich begriffenen Offenbarungen zu ruhen, alle zusammen aber auf dem sonderbarsten Parallelismus mit der Bildungsgeschichte der Menschheit zu stehen und in einer aufsteigenden Reihe sich friedlich zu ordnen dünken: so werden Sie das vorzüglichste Element meiner Existenz, die Phantasie, in der Bildung dieser Religionsansicht nicht verkennen.«

Wunderbar; solange er den kühnen Münsterbau noch vorbereitet und die wohlbegründeten Fundamente auf dem heimischen Boden legt, fügt sich ihm alles klar, einig und scharf ineinandergreifend; als der Bau nun aber sich immer höher und höher bis nah zum Kreuze aufgerankt, wo die menschliche Luftschicht aufhört und das geheimnisvolle Schweigen beginnt, redet er plötzlich, wie vom Schwindel erfaßt, irre in zweierlei Sprachen, von denen die eine verneint, was die andere bejaht. Da meint er: »Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Stein, Pflanze, Tier und Element werden, und vielleicht gibt es auf diese Art eine fortwährende Erlösung in der Natur.« Und doch sagt er wieder: »Gott und Natur muß man trennen. Gott hat gar nichts mit der Natur zu schaffen; er ist das Ziel der Natur, dasjenige, mit dem sie einst harmonieren soll. Die Natur soll moralisch werden.« – In seinen geistlichen Liedern betet er inbrünstig zu dem persönlichen Christus, dem Gottmenschen, und findet doch, daß die Wahl eines Mittlers nur relativ sei, »daß das Wesen der Religion wohl nicht von der Beschaffenheit des Mittlers abhange, sondern lediglich in der Ansicht desselben, in den Verhältnissen zu ihm, bestehe. Es ist ein Götzendienst im weiteren Sinne«, sagt er, »wenn ich diesen Mittler in der Tat für Gott selbst ansehe.« – An der einen Stelle preist er ferner die Erlösung von der Sünde durch das Christentum:


[767]
»Ein alter, schwerer Wahn von Sünde
War fest an unser Herz gebannt;
Wir irtten in der Nacht wie Blinde,
Von Reu und Lust zugleich entbrannt. –
Da kam ein Heiland, ein Befreier,
Ein Menschensohn, voll Lieb und Macht –
Seitdem verschwand bei uns die Sünde
Und fröhlich wurde jeder Schritt;
Man gab zum schönsten Angebinde
Den Kindern diesen Glauben mit;
Durch ihn geheiligt zog das Leben
Vorober wie ein sel'ger Traum,
Und, ew'ger Lieb' und Lust ergeben,
Bemerkte man den Abschied kaum.«

Und dennoch behauptet er: »Die christliche Religion ist die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der größte Reiz für die Liebe der Gottheit; je sündiger sich der Mensch fühlt, desto christlicher ist er. Unbedingte Vereinigung mit der Gottheit ist der Zweck der Sünde und Liebe.« Eine Behauptung, die frevelhaft wäre, wenn hier nicht offenbar der Akzent auf demSichschuldig fühlen, also auf der demütigen Zerknirschung und Hülfsbedürftigkeit des Menschen läge; und wenn er nicht, dies bestätigend, anderswo wieder Sittlichkeit und Religion als die verbundenen Grundfesten unseres Daseins erklärte, indem er sagt: »Die Moral ist, wohlverstanden, das eigentliche Lebenselement des Menschen. Sie ist innig eins mit der Gottesfurcht. Unser eigener sittlicher Wille ist Gottes Wille. Indem wir seinen Willen erfüllen, erheitern und erweitern wir unser eigenes Dasein, und es ist, als hätten wir um unsrer selbst willen aus innerer Natur so gehandelt. Die Sünde ist allerdings das eigentliche Übel in der Welt. Alles Ungemach kommt von ihr her. Wer die Sünde versteht, versteht die Tugend und das Christentum, sich selbst und die Welt.« – »Man sollte sich schämen, wenn man es nicht mit den Gedanken dahin bringen könnte, zu denken, was man wollte. Bitte Gott um seinen Beistand, daß er die ängstlichen Gedanken verjagen helfe. – Sobald du ängstlich wirst und traurige, bängliche Vorstellungen sich dir aufdringen, so fange an, recht herzlich zu beten. Gelingt es die ersten Male nicht, so gelingt es gewiß mit der Zeit.« – »Auf den Körper läßt sich nicht immer wirken; [768] aber in der Seele sollte man sich die Herrschaft mit Gottes Hülfe zu erwerben suchen, um recht ruhig zu sein. – Gebet ist eine universelle Arzenei. Des Herren Wille geschehe, nicht der meinige. – Selbst meine philosophischen Studien sollen mich nicht mehr stören. In tiefer, heiterer Ruh will ich den Augenblick erwarten, der mich ruft.« – Und in diesem Sinne durfte grade er, der Reine, wohl zu sagen wagen, daß die Sünde der größte Reiz für die Liebe der Gottheit sei.

Wir sind daher weit davon entfernt, ihm dieses Schwanken, diese, oft auch nur scheinbaren, Widersprüche, die in der immer gleichen Liebe ihre höhere Versöhnung finden, zum Vorwurfe zu machen; wir betrachten sie vielmehr als die Zeichen eines rastlosen, treuen Ringens nach der Wahrheit, wie das Zittern der Magnetnadel, die ihren Pol sucht. Die Erfahrung der neusten Zeit lehrt uns ja, wie leicht es sei, wenn man Ernst und Gewissen beiseite werfen will, sich konsequent und bequem in einem vornehmen Systeme zu verstocken. Allerdings ist in seiner bedeutungsvollen Erscheinung nicht nur der Typus, sondern, wie wir weiterhin sehen werden, auch schon die ganze innere Geschichte und Zukunft der Romantik mit allem ihren Tiefsinn, ihren verworrenen Labyrinthen und Abgründen, wie in geistreichen Umrissen enthalten. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er jung starb und daß es eben nur Umrisse sind, die er uns hinterlassen und die uns keineswegs berechtigen, über den weiteren Ausbau, wenn er ihm hienieden vergönnt gewesen wäre, abzusprechen. Und so schließen wir denn diese Betrachtung in dankbarer Erinnerung dessen, was er wollte, gern mit den Worten, die einst Schleiermacher in den Reden über Religion seinem Freunde nachgerufen: »Nur schweigend will ich euch hinweisen auf den zu früh entschlafenen göttlichen Jüngling, dem alles Kunst ward, was sein Geist berührte, seine ganze Weltbetrachtung unmittelbar zu einem großen Gedicht; den ihr den reichsten Dichtern beigesellen müßt, jenen seltenen, die ebenso tiefsinnig sind als klar und lebendig. An ihm schauet die Kraft der Begeisterung und der Besonnenheit eines frommen Gemüts und bekennt, wenn die Philosophen werden religiös sein und Gott suchen wie Spinoza und die Künstler fromm sein und Christum lieben wie Novalis: dann wird die große Auferstehung für beide Welten (Philosophie und Kunst) gefeiert werden.«

[769]
Wackenroder

Jenen unnennbaren Himmel, das Unaussprechliche des religiösen Gefühls, das Novalis in obigem Marienliede angedeutet, hat dessen Zeit- und Geistes-Genosse Wackenroder in seinen »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« sowie im ersten Teile des »Sternbald« der Kunst als ihr angestammtes Gebiet vindiziert. »Durch Worte«, sagt er, »herrschen wir über den ganzen Erdkreis, durch Worte erhandeln wir uns mit leichter Mühe alle Schätze der Erde. Nur das Unsichtbare, das aber über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüt hinab. – Ich kenne aber zwei wunderbare Sprachen, durch welche der Schöpfer den Menschen vergönnt hat, die himmlischen Dinge in ganzer Macht, soviel es nämlich (um nicht verwegen zu sprechen) sterblichen Geschöpfen möglich ist, zu fassen und zu begreifen. Sie kommen durch ganz andere Wege zu unserem Innern als durch die Hülfe der Worte; sie bewegen auf einmal, auf eine wunderbare Weise, unser ganzes Wesen und drängen sich in jede Nerve, in jeden Blutstropfen, der uns angehört. Die eine dieser wundervollen Sprachen redet nur Gott; die andere reden nur wenige Auserwählte unter den Menschen, die er zu seinen Lieblingen gesalbt hat. Ich meine: die Natur und die Kunst.« – Die Kunst sollte also ein verhüllter Engel sein, der zu uns herniederstieg, um nach der himmlischen Heimat hinzuweisen, jedes echte Kunstwerk eine göttliche Eingebung, nur von Andacht erzeugt und verstanden. Die katholische Religion aber, welche von jeher ihre Geheimnisse in Bildern, Musik und Bauwerk tiefsinnig abgespiegelt, war daher auch ihm der eigentliche Boden und Mittelpunkt aller Kunst.

Nun ist ohne Zweifel diese religiöse Vertiefung der Kunst, wie sie ja schon Novalis geltend gemacht, an sich höchst ehrenwert und für die letztere von sehr wohltätigen Folgen gewesen. Ebenso gewiß mußte aber auch die Einseitigkeit, womit Wackenroder Natur und Kunst, oder mit anderen Worten: das Gefühl, als den sichersten, unmittelbarsten, ja einzigen Weg zur Erfassung der göttlichen Dinge überhaupt aufgestellt, und so Kunst und Religion gewissermaßen identifiziert hat, zu einem bodenlosen Verhimmeln des Positiven führen und manche schwachen Gemüter verwirren. In der Kunst selbst ist dieses Nebeln und Schwebeln, das bloße Gefühle mit Luft in Luft [770] malt, ohne es zum lebendigen Bilde zu bringen, als »Sternbaldisieren« berüchtigt geworden. Reicht aber das bloße, wandelbare Gefühl, das ja überall erst durch seinen Inhalt und die Überzeugungen Wert und Halt empfängt, nicht einmal zu einer lebendigen Erfassung der Kunst hin, wie sollte es der Religion gegenüber genügen? Jenes Mißverständnis hat daher, wie einerseits einen künstlerischen Dilettantismus, so auch ein dilettantisches Katholisieren in Mode gesetzt, das die Kirche fast nur als eine grandiose Kunstausstellung betrachtete und sich für berechtigt hielt, ihre Geheimnisse nach seiner Weise und Stimmung zu deuten.

Wackenroder selbst führt seine Gedanken in mehreren Kunstnovellen durch poetische Beispiele weiter aus. Welcher Konfession jedoch wäre wohl jemals mit Konvertiten »durch Nerv und Blutstropfen« gedient, wie er einen solchen in nachstehenden Worten beschreibt! –

»Ich ging neulich in die Rotonda (in Rom), weil ein großes Fest war, und eine prächtige lateinische Musik sollte aufgeführt werden, oder eigentlich anfangs nur, um meine Geliebte unter der betenden Menge dort wiederzusehen und mich an ihrer himmlischen Andacht zu bessern. Der herrliche Tempel, die wimmelnde Menge Volks, die nach und nach hereindrang und mich immer enger umgab, die glänzenden Vorbereitungen, das alles stimmte mein Gemüt zu einer wunderbaren Aufmerksamkeit. Mir war sehr feierlich zumute, und wenn ich auch, wie es einem bei solchem Getümmel zu gehen pflegt, nichts deutlich und hell dachte, so wühlte es doch auf eine so seltsame Art in meinem Innern, als wenn auch in mir selber etwas Besonderes vorgehen sollte. Auf einmal ward alles stiller, und über uns hub die allmächtige Musik, in langsamen, vollen, gedehnten Zügen an, als wenn ein unsichtbarer Wind über unseren Häuptern wehte: sie wälzte sich in immer größeren Wogen fort, wie ein Meer, und die Töne zogen meine Seele ganz aus ihrem Körper heraus. Mein Herz klopfte, und ich fühlte eine mächtige Sehnsucht nach etwas Großem und Erhabenem, was ich umfangen könnte. Der volle lateinische Gesang, der sich steigend und fallend durch die schwellenden Töne der Musik durchdrängte, gleich wie Schiffe, die durch Wellen des Meeres segeln, hob mein Gemüt immer höher empor. Und indem die Musik auf diese Weise mein ganzes Wesen durchdrungen hatte und alle meine Adern durchlief –[771] da hob ich meinen in mich gekehrten Blick, und sah um mich her –, und der ganze Tempel ward lebendig vor meinen Augen, so trunken hatte mich die Musik gemacht. In dem Moment hörte sie auf, ein Pater trat vor den Hochaltar, erhob mit einer begeisterten Gebärde die Hostie, und zeigte sie allem Volke – und alles Volk sank in die Knie, und Posaunen, und ich weiß selbst nicht, was für allmächtige Töne, schmetterten und dröhnten eine erhabene Andacht durch alles Gebein. Alles, dicht um mich herum, sank nieder, und eine geheime, wunderbare Macht zog auch mich unwiderstehlich zu Boden, und ich hätte mich mit aller Gewalt nicht aufrecht erhalten können. Und wie ich nun mit gebeugtem Haupte kniete und mein Herz in der Brust flog, da hob eine unbekannte Macht meinen Blick wieder; ich sah um mich her, und es kam mir ganz deutlich vor, als wenn alle die Katholiken, Männer und Weiber, die auf den Knien lagen und, den Blick bald in sich gekehrt, bald auf den Himmel gerichtet, sich inbrünstig kreuzten und sich vor die Brust schlugen und die betenden Lippen rührten, als wenn alle um meiner Seelen Seligkeit zu dem Vater im Himmel beteten, als wenn alle die Hunderte um mich herum um den einen Verlorenen in ihrer Mitte flehten und mich in ihrer stillen Andacht mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihrem Glauben hinüberzögen. Da sah ich seitwärts nach Marien hin, ihr Blick begegnete dem meinigen, und ich sah eine große, heilige Träne aus ihrem blauen Auge dringen. Ich wußte nicht, wie mir war, ich konnte ihren Blick nicht aushalten, ich wandte den Kopf seitwärts, mein Auge traf auf einen Altar, und ein Gemälde Christi am Kreuze sah mich mit unaussprechlicher Wehmut an – und die mächtigen Säulen des Tempels erhoben sich anbetungswürdig, wie Apostel und Heilige, vor meinen Augen, und schauten mit ihren Kapitälern voll Hoheit auf mich herab – und das unendliche Kuppelgewölbe beugte sich wie der allumfassende Himmel über mir her und segnete meine frommen Entschließungen ein. – Ich konnte nach der geendigten Feierlichkeit den Tempel nicht verlassen; ich warf mich in einer Ecke nieder und weinte und ging dann mit zerknirschtem Herzen vor allen Heiligen, vor allen Gemälden vorüber, und es war mir, als dürfte ich sie nun erst recht betrachten und verehren. – Ich konnte der Gewalt in mir nicht widerstehen: – ich bin nun, teurer Sebastian, zu jenem Glauben hinübergetreten, und ich fühle mein Herz froh und leicht. Die Kunst [772] hat mich allmächtig hinübergezogen, und ich darf wohl sagen, daß ich nun erst die Kunst so recht verstehe und innerlich fasse. Kannst Du es nennen, was mich so verwandelt, was wie mit Engelstimmen in meine Seele hineingeredet hat, so gib ihm einen Namen und belehre mich über mich selbst; ich folgte bloß meinem innerlichen Geiste, meinem Blute, von dem mir jetzt jeder Tropfen geläuterter vorkömmt.«

Man fühlt, eine so zufällige, musikalisch-luftige Bekehrung wird kaum länger dauern als die Musik, die sie hervorgerufen. Dennoch leugnen wir nicht, und haben es schon oben angedeutet, daß die Glut und Innigkeit, womit Wackenroder die Sache auffaßte, in der Kunst eine Erschütterung und Anregung erweckte, welcher die erschlaffte Zeit bedurfte; und in der Tat ist aus dieser religiösen Kunstbegeisterung bekanntlich im Anfange dieses Jahrhunderts die deutsch-romantische Malerschule hervorgegangen. – Seitdem freilich hat die eilfertige Zeit ihren Geschmack wieder gewandelt und, anstatt der Madonnen und Heiligenbilder, das sogenannte Genre beliebt. Wir wollen den Maler keineswegs mit einseitiger Ängstlichkeit auf bloß kirchliche Motive beschränken; denn nicht durch die Wahl profaner Gegenstände an sich wird die Kunst schon profaniert, da sich ja alle Erscheinungen des Lebens, wenn man nur will, religiös erfassen und darstellen lassen. Aber es bleibt wohl zu erwägen, ob die Malerei den tiefen Ernst, der aller Kunst not tut, ja ob sie überhaupt auch nur eine tüchtige Schule sich wird bewahren können, wenn sie dem würdigsten, in dem Volksgefühl aller Zeiten begründeten Inhalte entsagt, wenn sie aus den Kirchen in die Plaudersäle und Boudoirs, von der stillen Erbauung des Volkes an die modisch wechselnden Gelüste der Weltleute und Dilettanten gewiesen wird. Was dem Zeitgeiste dient, ohne ihn über sich selbst zu heben, wird notwendig von ihm übergerannt und beseitigt.

August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel
August Wilhelm Schlegel sagt von sich selbst:
»Der Völkersitten, mancher fremden Städte
Und ihrer Sprache frühe schon erfahren,
Was alte Zeit, was neue Zeit gebaren
Vereinigend in eines Wissens Kette,
[773]
Im Stehn, im Gehn, im Wachen und im Bette,
Auf Reisen selbst, wie unterm Schutz der Laren
Stets dichtend, aller, die es sind und waren,
Besieger, Muster, Meister im Sonette;
Der Erste, der's gewagt, auf deutscher Erde
Mit Shakespeares Geist zu ringen und mit Dante,
Zugleich der Schöpfer und das Bild der Regel:
Wie ihn der Mund der Zukunft nennen werde
Ist unbekannt; doch dies Geschlecht erkannte
Ihn bei dem Namen August Wilhelm Schlegel.«

Dieses, eben nicht blöde, Selbstlob ist dennoch wahr und enthält ungefähr alles, was wir in Prosa von ihm sagen könnten: nämlich daß er durch eminente Kritik, vielseitige Gelehrsamkeit, Meisterschaft in den poetischen Formen und durch seine vortrefflichen Übersetzungen ein Hauptförderer der Romantik gewesen. Eben diese Eigenschaften jedoch, bei geringerer poetischer Produktionskraft, eigneten ihn zum eigentlichenÄsthetiker der Romantik, als welcher er um so weniger in den Kreis unserer Betrachtung gehört, da er anderweit auch durch seine Gesinnung sich selbst vom romantischen Boden exiliert. Es sei uns erlaubt, einige darauf sich beziehende, vertrauliche Bekenntnisse desselben beizufügen, weil sie einen tiefen Blick in die geheime Werkstatt der Begründer der Romantik eröffnen; Äußerungen, mit denen er, wie es scheint im Gefühl, daß sie die Lebensfrage aller Romantik betreffen, vor dem Publikum weislich zurückgehalten und die wir hier stellenweis unübersetzt, wie wir sie gefunden, wiedergeben, da sie sich ohne Zweifel im Französischen am unnachahmlichsten ausnehmen. Er schreibt nämlich im Jahre 1838 an eine Dame: »Ich habe gegen die Prosa und Engherzigkeit der Flachköpfe eine Reaktion versucht und die sensualistische Philosophie mitsamt ihrer platten Moral gehaßt; mit meinen Freunden begann ich die Erinnerungen des Mittelalters zu beleben und christliche Stoffe in die Poesie zurückzuführen, und weil der Protestantismus mir da nichts bot, mußte ich wohl aus den Überlieferungen der Römischen Kirche schöpfen. Ich schrieb die geistlichen Sonette: c'était une prédilection d'arti ste; ich wurde von der Pracht des katholischen Kultus eine Zeitlang gefesselt und habe nachher [774] auch die Theosophie studiert. Novalis (penseur audacieux, rêveur divinatoire, à la fin visionaire) hat es mit seiner Art von Christentum ehrlich gemeint: comme un oiseau de passage, fatigué par son vol au-dessus d'un immense océan, s'abat sur une petite île verdoyante, et y oublie son ancienne patrie et la vaste contrée, qu'il avait voulu atteindre. Les retours à la vieille église devenaient de plus en plus fréquents. – Pour moi, je n'ai jamais eu sérieusement le projet, de contracter un engagement solennel, quoique les sollicitation ne m'aient pas manqué. Au contraire, à mesure que mon frère Frédéric faisait des pas en avant, je rebroussais chemin. Je n'ai qu'à me reprocher ma trop longue indulgence: mais je l'ai expiée par un des plus amers chagrins de ma vie. Ce fut le divorce des âmes. Revolté du rôle, qu'il joua depuis 1819 comme écrivain et comme allié des Jesuites, j'ai fini par lui declarer mon inimitié à la manière des anciens Romains. Die Erscheinungen des Tages seit dem Frieden konnten mich nicht veranlassen, eine neue Union mit den beiden christlichen Gemeinschaften einzugehn, und so beschloß ich, nachdem ich an viele Pforten geklopft, da doch une foi factice et arbitraire ne sert à rien, zuletzt wahr zu sein gegen mich selber und dem Zweifel und Gedanken Raum zu lassen. Je m'en tiens«, so schließen diese Bekenntnisse, »à la religion primitive, innée et universelle. Voilà les termes de mes erreurs d'Ulysse, voilà mon Ithaque!«

Mit gerechtem Unwillen entdecken wir also hier, anstatt des ehrlichen Kampfes, den wir voraussetzen und fordern durften, nur ein diplomatisches Scheingefecht, ein verlorenes Leben, das zuletzt genau bei derselben Indifferenz wieder angelangt, gegen die es ein halbes Jahrhundert lang zu kämpfen schien, und dem hiernach notwendig der Schmerz zuteil werden mußte, sein Tagewerk, die Romantik, zu überleben.


Jede bedeutende geistige Richtung aber hat ihre hervorragenden, führenden Charaktere; ein solcher warFriedrich Schlegel für die Romantik. Wie einst Lessing, stellte er sich kühn auf jene Höhe der modernen Bildung, die über Vergangenes und Zukünftiges freie Umschau eröffnet, mit staunenswerter Vielseitigkeit Philosophie und Poesie, Geschichte und Kunst, das klassische Altertum wie das Mittelalter und den [775] Orient durchforschend. Auch darin ist er Lessing vergleichbar, daß er, wie jener die skeptische Richtung seiner Zeit, so den geistigen Prozeß der Romantik in ungestümer Konsequenz zu dem Zielpunkte mit sich fortriß, wo die Sache spruchreif und eine Entscheidung unumgänglich wird; und zwar, wiederum wie Lessing, nicht als literarisches Kunststück zur eignen Verherrlichung, sondern aus tiefer Sehnsucht nach der höheren Wahrheit, d.i. nach Versöhnung von Glauben und Wissen in der Religion, oder wie er selbst es schärfer faßt: nach der Einheit der Wissenschaft und der Liebe. Es ist daher ebenso stumpfsinnig als ungerecht, ihn, wie von seinen Gegnern noch häufig geschieht, nach den einzelnen, momentanen Phasen seines Bildungsganges zu beurteilen und gleichsam die Blüte für die trübe Hülse verantwortlich machen zu wollen, die sie doch selbst durchbrochen und weggeworfen. Grade der männliche Fortschritt, der durch alle diese Verwandlungen sichtbar wird und jede oft liebevoll selbst erbaute Schranke, wenn er sie als solche erkannt, rücksichtslos vor sich niederwirft, ist das Großartige seiner Erscheinung.

So sehen wir ihn, zunächst von Fichtes starrem Idealismus ausgehend, da dieser sein Verlangen nach innerer religiöser Vollendung keineswegs befriedigen konnte, sich in die Naturphilosophie versenken und gleichzeitig die ihr verwandte Romantik als christliche Schönheit der Poesie fast leidenschaftlich ergreifen. Aber von seinem dunklen Feuer durchglüht, fingen nun erst die noch chaotisch verschlungenen Elemente der Romantik, die echten und die falschen, wunderbar zu gären an; denn er adoptierte sie nicht bloß, er gestaltete sie. Alles Zweideutige, Schwankende bei Novalis: den verhüllten Pantheismus, den Naturgott und das entfesselte, geniale Ich trieb er, namentlich in seiner »Lucinde«, folgerichtig eins aus dem andern zu seiner notwendigen Formation empor. »Alle Selbständigkeit«, sagt er in jener Periode, »ist Originalität, und alle Originalität ist moralisch. – Man hat nur so viel Moral, als man Sinn für Poesie und Philosophie hat. – Jeder vollständige Mensch hat einen Genius; die wahre Tugend ist Genialität. – Wenn jedes unendliche Individuum Gott ist, so gibt's so viele Götter als Ideale. Auch ist das Verhältnis des wahren Künstlers und Menschen zu seinen Idealen durchaus Religion. – Nur das kann ich für Religion gelten lassen, wenn man voll von Gott ist, wenn man nichts mehr um der Pflicht willen, [776] sondern alles aus Liebe tut, bloß weil man es will, und wenn man es nur darum will, weil es Gott sagt, nämlich Gott in uns.« – Allein auch diese poetische Täuschung konnte ihm nicht lange genügen; wie einem Bergmanne vielmehr, der aus dem verfallenen Schacht der Natur sich wacker emporarbeitet, blitzte ihm schon damals das Tageslicht in einzelnen Ahnungen entgegen. Der Tod wird ihm eine »Selbstbesiegung, die wie alle Selbstüberwindung eine neue, leichtere Existenz verschafft«. Ja schon im Jahre 1800 sagt er: »Nichts ist mehr Bedürfnis der Zeit als ein geistiges Gegengewicht gegen die Revolution und den Despotismus, den sie durch die Zusammendrängung des höchsten menschlichen Interesse über die Geister ausübt. – Laßt die Religion frei, und es wird eine neue Menschheit beginnen.«

Das Wesen des Protestantismus hatte er schon sehr frühe scharf umzeichnet. Im J. 1804, noch selbst dieser Konfession zugetan, schreibt er bei Herausgabe von Lessings Gedanken und Meinungen: »Was ist das Wesen des Protestantismus? Und was war es, was ihn zuerst auszeichnete und eigentlich konstituierte? Nicht diese oder jene Meinung, denn darüber fand die größte Verschiedenheit, ja Verworrenheit unter den großen Reformatoren selbst statt, sondern das, was alle gleich sehr beseelte, worin sie ohne Verabredung eins waren, und was ihr gemeinsames Band blieb. Die Freiheit war es, mit der sie lehrten; der Mut, selbst zu denken und dem eignen Denken gemäß zu glauben; die Kühnheit, das Joch auch der verjährtesten, ja kurz vorher noch von ihnen selbst unverletzbar heilig gehaltenen Irrtümer abzuwerfen. – Polemik ist daher allen Protestanten, oder allen Bekämpfern des Irrtums, wesentlich, ja es ist ihr ganzer Charakter in diesem Begriffe beschlossen. Polemik ist das Prinzip alles ihres Strebens und die Form alles ihres Wirkens. Will man dies in einen bestimmten Begriff fassen, so sage man, Katholizismus ist positive, Protestantismus aber negative Religion. – Der wahre Protestant muß auch gegen den Protestantismus selbst protestieren, wenn er sich nicht in neues Papsttum und Buchstabenwesen verkehren will. Die Freiheit des Denkens weiß von keinem Stillstande und die Polemik von keinen Schranken; der Protestantismus aber ist eine Religion des Krieges, bis zur innern Feindschaft und zum Bürgerkriege.« – Er selbst huldigt noch unbedingt diesem Prinzip wissenschaftlich polemischer Freiheit, »da es doch [777] keine Liebe gibt ohne Wahrheit und keine Wahrheit ohne den Mut dazu«, und sucht es daher – freilich nicht ohne einige sophistische Künstlichkeit – mit dem Christentume zu vermitteln, indem ja eine gewisse Freigeisterei und Irreligiosität dem Christentum wesentlich, ihm keineswegs entgegengesetzt, sondern ein notwendiges Phänomen seiner auch alle ursprüngliche Abwege universell umfassenden Entwickelung sei. Aber alle diese Vorliebe täuschte ihn schon damals durchaus nicht über die notwendigen Endresultate dieser Freiheit. Wenige Zeilen weiter vielmehr sagt er prophetisch, als hätte er im Buche der Zeiten vorausgeblättert: »Das unaufhaltsam um sich Greifende des Protestantismus zeigt sich auch äußerlich in der Geschichte desselben; aber freilich hier in der gemeinen Masse nicht so edel als in dem Geiste eines Lessing. Während die positive Religion sich immer mehr fixiert und gleichsam versteinert hat, ist im Protestantismus fast nichts unverändert geblieben als die Veränderlichkeit selbst; und während auf der einen Seite die protestantische Denkart aus der Sphäre der Religion in die bürgerliche Welt hinausgetreten ist und auch da eine Reformation der gesamten politischen Verfassung hat versuchen wollen, hat man auf der anderen Seite die Religion so lange geläutert und geklärt, bis sie endlich ganz verflüchtigt worden und vor lauter Klarheit verschwunden ist. Beide Ausartungen sind natürlich genug; denn es ist im Wesen der freien Tätigkeit selbst gegründet, daß sie, je nachdem sie mehr extensiv oder mehr intensiv zu sein strebt, bald ihre eigene Sphäre überspringt, und sich in eine fremde hinauswirft, bald aber, auf sich selbst zurückgewandt, sich selber bis zur Selbstvernichtung untergräbt.« – Man sieht, hier hat ihn die unerschütterliche Treue der Forschung unwillkürlich auf den Punkt geführt, wo er nicht umhin konnte sich zu entschließen, entweder es auf jene Selbstvernichtung hin zu wagen oder zum Primitiven, Positiven, zur Kirche sich zurückzuwenden; und es ist ein fast komischer Anblick, wie die neueste Literatur sich vergebens abquält, diese seine Rückkehr durch künstliche Hypothesen und Annahmen von, man weiß nicht recht welchen, inneren Katastrophen zu erklären. So soll er, nach einigen, erst in Paris durch das Studium des Sanskrit auf die indischen Büßer, von den indischen Büßern auf die christliche Asketik und von der Asketik auf den Papst gekommen sein; als läge die Kirche in ihren Hauptlineamenten nicht schon in [778] Novalis' Ideengange, dessen Gedankenerbe und Fortsetzer Friedrich Schlegel war.

So hatte Schlegel sich, man könnte sagen, durch die Romantik hindurchgekämpft, und als er, bei ihren extremen Konsequenzen angelangt, ihres ungeheueren Irrtums sich bewußt wurde, war er es auch, der, noch einmal alles Große und Wahre in ihr streng zusammenfassend, sie zu ihrem Ursprung wieder zurückführte; und er hatte die Gewalt und das Recht dazu, denn er hatte sie innerlich erlebt wie kein anderer. Die Romantik wollte das ganze Leben religiös heiligen; das wollte Schlegel auch; in dem Grundgedanken also sind und waren beide einig. Aber die Romantik, nur noch ahnend und ungewiß umhertastend, wollte es bis dahin mehr oder minder durch eine unklare symbolische Umdeutung des Katholizismus. Schlegel dagegen erkannte, daß das Werk der Heiligung alles Lebens schon seit länger als einem Jahrtausend, gründlicher und auch schöner, in der alten Kirche still fortwirke und daß die Romantik nur dann wahr sei und ihre Mission erfüllen könne, wenn sie von der Kirche ihre Weihe und Berechtigung empfange. Durch Fr. Schlegel daher, den eigentlichen Begründer der Romantik, ist diese in der Tat eine religiöse Macht geworden, gleichsam das Gefühl und poetische Gewissen des Katholizismus. Jene göttliche Gewalt der Kir che aber in allen Wissenschaften und Lebensbeziehungen zu enthüllen und zum Bewußtsein einer nach allen Richtungen hin zerfahrenen Zeit zu bringen, wurde von jetzt ab die Aufgabe seines Lebens. »Töricht«, schreibt er, »ist die Meinung derer, die da sagen: die Lehre, die allein Heil bringt, sei zwar durch Christum in die Welt gekommen; aber jetzt könne man auch ohne die Gemeinschaft und die Gebrauche der Kirche und ohne Verehrung seiner Person das Wesentliche seiner Lehre halten, seiner Bestimmung genugtun. Die Kirche ist allein das Gefäß jener Lehre, und diese Gemeinschaft zu zerreißen ist die schlimmste aller Taten.« – Und jetzt ertönen jene glühenden Lieder zur Wiedererweckung deutschen Nationalgefühls durch innere Umkehr zu dem einzigen göttlichen Retter:


»Sohn der Liebe, wollst vereinen
Doch die Deinen,
Daß der Zwietracht dunkle Binde
Vor dem Blick verschwinde!«
[779] Die Poesie versenkt er in die religiöse Tiefe des Gemüts:
»Fern von Eitelkeit und innerm Trug,
Nahe dich mit Andacht jedem Buch,
Wo des Herzens stille Wahrheitskraft
Neu die Welt der Liebe sich erschafft.
Betend, wie am Altar Gottes Licht,
So vernimm das heilige Gedicht,
Wo des Lebens schmerzlich schönes Spiel
Dich zurücksenkt in das ewige Gefühl.
Nur der Sehnsucht fließt der Schönheit Quell,
Nur der Demut scheint die Wahrheit hell.«

Gegen die tote Regel mechanischen Gleichgewichts im Vertretungsstaate erbaut er auf historischen und religiösen Grundlagen den, auf Glaube und Liebe beruhenden, christlichen Staat. In der Geschichte weist er die innere Zerrüttung des Menschengeschlechts und dessen Wiederherstellung im Christentume als Grundthema nach, findet daher nur in der Verbindung der waltenden welthistorischen Mächte mit der Kirche das wahre Heil und erstrebt endlich in der Wissenschaft selbst eine christliche Philosophie als die höhere, geistige Poesie der Wahrheit.

»Nun ist«, sagt er, »die Überzeugung unter den Gutgesinnten aller Parteien wohl schon ziemlich allgemein und den meisten klar und gewiß geworden, daß der feste Anhaltspunkt in dem Streit der Meinungen und Interessen nur in dem Positiven gefunden werden und nur dieses den chaotischen Zustand enden und ein organisch geordnetes Dasein von neuem wie der begründen kann. Vergebens aber würde man für das Leben und den Staat, wie in der Wissenschaft, hoffen, diesen sicheren Grund und Stützpunkt in einem bloß irdisch Positiven zu finden, es sei welcher Art es wolle, solange nicht das göttlich Positive hinzukommt, als Träger und zusammenhaltende Lebenskraft des Ganzen. Wo sollen wir aber dieses göttlich Positive anders suchen als da, wo es uns schon lange gegeben ist, sobald wir es nur finden wollen: in der Religion, in der göttlichen Offenbarung und in der christlichen Philosophie, als einem treuen Abdruck derselben in wissenschaftlicher Form zu allgemeiner praktischer Anwendung?« – Die Frage von jenem göttlich Positiven führt ihn demnächst auf den alten Zwiespalt des deutschen Glaubens zurück, als den Punkt, von [780] dem das Übel seinen Ursprung genommen und daher auch die Heilung ausgehen müsse. »Jene so lange gewünschte und so oft Vergeblich gesuchte Wiedervereinigung des Glaubens kann aber freilich auf dem gemeinen Wege menschlicher Ausmittelung nicht gefunden werden; nicht durch ein bloßes gegenseitiges, wenn auch noch so gut gemeintes Nachgeben und nicht durch eine diplomatische Verhandlung; überhaupt ist es kein Menschenwerk, sondern es muß von Gott kommen, der seine Werkzeuge dazu schon finden und diejenigen, welche von ihm ausersehen sind, mit der Kraft des heiligen Geistes erfüllen wird. Menschlicherweise läßt sich nur das dazu beitragen und nur dadurch der hohen Absicht entgegenkommen, daß wir jene unentschlossene Halbheit der Gesinnung von uns abtun, welche uns so oft zurückhält, den letzten Schritt in der Anerkennung der Wahrheit getrost daranzusetzen.«

Unter den vorerwähnten welthistorischen Mächten aber versteht er vorzüglich vier Gewalten, welche die menschliche Gesellschaft zusammenhalten und bewegen und auch eine vierfach verschiedene Art und Form jeglichen menschlichen Vereins begründen; nämlich die Macht des Geldes und des Handelns, die er in einem weiteren Sinne die Gilde nennt; die auch im Kriege nur auf die Erhaltung des äußeren und des bürgerlichen Friedens gerichtete Gewalt des Schwertes (der Gerechtigkeit) oder der Staat. Sodann die »Gnadenkraft der göttlichen Weihe, auf welcher alle Art von Priestertum und jeder kirchliche Religionsverein beruht, der allein den innern Frieden herbeiführt und auch dem äußeren die höhere Sanktion gibt. Was würde uns auch das ganze materielle Leben frommen, dem der Staat seinen rechtlichen Bestand sichert und welches jene äußere Kultur, die aus dem Kunstfleiß und dem Gewerbe hervorgeht und die in ihrem letzten Grunde auf dem Handel beruht, so reichlich ausschmückt, wenn es nicht der Träger eines anderen und höheren intellektuellen Lebens wäre? Dieses höhere intellektuelle Leben aber wird zunächst in der Religion und, als ein gemeinsames der ganzen Menschheit zuständiges Eigentum, in der Kirche genährt und entfaltet, deren geheiligtes, weltumfassendes Band die im Staatsverhältnis getrennten Nationen wieder verbindet und in der Zeit die späteren Generationen an die früheren anknüpft. Zugleich aber wird es auch durch die Schule erregt und entwickelt und von einem Zeitalter auf das andere fortgepflanzt; welcher[781] intellektuelle Verein als die vierte Art und Form von jenen vier bezeichneten Hauptvereinen der menschlichen Gesellschaft mit dem Staat und der Kirche im mannigfaltigsten und innigsten Verhältnis steht.« Und diese von der Schule zu lösende Aufgabe teilt er vor allen anderen Nationen den Deutschen zu; denn der deutsche Geist »strebt tiefer in die verborgenen Prinzipien des inneren Lebens, wo jene Elementarkräfte nicht mehr getrennt erscheinen, sondern aus der gemeinsamen Wurzel die vollständige Kraft des lebendigen Bewußtseins im Denken und Bilden hervorgeht. – Die intellektuelle Aufgabe des Zeitalters aber, als die Idee, welche in der jetzigen Epoche nach der Bestimmung des deutschen Geistes herausgearbeitet werden soll, läßt sich wohl nicht anders bezeichnen, als daß es sei die vollständige Anerkenntnis und durch alle Weltalter durchgeführte Auffassung und eben dadurch zustande gebrachte Erneuerung und lebendige Wiedergeburt des in der zeitlichen Wissenschaft und Kunst sich abspiegelnden und ausstrahlenden ewigen Wortes; welche Idee ganz nahe zusammenhängt mit der vorhin erwähnten Wiedervereinigung des Glaubens selbst sowie auch des Glaubens und des Wissens. Dieses wieder eins gewordene Wissen aber, welches wir noch nicht anders zu benennen vermögen als mit dem Namen der christlichen Philosophie, läßt sich nicht machen wie ein System oder stiften wie eine Sekte, sondern wie ein lebendiger Baum muß es hervorwachsen aus der als göttlich erkannten Offenbarung. Die Welthistorie und Mythologie, das Reich der Sprachen und die Naturwissenschaft, Poesie und Kunst bilden nur die einzelnen Strahlen für dieses eine Licht der höchsten Erkenntnis. Und so wie dieses voller heranbricht, so wird auch der in der welthistorischen Forschung, oder in der Naturphilosophie hie und da noch herumdämmernde Pantheismus vollends verschwinden und in Schatten zurückweichen vor der wiedererkannten Wahrheit und Kraft des göttlich Positiven, wie sich dasselbe in wachsender Vollkommenheit immer herrlicher entfaltet. Es werden dann auch die Denkenden aller Art den Fortgang der wahren Zeit, der von dem was die Welt den Zeitgeist nennt, so ganz verschieden ist, richtiger erkennen, und es werden nicht mehr so viele ausgezeichnete Geister wie aus dem Traume fortreden, wo sie vor zwanzig Jahren stehengeblieben waren, als ob sie eine oder zwei Generationen der Welt versäumt und übersehen hätten. Auch über das Gebiet [782] der Kunst mag sich dann wieder ein neuer Lebensodem verbreiten und statt der falschen Phantasmagorie unserer verzerrten tragischen Gebilde mag dann eine höhere geistige Poesie der Wahrheit hervortreten, welche nicht bloß die Sage irgendeines Zeitalters oder einzelnen Völkerstammes in beschränktem Phantasiespiele nachbildet, sondern in der irdischen Hülle zugleich auch die Sage von Ewigkeit, das Wort der Seele, im sinnbildlichen Gewande der Geisterwelt abspiegelt. Überhaupt aber ist jenes eine Licht nicht auf die Grenzen eines einzelnen Geistes oder nur auf eine Form und besondere Region der gesamten Geistesbildung eng beschränkt; sondern die mannigfaltigsten Gaben und Talente müssen zur Förderung jener Wiedergeburt und zur vollständigen Entfaltung jenes Baumes der guten und heilsamen Erkenntnis des Lebens beitragen.«

So hat denn Friedrich Schlegel, was Novalis ursprünglich ahnte und ersehnte: eine christlich religiöse Durchdringung und Wiederbelebung von Kunst, Wissenschaft und Leben, soviel in eines Mannes Kräften steht, wirklich vollbracht, und es kann auf seinen eigenen Lebenslauf angewendet werden, wenn er sagt: »Die Wahrheit ist eine lebendige, sie kann nur aus dem Leben geschöpft, durchs Leben errungen werden. Die Sehnsucht oder die Liebe ist der Anfang und die Wurzel alles höheren Wissens und aller göttlichen Erkenntnis; die Ausdauer im Suchen, im Glauben und im Kampf des Lebens bildet die Mitte des Weges; das Ziel aber bleibt für den Menschen hier immer nur ein Ziel der Hoffnung.«

Adam Müller. Steffens. Görres

Wenn Friedrich Schlegel, wie wir soeben gesehen, die göttliche Offenbarung im Leben in ihrer Gesamtheit zu erfassen strebte, so hatte dagegen Adam Müller auf diesem unermeßlichen Gebiete eine eigentümliche Domäne, ein spezielles Tagewerk sich abgegrenzt: gleichsam die Anwendung der Romantik auf die geselligen und politischen Verhältnisse des Lebens. Er sagt daher in seinen Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur: »Die kritische Revolution in Deutschland, in der absolut wissenschaftlichen Einseitigkeit, in der sie sich bisher fast ausschließend gezeigt hat, konnte überhaupt deshalb keine große unmittelbare Wirkung auf die deutsche [783] Nationalität hervorbringen, weil sie in das Wesen der gleichzeitigen Bewegungen der Gesellschaft sowohl in ihren öffentlichen als in ihren Privatbeziehungen tätig und fortgesetzt einzugehen aus einem gewissen ganz unziemlichen Stolze verschmähte. Den Staat und seine gegenwärtige, keineswegs mit Verachtung zu übersehende Gestalt setzte sie mit idealistischer Selbstgenügsamkeit über die Seite. Natürlich mußte sie, anstatt ihre eigne Bedeutung zu erhöhen, durch den unmittelbaren Drang der gesellschaftlichen Not unserer Zeit überwältigt und dem absoluten Bewußtsein ihres eigenen Daseins überlassen werden.« Und wenn er dann weiterhin sagt: »Das ehrwürdige Wort Messe, in seinem deutschen Doppelsinn, deutet auf den uralten Bund des Handels und der Kirche, auf die noch ältere, auf die ewige Einheit des äußeren und inneren Daseins«, so hat er dadurch in der Tat Tiefe und Umfang seines ganzen Unternehmens scharf bezeichnet: eine wissenschaftliche Darstellung des Staats nämlich in seinem ewigen Bunde mit Religion, Poesie und Leben.

Wie er diese Aufgabe im einzelnen gelöst, können wir, ohne unsere eigene Aufgabe ins Unendliche zu erweitern und zu verwirren, nicht genauer nachweisen; wir wollten hiermit nur seinen Standpunkt und sein Verhältnis zur Romantik im allgemeinen andeuten. Ebenso müssen wir uns begnügen, zwei andere Koryphäen unserer Literatur, da sie nicht eigentlich Dichter sind, hier nur kürzlich zu bezeichnen, wir meinen: Steffens und Görres.

Steffens hängt mit den Romantikern nur in seiner begeisterten Jugend durch seine naturphilosophischen Forschungen zusammen, deren nicht so beiläufig abzufertigende Würdigung, wie die der Naturphilosophie überhaupt, einer anderen Ausführung vorbehalten bleiben muß. Er ist zwar später auch als Dichter aufgetreten, allein seine Dichtungen gehören nicht mehr der Romantik, ja kaum der Poesie an, sie sind im Grunde nur in poetische Form gekleidete Philosopheme und aphoristische Lebensansichten, wie Tiecks neueste Novellen. In seinen maßlos projektierten Erzählungen (die Familie Walseth und Leith, die vier Norweger usw.), die alles zugleich umfassen wollen, hat er niemals das philosophische Element zu lebendig poetischer Erscheinung, zu einem künstlerischen Ganzen zu bewältigen vermocht. Seine Aufgabe hier ist allerdings gleichfalls die Versöhnung von Religion und Leben; [784] aber nicht mehr auf der katholisch romantischen Grundlage. Denn wenn auch das positive Christentum überall die Basis bildet, so ist die Auffassung und Behandlung doch rein ins Subjektive hinübergesiedelt, in einen Pietismus, der teils spekulativ, teils als bloßes Gefühl sich kundgibt.

Bei weitem belebender und großartiger, als Steffens, hat Görres eingewirkt, und zwar durch eine in allen seinen Schriften ausgeprägte übermächtige Persönlichkeit, die das Grundprinzip der Romantik, die Vermittelung aller höheren Geisteskräfte mit der Kirche, in sich selbst darstellt. Eine oft divinatorische Phantasie neben wissenschaftlicher Tiefe, gründliches Wissen neben schneidendem Witz, eine unerschöpfliche Fülle von Poesie endlich, womit ein Dutzend Dichter von Profession sich überreich schätzen dürften – und das alles, wie es auch durcheinanderringt und sich zu kreuzen scheint, durch einen unwandelbaren Verstand, gleich den Gestirnen eines Planetensystems, um die ewige Zentralsonne wunderbar gruppiert und geordnet. Es ist die durch alle Geschichte der neueren Zeit gehende, rechte, wahre Romantik selbst, die hier, anstatt in bloßem Bild und Klang zu luxurieren, sich unmittelbar an den Tatsachen reflektiert. Überall daher, wo die nationale Entwicklung kulminiert, sehen wir Görres auf den Zinnen der Zeit, weckend, warnend, mahnend, züchtigend und weissagend, und – weil das eben nicht erlernt oder gemacht werden kann, sondern erlebt sein muß – auch, wie Friedrich Schlegel, in rastlos wachsendem Fortschritt begriffen.

So begrüßt er in der damaligen allgemeinen Verdumpfung der sozialen Verhältnisse, und zwar gleichfalls wie Fr. Schlegel von einem dem Ausgange scheinbar entgegengesetzten Punkte anfangend, die erste französische Revolution mit allem Zornesmut eines zwanzigjährigen Jünglings als das blutige Morgenrot einer größeren Zeit und schreibt in diesem Sinne sein »rotes Blatt«. Kaum aber hat er in Paris (wohin er gegangen, um sich über die Bedrückungen der französischen Beamten zu beschweren) hinter der Fahne der sogenannten neuen Freiheit den Verrat, die Habgier und den schamlosesten Egoismus lauern gesehen, als er mit derselben ethischen Entrüstung den trügerischen Nebel zerreißt und, der erste unter den Deutschen, in einer kleinen Schrift (»Resultate meiner Sendung nach Paris«) seine Landsleute aus ihren philantropisch-kosmopolitischen Träumen aufrüttelt. Später, da Napoleon sein [785] Schwert über Gutes und Schlechtes gelegt, strebt er, mit andern edlen Geistern, die Nation durch Mahnung an die große Vorzeit wach und kampfbereit zu erhalten, schreibt mit Arnim die »Einsiedlerzeitung« und läßt in seinen »Volksbüchern« die alten frommen Sagen und nationalen Heldengestalten, wie in einem wunderbaren Zauberspiegel, an der trostlosen Gegenwart vorübergehen. In und unmittelbar nach dem Befreiungskriege dagegen sehen wir ihn endlich in seiner vollen, feurigen Rüstung sich plötzlich wieder emporrichten, mit seinem »Rheinischen Merkur« durch eine bisher noch nicht erhörte Gewalt der Gesinnung und Sprache ganz Deutschland erschütternd.

So ist es überall das Ringen einer hohen, allem Gemeinen durchaus unzugänglichen Natur nach Freiheit. Schon hier aber und fortan immer tiefer begründet sich in ihm die Überzeugung, daß die Freiheit nur bei der Wahrheit, die unerschütterliche, weil von Gott selbst beglaubigte Wahrheit aber in der Kirche und mithin geistige wie politische Freiheit mit der Freiheit der Kirche identisch sei. Am vollständigsten hat er diese Gedanken niedergelegt in »Europa und die Revolution«, wo die wesentlich kirchliche Bedeutung aller Geschichte und der gesunde, volkstümliche Staat, in seiner Mission das Irdische und Göttliche zu vermitteln, als eine notwendig hierarchisch-monarchische Gliederung nachgewiesen wird. – Und von jetzt ab, nachdem er so Grund und Boden gesäubert und abgemarkt, stellt er zu Schutz und Trutz als geharnischter Hüter sich an die Grenzen. Während er in der Schrift: »die heilige Allianz und die Völker auf dem Kongreß von Verona« zunächst die von beiden Seiten wider jene feste Burg anprallenden Parteiwogen, die Gegensätze des demokratischen und monarchisch absolutistischen Prinzips siegreich gegeneinander aufreibt, verteidigt er andrerseits unmittelbar die Freiheit der Kirche – im »Athanasius« gegen die falschen Prätentionen des Staats, der die primäre Kirche als ein, gleich ihm, aus den sozialen Verhältnissen Entstandenes betrachten und folglich als ein Sekundäres sich unterordnen möchte – und in der »Wallfahrt nach Trier« gegen die alles unterwaschenden Gewässer des altklugen Rationalismus.

Kein neuer Schriftsteller hat die bedeutungsvolle Aufgabe unserer Zeit, die trügerische, blumenreiche Moosdecke über den faulen Sümpfen endlich zu durchbrechen und in religiösen [786] Dingen zwischen Ja und Nein sich resolut zu entscheiden, so tief erkannt und gefördert als Görres, ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst, das seinen Namen, mit jener geistigen Krise selbst, welthistorisch machen wird.

Arnim

Dies waren indes, in bezug auf die Poesie als Kunst, eigentlich nur die Theoretiker der Romantik. Novalis und Wackenroder waren überdem sehr früh gestorben und die beiden Schlegel bei weitem mehr Kritiker als produktive Dichter. Sie hatten den Kampfplatz abgesteckt, Sonne, Wind und Waffen bemessen und die Losung ausgegeben, aber die turnierfähigen Ritter fehlten noch.

Man könnte zwar in gewissem Sinne Jean Paul schon zu den Romantikern zählen; und doch stellt eben das, wodurch er sich von der Romantik wieder unterscheidet, das Wesen der letzteren erst recht klar heraus. Auch Jean Pauls Poesie nämlich ist eine Poesie der Zukunft, der Erwartung, und die Veredlung des Menschengeschlechts durch den wiedererweckten Glauben an eine höhere, unsichtbare Welt das Grundthema aller seiner Romane, wie es der in seiner unsichtbaren Loge entworfene Erziehungs- und Bildungsplan am deutlichsten ausspricht. Es ist eine Art poetischer Asketik, das Irdische nichtig: »Was anderes als versteinerte Blüten eines Klima, das auf dieser Erde nicht ist, graben wir aus unserer Phantasie aus, so wie man in unserem Norden versteinerte Palmbäume aus der Erde holt.« – Der Mensch kann und soll daher die Scholle brechen und, aus sich selber emporpfeilernd, in das überirdische Jenseits hineinragen. – Fragen wir aber nach Grund und Trieb dieses übernatürlichen Wuchses, so werden wir mit dem Emporschwingen an das gewiesen, was eben emporgeschwungen werden soll, Münchhausen vergleichbar, der sich selbst einst am eigenen Zopfe aus dem Sumpfe zog. »Wer in die Zukunft hinaussieht, der findet, ach! in tausend Zeichen einer Zeit, worin Religion, Staat und Sitten abblühen, keine Hoffnung ihrer Emporhebung mehr, außer bloß durch zwei Arme, welche nicht der weltliche und geistliche sind, aber zwei ähnliche: die Wissenschaft und die Dichtkunst. Ist einst keine Religion mehr und jeder Tempel der Gottheit verfallen oder ausgeleert, dann wird noch im Musentempel der [787] Gottesdienst gehalten werden.« – »Es gibt keine Offenbarung als die noch fortdauernde. Unsere ganze Orthodoxie ist, wie der Katholizismus, erst in die Evangelien hineingetragen worden.«

Das Prinzip also ist es, was Jean Paul durchaus von den Romantikern scheidet; diese meinten das lebendige Christentum, Jean Paul eine abstrakte Religion der Humanität; jene wollten Kunst, Wissenschaft und Leben durch den positiven Inhalt der Religion restaurieren, Jean Paul dagegen alles in ein unbestimmtes Übermenschliche, das aber doch der Mensch wieder sich selbst machen sollte, verflüchtigen und verhimmeln. Daher bei ihm – weil der feste Goldgrund fehlt, der die irdischen Bilder kräftig abhebt – das Abgerissene, Unzureichende, Verschwommene seiner Wirklichkeit, wie seiner Ideale: weltumarmende, himmelstürmende Jünglinge, verblaßte, ätherisch-durchsichtige, mondscheinwüchsige Jungfraugestalten und jene weinerliche Sentimentalität, aus der sich der Poet, eben weil er ein echter Dichter ist, von Zeit zu Zeit durch humoristische Luftsprünge oder auf den mächtigen Schwingen seiner Träume zu retten sucht.

Die eigentlichen romantischen Dichter dagegen sind unstreitig Achim v. Arnim und Ludwig Tieck; und wir nennen Arnim, obgleich er der jüngere ist, hier zuerst, weil er die Romantik am reinsten und gesündesten repräsentiert; nicht als ob er der schulgerechteste unter ihnen gewesen – er stand vielmehr der eigentlichen Schule vielleicht am allerfernsten –, sondern durch den Grundton, den er in allen seinen Dichtungen angeschlagen; wir meinen die Unabhängigkeit und Wahrhaftigkeit der Gesinnung, die ihn weit über die andern erhebt. Männlich-schön, von edlem, hohem Wuchse, freimütig, feurig und mild, wacker, zuverlässig und ehrenhaft in allem Wesen, treu zu den Freunden haltend, wo diese von allen verlassen – war Arnim in der Tat, was andere durch mittelalterlichen Aufputz gern scheinen wollten: eine ritterliche Erscheinung im besten Sinne, die aber deshalb auch der Gegenwart immer etwas seltsam und fremd geblieben. So trat er in eine Zeit, die den Katzenjammer der Kotzebueaden noch immer nicht verwinden konnte, und eröffnete sofort, im Verein mit Görres und Brentano, in der »Einsiedlerzeitung« (1808) einen höchst ergötzlichen Krieg gegen den deutschen Michel. Er wollte die Poesie von dem Schulbanne einiger veralteten Männer, die [788] ihre Jugend vergessen hatten, befreien; mit Ausschluß aller Tagesneuigkeit, wollte er dasKünftige der Geschichte in den Strebungen der verschiedensten Art kennenlernen und vorlegen und die Zeit endlich wieder hinführen »zu einer gemeinschaftlichen Jugend und Wahrheit, die wir Andacht und Religion nennen«. Die Art und Weise, wie dieser Kampf dort geführt wird ist für die Romantik, wie für Arnim bezeichnend: überall der Ernst heiter und der Scherz tief und bedeutend. Die Zeitung erschien auf Befehl der großen Langeweile vieler sonst unnütz beschäftigter Leute, dieser neuen Einsiedler in den Lesekabinetten, welche die strenge Buße des Müßiggangs treiben; jedem, der sie nicht in frankierten Briefen abbestellt, sollte sie ins Haus geschickt werden. Das Titelblatt ist mit dem Bildnis des deutschen Michels selbst verziert. »Treffend«, sagt Arnim im Vorwort, »ist die Ähnlichkeit deines Bildes, geehrtes Publikum: dieses listige Lauern; dieser schiefe Mund, der auf eine Autorität oder Kritik wartet, um sein Urteil darnach zu bestimmen; die steifen Locken, die sich aus der Nachtmütze drängen, wie alte, verrostete Gedanken, die du immer wieder hören möchtest; nach einer Seite ist sie aufgeschoben, denn auch du hast einmal gedacht und dir die Stirn gerieben und weißt es noch recht gut und meinst, daß die Verfasser von dir erst denken und fühlen lernen sollten.« – Viele Richtungen, die dort angeregt, manche Namen, die hier zum erstenmal auftauchen, wie Uhland und Kerner, sind seitdem ausgeführt, sind seitdem berühmt geworden, und der deutsche Michel lebt noch immer fort, aber die Zeitung ist längst aus seinem Angedenken verschwunden.

Es war aber nicht bloß eine lächerliche, literarisch zerfahrene, sondern auch eine in ihren ethischen Elementen entwürdigte Zeit, welche hündisch die Hand leckte, die sie schlug, und mit dieser Niedertracht noch prahlte. Das deutsche Reich war zusammengestürzt, und die Pflugschar des Krieges ging darüber, und die Deutschen spannten sich selber vor, um alles der Erde gleichzumachen. »O mein Gott«, ruft daher Arnim aus, »wo sind die alten Bäume, unter denen wir noch gestern richteten, die uralten Zeichen fester Grenzen, was ist damit geschehen, was geschieht? fast vergessen sind sie schon unter dem Volke, schmerzlich stoßen wir uns an ihren Wurzeln. Ist der Scheitel hoher Berge nur einmal ganz abgeholzt, es wächst da kein Holz wieder; daß Deutschland nicht so verwirtschaftet [789] werde, sei unser Bemühen!« – »Was erscheint, was wird, was geschieht? – Nichts. Immer nur die Sucht des Bösen, die Welt sich und alles der Nichtswürdigkeit in der Welt gleichzumachen, alles aufzulösen, was enger als ein umzäuntes Feld an den Boden des Vaterlandes bindet: der Gedanke, es ist derselbe Boden, auf dem wir in Lust gesprungen. Wer so denkt, wird herrlich sich und seinen Nachkommen bauen, wem aber die Baukunst fehlt, dem fehlt ein Vaterland.«

Und aus dieser männlichen Trauer erwuchs alles Edle seines reichen Gemüts, aus der herzlichen Liebe zum Vaterland der fröhliche Glaube an dessen Rettung und eine unverwüstliche Hoffnung, die, wie er selbst sagt, sein größtes Talent gewesen. Aber nicht das Schwert allein konnte hier entscheiden, sondern die echte Herzhaftigkeit, die es führte. Wer das Schlechte besiegen will, das wußte er wohl, mußte erst die eigne Schlechtigkeit überwinden. Die gesinnungskranke Zeit, mit den widersprechendsten Medikamenten künstlich überfüttert, konnte nur im stärkenden Luftbad auf den heimatlichen Höhen genesen; von innen heraus allmählich und allmächtig wachsend, mußte erst die Sitte sich wiederherstellen, auf der allein die Rettung stand. Und in diesem Sinne, um dieses Heimweh und jenen Gedanken rechter Baukunst im Volke wieder zu wecken, unternahm er »des Knaben Wunderhorn«, den fast verschollenen Klang der Herderschen Volksstimmen vertiefend, indem er ihn auf Deutschland konzentrierte. In gleichem Sinne auch verflocht er große Erinnerungen der Vorzeit, alte Sagen und Geschichten keck mit der Gegenwart, damit diese sich daran besinne, denn »nur Völker«, sagt er, »die sich selbst nicht achten, können verächtlich mit den Gebeinen ihrer Voreltern verfahren«. So namentlich im »Wintergarten« und in den »Appelmännern«, wo das Grauen, die Ehre, Lust und Not, die den Befreiungskrieg geheimnisvoll vorbereiteten, und die verschiedenartigen Zustände und Stimmungen der Jugend, die ihn ausfocht, in einem alten Puppenspiele sich wunderbar abschildern: der wildschöne Vivigenius, »der gleich einem Riesen von einem Dach zum andern über die Gassen schreitet, und wo er tritt, da steigt ein heftig Feuer auf«; und der dichterische Theobald, der, von jenem mit in den Krieg hineingestürzt, von seinem Liebchen Abschied nimmt:


[790]
»Aller Liebe, allem Schaffen,
Allen innern Friedenswelten
Muß ich heute mich entraffen,
Denn das alles soll nicht gelten
Süße Reime, Liederklänge,
Fromme Bilder, laßt mich ziehen,
Wie ein Leichenzugsgepränge
Muß ich eure Freuden fliehen.
Sag mir keine Abschiedsworte,
Trost ist nur in blut'ger Lehre,
Schließe deine Friedenspforte
Und bewahre deine Ehre;
Komm ich einst mit blut'gen Händen,
Mußt du dich nicht von mir wenden,
Wenn ich niemals wiederkehre,
Küss mich heut zur letzten Ehre.«

»Doch sind mir das die tüchtigsten Soldaten, die wissen und auch fühlen, was sie mit dem Frieden aufgegeben haben, die haben rechten innern Grund zum Kriege.«

Alle Ritterlichkeit dieses Wesens und Strebens Arnims aber tönt in den Worten:


»Lerne in den Schmerzenstagen
Dieses höchste Erdenrecht,
Wie sich unsre Herzen schlagen
Hin zu göttlichem Geschlecht,
Das von droben regt in Schrecken
Tiefen Ernst der Erdenwelt,
Bis, erhöht durch das Erwecken,
Wir in Gleichheit ihm gesellt.«

Die Kraft seiner Dichtung überhaupt ist ihr ethisches Element. Sie gibt sich zunächst kund als keusche Scheu vor aller Affektation, die selbst jeden konventionellen Schmuck der Poesie spröde verschmäht. »Diese Kunst ist schrecklich«, sagt er, »die betrügt; die rechte Kunst ist wahr, sie heuchelt nie den Frieden, wo sie ihn doch nicht geben kann.« Sie zeigt sich aber, gradezu im Gegensatz mit dem Geschmack von heute, besonders übermächtig als eine unwandelbare Gerechtigkeit der Weltanschauung, die ohne die geringste Ehrfurcht vor eignen oder [791] fremden Götzen mitten durch das Getrappel, Geschrei und Gewirre der sogenannten Zeitgeister fest und unverzagt auf den Grund und die natürliche Figuration der Dinge sieht. Es ist darum, wie wir soeben mit einiger Verlegenheit empfinden, bei ihm schwieriger als bei andern Dichtern, ja überhaupt kaum geraten, zum Zeugnis seines inneren Wesens einzelne Stellen auszuheben, weil dieses Wesen hier nirgend in wohlgerundeten Sentenzen, wie Fettaugen, umherschwimmt, sondern vielmehr durch das Ganze seiner dichterischen Gestaltungen vertreten wird; man möchte seine Poesie eine historische nennen, wo, fast ohne Räsonnement, nur die poetischen Tatsachen reden. So geht ein tiefer, sittlicher Ernst tragisch durch seinen Roman von der »Gräfin Dolores«, bloß durch die unwiderstehliche Gewalt der innern Wahrheit die ganze moralische Seele unserer sozialen Verhältnisse in den stillen, einfachen Kreis der Armut, des Reichtums, der Schuld und Buße der schönen Dolores bannend. Aller Friede und Segen der natürlichsten Herzenseinfalt blickt uns mit holländischer Reinlichkeit aus seinen »drei liebreichen Schwestern« an, welche durch die schöne Sage von der Mutter Gottes eingeleitet werden, wie sie dem armen, nachts im Walde verirrten Kinde Harzgulden aus den Sternen regnen läßt. In derselben Novelle aber hat er auch den häuslich-kräftigen König Friedrich Wilhelm mit seinem Normalzopf und Tabakskollegium sowie in »Halle und Jerusalem« das ehemalige Studentenleben, die Judenwirtschaft und die lüderliche Geistreichigkeit jener Zeit, die das Hohe und Gemeine durch Genialität vermitteln wollte, in festen, sichern Zügen umschrieben; ja, die Darstellung der verhängnisvollen Wetterscheide zwischen dem Mittelalter und der neuen Zeit in seinen »Kronenwächtern«, obgleich meist mit erdichteten Personen und Begebenheiten, ist historischer als viele geistreich verzwickte Geschichtswerke. Und das alles eben nur, weil er unbefangen und unverfälscht gewähren läßt,


»Was uranfänglich, doch der Welt verbunden,
Was keinem eigen, was sich selbst erfunden,
Was unerkannt, doch nimmer geht verloren,
Was oft erstirbt und schöner wird geboren.«

Eben dieses Historische aber, diese großartige Gerechtigkeit seiner Poesie, verbunden mit der ihm angeborenen Milde, [792] bedingt zugleich sein Verhältnis zur Kirche und erklärt die merkwürdige Erscheinung, daß seine Dichtungen, obgleich er Protestant war und blieb, dennoch wesentlich katholischer sind als die der meisten seiner katholizisierenden Zeit- und Kunstgenossen. Denn weil er so ohne Falsch und alle Lüge ihm ein Greuel war, so hat auch das Leben und dessen religiöse Grundlage in der Kirche sich ihm vertraulich und ohne Falsch gezeigt in seiner ursprünglichen Schönheit und Wahrheit; und es ist im Grunde die Kirche selbst, wenn er von ihren Bauwerken sagt: »Welche Einheit und Ausgleichung aller Verhältnisse, wie fest begründet alles an der Erde und doch alles dem Himmel eigen, zum Himmel führend, an seiner Grenze am herrlichsten und prachtvollsten geschlossen. Zum Himmel richtet die Kirche wie betende Hände unzählige Blütenknospen und Reihen erhabener Bilder empor, alle zu dem Kreuze hinauf, das die Spitze des Baues als Schluß des göttlichen Lebens auf Erden bezeichnet, das als die höchste Pracht der Erde, die sich dadurch zu unendlichen Taten begeistert fühlt, einzig mit dem Golde glänzt, womit kein anderes Bild oder Zeichen neben ihm in der ganzen heiligen Geschichte, die der Bau darstellt, sich zu schmücken wagt.« – Katholischer aber als die der andern nannten wir seine Poesie, weil sie mit der Kirche durchaus auf demselben christlichen Boden steht, weil sie von unedlem Leichtsinn sowie von dem modernphilosophischen Vornehmtun gegen Gott nichts weiß, und daher den Katholizismus weder willkürlich umdeutet, noch phantastisch überschmückt.

Zahlreiche in seinen Schriften zerstreute Äußerungen bezeichnen unwillkürlich diese Auffassung, den Ernst und die Unbefangenheit seiner religiösen Gesinnung. So kommt in »Halle und Jerusalem«, unter vielen andern erbaulichen Dingen, ein Reisender vor, »der zieht in alle Welt und spricht vom Christentum in tausend Worten, aber seine Worte haben keine Kraft des ewigen Lebens, weil seine Liebe ohne Tat ist; von ihm kommen alle neuen poetischen Christen, ich rede von denen, die es nur in ihren Liedern sind.« – Doch nicht bloß diese Phrasen-Koketterie, auch das altkluge Kokettieren mit Gedanken ist ihm zuwider. »Wir werden es häufig bemerken in unserer Zeit, daß Menschen der gebildeten Stände, die sich lange sehr religiös glauben, doch eigentlich die Religion nur als ein Gedachtes, als ein Nachdenken über die Welt bewahren, [793] nicht als ein Notwendiges, Eingeborenes, Anerzogenes, nicht als einen Glauben; es gab für die meisten eine Zeit, wo sie viel dachten und der Religion vergaßen; ihr Spekulieren über die Religion hält selten gegen die Not und gegen das Glück aus; beide geben ihnen meist erst ihre feste Richtung, ihren eigentlichen Glauben.« – »Wer seines Volkes Glauben im Glück leichtsinnig vergißt, in der Not verläßt, den wird Gott in seiner letzten Not vergessen und im Glück verlorengehen lassen.« – »Die Tage vergehen schneller als die Nächte, endlich kommt eine Nacht, die keinen andern Tag kennt als die Erinnerungen; vergeßt auch nicht über das abenteuerliche Spielzeug dieses Lebens das ernste Werk des Zukünftigen.« – »O sagt, was ist bei uns des Glaubens wegen noch geschehen? Ein jeder braucht ihn nur für sich in müßigen Augenblicken, die Welt hat keine Freude mehr an ihm. – Wir schämen uns des Wunderbaren in dem Leben und achten's nur in der Vergangenheit.« –


»Leget ab des Hochmuts Sinn,
Wendet euch zum Armen hin:
Was ihr lerntet, half euch nicht
Zu dem ewig wahren Licht;
Doch wo viele sind beisammen,
Zeigen sich der Andacht Flammen,
Wie der Blitz, wo Wolk an Wolke,
Zündet Andacht sich im Volke.«

Seinen tiefsten Unwillen aber gegen die hochmütige Emanzipation des Subjekts, wo es die Vergangenheit ausstreichen und in rationalistischer Anmaßung die Weltordnung richten will, legt er seiner furchtbaren »Hausprophetin Melnik« in den Mund: »Reich der Vernunft? Wie soll die Vernunft in einem Augenblicke in die Welt kommen, nachdem sie in den tugendreichsten, tätigsten Jahrhunderten sich nur immer als eine seltene Fremde gezeigt hat, die sich kaum der drückendsten Not verständlich machen konnte und sich eben in der Begründung dieser Abstufungen weltlicher und geistlicher Gewalt zuerst äußerte? Denkt daran, daß diese Unterschiede unter Menschen notwendig waren, gegen die wir als Zwerge anzusehen im Schaffen und Entsagen. Was soll die Vernunft zu einer Tätigkeit erheben, wenn die vernünftigsten Menschen, [794] die ihr auf Erden achtet, nichts tun und vollbringen als spekulieren und in diesen Spekulationen einander widersprechen? Ich sage euch, die Vernünftigen werden das Wort leihen müssen, um alle Unvernunft nicht bloß zur Sprache, sondern auch zur Tat zu bringen, und in dem Namen jener wird geschehen, was diese verdirbt; eure hohe Bildung gibt grade dem höchsten Verderben, wo sie durchbrechen wird, den größten Spielraum.« – Wer erschrickt nicht vor der schneidenden Wahrheit dieser Prophezeiung, die noch heute gilt! Wo ist hier eine Spur des schlaffen Quietismus, den eben jene nichtstuenden und nichts vollbringenden, spekulierenden Vernünftigen jetzt der Romantik aufbürden möchten? – »Reines Bild des jugendlichen Lebens«, redet Arnim sodann seine Isabella von Ägypten an, »wir blicken zu dir und flehen, reinige uns von eingebildeten Leiden der Liebe und von angebildeten Sünden der Zeit; das Totengericht der Menschen soll uns nicht schrecken, aber wer scheut nicht die Totenrichter in sich selbst, die unerbittliche Strenge der Gedanken, die sich nicht täuschen lassen, wo wir anderen genügen, aber nicht der eignen Kraft; heilige Isabella, wehe Himmelsluft auf meine heiße Stirn, wenn ich Gericht halte über mich selbst!«

Mögen diese wenigen Züge genügen, an einen unserer edelsten Dichter zu erinnern und die Unabhängigkeit und Wahrhaftigkeit der Gesinnung zu bezeugen, die wir oben als seine hervorragende Tugend angedeutet haben. Dieselbe Unabhängigkeit aber bewahrte er sich auch als Künstler, er konnte mit Recht sagen:


»Ihr Freunde wißt, daß ich von keiner Schule,
Daß ich um keines Menschen Beifall buhle;
Ihr wißt, daß wir uns oft um Wahrheit stritten,
Und keinen Irrtum an einander litten.
So nehmt dies Buch, es ist das schönste nicht,
Doch ist's empfangen und gereift am Licht,
Es ist sich selber keiner Schuld bewußt,
Und was ihm fehlt, das fehlt der Menschenbrust.«

Daher hat er sich jederzeit ferngehalten von dem exotischen Formenspiel, welches damals das einfache Lied und »die blaue Blume« der Romantik üppig zu überwuchern drohte; er wollte seinen Pegasus reiten, aber nicht zureiten, und bezeichnet diesen selbst sehr treffend in dessen Zuruf an die Leser:


[795]
»Im flachen Land, durchfurcht zu gleichen Hügeln,
Bezwingt des Reiters Kunst des Rosses Tücke;
Am Alpenrande, in der Wolke Flügeln,
Vergehn dem Reiter alle sichern Blicke:
Er leitet nicht, er hält sich an den Zügeln,
Und reißt das sichre Roß in Mißgeschicke.
Es trägt nur freie Kraft durchs hohe Leben.
Vertrauend soll sich jeder ihr ergeben.
Ihr Freunde, traut mir heute ohne Klügeln,
Ich bin den Wunderweg nun oft gegangen,
Laßt mir die Zügel, haltet euch in Bügeln;
Denn wißt, wo euch der Atem schon vergangen,
Da fühlte ich das Herz sich froh beflügeln,
Da hat es recht zu leben angefangen.
Ein Wunder ist der Anfang der Geschichte,
Ein Wunder bleibt sie bis zum Weltgerichte.«

Seine Poesie ist wie ein schlanker Baum auf der Höh über einem blühenden Abgrund, fliegende Morgennebel flattern wie Schleier vom Wipfel, Waldvögel mit fremden Ton singen darin und die Bienen summen sommerschwül durch die duftigen Zweige, während manche verirrte Taube oben silbern vorübersäuselt und Schmetterlinge wie abgewehte Blüten über der schimmernden Tiefe schweben; unten aber sind die rauschenden Länder aufgerollt, blaue Gebirge, Ströme, Städte, Wälder und die vorüberziehenden Geschlechter der Menschen, bis weithin, wo das Meer aufblitzt und die weißen Segel verschwinden. Wer nicht schwindlig, mag sich getrost in den wiegenden Wipfel zum Dichter setzen, er weist ihm ohne viel Worte all die Herrlichkeit der Welt und nennt ein jedes bei seinem rechten Namen; und wo sie unten, um ihre goldnen Kälber tanzend, zu viel Staub gemacht, hebt er leise die falschen Nebel, daß durch den Riß der Wolken der Finger Gottes wieder sichtbar wird. Bei solcher kursorischen Weltschau erblicken wir freilich zumeist nur die leuchtenden Gipfel der Erde und atmen nur den Duft der Frühlingsgärten, wie ihn eben der Wind heraufweht; aber was wäre denn die Poesie, wenn nicht eben erfrischende Anregung und Erweckung? Kein Dichter gibt einen fertigen Himmel; er stellt nur die Himmelsleiter auf von der schönen Erde. Wer, zu träge und unlustig, nicht den Mut verspürt, die losen, goldenen Sprossen [796] zu besteigen, dem bleibt der geheimnisvolle Buchstabe doch ewig tot, und ein Leser, der nicht selber mit und über dem Buche nachzudichten vermag, täte besser, an ein löbliches Handwerk zu gehn, als so mit müßigem Lesen seine Zeit zu verderben. Wenn daher Arnim so wenig genannt und erkannt worden, so liegt wahrlich die Schuld weniger in seiner Art als in der Unart und Schwerfälligkeit des Publikums, das in Ernst und Scherz sich in seinen gewohnheitsseligen Alltagswerken und Vorurteilen nur ungern gestört fühlt.

Tieck

Bei weitem bekannter und berühmter als Arnim istLudwig Tieck (geb. 1773). Was der gedankenvolle Novalis nur hieroglyphisch angedeutet, hat Tieck mit bewundernswerter Gewandtheit und aller Pracht eines glänzenden Talents in die Poesie wirklich eingeführt. Die Revolution gegen die aufgeblasene Weltprosa, die dort noch als wissenschaftliche Polemik erscheint, ist, wie mit einem Zauberschlage, in Tiecks verkehrter Welt, im gestiefelten Kater, im Zerbino, zum selbständigen Kunstwerk geworden. Ebenso künstlerisch hat er die, bei Novalis fast nur allegorische, Mystik des Naturlebens in das gewöhnliche Menschentreiben zu verflechten gewußt und gleichsam den Text zu dem wunderbaren Liede jener dunklen Mächte aufgefunden; so im Runenberg, in den Elfen, im Rotkäppchen, und vor allen in dem unvergleichlichen Märchen vom blonden Eckbert, wo die Natur wie im Traume redet von ihren tiefsten und lieblichsten Geheimnissen.

Auch jener Tiefsinn, womit Friedrich Schlegel die Einheit der Liebe und der Wissenschaft darzustellen suchte, macht bei Tieck in anderer Weise als Einheit der Liebe und der Kunst sich geltend:


»Süße Liebe denkt in Tönen,
Denn Gedanken stehn zu fern;
Nur in Tönen mag sie gern
Alles, was sie will, verschönen.«

Er tönt als Sehnsucht durch alle seine Dichtungen, wo die Liebe, wie eine Nachtigall mitten in dem blühenden, funkelnden Frühling um die Vergänglichkeit der Schönheit rührend klagt und nur die Schönheit dieser Liebe selbst unvergänglich ist. »Nicht die Schönheit meiner Geliebten ist es ja allein«, [797] sagt er, »die mich beglückt, nicht ihre Holdseligkeit allein, sondern vorzüglich ihre Liebe; und diese meine Liebe, die ihr entgegengeht, ist mein heiligster, unsterblichster Wille, ja meine Seele selbst, die sich in diesem Gefühle losringt von der verdunkelnden Materie; in dieser Liebe seh und fühl ich Glauben und Unsterblichkeit, ja den Unnennbaren selbst inmitten meines Wesens und alle Wunder seiner Offenbarung. Die Schönheit kann schwinden, sie geht uns nur voran, wo wir sie wiedertreffen, der Glaube bleibt uns. O mein Bruder, gestorben, wie man sagt, sind längst Isalde und Sygüne, ja, du lächelst über mich, denn sie haben wohl nie gelebt, aber das Menschengeschlecht lebt fort, und jeder Frühling und jede Liebe zündet von neuem das himmlische Feuer, und darum werden die heiligsten Tränen in allen Zeiten dem Schönsten nachgesandt, das sich nur scheinbar uns entzogen hat und aus Kinderaugen, von Jungfrauenlippen, aus Blumen und Quellen uns immer wieder mit geheimnisvollem Erinnern anblitzt und anlächelt, und darum sind auch jene Dichtergebilde belebt und unsterblich. – So halte ich die Kunst für ein Unterpfand unserer Unsterblichkeit, für ein geheimes Zeichen, an dem die ewigen Geister sich wunderbarlich erkennen; der Engel in uns strebt sich zu offenbaren und trifft nur Menschenkräfte an, er kann von seinem Dasein nicht überzeugen und wirkt und regiert nun auf die lieblichste Weise, um uns, wie in einem schönen Traum, den süßen Glauben beizubringen. – Was der Weise durch Weisheit erhärtet, was der Held durch Aufopferung bewährt, ja, ich bin kühn genug, es auszusprechen, was der Märtyrer durch seinen Tod besiegelt, das kann der große Maler durch seinen Pinsel auswirken und bekräftigen.«

Eine durchaus katholische Weltanschauung endlich waltet in seinem unstreitig vollendetsten Werke, in der Genoveva, bis in den kleinsten Beischmuck hinab. Das Ganze wird vom Prolog und Epilog des heiligen Bonifatius, wie ein Altarbild von altkirchlichen Goldrahmen eingefaßt; die Verherrlichung der Kirche ist der geheimnisvolle Mittelpunkt, um den alles gläubig oder widerstrebend sich bewegt. Genoveva selbst erscheint von vornherein nicht etwa als bloße moralische Ehefrau, sondern als die Kirchen-Heilige, die Gott geweihte Märtyrin, welche Christus, im Traume ihr die weiße Rechte reichend, sich zur Braut erkoren und ihr das bevorstehende Leiden verkündet hat.


[798]
»Sie aber ging auf lichterfüllten Wegen
Der schönen Dornenkrone dort entgegen,
Das Land verehrt sie im gemalten Bilde.
Die Heil'gen sind es, die den Himmel stürmen,
Das Paradies sich neu zu eigen machen,
Das uns verloren hat Adam und Eva.
Nun beten Fromme, wann sich Wetter türmen,
Im harten Kampfe mit dem alten Drachen:
Ora pro nobis sancta Genoveva!«

Allein mitten unter diesen glühenden Paradiesesblumen lauert auch schon die Sünde und der Tod der Romantik.

Um dies klarzumachen, müssen wir, zu Tiecks Anfängen zurückkehrend, ihn auf seinem weiteren Entwickelungsgange verfolgen, wozu uns seine eignen, überall zerstreuten Bekenntnisse hinreichend Weg und Richtung weisen. – »Schon früh«, sagt er, »in jener Zeit, wenn die meisten Menschen fast unbewußt ihrer Jugend froh genießen, führte mich mein Gemüt zu den ernstesten und finstersten Betrachtungen. Unbefriedigt von dem Unterrichte, den ich von Lehrern und Büchern erhielt, versenkte sich mein Geist in Abgründe, die zu durchirren und kennenzulernen wohl nicht die Aufgabe unseres Lebens ist. Ein vorwitziger, kecker Zweifel, ein unermüdliches, finsteres Grübeln hatten für mich den Baum des Lebens entblättert. Als ein Genosse meiner Zeit hatte ich mich jenen freien Geistern zugewendet, die der Religion nicht bedürfen.« – Und diese skeptische Natur erscheint auch wirklich mit aller jugendlichen Herbigkeit in seinemWilliam Lovell und im Abdallah, wo Weltverachtung, Haß und Egoismus sich als Genialität brüsten, so wie denn überhaupt seine frühesten Schriften noch keineswegs über das Gewöhnliche hinausgehen.

»Indem ich aber«, fährt er fort, »von selbst getrieben, nach Vollständigkeit oder Umsicht strebte, entwirrte sich aus der Liebe zur Poesie eine Sehnsucht zum Religiösen. – Nur in der Poesie erkannte ich die Mystik und das Heilige, hier durften mir jene nüchternen Frevler keine Laube und keinen Baum zerstören. – Freilich hört man nun auch von denen, die übertreiben (und in aufgeregten Zeiten sind es nicht grade die schwächsten Geister), es dürfe keiner Calderon oder Raffaels Madonnen bewundern, wenn er nicht Ernst mache und selbst [799] auch glaube, wie die katholische Form der christlichen Kirche es will und gutheißt; andere wenden sich neuerdings von den poetischen Gestaltungen, die sie wieder, wie zu den Zeiten der Wiedertäufer, Götzendienst nennen, mit Unwillen hinweg. – Der Dichter aber ist zum Glück frei und braucht sich als solcher um diesen theologischen Streit und Widerstreit nicht zu kümmern. Sonderbar ist es, wenn man ihm anmuten will, daß seine Phantasie, wie Laune und Eingebung ihn regiert, nicht den Göttern des Olymp huldigen soll; wenn manche die Begeisterung, die uns die herrlichen römischen Elegien erzeugte, oder die Götter Griechenlands, zur Sünde rechnen, die, wenn ältere Zeiten wiederkehren dürften, wohl gar Kirchenbuße nach sich ziehen möchte. Dieselbe Beschränktheit ist es, den großen Gestalten und glänzenden Erscheinungen, die die katholische Form des Christentums in Kultus, Legende, Wundersage, Poesie, Malerei und Architektur entfaltet und erschaffen hat, das Auge verschließen oder gar dem Dichter verbieten zu wollen, sich dieses Reiches zu bemächtigen.«

Unangenehm überrascht erkennt man also in dieser Umkehr und in der Begeisterung, wie sie z.B. in der Genoveva aufleuchtet, nicht sowohl die Gewalt religiöser Gefühle und Überzeugungen als vielmehr das poetische Formen-Bedürfnis eines wähligen Talents; und man erstaunt über die kühle, schlanke Fügsamkeit dieses Talents. Er selbst sagt in der letzteren Beziehung von sich: »Oft wird mir angst, wenn ich meine schnelle Fühlbarkeit sehe, mich in alle fremden Gedanken und Zustände nur zu leicht hineinzudenken, so daß mir oft, auf Augenblicke und Stunden, wie mein Selbst verdämmert; oder erinnere ich mich, durch welche Flut wechselnder Gedanken und Überzeugungen ich gegangen bin, so erschrecke ich, und mir fällt Humes Behauptung ein, daß die Seele nur ein Etwas sei, an dem sich im Fluß der Zeit verschiedenartige Erscheinungen sichtbar machten. – Bei meiner Lust am Neuen, Seltsamen, Tiefsinnigen, Mystischen lag auch stets in meiner Seele eine Lust am Zweifel und der kühlen Gewöhnlichkeit und ein Ekel meines Herzens, mich freiwillig berauschen zu lassen.«

Es kann hiernach kaum mehr befremden, wenn er »mit frevlem Leichtsinn«, wie er sagt, sich nun auch zu den Mystikern, vorzüglich zu Jakob Böhme, wandte und nur von [800] hier aus das Christentum verstehen wollte. Aber diese Studien bedeckten ihm die heitere Welt und sein Gemüt mit Finsternis. »So«, sagt er weiterhin, »waren einige Jahre geschwunden, als Homer – und vorzüglich wohl mein sich regendes Talent mir im Verzweifeln neuen Leichtsinn gab, und fast ebenso leichtsinnig, wie ich in dies Gebiet hineingeraten war, versetzte ich mich durch einen einzigen Akt der Willkür wieder hinaus und stand nun wieder auf dem Gebiet der Poesie und der Heiterkeit.«

Als er nun aber so leicht und willkürlich in die Intentionen der Romantik eingegangen, mußte jene Doppelnatur, jene kühle Lust am Tiefsinnigen und am Gewöhnlichen, an der Mystik und am Zweifel notwendig mit der von Novalis und Friedrich Schlegel gar ernst gemeinten Romantik selbst in immer bedenklicheren Zwiespalt geraten und, weil sie eben nur Lust war, endlich in jene feine Ironie umschlagen, die uns überall absichtlich herausfühlen läßt, daß der Autor an alles das, womit er so geistreich spielt, eigentlich doch selber nicht glaube.

Diese doppelgängerische Ironie geht im »Leberecht« noch mit gemütlich breiter Behaglichkeit um, etwa in der Weise, wie einst Veit Weber seine Volksmärchen dem gebildeten und aufgeklärten Leser mundrecht zu machen glaubte. Im »Phantasus« weht sie uns schon feiner als Teeduft einer ästhetischen Abendgesellschaft über die Waldeinsamkeit der eingestreuten wundervollen Märchen an. Lauter vornehme, gelehrte, witzige Leute paralysieren mit ihrer geistreichen Konversation die wilden Naturlaute, die da von Zeit zu Zeit aus jener Einsamkeit träumerisch herüberschallen; es ist oft, als sähen wir Hamlets Geist, bevor er hervortritt, zwischen den Kulissen plaudern und sich von genialen Damen den Mantel malerisch drapieren lassen. Sie äußert sich ferner als poetische Indifferenz in bezug auf das eigentlich religiöse Element der Romantik; und es ist wohl nicht ohne innere Bedeutung, daß z.B. im »Octavian« der Glaube als bloße Allegorie erscheint, und in der »Genoveva« die Andacht sich hinter berauschende Blumensträuße der künstlichsten ausländischen Versmaße flüchtet, welche dem durchaus volkstümlichen, einfachrührenden Inhalte völlig fremd sind und nur dazu dienen, den Mangel an Unmittelbarkeit des Gefühls zu verhüllen. Er spricht es selbst, im Phantasus, noch deutlicher aus: »Wir können den heiligen Wahnsinn der großen Religionshelden bewundernd beweinen, [801] und doch kann ein geheimes Lächeln über der Verehrung schweben, denn diese seltsame Regung erhebt sich zugleich mit allen Kräften aus den Tiefen der Seele; wir fühlen, wie so vielen Gemütern das, was wir anbeten, nur belachenswert sein dürfte, und weil diese vor den Augen des äußeren Verstandes nicht unrecht haben und sich für diesen Zweifel auch eine geheime Sympathie in unserem innersten Wesen regt, so eilen wir so dringender mit unserer Verehrung und unserem Mitleid hülfreich und rettend hinzu, um in angstvoller Liebe an dem Gegenstande unserer Bewunderung ein höheres Recht auszuüben. Der alte Ausdruck Von den Helden der Religion: ›sie haben sich zu Toren gemacht vor der Welt‹, ist vortrefflich.« – Wer könnte bei diesen bedenklichen Worten sich des Gefühls erwehren, als wandle den Dichter eine geheime Angst und Scheu an, durch allzu gewagte Religionsmanifestation sich selbst zum Toren vor der Welt zu machen? Ja im Verlauf der Jahre, als die jugendliche Lust des Dichters am Wunderbaren mehr und mehr erkaltet, tritt jene ironische Doppelsinnigkeit immer unverhüllter hervor. Während er z.B. in seiner Novelle: »Eigensinn und Laune« mit dem frischen Winde des Witzes die Freibeuter der neuesten Literatur, welche die Emanzipation der Frauen einschmuggeln wollen, niederzusegeln unternimmt, hat er in seiner »Vittoria Accorombona« selber die Flagge dieser Freibeuter aufgezogen und das emanzipierte Weib verherrlicht. Diese Vittoria, die doch mit unverkennbarer Liebe groß und gewissermaßen als Vorbild gezeichnet ist, sagt u.a. von der, »hergebrachten Ehe:« »Wie soll ich glauben, daß eine priesterliche Weihe, eine Zeremonie, dieses elende Verhältnis heiligen könne? Nur für das blöde Auge der Menge, für zünftige Priester, für jammervolle alte Gevatterinnen kann zwischen der privilegierten und scheinbar verbotenen Verbindung ein Unterschied stattfinden. – Und ist dies Gefühl (die Liebe), diese Verbindung, die aus ihr entspringt, nicht die allernatürlichste der Welt? – Als wenn das nicht höhere Würde, Tugend und Unschuld wäre, so frei zu denken, zu fühlen und zu sprechen, wie es freilich denen nicht erlaubt ist, die die Gemeinheit in ihrem Inneren empfinden.« – Also eigentlich doch wieder eine exzeptionelle Winkel-Reli gion für die hohe Aristokratie des Geistes!

Aber eben hier, in dem Lebensnerv der Romantik, erweist sich das heimlich Nivellierende jenes Verfahrens am gefährlichsten. [802] Tieck eifert zwar gegen die Meinung, als solle das poetische Werk durch diese Ironie sich selbst wieder aufheben. »Wie (anders, als Ironie)«, fragt er, »wollen denn Kritiker oder Philosophen jene letzte Vollendung eines poetischen Kunstwerks, die Gewähr und den höchsten Beweis der echten Begeisterung, jenen Äthergeist, der, so sehr er das Werk bis in seine Tiefen hinab mit Liebe durchdrang, doch befriedigt und unbefangen über dem Ganzen schwebt und es von dieser Höhe nur (so wie der Genießende) erschaffen und fassen kann, nennen?« – Diese Auffassung ist allerdings, wie auch Solger im Erwin nachgewiesen hat, vollkommen richtig in bezug auf das Verhältnis des Dichters zu der formellen Behandlung seines Kunstwerks; nicht aber, wo der Inhalt oder Geist der Dichtung ein christlicher sein soll, in seinem Verhältnisse zum Christentum, das eben kein bloßes Kunstwerk ist; hier ist der Dichter kein Erschaffender, kein Genießender, sondern ein Empfangender, ein Glaubender. Die Religion, wie sie Novalis und Friedrich Schlegel auch wirklich auffaßten, ist vielmehr selbst jener Äthergeist, jene höhere, wehmütige Ironie alles Irdischen und aller Kunst, und solche Ironie, ironisch gehandhabt, hebt in der Tat sich selbst wieder auf.

Nirgends daher entdecken wir bei Tieck eine konfessionelle Entschiedenheit; seine eigentliche Herzensmeinung entschlüpft uns jederzeit in einem dramatischen Kampfe der entgegengesetztesten Ansichten; und scheinbar mit derselben Begeisterung, womit er in seinen mittelalterlichen Dichtungen der katholischen Weltansicht huldigt, vertritt er auch die protestantische im »Aufstand in den Cevennen«, die, obgleich später erschienen, doch nach seiner eigenen Angabe mit jenen gleichzeitig entworfen und zum Teil auch ausgeführt ist. Eine Neutralität, welche die Romantik, diese Todfeindin aller Neutralität, notwendig an der Wurzel angreifen mußte. – Darum aber ist Tieck auch so unübertroffen in seinen schon oben erwähnten Spottkomödien, weil eben hier die Ironie selbst die poetische Seele des Ganzen wird, wo alles Ordinäre der Welt unbewußt sich selbst vernichtet, ohne gemeine Satire oder Reflexion, sondern einzig durch die unauslöschliche Lächerlichkeit seines eigenen Pathos. – Späterhin hat sich diese Ironie endlich ganz freigemacht in seinen neuesten Novellen, wo sie fast dialektisch die Gedankenwelt der Gegenwart überschwebt, die aber auch keineswegs mehr romantisch sind.

[803]
Werner

Werner ist ein durchaus subjektiver Dichter; seine Verirrungen, seine Reue, sein Schmerz und sein Sehnen sind seine Poesie. Läßt er selbst doch eine seiner Kanzonen sagen:


»Ich bin, man weiß es, spricht sie, vielem Sprechen
Nicht eben feind; doch, soll ich was erzählen:
'nen Lebenslauf, Tragödie und so ferner;
So mag ich mich auch noch so ängstlich quälen,
Ich kann mich immer meiner nicht entbrechen,
Ich bin und bleib in allem immer – Werner!«

Bei dieser innigen Durchdringung von Dichten und Leben, die fortwährend einander wechselseitig bedingen und erklären, ist es daher nötig, wenigstens die Hauptzüge des letzteren hier kurz zu erwähnen, ohne welche manches seiner Gedichte kaum verständlich wäre.

Friedrich Ludwig Zacharias Werner, im J. 1768 zu Königsberg in Preußen geboren, hatte sehr früh seinen Vater verloren. Um so bedeutender mußte hiernach der Einfluß der Mutter auf ihn sich geltend machen, nicht sowohl durch eine sorgsam geregelte Erziehung als durch ihr ungewöhnliches, eigentümliches Wesen. Hippel und Hoffmann rühmen sie als eine mit Geist und Phantasie hochbegabte Frau, die jeden Gegenstand mit Adlerblicken durchschaute, und Werner selbst nennt sie eine reine, heilige Kunstseele und Märtyrerin von dem hellsten, nur durch eine zu glühende Phantasie unterjochten Verstande. Eine langjährige Gemütskrankheit, in der sie sich für die Jungfrau Maria und ihren Sohn für den Weltheiland hielt, endigte 1804 ihr Leben. Ihr Tod hatte Wernern auf das heftigste erschüttert; er schrieb damals an einen Freund: »Die Gottheit schlägt mit einem eisernen Hammer an unser Herz, und wir sind mehr als Stein, wenn wir das nicht fühlen, toller als toll, wenn wir uns nicht schämen, uns vor dem Allgewaltigen in den Staub werfen, unsre ganze, so höchst miserable Persönlichkeit zu vernichten, in dem Gefühle seiner unendlichen Größe und Langmut.« – Auch bewahrte er ihr Andenken mit rührender Treue bis zu seinem Tode, und ihr Bildnis mußte mit ihm in den Sarg gelegt werden.

Unter ihren Augen hatte Werner in seiner Vaterstadt die Rechte studiert, und begleitete dann mehrere Jahre hindurch [804] das Amt eines Kammersekretärs bei der k. pr. Domänen-Kammer zu Warschau, wo er sich mit Mnioch und Hitzig befreundete und mit seinem Landsmann und ehemaligen Schulkameraden, dem bekannten Dichter Hoffmann, wieder zusammentraf. Seine im J. 1805 erfolgte Versetzung als Geheimer Sekretär nach Berlin aber führte ihn endlich in die größere literarische Welt ein; durch den Ruf, den ihm seine »Söhne des Tales« erworben, kam er dort mit Fichte, Johannes v. Müller, A.W. Schlegel, Alexander v. Humboldt und andern Koryphäen der neuen Bildung in persönliche Berührung, während Iffland die eben Vollendete »Weihe der Kraft«, selbst die Rolle des Luthers übernehmend, mit lebhaftem Interesse auf die königliche Bühne brachte.

Im Verlauf dieser wenigen Jahre hatte inzwischen Werner bereits drei Ehen ebenso frevelhaft-leichtsinnig geschlossen als gelöst. Die letzte wurde bald nach seiner Ankunft in Berlin mit beiderseitiger Zustimmung getrennt, weil – wie er an Hitzig schrieb – von dem jungen Weibe, das er übrigens bis zu seinem Lebensende innig liebte und verehrte, nicht mehr mit Recht zu fordern sei, daß sie mit ihm glücklich leben solle. »Ich bin wohl«, sagt er, »kein böser Mensch, aber ein Schwächling in vieler Rücksicht (denn Gott stärkt mich auch in mancher), ängstlich, launenhaft, geizig, unreinlich; Du weißt's ja! Immer in meinen Phantasien, in Geschäften; hier nun vollends, in Komödien, in Gesellschaften, hatte sie mit mir keine Freuden. Sie ist unschuldig! Auch ich bin es vielleicht; denn kann ich dafür, daß ich so bin?«

Bald darauf aber stürzte die preußische Monarchie äußerlich zusammen, um sich innerlich zu besinnen und kräftiger wieder aufzubauen. Die übermütige französische Wirtschaft verleidete ihm den fernern Aufenthalt in Berlin. Seine drei Ehen waren kinderlos geblieben, ein kleines, von der Mutter ererbtes Kapital sicherte ihm notdürftig eine unabhängige Stellung; und so entsagte er im J. 1807 seinem Amte und folgte der angeborenen Wanderlust, die Schweiz, Frankreich und Deutschland nach allen Richtungen durchstreifend. Auf diesen Fahrten sind es vorzüglich drei Begegnisse, die ihn leuchtend und erwärmend berührten: die persönliche Bekanntschaft Goethes, »dieses universellsten und klarsten Mannes seiner Zeit«, den er bis zum Tode als seinen großen Meister anerkannte. Sodann ein mehrmonatlicher Aufenthalt bei der [805] Frau von Staël auf ihrem Landsitze Coppet am Genfersee in dem Kreise geistreicher Freunde, unter denen er besonders A.W. Schlegel ehrend nennt. Und endlich die väterliche Freundschaft des Fürsten Primas von Dalberg, der ihm ein Jahrgehalt von 1000 Gulden zuwandte, welches ihm nach Dalbergs Tode vom Großherzog von Weimar fortgewährt wurde.

Den eigentlichen Wendepunkt seines Lebens aber bildet Rom, wo er im J. 1811 zum katholischen Glauben zurückkehrte. Nach einem fast vierjährigen Aufenthalte daselbst, den er zum Studium der Theologie benutzte, verließ er Italien für immer, trat in das Kle rikal-Seminar zu Aschaffenburg und empfing dort am 16. Juli 1814 die priesterlichen Weihen. Seitdem lebte er, ohne bestimmte Anstellung, mit geringen Unterbrechungen in Wien treu und ausschließlich seinem geistlichen Berufe bis zu seinem im J. 1823 erfolgten Tode.

Es ist vielleicht kein Romantiker im Leben und noch im Grabe so unverständig oder boshaft verunglimpft worden als Werner. Der Grund liegt wohl darin, daß man ihn meist einseitig bloß vom ästhetischen Standpunkte aus beurteilt, während bei Werners Individualität seine poetische Bedeutung durchaus nur in beständiger Beziehung auf seine religiösen Intentionen gewürdigt werden kann, diese aber vielen völlig fremd oder verhaßt sind und deshalb leichthin als konfuser Mystizismus abgefertigt werden. Es lohnt daher wohl der Mühe, die Akten, auf welche seine gewöhnliche Verdammung sich begründen will, noch einmal treu und gewissenhaft zu prüfen.

In Werners innerem Leben, das aus seinen eignen, unumwundenen Geständnissen in Briefen und Gedichten offen vor uns liegt, begegnen uns allerdings fast schreckhaft zwei scheinbar unversöhnliche Erscheinungen: eine glühende, oft ans Gemeine, ja Verruchte streifende Sinnlichkeit neben einem tiefen religiösen Gefühl; und dieser Gegensatz und seine versuchte Lösung ist der eigentliche Kern und Inhalt seiner Poesie, die daher durchweg etwas Tragisches hat; ein unausgesetztes Ringen mit wilder irdischer Leidenschaft und Weltlust, der er frühzeitig verfallen, gleichsam ein schwarzes und ein weißes Roß dicht nebeneinander gespannt, die ihn immer weiter nach dem Abgrunde fortrissen, vor dem ihm graut. Dieser zerrissene Zustand spiegelt sich, unter vielen andern Gedichten, in seinem »Rheinfall bei Schaffhausen«:


[806]
»Rasselnd Gewässer, was rasest du? – ›Fort!‹ –
Wohin? – ›Nach dort, sonder Rast, mit Qual,
Ins brennende Tal! Es rasselt uns nach;
Uns jagt zum Brautgelag brausende, sausende
Grauslust, zu schwelgen an Bräutigams Brust.‹ –
Es ist euch bewußt, ihr kosenden, wogenden
Silberne Bogen umwälzende Jungfraun,
Mein seliges Graun! Ach könnt ich mich sammeln
Und stammeln, und lallen, durchs mächtige Schallen
Der Wässer, von allen Gefühlen das eine:
Warum ich, im Scheine der wallenden, fließenden,
Froh sich ergießenden, feurigen Fluten,
Die Gluten der freudigen Tränen jetzt weine! –
›In dir sind wir dein, wir schliefen
In Tiefen von dir sonder Reuen, die Treuen!
Doch erschreckt, und geweckt durch die Pein deiner Sünden
Entzünden wir uns in dem Abgrund; und ringen
Und dringen, mit Klingen, durch weinende Schuld,
Zum Heiland, der wieder uns finden, umwinden,
Entsünden uns wird; drum wir jauchzen und schrein,
Den Bräutigam zu weihn; drum wir rauschen und ringen,
Zu schlingen von außen und innen ihn ein!‹ –
Rasselnde, träumende Töchter vom ewigen Schaum,
Nehmt mich mit aus dem Raum, aus der Arbeit der Zeit,
In die Ewigkeit! – ›Was heischest du?‹ – Ruh!
Und sie lachen dazu.«

Auf diesen seinen Gemütszustand werden wir jedoch weiter unten noch einmal zurückkommen und wollen hier vorläufig nur bemerken, daß seine Schriften sich von aller Mitschuld rein gehalten; da ist keine Spur von Lüsternheit, von Beschönigung oder ästhetischem Hätscheln der Sünde; der Teufel wird überall bei seinem rechten Namen genannt, ganz im Gegensatze von Wieland, der sittlich lebte und lüderlich schrieb. Sehr natürlich. Denn neben diesen Ausschweifungen sagten wir, geht durch Werners Leben und Dichten vom Anbeginn bis zum Ende der feurige Faden eines durch alle Verwandlungen immer mächtiger wachsenden religiösen Gefühls, und zwar nicht etwa als poetisches Motiv und Beiwerk, sondern als der Ernst und die Seele des Ganzen. In seinen Jünglingsgedichten zwar bis zum J. 1790 stimmt auch er in den [807] rationalistischen Jargon seiner Zeit noch mit ein und singt Von Aberglauben, Frömmelei, heiliger Dummheit und Jesuiterei; doch auch damals widerstrebend, ringend:


»Wie auf Wogen Wogen sich erheben,
Türmen Zweifel jetzt auf Zweifel sich,
Hoffnung winket – Zweifel widerstreben,
Ich vergehe – Vater – rette mich!«

Unterdes aber hatten Novalis, Schlegel und Tieck schon ihr Tagewerk rüstig begonnen und, wie in der bessern Jugend überhaupt, auch in Werner aus der Ferne die schlummernden Kräfte zum Bewußtsein gebracht, der nun plötzlich auf dem angeborenen Boden steht, um ihn nie wieder zu verlassen. Er erkannte nämlich sogleich das religiöse Element der Romantik als ihre eigentliche Bedeutung und die Förderung dieses Elements als seine Lebensaufgabe dabei. Die Poesie hatte ihm von jetzt ab nur Gültigkeit, insofern sie, mit Religion und echter Liebe eine »Dreieinigkeit« bildend, für die letzten Zwecke der Menschheit wirkt, die höher sind als alle Poesie, wo durch das allen Egoismus vernichtende Gefühl die Moral Notwendigkeit und der Verstand Anschauung wird. »Kunst und Religion« – schreibt er 1802 an seine Freunde – »sollen, meiner Meinung nach, das Herz, wie ein Gefäß, durch Anschauen des Schönen und des Universums, nur reinigen, so weit, daß es für die höheren Wahrheiten der Moral empfänglich ist; nicht dem Herzen diese Wahrheiten selbst eintrichtern. – Nun sind aber die Herzen der Alltagsmenschen kalt; sie müssen also durch Bilder des Übersinnlichen erst entflammt werden, wenn ich so sagen soll, wie ein irdenes Gefäßausgeglüht, ehe die reine Milch der Moral in sie gegossen werden kann. Das ist mein kurzes Glaubensbekenntnis über Kunst, die mir selbst nicht flüchtiges Amüsement, sondern Leiterin durch das Leben geworden ist. – Wer ist Künstler? – der, welcher durch ein Chaos von Regeln, Studien, Rücksichten und was weiß ich alles eingezwängt, die er doch, er sei noch so genialisch, nicht überspringen kann, in Worten, Tönen, Farben das Geringste nachzuklimpern sucht, was der gewöhnliche Religiöse in Minuten der Weihe empfindet; oder derjenige, der sich und sein Inneres, wie eine Äolsharfe, dem schönen Sausen der harmonischen Schöpfung darbietet und sich von ihm durchströmen läßt? O nur diese Luftströme sind die verdünnte Lebensluft, [808] die dem Kranken von seinem höchsten Arzte gereicht wird zum Labsal. – Der sogenannte Dichter ist nichts, ist weniger als der Schreiber oder der Kanzellist, wenn er sich damit begnügt, in schön gestochenen Silben seinen Nebenmenschen zu amüsieren. Der Geist des Ganzen macht es aus, der hohe, göttliche Geist, den der Dichter als Priester der Gottheit verbreiten soll in der Welt. – Ich kann Dir, so wahr Gott lebt, schwören, daß ich die Kunst bloß aus dem höheren Gesichtspunkte, insofern sie uns Ahnungen der Gottheit gibt, betrachte und daß es mir nicht darum zu tun ist, Bücher zu schreiben und einen flüchtigen Beifall zu gewinnen; sondern darum, wenn auch nur wenige Gemüter für das Heilige zu gewinnen, was die Welt nicht kennt. Das ist, so wahr Gott lebt, nicht Affektation, sondern wirklicher Ernst.«

Bei solchem Ernste aber ist, wie er selbst hinzufügt, Proselytenmacherei sehr natürlich; wie der einzelne Dichter ein Missionär in diesem Sinne, so sollten alle ausgezeichneten Geister eine Propaganda zur religiösen Erhebung der Menschheit bilden. »Ich versichere und beteuere Dir«, schreibt er 1803 an Hitzig, »daß ich alle poetische Lorbeerkronen für die Freude hingäbe, nicht etwa Stifter, bloß Mitglied einer echt religiösen Sekte zu sein, denn ich bin überzeugt, daß das die Hauptsache ist, warum es der Welt not tut, und daß alle Kunst nur Propyläen zu diesem Endzweck. – Was könnten zehn gefühlvolle, reine, begeisterte Jünglinge, zu einem Zwecke verbündet, mit der Welt in religiöser Hinsicht machen, wenn sie weniger schreiben und mehr tun wollten, und wenn es möglich wäre, noch junge Leute zu finden. – Daher tut es mir in der Seele weh, wenn ich die herrlichen Kräfte der neuen Menschen, des Schlegel, des Tieck, des Schleiermacher usw. verschwendet, den einen eine Komödie, den andern ein Journal, den dritten romantische Dichtungen, Sonetts und Gott weiß was liefern sehe, sie von großen Zwecken, wie die Franzosen von der Landung in England, prahlen höre und doch keine ernste Tendenz, keine verbundene Harmonie zu dem großen Ziele, keine Realisierung der göttlichen Idee einer geselligen Verbindung edler Freunde zum höchsten Zwecke erblicke, wie Schlegel sie im ersten Heft seiner Europa so schön andeutet. Alles poetische Andeuten von hohen Verbindungen, anbrechender Morgenröte usw. kann nichts helfen; geben muß man der Welt, der jämmerlichen, von Gott entfremdeten [809] Welt das Beispiel einer solchen Verbindung, in Prosa, in Natura; sie mag Sekte, Orden, wie sie will, getauft werden, und kann ich zu einem solchen Zwecke mitwirken, so will ich gern meine poetische Feder, die mir nur dazu Vehikel ist, niederlegen auf ewig, dann erst werde ich sagen können, ich lebe!« – Und praktisch auf dieses einzige Ziel gewandt, bittet er daher Hitzig, darüber mit seinen Freunden in Berlin zu sprechen, insbesondere jene neuen Menschen aufzusuchen. »Assoziiere Dich ihnen bonis modis. Ist dieser oder jener ein Narr; tut nichts, wenn er nur echten Sinn hat für das, was dem Menschen not tut, und das ist: Verbindung einiger in solchem Sinne begabten Menschen zur Erwärmung der Menschheit. Vor allem sondiere diese Menschen, ob die in Schlegels Europa und sonst angedeutete Verbrüderung der Besseren zur Vergöttlichung der Menschheit eine poetische Floskel, mithin eine leere Gaskonade, oder etwas mehr ist, und sie wirklich glauben, daß auf die Menschheit durch mehreres literarisches Zeug, von dem man nicht weiß, von wannen es kommt und wohin es fährt, und was in Lesegesellschaften begraben wird, könne gewirkt werden? – Nein, mein Freund! Kunstwerke sind Vorarbeiten zu der neuen Religion, die der Menschheit gegeben werden muß; Bücher wirken in dieser Rücksicht wenig oder nichts. Wir brauchen Apostel (NB. in modernem Geschmack), die auf einen Zweck hinwirken, und Proselyten!«

Wer möchte hiernach zu behaupten wagen, daß es Wernern mit seinem Streben nach religiöser Wirksamkeit nicht Ernst gewesen? ein Ernst, der immer und überall ehrenwert ist und die Bürgschaft endlichen Gelingens schon in sich trägt. Allein die Bahn, die er damals anstrebte, war – wie späterhin von ihm selbst am kräftigsten anerkannt worden – eine grundfalsche, in ihrem Wesen von den gewöhnlichen religiösen Theorien seiner Zeit nur wenig verschieden; indem er, Poesie und Religion einander gleichstellend, beide nur als Mittel zur Erwärmung und Vorbereitung der Menschheit für ein vermeintlich höheres, über alle positive Religion hinausliegendes Ziel betrachtete. So rühmt er allerdings schon damals den Katholizismus nicht nur als das größte Meisterstück menschlicher Erfindungskraft, sondern auch, wenn er geläutert wird, als das beste unter den Erzeugnissen der Christusreligion, das allen übrigen christlichen und unchristlichen Religionsformen, für ein Zeitalter, welches den Sinn der schönen Griechheit auf [810] immer verloren, vorzuziehen sei. – Alles dies jedoch nur von jenem poetisch-reformatorischen Gesichtspunkte aus. »In dieser poetischen Hinsicht nämlich«, sagt er, »nehme ich nicht nur die Maçonnerie, sondern selbst manches von ihrer Geheimniskrämerei, ja sogar den jetzt aufs neue Mode werdenden Katholizismus, nicht als Glaubenssystem, sondern als eine wieder aufgegrabene mytologische Fundgrube, theoretisch und praktisch in Schutz.«

Alle diese Gedanken, Träume und Intentionen hat er vorzüglich in seinen »Söhnen des Tales« und deren zweitem Teil: »den Kreuzesbrüdern«, niedergelegt, an denen wir daher sein damaliges Glaubenssystem, wenn es so genannt werden darf, näher nachzuweisen versuchen wollen.

Der Ideengang in diesem Doppel-Drama ist wesentlich folgender: Es gibt eine höhere Erkenntnis als die positive christliche. Jene höhere Religion aber kann dem Volk, oder der Menschheit überhaupt nicht frommen, die das volle Licht noch nicht verträgt; sie muß vielmehr, bis die Menschheit reif geworden, immer nur die Geheimwissenschaft eines auserwählten Kreises von Begabteren bleiben. Ein solcher Kreis nun ist in dem Drama der Talbund, und sein Repräsentant der Erzbischof Wilhelm von Paris, und von diesem Bunde waren die Templer zu Verkündigern der heiligsten Wahrheiten für den christlichen Erdstrich ernannt worden. Allein der Tempelorden hatte seine Vollmacht überschritten und übereilt die ganze Wahrheit zu verbreiten gesucht; nicht dadurch überschritten, daß er nicht an den Versöhner glaubte, sondern daß er diesen Unglauben nicht heuchlerisch verbarg. »Und darin liegt es!« ruft daher der Erzbischof entrüstet aus,


»Sie sagen ihren Bübchen ohne Bart,
Daß der nicht Gott ist, der's für uns sein soll. –
Das ist doch dumm – nicht wahr?
– – Sonst nichts als dumm. – –
Wo ist ein beßrer Glaube für die Menschheit?
Vernichtet ist der Mensch, wenn nicht zum Leben
Mit Adlerflug das Ideal ihn reißt.
– – Wer hieß den Toren Wahrheit
Auf Dächern pred'gen! – –
Sind jene Templer, was sie pred'gen,
Sind sie vermögend, ohne Ideal
[811]
Das Angesicht der Gottheit anzuschaun;
Warum entzogen sie die Decke Mosis
Den ungeübten Augen ihrer Jünger?«

Um dieser unklugen Profanierung willen allein also wird vom Talbunde, der wie ein unbeugsames Fatum über dem Ganzen waltet, der Tempelorden gestürzt und mit der erledigten Vollmacht der Rest desselben (die Kreuzesbrüder) belohnt, um, mittelst der Maurerei, aus den Trümmern des Protestantismus einen idealisierten oder, wie er es nennt, geläuterten Katholizismus aufzubauen. »Nur unter dem Glockenklang der Religion«, sagt er, »und dem Harfenspiel der Kunst, kann der Bund gedeihen, der auf den Tempelbund gepfropft ist und dessen Charakteristikon es ist, daß seinen wahren Bekenner ewiges Leben umduftet. Die Tendenz meines Stückes ist, dadurch, daß ich ihm die in seinem Wesen begründete Verschmelzung mit Religion und Kunst anschaulich mache, ihn von einer gewissen humanen Kälte abzuleiten, die an sich löblich, aber nur für wenige höhere Geister gemacht und schlechterdings unvereinbar ist mit einer auf Enthusiasmus gegründeten Verbindung vieler.« – Ist aber solche Kautel schon bei einem Bunde Auserwählter nötig, um wie viel weniger wird dann jene an sich löbliche, humane Kälte für die Gesamtheit taugen! »Denn« – sagt einer der Ältesten des Talbundes:


»Was dir der Glaube an dein Ideal,
Das ist dem Volk sein Heiland und sein Fetisch.
Man kann ihm alles nehmen, nur nicht das,
Am wenigsten, wenn man's ihm nicht vergütet. – –
Und alles dieses führt dich auf den Grund,
Warum wir jedes Volkes Glauben ehren;
Warum wir Klosterbrüder hier, am Ganges
Brahminen sind; warum wir diesen Tropfen,
Der, selbstgetrübt, den Urquell widerspiegelt,
Nur zu verklären suchen, nicht verwischen;
Und – da der Mensch es einmal nicht vermag,
Die Gottheit ohne Mittler anzuschauen –
Warum wir, durch Messias oder Prometheus,
Durch Horus, Wischnu, Eros, Thor und Christus,
Dem staubbedeckten Geiste Flügel liehn,
Um sich zu seinem Urquell aufzuschwingen.«
[812] Wem fiele hier nicht Voß' Sprüchlein ein:
»Der Kelt', der Griech, der Hottentott
Verehren kindlich einen Gott!«

Nur mit dem moralischen Unterschiede, daß Voß, gleich den Templern, mit seiner Weisheit ehrlich herausplatzt, während hier der exklusive Talbund wissentlich und wider seine Überzeugung die liebe Dummheit mit Täuschungen hinhalten will. – Man sieht, die ganze Sache würde auch hier so ziemlich auf den gewöhnlichsten Rationalismus hinauslaufen, wenn sie nicht, durch ihre abnormen Sympathien für die Romantik, eine gewisse mystische Färbung erhielte. Denn fragen wir nun endlich genauer nach diesem sogenannten geläuterten Katholizismus oder vielmehr nach jenem höheren Ziele einer vom Katholizismus nur zu vermittelnden neuen Religion, so sehen wir die pantheistischen Phantasien, welche bei Novalis gleichsam ein kräftig in sich selber arbeitender Wein nur als ephemere Luftblasen emportrieb, bei Werner schon als besondere, entschiedene Richtung sich selbständig ausbilden. Auch Werner findet zwar, wie wir oben bemerkt, Trost und Rettung einzig in Kunst und Religion, erkennt aber in der letztern nur das lebendige Gefühl der großen Naturnähe und das unbefangene Ergießen einer reinen Seele in dieses reine, unendliche Meer, in dem er, ohne nach persönlicher Unsterblichkeit mehr viel zu fragen, sich baden, auflösen und verfließen möchte. Und dieses Aufgehen des einzelnen in der allgemeinen Weltseele ist denn auch das Hauptthema seines Dramas und das Ziel des dort dargestellten Talbundes. So sagt der Alte des Bundes von dem gereinigten Sünder:


»Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen;
Es schwand der Wahn, zu werden ein und etwas;
Sein Wesen war ins große All zerronnen,
Und wie ein Säuseln kühlt' es ihn von oben,
Daß ihm das Herz vor Lust zerspringen wollte.«
Und die Bildsäule der Sphinx singt:
»Phosphoros und Wort und Heiland,
Mehr noch, alles bist du selber,
Wenn du alles bist, nicht etwas!«

[813] Durch dieses Allwerden aber wird der Mensch, und so auch hier der Talbund, »allmächtig, wie der Ausfluß Gottes, wenn er sich selbst versteht, es immer ist«. Denn:


»Ist wohl das große Schicksal
Der Völker etwas mehr als das Erzeugnis
Des bloßen Menschenwillens? – Kann der Mensch,
Der einzelne, die ungeheure Masse
Der sittlichen Natur nicht lenken?«

Und so wird denn auch der Schotte Robert erst dann in den Bund aufgenommen, als er die persönliche Unsterblichkeit mit den Worten wegwirft:


»Die krüpplichte Unsterblichkeit – nicht wahr? –
Die unser eignes, jämmerliches Ich,
So dumm und kläglich, so mit allem Unrat
Nur fortspinnt ins Unendliche – nicht wahr? –
Auch sie muß sterben? – unser schales Selbst –
Wir sind in Ewigkeit nicht dran genagelt?
Wir können es, wir müssen es verlieren,
Um einst in aller Kraft zu schwelgen!«

Die alte Kirche ist nur der Ursprung, die Mutter des Tales, welcher die mündig gewordenen Söhne nunmehr über den Kopf gewachsen. Denn der ganze Weltball wird jetzt eine große Kirche,


»Die Erde wird ein Sakrament des Fleisches,
Das Meer ein Sakrament des heil'gen Blutes. –
So findet ihr, was euch mit Gott vereine,
In der Natur gebildet überall,
Und keinen Punkt, wo er nicht widerscheine –
Zum Mittler könnt ihr auch den Staub erheben.«

Demungeachtet gibt es dabei doch noch gar wunderliche Zeremonien mit Mänteln, Kreuzen und Dolchen; wir wissen nicht, ob dieselben etwa der Maurerei entnommen sind; uns Uneingeweihte aber gemahnt diese Liturgie des Talbundes häufig an den albernen Theaterspuk in der Zauberflöte.

Derselbe Gedankenzug geht durch das fast durch aus symbolische Drama: »Die Weihe der Kraft«, welche oft auch Licht genannt wird, das aber wiederum nur das Licht der eigenen [814] Menschenkraft ist. Auch hier finden wir die Vereinigung von Reinheit (Elisabeth), Kunst (Theobald) und Glauben (Therese) zu einem »Mysterium dreieiniger Liebe«. Allein diese Liebe (Katharina von Bora) ist, trotz allem christlichen Gerede, doch eine bloß ästhetische. Katharina will sich selbst ihren eigenen Heiland schaffen,


»Der mir gehört, und doch im Geisterreich
Versöhnend herrsche, aller und doch mein auch,
Den möcht ich fassen, mir ihn selbst gestalten.«
Die heilige Jungfrau zeigt ihn ihr einmal im Traume:
»Jesus war's nicht ganz,
Und Luther auch nicht – und ein Heiland doch –
Ein Heiland – nicht am Kreuz, auch nicht ein Knabe;
Ein göttlich schöner Jüngling –
So (wie Apollo) ungefähr – so sah der Heiland aus.«

Drauf erblickt sie plötzlich Luthern, dem sie eben geflucht hat, ruft: »Mein Urbild!« und – »betet fortan zu ihm.« –

In solch ein wesenloses Labyrinth hatte der Dichter sich und seine Poesie verstrickt, als er im Jahre 1809 die Reise nach Italien antrat, die den Wendepunkt seines Lebens bildet. Sein Ruhm war durch jene Dramen begründet, und er durfte – das wußte er recht wohl – nur so fortfahren, um sich den Beifall der damals in der Literatur herrschenden Partei zu sichern, ja diese selbst zu beherrschen. Daß ihn aber demungeachtet mitten in diesem glänzenden Treiben allmählich ein moralischer Ekel davor überkam, daß er jene Dichtungen als bloße Studien hinter sich warf, bezeugt die Wahrhaftigkeit seines religiösen Gefühls, dem es um die Sache, und nicht um schöne Formen, zu tun war. Die Sage erzählt von dem getreuen Eckart, wie er, aus dem zauberischen Venusberg zum Tageslicht zurückgekommen, noch geblendet und von den nachtönenden Wunderklängen verlockt, gen Rom pilgert, um den Frevel zu sühnen; und wie er dann in glänzender Rüstung sich vor den Zauberberg gestellt, jedem Schuldlosen, den das süße Weh bezwungen, warnend den Eingang zu wehren. Einen solchen, fast märchenhaften Eindruck macht von jetzt ab Werners Erscheinung, und es ist belehrend, ihm auf seiner Pilgerfahrt in die gleichsam neuentdeckte Welt zu folgen, die nun mit jedem Schritte, Strahl auf Strahl, verwandelnd auf ihn eindringt.

[815] Bei der Ausfahrt, über Berg und Tal, verfolgen ihn noch immer rastlos die Erinnerungen an die verlorene Jugend, die Erinnyen der Sünde:


»Von des balt'schen Meeres dürrem Strande
Wallt zur Stadt des Herrn ein Pilgersmann;
Ihn verwies aus seinem Vaterlande
Ein verdienter, aber schwerer Bann!
Und von Land zu Land
Jagt ihn dessen Hand,
Dem er zu entfliehn vergebens rann!« –
»– Und weiter, und freud'ger erschleußt sich das Tal,
Still folget dem Pilger die treue Qual! –
Und höher und höher steigt er heran,
Und die Qual, die getreue, die lächelt ihn an.
Im Tale ziehn Gatten mit ihren Kleinen.
Und die Qual, die starre, hebt an zu weinen!
Da beut dem Pilger das schirmende Dach
Die Bergburg – ein zieht er, die Qual ihm nach!«
Noch verzagt er schüchtern an der inneren Umkehr. So sagt er beim Eintritt in Italien:
»Ihr kommt zu spät, ihr ewig jungen Lauben;
Ach hätt ich früher euer Grün geschauet,
Als noch des Lebens Morgen mir gegrauet!
Ich kann nicht leben mehr! – ich kann nur glauben. –
Und doch – o daß ich, ewig junge Lauben,
Nicht früher euer duftend Grün geschauet!
Es ist zu spät! – der düstre Abend grauet!
Ich kann nicht leben mehr – werd ich noch glauben?«

Aber schon kommt, je weiter er schreitet, der Trost der Wehmut über ihn, und der starre Schmerz wird milder:


»Wir kennen längst uns, Tränen; denn wo ich hin mag ziehn,
Wie ich in frohem Mut euch immer möcht entfliehn;
Doch seid ihr als Gesellen, als Engel guter Art,
Stets, Tränen, treu mir blieben auf meiner Pilgerfahrt.
Nicht wie ihr unten träufelt, ein schaumerfüllter Raub,
Nein, wie ihr perlend blicket auf Blüten und auf Laub,
Entquillt ihr meinen Augen; nicht wie ich sonst geweint,
Nicht Schaum, der stäubt, verstäubet – zu Perlen schon gereint.«
[816] Da, plötzlich Rom von fern erblickend, sinkt er betend nieder:
»Leih mir, Morgenröte, deine Schöne,
Deinen ersten Strahl, erstandne Sonne
Brautnacht, deine Schau'r, Gebet, dein Schauen,
Ihr Symbole höchster Liebeswonne,
Leiht euch mir anstatt der armen Töne,
Auszusprühn mein freudiges Vertrauen:
Daß auf diesen Auen,
Wo der Thron der Herrlichkeit gegründet,
Ich, der auch zur Herrlichkeit erkoren,
Sie durch Schuld und Schwäche hat verloren,
Wieder neu der reinen Kraft verbündet,
Rettung find aus dem Gewühl der Zeit,
Die auch mir vererbte Göttlichkeit. –
– Mut fühl ich, die ganze Welt zu lieben,
Glut, mich selbst als Kunstwerk zu beginnen,
Gier zum Kampf, wie Helden Gottes rangen!
›Fleuch!‹ ruf ich zum bangen
Schmerz. – Entschüttelnd mich dem Nebeltraume,
Will in schöner Erd ich Wurzel schlagen,
Mich der Zeder anzuranken wagen,
Die den Wipfel schirmt vom Lorbeerbaum! –
Rom, da thront es! – Über Petrus' Grab
Strahlt vom Petersdom des Glaubens Stab!«

Und er hielt endlich Wort. Nicht, daß er, innerlich ausgewechselt, seinem eigensten Wesen untreu geworden wäre: seine ursprüngliche Lebensaufgabe vielmehr blieb dieselbe, aber diese Aufgabe formulierte sich fortan bestimmter und strenger. Das feige Aufgeben der Persönlichkeit, die gleichsam vor sich selber in ein unbekanntes All flüchten wollte, wurde zur besonnenen, heiligenden Entsagung der Sünde, das nebelhafte All zum persönlichen Gott, der erdichtete Talbund zur wahrhaftigen Kirche; und derselbe Trieb religiöser Wirksamkeit, der ahnend jenen Bund geträumt, machte den Dichter endlich zum Priester, um die Wahrheiten der wiedergefundenen Kirche zu verkünden. Ja, noch im Jahre 1810 war es sein sehnlichster Wunsch, einen religiösen Verein zu gründen, wobei ihm jedoch jetzt eine Klosterstiftung vorzuschweben schien.

Doch wenn wir im obigen Werners Verirrungen zu beleuchten versucht, so ist es gerecht und zur Herstellung des [817] ganzen Bildes unerläßlich, ebenso getreu und unbefangen nun auch Ziel und Streben aus seinen letzteren Lebensjahren näher nachzuweisen. Auch hier sind es, wie gesagt, wiederum seine religiösen Überzeugungen, die alles beseelen und erklären; und so scheint es angemessen, vorweg sein neues Glaubensbekenntnis, wie es sich namentlich aus vielfachen Stellen seiner Predigten ergibt, in wenige Worte zusammenzufassen.

Der Glaube ist ihm nämlich eine übernatürliche Gabe Gottes, oder vielmehr eine von Gott eingegossene Tugend, wodurch man alles fest und ungezweifelt für wahr hält, was Gott geoffenbaret hat und was die katholische Kirche, durch welche Er sich offenbart, zu glauben vorstellt, es sei geschrieben oder nicht. Dieser Glaube ist allen Menschen gegeben; eine Tugend aber ist er, weil er frei ist, d.h. weil der Mensch ihm widerstreben kann und die freie Wahl zwischen Seligkeit und Verdammnis hat. Er muß ferner kindlich und vernünftig sein, indem wir die uns anerschaffenen intellektuellen Grenzen und mithin die Notwendigkeit anerkennen, unsere Vernunft zu beugen und Gott unterzuordnen; wenn aber eine solche Selbstbescheidung vernünftig ist, so wird auch dieses Opfer, welches wir Gott darbringen, vernünftig sein. – Der Glaube muß endlich mit Liebe zu dem persönlichen Gott und dem Erlöser vereinigt sein; denn der Teufel glaubt auch an Gott, vielleicht viel fester und stärker als die Christen, aber mit Wut ohne Liebe. – Hoffart und Sinnlichkeit sind die Haupthindernisse des Glaubens. Ohne Glauben aber ist nichts. Furcht Gottes ohne Glauben ist Lüge, denn man muß erst an Gott glauben, ehe man ihn fürchten kann. Hoffnung ohne Glauben ist Torheit, man muß ja wissen, was man zu hoffen hat. Liebe ohne Glauben kann gar nicht sein; was soll ich denn lieben als Gott, und den muß ich eben erst kennenlernen durch den Glauben. Ebenso aber ist ein bloßer müßiger Glaube nichts, ohne innere Heiligung:


»Zagen sollt ihr, nicht verzagen,
Sollt bereun und bessertun,
Aber tun, das heißt entsagen,
Bessres wird die Gnade tun;
Glauben, Kindlein, und nicht fragen
Sollt ihr, ruhen nicht, und tun!«

Mit Feuereifer bekämpft er daher den Glauben der Vielfältigen, die gar vieles, aber nicht alles in einem sehen. »Sie lesen«, [818] sagt er, »im Katechismus von den Geboten Gottes und denen der Kirche. Eins gefällt ihnen, dieses mißfällt ihnen; diejenigen, die ihnen gefallen, befolgen sie manchmal; diejenigen, die ihnen mißfallen, unterlassen und verwerfen sie und glauben so, dem lieben Gott eine wächserne Nase zu machen, die sie drehen können, wie sie wollen. Ja! sie wissen manche Gebote recht gut auszulegen, wissen, daß Jesus die Ehebrecherin nicht verdammt, sondern begnadiget hat. Sie glauben, daß Gott gnädig ist, sie machen ihn nur noch gnädiger, als er ist, so daß sie ihm seine Gerechtigkeit gänzlich rauben. Sie glauben, daß er barmherzig ist, denn sie glauben, er vergibt alles, sie glauben an keine Strafe. Sie glauben, daß Gott höchst selig ist. Sie glauben an die ewige Seligkeit; darnach streben sie ja, sie wollen die ewige Seligkeit. Gott suchen sie nicht, Gott verlangen sie nicht, aber die ewige Seligkeit. Sie wollen hier schwelgen und darauflossündigen, dann wollen sie sich bequemen im Augenblick zu sterben und dann in die ewige Herrlichkeit eingehen, in ihre Herrlichkeit, wollen dann auch in der Wollust forttaumeln. Diese Vielfältigen wollen die Seligkeit, aber suchen nicht den, durch den sie sie allein erwerben können. Sie wollen ihren Stolz nicht unterdrücken, ihr Fleisch nicht bändigen, ihre Sinnlichkeit nicht ersticken.« – Von der erstarrten Selbstgenüge und Verstockung gegen den Glauben aber sagt er:


»Es gibt keinen Gott!
Es gibt keinen Teufel!
So rast der Verruchte
Mit frevelndem Mut.
Mein Sein ist mein Blut,
Ich hab, was ich suchte;
Drum kommen mir Zweifel,
So glaub ich dem Spott!
Mein Gott ist die Pflicht!
Die bändigt die Triebe.
So frevelt der Unsinn,
Sich selber gerecht.
Was macht mich zum Knecht?
Nur das, was ich nicht bin;
Dahin führt mich Liebe,
Drum ist sie ja schlecht.
[819]
So glaub ich an mich! –
Doch Glauben ziemt Narren,
Mir ist ja das Wissen
Von manchem geglückt. –
Doch macht's mich verrückt,
Das Höchste zu missen! –
Nun mag ich erstarren,
Mein Gott das bin ich!« –

In seinen »Geistlichen Übungen für drei Tage« endlich faßt er gleichsam noch einmal seinen ganzen inneren Lebensgang: von der Sünde und Hoffart zum Glauben, vom Glauben zum Schauen, in mehreren Liedergebeten zusammen, und schließt seine Gedichtsammlung mit einem Meßhymnus »Eucharistie« in bezug auf Raffaels Disputa.

Dies alles sowie das oben aus seinen Predigten Angeführte ist allerdings nichts anderes, als was die Kir che lehrt; es schien uns aber nicht überflüssig, eben auf diese Übereinstimmung seiner letzten Überzeugungen mit der Kirche ausdrücklich hinzudeuten, da sich in neuerer Zeit oft die Meinung geltend machen wollte, als habe er auch noch als Priester einen Katholizismus auf seine Weise angestrebt.

Wie ernst und tief er vielmehr namentlich die Bedeutung des Priestertums ganz im Sinne der Kirche auffaßte, bezeugt u.a. sein Gedicht auf den Tod seines väterlichen Freundes Hofbauer. Dort heißt es:


»Freilich ist die Schlacht, die blut'ge,
Gegen unser Wagstück Spiel nur
Freilich, wär es Helden kundig,
Was wir wagen, sie erblichen;
Freilich ist des Herren Urteil,
Ach, ein Abgrund undurchdringlich,
Über welchen wir Berufne
Ziehn, auf schlaffem Haarseil, schwindlig.«

Denn was den andern zum Segen, wird dem Priester zur Verdammnis, wenn er das heilige Mysterium mit unlautrem Herzen verwaltet. Wie töricht daher, wenn der religiöse Pöbel, dem zuliebe der Priester täglich seine Seele wagt, diesem noch Spott für Dank bietet,


[820]
»Ganz vergessend, daß das Blut nur
Jesu, welches dir auch fließet,
Pöbel, unser Tun entschuldigt,
Daß wir dir, dem niedern, dienen!«

Doch dieser Spott kann das Wesen des Priestertums nicht versehren; und so mag er denn immerhin die Priester verfolgen, nur das gesunde, glaubenskräftige Volk soll er ungeirrt lassen.


»Und wir wollen ferner ruhig
Deine Wut und unsre Pflichten,
Diese tun und jene dulden,
Beides heiter, beides willig. –
Was die schlechten und die guten
Priester anbetrifft, wir bieten
Beide preis sie deinem Unfug!
Sind wir schlecht, nun so verdienen
Wir ja dein Besudeln, Schmutz'ger,
Trifft's doch nicht, so schlau du zielest,
Was, auch wenn wir schlecht, durch uns tut;
Sind wir gut, so ist es billig,
Daß dein Tadel, der uns ruhmwert,
Weil er kommt von dir, Geringer,
Leucht an unserm Priesterschmucke.
Mit uns also kann dein Wille,
Wenn du welchen hast, sich tummeln!
Nur das Volk, das große, biedre,
Laß dir, Pöbel, nicht gemuten,
Daß du etwa wollest wieder
Hin es gaukeln in den dunkeln
Morast, wo du flackerst, Irrwisch! –
Du, den Pöbel ich nur ungern
Nannte, du, auch mein geliebter,
Wenngleich noch verirrter Bruder!
Lieb uns doch, wie wir dich lieben;
Ach, wär dir die Liebe kund nur,
Alles ließest du und liebtest!
Komm ans Herz mir, nicht um unsert–,
Deinetwegen lerne lieben?«

Der hochgesinnten Jugend aber, die, wenngleich den Priesterstand noch verkennend, doch voll edlen Unmuts das Nichtige und Niedrige haßt:


[821]
»Euch, noch nicht Geweihten, bieten
Wir Geweihten drum den Gruß an,
Handschlag und was sonst ist Sitte
Sich zu bieten Lieb und Gutes
Unter ehrenhaften Rittern,
Die, wenn auch verschiedner Zunge
Zum gelobten Lande ziehen. –
Drum, du Trupp, der auf uns unwirsch,
Weil wir, sagst du, viel erfinden,
Du erfindest, wir nur fanden,
Dir: Gefundnes suche, riet ich! –«

Denn eine Angst und Unruh geht durch alle Kreatur, die auch im Gebiete der Wissenschaft stets nur nach Erlösung durstig, und diesen unauslöschlichen Durst löscht nur die Theologie, die Liebeskunde:


»Die des Wissens reiner Ursprung,
Weil aus Liebe quillt das Wissen,
Die der weisen Antwort Kunst ist,
Wenn Philosophie, das Kindlein
Der Vernunft oft ungeduldig
Zerrt an seinen Fragewindeln. –
Die Geschichte, die bewußt sich
Ihres Ursprungs, ihres Zieles;
Der bewußt ist, was bedurfte
Aller Völker trostlos Ringen,
Ringend, ob bewußt, bewußtlos,
Schuldig, schuldlos, wahrhaft, irrend,
Immer nur nach Jesu Blute!
Sie, der Wissenschaften tiefste,
Die, wenn alle stolpern, mutig
Klimmet, festen, sichern Schrittes,
Die, wenn alle wanken, wurzelt
In der Herzen tiefstem Innern,
Die, wenn all' erliegen, und nun
Auch die Herzen ausgewimmert
Bald schon haben, noch im Sturme
Sie ersteigt dann, das Panier noch
Auf sie pflanzend des Triumphes;
Die Geschichte, hieroglyphisch
Eingeätzt dem Wesenrunde,
Die Geschichte der Geschichten.«

[822] Aber ist es gleich ein Weg, den alle ziehen müssen, so hat doch jeder seinen eigenen Fußsteig, der ihn und nur ihn hinführt und den allerdings jeder auf seine Weise suchen kann und soll. Ebenso entschieden weist daher der Dichter die träge oder feige Scheu der Dunkelmänner und Überkirchlichen vor der Wissenschaft zurück:


»Wähnst du, daß nur beten Priester?
Nein, das Gold muß aus den Gruben!
Also betend arbeit, bitt ich. – –
Item gibt vom Adler Kundschaft
Uns der heil'ge Augustinus,
Daß der alte Aar sein Junges
Packt im Neste mit der spitz'gen
Klaue, und alsdann es schnurgrad
In die Sonne hält am Mittag;
Wann das Adlerchen dann zucket
Auch nur etwas mit den Wimpern,
Wirft's der Alte fort – 's ist unecht!
Aber wer ins Ohr mir wispern
Wollte, daß ein frommer, junger,
Künft'ger Höllenüberwinder
Immer nur die Augen furchtsam,
(Als sei Furcht was Priesterliches)
Schließen müßte, wer das Dunkle
Preisen wollte mir als Lichtweg: –
Solch ein Wisper kommt mir unrecht!«

Nur im Mißbrauch also, in der Überhebung, die im Ungrund den Urgrund, durch Schein das Ursein finden will, liegt das Unrecht; und darum betet er:


»Gib uns Verstand, den göttlichen von oben.
Der, wenn von wilder Wogen Wut umwoben
Der Kahn, ihn, wie wenn sanft die Welle gleitet,
Zum Hafen leitet.
Gib Wissenschaft zu wissen, daß das Wissen
Von dem Gewissen nicht kann abgerissen,
Daß es im Liebesbrennpunkt schon auf Erden
Vereint muß werden.
Und daß den Anfang wir ans Ende bringen,
So gib uns, heil'ger Geist, vor allen Dingen
[823]
Der Weisheit Anfang: Furcht des Herrn! Das Ende
Dann du vollende! –«

Es konnte nicht fehlen, dieser innerliche Umschwung mußte auch seine Auffassung von Kunst und Poesie modifizieren. Die ursprüngliche Grundansicht zwar bleibt, wie die Kraft des religiösen Gefühls, auf der sie ruhte, dieselbe. Auch jetzt nämlich gilt ihm die Kunst nur als Mittel zu einem höheren Zwecke; sie soll die Menschheit durch Reflexe des verschleierten ewigen Lichts, welches das profane Auge noch nicht unmittelbar ertragen würde, mit der Gnadensonne versöhnen; der Künstler soll, als ein Friedensstifter, Gott in der Natur umfassen, um den alten Zwist von Sein und Schein zu einen. – Aber das Endziel dieser Vermittlung ist hiernach nun ein anderes geworden; nicht mehr die Selbstverherrlichung des eignen Lichts, um selbst Gott zu werden, sondern eine positive, christliche Erlösung, nach welcher alle Kreaturenunruh dürstet:


»Altmeister, sprecht! Wieviel ist Euer eigen? –
Sie sehn empor, verneigen sich und schweigen. –«
Und anderswo:
»Poesis fliegt keck zum Urlicht,
Doch von Wachs sind ihre Schwingen;
Sie muß, wo das Alleluja
Tönet, stürzen oder hinknien!«

Denn in aller Kunst erkennt er jetzt nur eine prophetische Gottesgabe, die von allem Anfang her ahnend auf Christus hin und zurück gedeutet. In dieser höheren Beziehung erscheinen ihm daher auch Poesie, Religion und Philosophie innerlich versöhnt und selbst die alten Dichter und Denker in den heiligen Kreis mit aufgenommen. So, sagt er, ließ Raffael in seinen Stanzen


»Zu jenen, die der Reue heil'ge Klagen
Im Anschaun hauchen aus und stillen Beten,
Zu den Gereinten treten
Das reine Leben, das nicht darf bereuen,
Pindar, Anakreon, Petrark, die linde
Laura und Dante, Gott im Blick, der blinde
Homer und Moses, wes sie sich erfreuen;
Es sind die Grazien, die bekränzt den Reinen,
Verschleiert uns Gefallenen erscheinen.«
[824] Und aus der Vorwelt Schachten ließ Raffael die Gestalten steigen
»Der Weisen, welche zieh'nd die Himmelsleiter
Des Denkens, Vorbereiter
Vom Glauben waren und vom sel'gen Schaun,
Pythagoras versenkt in Göttersprüche,
Der Liebesheld Sokrat, der königliche
Zoroaster, Archimed, die Welt zu bauen
Gebückt, und, zeigend auf der Weisheit Quelle,
Der hohe Platon an des Tempels Schwelle.« –

Wir hörten einst einen hocherleuchteten, gottesfürchtigen Mann den Wein als Heiltrank treuer, strebsamer Seelen preisen, weil er, alle niederen Sorgen brechend, solche Seelen aus der weltlichen Rumpelkammer von Rücksichten und lässiger Gleichgültigkeit freudig zu Gott emporhebt. So ungefähr erschien auch Wernern jetzt die Poesie, und er nahm sie daher kräftig in Schutz gegen das Achselzucken einer übelverstandenen Frömmigkeit. Der bevorzugte Sieger freilich, der, keiner Schwinge mehr bedürfend, die Niederungen schon überflogen, mag immerhin des Musenspieles lächeln;


»Und mit Recht! Wem Sphärenmusik
Tönt, dem niedre Tonkunst widert!
Doch nicht wag es niedre Dumpfheit
Zu verlästern Sang und Dichtung;
Nur der Adler, nicht der Kuckuck
Darf der Nachtigall gebieten,
Daß ihr Hochgesang verstumme,
Um zum Höchsten sich zu schwingen.«

Ebenso entschieden aber wandte er sich daher jetzt auch gegen jene halbmütigen, modern-christlichen Dichterlinge, denen es nur um eine katholisierende Romantik zu tun war:


»Als tücht'ge Christen sollt ihr euch betragen,
Doch nicht im süßen Liebestrieb euch strecken,
Denn Christi Sänger waren nimmer Gecken;
Am Glauben muß Vernunft empor auch ragen! –
O Gott, Du weißt, und ich weiß mein Gebrechen!
Ich habe selber viel und schwer gesündigt,
Ich kann den Stab nicht über andre brechen;
[825]
Doch sagen darf ich's frei und unverhohlen,
Daß, eh Dein Wort in Deutschland wird verkündigt,
Alfanzerei der Teufel erst muß holen!«

Und als solche, wenngleich stets gutgemeinte, Alfanzerei wirft er nun auch seine eigne frühere Poesie mit hinterdrein:


»Lüge war's, was ich zu singen
Wagte, daß es Liebe sei,
Macht von meiner Hölle Schlingen,
Euch von mir Verführte frei!«

Symbolisch legt er daher seine, von Dalberg ihm verehrte, goldene Schreibfeder, als ein Hauptwerkzeug seiner Verirrungen, seiner Sünden und seiner Reue in die Schatzkammer der heiligen Mutter Gottes zu Maria-Zell nieder und bittet Gott, ihn Seelen gewinnen und das »greuelvolle, durch seine Schreibereien veranlaßte Skandal« doch nur etwas wieder gut machen zu lassen:


»Laß dem Tode nicht zum Raube
Mich in die Verwesung gehn,
Bis das Bild, an das ich glaube,
Ich im Volk mach auferstehn! –
Laß mich Dich dem Volk verkünden,
Das der Sünden Nacht umflicht,
Mich, den Sünder, laß entzünden
Dein die Sünde sühnend Licht!«

Und er ging rüstig an das neue Tagewerk, für sich und andre. Immer ernster, tiefer, dringender werden seine Warnungen und seine Mahnung, daß Jugend, Mut und Verlangen dem Menschen zum ewigen Leben gegeben sind, aber auch zum Keime des Todes, wenn er sie nicht benutzt, um Zeit und Ewigkeit, die erst durch den Sündenfall zerklüftet worden, wieder zu vereinen. Darum ruft er:


»Du liebe Zeit! so laßt uns lieber sagen;
Denn wüßten wir, was an der Zeit gelegen,
Wir sprächen nie von ungelegner Zeit.
Die Brücke Zeit, noch ist sie aufgeschlagen;
Sie bricht! es braust dem Säumigen entgegen
Das Meer der ungelegnen Ewigkeit!«
[826] Aber die eigne Menschenkraft, ohne die Gnade, vermag es nimmermehr:
»Sein Wille hat befohlen? –
Er lügt! – Es sind die Glieder, die befehlen!
Sein Kopf, sein Herz, Gott weiß was sonst noch, reißen
Ihn hierher, dorthin! Das soll Wille heißen!? –
Gerechter Gott, wie wir Dir Worte stehlen!
Wärst Du nicht unser Vormund, Stab und Leiter,
Wir kämen ja mit keinem Schritte weiter.
Prahlhansen, kleine, wenn ihr's wagt zu wollen,
Lernt erst, womit die großen Hansen prahlen,
Daß sie: Gott sei uns Sündern gnädig! beten.
Wie leicht ist es, mit Worten zu bezahlen!
Doch wenn herein der Prüfung Stunden rollen,
Wo, was wir mühsam uns zusammenkneten,
Das Wort ins Fleisch soll treten;
Der Wille aus sich nur als Tat soll sprechen;
Was wir mit Recht als Menschenerbteil preisen;
Die Allmacht sich als solche soll beweisen:
Dann kann dem Besten auch der Mut gebrechen!
Der Gott in uns, dann fühlt er seine Schranken,
Und hat er keinen Stab, so muß er wanken!«
Nur eins daher tut not:
»Ein fünffach tun: die Schuld bereuen,
Die Sünde fliehn und beten,
Büßen und leiden mit Geduld. –
Dazu hat Jesus uns vereint,
Das hält uns auch zusammen,
Ob's blitzet, ob die Sonne scheint,
Beides sind Gottes Flammen. –
Ob eng auch sein siderisch Haus
Wohl jeden ein mag klammern,
Und keiner aus sich kann heraus,
Mag noch so viel er hammern;
Sobald nur, der die Sterne dreht,
Mir, wann ich will, im Herzen steht,
Was soll ich da noch jammern!« –

[827] Man würde indes sehr irren, wenn man durch diese beschauliche Richtung den Dichter isoliert und der Welt entfremdet wähnte. Es ist eben das Eigentümliche solcher den ganzen Menschen erneuenden Überzeugung, daß sie, wie das Sonnenlicht, alles, was in ihren Kreis kommt, mit dem neuen Glanze berührt und erwärmend zu durchdringen sucht. Und so sehen wir auch Wernern in seinen Liedern und Tagebüchern aus jener Zeit von den Begebenheiten des Befreiungskriegs mächtig erschüttert 1, in seiner Treue gegen die alten Freunde, in der Liebe zur Kunst, in seiner Verehrung für Goethe unverändert und insbesondere seinem fernen Vaterlande immerdar liebend zugewandt; ja, diese Liebe war es, die ihm in Italien keine Ruhe ließ und ihn endlich wieder seinem Deutschland und der Kanzel zuführte. So ruft er in Rom aus:


»Sieh mal den Rhein, was das ein rüst'ger Junge!
Zieht er von Köln, so rührsam, tüchtig; munter
Winkt ihm der greise Dom ein: Gott gesegne!
Drum, Tiber, jag mich nicht ins Grab hinunter,
Daß meinem Rhein ich noch einmal begegne,
Und meinem Volke sing mit Flammenzunge!«

Und in der Zueignung seines Schauspiels von der heiligen Kaiserin Cunegunde fleht er zu der Heiligen:


»Dein Beten half mir singen,
Hilf auch dem Volk mir bringen
Trotz Teufel deutsche Treu!
Des Sängers Freud und Wehmut
Leite das Volk zur Demut,
Daß alte Zeit sei neu!« –

Das alles spricht für sich. Schwerlich wird daher jemand, ohne selbst zu heucheln, den Dichter der Heuchelei beschuldigen wollen. Demungeachtet hat die frivole Lust am Gemeinen häufig die Verdächtigung versucht, als sei Werner aus weltlichen Rücksichten zur Kirche zurückgekehrt und Priester geworden; eine Verdächtigung, die zu der Heuchelei noch niederen Eigennutz hinzufügt. Es wiederholt sich hier im [828] kleinen nur das alte Kunststück einer gewissen Partei, die Tatsachen zu ignorieren oder zu beugen, um aus aller Geschichte ein Pamphlet nach ihrem Sinne zu machen. Wir meinen wenigstens durch obige Darstellung jedem Unbefangenen so viel klargemacht zu haben, daß bei Werner der Glaube wirklich eine Tugend war, an der er redlich und unablässig fortbildete und die ihn daher endlich, ohne alle äußere Veranlassung, zu dem Ziele führen mußte, an dem wir ihn zuletzt erblicken. Überdies ist aber auch eine solche äußere Veranlassung zu jener gehässigen Annahme nirgend aufzufinden. Not oder Gewinnsucht konnte es nicht sein. Denn die von seiner Mutter ererbte Summe hatte Werner, wie aus seinem Testament ersichtlich, sich bis zu seinem Lebensende fast ungeschmälert bewahrt. Auch die Pension, die er von Dalberg bezog, wurde ihm, bevor er noch an die Rückkehr zur Kirche dachte, zugewendet und später von dem akatholischen Großherzog von Weimar fortgezahlt. Eine kirchliche Anstellung also bedurfte er nicht und hat sie auch nie gesucht, weder in Rom noch in Wien, was er vernünftigerweise nicht unterlassen hätte, wenn ihn etwa nach höheren hierarchischen Würden gelüstete. Hatte er aber den Ehrgeiz, ein Heiliger zu werden, so wollen wir dergleichen Ehrgeiz allen Weltkindern aus vollem Herzen wünschen und empfohlen haben!

Er selbst äußert sich über diesen Gegenstand auf eine Weise, die niemand verkennen wird, der mit der rücksichtslosen Aufrichtigkeit seiner sonstigen Selbstbekenntnisse nur einigermaßen vertraut ist. »Eben weil ich« – sagt er im Jahre 1819 – »die Qual langen, lebenslänglichen, ehrlichen, jedoch vergebenen Suchens aus eigener schmerzhafter Erfahrung kenne, so bin ich von allem Parteihasse gegen edle Sucher, welch Glaubens und Volks sie auch sein mögen, aufs weiteste entfernt. Ich nehme vielmehr, selbst mit Rücksicht auf meine priesterliche Würde, gar keinen Anstand, laut zu bekennen, daß mir edle, rastlose Sucher des Wahren, die noch nicht dorthin gelangt sind, wo das Gefundene (nicht Erfundene, noch zu Erfindende) alles fernere Suchen zur Torheit, alles Finden zum Lohne der Entsagung macht, zwar, insofern sie das ewig nur zu Findende noch erst erfinden wollen, je edler sie sind, um so bedauernswürdiger, aber auch insofern sie aus ganzer Seele und mit reinem Herzen suchen, nicht nur unendlich schätzbarer, sondern sogar dem Ziele näher erscheinen als die[829] vielen der gegenwärtigen Zeit, die das unverdiente und nie zu verdienende unschätzbare Glück, im Kreise des ewig und einzig Wahren, im katholischen Glauben nämlich, geboren zu sein, gedankenlos verkennend, dieses göttliche Kleinod bald gemütlos verbilden, bald gefühllos vergeuden! – Meine mir ewig teueren Freunde werden mir mithin wohl glauben, daß ich immer noch derselbe harmlose Mensch bin, als welchen mich jeder kennt, der mich kennt, und daß ich niemals aufhören werde, nach dem Willen und der Tatkraft (welche zum Guten vereint, man, mit Rücksicht auf ihren Ursprung, im christlichen Sinne Gnade nennt) Vernunft und Verstand als die höchsten Gaben des Menschen zu schätzen. – Ich darf mit Recht hoffen, kein Unparteiischer, Unterrichteter und Vernünftiger werde es mir bei so bewandten Umständen in Abrede stellen, daß ich durch mein dermaliges sehr ernstes, dem Zwecke nach erhabenes und im tieferen Sinne, aber auch nur in ihm, allerdings nicht lohnloses, freiwilliges Wirken, bloß die Ernte des Ewigen, nicht die von zeitlichen Rosen oder Lorbeern beabsichtigen könne. Ich hoffe daher und, weil ein ehrlicher Mann dem andern aufs Wort glaubt, auch bei meinesgleichen Glauben zu finden, wenn ich mein mir teuerwertes Wort hierdurch für folgende ungeschminkte Tatsachen verbürge. Es ist kein irdisches Interesse, noch eine mir vielfältig angelogene Nebenabsicht (deren jede ich tief verachte) im Spiel bei meinem dermaligen ernstesten, höchsten und reinsten Streben; ich opfere demselben freiwillig (das darf ich mit menschlichem Schmerze zwar, aber auch mit mir aus höherer Quelle zugeflossener Ergebung sagen) nicht nur Gesundheit, Heimat und zeitlichen Ruhm und – als wehrlose Zielscheibe jedes Lügners – selbst die mir stets teuere Achtung meiner Freunde vielleicht; ja ich bringe ihm sogar das schmerzhafteste Opfer, ›die lebenslängliche freundliche Gewohnheit meines Daseins und Wirkens‹, mein dichterisches Saitenspiel dar, zu welchem ich gegenwärtig in Jahren kaum einige Stunden mir abstehlen kann und das, in so seltsamen Fugen es auch erklungen sein mag, doch, wo es den Grund des Heiligen und Deutschlands Ehre galt, nie einen Mißlaut ertönt hat.«

Mit diesen ernsten Worten, welche recht eigentlich Werners ganzes Wesen und Streben umfassen und abschließen, könnten auch wir hier schließen und hätten, streng genommen, [830] kein Recht, über seine Schriften hinaus seine Persönlichkeit, die nur Gott richtet, zum Gegenstande öffentlicher Besprechung zu machen. Allein er selbst in seinen Schriften hat sich auf diesen Boden gestellt. Wo immer wir seine Gedichte aufschlagen, fast überall finden wir harte Selbstanklagen, die von seinen Gegnern, oder vielmehr von den Gegnern seiner Rückkehr zur Kirche, emsig ausgebeutet worden, um die vermeintliche Ohnmacht dieser Kirche nachzuweisen, indem sie ihn selbst als einen verlorenen Mann der Nachwelt überliefern. – Es ist wahr, er selbst sagt:


»Ich weiß es, Herr (o werd ich's einst vergessen?),
Daß wert ich bin, im Abgrund zu versinken,
Den ich mir grub; die Wellen, die dort blinken,
Sind Mutterzähren, die ich aus tat pressen;
Dieweil den Taumelbecher ich vermessen
Geziert, zur letzten Neige auszutrinken,
Sind die Sirenen, die noch manchem winken,
Mir jetzt Harpyien, die am Mark mir fressen!«
Ja, er bekennt ferner:
»Selbst in der sieben Hügel Schoß
War das Gelüst mein Taggenoß,
Mein Nachtgesell das Grauen!
Gehetzt, der alten Sünde treu,
Von Reu zur Gier, von Gier zur Reu,
Selbst auf den heil'gen Bergen
Hab ich gesündigt freventlich;
Entwürdigt hab ich Rom und mich,
Das will ich nicht verbergen.«

Aber wir fragen: Wird denn seine Sündhaftigkeit darum schwärzer, weil er sie nirgend weißzubrennen sucht, sondern herzhaft eingesteht und verachtet? Oder gilt hier etwa, wie vor den weltlichen Behörden, das freche Leugnen als ein juristisches Kunststück, um den Richter zu täuschen? Wo, fragen wir, hat es ein Dichter jemals mit seinen Jugendsünden so schmerzlich ernst genommen als Werner? Die heutigen Poeten machen sich's freilich leichter und lachen über solchen Aberglauben – wir aber vermögen es nicht. Uns vielmehr will jenes Grauen vor der Sünde, jene Reue selbst schon als [831] eine moralische Kraft und die Umkehr des Dichters, je tiefer er versunken war, nur um so bedeutungsvoller und wunderbarer erscheinen. Daß aber diese Umkehr, und zwar in und durch Rom, eine totale und entschiedene war, wird keinem Unbefangenen zweifelhaft bleiben. Schlagt seine Tagebücher auf, die nie für den Druck bestimmt waren; da plaudert er anfangs, in der Schweiz und auf der Reise, noch von seinen heimlichen Sünden, wie von Essen, Trinken, Theater und anderen Dingen eben, gleichgültig, ja mit frivoler Lust. Bei seinem Eintritt in Rom aber ist es zunächst, als stutzte er innerlichst vor den Schauern der Vergänglichkeit und Ewigkeit, die dort über dem Grabe einer untergegangenen Welt sich mahnend begegnen; die Stimmung wird allmählich ernster, tiefer, siegesfreudiger, die Sündenbekenntnisse werden immer seltener und verstummen endlich ganz, die Sünde wird zum Ringen mit der Versuchung, das unruhige Suchen zum Finden, die Tage beginnen und enden mit Gebet. Das Ganze macht unverkennbar den Eindruck eines unverhofft Genesenden; und haben wir ihm früher das Schlechte aufs Wort geglaubt, warum sollten wir ihm nicht ebenso glauben, wenn er jetzt von Rom sagt:


»Und als ich schier erlag trostlosen Schmerzen,
(Den Schmerzen, die verdammen, statt zu segnen!)
Als mir verbargen sich die Himmelskerzen,
Die Tränen selbst mir nicht mehr wollten regnen,
Und als allein ich stand mit meinem Herzen,
Allein! – (es möge keinem das begegnen!) –
Da kam, als ich mich kaum noch konnte regen,
Die Hohe mir mit Huld und Trost entgegen!« –
»Und preisen werd ich mein Geschick
Und segnen jeden Augenblick,
Wo ich an Petrus' Grabe,
Der, wie die Bibel tut Bericht,
Gesunken, doch versunken nicht,
Zuerst gebetet habe!
Da ließ der Herr den Blitz erglühn:
›Nur der Entsagung wird verziehn!‹
Sprach Gott im Blitzesflimmer!
– – – – –
Und ich entsagt für immer!
[832]
Was dorten mir ward kundgetan,
Künd ich, will's Gott, wohl einmal an
Durch Wort und Blick den Brüdern;
Denn was der Herr uns kundig macht,
Das wandelt in des Busens Nacht,
Und singt sich nicht in Liedern.«

Sein im J. 1823 erfolgter Tod endlich war ein friedliches Einschlummern und die Trauer und Teilnahme, die er erregte, eine allgemeine und herzliche; beides nicht wohl denkbar, wenn er dem Wiener Volke das ärgerliche Schauspiel eines sittenlosen oder auch nur zweideutigen Priesters gegeben hätte. Eine unmittelbar nach seinem Hinscheiden in Wien erschienene kleine Schrift sagt hierüber: »Seine liebste Beschäftigung (während seiner letzten Krankheit) war das Gebet, und wenn er eben, was oft stundenlang geschah, sich vorbeten ließ, vermochte weder ein Besuch noch irgendein anderer Gegenstand ihn hierin zu stören. So heiter war und blieb dabei sein Geist, daß er, obgleich von Todesschwäche niedergedrückt und unfähig irgendeiner Labung oder Erquickung, dennoch Witz und Laune genug übrigbehielt, um mit manchem Scherze die Herrschaft seines Geistes über alles leibliche Elend und, was unendlich mehr ist, die Gnade zu beurkunden, womit der Herr und Vater der Erbarmungen seine Seele bekräftigte, daß sie mit Zuversicht der starken, christlichen Hoffnung, festiglich vertrauend auf die Huld und Macht des göttlichen Erlösers, für dessen Namen und Glorie er seinen letzten Lebenshauch angewendet, in demütiger und stiller Sanftmut dem Augenblick des Scheidens entgegensah. – Vornehme und Niedere, Feingebildete und Menschen aus gemeineren Klassen, drängten sich hinzu, um dankbar die erkalteten Hände zu küssen, ja nicht durch dieses Benehmen bloß, sondern mit lauten Worten auch vor allen Anwesenden freimütig zu bekennen, daß sie durch ihn wieder auf den Weg des Heils und zur Erkenntnis der Wahrheit geleitet worden seien.«

Das ist eine flammende Grabschrift, die alles eitle Gerede von Phantasterei, Jesuiterei usw. verzehrt und um die mancher Dichter in der letzten Stunde ihn beneiden möchte. – Werners Leben war sonach, wie wir klargemacht zu haben glauben, bis an sein Ende ein unausgesetzter Fortschritt in sittlicher und religiöser Beziehung. Er ist hierin mit Friedrich Schlegel zu [833] vergleichen, indem beide die Romantik ernst und konsequent in sich durchgelebt; aber darin sind beide wieder ganz verschieden, daß Werner, bei allem seinem Streben nach praktischer Wirksamkeit, dennoch die Romantik fast ausschließlich nur auf sich selbst bezog, während Schlegel, mit bei weitem höherer Kraft begabt, sie auch objektiv in Kunst, Religion und Wissenschaft verklärend einführte, also ihre eigentliche Bestimmung unvergleichlich vollständiger erfüllte.

Brentano

Das ähnliche Schauspiel eines lebenslangen inneren Kampfes, das wir bei Werner gesehen, bietet auchClemens Brentano dar, und doch wieder so grundverschieden, wie die beiden Dichter es waren, die ihn geführt. Denn schon der Feind, mit dem sie rangen, war bei beiden nicht ganz derselbe; während Werner gegen eine zaumlose Leidenschaft kämpfte, hatte der andere einen bei weitem geistigeren Gegner in sich zu bestehen.

Brentano ist bekanntlich nun schon seit mehreren Jahren tot; die Leute haben im Leben wenig von ihm gewußt und nach dem Tode ihn kaum vermißt. Das wird niemanden sonderlich befremden, der das Verhältnis der Dichter zu den Leuten kennt. Goethe war lange Zeit unbekannt, ja verhöhnt, während Kotzebue und Lafontaine florierten; Arnim stand verlegen auf dem Bücherbrett (und steht unseres Wissens noch ruhig dort), während sie sich in den Leihbibliotheken um Fouqué rissen. Man kann von den Leuten billigerweise ebensowenig prätendieren, daß sie poetisch sein, als daß sie gesund sein sollen; sie haben anderes zu tun und mit ihrer eignen Geistreichigkeit zu viel zu schaffen, und der durch die beständige Kultur ausgeweitete Lesemagen verlangt derberes Futter. Schon Görres bemerkte irgendwo, das große Publikum gebärde sich wie das Mammut in den Urwäldern der Poesie: es bricht und spaltet sich unersättlich Rinde und ganze Stämme zum täglichen Fraß und schnuppert im Vorüberstapfen kaum an dem Blumenstrauß, den ihm die Muse schüchtern und von fern zu reichen versucht. – Mit Brentano hatte es indes noch ein anderes Bewandtnis. Jeder Dichter nämlich hat zwar oder soll doch sein bescheiden Teil Genie haben; aber Brentano hatte dessen unbescheiden viel; darüber erschraken die einen, den andern dagegen war das grade recht, und sie wollten eben [834] anfangen, jubelnd in die Hände zu klatschen, da fiel es ihm bei, despektierlich von der Genialität überhaupt zu reden und ihnen den ganzen verhofften Spaß wieder zu vereiteln. So verdarb er's mit beiden.

Das ist ungefähr Brentanos Dichterlaufbahn; wir wollen versuchen, sie mit wenigen Worten deutlicher zu bezeichnen.

Seine Schwester Bettina schreibt ihm einmal: »Meine Seele ist eine leidenschaftliche Tänzerin, sie springt herum nach einer inneren Tanzmusik, die nur ich höre und die andern nicht. Alle schreien, ich soll ruhig werden, und Du auch, aber vor Tanzlust hört meine Seele nicht auf Euch, und wenn der Tanz aus wäre, dann wär's aus mit mir. Und was hab ich denn von allen, die sich witzig genug meinen, mich zu lenken und zu zügeln? Sie reden von Dingen, die meine Seele nicht achtet, sie reden in den Wind. Das gelob ich vor Dir, daß ich nicht mich will zügeln lassen, ich will auf das Etwas vertrauen, das so jubelt in mir, denn am End ist's nichts anderes als das Gefühl der Eigenmacht, man nennt das eine schlechte Seite, die Eigenmacht. Es ist ja aber auch Eigenmacht, daß man lebt.« – Wir jedoch in unserer Sprache möchten diese verlockende Naturmusik, diesen Veitstanz des freiheitstrunkenen Subjekts, kurzweg das Dämonische nennen, womit eine unerhört verschwenderische Fee beide Geschwister, Bettina wie Clemens, an der Wiege fast völlig gleich bedacht hatte.

Bettina jubelt noch bis heute eigensinnig fort in ihrer Eigenmacht, während Clemens, jene Eigenmacht vielmehr als eine falsche Fremdherrschaft erkennend, mit dem Phantom gerungen bis an sein Ende. Und eben darin liegt die eigentümliche Bedeutung Brentanos, daß er das Dämonische in ihm nicht etwa, wie so viele andere, beschönigend als geniale Tugend nahm oder künstlerisch zu vergeistigen suchte, sondern beständig wie ein heidnisches Fatum gehaßt hat, das ihn wahrhaft unglücklich machte; daß er ferner diesen Kampf nicht systematisch und planmäßig – wie z.B. Werner getan, der in seinen höheren Richtungen reflektierend, in der Religion theologisch war –, sondern als ein geborener Dichter sprunghaft, nach Gelegenheit und augenblicklicher Eingebung und mit wechselndem Glück, wie einen unordentlichen, phantastischen Partisankrieg geführt hat mit allen spiegelblanken Zauberwaffen der Poesie, mit Klang und Witz und einer zweischneidigen Ironie, die sich selbst am wenigsten verschonte.

[835] Daher auch bei ihm, je nachdem die eine oder die andere der im Kampf begriffenen Gewalten die Oberhand gewann, das Aphoristische, Improvisierte in seinem Leben, eine in den seltsamsten Kontrasten wechselnde, scheinbare Doppelgängerei, jenes chamäleontische, aber immer prächtige Farbenspiel, womit uns seine Erscheinung oft in Erstaunen setzt. So behauptet er aus einem natürlichen Hange zur Einsamkeit, Gott habe den Dichter einsiedlerisch gestellt; und ist doch jederzeit bereit, sich in das bunteste Weltleben zu stürzen. So rät er voll Eifer der Schwester Bettina, recht fleißig in der Küche zu helfen, gute Kuchen zu kneten usw., und sagt doch bald darauf wieder: »Alles Gegenwärtige ist mir nur der Stiel, an dem ich Vorzeit und Zukunft anfasse – ich bin ein geborener Idealist –, glücklich bin ich nicht, das ist Menschenwerk, unglücklich bin ich nicht, das ist auch Menschenwerk; ich bin alles, das ist Gottes Werk, und mag es niemand beweisen, das ist arme Bescheidenheit, die Kunst aber ist die Kanaille, die mich mit diesem sorgenvollen Ehrgeize behängt hat, und die Trägheit ist es, der ich es verdanke, daß ich so edel bin.« – Und während er dennoch der Kunst, und nur der Kunst, sein ganzes Leben weiht, spricht er wegwerfend, ja entrüstet davon: »Es ist auch wirklich ein verdächtiges Ding um einen Dichter von Profession, der es nicht nur nebenher ist. Man kann sehr leicht zu ihm sagen: Mein Herr, ein jeder Mensch hat, wie Hirn, Herz, Magen, Milz, Leber und dergleichen, auch eine Poesie im Leibe, wer aber eins dieser Glieder überfüttert, verfüttert oder mästet und es über alle anderen hinübertreibt, ja es gar zum Erwerbszweige macht, der muß sich schämen vor seinem ganzen übrigen Menschen. Einer, der von der Poesie lebt, hat das Gleichgewicht verloren; und eine übergroße Gänseleber, sie mag noch so gut schmecken, setzt doch immer eine kranke Gans voraus.« – Fast erschrocken sagt daher seine Freundin Günderode von ihm: »Es kömmt mir oft vor, als hätte er viele Seelen; wenn ich nun anfange, einer dieser Seelen gut zu sein, da geht sie fort und eine andere tritt an ihre Stelle, die ich nicht kenne, und die ich überrascht anstarre, und die, statt jener befreundeten, mich nicht zum besten behandelt.«

Es ist begreiflich, ein so außerordentlich komponiertes Talent, wo Licht und Schatten, weil sie miteinander rangen, dicht nebeneinander lagen, ja oft stoßend und drängend in [836] einander Überzugehen schienen, wo neben hingebender Andacht und aller wunderbaren Süßigkeit der Romantik ein übermächtiger Witz mit den Dingen koboldartig spielte, alles verletzend, was er liebte – eine so ungewöhnliche Natur, sagen wir, mußte häufig verkannt und mißverstanden werden, indem die Welt zu bequem ist, um genauer hinzusehen und im Scherz den Ernst, »das tiefe Leid im Liede« zu erkennen. Und so geschah es denn auch in der Tat, daß Brentano den meisten als ein schlechthin unerklärlicher Proteus, als ein innerer Widerspruch, ja manchen als ein scheinheiliger, unredlicher Faselant galt; und während die einen ihn vornehm in seinen Sünden stecken ließen, fabelten ihn andere als Mönch zu gerechter Buße in ein polnisches Kloster hinein. Er selbst hat diese bornierte Ungerechtigkeit seiner Zeitgenossen in manchen Stunden schmerzlich gefühlt und äußert einmal darüber: »Es ist entsetzlicher, von gemeinen Menschen für genialisch, als für einen Narren gehalten zu werden.« Nur Goethes Mutter, die bekannte Frau Rat, die sich selten irremachen ließ, hatte prophetisch schon zu dem Knaben Clemens gesagt: »Dein Reich ist in den Wolken und nicht von dieser Erde, und so oft es sich mit derselben berührt, wird's Tränen regnen.«

Und der heiteren Sibylle ist's auch diesmal zugetroffen. Kein Unbefangener wird in jenem ergötzlichen Tumulte der verschiedenen Seelen die rechte, wahre Seele, den Kristallquell, der insgeheim alle die wild spielenden Springbrunnen treibt, wir möchten sagen, das eigentlich Wunderbare seiner Wunderlichkeiten verkennen; es ist das unverwünstlich tiefe religiöse Gefühl, das er mit Werner gemein hatte; und eben der von der Frau Rat prophezeite, schmerzliche Zusammenstoß jener beiden Reiche in ihm bildet das wunderbare Regenbogenspiel seiner Poesie. – Sein Briefwechsel mit seiner Schwester Bettina (von dieser unter dem Titel »Clemens Brentano's Frühlingskranz« herausgegeben) ist ein merkwürdiges Denkmal der in ihm arbeitenden Gegensätze. Er spielt hier den altklugen Hofmeister gegen seine jüngere Schwester; das steht ihm gar seltsam zu Gesicht und wird ihm offenbar herzlich sauer, weshalb er denn auch oft genug aus der Rolle fällt und von Bettina derb ausgelacht wird. Überall aber ist die heimliche Angst vor sich selber fühlbar, vor dem eigenen Dämon, den er in der gleichbegabten Schwester wie ein erschreckendes[837] Spiegelbild wiedererkannt und daher aus allen Kräften bekämpft; das Ganze ist wie ein Monolog eines Besessenen, dessen innere Geister hier, nur mit verschiedenen Stimmen, wechselweis miteinander streiten. Oder ist es nicht, als spräche er recht eigentlich von sich selbst, wenn er in Beziehung auf Bettina sagt: »Wehe! Mir ist, als stehe ich auf einem vulkanischen Boden, wo die verwitterte Lava, von der schaffenden Natur üppig begrünt, hervorbricht in Flammen und verzehrt es wieder. Und hie und da liegen Brandstätten unter dem ewigblauen Himmel. Was nützt mein guter Wille, meine Stimme, mein Wort? Wie könnte das diesen Boden erschüttern, in dem ein innerliches Wirken verborgene Wege schleicht, und dann, jeder Gewalt unerreichbar, plötzlich das begonnene Gepflegte zerstörend aufflammt.« Oder wenn er an einer andern Stelle von den sogenannten großen Menschen redet, die Gott mit berauschendem Stolze für ihre Mühe mit den Wissenschaften belohnt und sie die schöne Mitte verachten lehrt; und dann der Schwester zuruft: »Ich bitte Dich, bleibe in dieser Mitte und steige nur in die Höhe, um zu beten.« – In seiner frühesten Dichtung schon: »Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter«, kündigt sich dieser Kampf, freilich noch roh und düster, an, und er nennt es selber einen verwilderten Roman. Dieser Roman enthielt schon damals (1801 und 1802) ungefähr alle Elemente, womit die jetzige Literatur als mit neuen Erfindungen prahlt: Weltschmerz, Emanzipation des Fleisches und des Weibes und revolutionäres Umkehren der Dinge. Und dennoch ist er wieder gänzlich verschieden von jener neuesten Literatur. Denn einmal klingt auch im Godwi in den einzelnen eingestreuten Volksliedern überall schon ein tieferer, ja religiöser Ernst fast sehnsüchtig hindurch; und sodann überkommt den Dichter selbst mitten in dieser Verwirrung die tödlichste Langeweile, Ekel und Abscheu davor, und er vernichtet sofort, was er im ersten Bande geschaffen, im zweiten Bande schonungslos wieder durch die bitterste Ironie. Er selbst sagt: »Ich werde die Kunst an diesem Buche rächen, oder untergehen.« – Auch in dem wundervollen Lustspiele »Ponce de Leon«, wo ein wahrhaft dämonischer Witz mit der Wirklichkeit wie eine Fontäne mit goldenen Kugeln spielt, ist doch im Grunde dieser poetisch zerfahrene, träumerische Ponce eigentlich der Dichter selbst, gegen den er alle Ironie gewendet; und in seiner »Geschichte [838] vom braven Kasperl und der schönen Annerl« entfaltet er mitten durch den fatalistischen Spuk eines dunkel hereinragenden Verhängnisses das tragische Spiel eines edlen Gemüts mit der falschen Ehre, in einfachen, ergreifenden Zügen das schöne Grundthema variierend: tue deine Pflicht und gib Gott allein die Ehre. – Und immer lichter und mächtiger ringt sich der unsichtbare Schutzengel, der ihn durchs Leben begleitet, aus den Trümmern einer verworrenen Jugend empor. Es ist, als vernähmen wir seinen leisen Flügelschlag in dem »Tagebuch der Ahnfrau«, wo die schönsten Lieder wie Glockenklänge durch das Waldesrauschen herübertönen. So auch in der »Chronika von dem fahrenden Schüler«, dem sich, obgleich er arm und verlassen, die Natur und das Leben in aller Freudigkeit aufschließen, weil er alles unschuldig und mit herzlicher Frömmigkeit und Demut betrachtet; denn »Du sollst nicht traurig sein um des Leides willen, das Dich auf Erden treffen wird, nein, nur um Deiner und aller Schuld, deren Strafe das Leid ist. Auf Erden sind wir alle arm, und müssen mannigfach mit unserem Leben herumwandeln, und lernen, und bleiben doch arme Schüler, bis der Herr sich unser erbarmet und uns einführt durch seinen bitteren Tod in das ewige Leben.« – Seine Lieder endlich haben Klänge, die von keiner Kunst der Welt erfunden werden, sondern überall nur aus der Tiefe einer reinen Seele kommen; z.B. in dem Liede: »Mutter, halte dein Kindlein warm, die Welt ist kalt und helle«, die geheimnisvolle Gewalt der Mutterliebe:


»Komm her, komm her, trink meine Brust,
Leben von meinem Leben,
O könnt ich alle fromme Lust
Aus meiner Brust dir geben.
Nur Lust, nur Lust, und gar kein Weh,
Ach du trinkest auch die Schmerzen,
So stärke Gott in Himmelshöh
Dich Herz aus meinem Herzen.
O du unschuld'ger Himmel du!
Du lachst aus Kindesblicken,
O Engelsehen, o sel'ge Ruh,
In dich mich zu entzücken.«

[839] Alle Herzinnigkeit keuscher Liebe tönt bei ihm oft in wahren Nachtigallenklagen, wie in dem Liede der Spinnerin:


»Es sang vor langen Jahren
Wohl auch die Nachtigall,
Das war wohl süßer Schall,
Da wir zusammen waren.
Ich sing und kann nicht weinen
Und spinne so allein
Den Faden klar und rein,
Solang der Mond wird scheinen.
Da wir zusammen waren,
Da sang die Nachtigall,
Nun mahnet mich ihr Schall,
Daß du von mir gefahren.
So oft der Mond mag scheinen,
Gedenk ich dein allein,
Mein Herz ist klar und rein,
Gott wolle uns vereinen.
Seit du von mir gefahren,
Singt stets die Nachtigall,
Ich denk bei ihrem Schall,
Wie wir zusammen waren.
Gott wolle uns vereinen,
Hier spinn ich so allein,
Der Mond scheint klar und rein,
Ich sing und möchte weinen.«

Ebenso dürften sich wohl wenige Soldatenlieder, alte oder neue, an herzhafter Frömmigkeit mit dem nachstehenden vergleichen können:


»Es leben die Soldaten
So recht von Gottes Gnaden,
Der Himmel ist ihr Zelt,
Ihr Tisch das grüne Feld.
Die Sterne haben Stunden,
Die Sterne haben Runden
Und werden abgelöst,
Drum, Schildwach, sei getröst.
[840]
Zum Hassen oder Lieben
Ist alle Welt getrieben,
Es bleibet keine Wahl,
Der Teufel ist neutral.
Wir richten mit dem Schwerte,
Der Leib gehört der Erde,
Die Seel dem Himmelszelt,
Der Rock bleibt auf der Welt.«

Am siegreichsten aber vielleicht zeigt sich die höhere Versöhnung jener dichterischen Doppelnatur Brentanos in seinen hinterlassenen Märchen. (Die Märchen des Clemens Brentano, zum Besten der Armen nach dem letzten Willen des Verfassers herausgegeben von Guido Görres. 1846–1847). Hier ist es nun allerdings zunächst wieder das ursprünglich Dämonische, das uns übermächtig entgegentritt, in dem fast magischen Naturgefühl, in dem beständigen Wetterleuchten des Witzes, der wie eine unabwendbare Naturgewalt über Freund und Feind ergeht, in einer ganz entfesselten Phantasie, die den verborgenen Zusammenhang des Entlegensten blitzartig aufdeckt, als ob sich das Unerhörte eben von selbst verstünde. Da blicken wir gleich in dem ersten, herrlichen Märchen vom Rhein und dem Müller Radlauf, wie bei Erschaffung der Welt, in den wundersamen Haushalt der Elementargeister, und was die Natur geheimnisvoll schafft, sprosset und ahnt, sehen wir in Sehnsucht, Zorn und Liebe da unten geschäftig: Wald- und Hauskobolde, Flußgötter, Nymphen, Echo und die Lurelei mit ihren sieben Jungfrauen; vor allen aber den Vater Rhein in seinem gläsernen Hause und über dessen Glasgewölbe das Gewässer mit Millionen bunter Fische, die sich mit ihren glänzenden Schuppen an das Glas anlegen und mit ihren Goldaugen hereinsehen, so daß die ganze Decke wie tausend Regenbogen durcheinanderflimmert, und wo sich die Fische wegbegeben, sieht man wieder zwischen wunderbaren Felsen die Sterne und den Mond leuchten, während aus der Tiefe der dort versenkte Nibelungenhort heraufschimmert und unten die ertrunkenen Kinder schlafen, daß es wie in einem Himmel von tausend schlummernden Kindergesichtern zu schauen ist. – Aber alle diese an sich heidnischen und untereinander feindlichen Kräfte sind zu heiterer, harmloser Schönheit bewältigt durch eine gewaltigere Kraft, durch eben jenes religiöse [841] Grundgefühl, das, nirgend sich wortreich aufdrängend, wie der unsichtbare Hauch eines Sonntagsmorgens das Ganze durchweht und von einem Unterschiede zwischen dem Diesseits und Jenseits nicht mehr weiß; wie z.B. in der meisterhaften Erzählung von der Gefangenschaft der Prinzessin Ursula und der Nottaufe ihres Kindes. Er selbst spricht es in dem Märchen »Gockel, Hinkel, Gackeleia« aus:


»Salomo, du weiser König,
Dem die Geister untertänig,
Setz uns von dem stolzen Pferde
Ohne Fallen sanft zur Erde,
Führ uns von dem hohen Stuhle
Bei der Nachtigall zur Schule,
Die mit ihrem süßen Lallen
Gott und Menschen kann gefallen. –
Führ uns nicht in die Versuchung
Unfruchtbarer Untersuchung;
Nicht der Kelter ew'ge Schraube,
Nein, die Rebe bringt die Traube.
Mach einfältig uns gleich Tauben,
Segne uns mit Kinderglauben.
Laß die Engel bei uns wachen,
Daß wir wie die Kinder lachen,
Daß wir wie die Kinder weinen,
Laß uns alles sein, nichts scheinen.«

Die Literatur überhaupt hat hauptsächlich dreierlei Märchen aufzuweisen. Das galante Märchen, dessen sich insbesondere die Franzosen bemächtigt haben; eigentlich nur eine Maskerade leichtfertiger Salon-Fräuleins, die sich aus Langerweile als Feen mit Reifrock und Toupet verkleiden, um ihre verliebten Kavaliere zu necken, und bei deren Elfentänzen man beständig das Philinen-Pantöffelchen klappen hört. Dann das philosophische Märchen, wo die Allegorie und eine gewisse phantastische Symmetrik der Gedanken die Poesie vertritt; und endlich das Volksmärchen, das, wie alten Bilder auf Goldgrund, auf dem religiösen Volksglauben ruht. Zu den letztern gehören Brentanos Märchen. Aber wie die Poesie überhaupt, wenn sie einen gewissen Grad künstlerischer Vollendung errungen, nicht dem Volke allein anheimfallen kann und soll, so hat auch Brentano seine Märchen häufig über den kindlichen [842] Gesichtskreis des Volkes hinaus erweitert und in dem Zauberspiegel auch die sogenannte gebildete Welt mit aufgefangen, die allerdings auf dem Hintergrunde jenes grundverschiedenen Volksglaubens ganz von selber märchenhaft erscheint. So bildet dieser Gegensatz von Naturpoesie und Kunstpoesie selbst das Hauptthema des Märchens »vom Murmeltier«. So auch handelt z.B. das »Märchen vom Fanferlieschen Schönefüßchen« von den modernen Kinderverziehungssystemen und beinebst unter vielem andern auch noch vom Schürzen-und Pantoffel-Regiment des Aberglaubens, gegen das sich der arglistige König Jerum auflehnt, der immer von Freiheit spricht, nachdem er den in den Wirtshäusern bisher stets angeketteten Stiefelknecht von der Kette los und zu einem Fußbefreier gemacht hat, aber aus der Apotheke zum großen Orient für Zivilisation, Aufklärung, Menschenliebe und Preßfreiheit sich insgeheim das sogenannte Sukzessionsoder Erbschaftspulver holen läßt, womit er den Hirsenbrei der vornehmen Waisenkinder in Fanferlieschens Erziehungsanstalt vergiften will, um deren Güter an sich zu ziehn.

Man spricht von Brettern, die die Welt bedeuten; man könnt es vielmehr vom Märchen sagen. Da probiert die Sage die Geschichte, die arme, gebundene Natur träumt von Erlösung und spricht im Traume in abgebrochenen, wundersamen Lauten, rührend, kindisch, erschütternd, es ist das alte, wunderbare Lied, das in allen Dingen schläft. Aber nur ein reiner, gottergebener, keuscher Sinn kennt die Zauberformel, die es weckt, und wir erhalten eine große Meinung von Brentanos ethischer Gewalt, wenn wir ihn so durch den Sommernachtstraum der Welt, ihn deutend und lösend, auf dem Märchen-Rhein dahinfahren sehen,


»Himmel oben, Himmel unten,
Stern und Mond in Wellen lacht,
Und in Traum und Lust gewunden
Spiegelt sich die fromme Nacht.«

Nach allem diesen könnte in der Tat nur eine sehr beschränkte Beurteilung, die für unsichtbare Geisteskämpfe überhaupt kein Verständnis hat, Brentano zu den Zerrissenen zählen wollen. Denn was bei ihm wohl zuweilen so erscheint, beruht keineswegs, wie bei den Zerrissenen, auf Unglauben, auf einer bloßen Negation oder Blasiertheit, mit einem Worte: [843] nicht auf einem innern Bankerott, sondern vielmehr auf einem geistigen Überschusse, der in den hergebrachten Formeln der Poesie nicht aufgehen will. Und wenn jene ihre Blöße mit den Lappen der Genialität, die Brentano verschwenderisch als Lumpen weggeworfen, mühselig zu flicken und zu behängen suchen und mit ihrer Armut obendrein noch kokettieren; so hat dieser dagegen den Zwiespalt in sich stets als eine Krankheit erkannt, die man nicht freventlich hegen, sondern bezwingen soll. Auch er zwar handhabt die Ironie scharf und gewandter als irgendeiner seiner Kunstgenossen; aber seine Ironie ist keine sich selbst genügende, ästhetisch aufgebaute Kunst, sondern eine aus innigster Entrüstung hervorbrechende moralische Kraft, um das Schlechte und Gemeine im Leben zu vernichten. Und so hat dieser reichbegabte Romantiker allerdings in treuem Kampfe jene Krankheit in sich bezwungen, und alle seine Verirrungen, seinen Schmerz und seine Umkehr faßt er selbst rückblickend noch einmal zusammen, wenn er kurz vor seinem Tode an eine Freundin schreibt: »O mein Kind! Wir haben nichts genährt als die Phantasie, und sie hatte uns teils wieder aufgefressen. Wenn ich nun in Deinem ganzen Wesen und in Deinem Bezug auf mich das ganze Maß der gleichen Liebe und Teilnahme fühle und genieße, und alles das ganz und vollkommen gesund, schlicht und unverkräuselt und nicht anders gemischt als nach dem Rezept des Katholizismus: Du sollst Gott lieben über alles und deinen Nächsten wie dich selbst, so fühle ich ein tiefes Leid, daß alles das in mir und jenen nur vermischt und zerrissen vorhanden ist, wenngleich die elenden Trümmer auf dem Bruch hier und da glänzen; ich fühle also bei diesen Eindrücken die unendliche Verletzung, die ich und andere durch den Verlust der Religion und durch die Hingabe an die Welt und ihren Dienst erlitten haben und dieses Gefühl erfüllt mich mit Leid und Reue; denn wäre ich gehorsam und treu gewesen dem Gebote, das ich gelernt wie Du, ich könnte mich eines ähnlichen Glückes preisen – und so sei es denn hingeschrieben als eine neue Aneiferung für Dich, in dem treuen katholischen Wandel mutig ohne Qual, unter Gebet fortzufahren und Deine Kinder und alle Dir nahegestellten Seelen mit unverletzlicher Gewissenhaftigkeit auf den Wegen der Religion fortzuführen, so viel Du vermagst, zu stützen und zu schützen.«

[844]
Schenkendorf

Max von Schenkendorf (1784–1817) ist einer der liebenswürdigsten und unschuldigsten Romantiker, der nichts fördert oder modifiziert, aber alle romantischen Elemente getreu und ohne irgendeinen trübenden Hauch von Ironie oder Affektation in reiner Seele noch einmal widerspiegelt. Es ist wie der Nachsommer der scheidenden Romantik, schon etwas herbstlich verblaßt, mehr wehmütig als verheißend. Er gehört zu den Dichtern, die man beziehungsweise die passiven nennen könnte, weil sie weniger erfinden, als das Erfundene innig nachempfinden. Fern von der ursprünglichen Überschwenglichkeit des ausbrechenden poetischen Frühlings, von jenen Wagnissen, Höhen und Abgründen der Seele ist daher der Kreis seiner Anschauungen nur beschränkt, aber um desto intensiver. Es ist die Romantik, auf eine einzige große Tatsache: den Befreiungskrieg, angewendet. Als der eigentliche Sänger dieses Kampfes, tiefer und wahrer als Körner, ließ er alle romantischen Schlaglichter verklärend auf das eine Ereignis fallen; und als es dann wieder stille ward, wurde auch er bald abgerufen.

Mit hohem sittlichen Ernst faßt er zunächst Grund und Zweck des Krieges in ihrer welthistorischen Bedeutung auf. Es gilt nicht eitlen Ruhm, noch Land und Gut, es gilt nichts Geringeres, als das alte, fromme, tapfre, ehrenhafte Deutschland, wie er es treu im Herzen trägt, als eine feste Burg der Christenheit wieder aufzurichten. Denn dieses Deutschland hatte sich selbst vergessen, seine Tugenden und seine Bestimmung; und – mit Bezug auf seine schönste, längstversunkene Erscheinung, den deutschen Ritterorden in Preußen – klagt daher der Dichter:


»Ach, die Ritter sind gefallen,
Ihre Tempel sind entweiht,
Abgebrochen ihre Hallen –
Auf den Särgen liegt ihr Kleid.
Immer nur das Lose, Neue
Nahm die jüngste Zeit zum Ziel,
Alte Kraft und alte Treue
Lebten kaum im Ritterspiel.«

[845] Und in diesem Todesschlafe wurde es überschlichen von der Nemesis, von der Lust am Fremden, von der Knechtschaft und der Schande.


»Wir haben alle schwer gesündigt,
Wir mangeln allesamt an Ruhm,
Man hat, o Herr! uns oft verkündigt
Der Freiheit Evangelium;
Wir aber hatten uns entmündigt,
Das Salz der Erde wurde dumm;
So Fürst als Bürger, so der Adel,
Hier ist nicht einer ohne Tadel.
Wir haben an der bunten Wange
Der alten Babel uns berauscht,
Und ihrem frechen Lustgesange
Mit keuschem deutschen Ohr gelauscht,
Die Kraft entschwand uns vor dem Klange,
Im Taumel haben wir vertauscht
Mit eklem Rotwelsch der Garonne
Die Sprache Teuts, der Helden Wonne.
Da kamen über uns gezogen
Die Schmach, die Greuel ohne Zahl,
Wir bauten mit am Siegesbogen,
Wir saßen mit am Götzenmahl;
Die nie das freie Haupt gebogen,
Die Männer stolz und rein wie Stahl,
Sie webten mit am Sklavenbande,
Sie prunkten mit dem Schmuck der Schande.«

Aber in der höchsten Not, und als die Schuld durch schwere Buße gesühnt war, erkannten sie sich selber wieder an dem ewigen Zeichen ihres vergessenen Ordens.


»Denn ein Herr, dem alle weichen,
Hat den Jammer fromm bedacht,
Hat uns unsre Ordenszeichen
Aus der Gruft heraufgebracht.
Wieder schmückt es unsre Fahnen,
Wieder deckt es unsre Brust,
Und im Himmel noch die Ahnen
Schauen es mit Heldenlust.
[846]
War das alte Kreuz von Wollen,
Eisern ist das neue Bild,
Anzudeuten, was wir sollen,
Was der Männer Herzen füllt.«

Denn in solchem Streit um die höchsten Güter für ganz Europa, war vor allen andern ein tiefsinniges Volk zum Vorkämpfer berufen:


»Das ist das Volk im Herzen
Der heil'gen Christenwelt,
Das fester alle Schmerzen
Und alle Freuden hält.
Das ist ein Volk der Treue,
Der Demut und der Kraft,
Das ist die Gottesweihe
Die Deutschlands Würde schafft.«

Als ein echter Paladin erwählt er daher nun seine schöne Herrin, zu deren Preis er fechten will, an die er immerdar geglaubt, die ein Leuchten aus großen Tagen wie sagenhafter Zauber umschwebt: »sein heiliges, sein deutsches Reich« –, und alle frischen Klänge der Romantik schlagen in dem Liede an:


»Ich zieh ins Feld für meinen Glauben,
Für aller Welten höchstes Gut,
Am Nile schwur der Feind zu rauben
Uns vom Altar des Heilands Blut.
Ich zieh ins Feld für ew'ges Leben,
Für Freiheit und uraltes Recht,
In frischer Kraft soll sich erheben
Der Mensch, zu lange schon ein Knecht.
Ich zieh ins Feld um Himmelsgüter
Und nicht um Fürstenlohn und Ruhm;
Ein Ritter ist geborner Hüter
Von jedem wahren Heiligtum.
Ich zieh ins Feld für Deutschlands Ehre,
Das Lustspiel alter Heldenwelt;
Daß Lied und Minne wiederkehre
In unser grünes Eichenzelt.
[847]
Ich zieh ins Feld mit freien Bauern
Und ehrenwerter Bürgerzunft,
Ein ernster Schlachtruf ist ihr Trauern
Um alter Zeiten Wiederkunft.
Ich zieh ins Feld, daß ferner gelte
Mein Adel, meine Wappenzier,
Daß mich der Ahnen keiner schelte
Einst an des Paradieses Tür.
Ich zieh ins Feld für meine Dame,
Die schönste weit im ganzen Land,
Daß ohne Tadel sei der Name,
Den sie zu tragen würdig fand.
Ich zieh ins Feld, wo tausend sinken
Als Bürgen einer bessern Welt,
Soll mir der Todesengel winken,
Hier bin ich, Herr, ich zieh ins Feld.«

Man fühlt es, aus diesem guten Gewissen seiner Poesie entsprang auch der Todesmut und die herzliche Soldaten-Frömmigkeit, die wie ein Engel-Chor durch seine Kriegeslieder weht:


»Du reicher Gott in Gnaden,
Schau her vom blauen Zelt;
Du selbst hast uns geladen
In dieses Waffenfeld.
Laß uns vor Dir bestehen,
Und gib uns heut den Sieg;
Die Christenbanner wehen,
Dein ist, o Herr! der Krieg. –
Wir haben uns ergeben,
Herr Gott, in Deine Hand;
Nimm hin den Leib, das Leben
Für unser Vaterland. –
Das ist ein leichtes Sterben,
Das ist ein süßer Tod,
Wenn's gilt aus bittrer Not
Die ew'ge Lust zu erben.«
[848] Ja, es ist der Erlöser selbst, der unsichtbar mit dem Kreuzesbanner dem Heere voranzieht:
»Er schwor bei seinem Leben,
Er steht an unsrer Seiten,
Wenn wir im besten Streiten
Die Häupter zu ihm heben. –
Der uns vorangeschritten,
Ein Herzog in dem Schmerz,
Der Herr ist in der Mitten
Und spricht an jedes Herz:
Die Welt liegt in den Ketten
Der bösen dunkeln Macht,
Die Hölle zürnt und wacht,
Wer will die Welt erretten?«

Es konnte nicht fehlen, eine solche Innerlichkeit des positiven Christentums mußte zu ihrer göttlichen Heimat, zur Kirche hinneigen. Und so ruft er denn auch:


»O blickt herab auf unser Heer,
Vom Haus der ew'gen Freude,
Ihr Heiligen, ihr Märtyrer
Im blutbesprengten Kleide,
Hier ist das Leben, hier das Blut,
O schenket Glauben, schenket Mut!
Was schauest du so hehr und mild
Uns an von unsern Fahnen,
Du teures Muttergottesbild?
Dein Antlitz muß uns mahnen
An Demut, Freundlichkeit und Zucht,
Des heil'gen Geistes werte Frucht.«
Und in einem anderen Gedichte sagt er, im Rückblick auf die Reformation:
»Als das heil'ge Reich sich trennte,
Niedersanken alle Vesten
Blinder Irrtum zwang die Besten
Dreißig bange Jahre lang.
Achtend nicht der zarten Kindlein,
Priester halb und halb ein Ritter,
Glaubensfels im Ungewitter,
Stand der fromme Ferdinand.«

[849] Ja, in einem Gedichte, das im J. 1810 in einer Wochenschrift zu Königsberg in Preußen, angeblich als Übersetzung einer alten Kirchenhymne, nebst einem von Franz Karnier dazu verfaßten lateinischen Texte erschienen, betet er für den gefangenen Papst:


»Hör auf deines Volkes Flehen,
Heiland, laß vorübergehen
Deiner Kirche Todeswehen.
Was ihr deine Huld gespendet,
Ach ihr Kleinod ist entwendet,
König, deine Braut geschändet. –
Tränen rufen dich und Lieder,
König, sende Hülfe nieder,
Gib ihr ihren Hirten wieder.
Wollest den Gefangnen stärken
Bei des heil'gen Amtes Werken –
Deine Hülf ihn lassen merken.
Paul und Peter, Kirchensäulen,
Heil'ge Schirmer, wollet eilen
Unsers Vaters Herz zu heilen.
Die mit zornerfüllten Mienen
Einst dem Attila erschienen
Und ihn zwangen, euch zu dienen.
Wollet nun den Frevler lohnen,
Der zertreten eure Kronen,
Wollet länger sein nicht schonen!«

Und wie hier auf dem religiösen Standpunkte, so sucht er übersall die Gegensätze des Lebens in dem höhren, milden Lichte seines Gemüts zu vermitteln und zu versöhnen. Selbst mitten im Kriegsgetümmel, weil es ihm eben nur Ideen gilt, bleibt er der Rache und dem Franzosenhasse, wie sie damals oft so widerwärtig aufloderten, durchaus fremd und sagt, den tapfern Gegner ehrend, in seinem Soldaten-Abendlied:


»Auch du im Lager drüben
Magst ruhig schlafen, Feind,
Wir ha'n mit Schuß und Hieben
Es ehrlich stets gemeint.«

[850] Mit demselben versöhnlichen Sinne betrachtet er die verschiedenen Stände nur als Glieder einer Familie und erwartet, bei aller aristokratischen Ritterlichkeit, die Verjüngung der letzteren von der frischen, frommen Lebenskraft des Landmanns. »O Bauernstand«, ruft er,


»Du liebster mir von allen,
Zum Erbteil ist ein freies Land
Dir herrlich zugefallen.
Die Hoffart zehrt, ein böser Wurm,
Ein Rost an Ritterschilden;
Zerfallen sind im Zeitensturm
Die reichen Bürgergilden.
Du aber baust ein festes Haus,
Die schöne grüne Erde,
Und streuest goldnen Samen aus
Ohn Argwohn und Gefährde.
Hast Gottesluft und Gottesstrahl,
Um eilig zu genesen,
Wenn sich in deine Hürd einmal
Geschlichen fremdes Wesen.
Die Demut und die Dienstbarkeit
Der Schönheit und der Stärke,
Die Einfalt, die sich kindlich freut
An jedem Gotteswerke. –
Wohl manches Zeichen, manchen Wink
Kann man da draußen sehen,
Wovon wir in dem Mauernring
Die Hälfte nicht verstehen.
Vom Bauernstand, von unten aus
Soll sich das neue Leben
In Adels Schloß und Bürgers Haus
Ein frischer Quell erheben.«

Ebenso erscheint der alte eingebildete Streit zwischen Freiheit und Gesetz in ihm geschlichtet; nur im Gesetz sieht er das Bild vollkommener Freiheit verklärt, und diese ist ihm der Aufblick nach den ewigen Höhen, wenn der Mensch sich innerlich besinnt.


[851]
»Er fühlt sich Meister jedes Dings
Und kennet sein Geschlecht,
Er bildet sich ein heilig Recht
Und blicket rechts und links.
Was ihn als Ahnung fern umschwebt,
Was schaute die Vernunft,
Der Schöpfertrieb, der in ihm lebt,
Stellt's dar in Haus und Zunft.«

So auch in der Politik ist es abermals eine höhere Vermittelung der deutschnationalen Gegensätze und Antipathien, die er anstrebt. Er will, so sehr er auch mit Leib und Seele ein Preuße ist, nicht Preußen, Östreich, Bayern, nicht Nord- und Süddeutsche mehr, sondern ein einig Deutschland, und zu dessen Gewähr wieder einen deutschen Kaiser. Deutschland soll sein:


»Ein Haus der Freiheit und des Ruhms,
Der Weisheit und der Stärke,
Ein' Burg des alten Rittertums,
Ein Rüsthaus jedem Werke,
Das nach dem rechten Ziele strebt,
Ein Haus, in dem der Glaube lebt,
Die Liebe, Zucht und Ehre.
Der edlen Stämme sollen viel
In diesem Hause wohnen,
Bei Gottesdienst und Saitenspiel
Ein Herrscher in ihm thronen.
Der Herrlichste der ganzen Welt,
Ein Priester und ein Rittersheld,
Man heißt ihn deutscher Kaiser.«

Doch dieses Haus kann nicht auf dem Trommelfell mit Bajonetten gebaut werden. Das gute Schwert hat zwar Grund und Boden wieder erobert und gesichert, über dem nun die Burg sich erheben soll,


»Aber einmal müßt ihr ringen
Noch in ernster Geisterschlacht,
Und den letzten Feind bezwingen,
Der im Innern drohend wacht.
[852]
Haß und Argwohn müßt ihr dämpfen,
Geiz und Neid und böse Lust,
Dann nach langen schweren Kämpfen
Kannst du ruhen, deutsche Brust.
Jeder ist dann reich an Ehren,
Reich an Demut und an Macht;
So nur kann sich recht verklären
Unsers Kaisers heil'ge Pracht.«

Und hier gilt es endlich den höchsten Gegensatz, der das deutsche Leben bis zum Herzblut zerspaltet, die Versöhnung von Religion und Wissenschaft; und so pflanzt er denn in freudigem Gottvertrauen das junge, scharfe Schwert des Wissens als Kreuz in den wiedergewonnenen Boden, daß es, so zum einigen frischen Lebensbaum emporwachsend, den neuen Bau beschirme. Nun gilt es, sagt er,


»Nun gilt's ein neues Bilden;
So komm in deiner Kraft
Aus himmlischen Gefilden
Zur Erde, Wissenschaft.
Man soll dich treulich pflegen,
Du teures Erb und Gut,
Daß noch im Väter-Segen
Der freie Enkel ruht.
O komm in unsre Säle,
In unsre Schulen komm,
Mit rechter Treu und stähle
Und mach uns wieder fromm.
Es haben ja die Alten,
Die weisen, bärt'gen Herrn
Den Glauben auch gehalten
Für alles Wissens Kern.« –

So finden wir den Dichter überall auf der Vorhut der Zeit, unverzagt, treu und wachsam dem allgemeinen Feinde gegenüber, wo und wie er sich auch drohend zeige; und für keinen seiner Zeitgenossen war wohl der Feldruf: Mit Gott für König und Vaterland! so durchaus bezeichnend als für Schenkendorf. Nicht ohne die herzlichste Teilnahme können wir von der reinen, schlichten Seele scheiden, die uns aus allen seinen Liedern so treuherzig anblickt. Um so schmerzlicher aber empfinden [853] wir es, daß eben nicht jeder alles vermag und daß es daher auch diesem reichen, aber weichen Gemüt nicht gegeben war, den frommen Ernst und die tüchtige Gesinnung in umfassenderen, eingreifenderen Bildungen zu gestalten und zu verbreiten. Denn selbst seine Kriegspoesie, bei allem darin aufblitzenden Kampfesmut, mahnt im ganzen doch unwillkürlich an Theobald in Arnims Appelmännern, wo dieser sagt: Ihr habt mich mit eurer Heftigkeit so in den Krieg wie in ein Meer hineingestürzt, und nun ich zur Besinnung komme, find ich nirgend Land, um meinen Fuß zu setzen, und geh in meiner Wehmut unter.

Fouqué

Kein neuer Dichter war ein so entschiedener Partisan der Romantik, keiner hielt, noch lange nach ihrem Untergange, bis zum letzten Atemzuge getreuer zu ihrer Fahne als der bekannte Major und Ritter Friedrich Baron de la Motte Fouqué.

Frühzeitig durch die Schlegels aus einem vagen Dilettantismus geweckt und für den neuen Kriegszug geworben, gehört er ein volles Menschenalter hindurch zu ihren ersten und letzten Verfechtern. In die Verherrlichung des Mittelalters zur Kräftigung der Gegenwart, in die Wiederbelebung altertümlicher und ausländischer Formen, in die religiöse Weltanschauung, mit einem Wort: in alle Intentionen der Romantik ging er gläubig ein, und die Poesie selbst war ihm immerdar eine geheimnisvolle Gabe von oben, »vermittelst welcher dem Begabten überschwenglich mehr zuteil wird, als er mit eigner Verstandeskraft hervorzubringen vermöchte«. Viele seiner Lieder werden durch die innige Frömmigkeit, die darin weht, unvergänglich bleiben. Welch ein mildes, gottergebenes Gemüt spiegelt sich z.B. in seinem Liede nach der Schlacht von Dresden:


»Herr Gott, Dein Wille soll ergehn!
Ich sünd'ges Menschenkind,
Ich kann ihn leider nicht verstehn,
Ich bin zu blöd und blind.
Doch heb ich zu Dir auf in Müh
Das schmerzbeladne Haupt,
Und denke spät und denke früh:
Dort schaut, wer diesseits glaubt.«

[854] Dieses unbedingte Gottvertrauen, ohne alle Reservationen und philosophischen Hinterhalt, gibt ihm auch überall Zuversicht und Freudigkeit:


»Und zur Leier sing ich schöne Lieder;
Die geleiten mich wie helle Kerzen.
Wieder
Tönen sie in manchem deutschen Herzen.
Ach und beten kann ich, beten,
Freudiglich!
Will mich Christ bei Gott vertreten,
Wer ist wider mich?«
Und so durfte der getreue Kämpe wohl getrost von sich selber sagen:
»Wohin Du mich willst haben,
Mein Herr, steh ich bereit,
Zu frommen Liedesgaben,
Wie auch zu wackerm Streit.
Dein Bot in Schlacht und Reise,
Dein Bot im stillen Haus,
Ruh ich auf alle Weise
Doch einst im Himmel aus.«

Und dennoch – obgleich er lange Zeit von einem zahlreichen Publikum und insbesondere von den Frauen mit Begeisterung begrüßt und gepflegt wurde, hat grade Fouqué, freilich ganz wider seinen Willen, am meisten dazu beigetragen, die Romantik in Mißachtung, ja Verachtung zu bringen. – Über diesen befremdlichen Ausgang eines bedeutenden Dichtertalents wollen wir uns in nachfolgenden Zeilen näher zu verständigen suchen.

»Diese Dichtungen gehörten einstmal zu meinem allereigentümlichsten Ich – ja sie waren mein Ich, wie ich gar wohl behaupten mag.« So versichert Fouqué im Nachwort zur letzten Ausgabe seiner ausgewählten Werke. Und wir werden dieser Versicherung um so volleren Glauben schenken, wenn er an einer anderen Stelle, wo er von seinem Hauptwerke, dem Zauberringe, redet, uns noch einen schärferen Blick in seine poetische Auffassungsweise tun läßt. »Folko von Montfaucon«, sagt er nämlich dort, »lag und liegt mir nun einmal gar eigentümlich [855] am Herzen, als Ur- und Vorbild der jetzt nur in einzelnen Erscheinungen – namentlich schön in den sieglosen, aber ehrenreichen Vendéekriegen – auftauchenden altfranzösischen Ritterlichkeit.« In diesem Gefühl konnte es sich der Dichter auch nicht versagen, jenen in die Farben seines eigenen Wappenschildes zu kleiden: Himmelblau und Gold, und ihm dessen Embleme zuzuteilen, ja gewissermaßen ihn auch mit dem eignen Stammesnamen zu bezeichnen; »denn Foulqués hießen wir in älteren Zeiten, und zwar mutmaßlich (unserer normannischen Abkunft zufolge) von den Nordlandsnamen Folko oder Fulko hergeleitet, und eine Burg Montfaucon gehörte zu unseren damaligen Besitztumen.« – Ja, nachdem er auf diese Weise den gänzlich aus der Luft gegriffenen Romanhelden Folko gewissermaßen zu seinem eigenen Urahn gemacht, hält er später seine Schilderung des Schwedensieges in demselben Romane, wo Otto von Trautwangen in das feindliche Fußvolk einbricht, alles Ernstes für eine Ahnung, die sich ihm in der Schlacht bei Lützen, da er selber ebenso den Freiwilligen auf ein französisches Karree vorangesprengt, erfüllt habe. Auch seine Soldatenlieder, die »in dem großen Kriegsjahr Dreizehn« von den jungen Jägern häufig auf den Märschen gesungen wurden, waren recht sein eigenstes Erlebnis, im Gegensatz zu vielen anderen, welche dazumal ihren Patriotismus zu Haus in tapfern Worten verpufften. Er selbst vielmehr stürzte sich rücksichtslos in den Krieg und hat durch sein wackeres Beispiel viele Herzen entflammt.


»Der hat gesungen dies kecke, freudige Lied,
Sich selbst zu rufen zu kecken Taten auf,
Daß er vollbringe, was er als Dichter riet,
Und freudig ende den edeln Lebenslauf.«

Dieses völlige Identifizieren des Dichters mit seinen Dichtungen erklärt nun allerdings die liebenswürdige Aufrichtigkeit seiner Schriften. Aber so ehrenwert die letztere ist und bleibt, so hatte doch das erstere, bei der eigentümlichen Persönlichkeit Fouqués, auch seine sehr bedenkliche Kehrseite. Denn Fouqué war vom Kopf bis zur Zeh ein Berliner Reiteroffizier mit dem sentimental-chevaleresken Anflug der neunziger Jahre; und so wurden, bei seiner assimilierenden Dichternatur, seine altfranzösischen, maurischen und Nordlandsrecken mehr oder minder preußische Gardeoffiziere aus jener Zeit, wohlgefällig und nicht [856] ohne Koketterie sich in dem blanken Schilde der Ritterlichkeit bespiegelnd, der, weil er modern poliert war, die Vorzeit oft verzerrt reflektierte, wie z.B. die zimperlichen, langgestreckten Jungfraungestalten, die auf den Bildchen im Frauentaschenbuche recht täuschend wiedergegeben sind. So wurden überhaupt fast alle seine Romane zu ritterlichen Komplimentierbüchern, gleich den alten Pergamentdrucken, an den Rändern mit katholischen Miniaturarabesken wunderlich verziert. Liebe, Frömmigkeit, Patriotismus, alles ist bei Fouqué halb wahr, halb gemacht; die Tapferkeit muß einen eleganten Henri Quatre tragen, die Unschuld à l'enfant frisiert sein ; überall eine große Gutmütigkeit bei einem kleinen Verstande, der von seiner eigenen Affektation nicht einmal eine Ahnung hatte. Um endlich alles zusammenzufassen: bei Fouqué überwältigte die reiche, auf einen Punkt gespannte Phantasie, verbunden mit einer ehrlich ritterlichen Intention, alle anderen Geisteskräfte und machte ihn so zum Don Quichotte der Romantik. Denn wie Don Quichotte hielt auch er seine mittelalterlichen Illusionen für bare Wirklichkeit, macht vor jedem Gesange seiner »Corona« in eigner Person als Folko und Major und Sänger auf seinem klugen Rosse mit feierlicher Courtoisie die Honneurs und schreibt die Niederlagen, die er zuletzt im Beifall des Publikums erlitten, sehr gelassen den unbekannten ultraliberalen Zauberern zu.

Kein Wunder daher, wenn die Welt über sein absonderliches christliches Heldentum allmählich ein Lächeln überkam und endlich ein rohes Lachen über alle Romantik ausbrach, für deren Hauptrepräsentanten er bei der Menge gegolten. Für uns aber hat es etwas peinlich Rührendes, den greisen Dichter, wie einen abgedankten Tragöden nach längst vollendetem Schauspiel, noch immer zwischen den umgeworfenen Kulissen und verlöschenden Lampen in seiner alten Rüstung rumoren zu sehen, als wäre eben noch alles ringsumher wie in seiner fröhlichen Jugend. – Friede und Achtung seinem Andenken, wie allen, die es redlich gemeint!

Uhland. Kerner

In Uhland kulminiert die romantische Lyrik. Nicht nur, daß er die zerstreuten Klänge, die Tieck einst zum Teil noch wirr und formlos angeschlagen, erst zum wirklichen Liede gemacht; [857] sondern seine Lyrik steht auch schon scharf auf der Wetterscheide zwischen der romantischen und der neuesten Zeit, gleich wie ja Uhland selbst seinem Alter nach (geb. 1787) beiden Geschlechtern angehört.

Allerdings wurzeln seine schönen Lieder, durch die er berühmt geworden, noch in dem alten Boden. Es ist noch Luft, Licht und das ganze poetische Glaubensbekenntnis der Romantik, wenn er in seinem »Märchen« von dem wunderbaren Fräulein erzählt, die, von der schnurrenden Spindel der Stubenpoesie verwundet, mitten unter ihren Paladinen in Zauberschlummer versunken:


»So schlief sie in der Halle,
Die Fürstin, reich geschmückt.
Bald hatte die andern alle
Der gleiche Schlaf berückt.
Die Sänger schon in Träumen,
Rührten die Saiten bang,
Bis in des Schlosses Räumen
Der letzte Laut verklang.«

Da hat nach vierhundert Jahren des Königs Sohn, mit seinen Jägern ins Waldgebirg reitend, die seltsamen grauen Türme und Zinnen des Schlosses wieder entdeckt. Vergebens warnt ihn ein alter Spindelmann:


»Romantische Menschenfresser
Hausen auf jenem Schloß;
Die mit barbarischem Messer
Abschlachten klein und groß.«

Er haut mit dem Degen sich Bahn zum Schlosse, der Hof war wieder Wald geworden, die Vögel sangen in den Bäumen; so schreitet er über die kreuzweis vorgehaltenen Hellebarden zweier schlafenden Riesen zum großen Saal:


»Da lehnten in hohen Nischen
Geschmückter Frauen viel,
Gewappnete Ritter dazwischen
Mit goldnem Saitenspiel.
Hochmächtige Gestalten,
Geschloßnen Auges, stumm;
Grabbildern gleich zu halten
Aus grauem Altertum.«

[858]

Und inmitten des stillen Kreises ruht die schöne Jungfrau, Goldstoffe über sie gebreitet und Rosen ohne Zahl. Er weckt sie mit einem Kusse, die ihn, noch halb im Schlummer mit dem Arm umwunden.


»Sie streifte die goldenen Locken
Aus ihrem Angesicht,
Sie hob so süß erschrocken
Ihr blaues Augenlicht.
Und in den Nischen allen
Erwachen Ritter und Frau,
Die alten Lieder hallen
Im weiten Fürstenbau.
Ein Morgen, rot und golden,
Hat uns den Mai gebracht;
Da trat mit seiner Holden
Der Prinz aus Waldesnacht.
Es schreiten die alten Meister
In hehrem, stolzen Gang,
Wie riesenhafte Geister
Mit fremdem Wundersang.
Die Täler, schlummertrunken,
Weckt der Gesänge Lust;
Wer einen Jugendfunken
Noch hegt in seiner Brust,
Der jubelt, tief gerühret:
Dank dieser goldnen Früh,
Die uns zurückgeführet
Dich, deutsche Poesie!«

Und ein solcher Jubel ist Uhlands eigne Poesie, die fast alle Elemente der Romantik wie zum Abschiedsgruße noch einmal austönt; ja, was die andern nur mystisch anzudeuten gewußt: das Geheimnisvolle der Natur, diese wunderbaren Stimmen einer unsichtbaren Welt, sind bei ihm oft überraschend zu lebendigem Wort und Bild geworden. So die tiefe Sabbatstille der Felder in »Schäfers Sonntagslied«:


»Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur,
Noch eine Morgenglocke nur!
Nun Stille nah und fern!
[859]
Anbetend knie ich hier.
O süßes Graun! geheimes Wehn!
Als knieten viele ungesehn
Und beteten mit mir.
Der Himmel, nah und fern,
Er ist so klar und feierlich,
So ganz als wollt er öffnen sich.
Das ist der Tag des Herrn!«
Oder der heimliche Geisterblick der Heimatsgegend in den Worten :
»Wie willst du dich mir offenbaren,
Wie ungewohnt, geliebtes Tal?
Nur in den frühsten Jugendjahren
Erschienst du so mir manchesmal.
Die Sonne schon hinabgegangen,
Doch aus den Bächen klarer Schein!
Kein Lüftchen spielt mir um die Wangen,
Doch sanftes Rauschen in dem Hain!« –
Auch das Heimweh der Romantik geht noch durch diese Lieder; bald als sehnsüchtiger Mut:
»Wohl blühet jedem Jahre
Sein Frühling mild und licht,
Auch jener große, klare –
Getrost er fehlt dir nicht;
Er ist dir noch beschieden
Am Ziele deiner Bahn,
Du ahnest ihn hienieden
Und droben bricht er an!«
bald als Todesengel durch die blühende Landschaft vorüberschwebend:
»Droben stehet die Kapelle,
Schauet still ins Tal hinab,
Drunten singt bei Wies und Quelle
Froh und hell der Hirtenknab.
Traurig tönt das Glöcklein nieder,
Schauerlich der Leichenchor;
Stille sind die frohen Lieder,
Und der Knabe lauscht empor.
[860]
Droben bringt man sie zum Grabe,
Die sich freuten in dem Tal;
Hirtenknabe! Hirtenknabe!
Dir auch singt man dort einmal.« –

Alles Menschlichschöne endlich: Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, Treue, begrüßt uns hier in dem milden Lichte einer höheren Auffassung, die auch das Alltägliche wunderbar macht und die wir nur als eine religiöse bezeichnen können, indem sie alle irdische Erscheinung ihrem göttlichen Ursprung zuwendet. Es ist mit einem Wort eine durchaus deutsche, d.h. gläubige Poesie, die es noch ehrlich ernst mit sich und ihrem Gegenstande meint und daher unmittelbar trifft wie das Volkslied; in dieser Wahrhaftigkeit des Gefühls nur mit Arnims Dichtungen vergleichbar, vollendeter in der Liedesform als diese, aber beschränkter in dem Umfange ihrer Produktionskraft.

Es ist natürlich, eine so tiefe Innerlichkeit konnte sich in den wichtigsten Lebensfragen nicht leichtfertig oder hoffärtig mit einem oberflächlichen Rationalismus begnügen. Überall vielmehr sehen wir Uhland von einer freudigen Zuversicht persönlicher Fortdauer nach dem Tode, über Lust und Leid emporgehoben, wie im »Gruß der Seelen«, »Auf einem Grabsteine« und anderen Liedern; und es ist kein naturphilosophisches Experiment, noch etwa ein bloßer guter Mann und Weltweiser, sondern der historische Gottmensch Christus, den er anredet:


»Du, den wir suchen auf so finstern Wegen,
Mit forschenden Gedanken nicht erfassen,
Du hast dein heilig Dunkel einst verlassen
Und tratest sichtbar deinem Volk entgegen.
Welch süßes Heil, dein Bild sich einzuprägen,
Die Worte deines Mundes aufzufassen!
O selig, die an deinem Mahle saßen!
O selig, der an deiner Brust gelegen!«

Allein das, was wir als das Unterscheidende der Romantik anerkennen mußten, ihre katholische Heimat, hat Uhland gleichwohl bereits verlassen. Nicht etwa – wie sich bei ihm von selbst versteht –, daß wir hier den kleinen Krieg schon fänden, unedeln Spott oder Haß gegen die Kirche, denn er steht ja noch [861] auf gemeinschaftlichem christlichen Boden mit ihr; und ebensowenig jene widerliche ästhetische Vornehmheit, die um des romantischen Schlendrians willen sich großmütig lächelnd herabläßt, den Katholizismus hie und da noch als willkommenen künstlerischen Apparat zu benutzen. Freundnachbarlich vielmehr begrüßen wir in Uhland einen durchaus wohlgesinnten Protestantismus, der die Überzeugungen der Kirche ehrt, wo er sie auch nicht teilt – aber es ist eben darum auch nicht mehr der alte, feurig-romantische Glaube, der vor kurzem noch rationalistische Berge versetzt, es ist nur noch ein poetisches Verständnis der katholischen Schönheit.

Indem also Uhland, als reicher Erbe auf den Gipfeln der Romantik angelangt, diese in der Hauptsache hinter sich abschließt, greift er von der andern Seite zugleich schon in die neue Zeit hinaus mit seinen politischen Liedern.

Auch auf diesem neuen Pegasus finden wir ihn vollkommen sattelfest, und es ist dieselbe tüchtige Gesinnung, die uns den Dichter ehrenwert und seine Poesie zum Volksgut gemacht hat, wenn er sagt:


»An unsrer Väter Taten
Mit Liebe sich erbaun,
Fortpflanzen ihre Saaten,
Dem alten Grund vertraun;
Um unsre Schmach sich kränken,
Sich unsrer Ehre freun;
In solchem Angedenken
Des Landes Heil erneun;
Sein eignes Ich vergessen
In aller Lust und Schmerz:
Das nennt man, wohlermessen,
Für unser Volk ein Herz.«

Solchen Ton hatten indes schon vor Uhland andere Romantiker, vielleicht noch voller, angeschlagen. Um daher das Neue zu erkennen, das Uhland, wie wir vorhin sagten, mit seinen vaterländischen Gedichten angebahnt, müssen wir uns zuvörderst über Sinn und Bedeutung dieser Dichtungsart näher zu verständigen suchen. – Was ist denn eigentlich politische Poesie? Gewiß nicht versifizierte Kammerverhandlungen über Presse, Verfassungsfragen oder ordinäre Franzosenfresserei. Wer freilich möchte leugnen, daß auch solchen Bestrebungen [862] poetische Sympathien zum Grunde liegen; aber ebenso gewiß gehören alle jene Dinge in ihrer abstrakten Erscheinung einer geistigen Kombination an, für welche die Poesie, als Kunst, weder den Beruf noch die Mittel und mithin auch keinen natürlichen Ausdruck hat. Die äußeren Staatsformen, sie mögen als Recht oder Mißbrauch, als Verfassung oder als öffentliche Meinung sich kundgeben, sind immer nur die Resultate der inneren Geschichte, des normalen oder verkehrten Bildungsprozesses eines Volks. Historisch gegebene Größen, aus denen der ordnende Weltverstand, den wir Regierungskunst nennen, seine Gleichungen zu machen hat, um die unbekannte Größe des Ewigen zu finden. Die Aufgabe der Poesie dagegen ist nicht, das, was der Wogenschlag der Zeit als Begriffe abgelagert, prüfend zurechtzulegen, nicht das Erkämpfte, sondern den Kampf, das Werdende, mit einem Wort: das Dramatische jenes Bildungsprozesses selbst lebendig darzustellen. Eine vorwitzige Mengerei dieser wesentlich verschiedenen Aufgaben und Elemente, vor der schon Lessing so ernst gewarnt, kann daher im vorliegenden Falle nur die Politik phantastisch machen oder die Poesie zu einer didaktischen Rhetorik aufblasen. Von beiderlei Mißgeburten hat unsere neueste Literatur zahlreiche Exemplare aufzuweisen; ja, viele der jetzigen Dramen sind, fast wie unsere gesellschaftlichen Rätselspiele, schlechthin bloße Allegorien radikaler Stichworte; im Grunde also nur eine andere Art von Iffländerei, die uns, statt der damaligen platten Wirklichkeit der häuslichen Familiendebatte, jetzt die nicht minder redselige Wirklichkeit der Kammerdebatte aufdringen will.

Die Staatskunst ist wie die Astronomie; wie diese den Wandel der Gestirne, so sucht jene das ewige Gesetz der Bewegungen und Wechselbeziehungen der ethischen Kräfte der Menschheit zu entdecken, um das natürliche Planetensystem der Gesellschaft herzustellen. Aber die unsichtbare, bewegende Urkraft, von der dieses Gesetz eben nur der Ausdruck ist, zu ergründen und zum waltenden Bewußtsein zu bringen, werden beide jederzeit der Philosophie und Poesie überlassen müssen. Will daher die Poesie auf dem Boden des Volkslebens bildend wirken – und welche echte Poesie hätte das nicht gewollt? –, so muß sie nicht über das fait accompli der Bildung, über die auf der Oberfläche treibenden Tatsachen ganz unberufen mitschwatzen wollen, sondern in die geheimnisvolle Werkstätte selbst, wo die Tatsachen geboren und die draußen auszuprägenden [863] Metalle erzeugt werden, sich versenken, die Erinnerungen, Kräfte und Tugenden weckend, aus denen heraus der gesunde Staat sich aufbaut oder verjüngt. Das kann sie aber nur, indem sie das religiöse Volksgefühl belebt, in welchem alle jene Tugenden wurzeln.

So hat es Friedrich Schlegel, im Jahre 1809 und früher, mit seinen patriotischen Liedern gehalten, und in diesem Sinne sind auch Uhlands harmlos unpolitische Lieder allerdings politischer als seine sogenannten vaterländischen. Das Neue und Abweichende der letzteren aber von Schlegel und den andern Romantikern liegt eben darin, daß Uhland grade hier jenes Element religiöser Erhebung fallen läßt und aus der Werkstatt der Zeiten mitten in ihre wilde Bewegung hinaustritt. Er sagt es selbst:


»Ich bitt euch, teure Sänger,
Die ihr so geistlich singt,
Führt diesen Ton nicht länger,
So fromm er euch gelingt!
Will einer merken lassen,
Daß er mit Gott es hält,
So muß er keck erfassen
Die arge böse Welt.«

Ganz ritterlich. Aber wie soll nun der Dichter, als solcher, den Kampf mit der argen Welt bestehen, wenn er seine stärkste Waffe, die geistliche, vorweg von sich wirft? Indem er auf diese Weise seinem bisherigen unsichtbaren Banner entsagt, wird er sich notwendig unter eine fremde, weltliche Fahne stellen müssen. Und das tut denn auch Uhland in der Tat, wenn es weiterhin heißt:


»Andre Zeiten, andre Musen!
Und in dieser ernsten Zeit
Schüttert nichts mir so den Busen,
Weckt mich so zum Liederstreit:
Als wenn du, mit Schwert und Waage,
Themis, thronst in deiner Kraft,
Und die Völker rufst zur Klage,
Könige zur Rechenschaft!«

Die Poesie wird also vom ethischen Boden auf den Rechtsboden gestellt. Es ist das Recht, das alte gute Recht und immer [864] wieder nur das Recht, das nicht erst innerlich errungen, sondern als ein angefallenes Erbstock gerichtlich in Anspruch genommen werden soll; ein Handel, der natürlich, wie jeder Rechtsstreit, zuletzt auf einen geschriebenen und besiegelten Kontrakt hinausläuft:


»Das Recht ist ein gemeines Gut,
Es liegt in jedem Erdensohne,
Es quillt in uns wie Herzensblut;
Und wenn sich Männer frei erheben
Und traulich schlagen Hand in Hand,
Dann tritt das innre Recht ins Leben
Und der Vertrag gibt ihm Bestand.
Vertrag! es ging auch hier zu Lande
Von ihm der Rechte Satzung aus,
Es knüpfen seine heil'gen Bande
Den Volksstamm an das Fürstenhaus,
Ob einer im Palast geboren,
In Fürstenwiege sei gewiegt,
Als Herrscher wird ihm erst geschworen,
Wenn der Vertrag besiegelt liegt.«

Uns will es freilich scheinen, als ginge nicht das Recht von dem Vertrage, sondern der Vertrag von dem Rechte aus, als gebe dieses jenem und nicht der papierne Vertrag dem Rechte Bestand, und als käme endlich, bei wechselseitiger rechter Treue, überhaupt nicht viel auf solche Besiegelung an. Allein auch dieses Recht selbst bleibt poetischerweise hier ein sehr unbestimmtes, der Vertrag ein erst zu redigierender, wenn wir nicht etwa mit einem württembergischen Provinzialrecht vorliebnehmen wollen. Die Epigonen aber haben sich's bald anders gedeutet, in das ungewisse Recht einen willkürlichen Inhalt hineingefaselt und zu dem Vertrage ihre Punktation nach eignem Gelüsten aufgesetzt. Und so ist Uhland wider Willen und Wissen – wie in der protestantischen Abzweigung von der Romantik, so in dem trotzigen Rechtsgefühl – Führer geworden einer Dichterschar, die man ungenau als die schwäbische bezeichnet; denn sie geht in immer wachsendem Ungestüm rasch über Schwaben fort mit Anastasius Grün und Lenau durch Österreich nach Ungarn hinein, bis sie endlich allerwärts in einem Bacchantenzuge von Freischärlern austobt, [865] die mit Uhland und der Romantik gar nichts mehr gemein haben.

Eben deshalb gehören sie aber auch nicht mehr in den Kreis unserer Betrachtung und ebensowenig die in dieser Reihe Uhland Zunächststehenden, da wir keine Literaturgeschichte der Romantik schreiben, sondern nur ihre Hauptrichtungen nachweisen wollen, über die Hervorragendsten aus jener Reihe aber, wie z.B. über Gustav Schwabs herzliche, lebenswarme Poesie und Gesinnungstüchtigkeit, nur ungefähr das von Uhland Gesagte hier widerholen könnten. ÜberJustinus Kerner dagegen sei es uns erlaubt, noch wenige Worte hinzuzufügen, weil er einige Klänge der Romantik für sich allein oder doch vorzugsweise und eigentümlich ausgebildet hat.

Gleich wie nämlich von Uhland die Geschlechtsfolge der politischen Dichter ausgeht, so kann Kerner als der Ahnherr des späteren Weltschmerzes und jener Zerrissenheit betrachtet werden, die zuletzt die Romantik selbst zerrissen hat. Die Romantik, von Natur und selbst in ihren asketischen Richtungen durch ihr Gottvertrauen heiter und lebensfrisch, läßt die Wehmut, die Sehnsucht und den Schmerz nur wie Wolkenschatten über die sonnige Landschaft fliegen. Eben diese Schatten aber hat Kerner aufgegriffen und gleich Trauerflören an allen blühenden Wipfeln ausgehängt. Es ist die Nachtseite der Romantik wo seine Dichtung weilt, jener melancholische Tiefsinn, der ihn auch anderwärts zum Somnambulismus und zur Geisterschau geführt. So sehen wir ihn überall aus dem Weltleben in die Stille der Natur sich flüchten:


»O könnt ich einmal los
Von all dem Menschentreiben,
Natur in deinem Schoß
Ein herzlich Kind verbleiben!
O nimm dein reuig Kind
In deine Mutterarme,
Daß dir's am Busen lind
Zu neuer Lieb erwarme!
Bis ich wie Blum und Quell
Dir darf im Herzen bleiben,
Mutter! o führ mich schnell
Hin, wo kein Menschentreiben!«

[866] Ja, in diesem schmerzlichen Zwiespalt zwischen dem Jenseits und dem Irdischen ist ihm das Leben wie eine Krankheit, von der er nur im Tode genesen kann:


»O armer Sohn der Arzenei!
Bist selbst erkrankt im Herzen,
Kennst der Heilkräuter mancherlei,
Such eins für eigne Schmerzen!
Welt, daß ich's finde, laß mich los!
Mich heilt nur meines Grabes Moos.«

Allein es ist eben nur erst der Grundton, den Kerner angeschlagen, er selbst steht den nachstürzenden Weltschmerzlern und Zerrissenen noch völlig fremd und fern, weil bei ihm das, was jenen gänzlich fehlt, das religiöse Gefühl der Romantik, noch pulsiert. Und zwar kein unbestimmtes, ästhetisch-katholisierendes Gefühl, sondern ein positiv-christlicher Sinn, wie er in: »Die Kranke und die Stimme«, im »Saul« und vielen andern seiner Lieder sich kundgibt, und dem es redlich Ernst ist mit der sittlichen, inneren Bewältigung und Nachfolge Christi, wenn er sagt:


»Ruf auf, ruf auf den Geist, der tief
Als wie in eines Kerkers Nacht,
Schon längst in deinem Innern schlief,
Auf daß er dir zum Heil erwacht!
Aus hartem Kieselsteine ist
Zu locken ird'schen Feuers Glut,
O Mensch! wenn noch so hart du bist,
In dir ein Funke Gottes ruht.
Doch wie aus hartem Steine nur
Durch harten Schlag der Funke bricht,
Erfordert's Kampf mit der Natur,
Bis aus ihr bricht das Gotteslicht.
Schlag an, schlag an, wenn's weh auch tut
Dem Fleische, drin der Funke ist,
Noch weher tut der Hölle Glut,
Mensch! wenn du nicht zu wecken bist.«

Nun ist es aber ebenso natürlich, als durch Shakespeares melancholische Personen jedermann hinreichend bekannt, daß [867] in solchen Gemütern die Betrachtung der Welt, weil diese ihnen aus ihrer einsamen Höhe nur in der Vogelperspektive erscheint, gar leicht in ein keckes Lachen über die Nichtigkeit alles Irdischen umschlägt. Und in ein solches herzliches Lachen bricht denn auch Kerner in seinen »Reiseschatten« aus, wo die Wichtigtuerei des kleinen Menschentreibens an dem Ernst der Natur und einer höheren Weltanschauung sich ergötzlich abarbeitet. Eben dieses religiöse Gefühl des Kontrastes aber zwischen dem Diesseits und Jenseits ist die Wurzel alles gesunden Humors und die Kluft, die Kerner von den Zerrissenen scheidet. Denn da den letzteren das Jenseits abhanden gekommen und nun das irdische Leben für sich allein gelten soll und doch nicht kann, so ist es ihnen ergangen wie dem Don Quichotte, als er ein Marionettenspiel, weil er die leitende Hand und die unsichtbaren Stimmen nicht bemerkt, für die volle Wahrheit nahm und die armen Puppen kindisch zerstörte.

Kleist

So haben wir bereits aus der Mitte der Romantik vorzüglich drei bedenkliche Richtungen sich allmählich entwickeln gesehen: mit Tieck eine heimlich zersetzende Ironie; in Werners frühesten und berühmtesten Schriften die geistigen Oszillationen Novalis' zu einem wunderlichen System des Pantheismus ausgebildet, und mit Uhland endlich eine offene Rückkehr zum Protestantismus. Der Protestantismus aber, wie irgendwo geistreich bemerkt worden, hat keine gefundene Wahrheit zum Fundament, sondern nur den Willen, sie zu suchen und zu finden und mithin immer zu verneinen, daß irgendwo jene Wahrheit bereits gefunden sei. Es konnte daher nicht fehlen, die ursprüngliche Freudigkeit der Romantik löste sich fortan immer mehr wieder in die alte, spürende Unruhe auf, aus dieser Unruhe entstand der Zweifel und die Ungenüge und aus der Ungenüge jene Zerrissenheit, die zuletzt als Karikatur, ganz wider ihre Absicht, komisch wurde. Und so sehen wir sogleich in einem der besten unter ihnen, in Heinrich v. Kleist, ein großes Talent sich zwischen Hochmut und Verzweiflung an den unglücklichen Geschicken seines Vaterlandes krankhaft zu Tode arbeiten, weil er den Glaubensmut nicht mehr hatte, die Welt und ihre Erscheinungen, wie die Romantik allerdings verlangte, nur an dem Höchsten zu messen.

[868] Diese Zerrissenheit blickt düster und dräuend aus seinem Leben sowohl als aus allen seinen Dichtungen. Sein Lebenslauf bildet eine unausgesetzte Kette von schroffen Widersprüchen und Gegensätzen, eine durchgehende Unruhe heftiger Leidenschaften, immerwährende Sprünge von frevlem Übermut zu gänzlicher Verzagtheit, wilde, phantastische Pläne, die, kaum gefaßt, wieder aufgegeben werden. Der innere Zwiespalt aber ist, wie fast immer in solchen Fällen, auch schon äußerlich als Grundthema gegeben: eine unzureichende Vorbildung zu der brennenden Begier nach wissenschaftlicher Durchbildung und Geltung. Schon in seinem fünfzehnten Jahre (er war 1776 geboren) tritt er als Junker in die Garde zu Berlin und macht als solcher den Feldzug am Rheine mit. Nach dem Frieden als Lieutenant zurückgekehrt, wird ihm die Zopfzeit des einförmigen Garnisondienstes in Potsdam unerträglich, er fordert den Abschied und beginnt, spät und nicht gehörig geschult, seine Universitäts-Studien in Frankfurt an der Oder mit allem Ungestüm eines Autodidakten. Hier will er sich erst zum simplen, nützlichen Staatsbürger ausbilden, heiraten usw.; bald aber scheint es ihm wieder gemein, sich durch ein Amt fesseln und für vielleicht ihm innerlich ganz fremde Staatszwecke als blindes Werkzeug gebrauchen zu lassen; und so verläßt er schon nach Verlauf eines Jahres wieder die Universität, um einige Zeit zwecklos in Deutschland umherzuschweifen. Von der Kantschen Philosophie um so aufgeblasener, je ungenügender er sie erfaßt zu haben scheint, beschließt er endlich, die kaum selbst erst neugewonnene Lehre den Franzosen beizubringen, und reist mit fast gänzlicher Aufopferung seines kleinen Vermögens nach Paris.

Schon damals zeigt sich, wohl nicht ohne Schuld jener halbverstandenen Philosophie, die innere Zerrüttung. Welch ein trostloser Abgrund, wenn er auf dieser Reise z.B. vom Leben sagt: »Dieses rätselhafte Ding, das wir besitzen, wir wissen nicht von wem, das uns fortführt, wir wissen nicht wohin, das unser Eigentum ist, wir wissen nicht, ob wir darüber schalten dürfen, eine Gabe, die nichts wert ist, wenn sie uns etwas wert ist, ein Ding, wie ein Widerspruch, flach und tief, öde und reich, würdig und verächtlich, vieldeutig und unergründlich, ein Ding, das jeder wegwerfen möchte, wie ein unverständiges Buch – sind wir nicht durch ein Naturgesetz gezwungen, es zu lieben? Wir müssen vor der Vernichtung beben, die doch nicht [869] so qualvoll sein kann als oft das Dasein, und indes mancher das traurige Geschenk des Lebens beweint, muß er es durch Essen und Trinken ernähren, und die Flamme vor dem Erlöschen hüten, die ihn weder erleuchtet noch erwärmt. – Geduld! – Kann der Himmel die von seinen Menschen verlangen, da er ihnen selbst ein Herz voll Sehnsucht gab?« – Und wenige Wochen darauf schreibt er, freilich wohl nicht ohne bittere Ironie, grade das Gegenteil: »Ja tun, was der Himmel sichtbar, unzweifelhaft von uns fordert, das ist genug – Leben, solange die Brust sich hebt, genießen, was rund um uns blüht, hin und wieder etwas Gutes tun, weil das auch ein Genuß ist, arbeiten, damit man genießen und wirken könne, anderen das Leben geben, damit sie es ebenso machen und die Gattung erhalten werde – und dann sterben –, dem hat der Himmel ein Geheimnis eröffnet, der das tut und weiter nichts. – Ja, unsinnig ist es, wenn wir nicht grade für die Quadratrute leben, auf welcher, und für den Augenblick, in welchem wir uns befinden. Genießen! das ist der Preis des Lebens! Ja wahrlich, wenn wir niemals seiner froh werden, können wir nicht mit Recht den Schöpfer fragen: warum gabst du es mir? Lebensgenuß seinen Geschöpfen zu geben, das ist die Verpflichtung des Himmels; die Verpflichtung des Menschen ist, ihn zu verdienen.«

Mitten in dieser Verstimmung hatte ihn in Paris plötzlich ein Ekel und eine Verachtung vor aller Gelehrsamkeit und Wissenschaft überkommen; er wollte fortan als Bauer leben und sterben und flüchtete deshalb nach der Schweiz, wo er am Thuner See sich in die tiefste Einsamkeit vergrub. Und so gewaltsamer Ernst schien es ihm mit dieser Entsagung, daß er damals an einen Freund schreiben konnte: »Ich will mich nicht mehr übereilen. Tu ich es noch einmal, so ist es das letztemal – denn ich verachte alsdann entweder meine Seele, oder die Erde, und trenne sie.« – Demungeachtet finden wir ihn, nach einer dort überstandenen Todeskrankheit, schon im J. 1802 wieder in Weimar, und zwar in Wielands Hause, dann in Berlin, Dresden und nach mehreren fruchtlosen Versuchen, sich in Berlin als Beamter eine feste Stellung zu begründen, abermals in Paris, wo er in einem Anfall von Verzweiflung sich mit seinem besten Freunde heftig entzweite und alle seine Papiere verbrannte, darunter auch bereits zum dritten Male das Manuskript seiner Lieblingstragödie: Robert von Guiscard.

[870] Endlich, beim Wiederausbruche des Krieges im Jahre 1809, ballt sich alles Finstere in ihm in ein einziges Gefühl, in einen fanatischen Patriotismus zusammen, noch verschärft und versäuert durch eine mehrmonatliche Gefangenschaft in Frankreich, welche die damalige Fremdherrschaft aus Mißverständnis oder instinktartiger Ahnung seiner Gesinnungen über ihn verhängt hatte. Wie tief aber Deutschlands Schmach in seine Seele schnitt, bekunden Äußerungen wie die folgende: »Wo ist der Platz, den man jetzt in der Welt einzunehmen sich bestreben könnte, im Augenblicke, wo alles seinen Platz in verwirrten Bewegungen verwechselt? Kann man auch nur den Gedanken wagen, glücklich zu sein, wenn alles in Elend darniederliegt? Ich arbeite, wie Sie wohl denken können, doch ohne Lust und Liebe zur Sache. Wenn ich die Zeitungen gelesen habe, und jetzt mit einem Herzen voll Kummer die Feder ergreife, so frage ich mich, wie Hamlet den Schauspieler, was mir Hekuba sei?« – Wie ganz verschieden ist dieser Schmerz von der gläubigen, männlichen Trauer Arnims! Kein Trost, keine Hoffnung leuchtet hier durch die sternenlose Nacht:


»Nicht der Sieg ist's, den der Deutsche fodert,
Hülflos, wie er schon am Abgrund steht;
Wenn der Kampf nur fackelgleich entlodert,
Wert der Leiche, die zu Grabe geht.«
Nur die Rache noch blitzt und zuckt blutrot durch dieses Dunkel:
»Alle Triften, alle Stätten,
Färbt mit ihren Knochen weiß;
Welchen Rab und Fuchs verschmähten,
Gebet ihn den Fischen preis;
Dämmt den Rhein mit ihren Leichen,
Laßt, gestäuft von ihrem Bein,
Schäumend um die Pfalz ihn weichen,
Und ihn dann die Grenze sein!
Eine Lustjagd, wie wenn Schützen
Auf der Spur dem Wolfe sitzen!
Schlagt ihn tot! das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht!«

Und so sehen wir allmählich die wachsenden Schatten über dem unglücklichen Dichter zusammenschlagen und ein edles Gemüt [871] von der gespenstischen Übermacht seines eigenen Ungestüms unaufhaltsam fortgetrieben bis zum Selbstmord. – Es ist bekannt, wie eine ihm befreundete Frau, die seit langer Zeit an einem unheilbaren Übel litt, ihm einst das Versprechen abgenommen, ihr einen Dienst zu leisten, wenn sie ihn fordre. Sie forderte den Tod, und er hielt Wort. Im Jahre 1810, an einem einsamen See zwischen Berlin und Potsdam erschoß er erst die Freundin und dann sich selbst. – Der Vorfall wurde damals von Aufgeregten als eine Großtat gefeiert, von andern, die nichts als ihren gewöhnlichen Novellen-Schlendrian begreifen, mit dem gemütlichen Tränenschmuck einer unglücklichen Liebe ausgeputzt. Beides der schroffen Natur des Dichters durchaus fremd und zuwider. Kleist selbst war gewiß am weitesten davon entfernt, die Tat für mehr als Notwehr gegen das Unerträgliche gelten zu lassen, und ein Liebesverhältnis zwischen ihm und seiner Todesgefährtin hat niemals stattgefunden. Das Gräßliche geschah aus stolzem Ekel an einer Zeit, die ihm des Lebens unwürdig schien, aus Verzweiflung an einer besseren Zukunft Deutschlands, deren Morgenrot doch so bald über seinem Grabe heraufdämmern sollte!

So war sein Leben und so auch seine Poesie. Ihm ward das verhängnisvolle Talent des Unglücks, die unselige Gabe, alle Dissonanzen des irdischen Daseins tiefer und herber als andere herauszufühlen, zu dem gänzlichen Unvermögen, sie harmonisch, d.h. als Ringe einer unsichtbaren, ewigen Gliederung zu begreifen; und diese Sphinx, weil er ihr uraltes Rätsel nicht zu lösen vermochte, hat ihn und seine Poesie erwürgt. Denn so vereinzelt und abgerissen von ihrem religiösen Urgrund konnten die Erscheinungen für ihn keine innere Berechtigung haben, er aber war zu stolz, um sich an einem bloßen Gaukelspiel ästhetisch zu ergötzen, und so hat er in einer in ihrer Wurzel ehrenhaften ethischen Entrüstung, so wie im Leben sich selbst, so in seinen Dichtungen Liebe, Schönheit, Freundschaft, Hohes und Niederes dem Tode geweiht.

Gleich seine erste Dichtung: »Die Familie Schroffenstein«, kündigt diesen dämonischen Krieg an. Ohne alles juvenile Schwanken des Anfängers, mit festen, scharfen Charakterzügen wird uns hier die Selbstzerstörung der düstersten aller menschlichen Leidenschaften, des Argwohns, schonungslos und systematisch vorgeführt. Zwei verwandte Familien entzweien sich wegen der scheinbaren Ermordung eines Knaben, welcher der [872] einen Familie angehört, die, den vermeintlichen Mord der andern zuschreibend, gleich in der ersten Szene auf das heilige Abendmahl blutige Vergeltung schwört. Die Mutter des Knaben schaudert vor dem Schwur: »O Gott! wie soll ein Weib sich rächen?« Ihr Gemahl erwidert: »In Gedanken. Würge sie betend.« – Es ist der trostlose, finstre Geist der Rache, der durch das ganze Schauspiel schreitet und um ein Nichts, um eines selbstgemachten Phantomes willen Schuldige und Unschuldige in den Boden tritt.

In der »Penthesilea« dagegen hat der Dichter mit derselben verzweifelten Ungenüge am Menschenlichen das Übermenschliche, ja das Unmögliche versucht, allen Nachtigallenlaut der süßesten Liebe und allen Blutdurst des Tigers in der Brust eines Mannweibs gewaltsam zu vereinen. Was ist alle Faselei der Neueren von Emanzipation der Frauen gegen diese entsetzliche Amazonenkönigin, wie sie mit ihrem geliebten Feind Achilles bräutlich plaudert, den sie in der Feldschlacht, wo er die Betäubte zu seiner Gefangenen gemacht, besiegt zu haben glaubt, und da sie nun die Täuschung gewahrt, dem Geliebten, der selber liebentbrannt zu ihren Füßen sinken will, den Pfeil durch den Hals jagt, die Zähne, mit den Hunden um die Wette, in seine weiße Brust schlägt und dann, grauenvoll, lautlos die Leiche anstarrend, ihm in den Tod nachfolgt.

Das merkwürdigste Denkmal dieses ungestümen Geistes ist aber ohne Zweifel sein Drama: »Die Hermannsschlacht«, weil es nicht nur das bedeutende Talent des Dichters am tüchtigsten bewährt, sondern auch alle Phasen seines innern Lebensganges in das hellste Licht setzt. Bewundern müssen wir dabei zunächst die gewaltige Produktionskraft, die hier die ganze, volle Gegenwart in einer mehr als tausendjährigen Vergangenheit lebendig abzuspiegeln vermochte. Denn das Drama handelt ohne allen modernen Beischmack von der Vertreibung der Römer durch den Cheruskerfürsten Hermann und gibt doch eigentlich den getreuesten Umriß der Zustände, der Ehre und der Schmach, wie sie um das Jahr 1809 in Deutschland gewesen. So unvergänglich ist das wahrhaft Historische, der reinmenschliche Grundton, der durch alle Zeiten geht, daß ja in ähnlicher Weise z.B. auch Shakespeares Cäsar und Coriolan ebenso wahre Römer als Engländer an Elisabeths Hofe sind. – Die Hermannsschlacht veranschaulicht uns aber außerdem auch noch, wie kein anderes Werk, das eigentliche innere Tagewerk [873] des Dichters: eine heroische Hingebung an den Zweck, den er einmal als den rechten und würdigsten erkannt, alles Edle und Große seiner Seele mit fast fieberhafter Glut auf einen einzigen Punkt, auf die Not des Vaterlandes, gerichtet; wie mit seinem innersten Herzblut ist das alles dort verzeichnet: sein Gram, seine Hoffnungen, seine Liebe und sein Zorn. Aber eben hier lauert auch schon der Dämon; es ist, als hörte man ihn überall mit kaum verhaltenem Ingrimm in die Kette beißen, und das Ganze ist, bei aller Trefflichkeit, dennoch eigentlich eine großartige Poesie des Hasses, der endlich auf einmal in blutroten Flammen aufschlägt, wo Thusnelda den ihr in Liebe arglos vertrauenden jungen Römer Ventidius betrüglich in einen grünen Zwinger verlockt, um ihn dort, anstatt der gehofften Umarmung, vor ihren Augen von einer Bärin zerreißen zu lassen.

Hüte jeder das wilde Tier in seiner Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und ihn selbst zerreißt! Denn das war Kleists Unglück und schwergebüßte Schuld, daß er diese, keinem Dichter fremde, dämonische Gewalt nicht bändigen konnte oder wollte, die bald unverhohlen, bald heimlichleise, und dann nur um so grauenvoller, fast durch alle seine Dichtungen geht. So steigert sich in seiner besten Erzählung »Michael Kohlhaas« mit melancholischer Virtuosität, ja mit einer eigensinnigen Konsequenz, die fast an Shylocks bekannten Prozeß erinnert, das gekränkte, tiefe Rechtsgefühl eines einfachen Roßkamms bis zum wahnsinnigen Fanatismus, der rachelustig sich und das Land in Mord und Brand stürzt. Oder wo gibt es in unserer ganzen poetischen Literatur etwas Verzweiflungsvolleres als die kleine, fast epigrammatisch-grausenhafte Erzählung vom »Bettlerweibe von Locarno«? Auch in der meisterhaften Novelle »Die Verlobung in St. Domingo« – wo die herrliche Toni von ihrem Geliebten, den sie soeben gerettet, aus eifersüchtigem Mißverständnis erschossen wird – spielt, möchten wir sagen, eine grausame Wollust des menschlichen Jammers. Und in seiner einzigen Novelle religiösen Inhalts, »Die heilige Cäcilie«, schlägt die Gewalt des religiösen Gefühls trostlos nur in spukhaften Wahnsinn aus. Selbst in dem großartigen Fragment »Robert Guiscard« ist es die Pest, die uns wie ein verhülltes Gespenst anstarrt und insgeheim schon in Guiscards Gebeinen wühlt:


[874]
»Mit weit ausgreifenden Entsetzensschritten
Geht sie durch die erschrocknen Scharen hin,
Und haucht von den geschwollnen Lippen ihnen
Des Busens Giftqualm in das Angesicht!
Zu Asche gleich, wohin ihr Fuß sich wendet,
Zerfallen Roß und Reiter hinter ihr,
Vom Freund den Freund hinweg, die Braut vom Bräut'gam,
Vom eignen Kind hinweg die Mutter schreckend!
Auf eines Hügels Rücken hingeworfen,
Aus ferner Öde jammern hört man sie,
Wo schauerliches Raubgeflügel flattert,
Und den Gewölken gleich, den Tag verfinsternd,
Auf die Hülflosen kämpfend niederrauscht!
Auch ihn ereilt, den furchtlos Trotzenden,
Zuletzt das Scheusal noch, und er erobert,
Wenn er nicht weicht, an jener Kaiserstadt
Sich nichts als einen prächt'gen Leichenstein!
Und statt des Segens unsrer Kinder setzt
Einst ihres Fluches Mißgestalt sich drauf,
Und heulend aus eherner Brust Verwünschungen
Auf den Verderber ihrer Väter hin,
Wühlt sie das silberne Gebein ihm frech
Mit hörnern Klauen aus der Erd hervor!«

Diese ethische Maßlosigkeit aber mußte hier, wie überall, auch die ästhetische Willkür, der gänzliche Mangel an religiösem Glauben sein karikiertes Widerspiel, einen poetischen Wahnglauben, zur unabweislichen Folge haben. Daher bei Kleist das immer wiederkehrende, unruhige Übergreifen von der ihm doch sonst durchaus verständlichen Naturwahrheit ins wüste phantastische Leere, die Vorliebe für das bloß Seltsame und Unerhörte, die unbezwingbare Lust, anstatt der natürlichen Grundlage religiöser Motive einen oft trivialen und widerwärtigen Aberglauben zum Angelpunkt seiner dramatischen und novellistischen Katastrophen zu machen. So wird in der »Familie Schroffenstein« der ganze, wahrhaft tragische Racheprozeß an dem kleinen Finger des strittigen Knaben auf- und abgewickelt, den ein albernes Mädchen ihm abgeschnitten und gekocht hat, um ihre Mutter vom Krebs zu heilen. Im »Käthchen von Heilbronn« ruht die Entwickelung und die rührende [875] Zuversicht dieser wunderschönen Liebestreue auf dem Aberglauben vom Bleigießen und einem visionären Fiebertraume, und im »Prinzen von Homburg« ist wiederum ein wilder Traum des Prinzen die bewegende Seele des Ganzen. Von dem Ausgange des »Kohlhaas« aber sagt Tieck, der den Dichter und namentlich diese Erzählung, wie billig, sehr hochhält, ganz richtig: »Diese wunderbare Zigeunerin, die nachher die verstorbene Gattin des Kohlhaas ist, dieser geheimnisvolle Zettel, diese gespenstischen Gestalten, der kranke, halb wahnsinnige, am Ende in Verkleidung auftretende Kurfürst, alle diese schwachen, zum Teil charakterlosen Schilderungen, die dennoch mit der Anmaßung auftreten, daß sie höher als die vorher gezeichnete wirkliche Welt wollen gehalten werden, daß sie uns ihr geheimnisreiches Wesen, das sich in wenig genug auflöst, so teuer wie möglich verkaufen wollen, diese grauenvolle Achtung, die der Verfasser plötzlich selber vor den Geschöpfen seiner Phantasie empfindet, alles dieses erinnert an so manches schwache Produkt unserer Tage und an die gewohnten Bedürfnisse der Lesewelt, daß wir uns nicht ohne eine gewisse Wehmut davon überzeugen, daß selbst so hervorragende Autoren wie Kleist (der sonst nichts mit diesen Krankheiten des Tages gemein hat) dennoch der Zeit, die sie hervorgerufen hat, ihren Tribut abtragen müssen.«

Und so sehen wir denn bei Kleist in der Tat schon alle unheilvollen Elemente der neuesten Literatur fast spukhaft auftauchen und auf diesem dunklen Grunde die Lineamente zur modernen Poesie der Zerrissenheit, der Phantasterei und des Hasses sich leise formieren. Aber seine Zerrissenheit ist nichts Gemachtes, sondern sein eigenstes Erlebnis und Unglück, und hat daher noch die Frische der primitiven Unmittelbarkeit. Sein Schmerz und sein Groll sind wahr und wohlbegründet, er trauert nicht »um Hekuba«, sondern um die höchsten Güter des irdischen Lebens: um Vaterland, Recht und Ehre. Ein strenger Ernst macht seine Dichtungen zu wirklichen Taten, ein Ernst, von dem wir selbst noch lernen sollten in dieser Zeit, wo zwar keine Schwerter klirren wie dazumal, aber ein innerer Krieg geschäftig, wie ein heimlich fressender Erdbrand, in tausend labyrinthischen Gängen den heiligen Boden Deutschlands unterwühlt. Und wenn jener Ernst bei Kleist häufig so trostlos und grauenhaft in das Entsetzliche umschlägt, ja oft zu einer antiken, heidnischen Tugend erstarrt, so ist es nur, wir[876] sagen es nochmals, weil ihm die höchste Kraft fehlt, das unsichtbare Banner der Poesie kühngläubig über die irdischen Dinge auf jene stille Höhe zu pflanzen, wo alles versöhnt wird. Wer aber möchte dem edlen unglücklichen Dichter sein tiefstes Mitgefühl versagen, wenn aus den nachstehenden Klängen seines »Letzten Liedes« all sein Kummer und alle Schauer seines freiwilligen Todes uns anwehen:


»Fernab am Horizont, auf Felsenriffen,
Liegt der gewitterschwarze Krieg getürmt.
Die Blitze zucken schon, die ungewissen,
Der Wandrer sucht das Laubdach, das ihn schirmt.
Und wie ein Strom, geschwellt von Regengüssen,
Aus seines Ufers Bette heulend stürmt,
Kommt das Verderben, mit entbundnen Wogen,
Auf alles, was besteht, herangezogen.
Der alten Staaten graues Prachtgerüste
Sinkt donnernd ein, von ihm hinweggespült,
Wie auf der Heide Grund ein Wurmgeniste,
Von einem Knaben scharrend weggewühlt;
Und wo das Leben um der Menschen Brüste
In tausend Lichtern jauchzend hat gespielt,
Ist es so lautlos jetzt, wie in den Reichen,
Durch die die Wellen des Kozytus schleichen.
Und ein Geschlecht, von düsterm Haar umflogen,
Tritt aus der Nacht, das keinen Namen führt,
Das, wie ein Hirngespinst der Mythologen,
Hervor aus der Erschlagnen Knochen stiert;
Das ist geboren nicht und nicht erzogen
Vom Alten, das im deutschen Land regiert,
Das läßt in Tönen, wie der Nord an Strömen,
Wenn er im Schilfrohr seufzet, sich vernehmen.
Und du, o Lied voll unnennbarer Wonnen,
Das das Gefühl so wunderbar erhebt,
Das, einer Himmelsurne wie entronnen,
Zu den entzückten Ohren niederschwebt,
Bei dessen Klang, empor ins Reich der Sonnen,
Von allen Banden frei, die Seele strebt:
Dich trifft der Todespfeil; die Parzen winken,
Und stumm ins Grab mußt du darniedersinken.
[877]
Ein Götterkind, bekränzt, im Jugendreigen
Wirst du nicht mehr von Land zu Lande ziehn
Nicht mehr in unsre Tänze niedersteigen,
Nicht hochrot mehr bei unserm Mahl erglühn.
Und nur wo einsam unter Tannenzweigen,
Zu Leichensteinen stille Pfade fliehn,
Wird Wanderern, die bei den Toten leben,
Ein Schatten deiner Schön' entgegenschweben.
Und stärker rauscht der Sänger in die Saiten,
Der Töne ganze Macht lockt er hervor,
Er singt die Lust, fürs Vaterland zu streiten,
Und machtlos schlägt sein Ruf an jedes Ohr,
Und wie er flatternd das Panier der Zeiten
Sich näher pflanzen sieht, von Tor zu Tor,
Schließt er sein Lied; er wünscht mit ihm zu enden,
Und legt die Leier tränend aus den Händen.«
Platen

Es ist eine gewöhnliche Erscheinung in der Literatur, daß neue Töne, welche krankhafte Verstimmung oder tief erlebte Not irgendwo stark angeschlagen, von andern unter ganz verschiedenen Bedingungen, absichtlich oder unbewußt, als eigene Erfahrung aufgegriffen und mit gewissem Behagen ästhetisch ausgebildet werden. Und so finden wir auch die innere Ungenüge, die Kleists Poesie und Leben zerstörte, bei Platen als den eigentlichen Zweck und Glanzpunkt seiner Dichtungen wieder.

August Graf von Pleten (1796–1835) schweifte, wie Kleist, unbefriedigt von Land zu Land. Von Unmut über persönliche Verhältnisse, wie es scheint, aus der Heimat vertrieben, flüchtete er schon früh nach Italien. Allein in Florenz lernte er, »mehr und mehr Zukunft im Herzen, nur der kalten Mitwelt entsagen«. Rom mit seinen stolzen Villen, unverwelklichen Alleen und ewig plätschernden Springbrunnen scheint ihm »wie auf der Seele zu lasten«. Vergebens flieht er immer weiter; in Kalabrien, in dem heiteren Neapel, in dem prächtigen Palermo wieder, nach kurzer Rast, schon wieder melancholisch, erinnert er somit an den Mann im Märchen, der, um den Hauskobold loszuwerden, seine Wohnung hinter sich verbrennt, unter dem geretteten Hausgerät aber den Kobold unversehens [878] mit fortträgt. – Endlich, in immer wachsender Reizbarkeit, fast schon ein Sterbender, von der Cholerafurcht von Stadt zu Stadt gejagt, endigt er durch eine eigenmächtige Selbstkur, womit er der Seuche zu begegnen meint, in Syrakus sein unerfreuliches Leben.

So augenfällig aber dieser Lebenslauf dem Kleistschen gleicht – auch Platen war ursprünglich Offizier und mehr oder minder Autodidakt –, so durchaus verschieden ist doch bei beiden der innere Gehalt dieses Lebens. Während wir bei Kleist den Schatten des finstern Dämons nur unwillkürlich seine poetischen Gestalten verdüstern sehen, stellt Platen seinen Schmerz als ein Kunstwerk öffentlich aus, und was dort nur als verhaltener Schrei erschütternd ausbricht, wird hier mit allerlei Variationen künstlich in Noten gesetzt. Sehr natürlich; denn bei Kleist handelt es sich überall um Dinge, die gar wohl ein Menschenleben aus seinen Angeln heben können: um Vaterland, Ehre und eine ungeheuere, in sich selbst zusammenstürzende Zeit – bei Platen aber, wenn wir tiefer auf den Grund sehen, nur um kleinliche Interessen verletzten Autorstolzes.

Seinen Unmut haucht er in zahllosen, oft rührenden Weisen aus:


»Wem Leben Leiden ist, und Leiden Leben,
Der mag nach mir, was ich empfand, empfinden;
Wer augenblicks sah jedes Glück verschwinden,
Sobald er nur begann darnach zu streben;
Wer je sich in ein Labyrinth begeben,
Aus dem der Ausgang nimmermehr zu finden,
Wen Liebe darum nur gesucht zu binden,
Um der Verzweiflung dann ihn hinzugeben;
Wer jeden Blitz beschwor, ihn zu zerstören,
Und jeden Strom, daß er hinweg ihn spüle
Mit allen Qualen, die sein Herz empören,
Und wer den Toten ihre harten Pfühle
Mißgönnt, wo Liebe nicht mehr kann betören,
Der kennt mich ganz, und fühlet was ich fühle.«
Dieser Unmut steigert sich häufig bis zur ungeduldigen Todeslust:
»Soll ich ewig plagen mich und placken?
Näht mir endlich meinen Leichenlaken!
[879]
Wer nicht kriechen will und hündisch wedeln,
Bette früh sich bei den Totenschädeln.
A und O von dieses Lebens Psalter,
Trübe Jugend sind's, und trübes Alter.
Solchen Tanz, ich daur ihn nimmermehr aus,
Fiedler Tod, o spiel uns doch den Kehraus!«

Aber während Kleist, wo er auch immer umherschweifte, mit aller Glut der Seele sich nach Deutschland zurücksehnte und nur dessen Schmach und Unglück sein treues Herz zernagte, freut sich Platen, am fremden Strande fremde Lüfte atmen zu können, fern von der Heimat,


»Wo mir zerrissen sind die letzten Bande,
Wo Haß und Undank edle Liebe lohnen,
Wie bin ich satt von meinem Vaterlande!«

Wir fragen mit Recht endlich ungeduldig nach dem Entsetzlichen, das einen jungen Dichter ereilen konnte, der, unabhängig, nach Herzenslust soeben das schöne Italien durchzog? Der Dichter selbst läßt uns nicht lange im Zweifel darüber. Wir begegnen nämlich zunächst mit fast schreckhaftem Erstaunen einem bis dahin wohl noch niemals so bloßgestellten, monströsen Selbstgefühl, das uns bei aller Teilnahme, die wir keinem Unglücklichen versagen möchten, oft in seinen schönsten Gedichten unwillkürlich verstimmt. – Aus vielem hier nur einiges. So sagt er von seiner »verhängnisvollen Gabel«: »Es freut mich wenigstens, dieses Lustspiel als eine Art von deutschem Muster in dieser Gattung hingestellt zu haben, an welchem die Ästhetiker, was das Wesen des Komischen betrifft, lange Zeit lernen können.« – Er schreibt ferner sich selbst folgende Grabschrift:


»Ich war ein Dichter, und empfand die Schläge
Der bösen Zeit, in welcher ich entsprossen;
Doch schon als Jüngling hab ich Ruhm genossen,
Und auf die Sprache drückt ich mein Gepräge.
Die Kunst zu lernen war ich nie zu träge,
Drum hab ich neue Bahnen aufgeschlossen,
In Reim und Rhythmus meinen Geist ergossen,
Die dauernd sind, wofern ich recht erwäge.
[880]
Gesänge formt ich aus verschiednen Stoffen,
Lustspiele sind und Märchen mir gelungen
In einem Stil, den keiner übertroffen:
Der ich der Ode zweiten Preis errungen,
Und im Sonett des Lebens Schmerz und Hoffen,
Und diesen Vers für meine Gruft gesungen.«
– – – – –
»Es werden Spätre meinen Geist in Eden
Beschwören und entschuldigen und sagen:
Er dachte groß, wie konnt er kleinlich reden?«
Dieser Mißton wird keineswegs gelöst, wenn er auch später, mit sophistischer Auslegung, sagt:
»Wie? mich selbst je hätt ich gelobt? Wo? Wann? Es entdeckte
Irgend ein Mensch jemals eitle Gedanken in mir?
Nicht mich selber, ich rühmte den Genius, welcher besucht' mich,
Nicht mein sterbliches, mein flüchtiges, irdisches Nichts!
Weil ich bescheiden und still mich selbst für viel zu gering hielt,
Staunt ich in meinem Gemüt über den göttlichen Gast.«

Es konnte nicht fehlen, dieses maßlose Selbstgefühl, wozu ihn weder Talent noch Gesinnung berechtigten, das demnach in der erträumten Bedeutung nie anerkannt werden konnte und daher sich überall verkannt und verletzt wähnte, wurde der Dämon, der den nervenschwachen Poeten fieberhaft durchs Leben stachelte. Darum entsagt er voll Bitterkeit dem undankbaren Vaterlande:


»Es war ein allzu jugendlich Beginnen,
Daß ich, wie Joseph, meinen Traum verkündet;
Draus hat sich mir der Brüder Neid entsponnen,
Die gern mich würfen in den tiefsten Bronnen.
Doch bis hierher, zu weit entferntem Strande,
Kann Lieb und Haß den Dichter nicht beschreien!
Hier mag er weilen, unzerstreut vom Tande,
Vom Wirrwarr deutscher Klatschereien;
Er konnte hier, in einem Zauberlande,
Die bange Brust von jedem Schmerz befreien:
Es steht bei dir, ihm vorzuziehn Lappalien,
Du nordisch Volk, ihn aber schützt Italien!«
[881] Und anderswo:
»Wann einst der Unfug dieser Lügengeister
Jedwedes Maß phantastisch überschritten,
Dann werdet ihr, wiewohl zu spät, mich bitten
Und rufen dann die Kunst und ihren Meister:
O würde jener wieder uns gesendet,
Der uns den Pfad des Äthers wollte zeigen,
Doch seine Seele hat sich abgewendet!
Nie wird er mehr die Alpen übersteigen,
Und sein Geschäft ist unter uns vollendet!
Ja, meine ganze Rache sei das Schweigen!«

Allein es blieb nicht bei dieser stolzen Rache. – Arnim vergleicht irgendwo die bösen Launen, die so trübsinnig über den Gemütern hängen, mit den schweizerischen Schneelawinen; ein vorüberfliegender Vogel, ein zu laut ausgesprochenes Wort, und sie stürzen verschüttend Über Freund und Feind hernieder. So brachte auch hier ein kleines, gegen Platen gerichtetes Xenion Immermanns, das Heine in seine Reisebilder aufgenommen:


»Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,
Essen sie zu viel, die Armen, und vomieren dann Gaselen«,

plötzlich jene geistige Krankheit des empfindlichen Dichters zum völligen Ausbruch. Immermann schien die Sache längst wieder vergessen zu haben, denn er ehrte Platens später erschienene Gedichte und suchte sogar in persönlichen Verkehr mit ihm zu treten. Da schrieb dieser seinen Oedipus, ein Lustspiel, worin Immermann als Nimmermann, einem größtenteils unverdienten, jedenfalls unwürdigen Spotte preisgegeben wird. Allerdings ist der ganz persönliche Streit hier ins Allgemeine gezogen, indem er als Krieg der poetischen Wahrheit gegen das verkehrte Treiben der damaligen Tragödien überhaupt sich geltend macht, und Immermann gleichsam nur beiläufig der Repräsentant aller wirklichen oder eingebildeten Misere sein soll. Aber die gallbittere Gereiztheit hat alles gelb gefärbt, und läßt nirgend jenen unbefangenen Humor aufkommen, der z.B. in Tiecks Komödien die Schlechtigkeit, weil er uns heiter über sie hebt, vernichtet und die Gegner zu Tod lacht. Im Oedip vielmehr wird alles, was damals in der Heimat berühmt war, [882] bei Namen genannt: Raupach, »der schmiert ein Trauerspiel im Katzenjammer«, Houwald, »ein alter Mensch, doch ähnlich einem jungen, ein Abc-Schütz von gereiften Jahren«, Heine, »der Menschen Allerunverschämtester, dessen Küsse Knoblauchsgeruch absondern« usw. Ja, zuletzt bricht der verletzte Autorstolz in fast wahnsinnige Begeisterung des Hasses aus, indem er den Verstand zu Nimmermann sagen läßt:


»Und kraft der Vollmacht, welche mir die Kunst verlieh,
Und kraft des Scherzes, welchen ich bemeistere,
Der unter meinen Händen fast erhaben klingt,
Als wär's der Andacht hoher Ernst, und kraft der Kraft
Zerstör ich dich, und gebe dich dem Nichts anheim!
Zwar wäre dich vernichten eine kleine Tat;
Allein gesalbt zum Stellvertreter hab ich dich
Der ganzen tollen Dichterlingsgenossenschaft,
Die auf dem Hackbrett Fieberträume phantasiert,
Und unsre deutsche Heldensprache ganz entweiht;
Ja, gleich wie Nero wünscht ich euch nur ein Gehirn,
Durch einen einz'gen Witzeshieb zu spalten es,
Um aller Welt zu zeigen eine taube Nuß,
Mit ungenießbar'm Floskelmoder angefüllt.
Verstumme, schneide lieber dir die Zunge weg,
Die längst zum Ärger dient Vernünftigen!
An deiner Rechten haue dir den Daumen ab,
Mitsamt dem Fingerpaare, das die Feder führt:
An Geist ein Krüppel, werde bald es körperlich!«
Worauf Nimmermann vom Publikum mit den Worten abgeführt wird:
»Lieber, komm! Ich führe jetzt,
Um Muße dir zu schaffen, dich an jenen Ort,
Den Briten Bedlam heißen, Deutsche Narrenhaus.«

Aber der Haß ist ein trockener, bleicher, häßlicher Gesell, der sich in schönem Festgewande nur um so widerlicher ausnimmt. Und wie denn die Kunst überhaupt das Besondere hat, daß sie nächst Gott allein in gesundem Herzen wohnen mag, so hat auch hier der ungezügelte Hochmut sich mit ihr nicht recht vertragen wollen und unseren Poeten, bei all seinem bewunderungswürdigen Formensinn, doch eigentlich nur zu einem negativen Dichter gemacht, der die besten Kräfte ruhelos in parodistischer Polemik verbrauchen mußte.

[883] Mit gerechter Entrüstung dagegen ist die Verdächtigung unsittlicher Verirrungen zurückzuweisen, die erst von Ludwig Robert leise angedeutet und dann durch Heine hämisch weiter ausgesponnen wurde, weil Platen in seinen Sonetten, nach dem Vorgange Shakespeares, die männliche Schönheit gefeiert. Er steht hier, wie überall, rein und fern von aller modernen Lüsternheit – an sich schon die schlagendste, tatsächliche Widerlegung, wenn er auch in seinen »Lebensregeln« nicht selber gesagt hätte: »Fliehe die Wollust, die nicht allein den Körper, sondern auch den Geist schwächt. Beweise, daß du Herr deiner selbst bist. Halte alle sinnliche Liebe, sobald sie von der geistigen gesondert ist, für unerlaubt, des Menschen unwürdig. Suche deine geistige und sinnliche Natur so viel möglich in Harmonie zu bringen. Veredle deine Sinnlichkeit.« – Überhaupt erscheint Platen, außer dem fatalen Bereiche seines Hauskobolds, durchaus als ein Gemäßigter, der sich zwischen den Dingen fast überall ein gewisses juste milieu einzurichten weiß. Seine Liebe schwingt sich nur selten über das unter den Poeten einmal konventionelle Verliebtsein hinaus; ja das formenselige Gekose seiner Gedichte erinnert häufig an die gute alte Zeit der Gleimschen Tändeleien, die nur, anstatt des damaligen Schlafrocks, hier den persischen Kaftan oder eine Toga mit stolzem Faltenwurfe umgeschlagen haben. Sagt er doch bezeichnend selbst:


»Aus edlen Dichtern einen Vers zu singen,
Gestreckt ins Gras, wo laute Quellen schäumen,
An Rosenhecken, unter Lindenbäumen
Das Leben unbesorgt dahinzubringen:
Im Mai die Stirn mit jungem Laub zu krönen,
Die lauen Nächte, bis es wieder taget,
Durch Weingenuß und Liebe zu verschönen:
Dies ist, und wenn mich auch darob verklaget
Ein Sittenrichter, der es will verpönen,
Das einzige, was meinem Sinn behaget.«

Eine ähnliche Mitte hält auch seine politische Gesinnung. Von den großen Begebenheiten seiner Zeit, von der französischen Julirevolution (Ode an Karl den Zehnten) und dem Unglück Polens (Polenlieder) nicht unberührt, entflammt das letztere seinen Zorn gegen Rußland, der aber, z.B. im »Reich der Geister«, häufig schon wieder in krankhaften Haß umschlägt. Vorzüglich [884] als Bollwerk gegen den barbarischen Osten wünscht er, nicht ohne Sympathien für das neue Frankreich, einen deutschen Kaiser sowie eine freie Entfaltung des geistigen und Volkslebens in Deutschland, und Preußen soll den Banner dieser Freiheit erheben (»An einen deutschen Staat«). Aber, noch ganz verschieden von seinen Nachfolgern in der politischen Poesie, will er jene Freiheit keineswegs zerstörungswütig und gewaltsam über den Trümmern aller Geschichte aufpflanzen, er redet vielmehr den König von Bayern an:


»Allein wie sehr du Wünsche des Tags verstehst,
Nicht horchst Du blindlings jedem Geräusch, Du nimmst
Das Zepter, jenem Joseph ungleich,
Nicht in die weltliche Faust der Neuerung.
Ehrfurcht erweckt, was Väter getan, in Dir,
Du fühlst verjährter Zeiten Bedeutsamkeit,
Ins Wappenschild uralter Sitte
Fügst Du die Rosen der jüngsten Freiheit.«
Noch weniger mochte er die beliebte Schere einer alles planierenden Gleichheit:
»Konnt ich doch sonst mich auferbaun,
Den lust'gen Lauf der Welt beschaun,
Nun hör ich die politischen Schellen
Mir ewig vor den Ohren gellen,
Das Kleinste seh ich zu höchst sich schwingen,
Als wolle der Staat die Welt verschlingen! –
Doch was die Zeit uns auch verspricht,
Natur! versiege du nur nicht!
Du Mächtige, Mannigfache, Reiche,
Versinke nicht ins flache Gleiche!
Doch du hast niemals mit beschworen
Den Aberwitz beschränkter Toren,
Du strebtest nie, daß eins wie's andre,
Und gönnst, daß jeder in Frieden wandre;
Den Weisen hüllst du in dein Licht,
Und gibst dem Schaf ein Schafsgesicht;
Der Mittelmäßigkeit Gewühle
Reibst du zu Staub auf deiner Mühle,
Und rufest, zu schalten weit und breit,
Das Große hervor von Zeit zu Zeit.«

[885] Dieselbe etwas nüchterne Wählichkeit zeigt endlich auch sein religiöser Standpunkt. Er hat zwar eine Christnacht, ein Osterlied usw. gedichtet; aber wie vornehm und marmorkalt ist das alles gegen Novalis' geistliche Lieder! Man sieht wohl, er strebt auch in diesem Reiche nach einem leidlich befriedigenden Gleichgewicht, in der Schwebe zwischen den extremen Meinungen; nur daß ihm hier, wo es am wenigsten auf ein formales Zurechtlegen ankommt, die Lösung auch am wenigsten gelingen konnte. Es ist im Grunde doch nur eine gemachte Vernunftreligion mit halb christlicher, halb pantheistischer Färbung. Doch lassen wir ihn auch hier für sich selbst sprechen: »Deine Religion« – sagt er in seinen Lebensregeln – »sei die der Vernünftigen. Sie bestehe im Glauben an die große, alles durchdringende Seele, deren Körper wir die Welt nennen; im Glauben an eine Vorsehung, deren lenkende Gegenwart alle Vorfälle deines Lebens dir unverkennbar beweisen.« – »Denke aber deshalb nicht verpflichtet zu sein, dasjenige als wahr anzunehmen, was dir von den Menschen überliefert worden. Sobald du einmal die Vernunft unterdrücken mußt, so hat dein Glaube weder bestimmtes Ziel, noch Grenze.« – »Die Vorsehung zu glauben, die du niemals körperlich erkennen kannst, ist der Beschränktheit deiner menschlichen Natur angemessen; aber denke nicht, Gott könne fordern, daß du Dinge anerkennst, die dem gesunden Verstande widersprechen, den er dir gab, durch den du ihm angehörst.« – »Droht ein Unfall dich in die tiefe Schwermut der Verzweiflung hinabzustoßen: ermanne dich an deiner göttlichen Natur. Was könnte den zu Boden schlagen, dessen Wille frei ist und keinem unterworfen?« – Seltsam! die Freiheit des menschlichen Willens soll also überall genügend sein und dennoch eine Vorsehung alle Vorfälle unseres Lebens lenken. Wir sollen nichts anerkennen, was dem gesunden Verstande widerspricht, und doch eine höhere Leitung annehmen, die wir körperlich (das heißt doch wohl mit unserem irdischen Verstande) niemals zu erkennen imstande sind; wir sollen also gleichsam dem Verstand glauben; wir sollen nur unserer Vernunft folgen, und doch soll, nach einer andern Lebensregel, diese Vernunft, ein Ausfluß des Weltgeistes, zuweilen irren können, weil sie auf eine unbegreifliche Weise mit dem Körper vereinigt und von ihm beschränkt sei. – In der Tat, ein solches juste milieu zwischen lauter Widersprüchen wäre das Allerunbegreiflichste, und Platen hat gar nicht unrecht, [886] wenn er weiterhin sich selbst die Regel stellt: »Sogenannte Religionsstreite führe niemals, und breche das Gespräch ab, sobald man dir Gelegenheit dazu geben möchte.«

Bei dieser konfusen Nüchternheit ist wenigstens das konsequent, daß er auch im Christentum kein übersinnliches Geheimnis, sondern nur eine ganz löbliche Sittenanstalt, und in Christus nur »den Mann der Weisheit erkennt, den die Welt dankbar den Erlöser nannte«. »Ehre im Christentum«, sagt er, »die Reinheit seiner Moral und alles, was geehrt zu werden verdient. Ehre in seinem Stifter, was dir bei einem Platon oder Mark Aurel Bewunderung ablockt, und noch mehr als dies. Er fühlte mehr, was das schwache Menschengeschlecht zumeist bedürfe – feste Bestimmung seiner schwankenden Meinungen, untrügliche Aussichten. Er glaubte sich berechtigt und berufen, dasjenige im Namen der Gottheit selbst zu verkündigen als gewiß und unfehlbar, was er in seiner großen Seele für wahr und unumstößlich hielt; nämlich daß alles Gute gute, alles Böse aber endlich böse Früchte erzeugen müsse. Gewiß wurden viele jener Dogmata, die späterhin seine Jünger und deren Nachfolger ausbreiteten, niemals von ihm beabsichtigt.«

Dasselbe ungefähr, was er hier mit dürren Worten sagt, hat er gleichzeitig (1817) in dem Schwanke: »Die neuen Propheten« poetisch dargestellt. Zwei Verstorbene: ein Orthodoxer, als »Arme Seele«, den Canisius in der Hand, mit schäbigem Rock und samtener Mütze und einem Skapulier am Hals, und ein »Nationaler«, mit englischem Frack und Tituskopf, treffen an der Himmelstür zusammen, hinter der sich Sankt Peter versteckt hat, um ihr Gespräch zu belauschen und darnach ihre Würdigkeit zu erkennen. Die sehr dumme »Arme Seele« möchte nun nur für einen einzigen Tag der Teufel sein, um in dem wärmsten und größten Ofen die Philosophen zu braten. Sie will im Himmel die gute alte Zeit wieder einrichten und erblickt die Welt nur


»als ein großes Theater,
In der obersten Loge den heiligen Vater,
Wir Priester bewegen an Schnuren und Ketten
Auf der Bühne die Laien als Marionetten;
Das Geheimste sogar, wir entziffern's leicht
Durchs Sakrament der Ohrenbeicht;
Loyolas Schar treibt wiederum
Die Knaben in ihr Kollegium;
[887]
Das Land durchzieht mit geistlichem Krame
Die Krüdener als Aposteldame;
Wie Manna regnen Stiftungen, Pfründen,
Man fordert zehn Prozent für die Sünden,
Man eilt, den bettelnden Mönchen die Wägen
Mit Kälbern, Geflügel und Schmalz zu belegen;
Viel Klosterbrüder sieht man wallen
Mit Testamenten in ihren Krallen« usw.
Der Nationale dagegen, dem
»Der Hader der Partein befleckte
Die Seele nie, die den Pöbel verachtet
Und nach erhabnerm Ziele trachtet«,

vergleicht die katholischen Heiligen, sehr zu deren Nachteil, mit den menschheitbeglückenden Heidengöttern; die Dogmatik ist ihm eine ebenso heilige als abgeschmackte Nuß, die niemand knackt, Priesterkniff der Pfeiler der Kirche. Er selbst aber glaubt ein Leben,


»das alles belebt,
Einen Geist, der durch alle Geister strebt,
Von allem Edeln, allem Wahren,
Von allem Großen und Wunderbaren,
Von allem, was unsern Busen schwellt,
Ein Ideal auf dem Gipfel der Welt.
Und seh ich die Morgensonn erwachen,
Wenn der Frühling kommt, wenn die Gärten lachen,
Die Herde weidet, die Schwalben bauen,
Und ich wandle dahin auf den bunten Auen,
Wo das Hageröschen am wilden Stocke,
Wo der Thymian blüht und die Maienglocke,
Da zeigt mir der Teppich des reichen Gefildes
Den Abdruck jenes unendlichen Bildes.
Und ist das Abendrot spät verschwunden
Und nahen die stillen, die traulichen Stunden,
Und ich schaue hinaus, wie der Himmel glüht,
Wenn die Weltensaat dem Auge blüht,
Und wie sie im ewig geschloßnen Kreise
Vollenden die weite, gewaltige Reise,
Da fühl ich noch mächtiger deine Spur,
Erhabene Seele der großen Natur!«
[888] Dabei bringt er Bücher mit, um den Himmel aufzuklären:
»Schon seh ich im Geist, was diese Schriften
Für Leute bekehren und Nutzen stiften:
Der heilige Augustin liest hinfür
Nur das Système de la Nature,
Ignatius läßt den frommen Verein,
Studiert sich in die Pucelle hinein;« usw.

So werden beide Himmelskandidaten – und zwar, wie man sieht, ziemlich frivol – lächerlich gemacht, beide heißt Sankt Peter zuletzt in des Teufels Namen sich fortpacken, und das Ganze endet also, ohne Andeutung einer höheren Vermittelung der Gegensätze, abermals in vornehmer Neutralität. Doch fühlt man überall die heimliche Sympathie des Dichters für den Nationalen heraus, ein Gefühl, das durch andere Äußerungen hinreichend bestätigt wird. Oder wer erkennt jenen englischen Frack mit dem Tituskopf nicht wieder, wenn Platen in Palermo ausruft:


»Aus jenen schönen Stirnen keimt
Nie ein Gedank empor:
Auf jede hat ein Brett geleimt
Der schnöde Pfaftenchor.
Es hält ein ganzes Volk in Schach,
Wer's täglich dreist beleugt« –
wenn er dann in Rom sagt:
»Gern vermißt sei, neben dem Heidengrabstein,
Was so streng Rom jedem Verirrten weigert:
Jenes Jenseits, das des Apostel goldner
Schlüssel nur auftut.
Führt mich dorthin lieber, und sei's die Hölle,
Wo der Vorwelt würdigen Seelen Raum ward,
Wo Homer singt und der lorbeermüde
Sophokles ausruht.«
oder wenn er, in seltsamer Resignation, dem Poeten ein allzu bescheiden Teil vindiziert:
»Mögt an des Heilands Seite dereinst ihr sitzen in Glorie,
Oder den Gott anschaun, der sich entschleiert vor euch!
Dichtern genügt das geringere Glück, auf Erden zu wandeln:
Möcht ich im Munde des Volks gehn von Geschlecht zu Geschlecht!«

[889] Wir sind hier absichtlich ausführlicher gewesen, um deutlich zu machen, wie bei Platen schon die Romantik vom Geheimnisvollen zum Gemeinfaßlichen, vom Glauben zur Negation sich wieder zurückwandte. Die natürliche Folge davon war, daß dieselbe, nachdem sie Zweck und angeborene Waffen einmal verwechselt hatte, diese nun auch bald zerstörend gegen sich selber kehren mußte. So sehen wir damals schon mehrere an sich romantische und doch die romantische Richtung verspottende Komödien auftauchen, wie des witzigen und trockenen Ludwig Roberts »Cassius und Phantasus« u.a. Und so ist auch in Platens Oedipus der Krieg gegen die Romantik offen ausgebrochen, wo er, alle bisherigen Sympathien und Intentionen umkehrend, in der Schlußparabase ausruft:


»Auch faselt mir nicht von der Ritterlichkeit altdeutscher und christlicher Dichtkunst,
Denn es bleibt sich Natur stets gleich und bewirkt durch Christen und Heiden dasselbe. – –
Nicht schreitet zurück deshalb, krankhaft
Dem Gewesenen hold, das lange vermorscht!
Abwendet das Ohr paradoxem Geschwätz,
Seid Männer und steht, mit dem Fuß vorwärts,
Unerschütterlich fest, sucht Wahres und lacht
Des romantischen Quarks,
Und erquickt das Gemüt an der Schönheit!«

Das sind die ersten Trommelwirbel zum Geschwindmarsch des modernen Fortschritts oder, was ziemlich gleichbedeutend, zum Rückzug der Romantiker; denn die Stich- und Kommandowörter hatten sich eins nach dem andern so rasch verwandelt, daß nun wieder Rückschritt hieß, was eben erst unter ihnen vorwärts geheißen. Die protestantische Gesinnung, von dem jugendlichen Aufschwung einer begeisterten Zeit unversehens überrascht und verblüfft, erblickte, da sie allmählich wieder zur Besinnung kam, sich mit staunendem Entsetzen unter katholischen Fahnen und dünkte sich nun nicht wenig damit, reformatorisch gegen einen selbstgemachten und erträumten Katholizismus zu rebellieren. Von jetzt ab sehen wir daher dort ein Zelt nach dem andern abbrechen und heimlich Übergangsbrücken schlagen zur neuesten Literatur, und es macht fast den Eindruck wie die plötzliche Stille eines verlassenen Kriegslagers, wo es noch vor kurzem so bunt gewimmelt und fröhlich von Welteroberungen geklungen.

[890]
Hoffmann

So sehen wir jetzt die Romantik, nach ihrem geistigen Abfall, ihren Flug von der erstrebten und zum Teil wirklich erschwungenen Höhe unaufhaltsam immer rascher und tiefer bis zum Gemeinen wieder hinabsenken. Immer deutlicher und entschiedner löst sich das religiöse Element von der Phantasie, und weil diese, so isoliert, notwendig in leere Spielerei oder Verzerrung verfliegt, so zieht das religiöse Gefühl sich immer scheuer in sich selbst zurück, bis beide allmählich einander fremd und daher unbequem und störend, ja zuletzt feindlich gegenüberstehen. Die daraus entspringende innere Ungenüge, um so stechender, je schärfer die Zerklüftung hervortritt, wird nun, wie wir oben nachgewiesen, gar bald zur Zerrissenheit, bis dann auch das Bewußtsein jener Ungenüge schwindet und diese endlich nur noch als ein bloßes ästhetisches Kunststück wohlgefällig sich selbst bespiegelt.

Das treffendste Bild dieses Ausganges bietet Hoffmann dar. Glimpf und Schimpf, Verstand und Überschwenglichkeit, Grauen und schallendes Gelächter, Rührung und ironischer Hohn ringen und fressen hier, wie die bekannten beiden Löwen, einander in der Verzweiflung wechselseitig auf, daß nichts als die Schweife übrigbleiben. Man könnte darauf die von der Bibliothek der schönen Wissenschaften im Jahre 1758 gegebene Definition der Romanze anwenden: »ein abenteuerliches Wunderbare, mit einer possierlichen Traurigkeit erzählt.« – Sie hatten die Phantasie von den Banden des Verstandes gelöst; aber die Befreite war ihnen plötzlich davongefahren und über Gipfel und Wipfel in wüstem Flug bis in jenes unwirtbare Leer hinausgestürzt, wo der Himmel dunkel und die Erde nur noch in gespensterhafter Luftspiegelung erscheint. Treffend daher sagte damals Jean Paul, obgleich er selbst früher Hoffmann in die Lesewelt eingeführt hatte, in bezug auf diese Art von Poesie: »Unstreitig ist jetzt die Belladonna (wie man die Tollkirsche nennt) unsere Muse Primadonna und Madonna und wir leben im poetischen Tollkirschenfest.«

Hoffmann war von seiner frühesten Jugend an eigentlich verwaist. Der Vater, ein Mann von unordentlichen Neigungen und von seiner Frau geschieden, starb bald. Eine alte, hinfällige Großmutter, eine stets kranke, bloß vegetierende Mutter, beide nie aus ihrem Zimmer kommend, eine geistreiche [891] Tante, die, als die Vertraute seiner Schwächen, den Knaben verzog; dazu ein wunderlicher Onkel, der Essen, Trinken, Studien und Erholung pedantisch nach der Uhr trieb und von dem zwölfjährigen Knaben nach Herzenslust mystifiziert wurde; in demselben Hause endlich das mystische Wesen Werners mit seiner halbwahnsinnigen Mutter – das waren die Umgebungen, unter denen Hoffmann aufwuchs, abgesondert von seinen Schulkameraden, die ihn, wegen seines beißenden Witzes, nicht liebten. Überdem gehörte er zu den frühreifen Talenten und galt daher schon damals als das bewunderte Genie der Familie. Er selbst sagt hierüber: »In meiner ersten Erziehung, zwischen den vier Mauern mir selbst überlassen, liegt der Keim mancher von mir hinterher begangenen Torheit. Deine gütige Freundschaft nennt die Frucht jener bizarren Einsamkeit – Originalität, es ist aber, wie ich wohl weiß und empfunden habe, nichts als Starrköpfigkeit, Ungeschick! Das Übersehen der Verhältnisse, die jedem, der als Knabe nachgeben und sich in die Umstände schicken gelernt hat, ins Auge fallen, hat mir einen guten Teil der Ruhe für lange Zeit gekostet.« – Auch seine darauf erfolgte Anstellung bei der damaligen Regierung in Posen, wo er unter der ihm geistig subordinierten Umgebung wieder nur seine Übermacht fühlte und ein zügellos sinnliches Leben ihn von allen Seiten umwogte, konnte nur dazu dienen, teils den frühgeweckten Übermut seines Talents vollends zu entfesseln, teils ihn selber in jene sinnlichen Abgründe zu verlocken.

Ein solches, äußerlich gebundenes, innerlich desolutes Jugendleben aber, voll Anschauungen der seltsamsten Kontraste, war wohl in der Tat geeignet, in einem unruhigen, talentvollen Jünglinge das Dämonische ins Diabolische zu verkehren. Und dies eben war das Charakteristische bei Hoffmann, daß er – ganz im Gegensatz von Brentano – anstatt das Dämonische in sich zu bekämpfen, es vielmehr recht mit Vorliebe und gleichsam aus einem wunderlich mißverstandenen Pflichtgefühl auf alle Weise großzog und hegte und hätschelte.

Dies zeigt sich zunächst in einem innerlichen Sichgehenlassen auf Rechnung des exklusiven Genies, in einer Liebhaberei seiner selbst, einem völligen Dilettantismus in Kunst und Leben. Musik, Malerei, Poesie, ja selbst die Liebe trieb er eigentlich nur als Dilettant; er ist Theaterkomponist, Dekorateur, Architekt, auch ein geschickter Jurist; aber er nennt die Justiz [892] den Klotz des Baugefangenen, den er hinter sich schleppe, »denn«, sagt er, »zu heterogen ist sie der Kunst, der ich geschworen«. Mit den damaligen berühmten Männern Königsbergs (Kant, Hamann, Hippel, Kraus) kam er in gar keine persönliche Berührung; Kant verstand er geständlich nicht oder gab sich vielmehr nicht die Mühe, ihn zu verstehen; anstatt der alten klassischen Literatur aber griff er nach Rousseaus Konfessionen und beschäftigte sich fortwährend viel mit Wieglebs Magie.

Es ist dies im Grunde nur Mangel an Tiefe des wahren dichterischen Gefühls, das eben durch Ernst, Treue und Nachhaltigkeit sich unterscheidet. Darum suchte er sich vor jedem Zustande von Begeisterung sorgfältig zu verwahren. Deshalb hatte er auch für die freie Natur durchaus keinen Sinn und wußte ihre verborgenen Stimmen nur in ihrem Konflikte mit der Unnatur, d.h. mit der gesellschaftlichen Verbildung, also eigentlich nur den Mißklang, aufzufassen. Das ist aber wesentlich ein bloßes Manöver der Reflexion, die in diesem ihr fremden Gebiete notwendig sich selbst verwirrt, weshalb denn auch seine sogenannten Kindermärchen (der Nußknacker etc.) keine wahrhaften Märchen und nichts weniger als kindlich sind. Ebenso haßte und vermied er alle Gespräche über Religion, Staatseinrichtungen und Politik und blieb von den ungeheueren Begebenheiten seiner Zeit innerlich ganz unberührt. Im Jahre 1813, mitten unter dem Kriegsgetümmel, dichtet er in Dresden seinen Magnetiseur »mit großem Glück«, und bei dem Zusammensturz seines Vaterlandes im Jahre 1807 lebt er in Warschau grade recht vergnügt und gemütlich. »Die schöne Bibliothek des dasigen Musikvereins«, sagt Hitzig, »stand jeden Augenblick ihm zu Gebote, und sein Fortepiano hatte er sich im Quartettzimmer aufstellen lassen. Mehr bedurfte es nicht, um ihn Franzosen und die Zukunft vergessen zu machen.« In seinem Umgange aber war ihm sittliche Würde oder Gesinnung völlig gleichgültig; er wollte von seinen Freun den nur wie ein personifiziertes Buch angehört oder von ihnen durch Witz und glänzende Einfälle ergötzt sein. Mut dagegen und moralische Kraft bei andern imponierten ihm jederzeit, weil sie ihm selber fehlten. – Im Kapuzinerkloster zu Bamberg fühlt er sich durch die religiöse Umgebung »in eine gemütlich exaltierte Stimmung« versetzt. Er sagt hierüber in seinem Tagebuche: »Herrliche, patriarchalische Köpfe der Kapuziner. Wanduhr: [893] mors certa, hora incerta, una ex his. Fantasien; aber auf der Redoute ganz aus dieser Stimmung herausgekommen.« Und so dienen denn alle diese Eindrücke letztlich zu nichts weiter als zu poetischem Ausschmuck in seinen Elixieren des Teufels, im Kater Murr usw.

Eine so schwachgestimmte Innerlichkeit mußte notwendig gar oft in ihr Falsett, in vage Schwärmerei, umschlagen. Wenn aber ein als Komiker beliebter Komödiant sich einmal auch tragisch versuchen will, so reizt uns schon der erste Laut seiner wohlbekannten Stimme unwillkürlich zum Lachen. Einen ähnlichen Eindruck nun macht es, wenn Hoffmann z.B. über seine erste Liebschaft in die Worte ausbricht: »Eine neue Schöpfung hatte sie hervorgebracht – gereinigt von den irdischen Verbindungen schwebte sie mir entgegen in himmlischem Glanze – ich sah sie, ich fühlte sie, ich hörte ihre Stimme, sie bot mir einen Kranz von Myrten und Rosen. – Freund! ich möchte heut gern aus mir selbst heraus – ein erhebendes Gefühl trägt mich empor auf kühnen Fittichen – Freundschaft und Liebe pressen mein Herz, und ich möchte mich durch die Mückenkolonne, durch die Maschinenmenschen, die mich umlagern mit Gemeinplätzen, gern durchschlagen, gewaltsam allenfalls!« – Und doch schlägt seine eigentliche, kalte Natur fast gleichzeitig durch, indem er bald darauf wieder sagt: »Daß ich meine Inamorata so ganz mit all dem Gefühl liebe, dessen mein Herz fähig war, daran zweifle ich sehr; nichts aber wünsche ich weniger, als einen Gegenstand zu finden, der diese schlummernden Gefühle weckt – das würde meine behagliche Ruhe stören, würde mich aus meiner vielleicht imaginären Glückseligkeit herausreißen, und ich erschrecke schon, wenn ich nur an den Troß denke, der solch einem Gefühle auf der Ferse folgt – da kommen Seufzer, bange Sorgen, Unruhe, melancholische Träume, Verzweiflung usw. – ich meide daher alles, was so etwas involvieren könnte. Zu jeder Empfindung für Cora z.B. habe ich gleich irgendeine komische Posse zur Sourdine, und die Saiten des Gefühles werden so gedämpft, daß man ihren Klang gar nicht hört.« – Und dies alles schon in seinem zwanzigsten Jahre! – Sein ganzes Leben war im Grunde nur ein geistreiches Capriccio ohne eigentlichen Inhalt.

Allerdings hatte auch er zwar ursprünglich das enthusiastische Sehnen nach einem besseren Zustande, welches den Genius vom Gemeinen scheidet. Aber er suchte diesen besseren Zustand [894] einzig und allein im Vollgenuß der Kunst, in einer gänzlichen Hingebung aller Körper- und Seelenkräfte an dieselbe. Und weil er eben nicht umhin konnte, in allen lichteren Momenten jenen Mangel an Innerlichkeit und wahrer künstlerischer Hingebung als ein Hemmnis selber schmerzlich zu fühlen, so machte er es, wie schon oben erwähnt, zu seiner eigentlichen Lebensaufgabe, das Dämonische in sich trotzig herauszufordern, das alles überwältigen und rechtfertigen sollte. »Was ist der Mensch, o Gott! pflegte ich« – so schreibt er von sich selbst – »oft andächtig zum Himmel blickend zu sagen, wenn mir der Nuits (eine Weinsorte) oder Chambertin Prima so recht mundete! In diesem Ausruf über die Nichtigkeit alles menschlichen Tun und Treibens tröstete mich aber grade die Überzeugung vom Gegenteil – denn nie fühlte ich die Lebendigkeit des lebendigen Lebens mehr, als eben da! und jener Ausruf war so gut wie die Ausforderung eines unbekannten Widersachers im höchsten Übermute, so wie im Shakespeare die besoffenen Schlingel die unverwundbare Luft mit ihren Streichen zu verletzen trachten.« – Allein der Teufel ist immer und überall mephistophelisch und verwandelt dem Dürstenden, der sich ihm verschreibt, den verheißenen Nektar in gemeines, ekles Gebräu. Auch Hoffmann gesteht: »Ein Kampf von Gefühlen, Vorsätzen usw., die sich gradezu widersprachen, tobte schon seit ein paar Monaten in meinem Innern – ich wollte mich betäuben und wurde das, was Schulrektoren, Prediger, Onkels und Tanten lüderlich nennen. Du weißt, daß Ausscheifungen allemal ihr höchstes Ziel erreichen, wenn man sie aus Grundsatz begeht, und das war denn bei mir der Fall. – Jede unverdiente, harte Kränkung, die ich erleiden mußte, vermehrte meinen innern Groll, und indem ich, mich immer und immer mehr an Wein als Reizmittel gewöhnend, das Feuer nachschürte, damit es lustiger brenne, achtete ich das nicht, daß auf diese Art nur aus dem Untergange das Heil entsprießen könne.« – Und in der Tat, dieser Untergang, anstatt des geträumten Heiles, ließ nicht lange auf sich warten. Hoffmann schlug in Berlin fortan sein Reich im Weinhause bei Lutter und Wegner auf, wo er allnächtlich seine Feuerwerke von Witz und Phantasie verpuffte, und trieb zuletzt die Kunst, mit Hintansetzung seiner tieferen Intentionen, nur noch als Erwerb für die Weinkosten; er schrieb, um zu trinken, und trank, um zu schreiben.

[895] So war er – da er den Zauberkreis, den Religion und Sitte um uns ziehen, freventlich überschritten hatte – den unheimlichen Gewalten jenseits dieses ewigen Kreises verfallen, und Revenants, Kobolde und allerhand ordinärer Spuk, mit dem er zu spielen sich vermaß, übte schadenfroh offene Macht über ihn, weil er, wie Goethes Zauberlehrling, das heilige Bannwort vergessen. Ja, er glaubte nicht selten, diese phantastischen Zerrbilder leibhaftig vor sich zu sehen, und bei seinen nächtlichen Arbeiten mußte sich öfters seine Frau zu ihm setzen, um ihn zu beschützen. Sein eigentlicher Hauskobold aber war die Ironie. Diese Ironie, die bei Tieck noch wie ein ätherischer Duft anmutig das Ganze durchweht, duckt bei Hoffmann schon selbständig als materieller Doppelgänger auf, der ihm überall auf die Fersen tritt und, gleichsam ein travestierender Bajazzo, jedem Gedanken, jeder aufdämmernden Empfindung, fratzenhafte Grimassen schneidet. »Du weißt ja schon«, schreibt er seinem Freunde Hippel (dem Jüngeren), »welch ein besonderes Affengesicht als versteckter Poet mich kitzelt!« Und als er zu Bamberg, schon längst glücklich verheiratet, ein ganz junges Mädchen sterblich zu lieben wähnt, ruft er in seinem Tagebuche aus: »Sehr komische Stimmung; Ironie über mich selbst, ungefähr wie im Shakespeare, wo die Menschen um ihr offenes Grab tanzen – göttliche Ironie, herrliches Mittel, Verrücktheit zu bemänteln und zu vertreiben, stehe mir bei!« – Aber Samiel scheint diesmal seine Hülfe versagt zu haben; denn gleich darauf folgt in dem Tagebuch: »Innerer Wurmfraß – exaltierte Stimmung – Ahndungen seltsamer Ereignisse, die dem Leben eine Richtung geben, oder – es enden. Inkrustierter Gedanke – eine Pistole« – und hierbei eine Pistole sauber an den Rand gezeichnet.

Es ist einleuchtend, ein solchergestalt potenzierter und sich selbst beschauender Kunstgenuß konnte ihm das Glück nicht geben, das seine Jugend davon geträumt. Daher die bittere Unzufriedenheit, das Abgerißne, Fragmentarische in allen seinen Schriften; seine gedichteten friedlichen Zustände sind fühlbar nur gemacht, fast alles endigt mit einer schrillenden Dissonanz. Diesen Mißklang hat er in seiner poetischen Lieblingsgestalt, dem Kapellmeister Kreisler, verewigen wollen, aber natürlich auch hier nicht zu einer befriedigenden Lösung zu bringen vermocht; auch der Kreisler blieb Fragment und mußte und sollte, nach des Dichters eignem Plane, notwendig [896] in Wahnsinn enden. Wie ein leidenschaftlicher Spieler pointierte Hoffmann fortwährend auf die eine Karte, immer heftiger und hartnäckiger, je unersetzlicher er an Leib und Seele verlor. Noch fünf Monate vor seinem Tode, als er seinen Geburtstag feierte, und einer der Freunde gelegentlich Schillers Vers: »das Leben ist der Güter höchstes nicht«, anbrachte, fuhr ihm Hoffmann mit einer entsetzlichen Heftigkeit entgegen: »Nein, nein, leben, leben, nur leben – unter welcher Bedingung es auch sein möge!« Und mitten unter Todesschauern diktierte er noch seine letzte Novelle, »Der Feind«. Nur einmal in dieser langen, ihm barmherzig Vergönnten Prüfungszeit will seine Frau von ihm die kaum mehr vernehmbaren Worte gehört haben: »Man muß doch auch an Gott denken!«

So war sein Ende. – Hätte er, im Leben wie im Dichten, sich selbst überwinden wollen, er hätte vielleicht Größeres geleistet; daß er es konnte, hat er in seinem »Fräulein Scuderi«, im »Majorat«, und im »Küfer Martin und seine Gesellen« überraschend dargetan. Sein Mangel war daher weniger ein literarischer als ein ethischer, und es ist keineswegs zufällig, daß die ganz unmoralische sogenannte Romantik in Frankreich ihn fast ausschließlich als ihren deutschen Vorfechter anerkennt.

Immermann. Rückert. Chamisso

Wir sind hier endlich an den äußersten Grenzen der Romantik angelangt, wo sie kaum sich selbst mehr wiedererkennt. – Wenn ein vorzeitiger Herbst plötzlich hereinbricht, da werden die Wandervögel irr und schweifen unruhig hin und wieder und wissen nicht wohin, denn ihre Zeit ist noch nicht gekommen, die ihnen Weg und Richtung weist. Und so sehen wir auch die Singvögel, welche die wechselnden Jahreszeiten der nationalen Bildung bezeichnen, wir sehen die Dichter dieser Periode in hastiger, unsteter Geschäftigkeit und Ungenüge, dem Alten entfremdet und des Neuen noch ungewiß; man könnte sie die Heimatlosen nennen. Sie gehören, da sie keine Romantiker mehr sind, gleich Platen eigentlich auch nicht mehr in den Kreis unserer Betrachtung, und wir wollen daher nur drei der bedeutendsten unter ihnen – Immermann, Rückert und Chamisso – hier mit wenigen Worten noch erwähnen.

Immermann ist schon durch seine Individualität von seinen Vorgängern geschieden; eine starke, aber etwas herbe, durchaus [897] oppositionelle Natur, wesentlich ein Verstandesdichter, der nicht ergötzen, sondern belehren will. Er stellt sich schon frühe – mehr infolge gelehrter Studien als innerer Nötigung – außerhalb der Romantik mit seinen Dramen unmittelbar auf Shakespeare, mit seinen Romanen auf Goethe; und sein berüchtigter Kampf mit Platen ist, wenigstens von seiten Immermanns, weniger persönlich als vielmehr eine männliche Entrüstung, ein ethischer Ekel vor der prätentiösen Geziertheit der Romantik, wie sie seit Fouqué sich kundgegeben. Wie lose Immermann überhaupt nur noch mit dem Grundprinzip der Romantik zusammenhängt, beweist auch seine völlig gleichgültige Behandlung der katholischen Ansicht, z.B. in seinem »Trauerspiel in Tirol«, wo sie augenscheinlich das historische Grundelement bildet, und wo dennoch der den Hofer tröstende Engel nur noch als bloße theatralische Dekoration, mithin ganz ungeschickt und nutzlos, erscheint.

Aber zu scharfsichtig, um in der bloßen Opposition schon das positive Heil zu erblicken, und doch ohne die erforderliche eigne Produktionskraft, selbst neue Bahnen zu brechen, überkam ihn nach und nach eine allgemeine, oft ingrimmige Trostlosigkeit, als sei nun seit Goethe alles vorüber. Und in dieser natürlichen Verstimmung greift er, den Übergang zu der allerneuesten Literatur unwillkürlich vorbereitend, schon oft faktisch in die letztere hinüber, indem er jenen Übergang selbst, mit klarem, keinerlei Täuschung zugänglichem Bewußtsein zum Gegenstand seiner eigenen Dichtung macht. So in den »Epigonen«, deren Held Hermann mit moderner Blasiertheit zwischen der unvereinbaren Vielheit und ratlosen Zerfahrenheit der neuen Zustände und Tendenzen irrwischartig hin und her geworfen wird. »In unseren Geschichten«, sagt er am Schlusse dieses Romans, »spielt gleichsam der ganze Kampf alter und neuer Zeit, welcher noch nicht geschlichtet ist.« – Daß er aber auch in Immermann nicht geschlichtet war, beweist der fast verzweifelte, immer neue Anlauf, den er zu immer neuen, ganz verschiedenartigen Produktionen genommen, zum freien und bühnengerechten Drama, zur Lyrik, zum Roman und zum Epos, um wenigstens für sich zu einem vergeblich angestrebten, poetischen Frieden zu gelangen.

Auch Friedrich Rückert gehört, gleich Immermann, zu den Flüchtlingen der Romantik. Noch teilt er, zumal in seiner frühesten Zeit, als er unter dem Namen Freimund Reimar auftrat, [898] fast alle Neigungen und Bahnen der Romantiker. Durchaus edel, sittlich, die Schönheit ehelicher Liebe innig feiernd, sehen wir auch ihn in den verhängnisvollen Jahren Deutschlands den romantischen Banner altritterlicher Tugend und Treue keck aufrichten, und aller männliche Ernst und Liebeszorn Friedrich Schlegels leuchtet in ihm noch einmal auf, wenn er z.B. in seinen geharnischten Sonetten sein Volk anredet:


»Was schmiedst du, Schmied? ›Wir schmieden Ketten, Ketten.‹
Ach, in die Ketten seid ihr selbst geschlagen.
Was pflügst du Baur? ›Das Feld soll Früchte tragen.‹
Ja für den Feind die Saat, für dich die Kletten.
Was zielst du, Schütze? ›Tod dem Hirsch, dem fetten.‹
Gleich Hirsch und Reh wird man euch selber jagen.
Was strickst du Fischer? ›Netz dem Fisch, dem zagen.‹
Aus euerm Todesnetz, wer kann euch retten?
Was wiegest du, schlaflose Mutter? ›Knaben.‹
Ja, daß sie wachsen und dem Vaterlande,
Im Dienst des Feindes, Wunden schlagen sollen.
Was schreibest, Dichter, du? ›In Glutbuchstaben
Einschreib ich mein und meines Volkes Schande,
Das seine Freiheit nicht darf denken wollen.‹«

Ja, er hat insbesondere eine Richtung der Romantik, die Meisterschaft in der Form, bis zur äußersten Vollendung ausgeführt.

Hierin dürfte zwar mancher Platen über ihn stellen; allein bei Platen ist es vielmehr Sache des Gelehrten als des Dichters, man fühlt überall unwillkürlich das Studium, die Absicht und Prätention heraus. Bei Rückert dagegen scheint das Schwierigste und Unerhörteste, weil es wirklich poetisch durchgeistet ist, sich von selbst zu verstehen, es ist, als hätte er eben nur eine feinere Hand, um jedem verborgenen Triebe der deutschen Sprache seinen ungehinderten, natürlichen Wuchs zu geben und viele seiner kühnen Reimverschlingungen gleichen musikalischen Fugen, die, eine geheimnisvolle Melodie in ihren seltsamsten Kombinationen verarbeitend, zuletzt dennoch zu rechtem Klang und Abschluß kommen.

Dieses bewunderungswürdige Formentalent, dem nichts Fremdes fremd ist, erklärt andrerseits auch seine Neigung und [899] seinen Beruf zu einer gewissen universalen Auffassung der poetischen Literatur. Seine Poesie durchläuft fast die ganze Skala der Dichtkunst, vom deutschen Volksliede und einfachen Märchen, durch alle Irrgewinde romanischer Kunstformen bis in die Rosengärten von Schiras, und seine sogenannten Übersetzungen bleiben dennoch deutsch, weil er überall eben nur jenen allen Nationen gemeinsamen Klang zu erkennen und anzuschlagen weiß, von dem er sagt:


»Daß über ihrer Bildung Gang
Die Menschheit sich verständ'ge,
Dazu wirkt jeder Urweltsklang,
Den ich verdeutschend bänd'ge.«

Wir haben schon öfters erwähnt, daß die Romantik dieselbe universelle Tendenz hatte. Allein sie suchte sie auf andere Weise geltend zu machen. Sie ging weniger auf den bloßen Klang, sondern wollte vielmehr das Ganze auf die aller modernen Poesie gemeinsame Grundidee, auf ihr christliches Element, zurückführen; während Rückert die mannigfachen Lebensströme der Völker in ihrem bloß musikalischen Zusammenhange gleichmäßig nebeneinander gewähren läßt, ohne tiefer nach ihrer gemeinschaftlichen Quelle zu fragen.

Er ist daher in seinen Dichtungen ein ebenso vollkommener Brahmine als Mahommedaner oder mittelalterlicher Katholik. So hat er allerdings mehrere recht schöne christliche Lieder und sagt in einem seiner Abendlieder:


»Mich fasset ein Verlangen,
Daß ich zu dieser Frist
Hinauf nicht kann gelangen,
Wo meine Heimat ist.«

Aber eben diese Heimat wird ihm nicht recht klar. Seine Frömmigkeit bleibt ein ästhetisches Gefühl, das meist in der schönen Form aufgeht, und daher, weil ein solches Gefühl einem ernsten Gemüt nimmermehr genügen kann, häufig durch einen Anhauch von Ironie sich selber paralysiert, wie z.B. in der »Bitte um Anstellung in der anderen Welt«. Ja, diese Formenseligkeit hat ihn sogar verführt, die heiligen Evangelienbücher durch kunstreiche Verse ausschmücken zu wollen. Die religiöse Unentschiedenheit des bloß ästhetischen Gefühles aber, da es Zeit und Ewigkeit, das Diesseits und Jenseits nicht [900] im christlichen Sinne als ein sich wechselseitig bedingendes und ergänzendes Ganze lebendig aufzufassen vermag, erzeugt überall jenen inneren Zwiespalt, der das Leben unnatürlich zerklüftet, indem er Lust und Leid, die Sinnenwelt und das Gottesreich, als zwei unversöhnlich feindliche Gewalten einander entgegenstellt, während doch jene nur die sichtbare Brücke zum Unsichtbaren bildet. Und so klagt auch Rückert, wo er sich vielmehr des eigenen Mangels zeihen sollte, das Christentum an und ruft mißmutig aus:


»Ich war schon ziemlich ein Christ,
Und wär es noch mehr geworden;
Doch mir verleidet ist
Auf einmal der ganze Orden.
Ihr machet es mir zu toll
Mit eurem christlichen Leide;
Mein Herz ist noch freudenvoll,
Darum bin ich ein Heide.
Bricht einst mein Lebensmut,
Dann könnt ihr vielleicht mich erwerben;
Denn eure Lehre ist gut
Zu nichts auf der Welt als zum Sterben.«

Auf diese Weise die christliche Vermittlung der Gegensätze zurückweisend, erstrebt er denn auch in der Religion eine universelle Ansicht, die alle Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gleichmäßig umfassen, erklären und rechtfertigen soll.

Bei den Romantikern deutet die Natur nur sehnsüchtig und symbolisch das Überirdische an, bei Rückert ist sie selber Gott und Mensch und alles. Er war daher auch der erste, der den geheimen Pantheismus, welcher in der Romantik nur fragmentarisch oder in mystischen Sprüchen erscheint, in der Poesie praktisch und zur Seele seiner überreichen Lyrik gemacht hat, und es ist in der Tat keine bloße poetische Redensart, wenn er ausruft:


»O Sonn, ich bin dein Strahl, o Ros, ich bin dein Duft,
Ich bin dein Tropf, o Meer, ich bin dein Hauch, o Luft!«

Chamisso endlich ist ein Heimatloser schon durch seinen Lebenslauf. In Frankreich geboren und in Deutschland gebildet, ist diese seine Beidlebigkeit nicht ohne Einfluß auf seine [901] Dichtung geblieben. Ein deutsches Gemüt, keusch, ehrenhaft, treu in der Freundschaft, sittlich und fleißig; bei einem durchaus französischen Naturell, das mit großem Geschick auf das Äußerliche, Kunstreiche gerichtet, aber ohne nachhaltige Tiefe und indifferent in religiösen Dingen. Daher, weil ihm die wesentliche Innerlichkeit und Hauptbedingung der Romantik fehlte, wußte er sich nicht reinzuhalten von absichtlicher Effektmacherei. Die stille, unsichtbare Gewalt der Poesie, die er gar wohl ahnte, genügte dem Deutschfranzosen nicht, er wollte sogleich den praktischen Erfolg sehen, sie sollte »packen«, wie er sich oft mündlich auszudrücken pflegte; und so zerrte er, in neufranzösischer Manier, die Romantik nicht selten ins Schauerliche und Gräßliche hinüber. – Das erste Auftreten eines Dichters in ursprünglicher, rücksichtsloser Jugendfrische ist in der Regel sein geistiges Signalement für die ganze Lebenszeit. Chamissos erstes Debüt aber war ein Mißgriff. Das sogenannte rote Taschenbuch, wo er mit seinen ersten Versuchen sich kopfüber in die Romantik stürzte, ist wegen seiner abenteuerlichen Übertreibungen sprichwörtlich, ja später ihm selber ein Greuel geworden, und beweist eben nur, wie wenig er eigentlich gleich vom Anbeginn mit der Romantik innerlich sympathisierte. Im Grunde hat er in seinem »Schlemihl« nur sein eigenes Dichtergeschick niedergelegt: den ewigen Konflikt von Schein und Sein, die er, wiederum französischerweise, in seinen Gedichten so häufig verwechselt. Dieses wunderliche Märchen, das durch seine pikante Unbestimmtheit sich überall beliebt gemacht, gehört zu jenen glücklichen Aperçus, deren Wert und Bedeutung die Poetischen in der Philosophie, die Philosophischen in der Poesie suchen.

Schluß

Wenn wir nun die kurze Laufbahn der Romantik, wie wir sie vorstehend in ihren einzelnen Führern zu bezeichnen versucht, noch einmal im ganzen überschauen, so sind es vorzüglich zwei charakteristische Momente, die sie von andern Literatur-Epochen unterscheiden; erstens die Allgemeinheit des geistigen Umschwungs, der nicht etwa, wie in früheren Perioden, die Poesie allein oder wohl gar nur einzelne Gattungen derselben, sondern den ganzen Ideenkreis erfaßte; und zweitens [902] das religiöse Grundwesen dieses Umschwungs, welcher eben deshalb ein so totaler sein mußte, weil ja die religiösen Gefühle und Überzeugungen überall das geheimnisvolle Senfkorn sind, aus dem die Gesamtbildung einer Nation emportreibt.

Wir haben bereits oben erwähnt, wie die Reformation in ihrem natürlichen Fortgange jene Bildung auf das emanzipierte Subjekt gestellt und dadurch in allen ihren Zweigen gründlich alteriert hatte. Fichtes Anfang in seinem System des absoluten Ichs (1794) bildet nur die Spitze aller wissenschaftlichen Konsequenzen der Reformation. Dieses absolute Ich nämlich, unter Negation aller bestehenden Wirklichkeit, produziert, wie anderswo treffend gesagt wird, selbst erst durch einen Akt der höchsten Freiheit, durch sein erkennendes Handeln, d.i. durch sein Bewußtsein, die wahre Wirklichkeit und ist somit sein eigner Gott und Schöpfer der Welt, die nur in diesem Bewußtsein existiert. – Hier aber war in der Tat der Protestantismus an dem unvermeidlichen Abgrunde angelangt, gegen den kein weiteres Protestieren mehr galt; er mußte sich entweder kopfüber hinabstürzen oder, wider seine Natur und erträumte Omnipotenz, zu dem ursprünglich Göttlichen über dem Ich wieder zurückkehren. Das letztere versuchte Schelling philosophisch zu vermitteln, indem er das Ideale und Reale als Eines begründete im Absoluten, aus dem das Ich und die reale Welt hervorging und das also die Identität von Natur und Geist oder Gott selber ist. Dieser Totalanschauung des Lebens gemäß sind Wissenschaft und Religion Emanationen jenes Absoluten, die Weltgeschichte nur die Selbstentwickelung und Offenbarung desselben, der Staat sein organischer Körper, die Schönheit aber die endliche Darstellung des Unendlichen vermittelst der Kunst, welche mithin eine unmittelbare Offenbarung Gottes im menschlichen Geiste ist.

Man sieht aus diesen wenigen Andeutungen, wie nahe verwandt diese Philosophie der Romantik war, indem sie eigentlich eben nur das wissenschaftlich begründete, was gleichzeitig die Romantik an den einzelnen Erscheinungen des Lebens poetisch nachzuweisen strebte. Auch die Romantik nämlich betätigte, wie wir oben sahen, ihre tiefgehende Opposition gegen die Folgen der Reformation vorzüglich dadurch, daß sie dem allmächtigen Subjekt ein Absolutes, die positive Religion, entgegenstellte. Auch sie begriff das Leben und seine großen historischen Momente nur als Offenbarungen Gottes, und [903] Kirche, Staat und Volk hiernach als eine wenngleich selbständig gegliederte Einheit, wie sie allerdings im Mittelalter sich in Europa, und namentlich in Deutschland, zu einer gesunden Nationalität entfaltet hatte. In der Dichtkunst insbesondere aber bekundete sie diese ihre höhere und durchaus religiöse Weltanschauung durch die dem Christentum eigentümliche, versöhnende Liebe, die kein blind zermalmendes Schicksal anerkennt, nichts Großes und Edles diesseits vernichtend abbricht, sondern auch das Tragische nur als ein verklärendes Märtyrtum auffaßt. Ja, selbst in der Behandlung der Liebe im gewöhnlichen, engeren Sinne zeigt sich jenes Streben nach einer höheren Vermittelung des Realen und Idealen. Denn wenn die Romantik die Natur und deren geistigsten Ausdruck, die menschliche Schönheit, als ein Symbol des Göttlichen betrachtete, so mußte notwendig auch die Liebe, als das tiefere Gefühl dieser Schönheit, dem Göttlichen zugewendet und in den geheimnisvollen Kreis des Ewigen mit aufgenommen werden. Daher sagte Schleiermacher damals in seinen vertrauten Briefen: »Nun aber die wahre himmlische Venus entdeckt ist, sollen nicht die neuen Götter die alten verfolgen, sonst möchten wir verderben auf eine andere Art. Vielmehr sollen wir nun erst recht verstehen die Heiligkeit der Natur und der Sinnlichkeit, deshalb sind uns die schönen Denkmäler der Alten erhalten worden, weil es soll wiederhergestellt werden, in einem weit höheren Sinne als ehedem, wie es der neuen schönen Zeit würdig ist: die alte Lust und Freude und die Vermischung der Körper und des Lebens nicht mehr als das abgesonderte Werk einer eigenen gewaltigen Gottheit, sondern eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Verschmelzung und Vereinigung der Hälfte der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. Wer nicht so in das Innere der Gottheit und der Menschheit hineinschauen und die Mysterien dieser Religion nicht fassen kann, der ist nicht würdig, ein Bürger der neuen Welt zu sein.«

Und hier können wir nicht umhin, eines Vorwurfs zu gedenken, den man den Romantikern oft genug gemacht hat, eine laxe Moral nämlich bei Darstellung des Sinnengenusses. Ein solcher Vorwurf hätte nur da Sinn und vollkommene Berechtigung, wo das Gemeinsinnliche im kokett drapierten Gewande einer bloß konventionell idealen Tugendlichkeit in die Salons eingeführt werden soll, wie z.B. bei Wieland; oder [904] wenn es, wie in manchen neuesten Dichtungen, gradezu die Larve abwerfend, sich frech und nackt, als Göttin der Vernunft, zu allgemeiner Anbetung auf den Altar stellen will. Von beiden Todsünden aber müssen wir die Romantik, einige verhältnismäßig seltene Verirrungen aus unbewachter Lust abgerechnet, durchaus freisprechen; und Tieck, den jener Vorwurf vielleicht am häufigsten getroffen, sagt ganz richtig: »Nicht darin besteht das Verderbliche, daß man das Tier im Menschen als Tier darstellt, sondern darin, daß man diese doppelte Natur gänzlich leugnet und mit moralischer Gleisnerei und sophistischer Kunst das Edelste im Menschen zum Wahn macht und Tierheit und Menschheit für gleichbedeutend ausgibt.«

Wir sind gewiß weit davon entfernt, irgendeiner lüderlichen Literatur das Wort reden zu wollen. Aber ebenso entschieden müssen wir, um dem Dichter sein angeborenes Recht zu wahren, gegen das andere Extrem protestieren, daß in dieser religiös aufgeregten Zeit der Poesie um so größere Gefahr droht, als es sich in den Mantel christlicher Liebe hüllt und mit geweihten Waffen zu streiten scheint; wir meinen den unzeitigen Rigorismus kirchlicher Beschränktheit von der einen Seite und anderseits die Prüderie der Pietisten, dieser Pedanten der Sittlichkeit.

Die ersteren möchten am liebsten alles Sinnliche, namentlich alle Darstellung der Liebe, aus der Poesie verbannen, übersittlich und strenger als Christus, der selbst die Geschlechtsliebe durch die Ehe geheiliget hat. Sie wollen, allerdings ehrlich, nur das Überirdische, bemerken aber in ihrem blinden Eifer nicht, daß das Überirdische an sich undarstellbar ist, daß wir ja in aller Kunst nur die Sinnenwelt zum Maßstabe des Übersinnlichen haben, und daß mithin z.B. eine gute Darstellung der heiligen Jungfrau, so wie jedes Heiligenbild, ohne jenes lebendige Gefühl der irdischen Schönheit ganz unmöglich wäre. Es ist überhaupt wider die Weltordnung und hat jederzeit die meiste Verwirrung hervorgebracht, irgendeine nicht zu beseitigende Elementarkraft der Seele, weil sie dem Mißbrauch ausgesetzt, eigensinnig ignorieren zu wollen, anstatt sie vielmehr nach besten Kräften zu veredeln. Ist daher, nach menschlicher Voraussicht, durchaus keine Hoffnung vorhanden, die Liebe jemals gründlich von der Erde vertilgen zu können, so handeln diejenigen ohne Zweifel sehr unverständig, die sie von ihrem natürlichen Boden, von der Poesie, abzutrennen [905] trachten und, also entadelt, nur den niedern Begierden zum Raube vorwerfen. Eben weil die Liebe nur von Poesie lebt, bildet sie auch das unverwüstliche Grundthema aller Dichtungen, dessen höhere oder gemeinere Auffassung von jeher den wahren Dichter von dem unberufenen unterschieden hat.

Der Pietismus dagegen, zaghafter und ohne die entschlossene Begeisterung einer totalen Umkehr, die von keinen Konzessionen weiß, möchte zwischen jener klösterlichen Asketik und der weltlichen Zügellosigkeit sich in Poesie und Leben ein stillfrommes juste milieu zurechtmachen. Er will den Sinnengenuß und die Liebe sich allenfalls gefallen und wohlbekommen lassen, aber zugleich aus Furcht vor der Sünde die Lust neutralisieren. Die Farben sollen nicht brennen, die Blumen erst ängstlich fragen, ob sie nicht etwa zu kräftig duften und vielleicht ein paar Schwachköpfe berauschen könnten; das ganze gewaltige Leben soll in ein sanftes Handbuch der Moral umgeschrieben werden in usum Delphini: jener zerfallenen, wurmstichigen, hysterisch schreckhaften Unschuld, die aus jedem Blütenkelche nur ihr eigenes heimliches Teufelchen aufducken und ihr ein Schnippchen schlagen sieht. Aber die schwüle Langweiligkeit eines solchen englischen Sonntags ist, abgesehen von der dabei kaum zu beseitigenden Heuchelei, ohne Zweifel unheilbrütender als die unbefangene kecke Lust eines gesunden Volkes, das wieder einmal den Arbeitsschmutz der ganzen Woche von sich kehrt und sich innerlich stärkt. Denn rechte Freude ist eine ebenso starke Schwinge und lehrt ebenso herzinnig beten als die Not, weil beide, worauf es doch am Ende ankommt, die Rinde der trägen Gleichgültigkeit brechen, die das Herz vom Himmel scheidet. In jener temperierten, flauen, abgeblaßten Sitten-Diät und Selbst-Verhätschelung aber ist, wie in aller Halbheit, keine Erhebung.

Beide Gegner daher, die herben Asketiker wie die süßlichen Pietisten, würden, wenn das überhaupt tunlich wäre, in ihren Konsequenzen gar bald mit der Poesie fertig werden, die sie ohnedem, weil sie sie nicht verstehen, nur unwillig tolerieren. Denn eine kräftige Sinnenwelt ist das unabweisbare Material aller Kunst, und es ist gleichviel, ob die einen dieses Material ganz vernichten oder die andern es zu einer impotenten Negation verstümmeln wollen. Diese unerquickliche Leere aber, womit weder Gott noch Menschen gedient ist, müßte notwendig [906] wieder zur Lüge führen, d.i. zur falschen Sentimentalität, oder zu dem Surrogat einer abstrakten Unnatur mit körperloser Liebe und rhetorischer Tugend. Grade der frische Blick in die Welt und die tiefere Ahnung ihrer verhüllten geistigen Physiognomie bezeichnet den Dichter, dessen Sache es ist, nicht, wie der Vogel Strauß beim Anblick des Jägers, vor dem bunten Wirrsal feig den Kopf zu verstecken, sondern die sinnliche Erscheinung im Feuer himmlischer Schönheit zu taufen und vom Gemeinen zu erlösen. Nur in der wohlverstandenen, innigen Eintracht von Poesie und Religion also ist für beide Heil; denn die wahre Poesie ist durchaus religiös und die Religion poetisch, und eben diese geheimnisvolle Doppelnatur beider darzustellen, war die große Aufgabe der Romantik.

Allein mit der oben erwähnten Übereinstimmung und Hingabe der Romantik an die Naturphilosophie, so sehr sie auch den wechselseitigen Aufschwung fördern mochte, war doch unleugbar auch eine gefährliche Versuchung gegeben. Denn indem diese Philosophie alles unter dem Absoluten als eines zusammenfaßte, lag der extreme Irrtum nicht gar fern, welcher, wie Gott in der Welt, so die Welt und mithin auch jedes einzelne in jener allschaffenden, sich stets neugebärenden Weltkraft aufgehen läßt; mit einem Wort: jene dem mystisch gesteigerten Naturgefühl überall sehr gewöhnliche pantheistische Ausschweifung, wie wir sie in Werners frühesten Schriften bemerkt haben. Werner ist, nach mannigfachen Irrwegen, zur Kirche zurückgekehrt. Die Romantik aber entfernte sich auf der von ihm eingeschlagenen Bahn immer weiter von ihr, nicht gewahrend oder nicht beachtend, wie ihre ganze Bedeutung und das, was sie von früheren poetischen Schulen unterschied, eben darin lag, daß sie das Positive des Christentums, also die Kirche, in Leben, Kunst und Wissenschaft wieder frei und geltend zu machen übernommen. Nachdem dieser natürliche Boden einmal verschoben war, fing jeder an, anarchisch sich selbst seinen Katholizismus nach eignem poetischen Gelüsten zuzustutzen; und so entstand, gleich wie beim babylonischen Turmbau, allmählich jenes wunderliche Gemisch von Mystizismus, katholischer Symbolik und protestantischer Pietisterei, jener konventionelle Jargon altdeutscher Redensarten, spanischer Konstruktionen und welscher Bilder, der fast an des simplizianisch-deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepräng erinnert, und insbesondere bei Loeben (Isidorus [907] Orientalis) unbewußt sich selber parodiert. Da bezieht sich alles mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit der Poesie, aber die Poesie selbst, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift, ehe wir darüber reden, kommt nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu. Oder wer könnte wohl eine gelungenere Parodie von Novalis' Idee der Durchdringung und Erlösung der Welt durch die Poesie ersinnen, als Loeben in seinem sehr ernst gemeinten Romane »Guido« wider Wissen und Willen gegeben, wo es am Schlusse heißt:


»Tränen wohnen in den Düften,
In den Düften wohnt das Leben,
Leichtem Weben, lichtem Schweben
Losgegeben.«

»Die schlimme Zeit ist aus, das Suchen hat ein Ende. Die Asche ist weggeblasen, darunter auf dem Altar der Karfunkel gefunden. – Ein ewiger Tanz mit Träumen und Herzen soll unser Leben sein. – Weiter wurde der Kreis, durcheinander flogen die Tanzenden. Oben in der Luft tanzte der Adler und der Phönix, die Narzisse und die Hyazinthe zusammen; sie beschrieben unaufhörliche Kreise um die Sonne auf des Königs Haupt. – Und die Planeten faßten sich an und rannten um die neue Sonne, und die Sterne faßten sich an und brausten um die Unendlichkeit, und Milchstraßen tanzten mit Milchstraßen, und Ewigkeiten faßten Ewigkeiten an und immer schneller, immer schneller und schneller zuckten sie durcheinander und brannten auf und schlugen empor und stäubten verjüngend in die schmelzende Zeit hinein, und das Weltende jauchzte durch die sprühenden Funken hindurch, und die Walzer flogen um Gott.« – Andere nahmen die Sache schon leichter und tolerierten den Katholizismus, der ihnen nur noch ästhetische Gültigkeit hatte, als bloße Dekoration, wie z.B. Fouqué in seinen Ritterromanen; während andererseits der unpoetischeMüllner gar das heidnische Schicksal mit seinem türkischen Fatalismus in katholisch-spanischem Kostüm zu seinem Tragödien-Gott einsetzte.

Wo aber der positive Glaube abhanden gekommen, schwankt das immer bewegliche Zünglein des menschlichen Geistes ratlos zwischen den entgegen gesetztesten Extremen; und so [908] erweckt auch hier die pantheistische Zerstörung der Individualität gar bald wieder alle alten, zärtlichen Mitgefühle für das schnöd verkannte Subjekt. Indem jedoch die Romantik auf solche Weise mit dem Unglauben, dem modernen Aberglauben an die Allmacht des Subjekts, und allen den weltlichen Mächten, gegen die sie ja eben zu Felde lag, so mattherzig zu kapitulieren, ja zu kokettieren begann, hatte sie auch schon sich selbst säkularisiert. Es entstand in dem Feldlager Unsicherheit und Verwirrung und aus dieser Verwirrung, weil sie den Nerv des Ganzen traf, jene innere Zerrissenheit, welche die letzten Stadien der Schule charakterisiert und nichts mehr von der kecken Zuversicht und Morgenfrische weiß, mit der die ersten Romantiker im Vollgefühl des guten Gewissens ausgezogen.

Aber auch noch von einer anderen Seite, auf dem eigentümlich künstlerischen Gebiete der Romantik selbst, lauerte der Feind. In der zweideutigen Richtung, die Tieck mit seiner Ironie angegeben, lag schon der heimliche Abfall. Denn was die Romantik unternommen, konnte, wie wir gesehen, nur aus dem innersten Marke der Gesinnung, aus der tiefsten Wurzel des religiösen Lebens heraufgebaut werden; wir sagten schon früher, ihre Aufgabe war halb eine ethische, die romantischen Poeten aber nahmen sie bloß ästhetisch. Indem sie mit jener ironischen Vornehmheit sich über den Inhalt hinausstellten, ging ihnen dieser allmählich und unvermerkt in der bloßen Form auf. Es konnte daher nicht fehlen, die Form wurde zur Formel, und es entstand eine romantische Manier, wie sie z.B. in Fouqués Recken uns anwidert. Ja, der scharfe Akzent, den sie hiernach einseitig auf die bloße Form legten, und die darin erlangte Meisterschaft mußte, weil hier das Talent willkürlich zu schaffen schien, ihrerseits wiederum zu einer aristokratischen Selbstvergötterung, zu dem Genie-Kultus führen, der in manchen romantischen Dichtungen fast ausschließlich gefeiert wird.

So hatten nun allerdings die Romantiker – und hier erscheinen sie durchaus liebenswürdig – den Rationalismus aus allen seinen verjährten Positionen und Verstecken in Religion, Politik, Haus, Erziehung und Sitte unbarmherzig herausgejagt; vielleicht das ergötzlichste Halali, das jemals durch die Literatur erklungen. Das Feld, das sie damals auch in der öffentlichen Meinung vollständig behauptet, war mit papiernen [909] Lorbeerkränzen und Perücken bedeckt, und die zu Tod erschreckten Kahlköpfe, nachdem die wilde Jagd längst vorübergestürmt und sie selbst sich wieder stattliche Zöpfe angedreht haben, können die unerhörte Keckheit noch immer nicht vergessen, und rufen ihnen noch bis heute ingrimmig das entsetzliche Wort: Jesuiten! nach. Mit Recht nannte daher Goethe die Romantiker fürchterliche Gegner »aller Nichtigkeit, der Parteisucht für das Mittelmäßige, der Augendienerei, der Katzenbuckelgebärden, Leerheit und Lahmheit, in welcher sich damals die wenigen guten Produkte verloren«. – Allein es war bei ihnen mehr oder minder eben auch nur die frische Jagdlust, die sie so weit fortgerissen. Sie hatten sich durch das wuchernde Schlingkraut der rationalistischen Wüste zwar tapfer durchgehauen, stutzten aber, als sie nun plötzlich vor der vergessenen, alten Kirche standen; sie wollten allerdings das Positive, aber nicht aus orthodoxem Eifer, sondern um des Geheimnisvollen und Wunderbaren, um des schönen Heiligenscheins willen, der das Positive umgibt; sie gaben statt der heidnischen Mythologie eine christliche Mythologie; mit einem Wort: sie verfochten einen Glauben, den sie im Grunde selber nicht hatten.

Und das konnte auch füglich nicht anders sein. Wir sahen, der Inhalt der Romantik war wesentlich katholisch, das denkwürdige Zeichen eines fast bewußtlos hervorbrechenden Heimwehs des Protestantismus nach der Kirche. Daher auch die auf den ersten Blick befremdende Erscheinung, daß diese moderne Romantik grade im katholischen Süden nur wenig Anklang gefunden, weil eben hier die Poesie der Religion, die sie heraufbeschwören wollten, wenigstens im Volke noch fortlebte; man erstaunte oder lächelte über solche luxuriöse Anstrengungen für etwas, das sich ja von selbst verstand. Im nördlichen Deutschland dagegen, welchem die Romantiker angehörten, waren diese fast ohne Ausnahme protestantisch geschult und in der außerkirchlichen Wissenschaft und Lebensgewohnheit aufgewachsen. Sie mußten daher gleichsam sich selbst erst ins katholische Idiom übersetzen, das nicht ihre Muttersprache war; sie hatten dort frühzeitig schon vom Baume der Erkenntnis genascht und jene katholische Unbefangenheit und Unschuld verloren, die, weil sie es ganz ist, kaum weiß, daß sie katholisch sei; es fehlte ihnen mithin der natürliche Boden einer katholischen Gesinnung, die allein vermögend [910] war, ihre Überzeugungen zur lebendigen poetischen Erscheinung zu bringen. Daher ihre unsichere Haltung, dieser gemachte, sprunghafte, forcierte Katholizismus, der, stets unbefriedigt, immer über sich selbst hinausgeht.

In Hoffmann sahen wir das letzte aufflackernde Knistern der Flamme, die bereits allen Inhalt verzehrt hatte, und der endliche Sprung aus dieser Phantasterei zu dem neuesten Nihilismus hat hiernach kaum etwas Befremdendes mehr. Erging es doch längst schon den Romantikern ungefähr wie den römischen Auguren, die bei ihren feierlichen Weissagungen einander nicht ohne heimliches Lächeln ins Gesicht sehen konnten. Prozessionsmüde von ihrer Wallfahrt aus dem heiligen Lande zurückgekehrt, fühlten sie eine menschliche Sehnsucht nach den Fleischtöpfen der irdischen Heimat und schämten sich ihrer armen, schäbig gewordenen Pilgertracht vor der daheimgebliebenen Geistreichigkeit, die ihrerseits nicht unterließ, die Zurückgekehrten mit einer Marseillaise großmütig einzuholen. Heinrich Heine, ursprünglich selbst noch Romantiker, macht hierbei die Honneurs, indem er aller Poesie das Teufelchen frivoler Ironie anhängt, das jubelnd ausruft: Seht da, wie hübsch, ihr guten Leute! aber glaubt ja nicht etwa, daß ich selber an das Zeug glaube! Fast jedes seiner schönen Lieder schließt mit solchem Selbstmorde. Die Zeit hatte allgemach den Romantikern hinter die Karte geguckt und insgeheim Ekel und Langeweile vor dem hohlen Spiele überkommen. Das sprach Heine frech und witzig aus, und der alte Zauberbann war gelöst.

So gefährlich ist es, mit dem Heiligen zu spielen. Denn wer hochmütig oder schlau die ewigen Wahrheiten und Geheimnisse als beliebigen Dichtungsstoff zu überschauen vermeint, wer die Religion, die nicht dem Glauben, dem Verstande oder der Poesie allein, sondern allen dreien, dem ganzen Menschen angehört, bloß mit der Phantasie in ihren einzelnen Schönheiten willkürlich zusammenrafft, der wird zuletzt ebensogern an den griechischen Olymp als an das Christentum glauben und eins mit dem andern verwechseln und versetzen, bis der ganze Himmel öde und leer wird. Wahrlich, die rechte Poesie liegt ebensosehr in der Gesinnung als in den lieblichen Talenten, die erst durch die Art ihres Gebrauches groß und bedeutend werden. – Wie wenig aber diese spätere Richtung der Romantik nach dem Sinne ihrer Begründer war, beweist u.a. ein im [911] Morgenblatt veröffentlichter Brief A.W. Schlegels an Fouqué. Hier sagt nämlich der erstere schon im Jahre 1806: »Wie Goethe, als er zuerst auftrat, und seine Zeitgenossen, Klinger, Lenz usw. (diese mit roheren Mißverständnissen), ihre ganze Zuversicht auf Darstellung der Leidenschaften setzten, und zwar mehr ihres äußeren Ungestüms als ihrer inneren Tiefe, so haben, meine ich, die Dichter der letzten Epoche die Phantasie, und zwar die bloß spielende, müßige, träumerische Phantasie, allzusehr zum herrschenden Bestandteil ihrer Dichtungen gemacht. Anfangs mochte dies sehr heilsam und richtig sein, wegen der vorhergegangenen Nüchternheit und Erstorbenheit dieser Seelenkraft. Am Ende aber fordert das Herz seine Rechte wieder, und in der Kunst wie im Leben ist doch das Einfältigste und Nächste wieder das Höchste. – Die Poesie, sagt man, soll ein schönes und freies Spiel sein. Ganz recht, insofern sie keinen untergeordneten, beschränkten Zwecken dienen soll. Allein, wollen wir sie bloß zum Festtagsschmuck des Geistes, zur Gespielin seiner Zerstreuung? oder bedürfen wir ihrer nicht weit mehr als einer erhabenen Trösterin in den innerlichen Drangsalen eines unschlüssigen, zagenden, bekümmerten Gemüts, folglich als der Religion verwandt? Darum ist das Mitleid die höchste und heiligste Muse. Mitleid nenne ich das tiefe Gefühl des menschlichen Schicksals, von jeder selbstischen Regung geläutert und dadurch schon in die religiöse Sphäre erhoben. Darum ist ja auch die Tragödie, und was im Epos ihr verwandt ist, das Höchste der Poesie.«

Nicht in ihren Intentionen also lag der Fall der romantischen Poesie, sondern in ihrem eigenen Abfall von jenen Intentionen, und dieser Abfall wieder weit weniger in einer treulosen Felonie der Dichter als in der Gleichgültigkeit der Zeitgenossen.

Welche lebendige Romantik entfalteten z.B. der abenteuernde Herzog von Braunschweig, Schill und der Tiroler-Aufstand im Jahre 1809! Dennoch hatte der Sturm damals alles wieder verweht. Denn das Maß des Unglücks war noch nicht erfüllt und hatte die Eisdecke des Nationalgefühls noch nicht gebrochen. Aber jene leuchtenden Heldengestalten blieben mahnend im Angedenken der Menschen und waren Vorzeichen und Erwecker des Befreiungskrieges.

Ebenso verhallten die Klänge der romantischen Poesie in der harten Zeit, nur von wenigen innerlichst vernommen; [912] denn sie appellierte an ein katholisches Bewußtsein, das noch kaum erwacht und nirgend reif war. Sie mußte abfallen wie vorzeitige Blüten eineskünftigen Frühlings.

Aber, wir sagen es wiederholt, nicht ohne eigene Schuld, wie wir oben gesehen. Der Hochmut des Subjekts, der einst schon die Engel stürzte, hat auch die Romantik gestürzt. Und sofort begann auch die Literatur, als hätte sie nichts vergessen und nichts gelernt, ihr altes, kaum abgebrochenes Geschäft wieder, mit neuen, von der industriellen Zeit gelieferten Kunststücken, aber instinktartig mit demselben fanatischen Haß gegen die Kirche. Rahel, welche in diesem Betracht jene Übergangsperiode am schärfsten repräsentiert, schreibt im Jahre 1811 an Marwitz: »Es gibt nur Lokalwahrheiten, und die Zeit ist nichts als die Bedingung, unter welcher sie sich bewegen, entwickeln, leben, wirken. – Unsere Zeit ist die des sich selbst ins Unendliche, bis zum Schwindel spiegelnden Bewußtseins.« Und im Jahre 1820 ruft sie aus: »Es muß eine neue Erfindung gemacht werden; die alten sind verbraucht. – Die jetzige Gestalt der Religion ist ein beinah zufälliger Moment in der Entwicklung des menschlichen Gemüts und gehört zu seinen Krankheiten. Sie hält zu lange an usw.« – Bettina geht schon munter und praktischer ans Werk. Sie schreibt an die Günderode: »Laß uns eine neue Religion stiften für die Menschheit, bei der's ihr wieder wohl wird.« Sie nennt diese neue Religion »Schwebereligion«. Der Mensch soll sich aus selbstbewußter Eigenmacht und ohne nach Traditionen oder Bildung zu fragen zu leiblicher und geistiger Gesundheit herausgestalten, was ihn doch allein glücklich mache. »Mir deucht«, sagt sie, »mit den fünf Sinnen, die uns Gott gegeben hat, könnten wir alles erreichen, ohne dem Witz durch Bildung zu nahe zu kommen.« – Diese Schwebereligion ist also im Grunde wieder nichts anderes als die alte, nur etwas anders modulierte Glückseligkeitstheorie der Persönlichkeit. Denn ihr Gott ist nicht etwa die absolute Weisheit, wie die Kirchenväter irrtümlich behaupten, sondern »Gott ist die Leidenschaft« in der Menschenbrust, und »wer nit denkt, lernt nit beten«. – Wie aber das solchergestalt freigewordene Subjekt dachte und beten lernte, zeigt Heine, der die neuerfundene Religion, mit ironischer Zerstörung jener weiblich-poetischen Illusionen, aus ihrer Schwebe endlich auf ihre eignen, natürlichen, massiven Beine setzte. Das Christentum nämlich erklärt [913] er gradezu für eine unausführbare Idee, weil es, als bloßer Spiritualismus, die Sinnlichkeit vernichten wolle; eine Prätention, die ihm und seinen Mitbetern außer allem Spaß liegt. Die Wahl ist daher bald getroffen: man schlägt den Geist tot, damit er die arme Materie nicht länger so impertinent inkommodiere, und der Humor des Ganzen ist sonach die möglichst gründliche Ausrottung alles störenden Gottesglaubens, dessen alte »Schweizergarde« das Judentum sei, oder mit anderen Worten: »die Rehabilitation der Materie«.

Diese Abwendung vom Positiven konnte aber natürlicherweise nicht auf das religiöse Gebiet allein beschränkt bleiben, sondern trübte, gleich einer Krankheit, die gesamte Weltanschauung. Nachdem man jetzt aus der oben erwähnten romantischen Dreieinigkeit von Staat, Kirche und Volk das eine versöhnende Mittelglied religiöser Liebe wieder herausgenommen, stehen Staat und Volk unvermittelt, schroff und feindlich, als bloßes Recht und Gegenrecht, einander gegenüber, und anstatt der wechselseitigen freien Unterordnung unter ein Höheres über beiden, wie die Kirche sie lehrt, bleibt das Mißtrauen, der Haß, der Trotz, mit einem Wort: die endlose Revolution. – Ebenso folgerecht richtete sich jene verwandelte Ansicht ferner auch gegen die Nationalität. Denn alle Nationalität ist durchaus positiv, das allgemein Menschliche, durch das angeborene geistige Maß eines besondern Volkes, durch seine Geschichte, Klima und alles, was der Mensch nicht willkürlich zu machen vermag, bedingt, begrenzt, modifiziert und zur individuellen Physiognomie ausgeprägt. Gegen diese göttliche Offenbarung im Leben, wie gegen die geoffenbarte Religion, gegen diese höhere Waltung und Erziehung der Völker-Individuen, sträubt sich das für mündig erklärte Subjekt als gegen eine unleidliche, unwürdige Schranke. Und so ist es unter anderem auch in die Mode gekommen, anstatt der nationalen eine Weltliteratur herzustellen, die in ihrer notwendigen Rückwirkung alle echte Vaterlandsliebe zur bloßen altväterischen Grille macht. So wird namentlich die Poesie eine ganz allgemeine Phraseologie, und die Gestaltung im Drama, dem nationalsten aller Dichtungsarten, zum konventionellen Begriffsskelett. Und wie die Romantiker beinah ohne Ausnahme Schellingianer, so sind die jetzigen Poeten fast alle Hegelianer, nicht zum Vorteil der Kunst, die bei Hegel, als ein bloß interimistisches Zeichen und Surrogat der noch [914] nicht vollständig logisch vermittelten Idee, nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt.

Unsere neueste Poesie ist also im Grunde nur die Reaktion gegen die Romantik und hat alle von dieser quieszierten und vorlängst abgeschiedenen Geister als ihre Kampfgenossen wieder aufgerufen, die aber als bloße Revenants keineswegs ihre ursprüngliche Lebenskraft mehr bewähren. Da laufen alle Elemente und Richtungen gleichzeitig zusammen und prallen oft hart aneinander: der Humänitätskultus, die Sentimentalität, Pietismus, Kantsche, Schellingsche und Hegelsche Philosophie und politisches Bardengebrüll. Sie haben die Romantik überwunden, aber noch nichts Neues an deren Stelle gesetzt, indem sie das Alte, weil es sich modern kostümiert, für etwas Neues halten. Es ist eine bloße Übergangsperiode, alles noch im Kreißen und Gären begriffen, und wir müßten eigentlich hier schließen; denn es ist ganz unmöglich, ein Chaos zu umschreiben, die Geschichte einer Literatur auch nur anzudeuten, die sich noch keine bestimmte Physiognomie herausgebildet hat und in jedem Meßkatalog eine andere Miene macht. Doch läßt sich, wenn man genau hinsieht, noch immer der alte protestantische Familienzug deutlich erkennen, und man kann diese Literatur im ganzen als Negation, mithin als eine restaurierte Poesie des Verstandes bezeichnen.

Die Verstandespoesie wird aber jederzeit vorzüglich durch den Roman repräsentiert. Daher jetzt die noch immer steigende Sündflut von Romanen, und fast keiner darunter, wo nicht ein Stück modernster Philosophie abgehandelt und damit experimentiert würde. Es sind wesentlich Tendenzromane: für Sozialismus, für die frivole Salonweisheit, für Republik, Monarchie usw., die sich zum Teil untereinander auf das wütendste anfeinden, verleumden und bekriegen, aber sofort wie ein Mann zusammenstehen, wo es irgend etwa gilt, gegen das positive Christentum oder die Kirche Front zu machen. Hierbei spielt denn begreiflicherweise die alte Humanitätslehre wieder eine bedeutende Rolle: die Menschheit als ein Naturprodukt, ihre Veredelung als bloße Selbstdressur der ihr inwohnenden Kräfte. Da aber nun diese Kräfte in ihrem Grundtypus allerdings überall dieselben sind, so führt diese Ansicht notwendig zu einer wunderlichen Universalität und Weltbürgerei, die alles Eigentümliche planiert und verwischt. Es gibt fast keinen Winkel der Erde, wo sich unser Roman nicht schon angesiedelt [915] und gemütlich fraternisiert hätte; Spitzköpfe und Rundköpfe, Rothäute und andere Bärenhäuter werden frischweg unter ein und denselben Allerweltshut gebracht, als ob die Natur überall nacheiner philosophischen Schablone bilde und es nicht, wie in jedem Dorfe Hinz und Kunz, so auch in der Geschichte der Menschheit besondere Völkerindividuen gebe.

Diese vorherrschende Verstandesrichtung zeigt sich auch in der psychologisch-pragmatischen Liebhaberei unserer Romane. Welche langweilig breite Expositionen! Der innere Mensch wird, anstatt aller göttlichen Fügung und Leitung, aus lauter Lappalien und zufälligen Umständen, die sich bei seiner Geburt, Erziehung usw. maßgebend ereignet haben sollen, mathematisch konstruiert und erklärt: aus dem Fall des Kindes eine schiefe Nase, aus der schiefen Nase ein schiefer Charakter. Dieser pragmatische Aberglaube ist ohne Zweifel der nüchternste Fatalismus und führt von selbst auf das Dogma von der sklavischen Nachahmung der Natur. Solch Daguerreotyp-Porträt gibt freilich jedes Härchen und jede Warze wieder, aber das materielle Licht erkennt eben nur den Leichnam; der geistige Lichtblick des Künstlers kann erst das Wunderbare im Menschen, die Seele, befreien und sichtbar machen. Und eben weil die Phantasie ganz in den Hintergrund gedrängt und der Sinn von allem Mystischen und Wunderbaren abgewendet ist, so glitt die Poesie in natürlich wachsender Schwerkraft immer mehr vom Sein zum Schein, von der Religion zur Moral, von der Moral zum bloßen Anstand und von dem stets biegsamen und zweideutigen Anstande zum ästhetisierten Materialismus, der in endlich errungener Freiheit mit den Lüsten spielt wie das Tier.

Die Salonweisheit nebst obligatem Anstande haben besonders die Frauen zu ihrem Thema sich erwählt. Auch der Anstand aber, dieser echte Schein des Seins, hat seinen Pietismus und seine Freidenkerinnen. Der Pietismus erscheint hier als allerliebste Kirchgängerin mit einfach gescheiteltem Haar und einem zierlichen Herrnhuterhäubchen darüber, die vor lauter Besorgnis, sich gottselig zu kostümieren und zu bewegen, über jedes Steinchen stolpert und spröde die Männer verachtet, weil sie nicht ebenfalls Hauben tragen. Die Freidenkerinnen im Gegenteil lieben die Männer gar sehr, mit denen sie, so übel es ihnen auch bekommen mag, gern eine Zigarre rauchen. Sie halten abergläubig durchaus alles für erlaubt, ja für tugendhaft [916] im sublimeren Sinne, was in der schlechten Gesellschaft der sogenannten guten Gesellschaft geadelt und salonfähig ist, und schminken das Laster so dick mit modernster Geistreichigkeit, daß sie die darunter hervorgrinsende Totenmaske selber nicht merken. Beides ist im Grunde, nur nach verschiedenen Seiten hin, dieselbe kokettische Vornehmtuerei. Der Hauptakt aber in diesen Frauenromanen ist fast ohne Ausnahme: Entsagung. Wir bezeichneten oben die Entsagung als den spezifisch christlichen Heldenmut. Es kommt jedoch hierbei einzig und allein darauf an, was aufgegeben und wofür es aufgegeben werden soll. Es ist durchaus ein ganz ander Ding, ob Calderons standhafter Prinz einem königlichen Heldenleben um Gott und der Ehre willen, oder ob eine alte Jungfer aus sentimentaler Schonung eigensinniger Papas und schlimmer Tanten oder aus emanzipierter Überbildung, welcher kein Mann gut genug ist, dem Ehebett entsagt; jener wird durch seine Selbstaufopferung erst recht ein königlicher Held, diese ist und bleibt eine klägliche alte Jungfer.

Als Chorführer aber hat sich in neuester Zeit vorzüglich der historische Roman hervorgetan. Der historische und der philosophische Roman umschreiben so ziemlich die ganze Peripherie der Verstandespoesie, indem dieser Ideale macht, jener sich breit auf die Wirklichkeit stellt. Das ist nur eine Teilung dessellben Geschäfts, weshalb sie denn auch häufig ineinanderspielen; und es ist für diese Verstandesrichtung im Grunde gleichgültig, daß im philosophischen Roman aristokratisch ein Individuum, im historischen demokratisch das Volk den Helden vorstellt; denn beiderlei Helden lassen sich ebensogut willkürlich idealisieren als modernisieren. Und beides hat unser historischer Roman sattsam besorgt.

Es mag immerhin sein, daß der historische Roman erst durch den Freiheitskrieg, wo die Weltgeschichte wieder einmal erschütternd über den deutschen Boden schritt, bei uns in die Mode gekommen. Allein die romantischen Bivouacs, die schottischen Sansculotten, die Rotmäntler und Baschkiren waren denn doch nicht das Welthistorische dieses Kampfes, sondern die unsichtbare Oriflamme der Begeisterung war es, welche die bewaffnete Völkerwanderung aufgerufen und geführt. Aber diese ist vergessen, und die schmutzigen Baschkiren sind geblieben. So ist ja auch bei Walter Scott, dem eigentlichen Vater unserer historischen Romane, keineswegs [917] die Szenerie und sorgfältige Kostümierung das Bedeutende, diese ist vielmehr oft sehr langweilig; es ist die männliche Trauer, das Tragische des Untergangs einer edlen Nationalität. Was aber haben uns unsere van der Velde, Tromlitz, Blumenhagen u.m.a. dagegen geboten? Nichts als plauderselige Dekoration, Schwertergeklirr, Humpenklang und geharnischte Ritter mit Manschetten unter dem Eisenhandschuh und Gardereiter-Prahlereien im Munde. – Unsere bedeutendsten Romanhistoriker sind unstreitig Tieck in seinem »Aufruhr in den Cevennen« und zum Teil in den späteren Novellen; und Steffens in seinen drei notwegischen Romanen. Und doch sind jene Novellen so wie diese Romane eigentlich nur Tieck und Steffens selbst. Alle Kunst, wenn sie der Philosophie dienstbar ist, wird notwendig allegorisch; und so sind auch die Steffenschen Romane, bei allem oft glücklichen Streben nach Objektivität mehr oder minder bloße Allegorien philosophischer Sätze oder doch Dolmetscher der Lebensansichten des geistreichen Verfassers. Und als Tieck in den Novellen von seiner romantischen Weltschau zur Gegenwart hinabstieg, brachte er auch hier seine ironische Skepsis mit, die allen realen Boden wieder wegeskamotiert und uns nirgend wahrhaft heimisch werden läßt. Das eigentliche Ziel aber des modernen historischen Romans ist, wie schon oben angedeutet worden, in »Wilhelm Meisters Lehrjahren« am glücklichsten erreicht. Hier hat Goethe den verhüllten Geist einer denkwürdigen Entwicklungsperiode rein und scharf erkannt und ihn, indem er ihn frei walten läßt, mit allen seinen großen Bestrebungen und kleinlichen Torheiten durch eine meisterhafte Darstellung für die Nachwelt festzubannen gewußt. Als ein solcher Sittenspiegel würde in manchen Beziehungen auch Nicolais »Sebaldus Nothanker« gelten können, wenn der ganz prosaische Verfasser nicht beständig den Spiegel nach vorgefaßten Meinungen willkürlich verschöbe und verrückte, um die Dinge, nicht wie sie sind, sondern wie er sie durchaus sehen will, zu schauen; und wenn dieser höchst langweilige Roman vermöge seiner schwerfälligen Trockenheit überhaupt zur Poesie zählte.

Alle diese Romane aber haben das miteinander gemein, daß sie in dem Verlauf der Tatsachen nichts Wunderbares, mithin auch keine göttliche Offenbarung und Leitung anerkennen. Sie dulden keine Götter außer den natürlichen Dingen, die Gottheit waltet allein in dem Naturgeist oder ist vielmehr der [918] Naturgeist selbst, aus dem die Völkerindividuen wie anderes Kraut hervorwachsen. Der historische Roman hat, wie schon sein Name andeutet, allerdings nahe Verwandtschaft mit der Geschichte; und die Geschichte ist ohne Zweifel von hoher, ja bei weitem größerer poetischer Schönheit, als sie irgend ein Dichter je erfinden könnte. Allein sie ist es nur in ihren großen Hauptzügen und in dem wunderbaren Zusammenhange des Ganzen. Der historische Roman aber kann aus dem Ganzen immer nur Einzelnes herausheben, er ist der Kleinkrämer der Geschichte. Um nun diesen Miniaturring in die große fortlaufende Kette einzufügen und einigermaßen verständlich zu machen, wird gewöhnlich ein ganzer Apparat sekundärer Details und Beirats verbraucht. Daher bleiben so viele dieser Romane in der bloßen Exposition, in der umständlichen Beschreibung von Trachten, Turnieren und Redensarten jämmerlich stecken. Andere kühnere Autoren dagegen suchen sich in dieser Not auf dem kürzesten Wege zu helfen, indem sie die Jetztzeit antedatieren und der Vergangenheit frischweg das Kuckucksei ihrer modernen Weisheit unterlegen; gleich wie ja in einem ähnlichen Falle z.B. der Maler Lessing in seine neuesten Historienbilder alle gehässige Konfessionspolemik der Gegenwart hineingemalt hat. Hierdurch wird aber die Geschichtsverderberei, die schon bei Historikern von Metier nichts weniger als selten ist, als ein förmliches System traditionell gewordner Lügen auch in weiteren unwissenschaftlichen Kreisen populär und stabil gemacht; und wir besitzen einen bedeutenden Vorrat von dergleichen Romangeschichten, die rein tendenziös, also weder Gedichte noch Geschichte sind. Und so ist denn die Geschichte dieses Romans eigentlich nur die Geschichte der wechselnden Krankheitssymptome unserer Zeit, und fast alle übersahen vor lauter religiösen, philosophischen und politischen Hintergedanken, daß auch der Roman doch vor allem andern ein Gedicht sein muß.

Ähnliche, nur durch die Verschiedenheit der Gattung modifizierte, Erscheinungen charakterisieren auch unser neuestes Theater. Wir haben oben die historische Strömung des deutschen Dramas nachzuweisen versucht: wie dasselbe in der Gestalt der Mysterien in der Kirche seinen Ursprung genommen, dann, bei wachsender Verweltlichung durch Emanzipation der Zwischenspiele des Mysteriums unter dem Volke allmählich zum Fastnachtsspiele ausgeartet; nach dem Dreißigjährigen [919] Kriege aber, da das Volk verwildert war, in Nachahmung der Franzosen und Italiener als Staatsaktion, als Schäferei und Oper an die Fürstenhöfe gekommen; und endlich, seiner wesentlich demokratischen Natur folgend, zu den reichen und gebildeteren Städten überging, unter denen zunächst Hamburg den Vorrang behauptete. Und hier beginnt, mit Lessing, eigentlich erst unser neues selbständiges Schauspiel.

Allein Lessing war zu kritisch und zu wenig produktiver Dichter, um die neue Bühne, die ihn überdies nur transitorisch als Vorschule seines Scharfsinns interessierte, bleibend zu begründen. In seiner genialen Ungeduld hat er mehr nur die Grundzüge des neuen Schauspiels, wie es ihm vorschwebte, angedeutet, er zeigte eigentlich nur, wie man es nicht machen sollte, ohne das Bessere lebendig verkörpern zu können; und so ließ er die Sache, ehe sie fertig war, wieder fallen, um zu Wichtigerem fortzueilen. Es ist ihm hier wie später in den religiösen Dingen ergangen. Indem er kühn die Schranken der alten Schule niederwarf und die Natürlichkeit dagegen setzte, hatte er am Ende wider Willen nur dazu beigetragen, die allgemeine Anarchie noch zu vermehren. Daher sehen wir, nachdem die romantische Episode abgespielt, in unserem jetzigen Drama fast alle Phasen jener alten dramatischen Strömung, als wäre seitdem eben nichts geschehen, sich von neuem wiederholen, und zwar nicht etwa sukzessiv, sondern gleichzeitig und oft bei ein und demselben Dichter. So gewahren wir häufig wieder mittelalterlich-mystische Elemente und Züge, die aber, da der alte Glaube fehlt, in neuen Aberglauben umgeschlagen. Das alte Fastnachtsspiel, nachdem es seinen Hanswurst begraben, ist unmittelbar von dem Grabe des Dahingeschiedenen weinerlich und in eleganter Hoftrauer als feines Lustspiel mitten unter die Gebildeten getreten. Aber die alte unflätige Natur ist ihm geblieben, und die zahme kokettierende Lüderlichkeit mit der Prätention des Anstandes ist unendlich widerlicher und unsittlicher als die hanswurstische Flegelei. Dieses feine Lustspiel hat, wie alle Parvenus, eine sehr vornehme Miene angenommen. Es verachtet die lustigen Schwänke des Volks, desgleichen die natürliche Intrige und Sprache der einfachen plebejischen Liebe und handelt am allerwenigsten etwa wie Aristophanes oder noch Tieck in seinen Spottkomödien von den großen Welttorheiten und Irrtümern, sondern vertieft sich voll geckenhafter Eitelkeit lediglich in die konventionelle [920] Kleinkrämerei der gebildeten Sozietät; weshalb es denn, bei seiner pedantischen Ungeschicklichkeit, beständig aus Frankreich, wo diese Salon-Kleinstädterei zu Hause, Witz und vornehmen Jargon sich borgen muß. – Auch die grausame Staatsaktion endlich ist von neuem aufgelebt. Die alte Furie rast, nach Blut lechzend, wieder durch unsere Trauerspiele und Melodramen, wo Ehebruch, Blutschande, Notzucht, Mord und Totschlag, Operngebrüll und Paukenknall und eingeschobene Balletts gar anmutig miteinander abwechseln.

Besonders aber machen zwei Erbstücke aus dervorromantischen Zeit: das Schicksal und die Sentimentalität, unseren dramatischen Schriftstellern noch immer viel zu schaffen.

In der alten Tragödie stand die Willkür der Menschen der Willkür der Götter, eine Naturkraft der andern, schroff gegenüber, beide fast gleichberechtigt. Es konnte mithin hier nicht füglich von Aufopferung oder Ergebung, vielmehr nur von einem Kampfe auf Tod und Leben die Rede sein; und dieser Kampf war das heidnische Schicksal. Durch das Christentum aber ist an die Stelle dieses unversöhnlichen Widerstreits eine höhere, erbarmend waltende, göttliche Leitung getreten, deren Wege freilich oft unerforschlich, deren Gedanken, weil sie auf das Ganze des Weltalls gerichtet, nicht unsere Erdwinkelgedanken sind. Um nun diese empfindlich demütigende Weltansicht möglichst zu beseitigen, haben unsere Dramatiker vorzüglich dreierlei Auswege erfunden. Die einen setzen stolz den subjektiven Eigensinn gegen die objektive Wirklichkeit gegebener oder selbstgemachter Lebensverhältnisse, die sie vornehm Schicksal nennen. Allein dieser Eigensinn glaubt im Grunde weder an sich noch an seine Schicksalsfiktion, er hat kein ewiges Recht, sein Schicksal keine göttliche Übermacht, er rennt sich im fünften Akt dummerweise den Kopf ein, und das Schicksal lacht sich schadenfroh ins Fäustchen. Das ist der Liberalismus unserer antikisierenden Trauerspiele. – Andere, zahmer und serviler gesinnt, geben lieber gleich vorweg sich selber auf, indem sie die göttliche Leitung als eine pedantisch unabänderliche Prädestination hinstellen und daher einem völlig undramatischen Fatalismus verfallen. Da hört aber alle sittliche Freiheit und mithin auch aller tragische Kampf gleich im ersten Akte auf; der Held wird ein bloßer Automat, und das Ganze schnurrt wie ein einmal aufgezogenes Uhrwerk, mechanisch willenlos ab. – Die dritten endlich [921] erachten die göttliche Vorsehung, da sie sich unsern hochmütigen Plänen und Gelüsten so gar nicht affabel erweisen will, schlechthin für ein Regime von geheimen Naturkräften, necken den Kobolden, Ahnenfrauen, verhängnisvollen Dolchen etc., die hinter dem Vorhange spuken, um die armen Menschen zu erschrecken und zu ängstigen. Und diese Geisterseher, wie jene Fatalisten, bilden den eigentlichen Stamm unserer Schicksalstragödie, wie sie von Werner aufgebracht, dann von Grillparzer in seinen Anfängen, insbesondere aber von Müllner und dessen Nachahmern des breiteren ausgesponnen worden. Die Sachen sind aber durch das Christentum in dem allgemeinen Bewußtsein durchaus anders gestellt und diese Tragödien mithin nur noch ein leeres Spiel mit hohlen Begriffen. Die neuere christliche Tragödie dagegen hat in der Tat nur eine Bahn: den Kampf mit den dämonischen Kräften, nicht draußen, sondern in der Menschenbrust selbst, die beständig gegen die göttliche Führung rebellieren, und die Versöhnung dieses Kampfes durch die Liebe.

Wir haben vorhin unter den aus der Zopfzeit überkommenen Erbstücken auch die Sentimentalität genannt und dieselbe schon früher als die geschäftige Schönfärberei des an sich Farblosen und Alltäglichen kennengelernt. Seitdem ist aber diese Erbsünde gleichfalls an ihr natürliches Maß herangewachsen und stärker und impertinenter geworden. Sie begnügt sich nicht mehr mit dem harmlosen Vergnügen, die schmutzige Wäsche des häuslichen Philisteriums rein zu waschen, gefallene Mädchen unter die Haube zu bringen usw.; sie verbreitet nun ihre zärtliche Sorgfalt auf den Schmutz der ganzen Menschheit. Die armen, von Religion und Moral bisher so arg bedrängten Sterblichen sollen sich endlich nicht länger genieren und von der trübseligen Delinquentenreligion des bleichen bluttriefenden Juden Christus, der der Welt alle Freuden geraubt, tyrannisieren lassen; zu ihrer größeren Bequemlichkeit und Erleichterung soll fortan die Materie Gott nur der Sinnengenuß heilig und das ganze Leben ein allgemeiner Karneval auf Erden sein. – Viele der neueren Schauspiele, und bei weitem die meisten unserer sozialen Romane, sind offenbare Studien zu diesem Simonismus der Sinnlichkeit. Vorzüglich aber ist dieses menschenfreundliche Evangelium in alle Welt ausgefahren durch unsere modernste Lyrik, die in der Tat bereits ihre Saturnalien feiert und das goldene Kalb des [922] Materialismus jauchzend umtanzt. Einige Melancholiker unter ihnen spielen zwar nebenbei auch noch die Zerrissenen und haben Byrons finstere Maske angetan. Allein Byron war wirklich zerrissen, was immerhin einen tragischen Effekt macht; diese Poeten dagegen zerreißen kindisch sich selbst oder lassen sich vielmehr von ihren imaginären Bestien zerreißen, um wie römische Gladiatoren in der Arena zum Ergötzen des erstaunten Publikums in malerischen Stellungen zu verbluten. Der maitre de plaisir aber auf diesem Karneval ist Heinrich Heine; und es dürfte die Schar seiner Nachtänzer billig entrüsten, daß er, wie es heißt, in seinem Testament sich herabgelassen hat, wieder Gott einzusetzen und die Unsterblichkeit der Seele zu dekretieren.

Ungeachtet dieser ephemeren Erscheinungen indes, ja zum Teil aus natürlicher Opposition dagegen, haben die Stimmungen der Welt sich mannigfach wieder anders verteilt und gestaltet. Schon Novalis, wie wir oben gesehen, sagte prophetisch: daß die Zeit der Auferstehung gekommen und grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden. Aus der Vernichtung alles Positiven hebe die Religion ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor; in Deutschland könne man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen.

Und in der Tat, wer erkennt in Deutschland die religiösen Zustände, wie sie zur Zeit der Romantik gewesen, heute noch wieder? An dem Kölner Ereignis sich selbst besinnend, in der herben Schule des Hohns und der Verfolgung seitdem erwachsen und gestählt, erstand überraschend eine unsichtbare Macht, etwas, das niemand erfunden, geführt oder geordnet, das die Romantiker träumten und selber nicht hatten – eine katholische Gesinnung. Und ihr gegenüber hat sich in dämonischem Instinkt aller Ingrimm des alten Rationalismus, der seinerseits konsequent nun beim nackten Heidentum angelangt, trotzig gelagert; Leipziger Plauderkonzile gegen eine Million Trierscher Wallfahrer; emanzipiertes Fleisch gegen das Brot des Lebens, eine Dichtkunst endlich, die keine Poesie mehr ist: eine in Haß und Hoffart betrunkene Rhetorik, die fanatisch die Freiheit des Blocksbergs proklamiert.

Welchem dieser beiden Heereslager, wenn auch vielleicht nach heißen Kämpfen, zuletzt der Sieg bleiben wird, ist uns, [923] mit Novalis, nicht zweifelhaft. Bei dem unverwüstlichen Ernste der Nation wird in Deutschland über kurz oder lang eine der Romantik in ihren ursprünglichen Hauptrichtungen mehr oder minder verwandte Reaktion sich geltend machen, nachdem jene Revolution, immer breiter die Massen durchdringend, einstweilen die Romantiker übergerannt und uns zum Ersatz nichts anderes als die vorlängst abgespielte Aufklärerei, nur mit veränderten Redensarten, wiedergebracht hat. Denn vergeblich will der Rationalismus, wie er sich jetzt als Kirche zu konstituieren strebt, nun auch seine aparte Poesie haben; beides unmöglich, weil er, seiner Natur nach, ebenso antikirchlich als unpoetisch ist. Tröstlich aber und als Pfand der Zukunft bedeutungsvoll ist es, zwischen jenen ungeheuern Staubwolken, aus denen uns nur stechende Augen und von Leidenschaften widerlich verzerrte Gesichter entgegenstieren, schon jetzt immer mehreren Dichtern zu begegnen, die das Herz haben, mitten in dieser Verwirrung einen andern Banner zu entfalten. Wir nennen hier nur Emanuel Geibels »Gedichte«, Adalbert Stifters »Studien«, und Annette von Droste-Hülshoff, die in ihrem »geistlichen Jahr« wahrhaft übermächtig mit den Zweifeln und Versuchungen der modernen Bildung ringt, bis Lust und Schmerz sich in göttlicher Liebe verklären.

Alle guten Geister loben Gott den Herrn. Mit diesem einfachkräftigen Exorzismus haben unsere frommen Vorfahren von jeher allen bösen Spuk gebannt und sind unangefochten hindurchgegangen. So wollen wir denn, auch in der Poesie, desgleichen tun gegen den lärmenden Hexensabbat unserer neuesten unschönen Literatur, wo die Konfusion endlich so groß geworden, daß die Christen heidnisch und die Juden (wie Berthold Auerbach in seinen Dorfgeschichten) christlich dichten. Hat doch die verblichene Romantik die blanke Waffe meisterhafter Formen uns so gut wie jenen hinterlassen, ja, was die Romantik Großes und Edles angeregt und jene nun als mittelalterliche Tradition zurückweisen, ist ein bedeutendes Vermächtnis, das der neuerstarkten katholischen Gesinnung allein zugute kommt, um daraus jener lügenhaften Phantasterei eine wahrhafte Poesie wieder entgegenzusetzen. Nicht durch juvenile Wiedererweckung der Romantik, wie die süßlichen »Amaranthen« und »Sieglinden« vergeblich versucht, noch durch absichtsvolle Kontrovers- und Tendenznovellen, womit die Gegner ihrerseits alle heitere Poesie hinwegdisputieren, [924] sondern einzig durch die stille, schlichte, allmächtige Gewalt der Wahrheit und unbedeckten Schönheit, durch jene religiös begeisterte Anschauung und Betrachtung der Welt und der menschlichen Dinge, wo aller Zwiespalt verschwindet und Moral, Schönheit, Tugend und Poesie eins werden. Gesundheit und Freudigkeit gegen blasierte Zerrissenheit, fromme Naturwahrheit gegen gespreizte Lüge, eine Poesie der Liebe gegen die Poesie des Hasses. Es sei keine Propaganda des Katholizismus; aber eine allem Unkirchlichen durchaus fremde Gesinnung, die alles Leben nur an dem mißt, das allein des Lebens wert ist, und die wir heutzutage getrost eine katholische nennen dürfen; das Ganze umgebend, wie die unsichtbare Luft, die jeder atmet, ohne es zu merken. Denn das ist ja eben das poetische Geheimnis des religiösen Gefühls, daß es wie ein Frühlingshauch Feld und Wald und die Menschenbrust erwärmend durchleuchtet, um sie alle von der harten Erde blühend und tönend nach oben zu wenden. Es sei mit einem Wort: eine der Schule entwachsene Romantik, welche das verbrauchte mittelalterliche Rüstzeug abgelegt, die katholisierende Spielerei und mystische Überschwenglichkeit vergessen und aus den Trümmern jener Schule nur die religiöse Weltansicht, die geistige Auffassung der Liebe und das innige Verständnis der Natur sich herübergerettet hat. – »Es ist nicht not«, sagte schon Brentano einst, »in der Kunst das Vortreffliche anzuschaffen, es ist not, das Schlechte, Falsche, Verkehrte abzuschaffen, denn alles Vortreffliche erblüht aus dem Rechten und Wahren.« Was hat der ewige Himmel mit jenen vorüberziehenden schmutzigen Staubwirbeln zu schaffen? Wandeln doch die alten Sterne noch heut, wie sonst, die alten Bahnen und weisen noch immer unverrückt nach dem Wunderlande, das jeder echte Dichter immer wieder neu entdeckt. Wo daher ein tüchtiger Schiffer, der vertraue ihnen und fahr in Gottes Namen!

Fußnote
Note:

1 Wir bemerken hier beiläufig, daß unter Werners 1840 gesammelten Gedichten ein Kriegslied abgedruckt ist, das schon 1815 in Schenkendorfs Gedichten vorkommt; wahrscheinlich also eine unter Werners Papieren vorgefundene Abschrift des Schenkendorfschen Liedes.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Eichendorff, Joseph von. Essay. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-98D5-1