Der Besuch im St. Hiob zu **

Der Aufseher des Stifts heißt Bernard, und unser fünf oder sechs, lauter reisende Leute, welche die Herberge versammlet hatte, gingen hin es zu besehen. Der erste war Herr Tobel, ein ernsthafter Mann, der wenig sprach; der zweite, Herr Wange Prediger in der Nachbarschaft, ein Verwandter des Herrn Bernard und der eigentliche Anfänger und Anführer der ganzen Unternehmung; der dritte, wenn er für einen vollen Mann gelten soll, sein Sohn Fränzel, ein feiner Knabe von etwa zehn bis dreizehn Jahren; der vierte, Herr Sennert, 'n Bruder Studio, dem äußerlichen Ansehen nach; etc.

Unterwegs erzählte uns Herr Wange, daß er einen alten Bekannten im Stift habe, Herrn Cornelio. Dem starb seine Frau und sein Freund, und darauf ging er in den St. Hiob als Krankenwärter.

Herr Bernard empfing uns sehr höflich und bewirtete uns mit Karawantee; zeigte uns auch sein Naturalienkabinett, das ziemlich vollständig ist, sonderlich an Konchylien.

Nach verschiedenen Gesprächen über dies und das, kam's endlich zum Stiftbesehen und Herr Bernard ging voran.

Er führte uns zuerst zu den Wahnsinnigen, die gleich unten im Hofe am Eingang quartiert sind, ein jeder in einem kleinen Stübchen für sich.

So wie Leute, die noch zwischen Furcht und Hoffnung schweben, unglücklicher sind, als die schon Entscheidung haben; so scheinen einem die Wahnsinnigen, oder die zwischen Sinn und Unsinn schweben, unglücklicher zu sein als die Unsinnigen, und sie sind nicht so gräßlich, aber grauerlicher anzusehen. Wir sahen ihrer hier einige und dreißig, alt und jung, Männer und Weiber, und aus allen Ständen.

Herr Bernard wollte die Bemerkung gemacht haben, daß der Wahnsinn bei Weibsleuten sich immer auf Liebe oder Religion beziehe. Im St. Hiob fanden wir seine Bemerkung bestätigt, denn die Weibsleute sprachen alle wie Verliebte, oder predigten und prophezeiten. Bei den Männern trafen – wir hier auch mancherlei andern Wahnsinn. Einer in einem grünen Schlafrock dünkte sich 'n Mohr und wusch sich emsiglich, kuckte ins Spiegel und wusch wieder, und seine weiße Comtoir – Mütze und eine Zitrone standen auf dem Tisch. Ein anderer stand mit verstörten Haaren und zeigte immer mit dem Finger nach einem Stundenglas [257] das an der Wand hing, und seufzte dazu. Die merkwürdigsten von allen aber waren vier Brüder, die in einem Zimmer beisammensaßen gegeneinander über wie sie auf dem Kupfer

sitzen – Söhne eines Musikanten, und Vater und Mutter waren im St. Hiob gestorben. Herr Bernard sagte, sie säßen die meiste Zeit so und ließen den ganzen Tag wenig oder gar nichts von sich hören; nur sooft ein Kranker im Stift gestorben sei, werde mit drei Schlägen vom Turm signiert, und sooft die Glocke gerührt werde, sängen sie einen Vers aus einem Totenliede. Man nenne sie auch deswegen im Stift die Totenhähne.

Von hier ging's zu den Unsinnigen. Ihre Kojen sind rundum in einem Zirkel gebaut, und in der Mitte steht ein großer Ofen, der im Winter geheizt wird. Nur etwa zwei Drittel davon waren itzo besetzt, und die Unglücklichen darin saßen, wie gewöhnlich, mit zerrissenen Kleidern und halb nackt, und sagten Greuel. Einer von ihnen war neun Jahre in der Sklaverei zu Algier gewesen, und hieß Hans Gumpert, und der war der wütigste von allen und hatte ungeheure Kräfte. Er hatte itzo eben eine gute Stunde, und als wir vor seine Klappe kamen, trat er heran und streckte die Hand heraus. Herr Tobel legte ihm einen Dukaten hinein und wir andern etwas Silbergeld; er warf aber alles weg und bat flehentlich um ein ganz kleines Stückchen Zucker.

Weiter brachte uns Herr Bernard in verschiedene Zimmer mit allerlei bösartigen Patienten, und denn kamen wir endlich in die große Krankenstube. Sie ist hoch, beinahe ein Quadrat, und es stehen drei Reihen Betten darin. Wir gingen hier von Bette zu Bette, und sahen in jedwedem einen Menschen liegen der elend war, mehr oder weniger.

Nicht weit vom Eingange trafen wir den Herrn Cornelio. Er hat helle Augen und eingefallene Backen, und ist lang und blaß. Herr Wange bot ihm freundlich guten Tag, und wollte ihn umarmen; das wollte er aber nicht, und sagte: er habe sich das Umarmen abgewöhnt.

Herr Bernard bat ihn, uns hier herumzuweisen, weil er hier am besten Bescheid wisse; und das ließ er sich gefallen und ging mit uns durchs ganze Zimmer, und sagte uns bei jedem Bette, den Namen des Kranken, seine Krankheit, wie lange er schon liege und sich quäle etc., auch allerhand Umstände aus ihrem Leben.

[258] Am Ende des Zimmers war in einem Bette eine alte Frau eben gestorben, und Herr Bernard hieß sie herausnehmen und in die Leichenkammer tragen, und Herr Cornelio sagte uns indes wer sie gewesen und wie alt sie geworden, daß sie oft viel Schmerzen gehabt und immer so über die langen Nächte geklagt habe etc.

»Aber Cornelio«, sagte Herr Wange, »wie können Sie alle Tage das Elend so ansehen?«

Cornelio: »Ist es darum weniger, wenn ich es nicht sehe? Und sieht man es denn allein hier?«

Wir nahmen darauf Abschied und gingen weg, nicht ganz gleichgültig. Als wir wieder auf den Hof kamen, ward die Leiche signiert, und sowie der dritte Schlag gefallen war, fingen die vier Brüder an:


Ach Herr! laß dein lieb Engelein,
Am letzten End die Seele mein,
In Abrahams Schoß tragen,
Den Leib in sein'm Schlafkämmerlein,
Gar sanft ohn ein'ge Qual und Pein,
Ruhn bis am Jüngsten Tage. etc.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Claudius, Matthias. Gedichte und Prosa. Asmus omnia sua secum portans. Vierter Teil. Der Besuch im St. Hiob zu **. Der Besuch im St. Hiob zu **. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-532A-E