41. Die Riesensteine.

Mündlich.


Hin und her zerstreut in der Lüneburger Heide findet man große Steinblöcke, Riesensteine genannt. Manches Jahr haben sich die Gelehrten den Kopf darüber zerbrochen, wie solche wohl dahin gekommen, und haben es nicht ergrübelt. Ich weiß es, denn ein Schäfer in der Heide hat mir's erzählt; und du sollst es nun auch erfahren, denn ich will dir erzählen, was mir der Schäfer gesagt hat.

Vor vielen hundert Jahren hausten in der Lüneburger Heide, besonders in der Gegend zwischen Fallersleben, Gifhorn, Ülzen und Lüneburg, drei Riesen, die waren so groß wie Bäume; eine ausgerißene Tanne war ihr Spazierstock, und sie waren der Schrecken der ganzen Gegend und trieben mit den Menschen ihr[136] Spiel, bald im Bösen, bald im Guten, wie es ihnen ihre Laune eben eingab. Besonders gieng es, wenn sie hungerig waren, den Müllern und Bäckern schlecht: den Windmüllern packten sie in die Mühlenflügel, daß das Gewerk plötzlich stille stand; den Waßermüllern legten sie sich quer durch den Mühlengraben und dämmten mit ihren Leibern das Waßer ab, und nicht eher wurden beide der Plagegeister los, als bis sie all ihr Mehl verbacken ließen und das Brod den Riesen gaben. Ebenso schlecht ergieng es den Bäckern, wenn sie nicht gleich zum Geben bereit waren: die Riesen legten ihre zarten Hände auf die rauchenden Schornsteine und bliesen auch wohl von oben hinein, daß der arme Bäcker mit Frau und Kind aus seinem eigenen Hause flüchten mußte vor Qualm; und wenn er alsdann seinen Vorrath von Lebensmitteln herausgab, so verzehrten sie alles und zogen lachend von dannen. Den Fuhrleuten hingegen, oder vielmehr den Pferden, waren sie oft gefällig: wenn die armen Thiere ihre Karren mühsam durch die schlechten Sandwege schleppten und nicht mehr weiter konnten; so kam oft ein Riese herangeschritten, warf die Pferde sammt dem Fuhrmann auf den Wagen und trug alles über die Sandschellen bis auf beßern Boden.

So trieben sie ihr Wesen manches Jahr, bis sie endlich dieser Tändeleien überdrüßig wurden und hin und her sannen, ob sie nicht ein Werk beginnen könnten, welches ihnen auf längere Zeit Beschäftigung gewähre und beßere. Und richtig! sie fanden eins. Die Qual der Pferde, die ihnen im Grunde lieber waren als die Menschen, war ihnen schon lange zu Herzen gegangen, und sie sprachen unter einander: »Wir wollen mitten durch die Heide eine Heerstraße bauen, die ihres Gleichen nicht haben soll auf Erden, und alle Fuhrleute, die dann noch ihre Pferde quälen, wollen wir auffreßen!« Denn Menschenfleisch war ihnen ein Leckerbißen. Als sie nun aber beginnen wollten, da, da fehlte es ihnen an Steinen, und in der Nähe waren nirgends welche zu haben. Zwar hätten sie solche leicht vom Harzgebirge holen können, doch dahin wagten sie sich nicht; denn sie hatten den Helljäger erzürnt, der dort wohnte, und mit dem ist nicht zu spaßen! Nun [137] aber wußten sie aus ihrer Jugendzeit, daß im Norden noch ein Land liege, wo es viele große Steine gebe; und so waren sie aus aller Verlegenheit. Denn war der Weg dahin auch noch so weit; was verschlug ihnen das? Alle vier Schritte eine Meile – das schafft schon was in einem Tage, und sie hatten noch dazu nicht im geringsten zu eilen. So schritten sie munter darauf los; aber, o weh! da kam ein großes Waßer! Doch auch hier wußten sie Rath: sie rißen große Eichen aus, machten eine Flöße davon und schifften rüstig durch das weite Weltmeer. Als sie in dem kalten Lande ankamen, das hinter der See in Mitternacht liegt, bröckelten sie Stücke von den Bergen so groß wie ein Haus und packten eins auf jede Schulter; zwei kleinere, so groß wie ein Backofen, steckte jeder in die Ohren, und so giengen und schifften sie zurück in die große Heide. Zuweilen freilich mußten sie tüchtig pusten, und dann flog der Sand vor ihnen her wie eine Wolke, was die Sandwehen in der Heide bezeugen bis auf den heutigen Tag; doch das machte sie nicht im mindesten irre: sie schichteten in kurzer Zeit bei Ülzen große Haufen auf.

Da aber wurden sie auf unangenehme Weise gestört! Einst hatte nämlich während ihrer Abwesenheit ein Imker daselbst seinen Bienenzaun aufgeschlagen, und die flüchtigen Thierchen zerstreuten sich hin und her durch die blühende Heide und trugen Wachs und Honig ein. Die Riesen achteten anfänglich nicht weiter darauf und zertraten mit ihren großen Füßen manche Biene; endlich jedoch wurden die harmlosen Thierchen wüthend und sannen auf Rache, und sie setzten sich den Riesen an die nackten Beine und zerstachen sie. Und als nun die Riesen nach ihnen schlugen und auf einmal viele todt klappten mit ihren großen Händen; da holten die Bienen ihre Königin und begannen einen Kampf auf Leben und Tod: zu Tausenden fielen sie über die mächtigen Riesen her; und mochten diese auch Tausende zerquetschen, was fragte die Bienenkönigin danach! Immer neue Schaaren summten herzu und bedeckten den Riesen Gesicht und Hände und Beine und zerstachen sie auf jämmerliche Weise. Da griffen diese zu [138] ihren Steinen und warfen sie mit solcher Gewalt unter die Bienen, daß mancher häusertief in den Boden sank, andere hingegen auf der Oberfläche blieben, wo du sie noch jetzt finden kannst, zum Zeichen, daß es wahr ist, was ich sage. Und die Bienen wurden immer zorniger und jagten die Riesen in der ganzen Heide umher; und überallhin warfen diese die Steine nach ihnen. Endlich indes mußten die gefährlichen Riesen den kleinen Bienen das Feld räumen, und sie flüchteten sich ans Meer. Doch auch hier fanden sie keine Ruhe vor den erbosten Feindinnen: diese setzten sich in großen Schwärmen auf sie, und in größter Qual stürzten sich die drei Riesen ins Meer und ertranken. Die Siegerinnen kehrten heim und trugen Wachs und Honig wie vorher; sie wißen es aber bis zu dieser Stunde noch recht gut, daß ihr Stachel wehe thut, deshalb darfst du sie nicht necken. Und die großen Steine kannst du auch noch sehen, wenn du in die Heide kommst, und der »Heidjer« nimmt und zersprengt sie, baut seine neuen Häuser darauf und nennt sie Riesensteine, was sie auch sind, wie du nun selber weißt.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 41. Die Riesensteine. 41. Die Riesensteine. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5656-1