[83] Johann Jakob Breitinger
Critische Dichtkunst

Von der Nachahmung der Natur

Der dritte Abschnitt.
Von der Nachahmung der Natur.

Die Poesie kan alles nachahmen, was der Verstand von den Würckungen und den Kräften der Natur erkennet, wenig abgezogene Wahrheiten ausgenommen. Solches theilet sich in die gegenwärtige würckliche Welt, die sichtbare und die unsichtbare, und in die möglichen Welten. Der Poet nimmt die Originale seiner Nachahmung lieber aus der Welt der möglichen Dinge. Zwo Gattungen des Wahren, das Würckliche und das Mögliche, oder das historische und das poetische Wahre. Kraft des poetischen Wahren zu ergetzen, wenn es auf das historische Wahre gegründet ist. Übereinstimmung zwischen dem Urbild und der Schilderey ist das Haupt-Wesen der Nachahmung. Sie wird aus der Gleichheit der Würkungen erkennt. Die Eindrücke der Poesie sind nur in der Art nicht in der Kraft den Eindrücken der Natur gleich. Worinnen die lebhafte Deutlichkeit der poetischen Schildereyen beruhe. Worinnen die Wahrheit derselben bestehe. Das poetische Wahre ist eine Übereinstimmung des Gemähldes mit möglichen Urbildern. Kraft der nachahmenden Kunst vor sich selbst zu ergezen, ohne Absicht auf die Materie. Annehmlichkeit der Beschäftigung des Gemüthes, da es eine Copie mit dem Originale vergleichet. Verwunderung, welche die Nachahmungs-Kunst bey uns gebiehrt. Warum die erschrecklichen Dinge uns in der Nachahmung ergetzen.


Die beyden Künste, des Mahlers und des Poeten, bestehen angeregter Massen in einer geschickten Nachahmung der Natur. Die Natur ist die weise Lehrmeisterin, bey welcher diese Künstler in die Schule gehen; sie leget ihnen eine unzählbare Menge der vortrefflichsten Urbilder zur Bewunderung und Nachahmung vor, woran sie das Vermögen ihrer Kunst versuchen, und auf die Probe setzen [83] können. Wie nun der Mahler zur Materie der Nachahmung alles dasjenige nehmen kan, was dem sinnlichen Werckzeuge des Gesichtes durch Licht und Farben kan begreifflich und vorstellig gemachet werden; also stehet es in dem Vermögen der poetischen Mahler-Kunst, alles, was mit Worten und Figuren der Rede auf eine sinnliche, fühlbare und nachdrückliche Weise kan nachgeahmet und der Phantasie, als dem Auge der Seele, eingepräget werden, nach dem Leben und der Natur abzuschildern. Hierinn übertrifft die Poesie alle anderen Künste, da ihr die gantze Natur in ihrem weiten Umkreise zum Muster der Nachahmung dienen muß. Alles was der menschliche Verstand von den Würckungen und Kräften der Natur in seinen Registern aufgezeichnet hat, kan der Poet durch sinnliche Bilder auszieren, und der Phantasie, als in einem sichtbaren Gemählde, vorlegen; so daß sich das Gebiethe der Poesie fast eben so weit erstrecket, als die menschliche Erkenntniß, welche unter dem Nahmen der Weltweißheit alles begreifft, was durch menschlichen Fleiß und Nachforschen von möglichen und würcklichen Dingen kan erkennet werden. Nur müssen wir einige allgemeine und abgezogene Wahrheiten und Begriffe, die alleine dem reinen und von den Sinnen gantz abgekehrten Verstand vernehmlich sind, von der Nachahmung der Poesie ausschliessen; von welcher Art in der Vernunft-Lehre, in der Meß-Kunst, in der Lehre von dem Wesen der Dinge, in der Rechen-Kunst, sehr viele enthalten sind, die man wohl durch Worte, Zahlen und Linien dem Verstande zu begreiffen geben, aber darum nicht abschildern, oder in Farben und Bilder einkleiden, und für die Phantasie sichtbar machen kan.

Die Natur, oder vielmehr der Schöpfer, der in derselben und durch dieselbe würcket, hat unter allen möglichen Welt-Gebäuden das gegenwärtige erwehlet, daß er es in den Stand der Würcklichkeit überbrächte; weil er es nach seiner unbetrüglichen Einsicht vor das beste unter allen, [84] und vor dasjenige befand, das vor seine Absichten am bequemsten war. Dasselbe kan nun füglich in die sichtbare und die unsichtbare Welt unterschieden werden. Jene, die sichtbare und materialische Welt, begreiffet in sich alle Cörper, die Elemente, die Sternen, den Menschen in Ansehung seiner äusserlichen Würckungen, die Thiere, die Pflanzen, die Edelsteine, und so fort, ferner alles, was die Kunst auf so verschiedene Weise nachahmet, und zum Schutz, zur Zierde und Bequemlichkeit des menschlichen Lebens erfindet; mit einem Worte alles, was der Prüffung der Sinnen unterworffen ist. Diese, die unsichtbare Welt, fasset in ihrem Inbegriffe Gott, die Engel, die Seelen der Menschen; ihre Gedancken, Meinungen, Zuneigungen, Handlungen, Tugenden, Kräfte. Alle diese Sachen haben, weil sie würcklich sind, eine eigentliche und festgesezte Wahrheit, die in dem Zeugniß der Sinnen, das damit übereinstimmet, dem Zeugniß des Gewissens, und der göttlichen Offenbarung gegründet ist. Wenn nun der Poet die Originale, welche ihm die grosse Künstlerin, die Natur, auf dem unendlich geraumen Schauplatz dieser würcklichen Welt darstellet, entweder absonderlich oder in ihrem natürlichen Zusammenhang nachschildert, so handelt er bloß als ein guter Abdrücker, und unterscheidet sich von dem Historico alleine durch den Zweck und die Kunst seiner Gemählde. Was ins besondere die unsichtbare Welt der Geister ansiehet, so hat dieselbe zwar eben so viel Wahrheit und Würcklichkeit als die sichtbare, zumahl da sie den Grund und die Quelle aller Würcklichkeit in sich hat; alleine weil sie vor den groben Sinnen gantz verschlossen ist, so hat sie vor die Einbildung nicht mehrere Wahrheit als die möglichen Dinge, und der Poet muß diese unsichtbaren Wesen in sichtbare Cörper, hiemit in eine gantz fremde Natur einkleiden, woferne er sie der Phantasie vernehmlich und fühlbar vorstellen will, in welchem Stücke seine Kunst sich ungemein geschickter und verwundersamer [85] erweiset, als in der Nachahmung der sichtbaren Wercke.

Alleine da dieser Zusammenhang der würcklichen Dinge, den wir die gegenwärtige Welt nennen, nicht lediglich nothwendig ist, und unendlich vielemahl könnte verändert werden, so müssen ausser derselben noch unzehlbar viele Welten möglich seyn, in welchen ein anderer Zusammenhang und Verknüpfung der Dinge, andere Gesetze der Natur und Bewegung, mehr oder weniger Vollkommenheit in absonderlichen Stücken, ja gar Geschöpfe und Wesen von einer gantz neuen und besondern Art Platz haben. Alle diese mögliche Welten, ob sie gleich nicht würcklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche Wahrheit, die in ihrer Möglichkeit, so von allem Widerspruch frey ist, und in der allesvermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet ist. Nun stehen auch dieselben dem poetischen Mahler zum Gebrauche bereit und offen, und leihen ihm die Muster und die Materie zu seiner Nachahmung; und da er die Natur nicht alleine in dem Würcklichen, sondern auch in dem Möglichen nachzuahmen fähig ist, so erstrecket sich das Vermögen seiner Kunst eben so weit, als die Kräfte der Natur selbst; folglich muß der Poet sich nicht alleine die Wercke der Natur, die durch die Kraft der Schöpfung ihre Würcklichkeit erlanget haben, bekannt machen, sondern auch, was in ihren Kräften annoch verborgen lieget, fleissig studieren, um so viel mehr, da dieses leztere, nemlich die Nachahmung der Natur in dem Möglichen, das eigene und Haupt-Werck der Poesie ist. Denn ich darf vor gewiß setzen, daß die Dicht-Kunst, insoferne sie von der Historie unterschieden ist, ihre Originale und die Materie ihrer Nachahmung nicht so fast aus der gegenwärtigen, als vielmehr aus der Welt der möglichen Dinge entlehnen müsse. Es ist das Amt der natürlichen, politischen, und moralischen Historie, die sichtbaren Gegenstände und Phänomena, den Lauff der [86] Begebenheiten, und die Sitten und Handlungen der Menschen, wie sie würcklich sind, nach ihrer Natur und Wahrheit zu erzehlen und zu beschreiben. Ihre Absicht ist demnach diejenige Wahrheit, die in der Würcklichkeit der Dinge, und dem Zeugnisse der Sinnen gegründet ist; darum ist auch ihre gantze Bemühung in den Kreiß der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge eingeschlossen. Dagegen hat der Poet zur Absicht, durch wohlerfundene und lehrreiche Schildereyen die Phantasie des Lesers angenehm einzunehmen, und sich seines Gemüthes zu bemächtigen; Diese Absicht zu erreichen wird eben nicht erfordert, daß seine poetischen Erzehlungen würckliche und historische Wahrheiten seyen; sondern es ist schon genug, wenn sie nur nicht unmöglich und unwahrscheinlich sind. Der Poet sucht nicht den Glauben eines Zeugen zu erhalten, aber er vermeidet den Vorwurff eines Lügners; wenn er daher auch solche Personen in seinen Gedichten aufführet, die nach dem Zeugniß der Historie würcklich vorhanden gewesen sind, versetzet er dieselben in gantz neue Umstände, und läßt sie dann reden, thun und handeln, wie sie nach ihrer Natur und Beschaffenheit wahrscheinlicher Weise reden und handeln könnten und würden;


Atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet,
Primo ne medium, medio ne discrepet imum.

Da bekümmmert er sich nicht um die historische Wahrheit seiner Vorstellungen, weil er ohne dieselbe, bloß durch die Wahrscheinlichkeit, seinen Zweck und Absicht erreichen kan. Die Tragödien von Cid, Cinna, Polieuctes thaten auf viele tausend Zuseher in dem untern Boden des Schauspiel-Hauses, welche von diesen Personen niemahls zuvor reden gehöret hatten, eine eben so starcke Würckung, als auf diejenigen Gelehrten, die ihre gantze Historie innen hatten. Das Wahrscheinliche, welches [87] sich in den würcklich eingeführten Gesetzen und dem gegenwärtigen Laufe der Natur gründet, ist für den grösten Theil der Menschen eben so wahr, als das so würcklich geschehen ist, weil ihm nichts mangelt, als die Treu und Aufrichtigkeit dessen, der es erzehlet und bezeuget; und das, so würcklich geschehen ist, kömmt ihm bloß als wahrscheinlich vor, weil ihm die Zeugnisse, worauf dessen Wahrheit beruhet, nicht bekannt sind. Daher hat auch Aristoteles gesagt: »Das Mögliche ist glaubwürdig, aber das würcklich geschehene ist bekannt und offenbar, massen es nicht geschehen wäre, wenn es unmöglich gewesen wäre.« Nun ist die Poesie Ars popularis, die das Ergetzen und die Verbesserung des grössern Haufens der Menschen suchet. Zudem wird diese poetische Mahler-Kunst in Ansehung ihrer Materie und Erfindung eben darum die Dicht-Kunst genennet, weil sie sich auf das Wahrscheinliche gründet; denn was ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundenes Gedicht ist darum nicht anderst anzusehen, als eine Historie aus einer andern möglichen Welt: Und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter alleine der Nahme ποιητοῦ, eines Schöpfers, zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet, und ihnen also den Schein und den Nahmen des Würcklichen mittheilet.

Da nun alle Dinge, welche die Natur dem Mahler und Poeten zur Nachahmung vorleget, entweder in das Reich der möglichen oder in das Reich der würcklichen Dinge gehören, so ist hieraus offenbar, daß die Vorstellungen dieser beyden Künste in Ansehung der Materien sich auf [88] das würckliche oder mögliche Wahre gründen müssen, wann sie uns gefallen sollen. Denn es giebt zwo Gattungen des Wahren in der Natur, eines hat alleine in der gegenwärtigen Welt Plaz, das andere aber findet sich nur in der Welt der möglichen Dinge; jenes können wir das historische, und dieses das poetische Wahre nennen: Beyde dienen zwar zu unterrichten, aber das leztere hat noch den besondern Vortheil, daß es uns zugleich durch das Verwundersame einnimmt und belustigt, da es Dinge, die nicht würcklich sind, in unsere Gegenwart bringet; und eben hierinnen lieget der Grund des Ergetzens, das von der Materie der poetischen Schildereyen herrühret; wie Aristoteles im zweyten Cap. des ersten B. von der Rhetorick mit diesen wenigen Worten zu verstehen giebt: καὶ τὸ μανθάνειν καὶ τὸ θαυμάζειν ἡδὺ.

Der Mensch hat von Natur eine angebohrne unersättliche Wissens-Begierde, diese erstrecket sich so wohl auf das Mögliche als auf das Würckliche, ja die Erfahrung lehret, daß der Mensch noch viel begieriger ist, das Mögliche und Zukünftige zu erforschen, als sich das Würckliche und Gegenwärtige bekannt zu machen. Die Erweiterung unserer Erkenntniß geschieht darum niemahls ohne Ergetzen, und dieses Ergetzen ist um so viel grösser, je grösser die Begierde gewesen, von einer Sache unterrichtet zu werden, und je seltzamer und wunderbarer die Sache ist, von welcher wir unterrichtet werden. Cicero hat im ersten B. von den Pflichten des Menschen angemercket, daß die Erkenntniß des Wahren nothwendig Lust gebähren müsse, eben wie hingegen die Erkenntniß des Falschen natürlicher Weise Unlust und Eckel bringet. Locus, sagt er, qui in veri cognitione consistit, maxime attingit naturam humanam: omnes enim trahimur & ducimur ad cognitionis & scientiæ cupiditatem, in qua excellere pulchrum putamus; labi autem, errare, nescire, & decipi, & malum & turpe dicimus. Das poetische [89] Schöne muß hiermit natürlich und auf die Wahrheit gegründet seyn; hingegen kan das unnatürliche, welches immer falsch und unmöglich ist, niemahls gefallen. Der Grund und Boden des Schönen oder des Ergetzens in der Mahler-Kunst ist kein anderer als die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit. Ein Mahler macht sich lächerlich, wenn er, wie Horatius sagt,


Delphinum sylvis appingit, fluctibus aprum,


oder eine Schiffs-Flotte auf einem Thurme an Ancker leget, oder ein schönes Frauenzimmer aus einem Blumen-Topfe hervor schwimmen läßt; das Falsche, Unwahrscheinliche oder in gewisser Absicht Unmögliche muß dem menschlichen Verstand, so bald es wahrgenommen wird, natürlicher Weise Widerwillen und Eckel verursachen, weil es die angebohrne Wissens-Begierde des Menschen in ihrem Verlangen aufziehet, und den Fortgang in der Erkenntniß unterbricht. Der Verstand läßt sich eben so ungern mit einem äffenden Blendwerck zufrieden stellen, als ein hungeriger mit gemahleten Speisen gesättigt wird. Zudem ist das Falsche, und in gewissen Absichten Unmögliche, keiner Nachahmung fähig, es ist ein Zero, ein Nichts, wovon der Verstand nichts begreiffen kan; und die Natur kan nichts widersprechendes hervorbringen; folglich hat auch das unnatürliche weder in der würcklichen noch in der möglichen Welt einiges Original, sondern es ist eine blosse Würckung des blinden und unverständigen Zufalles. Diesem gemäß ist dieses die erste und die Grund-Regel, nach welcher sich alle Künste, hiermit auch die Künste des Mahlers und des Poeten achten und richten sollen, daß sie in ihrer Nachahmung alleine auf die Kräfte der Natur sehen, ihre Materie, Muster, und Urbilder von derselben entlehnen, und hiermit ihre Arbeit auf das Wahre oder Wahrscheinliche gründen.

[90] Die Künste dieser Schüler der Natur bestehen in einer geschickten Nachahmung: Wie nun alle Nachahmung ein gewisses Urbild und Muster voraussetzet, welches die Kunst nach der Natur auszudrücken und vorzustellen beflissen ist, also schliesset der Begriff von der Nachahmung auch eine Ähnlichkeit und Übereinstimmung mit dem Urbild in sich ein; je vollkommener diese Ähnlichkeit ist, desto glücklicher ist auch die Nachahmung gerathen. Folglich bestehet die gröste Vollkommenheit dieser beyden Künste in der vollkommenen Übereinstimmung zwischen dem Urbild in der Natur und der durch die Kunst verfertigten Schilderey. Diese Übereinstimmung aber wird aus der Gleichheit der Würckung unfehlbar erkennet, wenn beyde, das Original und die Copie auf ein gleiches Gemüthe eine gleiche Würckung haben, und einen gleichen Eindruck machen.

Ich weiß zwar wohl, daß sich zwischen dem Eindruck, welchen die Natur durch die Gegenwart ihrer Urbilder auf das Gemüthe würcket, und demjenigen Eindruck, welchen auch die geschickteste Nachahmung der Kunst verursachet, allezeit welcher Unterschied befindet, aber dieses nicht in Ansehung der Art des Eindruckes, sondern in Ansehung seiner Kraft; denn da die Gegenstände der Natur eine wahre Würcklichkeit haben, so muß ihre Würckung auch strenger, ernsthafter, und dauerhafter seyn, als die Würckung des nachgeahmten Bildes, welches nur den Schein der Wahrheit und Würcklichkeit annimmt; in welchem Absehen Quintilianus im zweyten Cap. des zehnten B. gesagt hat: Iis quæ in exemplum assumimus, subest natura & vera vis: contra omnis imitatio ficta est, und: Quidquid alteri simile est, necesse est minus sit eo quod imitatur. Die Kunst suchet ihren Ruhm nicht darinnen, daß sie mit der Natur um den Vorzug eifere, sondern ihr Ruhm-Eifer bestrebet sich allein durch die Nachahmung und den angenommenen Schein des Wahren die Natur in der Art und Gleichheit [91] ihrer Würckungen zu erreichen; und da ihre Absicht ist, durch diese nachgeahmten Rührungen zu belustigen, so ist nothwendig, daß ihre Eindrücke in einem geringern Grade streng und dauerhaft seyn, als diejenigen sind, die von der Kraft des Wahren herrühren; indem alles Widrige und Unangenehme in den Gemüthes-Bewegungen von der Heftigkeit und Dauer derselben entstehet. Unter den Mahlern ist denn derjenige der geschickteste Meister, der so lebhafte und entzükende Schildereyen verfertigt, daß die Zuseher sich eine Weile bereden, sie sehen das Urbild selbst gegenwärtig vor Augen. Das Gemählde des Zeuxes war ein vortreffliches Meisterstücke, da er etliche Trauben so natürlich gemahlet, daß die Vögel selbst dadurch verführet und betrogen worden: Und unter den poetischen Mahlern verdienet ebenfalls derjenige den ersten Platz, der uns durch seine lebhaften und sinnlichen Vorstellungen so angenehm einnehmen und berücken kan, daß wir eine Zeitlang vergessen, wo wir sind, und ihm mit unserer Einbildungs-Kraft willig an den Ort folgen, wohin er uns durch die Kraft seiner Vorstellungen versetzen will, daß wir auch des süssen Irrthums nicht eher gewahr werden, bis wir von dieser Zerstreuung und Entzükung erledigt und unsrem eigenen Nachdencken wieder überlassen werden. Horatz setzet eben hierinn das gröste Lob und die gröste Kraft der Dicht-Kunst, in seinem poetischen Sendschreiben an Augustus, im zweyten B.


Ille per extentum funem mihi posse videtur
Ire poeta, meum qui pectus inaniter angit,
Irritat, mulcet, falsis terroribus implet,
Ut magus, & modo me Thebis, modo ponit Athenis.

Wo er durch das INANITER angit, und FALSIS terroribus implet, eben zu verstehen giebt, daß der Poet uns nur durch den Schein der Wahrheit zu bewegen, und die [92] Natur alleine in der Ähnlichkeit ihrer Würckungen, nicht aber in der wahren Kraft derselben nachzuahmen suche.

Auf dieser Ähnlichkeit und Übereinstimmung der Nachahmung der Natur beruhet nun einestheils die lebhafte Deutlichkeit der Schildereyen, von welcher die wunderbare Kraft die Phantasie zu rühren entstehet, die uns nöthigt, bey Anschauung einer Schilderey bey uns selbst zu sagen: In Wahrheit es ist eben das, was ich gesehen, was ich gehöret habe; oder was ich mit meinen Augen sehen, mit meinen Ohren hören würde, wenn mir das Original von dieser Sache vor Augen oder zu Ohren käme. Die alten Kunst-Lehrer haben diese lebhafte Deutlichkeit eben darum ενέργειαν und Evidentiam genennet, und Quintilianus hat im dritten Cap. des achten B. davon gesagt: Consequemur autem ut manifesta sint, si fuerint similia: Atque hujus summæ virtutis facillima est via, NATURAM INTUEAMUR. Anderntheils beruhet auf dieser Ähnlichkeit der Copie mit dem Original die Wahrheit der Schildereyen und mahlerischen Vorstellungen, insofern dieselbe in der Kunst der Nachahmung Platz hat. Je grösser und offenbarer die Ähnlichkeit mit dem Urbild ist, desto mehr Licht und Wahrheit hat das Gemählde. Im Gegentheil wenn keine Ähnlichkeit in denen ausnehmenden Merckmahlen, dadurch eine Sache von andern ihres gleichen unterschieden ist, angetroffen wird, so ist die Schilderey falsch und lügenhaft, weil sie uns etwas gantz anderes vorstellet, als was sie uns hat vorstellen sollen oder vorgehabt hatte. Diesemnach kan das poetische Wahre, welches der Grundstein alles Ergetzens ist, dergestalt beschrieben werden; es sey eine deutliche Übereinstimmung des ähnlichen Gemähldes mit solchen Urbildern, die in dem Reiche der Natur anzutreffen, und also möglich sind.

Wenn nun besagter Massen die Kunst des Mahlers und des Poeten in der Nachahmung bestehet, so lieget darinn [93] ein neuer Grund des Ergetzens, so diese Künste mit sich bringen, und welches auch unmittelbar von der Kunst der Nachahmung entstehet. Die Nachahmung ist dem Menschen etwas natürliches, sie ist ihm gleichsam angebohren, wie Aristoteles im vierten Cap. von der poetischen Kunst anmercket; alle seine Handlungen sind nichts anders, als eine blosse Nachahmung, daher kömmt es auch, daß die Exempel eine so grosse Kraft auf das menschliche Gemüthe haben; und darum muß auch alle Nachahmung ein besonderes Ergetzen bringen, welches um so viel mehr anwächßt, als glücklicher die Nachahmung gerathen ist. Daß die blosse Kunst der Nachahmung ohne Absicht auf die Materie eine solche Kraft zu ergetzen habe, zeiget sich unstreitig daraus, weil die künstliche Vorstellung einer Sache, die vor sich gantz unangenehme und widrige Eindrücke verursachen würde, in der Nachahmung belustigt. Thersites konnte in seiner häßlichen Ungestalt durch die würckliche Betrachtung derselben keinen angenehmen Eindruck machen, Homerus giebt das zu verstehen, wenn er ihn den häßlichsten Mann heisset; aber wer kan das Gemählde desselben in folgenden Versen ohne Belustigung lesen: »Er schielete, er hunk an einem Fuß, die krummen Schultern warffen sich vorwerts auf die Brust. Der Kopf war oben zugespizt, und darauf stuhnd ein Krantz von etlichen wenigen Haaren.« Und wem gefällt nicht folgendes Gemählde von einem alten Weibe, in dem Neujahrs-Gedichte von 1722. in Brockes Ird. Vergn.


– – Wie häßlich ist doch ein verjahrter Leib!
Beschau nur einst mit Ernst – – – –
Die grindig-gelbe Haut voll runzelichter Tiefen
Der schielen Augen Rot, die unaufhörlich triefen,
Ihr kal und zitternd Haupt, den Zähne-leeren Mund,
Voll zähen Rotz u. Schleim, die blau-geschwollnen Lippen,
[94]
Die schlaffe platte Brust, die magern dürren Rippen,
Den zitternd krummen Hals, des Rückens höckricht Rund,
Des Kinns entfleischte Höh, die Hölen welker Wangen.

Aristoteles hat eben dieses, im vierten Cap. von der poetischen Kunst, als einen Beweiß-Grund angeführet: »Etliche Urbilder«; sagt er, »als abscheuliche Thiere, Todte, oder Sterbende, die wir in der Natur nicht anschauen dörften, oder die wir nicht ohne Widerwillen oder mit Schrecken anschauen würden, sehen wir mit Ergetzen im Gemählde, und je geschickter sie nachgeahmet sind, je mit grösserm Ergetzen betrachten wir sie.« Also werden uns die strengen Leidenschaften des Schreckens und des Mitleidens erträglich, ja angenehm, wenn sie durch eine geschickte Nachahmung in unsrer Brust hervorgebracht werden. Eine Art Todes, wie der Phedra war; eine junge Princessin, die in scheußlichen Gichtern den Athem ausbläßt, und sich selbst in ihren lezten Reden einer schwartzen Lasterthat anklaget, welches sie an sich selbst mit eingenommenem Gift gestraffet hat, wäre ein Begegniß, das jedermann fliehen würde. Etliche Tage würden erfodert, eh wir die leidigen Gedancken aus dem Sinne schlagen könnten, welche ein solcher Anblick uns unfehlbar in die Phantasie tief einprägen würde. Aber Racinens Tragödie von Phedra, die uns eine Nachahmung von diesem Begegniß vorstellet, beweget und rühret uns, ohne daß sie den Samen zu einer anhaltenden Traurigkeit in unsrer Brust ausstreue. Sie machet daß die Thränen uns aus den Augen rinnen, ohne daß sie uns in der That traurig mache. Die Betrübniß liget so zu sagen nur an dem Rande unsers Hertzens, und wir spühren wohl, daß unsere Thränen mit der Vorstellung der sinnreichen Erfindung, die daran Ursache ist, aufhören werden.

[95] Fraget man nun, woher und auf welche Weise dieses Ergetzen entstehe, welches die geschickte Nachahmung der Kunst durch ihre eigenthümliche Kraft zuwege bringet, so ist die Haupt-Ursache davon diejenige, welche Aristoteles im vierten Cap. seiner Poetick angiebt, weil man in einer geschickten und glücklichen Nachahmung neben der Wahrheit auch eine feine Geschicklichkeit und Fertigkeit vor sich findet, da solches dem Geist Anlaß zu Überlegungen und Betrachtungen giebt, so daß er dergestalt allezeit etwas neues innen wird. Dieser weltweise Mann erkläret sich selbst hierüber deutlicher in dem ersten B. seiner Rhetorick im zweyten Cap. wo er saget: »Weil das Lernen und die Verwunderung etwas angenehmes mit sich führen, so geschicht nothwendig, daß die Sachen, die durch Nachahmen gemachet sind, uns Ergetzen verursachen, z.E. die Mahler-Kunst, die Bildhauer-Kunst, die Poesie, kurtz, alles, was wohl nachgeahmet ist, ob die nachgebildete Sache gleich unangenehm ist, weil das Ergetzen nicht von derselben entspringet, sondern von der Gewahrwerdung im Überlegen, daß dieses Ding eben dasselbe ist, also daß wir etwas lernen können.« Die zwo Quellen des Ergetzens, das von den Künsten entspringet, sind nach Aristoteles μανθάνειν und θαυμάζειν, die Erweiterung unserer Erkenntniß und die Verwunderung. Das Ergezen ist also zweyfach, das erste entstehet eigentlich von der Materie der Nachahmung, das andere von der Kunst der Nachahmung. Gleichwohl bemercket Aristoteles, daß dieses doppelte Ergetzen auch in der Kunst der Nachahmung auf gewisse Weise vereinigt zu finden sey; und daß die Nachahmung nicht alleine in Absicht auf ihre Materie lehrreich sey, weil sie uns mancherley Wahrheiten der Natur vorleget; sondern auch weil die geschickte Nachahmung uns die Sachen in einem solchen Licht vorstellet, daß wir uns nicht entschlagen können, dieselben aufmercksam zu betrachten, dabey wir Anlaß zu allerley Betrachtungen bekommen. [96] Die Nachahmung hat in der That mehr Kraft, die Aufmercksamkeit der Leute zu unterstützen, als die Natur selbst. Wir haben mehr Aufmercksamkeit für die Früchte und die Thiere, die in einem Gemählde vorgestellet werden, als wir für diese Sachen selber haben würden. Die Copie ziehet uns stärcker an sich, als das Original. Stellet uns die Nachahmung einen bekannten Gegenstand vor Augen, wovon wir allbereit einen Abdruck im Kopf haben, so nöthigt sie uns zugleich die Nachahmung mit dem Urbild, die Kräfte der Kunst mit den Kräften der Natur, die Empfindungen, welche die Kunst hervorbringet, mit denen Begriffen und Empfindungen, so die würcklichen Gegenstände selbst in unserm Gemüthe hinterlassen haben, zu vergleichen, und von ihrer Übereinstimmung und Ähnlichkeit zu urtheilen; welche Gemüthes-Beschäftigung dem Menschen nicht alleine für sich selbst sehr angenehm ist, sondern auch seine Begriffe von den Dingen der Natur, und der Vollkommenheit der Kunst nothwendig vermehren muß. Ich sage, diese Gemüthes-Beschäftigung, da die Copie mit dem Originale verglichen wird, sey dem Menschen für sich selbst angenehm, dieses geschicht nicht alleine darum, weil sie sehr leicht und natürlich ist, sondern auch, weil sie ihm eine gute Meinung von seiner Fähigkeit und Vollkommenheit beybringet, und seiner angebohrnen stoltzen Eigenliebe angenehm schmeichelt. Denn wie Quintilianus saget: Auditoribus grata sunt hæc, quæ quum intellexerint, acumine suo delectantur & gaudent, non quasi audiverint, sed quasi invenerint. Wir sehen nemlich eine geschickte Nachahmung an, als einen Abdruck von einem Urbilde, das wir schon zuvor in dem Kopf haben; die Nothwendigkeit selbst setzet uns gleichsam zum Richter darüber, und fordert unser Urtheil von uns. Also mercken wir nicht, daß der Verfasser uns hat unterrichten wollen, sondern glauben vielmehr, daß er die Demuth gehabt habe, uns seine Gemählde zur Beurtheilung zu übergeben.[97] Mithin legen wir uns eine Herrschaft über denselben bey, und messen die Entdeckung der Schönheiten in einem Gemählde mehr unsrer Geschicklichkeit, als der Kunst des Mahlers zu. Man hat angemercket, daß die künstliche Abbildung von einer unbekannten Person, die wir niemahls gesehen haben, ein schwächeres Ergetzen verursachet, als das Conterfait einer bekannten Person; was mag die Ursache dessen seyn, da doch die Vorstellung eines unbekannten Bildes den Vortheil hat, daß es uns von etwas neuem unterrichtet? Keine andere, als weil bey der Vorstellung einer unbekannten Sache, von der wir kein Urbild in dem Kopf haben, diese angenehme Vergleichung des Abdruckes mit dem Urbilde nicht Platz hat; denn man kan von der Schönheit einer Nachahmung nicht urtheilen, wenn man das nachgeahmte Urbild nicht kennet. Aber alsdann entstehet das Ergetzen, wie Aristoteles in der angezogenen Stelle sehr wohl sagt, nicht von der Schönheit der Nachahmung, sondern von der Schönheit der Schilderey, oder dem Leben und der Vermischung der Farben, oder der Wahl der Handlung, oder den Gebehrdungen der Personen, und von vielen andern Sachen, so das Auge an sich ziehen, und zugleich dem Geist etwas zu thun geben, und ihn in währender Ergetzung unterrichten. Gleichwohl ist hier zu erinnern, daß auch bey der Vorstellung unbekannter Dinge, von welcher Art die Poesie eine Menge aus dem Reiche der möglichen Welt vorstellet, eine ähnliche und eben so angenehme Gemühtes-Beschäfftigung und Überlegung in den Gedancken statt hat, da wir nemlich diese unbekannten Bilder mit andern ähnlichen und bekannten vergleichen, und aus Zusammenhaltung der Umstände entscheiden, ob sie möglich und wahrscheinlich seyen. Mithin ist in der That das Ergetzen, welches das Verwundersame in der Kunst der Nachahmung hervorbringet, viel stärcker und empfindlicher, als dasjenige, welches von dem Lehrreichen entstehen kan. Wenn die Nachahmung [98] uns durch die vollkommene Ähnlichkeit in Zweifel setzet, ob wir nicht das Urbild selbst vor dem Gesichte haben, wenn sie eben die Empfindungen und Regungen in uns hervorbringet, welche das gegenwärtige Urbild erwecket hätte, so muß diese verwundersame Kraft nothwendig die Betrachtung veranlassen, wie groß die Fähigkeit der menschlichen Kräfte sey, daß sie die Kräfte der Natur durch die Kunst hat erreichen mögen. Erstaunung und Entzückung überfallen uns, wenn wir den Menschen zu solchen vortrefflichen Wercken geschickt und tüchtig finden, und füllen uns mit prächtigen Einbildungen von unsrer Würde an. Mit dieser Verwunderung über die Nachahmungs-Kunst wächßt zugleich das Ergetzen, wenn wir ferner betrachten, daß dieselbe geschickt ist, nicht alleine das Gemüthe in Bewegung zu setzen, und den Verdruß, der den Mangel an Geschäften begleitet, zu verjagen, sondern auch die Gemüthes-Leidenschaften von allen widrigen Folgen und Zufällen völlig zu reinigen, also daß wir ein reines Ergetzen geniessen können, auf welches keine solche Ungelegenheiten folgen, als die ernstlichen Bewegungen zu begleiten pflegen. Lucretius hat solches von der Furcht angemercket, welches eine ungestüme und beklemmende Leidenschaft ist; er sagt, daß die Nachahmung sie gleichsam von aller Gefährlichkeit erledige, und alle Bangigkeit davon sondere:


Suave mari magno turbantibus æquora ventis
E terra alterius magnum spectare laborem:
Suave etiam belli certamina magna tueri
Per campos instructa, tui sine parte pericli.

Und diese Überlegung tui sine parte pericli ist eben die Ursache, daß die künstlichen Vorstellungen von erschrecklichen und furchtbaren Dingen in der Nachahmung ergetzlich werden; welches Cicero in dem Schreiben an Luccejus, in welchem er diesen geschickten Historicus [99] auf eine feine Art aufmuntert, die Geschichte von seinem Bürgermeister-Jahre zu verfassen, mit diesen Worten bekräftigt: Nihil est aptius ab delectationem Lectoris, quam temporum varietates, fortunæque vicissitudines? quæ etsi nobis optabiles in experiendo non fuerunt, in legendo tamen erunt jucundæ: habet enim præteriti doloris secura recordatio delectationem: ceteris vero nulla perfunctis propria molestia, casus autem alienos sine ullo dolore intuentibus, etiam ipsa misericordia est jucunda. Quem enim nostrum ille moriens apud Mantineam Epaminondas non cum quadam miseratione delectat? qui tum denique sibi avelli jubet spiculum, posteaquam ei percontanti dictum est, clypeum esse salvum: ut, etiam in vulneris dolore, æquo animo cum laude moreretur. Cujus studium in legendo non erectum Themistoclis fuga redituque retinetur?

Von der Wahl der Materie

[100] Der vierte Abschnitt.
Von der Wahl der Materie.

Das Verwundersame in der Natur, welches in den Verstand leuchtet, bringt dem grösten Haufen der Menschen kein Ergetzen. Unter den sinnlichen Gegenständen machen nicht alle Dinge einen gleichen Eindruck. Wahl der Urbilder nach den besondern Absichten des Poeten. Ein übelgewehlter Gegenstand bringt dem Poeten noch mehr Nachtheil als dem Mahler. Doppelter Grund des Ergetzens, das von der Nachahmung entsteht, die Befriedigung des Verlangens nach Wissenschaft, und die Bewegung des Gemüthes. Vorzug der bewegenden Bilder. Einschränckung der Wahl der Bilder durch die verschiedenen Gattungen Gedichte; ferner, durch die Gesetze der Ehrbarkeit. Vertheidigung einer Stelle in der Rede des Phenix zu Achilles wider la Motte. Lehrsatz der stoischen Weltweisen wider die Ehrbarkeit. Bestraffung der Cynischen Poeten. Daß das Nützliche in die Absichten der Poesie einfliessen müsse.


Nachdem ich nun gezeiget habe, daß die Kunst des Poeten so wohl als des Mahlers in einer geschickten Nachahmung der Natur bestehet, und daß ihre vornehmste und erste Absicht ist, die Wahrheit den Gemüthern auf eine angenehm-ergetzende Weise beyzubringen, so hoffe [ich], mein Leser werde mir mit seiner Aufmercksamkeit nicht ungerne zu einigen absonderlichen Betrachtungen der Materie der poetischen Nachahmung nachfolgen, da ich zu untersuchen gedencke, was für Kraft und Nachdruck eine geschickte Wahl der Materie den Wercken der Poesie mittheilen könne. Nach Vollendung dessen wird mir obliegen, die Vortheile und Geheimnisse der poetischen Kunst, welche sie in der Ausführung ihres Vorhabens mit so erwünschtem Fortgang anwendet, zu erklären und an das Licht zu stellen.

Die Kunst muß ihre Urbilder, die sie durch eine geschickte Nachahmung sinnlich vorstellen will, in der Natur aufsuchen und bey ihr entlehnen, alldieweil das Unnatürliche uns nicht gefallen kan. Die Natur hat denen Künsten des Poeten und des Mahlers alle ihre Schätze, auch die verborgensten, vor den äusserlichen Sinnen [101] eröffnet, und ihnen ohne Maßgebung überlassen, die Wahl unter denselben nach ihren Absichten einzurichten. Nun ist die Natur zwar in allen ihren Wercken über die Massen verwundersam, und ein aufmercksamer Geist findet in einer tiefen Betrachtung derselben immer neue Materie zu seiner Ergetzung, und gleichsam eine unerschöpfliche Quelle von Vergnügen, er richte seine Gemüthes-Augen auf das unerforschliche Wesen derselben, und auf ihre unbegreifliche Zeugung, oder auf ihre unermeßliche Mannigfaltigkeit, auf ihren Zusammenhang, Ordnung, Ebenmaß, Verhältniß unter und gegen einander, auf ihre weisen Absichten, auf eines jeden Stükes Gestaltung, innerliche Beschaffenheit, Vollkommenheit in seiner Art, und so fort. Alle diese Betrachtungen und derselben geschickte Vorstellungen müssen ohne Ausnahm und Unterschied einen angenehm-erleuchtenden Einfluß auf den Verstand haben: Alleine dergleichen Betrachtungen erfordern ein tiefes und strenges Nachdenken, wozu die wenigsten Menschen geschickt sind, daher auch das Verwundersame in den Wercken der Natur, welches alleine den forschenden Verstand bestralet, für den grösten Haufen der Menschen nichts empfindliches hat, und darum auch in ihrem Kopf ungeschmackt und ohne Ergetzen ist. Die Natur hat dem Menschen ein allgemeineres und vor seine Natur bequemeres Ergetzen zugedacht, dessen Genuß ihm nicht so schwer ankommen sollte, aus dieser Ursache hat sie ihn mit den Sinnen, als mit Werckzeugen begabet, mittelst deren die Schönheiten der Natur sich ihm durch einen blossen Eindruck ohne seine Mühe offenbareten; welches machet, daß auch die meisten Menschen mehr nach einem sinnlichen Ergetzen streben, und mehr durch das Gefühl als durch den Verstand geleitet werden; denn es ist viel leichter, den Eindrüken folgen, welche die Sachen in der Natur auf uns machen, und die meisten Leute wissen kein ander Mittel, als dieses, sich vor Verdruß zu verwahren. Und [102] eben dieses sinnliche Ergetzen ist dasjenige, welches die Dicht- und die Mahler-Kunst durch die Nachahmung hervorzubringen suchen; da sie nemlich sich bestreben, die Sachen so lebendig nachzubilden, daß ihre Gemählde eben dieselben Eindrücke auf die Phantasie und das menschliche Gemüthe machen, als die natürlichen Gegenstände durch die Kraft ihrer würcklichen Gegenwart thun würden. Nun lehret uns aber die unwidersprechliche Erfahrung, daß nicht alle Dinge in der Natur, die eine gleiche Wahrheit haben, auch einen gleichen Eindruck in dem Gemüthe machen, oder dasselbe mit einer gleichen Kraft rühren; nicht alle Speisen reizen den sinnlichen Geschmack auf einem gleichen Grad und mit einer gleichen Lust; wir suchen den widrigen Geruch, der uns von einem Todten-Aaß in die Nase steiget, durch einen angenehmern vorsichtig zu dämpfen; eine sanfte Musik, das murmelnde Rauschen einer Bache, und das gräßliche Gebrülle des Donners machen gantz verschiedene Eindrücke auf den Sinn des Gehöres; die Morgenröthe, die untergehende Sonne, der Zug und die Bewegungen eines Kriegs-Heeres, ein Sturm auf der See, ein Wasser-Fall, die Eißberge, die von den Schweitzern Glätscher genannt werden, sind alles Sachen, die nach gantz verschiedenen Weisen auf das Gemüthe würcken. Folglich hat unter den Urbildern, so die Natur dem Poeten und dem Mahler zum Muster ausgestellet hat, eine vernünftige Wahl Platz, welche durch die besondern Absichten eines jeden Vorhabens bestimmet wird; und es ist auch in der That sehr viel, ja alles an dieser Wahl der Bilder gelegen, angesehen der glückliche Fortgang einer Vorstellung gröstentheils von derselben abhängt, alldieweil die Nachahmungen uns nur in dem Maasse rühren, als die nachgeahmete Sache selbst thun würde, wenn wir sie wahrhaftig vor Augen sähen. Dergestalt wäre es an einem Poeten oder Mahler, wie Düboß wohl angemercket hat, das unvorsichtigste Stücke, wenn sie solche Sachen vor sich [103] nähmen nachzuahmen, welche wir in der Natur mit Gleichgültigkeit anschauen würden; wenn sie ihre Kunst anwendeten, uns Handlungen vor Augen zu stellen, die nur eine mittelmässige Aufmercksamkeit von uns erhalten würden, wenn wir sie wahrhaftig geschehen sähen. Wie wird uns die Copie rühren können, da ihr Original selbst solches nicht vermag? Wie wird ein Gemählde vermögen, unsere Augen auf sich zu ziehen, welches einen Bauer vorstellet, der zwey Last-Thiere vor sich her treibet, wenn die Handlung, die in diesem Gemählde nachgeahmet wird, unser Gesicht nicht auf sich ziehen mag? Wir loben zwar den Mahler wegen seiner Kunst, diese Sache geschickt nachzuahmen, aber wir tadeln ihn, daß er seinen Fleiß auf Sachen gewandt hat, um die wir uns so wenig bekümmern. Ja ich muß hier insbesondere anmercken, daß der Mahler in diesem Stücke noch einen wichtigen Vortheil vor dem Poeten besitzet, welchen ihm die besondere Art der Nachahmung, der er sich bedienet, einräumet; ein Gemählde kan uns durch die blosse Schönheit der Verfertigung gefallen, ohne daß die Sache, die es vorstellet, etwas dazu beytrage; wenn schon die Materie seiner Vorstellung nichts vortreffliches oder verwundersames an sich hat, so kan dennoch sein Gemählde durch das hohe Licht und die Vermischung der Farben, oder durch das Leben der Vorstellung, oder durch einen andern Vortheil der Kunst das Auge ergetzen, und in dieser Absicht schätzbar seyn; wie die künstlich-gemahleten Weintrauben des Zeuxes und des Parrhasius, und der feine Pinsel-Zug, mit welchem Apelles dem berühmten Mahler Protogenes seine unerwartete Ankunft auf der Insel Rhodus verrathen hat; diese belobten Meisterstücke haben ihren Preiß nicht von der Materie ihrer Vorstellung, sondern von der Kunst bekommen, die ihre Urheber in der Nachahmung erwiesen haben, man bewunderte in denselben den Pinsel, der die Natur so genau hat nachahmen können, woraus erhellet, daß eine glückliche [104] Nachahmung den Verdienst des Mahlers am meisten erhebet. Da hingegen der Poet in der Ausführung seines Vorhabens statt der sichtbaren Farben sich der Worte und ihrer harmonischen Verbindung bedienen muß, so hat die einfältige Nachahmung eines übelerwehlten Gegenstandes keine eigentümliche Schönheit oder Kraft, durch welche sie das Gemüthe entzücken, oder in Bewegung setzen könnte. Die Schönheiten in der Ausarbeitung machen vor sich alleine kein Gedicht zu einem guten Stücke, wie sie ein Gemählde zu einem schätzbaren Wercke machen. Die Welt machet niemahls viel aus den Wercken eines Poeten, der keinen andern Talent hat, als daß er es in der Mechanick seiner Kunst hoch gebracht hat. Vermöge dieser Anmerkung bestehet der wahre Verdienst eines Poeten im wenigsten darinn, daß er ohne Wahl und Unterschied alles schildere, was in der Natur vorkömmt, und es ist bey weitem nicht das vollkommenste Lob, wenn man gleich von seinen Wercken sagen kan, daß sie wahr, natürlich und ähnlich seyn; die Poesie empfängt ihre gröste Stärcke und Schönheit von der geschickten Wahl der Bilder. Also ist leicht zu erachten, was vor ein wichtiges Ding es um die Wahl der Materie ist, vornehmlich in poetischen Wercken.

Die Kunst des Poeten und des Mahlers, suchet durch den unschuldigen Betrug der künstlichen Nachahmung eben diejenigen Eindrücke in dem Gemüthe der Menschen zu erwecken, welche es von den gegenwärtigen in der Natur vorkommenden Dingen selbst empfangen würde; die Kunst der Nachahmung thut mehrers nicht, als daß sie die abwesenden Gegenstände gleichsam herbey bringet und vor Augen stellet: Also muß die Kraft und Würckung der Vorstellung auf das Gemüthe unmittelbar von der Materie der Vorstellung herrühren. Nun hat das Ergezen, welches die Natur und hiemit auch die Nachahmung durch die Eindrücke ihrer Vorstellungen hervorbringen, einen doppelten Grund; angesehen diese Vorstellungen [105] dienen, entweder den angebohrnen Vorwitz und die Begierde nach Wissenschaft zufrieden zu stellen, oder das Gemüthe in Bewegung zu setzen, an sich zu ziehen und einzunehmen; dasselbe in einer angenehmen Unruh aufzuhalten, es beschäftigt zu halten, und dadurch den verdrüßlichen Zustand einer Bewegungs-leeren Stille aufzuheben. Ihre Absicht ist demnach, entweder uns auf ihre Vorstellungen aufmercksam zu machen, und zu unterrichten, oder uns denselben zu Gunst einzunehmen und zu bewegen. Darum sind auch die Gegenstände, welche uns die Natur und die Nachahmung der Kunst vorstellet, entweder lehrreich oder bewegend. Alleine die Sachen, die nicht weiter bequem sind, als unsern Vorwitz zu stillen, ziehen uns nicht so sehr an sich, als die Sachen, die vermögend sind uns das Hertz zu rühren. Wenn es erlaubt ist, so zu reden, so ist der Verstand in seinem Umgang schwieriger, als das Hertz. Die Unruh und Bewegung der Gemüthes-Leidenschaften ist dem Menschen etwas so natürliches und angenehmes, daß man sagen kan, die Menschen überhaupt empfangen mehr Beschwerde von dem Leben das ohne Leidenschaften ist, als von den Leidenschaften selbst. Gleichwie die lange Weile ihnen beschwerlicher fällt, als die Unwissenheit, so ziehen sie die Lust in Bewegung gesetzet zu werden, der Lust Unterricht zu empfangen vor. Die verständigen Mahler, sagt Dübos, haben diese Wahrheit so wohl eingesehen, sie so wohl empfunden, daß sie selten Landschaften ohne Personen und öde vorgestellet haben. Sie haben sie bevölckert, sie haben in diese Gemählde irgend eine Materie hinein gebracht, dazu etliche Personen gehöreten, die uns mit einer gewissen Handlung in Bewegung bringen und folglich an sich ziehen könnten. Und aus demselben Grund haben auch geschickte Verfasser, die lehrreiche Gedichte verfertigen, und uns in ihren Wercken Unterricht ertheilen wollen, damit sie die Aufmercksamkeit der Leser unterhielten, ihre Verse mit [106] solchen Bildern ausgezieret, die hertzrührende Gegenstände abschilderten; wie Virgil in den Büchern von dem Feldbau gethan hat; und eben daher kömmt es, daß die Leute allezeit lieber die Bücher lesen werden, die sie rühren, als die, so sie unterrichten. Demnach ist ohne Streit die Wahl solcher Materien, die bequem sind, das Gemüthe zu rühren und einzunehmen, von einer kräftigern und sicherern Würckung, als die Vorstellung der todten Wercke der Natur: Ja ich darf behaupten, daß so gar unter den bewegenden Stücken diejenigen die kräftigste Würckung haben, und das strengste Ergetzen gewähren, welche die heftigsten, ungestümsten und widerwärtigsten Gemüths-Leidenschaften, als Furcht, Schrecken, Mitleiden, erregen, weil die Kunst der Nachahmung diese Leidenschaften, wie ich an dem Ende des vorhergehnden Abschnittes gezeiget habe, von allem würcklich Widerwärtigen reiniget; daher auch die Tragödie stärker anziehet und beweget als die Comödie.

Die Wahl aber der Materie wird noch näher bestimmet und eingeschräncket durch die verschiedenen Arten und Gattungen Gedichte. Diese sind so viele ungleiche Mittel und Wege, so die Kunst der poetischen Nachahmung erfunden hat, das erbauliche Ergezen, als ihre Haupt-Absicht zu erhalten. Unter denselben dienet das Epische Gedichte vornehmlich eine allgemeine moralische Wahrheit durch die geschickte Nachahmung einer grossen Handlung, die ihrer Wichtigkeit halber gantzen Nationen angelegen ist, nach ihren ausführlichen Umständen mit Ergetzen begreifflich zu machen; die Tragödie suchet durch die lebhafte Vorstellung eines harten und unvermutheten Schicksals, das vornehme Personen sich durch ihre Mißhandlungen zugezogen haben, bey den Zusehern Traurigkeit, Schrecken und Mitleiden zu erwecken, und sie auf ihre eigene Unglücks-Fälle vorzubereiten; die Comödie führet Leute von bürgerlichem Stand auf, sie durch die Nachahmung ihrer Fehler lächerlich zu machen; [107] die Satyre ist ein moralisches Straf-Gedicht über einreissende Laster, da entweder das Lächerliche in denselben entdecket, oder das abscheuliche Wesen der Boßheit mit lebhaften Farben abgeschildert wird; wie diese beyden die Menschen durch die Beschämung von dem Lasterhaften abschrecken, also suchen die Lobgedichte sie durch die Erhebung ungemeiner Thaten in einen nützlichen Ruhm-Eifer zu bringen; die Schäfer-Gedichte mahlen die glückselige Einfalt und Unschuld des ersten güldenen Welt-Alters mit den anmuthigsten Farben ab; die Elegie will dem Leser durch ihre wehmüthigen und verliebten Seufzer und Klagen eine innige und Mitleidens-volle Gemüthes-Bewegung abnöthigen; die Ode führet uns durch ihre entzükende Verwirrung aus uns selbsten; die Sinn-Gedichte belustigen durch ihre kleinen stacheligten und scharfsinnigen Einfälle; die Lehr-Gedichte unterrichten uns auf eine ergezende und leichte Weise von den Geheimnissen gantzer Wissenschaften oder besonderer Stücke derselben. Alle diese verschiedene Arten Gedichte geben der Materie der poetischen Nachahmung eine eigene Form, welche durch gewisse Regeln, die in der besondern Art der Nachahmung gegründet sind, gantz verschieden ausgesetzet und eingeschräncket wird. Ich halte vor unnöthig, hier die besondern Regeln, nach welchen diese verschiedenen Gattungen Gedichte müssen eingerichtet werden, anzuführen, ich setze voraus, daß ein Poet sich dieselben theils aus denen berühmten Schriften der alten und neuen Kunstrichter, dergleichen Aristoteles, Horatius, Boileau, Dübos, Dacier, la Motte, Fontenelle, Muratori, Addison, Pope sind, vorher bekannt gemachet, theils den Gebrauch derselben aus eigenen Anmerckungen unter Lesung der besten poetischen Stücke aus den ältern und den neuern Zeiten gelernet habe. Mein Vorhaben ist alleine, einige allgemeine Anmerckungen über den Unterschied der erwähnten poetischen Formen mitzutheilen, insoferne [108] die Wahl der poetischen Materie dadurch ungleich bestimmet wird.

Ich mercke vor allen Dingen an, daß in einigen Gattungen Gedichte der Poet selbst das Wort alleine führet, in andern aber fremden Personen übergiebt. In jenen Stüken, in welchen der Poet das Wort nimmt, herrschet die poetische Erzehlung und Beschreibung; da erweiset er seine mahlerische Kunst bald in der lebhaften Vorstellung der Wercke der Natur und der Kunst, bald in einer nachdrücklichen Erzehlung einer gantzen Reihe merckwürdiger Begebenheiten, bald in einer natürlichen Schilderey des verächtlichen und häßlichen Lasters in Absicht auf dessen unverständiges Betragen; bald in einer prächtigen Herausstreichung des erhabenen und bewährten Tugend-Ruhmes: Die hertzbrechenden und beweglichen Stücke beschreiben entweder den Schwung und den Gang der Gemüthes-Bewegungen, oder sie führen dieselben selbst auf den Schauplatz, wo sie sich in ihrer angebohrnen Sprache erklären, ja sie treiben dieselben zuweilen vermittelst der erhizten Einbildungs-Kraft auf einen solchen Grad der Verwirrung, daß es läßt, als wenn der Poet durch eine Begeisterung in die noch zukünftige Welt wäre entzüket worden, und die Dinge, die erst noch geschehen können, als gegenwärtig vor Augen sähe. Was die dramatischen Gedichte anbelanget, in welchen der Poet das Wort fremden Personen überläßt, herrschen in solchen die Handlungen, durch welche der Gemüthes-Zustand der Menschen deutlich characterisiert, und gleichsam sichtbar gemachet wird; diese Handlungen aber sind vornehmlich nach dem ungleichen Stand, Alter und Würde der Personen, welche aufgeführet werden, unterschieden, und eben daher rühret es, daß einige von diesen Gedichten in ihrer Ausführung weit prächtiger, andere aber gar natürlich und einfältig sind. Endlich fliessen in dem Epischen Gedichte alle andere Gattungen und Formen der besondern Gedichte gleichsam zusammen, [109] das Epische wechselt da mit dem Dramatischen, das Tragische mit dem Comischen beständig ab; gleichwie man nun angemercket hat, daß selten ein Mensch in allen Stücken und Gattungen der Mahlerey vortrefflich seyn könne, so ist es sich desto weniger zu verwundern, daß die wenigsten in diesem allervollkommensten Haupt-Wercke der Poesie etwas rechtschaffenes geschrieben haben.

Nun ist der Schluß leicht zu machen, daß der Poet sich in der Wahl seiner Materie allezeit nach dem Unterschied dieser poetischen Formen richten müsse. »Die Tragischen Begegnissen«, sagt Dübos, »können nicht in einem Sinn-Gedichte erzehlet werden; dieses kan zum höchsten einen scheinbaren Umstand solcher Begegnisse ausnehmen, und in sein gehöriges Licht setzen, es kan uns ein Stückgen davon zur Verwunderung vorlegen, aber es kan uns damit nicht das Hertz treffen; die Comödie will keine grausamen Lasterthaten vornehmen; Thalia kan keine Verwünschungen thun, noch einer schwartzen Übelthat die gebührende Straffe anthun. Die Ecloga schiket sich nicht vor gewaltthätige und blutige Leidenschaften.«

Endlich wird die Freyheit des Poeten und des Mahlers in der Wahl der Urbilder durch die Gesetze der Ehrbarkeit und der Sitten in engere Schrancken gesetzet. Die Natur lehret uns durch ihr eigenes Beyspiel, daß nicht alles, was natürlich ist, den Sinnen durch die Nachahmung mit Ergetzen könne vorgestellet werden, gestalt sie den Gliedmassen des menschlichen Leibes eine ungleiche Ehre und Würdigkeit zugeleget, und einige derselben nach ihrer weisen Vorsicht von den Sinnen weggewendet und verstecket, damit sie denselben durch ihre natürlichen aber eckelhaften Verrichtungen nicht beschwerlich fallen, oder sie an ihrem Ergetzen stören mögten. Da der Poet nun auch in seiner Wahl der Vorschrift und dem Exempel der Natur folgen muß, so wäre es ja thörigt gehandelt,[110] wenn er diejenigen Gliedmassen und Verrichtungen, welche die Natur so sorgfältig verborgen hat, damit sie dem Gesichte oder Geruche keinen Eckel verursacheten, durch die Nachahmung zu den Sinnen und der Einbildung herbey bringen, und ihnen nähern wollte. Zudem hat eben diese vorsichtige Natur dem Menschen, so bald die unordentliche Lust in seinem Hertzen angeflammet war, und ihn angereizet hatte, die Glieder des Leibes schändlicher Weise als Waffen der Unreinigkeit zu mißbrauchen, die Schamhaftigkeit eingepflantzet, die sich durch eine holde Röthe in dem Angesicht zeiget, so bald er seiner nacketen Blösse gewahr wird, und ihn hinterhält, daß er nicht über die Schrancken der Ehrbarkeit hinaus schweiffet, sondern alles sorgfältig verbirgt, was bey andern Menschen Anstoß und Ärgerniß verursachen könnte. Eben diese schamhafte Liebe der Zucht muß den Poeten in der Wahl seiner Bilder leiten, wenn er ehrbaren und vernünftigen Gemüthern gefallen will. Und daher entstehet denn die σεμνότης, die Züchtigkeit und Ehrbarkeit in den Gemählden, wenn alles auf das sorgfältigste vermieden wird, was die schamhaftigste Tugend nur im geringsten verlezen könnte. Dafern aber ein Poet sich gemüssiget siehet von solchen Dingen zu reden, so muß er auch alsdann von der Natur lernen, daß er solche anstössige Dinge den Sinnen nicht von ihren eckelhaften Umständen vorlege, sondern sie durch eine geschickte Umschreibung vielmehr errathen lasse, als entdecke. Die H. Sprache ist hierinnfalls überaus züchtig und eingezogen, und die dem Israel, Deuter. XXIII. 13.14. anbefohlene Reinlichkeit läßt sich auch in den Redens-Arten der Ebreer verspühren. Ich will nur die einzige Ausdrückung anführen, mit welcher sie eine solche natürliche Verrichtung anzudeuten pflegen, wenn sie sagen, die Füsse decken, Judic. III. 24. 1. Sam. XXIV. 4. womit sie zugleich die Sorgfalt gar genau anzeigen, die bey dergleichen Geschäften muß beobachtet werden.

[111] Ich erinnere mich hier eines Fehlers, welchen der Hr. la Motte in seiner Abhandlung von Homerus an diesem grossen Poeten dieses Stückes halber ausgesetzet hat. Er tadelt nemlich, daß Homerus in der Rede des Phenix, womit er den Achilles durch die Erinnerung der Pflege, die er in dessen zartesten Kindheit über sich genommen, zu begütigen gesuchet, ein gantz unangenehmes und eckelhaftes Bild habe einfliessen lassen, welches von diesem französischen Criticus dergestalt übersezet wird. »Wie ofte habet ihr mir den Busen voll gespien, wie Kinder gewohnt sind zu thun, und ihre Säugammen zu bespeyen.« Und er führt dieses Exempel bl. XCI. vor einen Beweißthum an, daß nicht alles, was in der Natur ist, darum weil es in der Natur ist, zu schildern sey. Alleine wenn ich den Homerus in dem neunten B. der Ilias v. 481. selbst einsehe, so fällt diese Beschuldigung gröstentheils auf die platte und ungeschickte Übersetzung dieses französischen Academici zurück, massen nichts ist, das durch pöbelhaftige, niedrige Wörter und Redens-Arten nicht könne verderbet und verunglimpfet werden, so daß auch in diesem Sinne die Anmerckung gilt:


Nihil est, quin male narrando possit depravarier.


La Motte übersezt diese Stelle mit Worten, die zwar die Haupt-Ideen von Homers Ausdrücken in sich enthalten, aber über dem noch einige zugesezte Begriffe, die gantz eckelhaft sind, mit sich führen. Hingegen haben die Wörter, die Homerus gebraucht hat, nichts von diesen Neben-Ideen, sie bringen nur den Haupt-Begriff von der Vergiessung des Weins hervor, ohne den Eckel, den das Wort, speyen, noch daneben anzeiget. Der alte Poet drücket sich ungefehr also aus: »Du hattest dich auch so sehr an mich gewöhnet, daß es schien, du könntest ohne mich nicht leben. Du wolltest ohne mich bey niemand [112] fremdem essen, und auch selbst daheim nichts kosten, wenn ich dich nicht auf die Knie nahm, ich mußte dir die Speisen vorschneiden, bis du dich satt gegessen hattest, und wenn ich dir zu trincken both, hast du mir in dieser rohen und unbehülflichen Kindheit die Weste oft mit Wein benetzet und übergossen. Also habe ich viel für dich gethan und ertragen, denn weil die Götter mir keine Kinder gegeben, die von mir entsprossen wären, hielt ich dich als mein eigenes Kind, und hoffete du würdest dereinst mein Trost seyn, und mein graues Haupt vor allem Ungemach bewahren.« Die Wörter καταδεύω und ἀποβλύζω haben nichts widriges in sich, jenes heisset naß machen, benezen, befeuchten; dieses bedeutet eigentlich das strudeln einer Quelle, und singultus bibentium. Auch ist hier die Rede von der ersten Kindheit des Achilles, und da ärgert man sich an kleinen Kindern nicht, wenn sie sich etwa bey allzu begierigem Trincken übergiessen. Alleine wenn ich dem französischen Tadler ein Genügen thun will, muß ich nicht alleine zeigen, daß dieses Bild natürlich und um etwas erträglich sey, sondern ich muß auch die Wahl desselben vertheidigen, weil er gläubet, die Weglassung dieses Bildes würde dem Nachdruck der Rede gewaltig aufgeholffen haben. Phenix will den zornigen Achilles auf gelindere Gedancken bringen, er erinnert ihn darum der zärtlichen und unermüdeten Sorge, die er in dessen ersten Jahren vor seine Auferziehung getragen. Sollte diese Vorstellung ihre Würckung thun, so mußte er zeigen, daß es nicht eine gemeine Vorsorge gewesen, sondern daß sie mit vieler Verdrüßlichkeit und grosser Müh vergesellschaftet gewesen. Diese beyden Stücke nun hat die Einführung des erwähnten Bildes in das gehörige Licht gesetzet, und Phenix giebt an dem Schlusse seiner Erzehlung deutlich genug zu verstehen, daß dieses seine Absicht gewesen, v. 488.


ὣς ἐτὶ σοὶ μάλα πόλλ᾽ ἔπαϑον, καὶ πόλλ᾽ ἐμόγησα.


[113] Da er nun dasjenige, was die Auferziehung verdrüßliches hat, eben so wohl ausdrücken wollte, als was sie mühsames hat, so mußte er nothwendig einen Umstand erwehlen, der einen um etwas widrigen Eindruck machete, wozu sich das Übergiessen der Kleider trefflich wohl schickete. Und es ist so ferne daß dieser Umstand die Kraft der Vorstellung schwäche, daß er dieselbe vielmehr bis auf das höchste treibet. Man lege nur diese Worte einer Mutter, Säugammen oder Pflegerin in den Mund, so wird ihre Kraft jedermann empfindlich werden; und es wird sich wohl niemand ärgern, wenn eine solche ihrem undanckbaren Sohn als ein Zeichen der eckelhaften und verdrüßlichen Mühe seiner Erziehung vorrücket, daß er sie ofte übergossen habe. Denn daß Phenix als ein fürstlicher Herr, die Mühe der Erziehung bey Achilles selbst auf sich genommen, ist nicht alleine ein Zeugniß der zärtlichen Liebe, mit welcher er Achilles in dessen Kindheit zugethan gewesen, und machet uns eine gute und vortheilhaftige Meinung von Achilles, sondern es ist auch nach der Gewohnheit der alten heroischen Zeiten geschehen, da es sehr üblich war, daß Helden und Fürsten die Pflege junger Helden und Fürstlicher Kinder gehabt haben. Alleine damit ich wieder auf mein Vorhaben komme, so muß ich in Ansehung dieser Ehrbarkeit in den Gemählden hier auch anmerken, daß der weltweise Zeno und seine Anhänger sie nicht gebilligt haben, placuit enim illis, schreibet Cicero, suo quamque rem nomine appellare, wovon der Brief dieses Römischen Weltweisen an Pätus im neunten B. seiner Briefe verdienet nachgelesen zu werden, in welchem er diesen unverschämten stoischen Lehrsatz verwirfft. Mit Zeno hielt es eine andere berüchtigte Secte der Alten, die wegen ihrer Schamlosigkeit in den Reden und auch in den Thaten die Cynische genennet worden. Und ich werde nicht irren, wenn ich unter diese Cynische Secte alle diejenigen Poeten zehle, welche die edle Dicht-Kunst nöthigen, [114] unter der Fahne der Wollust Dienste zu thun, und mit der Keuschheit, Zucht und Ehrbarkeit Krieg zu führen. Ich meine hier nicht die heidnischen Poeten, welche ihr Religions-Systema und das Exempel ihrer Götter in ihren unreinen Lüsten gestärcket, massen sie mit dem Wahn eingenommen waren, daß sie durch die Ausübung derselben denjenigen ähnlich werden könnten, welche von ihnen angebetet wurden; sondern ich rede von solchen, die sich vor Verehrer einer Gottheit ausgeben, die aller Unreinigkeit feind ist, die auch selbst die ersten Regungen derselben zu unterdrucken befiehlt, und um jedes garstige Wort Rechenschaft fordert; welche dennoch ihre meiste poetische Arbeit nur dazu mißbrauchen, daß sie die Aufwallungen und Ausbrüche der unreinen Lüste auf das natürlichste ausdrücken, und bey ihren Lesern eben dergleichen Regungen erwecken. Der sel. Hr. Doctor Rambach hat in der Vorrede zu seinen poetischen Fest-Gedancken, wo er von dem Mißbrauche und rechten Gebrauche der Poesie handelt § 3 – § 8. mit einem billigen Eifer über die mehr als cynische Schamlosigkeit und das grosse Ärgerniß geklaget, das eine starcke Anzahl der deutschen Poeten dadurch angerichtet hat, und die Gefahr, in die sich solche cynische Dichter muthwilliger Weise stürtzen, klärlich vor Augen geleget. Ich verweise auch meinen Leser zu dieser Abhandlung, welche wohl werth ist, daß sie mit Bedacht gelesen werde, und begnüge mich nur noch die kurtze Anmerckung hinzu zu setzen, daß solche ärgerliche Reimen-Schmiede sich vergebens schmeicheln, mit ihren unflätigen Zoten und schlüpfrigen Allusionen ehrbare und zuchtliebende Gemüther zu belustigen, massen das Ergetzen, welches die Poesie gebähren soll, der Ehrbarkeit nicht anstössig, und hingegen der Glückseligkeit des Menschen beförderlich seyn soll.

Noch muß ich zu ihrer mehreren Beschämung gedencken, daß die verständigen Kunst-Lehrer unter den Heiden [115] selbst den Poeten unter ihren andern Regeln die Beobachtung der Ehrbarkeit vorgeschrieben haben; also hat Hermogenes in seinem vierten B. einen Abschnitt Περὶ τῆς σεμνότητος τοῦ λόγου gesetzet. Daselbst führt er ein Beyspiel aus Menander an, wo dieser die Schwächung einer Tochter mit dem Worte außdrücket: ἔγνω με. Wobey er diese Anmerckung hinzusetzet: ἐκόσμησε πρᾶγμα αἰσχρὸν, σεμνοτέρᾳ λόγου συνθέσει. Er füget ferner bey: Conficitur igitur dignitas in turpitudine: vel si nomen cum nomine commutemus: aut, quod sæpe fit, si res non exponatur, cum omnino turpis est: sed quæ ante rem fieri solent, & in sermonibus agitari, & quæ rem turpem consequuntur: quæ necessario aperte & cum dignitate significent etiam ea quæ silentio prætereuntur. Ut apud Homerum Odyss. λ᾽.


λῦσε δὲ παρϑενικὴν ζώνην, κατὰ δ' ὕπνον ἔχευεν.
ἣ δ' ὑποκυσαμένη τέκεν ὃν ἔδει τεκεῖν.

Hie συνουσίαν indicavit, cum posuit quæ ante rem & congressionem solent fieri, virgineam solvit zonam: & quia addidit, quæ post consuetudinem fiunt: Hæc vero gravida facta peperit, quem peperisse decebat.

Horatius hat schon angemercket, daß die Gelehrten gantz ungleiche Meinungen von der wahren Absicht der Poesie hegen, indem einige das Ergetzen, andere das Nützliche, noch andere beydes zugleich vor den Hauptzweck der Poesie angegeben haben:


Aut prodesse volunt, aut delectare poetæ,
Aut simul & jucunda & idonea dicere vitæ.

Alleine dieser Streit läßt sich leicht beylegen, wenn man einmahl bedencket, daß die Poesie, insoweit sie eine Kunst ist, die in der Nachahmung bestehet, nothwendig ergetzen muß, und dann ferner, daß alle Künste und Wissenschaften [116] zu der Beförderung der menschlichen Glückseligkeit müssen gebraucht werden; dergestalt, daß folglich das Ergetzen selbst ein Mittel abgeben muß, das Wohlseyn des Menschen zu befördern, gleichwie in der That die edleren Künste durch das Ergetzen den Wohlstand des Gemüthes, die mechanischen Künste aber die Vollkommenheit des äusserlichen Zustandes suchen. Woraus sich denn schliessen läßt, daß nichts in seinem rechten und vernünftigen Gebrauche könne ergetzlich seyn, was nicht zugleich nützlich ist. Demnach öffnen diejenigen, welche das Nützliche von dem Ergetzlichen sondern, zu dem schändlichsten Mißbrauche der Künste Thür und Thor, und machen solche zu Werckzeugen der garstigsten Lüste. Wenn ich dann sage, daß das Ergetzen der Hauptzweck der Poesie sey, so verstehet sich da nicht ein schädliches Ergetzen, welches seinen Ursprung von dem Laster nimmt, und den schlimmen Lüsten schmeichelt, sondern das ist ein Ergetzen, welches der Vernunft und der Würdigkeit der menschlichen Natur gemäß, und auf das Wahre und Gute gegründet ist, oder wenigst ein unschuldiges Ergetzen, das der Ehrbarkeit und Tugend nicht nachtheilig ist. Ein Poet ist zugleich ein Mensch, ein Bürger und Christ. Auf diesen Titeln beruhet seine Vortrefflichkeit und Wurde, und die Hoffnung einer zeitlichen und ewigen Glückseligkeit. Nun verdienet aber dasjenige den Nahmen eines wahren Ergetzens nicht, dessen Genuß den Menschen seiner Würde entsetzet, und ihn von der wahren Glückseligkeit entfernet; folglich muß das Ergetzen, welches die poetische Kunst gewähren kan, den Menschen zur Beobachtung der natürlichen, bürgerlichen und christlichen Pflichten aufmuntern, und also seine Glückseligkeit zu befördern dienen. Der Poet ist derowegen alleine darinne von dem Weltweisen, dem Sitten- und dem Staats-Lehrer unterschieden, daß er diejenigen moralischen und politischen Wahrheiten, die das Gemüthe zum guten lencken können, [117] auf eine angenehm-ergezende, allgemeine und sinnliche Weise vorstellet. Also ist auch kein Zweifel, daß nicht die Dicht-Kunst um so viel höher zu schätzen, und vor vollkommener zu achten sey, jemehr sie zu der Glückseligkeit der Menschen beyträgt. Wenn nun dieselbe nicht alleine durch das Ergetzen einer geschickten Nachahmung belustigt, sondern auch das Gemüthe durch das Nützliche verbessert, so hat sie ihre grösseste Vollkommenheit erreicht:


Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci.


Folglich muß ein Poet, der das höchste Lob erlangen will, sich einig darauf befleissen, daß er zwar hauptsächlich ergetze, aber zugleich auch dadurch Nutzen schaffe. Die Poesie ist zu allen Zeiten von vernünftigen Kennern vor eine Lehrerin der Weißheit und Tugend und vor eine Fördererin der menschlichen Glückseligkeit angesehen worden, sie dienete gleich in ihrem ersten Gebrauche nach Aristoteles Bericht in dem vierten Cap. seiner poetischen Kunst theils zur Verherrlichung der Götter, theils zur Beschämung der Lasterhaften; und die Fabel, die ein wesentliches Theil von der Dicht-Kunst ausmachet, hat jederzeit der Sitten- und der Staats-Lehre nützliche Dienste gethan, indem sie die Unterrichte dieser Wissenschaften mittelst ihrer Kunst auf eine angenehme Weise in die Gemüther der Menschen eingespielet hat. Die Geschichte des Menenius Agrippa kan uns ohne mehrers davon überzeugen. Dieser kluge Römer hat durch die geschickte Fabel von der Empörung der Glieder wider den Magen die Aufruhr der Bürgerschaft von Rom gestillet. Also war die Poesie in ihrem Ursprung und rechten Gebrauche zur Verehrung Gottes, zur Besserung des Nebenmenschen, und zu einer unschuldigen Aufmunterung und Belustigung des Gemüthes gewiedmet: Aber so bald diese edle Gabe des Himmels durch den schädlichen [118] Mißbrauch entweyhet worden, ward sie nach und nach zu einem schändlichen Werckzeuge der drey vornehmsten lasterhaften Neigungen, der Wollust, der Ehrsucht, und des Geitzes gemachet, und mußte diesen Tyrannen als eine gefangene Sclavin dienen. Wenn man inzwischen die besondern Arten Gedichte, ihre verschiedene Gestalt und ihren Zweck einsiehet, so zeiget sich noch klärer, daß das Ergetzen der Poesie sich noch ferner die Erbauung zu seiner lezten Absicht setzen, und dieselbe durch verschiedene Wege müsse befördern helffen. Was zwar die kleinern Gattungen der Lyrischen Gedichte betrifft, als die Oden, Cantaten, Madrigale, Elegien, Sonnete u.a., so kan man nicht immer fordern, daß sie allemahl grossen Nutzen schaffen, allermassen sie zu einer unschuldigen Kurtzweil dienen, und daher genug ist, wenn sie nur den vornehmsten und Haupt-Zweck der Poesie, nehmlich das Ergetzen, gewähren. Alleine die grössern Hauptstücke der Poesie, als die Epopee, das Trauerspiel, die Comödie, die Satyre, anbelangend, ist unstreitig, daß diese Gattungen Gedichte nicht das blosse Ergetzen, sondern die Besserung des Willens zum Zwecke haben. Das epische oder heroische Gedichte ist eine Schule für den Leser, wo er zu hohen, tugendhaften und großmüthigen Unternehmungen aufgewecket und vorbereitet wird; und die Epische Fabel hat allezeit eine nützliche Hauptlehre in sich; in der Tragödie kan man die Abwechselungen des menschlichen Schicksals erlernen, mittelst des Schreckens und des Mitleidens die Affecten der Leute reinigen, und die Mächtigen durch das Beyspiel anderer, die sich selbst durch ihre Tyrannie in das gröste Elend gestürtzet haben, von Grausamkeit und Gewaltthätigkeit abhalten; die Comödie stellet uns die Mängel gemeiner Personen vor Augen, und ist ein Spiegel des bürgerlichen Lebens, damit die Haus-Väter unter dem Volck lernen, ihren Haushaltungen vorstehen, ihre eigenen Fehler verbessern, und sich an ihrem Stand begnügen. [119] Derowegen muß ich die Poesie nicht nur als eine Kunst betrachten, die in der Nachahmung bestehet, sondern als ein Geschencke des Himmels, und ein köstliches Werckzeug, dadurch Wahrheit und Tugend eingeführet und das Laster verjaget wird. Und diesemnach muß ein Poet in der Wahl seiner Materie nicht alleine auf das Wahre und Neue sehen, und es ist nicht genug, daß seine Vorstellungen natürlich und wunderbar seyn, sondern sie müssen auch ehrbar und nützlich seyn; hiemit müssen sie die Erleuchtung des Verstandes und die Besserung des Willens zum Zwecke haben; an welchen beyden Stücken die Glückseligkeit des menschlichen Lebens einig hängt, und ohne welche kein wahrhaftes und eigentliches, vernünftigen Geschöpfen anständiges Ergetzen statt haben kan.

Von dem Neuen

Der fünfte Abschnitt.
Von dem Neuen.

Macht der Gewohnheit über die Eindrücke der Natur. Kraft des Neuen und Ungewohnten, das Gemüthe zu rühren. Das Neue eine Mutter des Verwundersamen. Verknüpfung des Neuen mit dem Wahren. Hierinnen bestehet das poetische Schöne. Das Wunderbare ist der höchste Grad des Neuen. Die Natur ist ein unerschöpflicher Brunnen des Neuen, worinnen man beständig zu schöpfen findet. Das Kleine ist so verwundernswürdig als das Grosse, wenn es ungewohnt ist. Longinus wird hierüber erkläret. Nothwendigkeit und Gebrauch des kleinen in der Natur. Wie das poetische Auge in etwas kleinem solche Schönheit sehen kan, die dem cörperlichen Gesicht verschlossen ist. Die Neuheit lieget nicht in den Sachen, sondern in den Begriffen. Die Dichtung ist die reichste Quelle des Neuen, und mittheilet sich den meisten. Das poetische Schöne ist an keine Zeit und an keinen Ort angebunden. Der Poet muß sich nach den Landes-Gewohnheiten richten. Lob der Wahl der Materie von dem verlohrnen Paradiese in Absicht auf die unveränderlichen Gebräuche der Personen, so darinnen vorkommen.


Ich muß hier wiederholen, was ich in dem vorhergehnden Abschnitte über die Wahl der Materie angemercket [120] habe, nemlich, daß die Absicht der Natur bey denen verschiedenen Eindrücken, so sie durch ihre Vorstellungen auf das menschliche Gemüthe machet, zweyfach sey; eine daß sie dasselbe durch die Schönheit ihrer todten Werke aufmercksam mache, und sein Verlangen nach Wissenschaft durch einen lehrreichen Unterricht befriedige; eine andere, daß sie sein Gemüthe durch starcke und heftige Eindrücke rühre, an sich ziehe, und dadurch angenehm beschäftigt halte; wobey ich ferner gezeiget habe, daß in diesen beyden Würckungen der Grund alles desjenigen Vergnügens zu suchen sey, welches die Natur und die künstliche Nachahmung derselben zuwegebringet. Dieser Anmerckung gemäß müßte nun die glückliche Nachahmung der Wercke der Natur nothwendig eine von besagten beyden Würckungen thun, und das Gemüthe nach der einen oder der andern Weise mit einem empfindlichen Ergetzen anfüllen. Dieses würde in der That also geschehen, wenn nicht auf Seite des Menschen die betäubende Gewohnheit diesen Würckungen allen Zugang und Einfluß in das Gemüthe versperrete. Die Macht dieser Gewohnheit ist so groß, daß sie die Sinnen bindet, uns aller Empfindung beraubet, und in eine achtlose Dummheit versenket; so gar, daß uns weder das Schöne noch das Grosse, weder das Lehrreiche, noch das Bewegende im geringsten rühren kan, wenn es uns täglich vor Augen schwebet, und wir mit ihm allzu sehr bekannt werden. Die lieblichste Aussicht verliehret durch die Gewohnheit alle Annehmlichkeit für uns; ein Bootsmann, der des Meers gewohnt ist, höret das Toben der ergrimmten See und das Brausen der Wellen mit fast gleichgültigem Gemüthe an; einem wohlgeübten Kriegsmann ist das Gebrülle der Carthaunen, das Metzeln, und die Verheerung eine Kurtzweil; die Erschütterung der Erden wird von den Nachbarn des Vesuvius nicht sonderlich geachtet; ja die Gewohnheit machet uns nicht selten so unachtsam, daß wir auch die grösten Wunder [121] der Natur nichts achten. Unser Opitz beklaget solches in seinem Vesuvius:


Dieß alles ist Natur: Wir aber sind so gar
Geblendet und verstockt, daß wir in allen Wercken
Des weisen Schöpfers Macht und Ordnung nimmer mercken,
Als wenn was neues sich, wie schlecht es auch mag seyn,
Für unsern Augen zeigt. Wie herrlich ist der Schein
Der edeln Sonne doch; noch wirfft man das Gesichte
Gar selten zu ihr auf! Wenn aber ihrem Lichte
Ein trübes Finsterniß wird in den Weg gesezt,
Da läuft der Pöbel zu, da wird es hoch geschäzt,
Und furchtsam angeseh'n. Wir armen Leute pflegen
Mehr etwas, welches fremd, als groß ist, zu erwegen:
Und da was untergeht, so zittern wir dabey,
Als ob nicht alles hier bey gleichem Rechte sey,
Was unterm Himmel ist.

Das ist es, was Longinus in der fünf und dreyssigsten Abtheilung vom Erhabenen mit diesen Worten will zu verstehen geben: εὐπόριστον μὲν ἀνϑρώποις τὸ χρειῶδες ἢ καὶ ἀναγκαῖον, ϑαυμαστὸν δ᾽ ὅμως ἀεὶ τὸ παράδοξον; »Was die Menschen zu ihrem nothwendigen und täglichen Gebrauche vonnöthen haben, das hat gemeiniglich nichts erhabenes an sich, angesehen es nichts seltenes, sondern leicht zu bekommen ist: Hingegen ist das Ausserordentliche allezeit verwundersam.« Die Erfahrung hat diese Wahrheit genugsam bestätigt; das blosse Anschauen einer blühenden Aloe, eines Crocodils, eines Elephanten, kan uns mit einer angenehmen Bewunderung überraschen; die Erzehlungen von den Geschichten, Gebräuchen und Gewohnheiten der ältesten Völcker, die auf Erden gewohnet haben, bringet uns ein besonderes Vergnügen, und unsere Neugierigkeit versiehet [122] uns mit so viel Gedult und Fleiß, als vonnöthen ist, den kleinsten Umständen in ihren Gebräuchen mit der beschwerlichsten Mühe nachzuforschen; die Beschreibungen der Reisen zu den entlegensten Völkern des Erdbodens sind unser angenehmster und beliebtester Zeit-Vertreib. Mit was für Ergetzen vernehmen wir die seltzamen Zeitungen, welche uns die Sternseher und übrigen Schüler der Natur von den entferntesten himmlischen und andern Cörpern, von ihrer Ordnung, Grösse, Anzahl, Beschaffenheit, und von des Schöpfers weisen Absichten mit denselben, gebracht haben! Was zeiget uns nun dieses alles? Daß nicht alles, was natürlich und wahr ist, die Kraft habe, die Sinnen und das Gemüthe auf eine angenehm-ergetzende Weise zu rühren und einzunehmen, sondern daß diese Gabe alleine dem Neuen, Ungewohnten, Seltzamen, und Ausserordentlichen zukomme; zumahl da auch das Schöne, das Grosse und Verwundersame selbst uns ohne den Schein der Neuheit nicht bewegen kan. Also ist es nicht genug, daß die Schildereyen eines Poeten auf die Wahrheit gegründet seyn, wenn diese nicht mit einer ungemeinen und ungewohnten Neuheit gepaaret gehet. Das poetische Wahre ist der Grundstein des Ergetzens, weil das Unnatürliche und Unmögliche uns niemahls gefallen kan: Aber die Neuheit ist eine Mutter des Wunderbaren, und hiemit eine Quelle des Ergetzens. Selbst die philosophische Wahrheit, die auf die Erleuchtung des Verstandes zielet, kan uns nicht gefallen, wenn sie nicht neu und unbekannt ist; niemand läßt sich gerne immer vorsagen, die Sonne mache helle, die Menschen können sterben, und s.f. Und aus dieser Ursache hat die Fabel schon in den ältesten Zeiten ihren Ursprung bekommen, weil man nemlich bedacht seyn müssen, dem Menschen durch dieses Mittel die nützlichsten, aber zugleich bekanntesten moralischen Wahrheiten auf eine angenehme Weise beyzubringen. Wahrhaftig, nichts zeiget deutlicher daß das Wunderbare allemahl [123] angenehm ist, als der Fleiß, den ein jeder, der etwas erzehlet, anwendet, die Wahrheit aufzuputzen, und ihr einen Zusatz zu geben, damit sie den Zuhörenden desto gefälliger werde, wie Aristoteles in seiner poetischen Kunst angemercket hat.

Wenn ich demnach sage, daß das Neue und Ungemeine die einzige Quelle des Ergezens sey, welches die Poesie hervorbringet, so begreiffe ich unter diesem Titel des Neuen alles dasjenige, was nicht durch den täglichen Gebrauch und Umgang bekannt und gewohnt, und daher auch in dem Wahne der Menschen gering und verächtlich worden ist; hiemit alles, was selten gefunden wird, was der Zeit oder des Orts halber von unserer Einsicht allzuweit entfernet ist, was mit unsern Begriffen, Sitten und Gewohnheiten nicht übereinstimmet, und eben durch seinen fremden Aufzug die Sinnen kräftig einnimmt, und eine aufmercksame und angenehme Bewunderung in uns verursachet. Da wir nun alles, was uns gefällig ist und uns belustiget, schön zu nennen pflegen, uns aber nichts gefällig seyn, noch uns belustigen kan, als was auf die Wahrheit gegründet und dabey neu ist, so sehen wir zugleich, worinnen das poetische Schöne bestehet, nemlich, es ist ein hell leuchtender Strahl des Wahren, welcher mit solcher Kraft auf die Sinnen und das Gemüthe eindringet, daß wir uns nicht erwehren können, so schwer die Achtlosigkeit auf uns lieget, denselbigen zu fühlen; es ist unsere angebohrne vorwitzige Begierde nach Wissenschaft, mit einem Abscheu gegen alle Unwissenheit vergesellschaftet. Wie nun eine jede Begierde ein angenehmes Vergnügen hinterläßt, wenn sie des vermeinten Gutes, wornach sie sich sehnet, theilhaftig wird, also wird auch unser Verlangen nach Wissen niemals ohne Ergetzen gespeiset. Je neuer demnach, je unbekannter, je unerwarteter eine Vorstellung ist, desto grösser muß auch das Ergetzen seyn. Nun aber kan nichts neueres seyn, als das Wunderbare, das uns durch das blosse Ansehen entzücket[124] und mit Verwunderung anfüllet, und folglich ist auch nichts angenehmer. Wenn die Sache, die mir der Poet oder der Mahler vorstellet, der Zeit oder des Ortes halben von mir entfernet ist, so werde ich ihnen verbunden, wenn sie mir dieselbe durch ihre Kunst herbeybringen, daß ich sie als mit meinen Augen betrachten und bewundern kan, dermassen, daß ich ungeachtet der Entfernung des Ortes und der Zeit die seltzamen Schicksale des Ulysses, des Eneas, des Ödipus, die Belagerung der Stadt Thebe, den Brand Troiens, die Sachen und die Personen vor mir gegenwärtig habe, sie handeln und reden höre, fast auf die Weise, wie mir die äusserlichen Sinnen solche hätten sehen und hören lassen, wenn ich zu derselben Zeit und auf demselben Platz zugegen gewesen wäre.

Was jezo die Wahl und Erfindung neuer Sachen und Wahrheiten angehet, die uns durch den blossen Vortheil ihrer Neuheit einnehmen und gefallen können, so muß man sich nicht einbilden, daß diese Quelle des Schönen und Neuen zu unsern Zeiten gäntzlich verseuget oder sonst erschöpfet sey; viel weniger muß man sich bereden lassen, daß der nach neuem begierige und erpichte Fleiß des Menschen in der Zeit von etlichen Jahrtausenden schon alles erdacht und erfunden habe, was sich hat sagen lassen, so daß nichts mehr zurücke, und uns nichts als der Ruhm geschickter Übersetzer übrig geblieben, wie jener in Terentzen Comödie geglaubt, der gesagt hat:


Nihil dictum est, quod non dictum sit prius.


Denn die Natur ist in ihrem Vermögen unerschöpflich und in dem Fleiß ihrer Arbeit gantz unermüdet, das Reich der Natur ist so geraum und weitläuftig, hingegen sind die menschlichen Sinnen so blöde und eingeschränckt, daß auch die allergröste Fertigkeit des menschlichen Geistes viel zu schwach ist, den Reichthum der Natur in ihrem unbegräntzten Umfange nur mit den [125] Gedancken zu ermessen, geschweige durch die Nachahmung zu erschöpfen. Die blosse Einbildung von der Möglichkeit ihrer Erschöpfung leget das deutlichste Zeugniß von der hochmüthigen Unwissenheit dessen ab, der sie heget, und giebt eine nicht geringere Vermessenheit zu erkennen, als jenes Knaben, der das Welt-Meer in eine kleine an dem Ufer ausgescharrete Grube abzuzapfen vermeinete. Der nachforschende Fleiß der Menschen wird in dem Reiche der Natur immer neue Materien finden, seine Neugierigkeit zu speisen, und je tiefer er in ihre Geheimnisse eindringet, je lebendiger wird er den unerschöpflichen Abgrund derselben erkennen, und sich tausendmahl eher müde als satt sehen. Wie leicht würde man sich z.E. bereden lassen, die Natur müßte in der verschiedenen Bildung des menschlichen Angesichts nunmehr alle ihre Kunst erschöpfet haben, und es könnte künftighin unmöglich mehr ein Mensch gebohren werden, der nicht einem andern, so vor ihm gewesen ist, vollkommen gleich aussehen müßte, wenn uns nicht die Erfahrung ein anders zeigte? Es ist auch so ferne, daß der Vortheil, welchen diejenigen genossen haben, die vor uns gewesen sind, uns den Muth zu neuen Unternehmungen beschneiden sollte, daß uns vielmehr ihr Exempel aufmuntern und uns die gute Zuversicht beybringen kan, wenn wir diesen Riesen auf die Schultern stehen, werden wir noch viel weiter sehen können, als sie gesehen haben. Wenn diese faule und Arbeit-scheue Zaghaftigkeit jene Römischen Dichter, welche in allen Theilen der Wohlredenheit die vollkommensten Muster der Griechen vor ihnen gehabt hatten, eingenommen hätte, oder wenn noch in den jüngst vergangenen Zeiten Moliere, Corneille, Racine, Boileau, Milton, Pope, Opitz, Haller, sich durch dergleichen Wahn hätten niederschlagen lassen, wo wären ihre berühmten und unsterblichen Wercke, die kein Rost der Zeiten jemahls verzehren wird? Ja was noch mehr ist, man beliebe sich vorzustellen, wie sehr [126] nur seit Opitzens Zeiten die Künste und Wissenschaften durch den scharfsinnigen Fleiß grosser Geister in allen absonderlichen Theilen gestiegen sind, und erweitert worden; welches uns in Ansehung der Materie der Nachahmung einen unbeschreiblichen Vortheil über die Alten ertheilen würde, wenn wir nicht zu langsam und ungeschmeidig wären, uns dessen zu bedienen. Da also die Geheimnisse der Natur, und hiemit die Minen des verwundersamen Neuen in den Schriften unsrer heutigen Weltweisen aufgeschlossen vor Augen liegen, so bleibet mir nichts mehr übrig, als diejenigen, die sich über den Pöbel unsrer heutigen Meister-Sänger und Reim-Bezwinger erheben wollen, aufzumuntern, daß sie sich aus diesen Castalischen Brunnen berauschen. Es gilt auch hier:


– – – – Cui lecta potenter erit res,
Nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo.

Und was Phäder von den Esopischen Fabeln gesagt hat, können wir mit eben so viel Recht von der Materie aller anderer Gattungen Gedichte sagen:


Materia tanta abundat copia
Labori faber ut desit, non fabro labor.

Wer solches in Ansehung der Tragödie und der Comödie ausgeführet lesen will, der sehe Dübos critische Betrachtungen über die Poesie und die Mahlerey nach, in dem sieben und zwanzigsten Abschnitte des ersten Th. Ich habe mir zuweilen in Gedancken vorgestellet, was vor unbeschreibliche Vortheile ein heutiger Lucretius nur mittelst der rohen Materie seines Gedichtes durch die blosse Neuheit und Seltzamkeit seiner Vorstellungen dem römischen Poeten abgewinnen könnte, und die Versuche, welche die deutschen Poeten einige Jahre daher, durch das Exempel des geschickten Hrn. Brockes [127] aufgewecket, in dieser Art Gedichte an das Licht gestellet haben, machen die Hoffnung bey mir rege, daß die Tage nicht mehr ferne seyn, die uns einen Poeten hervorbringen werden, der sich die bedeuteten Vortheile rechtschaffen zu Nutze machen, und dadurch sich über den Ruhm der Alten hinaufschwingen wird. Dieses, was ich von meinen Landsleuten erst hoffe, können die Engelländer an dem vortrefflichen Gedichte ihres berühmten Pope auf den Menschen würcklich aufweisen, welches sie in Absicht auf die Neuheit der Materie allen dogmatischen Gedichten der Alten mit Recht vorziehen dörfen.

Diese allgemeine Betrachtung des poetischen Schönen, Neuen und Wundersamen, welches dem Wahren alle Kraft und Stärcke, auf das menschliche Gemüthe einzudringen, mittheilet, muß ich nun mit einigen absonderlichen Anmerckungen begleiten, damit ich meine Gedancken in ein klares Licht setze, und gegen allen Widerspruch verwahre. Ich erkläre mich demnach zum ersten, daß ich diese entzückende Anmuth und verwundersame Kraft der Neuheit allerley Dingen ohne Unterschied ihrer Grösse oder Kleinigkeit beylege. Es scheinet zwar, daß alleine das Hohe und Grosse verwundernswürdig sey, und es hat das Ansehen, als wenn Longinus in der fünf und dreyssigsten Abtheilung vom Erhabenen dem Kleinen das Vermögen, eine angenehme Verwunderung in der Brust zu erwecken, abschlagen wolle, indem er sagt: »Das Hohe und Schöne behält in allem die Oberhand; deßwegen bewundern wir, gleichsam aus einem natürlichen Triebe, niemahls kleine Bäche, sie mögen auch noch so klar und nützlich seyn; wohl aber den Nil, die Donau, den Rhein, und um so viel mehr den grossen Ocean: So wird auch ein Feuer, das wir selbst angesteckt, ob es gleich beständig helle leuchtet, nicht so sehr von uns bewundert, als jene grossen Lichter am Himmel, ob sie gleich zuweilen verdunckelt werden: Wie wir dann nicht weniger die Öfnung des Berges Ätna bewundern, [128] durch dessen Schlund aus dem innersten Abgrunde grosse Steine nebst gantzen Felsen-Stücken geworffen, und feurige Schwefel-Ströhme ausgegossen werden.« Nun will ich in der That gerne einräumen, daß das Grosse in Vergleichung mit dem Kleinen von einer gleichen Art einen weit stärkern Eindruck auf die Sinnen mache, und alleine die Kraft habe uns in Erstaunen zu setzen, zumahl da wohl bekannt ist, daß ein stärckerer Eindruck den schwächern allemahl auslöschet; welches eben das ist, was Longinus mit den angeführten Beyspielen beweisen wollte: Mit dem allem aber ist es so fern, daß das Grosse vor sich selbst eine genugsame Kraft haben sollte, Verwunderung zu erwecken, daß es so wohl als das Kleine alle Kraft gar verliehret, wenn es nicht neu und ungewohnt ist. Der tägliche Auf- und Untergang der Sonnen rühret uns ohne Vergleichung minder, als die Erscheinung eines Cometen oder einer feurigen Luft-Geschichte, und eine prächtige Erleuchtung von Kertzen bringet uns, wenn sie uns ungewohnt ist, mehr Ergezen, als eine Nacht, die von dem leuchtenden Monde und dem gantzen Sternen-Heer helle gemachet wird. Und auf diese Weise hat auch derjenige Unbekannte den Sinn des Longinus verstanden, der in der Überschrift dieser Abtheilung den Innhalt derselben mit denen Worten begriffen hat, τὸ μέγα, οὐ τὸ κοινὸν ϑαυμάζεται, sonst würde er dem Kleinen das Grosse entgegen gesetzet haben; zumahl da das Grosse nicht weniger als das Kleine κοινον, gemein und gewöhnlich seyn kan. Das Kleine ist in der Schöpfung eben so nothwendig, als das Grosse, und dienet so wohl zu der Harmonie des Gantzen als dieses, ja dieses heisset nur in Vergleichung mit dem Kleinen so; es wäre nichts grosses, wenn nichts kleines wäre, jenes bestehet aus diesem. Zudem ist die Natur in dem Kleinen eben so groß und wunderbar als in dem Grossen; Rerum natura nusquam magis quam in minimis tota, sagt Plinius im eilften B. seiner Historie der Natur; [129] und in der Vorrede zu dem sieben und dreyssigsten B. In arctum coacta rerum naturæ majestas multis nulla sui parte mirabilior. Ja ein Reaumüre findet in dem Kleinen noch weit mehr Kunst, als in dem Grossen. Die Saft-Kügelgen, welche in den Insecten ihren Circkel-Lauf durch alle die kleinen Lebens-Gefässe derselben fortführen, düncken ihn der Bewunderung besser würdig, als die Bewegungen der himmlischen Sphären. Da die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung ist, muß das Kleine eben so wohl als das Grosse seinen Platz darinnen haben. Es gehöret nur die Sorge dazu, daß es am rechten Orte und im gehörigen Licht gesetzet werde, welches einen gesunden Verstand, der mit einem gewissen Vorsatz schreibet, und weiß, was vor Eindrücke er an jedem Ort auf das Gemüthe machen soll, und was vor Sinnbilder solches zuwegebringen, nicht schwer ankommen wird.

Aristoteles gehet noch weiter, und verneinet in dem vierten B. seiner Sittenlehre ausdrücklich, daß das Kleine könne schön genennet werden: »Die Großmuth«, sagt er, »bestehet in der Grösse der Seelen, eben wie die Schönheit in einer gemessenen Grösse des Leibes. Junge Leute können, wenn sie klein sind, wohl artig und wohlgemacht, aber nicht schön genannt werden.« Und in seiner Poetick will er weder dem allzu grossen noch dem allzu kleinen den Nahmen des Schönen zugestehen. »Nichts allzu kleines kan schön seyn«, sagt er im siebenden Cap. § 5. »weil das Gesicht sich in einer Sache verliehret, von der man einen schier unvermerckten Blick einnimmt. Auch nichts allzu grosses kan schön seyn, weil man es nicht auf einmahl übersiehet, und indem man seine Theile nach und nach, einen nach dem andern, siehet, den Begriff von dem Gantzen verfehlet, wie wenn man ein Thier zehntausend Stadia groß übersähe.« Aus diesem könnte nun jemand den Schluß ziehen wollen, daß hiemit auch in der Poesie das Schöne und Verwundersame weder bey allzu grossen, noch bey allzu kleinen [130] Dingen statt haben könne. Alleine man beliebe sich hier vorzustellen, daß der griechische Weltweise von der Schönheit der sichtbaren Dinge redet, insofern dieselbe durch das menschliche Auge entdecket wird; er nimmt daher dieses Wort in einem gar engen Verstand, und setzet die wesentliche Schönheit cörperlicher Dinge in einer Ordnung und Übereinstimmung der Theile, die dem Gantzen eine gleichgemessene Grösse mittheilet. Nun ist es zwar ohne Streit, wenn das Gantze so klein ist, daß man die Theile desselben nicht mehr deutlich unterscheiden kan, oder wenn das Gantze so ungeheuer ist, daß man kaum einige absonderliche Theile davon auf einmahl übersehen kan, so kan man beydemahl nicht sagen, daß uns etwas von dieser Art als schön vorkomme: Gleichwohl hindert dieses nicht, daß etwas nicht schön sey, wenn dessen Schönheit gleich unsrem blöden und eingeschränckten Gesichte verborgen ist, und wir die Ordnung und Harmonie der Theile mit dem blossen Auge nicht genugsam entdecken können. Es kan seyn, daß dieses alles in einen geschärften und vergrösserten Gesichtes-Sinn weit schöner fällt; man erinnere sich nur, wie viele vormahls verborgene Schönheiten das Auge, mit einem Vergrösserungs-Glase bewaffnet, uns in der Welt der kleinen Dinge entdecket hat. Da nun der poetische Pinsel das Vermögen hat, dem Gemüthe diese Schönheiten des Kleinen so wohl als des Grossen, die dem blossen Auge unbekannt sind, recht lebhaft vorzumahlen, so ist daraus offenbar, daß das poetische Schöne in dem Kleinen wie in dem Grossen Platz habe, und daß die poetischen Schildereyen dem Verstande auch in sichtbaren Dingen solche verwundersame Schönheiten vor Augen legen können, die dem sinnlichen Auge gantz verschlossen sind. Zu diesem kömmt noch, daß wir unter dem Nahmen des poetischen Schönen alles begreiffen, was das Gemüthe des Lesers durch die poetische Vorstellung entzüket, und mit einem süssen Ergetzen erfüllet; diese [131] Würckung aber führen, wie oben erwiesen ist, alle Dinge mit sich, die in der Wahrheit gegründet und dabey neu und verwundersam sind, sie kommen gleich in ihrer nackenden Gestalt den äusserlichen Sinnen groß oder klein, angenehm oder widerig vor.

Eine andere Anmerckung, die sich auf die Natur dessen gründet, was wir neu und verwundernswürdig zu nennen pflegen, bestehet darinn, daß einigen etwas in der Natur als fremd, seltzam, neu und wunderbar vorkommen kan, was andern gantz bekannt und etwas gewöhnliches ist, daher es denn auch bey diesen seine angenehme Kraft zu bewegen verliehret. Diese verwundersame Neuheit in den Vorstellungen lieget demnach eigentlich nicht in denen Sachen, die uns vorgestellet werden, sondern in den Begriffen dessen, der von einer Vorstellung nach seiner Empfindung urtheilet; und das ungleiche Urtheil, welches von dem Neuen gefället wird, rühret theils von der ungleichen Gelegenheit her, die dem Menschen in dieser Welt vergönnet ist, sich nach dem zufälligen Stande seines mit Werckzeugen der Sinnen begabten Cörpers, mit gewissen Gegenständen mehr, mit andern weniger bekannt zu machen; theils entstehet es von der ungleichen Fähigkeit und dem daher rührenden verschiedenen Maasse der Erkänntniß; welches Ursache ist, daß noch unerfahrne Kinder alle Sachen ohne Unterschied mit einer dummen Bewunderung angaffen, weil ihnen alles fremd, neu und seltzam vorkommen muß. Niemand wird sich vornehmen, erwachsene Männer, die Witz und Erfahrung haben, mit dergleichen Erzehlungen und Mährgen, an welchen er die Kinder sich belustigen siehet, erfreuen zu wollen. In die Classe der Kinder gehöret aller Pöbel des menschlichen Geschlechtes, der sich um die Erkänntniß der Wahrheit nicht bekümmert, und in derselben ein Kind ist.


Denique non omnes eadem mirantur amantque.


[132] Bey dieser Bewandtniß, da das verwundersame Neue nicht in den Sachen selbst, die uns auf eine angenehme Weise entzücken, stecket, sondern in dem Urtheil der Menschen nach dem ungleichen Maasse ihrer Erkänntniß, ist es unmöglich, die Kraft, eine angenehme Verwunderung zu erwecken, die ich dem poetischen Neuen zugeeignet habe, an gewisse absonderliche Gegenstände und Arten der Vorstellung eigentlich zu binden und einzuschräncken: Doch kan man überhaupt sagen, daß die Dichtung die reicheste Quelle des Neuen und Verwundersamen sey; und, daß das Neue, welches sie aus ihrem eigenen Grund und Boden an das Licht hervorbringet, allgemein und jedermann zu rühren fähig sey; vornehmlich aber thut es diese Würckung auf einem hohen Grade auf diejenigen, für welche die Poesie eigentlich gewiedmet ist. Diese gehöret unter die Artes populares, und muß beflissen seyn, das Ergetzen des grösten Theils der Menschen zuwege zu bringen, und nicht bloß etliche wenige an Verstand, Wissenschaft und tiefer Einsicht, über das gemeine Looß der Menschen erhabene Geister zu befriedigen; für solche ist die Poesie nicht erfunden worden, weil dieselben eines höhern, edlern, und von den Sinnen gantz abgezogenen Ergetzens fähig sind. Die nackete Wahrheit hat für diese so viel anzügliches, daß es ihnen nothwendig verdrüßlich fallen muß, wenn ihre Schönheiten ihnen aus dem Gesicht entzogen und verstecket werden, ob dieses gleich durch den prächtigsten Schmuck der Kleidung geschähe. Jedoch weil auch solche erhabene Geister einen Gefallen daran haben müssen, wenn die Wahrheiten, von ihnen durch tiefes Nachsinnen oder sonst erkannt, allgemein gemachet werden, so muß die Poesie, als das bequemste Mittel dazu, bey ihnen dennoch in einem hohen Werth stehen.

Was nun insbesondere die nach Zeit und Ort so verschiedenen Gewohnheiten, Sitten, Gebräuche, und Meinungen gantzer Völcker anbelanget, so muß man freylich [133] gestehen, daß das poetische Schöne in dieser Absicht am wenigsten an eine besondere Zeit oder Ort kan gebunden und festgestellet werden, alldieweil diese Sachen durch ihre stete Veränderung den Begriff von dem Schönen, und den Preiß des verwundersamen Neuen in diesem Stücke zugleich mitverändern. Was zu einer Zeit vor schön, anständig und verwundersam gehalten worden, das kan bey geänderten Sitten in Vergleichung mit neuen Begriffen von dem Schönen einen gantz widrigen Eindruck machen. Auf diesen Grund hat der Herr Dacier über das fünf und zwanzigste Capitel der Poetick des Aristoteles eine gute Anmerckung gemachet: »Virgil«, sagt er, »hat nicht alle Sachen vor brauchbar gehalten, die Homerus gebraucht hat, denn etwas, das in dem Welt-Alter des griechischen Poeten verwundersam war, hätte zu Augusts Zeit übel mögen aufgenommen werden, darum muß ein Poet seine Erdichtungen nach der Gemüthes-Art, dem Naturell, den Gewohnheiten und Sitten seiner Zeit und seines Landes einrichten.« Und dieses giebt mir Anlaß, beyläuftig die erwehlete Materie des vortrefflichen Miltons von eines Vortheils wegen zu rechtfertigen, der bißdahin noch von niemand bemercket oder erkannt worden. Solcher bestehet darinnen, daß sich schwerlich eine Materie zu einem ausführlichen Gedichte, da nur blosse Menschen aufgeführet werden, wird finden lassen, welches in Vorstellung der Sitten den Beyfall nicht nur einer, sondern aller christlichen Nationen wird erhalten können, und das nicht mit dem Lauffe der Zeit in diesem Puncten einen Abgang an Schönheiten zu befahren habe: Da hingegen die Sitten und Gebräuche derer Wesen, die Milton aufgeführet hat, dießfalls ausser Gefahr sind, weil sie nicht von mehr als einer Art seyn können, hiemit unveränderlich sind, und sich in der göttlichen Offenbarung gründen, die ewig fest bleibet, und daran alle vernünftigen Christen immerfort eine wahre Lust haben.

Von dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen

[134] Der sechßte Abschnitt.
Von dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen.

Das Wunderbare ist die äusserste Stafel des Neuen. Natur des Wunderbaren. Verbindung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen. Natur des Wahrscheinlichen. Was in dem weitläuftigsten Verstande wahrscheinlich sey. Die Bedeutung dieses Wortes wird enger eingeschräncket. Grund der Wahrscheinlichkeit in der Übereinstimmung mit den gegenwärtigen Gesetzen der Natur. Ein andrer Grund derselben, der in den Kräften der Natur bestehet. Genauere Grundsätze des Wahrscheinlichen. Der Poet stellet das Wahre als wahrscheinlich, und das Wahrscheinliche als wunderbar vor. Unterschied in den menschlichen Urtheilen von dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen. Bezaubernde Kraft der Verbindung des Wunderbaren und des Wahrscheinlichen. Erste Quelle des Wunderbaren, das von dem möglichen Zusammenhange der Dinge nach andern Absichten, als der gegenwärtige hat, entstehet. Allegorische Art der Fabel, da der Poet neue Wesen erschaffet. Exempel derselben in Königs befriedigtem Elbe-Strohme. Von Einmischung allegorischer Personen unter historischen. Exempel von Homers Vorstellung der Zweytracht in dem Begleite des Krieges-Gottes. Vergleichung derselben mit Virgils Beschreibung des Gerüchtes. Königs Einführung der Zweytracht und der Eintracht in dem ersten Gesange von dem Lager. Grund der Wahrscheinlichkeit der allego rischen Wesen. Esopische Art der Fabel, da die Wesen zu einer höhern Natur erhoben werden. Eine andere Quelle des Wunderbaren entsteht von der unsichtbaren Welt der Götter und Geister. Vertheidigung Homers gegen die Beschuldigung, daß er seinen Göttern die Schwachheiten der Menschen angedichtet habe.


Wer meine gegebene Erklärung von dem Neuen, als der Urquelle aller poetischen Schönheit, vor Augen hat, wird leicht gedencken können, daß auch dieses Neue seine verschiedenen Grade und Staffeln haben müsse, je nachdem es mehr oder weniger von unsren Sitten abgehet, und sich entfernet. Nach dem Grade dieser Entfernung wächßt und verstärcket sich die Verwunderung, die durch das Gefühl dieser Neuheit in uns entstehet; wenn denn die Entfernung so weit fortgehet, biß eine Vorstellung unsern gewöhnlichen Begriffen, die wir von dem ordentlichen Laufe der Dinge haben, entgegen zu [135] stehen scheinet, so verliehret sie den Nahmen des Neuen, und erhält an dessen statt den Nahmen des Wunderbaren. Sobald ein Ding, das das Zeugniß der Wahrheit oder Möglichkeit hat, mit unsren gewöhnlichen Begriffen zu streiten scheinet, so kan es uns nicht bloß als neu und ungewohnt vorkommen, sondern es wird das Gemüthe in eine angenehme und verwundernsvolle Verwirrung hinreissen, welche daher entspringet, weil wir mit unserm Verstand durch den reizenden Schein der Falschheit durchgedrungen, und in dem vermeinten Widerspruch ein geschicktes Bild der Wahrheit und eine ergezende Übereinstimmung gefunden haben.

Demnach ist das Wunderbare in der Poesie die äusserste Staffel des Neuen, da die Entfernung von dem Wahren und Möglichen sich in einen Widerspruch zu verwandeln scheinet. Das Neue gehet zwar von dem gewöhnlichen Laufe und der Ordnung der Dinge auch ab, doch entfernet es sich niemahls über die Gräntzen des Wahrscheinlichen, es mag uns in Vergleichung mit unsern Gewohnheiten und Meinungen noch so fremd und seltzam vorkommen, so behält es doch immer den Schein des Wahren und Möglichen. Hingegen leget das Wunderbare den Schein der Wahrheit und Möglichkeit ab, und nimmt einen unbetrüglichen Schein des Falschen und Widersprechenden an sich; es verkleidet die Wahrheit in eine gantz fremde aber durchsichtige Maßke, sie den achtlosen Menschen desto beliebter und angenehmer zu machen. In dem Neuen herrschet dem Scheine nach das Wahre über das Falsche; in dem Wunderbaren hat hingegen der Schein des Falschen die Oberhand über das Wahre.

Ich begreiffe demnach unter dem Nahmen des Wunderbaren alles, was von einem andern widerwärtigen Bildniß oder vor wahr angenommenen Satze ausgeschlossen wird; was uns, dem ersten Anscheine nach, unsren gewöhnlichen Begriffen von dem Wesen der Dinge, von [136] den Kräften, Gesetzen und dem Laufe der Natur, und allen vormahls erkannten Wahrheiten in dem Licht zu stehen, und dieselben zu bestreiten düncket. Folglich hat das Wunderbare für den Verstand immer einen Schein der Falschheit; weil es mit den angenommenen Sätzen desselben in einem offenbaren Widerspruch zu stehen scheinet: Alleine dieses ist nur ein Schein, und zwar ein unbetrüglicher Schein der Falschheit; das Wunderbare muß immer auf die würckliche oder die mögliche Wahrheit gegründet seyn, wenn es von der Lügen unterschieden seyn und uns ergetzen soll. Denn wofern der Widerspruch zwischen einer Vorstellung und unsren Gedancken eigentlich und begründet wäre, so könnte eine solche keine Verwunderung in uns gebähren, eben so wenig, als eine offenbare Lüge oder die Erzehlung von lediglich unmöglichen und unglaublichen Dingen den Geist des Menschen rühren und belustigen kan; und falls das Wunderbare aller Wahrheit beraubet seyn würde, so wäre der gröbeste Lügner der beste Poet, und die Poesie wäre eine verderbliche Kunst. Die Poeten sind dem Junius Brutus gleich, der witzig und gescheut war, ob er gleich dem König Tarquinius, dem Stolzen, als wahnwitzig vorkam, weil er sich mit Fleiß angestellet, als ob er im Hirn verrüket wäre, damit er seine Anschläge und Anstalten, der Tyrannie dieses Fürsten ein Ende zu machen, unter dieser Verstellung desto sicherer verbergen möchte. Also sind auch die vermeinten Deliria und Ausschweiffungen der poetischen Phantasie mit einer verwundersamen Urtheils-Kraft begleitet, und ein bequemes Mittel, die Aufmercksamkeit der Menschen zu erhalten, und ihre Besserung zu befördern. Das Wunderbare ist demnach nichts anders, als ein vermummetes Wahrscheinliches. Der Mensch wird nur durch dasjenige gerühret, was er gläubt; darum muß ihm ein Poet nur solche Sachen vorlegen, die er glauben kan, welche zum wenigsten den Schein der Wahrheit haben. Der Mensch verwundert sich [137] nur über dasjenige, was er vor etwas ausserordentliches hält; darum muß der Poet ihm nur solche Sachen vorlegen, die ausser der Ordnung des gemeinen Laufes sind; und diese beyden Grund-Regeln, die einander so sehr entgegen zu laufen scheinen, mit einander zu vergleichen, muß er dem Wunderbaren die Farbe der Wahrheit anstreichen, und das Wahrscheinliche in die Farbe des Wunderbaren einkleiden. Auf einer Seiten sind die Begebenheiten, die aufhören wahrscheinlich zu seyn, weil sie allzu wunderbar sind, nicht fähig die Menschen zu rühren; auf der andern Seiten, machen die Begebenheiten, die so wahrscheinlich sind, daß sie aufhören wunderbar zu seyn, die Leute nicht aufmercksam genug. Mit den Meinungen hat es eben die Bewandtniß, wie mit den Begebenheiten. Die Meinungen, die nichts wunderbares in sich haben, dieses mag in der Großmüthigkeit oder in der Zueigenung der Meinung, oder in der Nettigkeit des Gedanckens, oder in der Richtigkeit des Ausdruckes bestehen, scheinen platt. Jedermann, heißt es, hätte dieses gedencken können. Hingegen scheinen allzu wunderbare Meinungen falsch, und über die Schnur getrieben. In den Romanen von Amadiß, von Lancellot, und andern irrenden Rittern, fehlet es fürwahr an Wunderbarem nicht, im Gegentheil sind sie damit angefüllet, aber ihre Erdichtungen ohne Wahrscheinlichkeit, und ihre allzu wunderthätigen Begebenheiten verursachen bey Lesern von geseztem Urtheil, die an Virgil und seines gleichen einen Geschmack finden, lauter Eckel. Kurtz, das Wunderbare kan einem richtigen Kopf weder gefallen, noch Ersetzen bringen, wenn es nicht mit dem Wahrscheinlichen künstlich vereinigt, und auf dasselbe gegründet ist.

Weil nun in dieser Verbindung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen die vornehmste Schönheit und Kraft der Poesie bestehet, so würde ich auf halbem Wege stehen bleiben, wenn ich nicht jetzo die Natur des poetischen Wahrscheinlichen erklärete, nachdem ich die Natur [138] des Wunderbaren erkläret habe. Nach diesem wird ein leichtes seyn, ein jedes von diesen beyden Stücken in seine gehörigen Gräntzen einzuschliessen.

Ich verstehe durch das Wahrscheinliche in der Poesie alles, was nicht von einem andern widerwärtigen Begriff, oder für wahr angenommenen Satze ausgeschlossen wird, was nach unsren Begriffen eingerichtet zu seyn, mit unsrer Erkenntniß und dem Wesen der Dinge und dem Laufe der Natur übereinzukommen, scheinet; hiemit alles, was in gewissen Umständen und unter gewissen Bedingungen nach dem Urtheil der Verständigen möglich ist, und keinen Widerspruch in sich hat. Dieses Wahrscheinliche gründet sich demnach auf eine Vergleichung mit unsren Meinungen, Erfahrungen, und angenommenen Sätzen, nach welchen wir unsren Beyfall einzurichten, und die Glaubwürdigkeit einer Vorstellung zu beurtheilen pflegen, und es bestehet in einer Übereinstimmung mit denselben. Hiemit ist es nicht dem lediglich Unmöglichen, wie das Wahre, sondern dem Wunderbaren, welches nur einen Schein der Falschheit hat, entgegen gesetzet. Ich habe an einem andern Orte angemercket, daß in dem weitläuftigsten Verstande alles kan wahrscheinlich genennt werden, was durch die unendliche Kraft des Schöpfers der Natur möglich ist, hiemit alles, was mit denen ersten und allgemeinen Grundsätzen, auf welchen alle Erkenntniß der Wahrheit beruhet, in keinem Widerspruch stehet. Das Unmögliche und sich selbst Widersprechende hat auch in der Macht des Schöpfers keinen Grund der Wahrheit, und der menschliche Verstand kan solches keinesweges begreiffen. Also ist unmöglich, daß etwas zugleich seyn und nicht seyn, so und anderst seyn könne; daß etwas ohne einen zureichenden Grund seiner Würcklichkeit seyn könne; daß ein Theil so groß sey, als sein Gantzes; daß zwo grade Zahlen mit einander verbunden eine ungrade Zahl ausmachen, und so fort. Was mit diesen und andern dergleichen [139] sich selbst beweisenden Grundsätzen streitet, das ist eine offenbare Lüge, und hat in keinen Umständen und unter keiner Bedingung einige Möglichkeit; angesehen es auch lediglich unmöglich ist, daß durch die göttliche Kraft selbst etwas von dieser Art seyn könne. Das Unwahrscheinliche in der Poesie hat allemahl eine Möglichkeit schlechterdings zu reden, die in der Macht des Schöpfers der Natur gegründet ist; es ist unwahrscheinlich und unmöglich alleine in Absicht auf gewisse ausgesezte Bedingungen und Umstände, mit und in welchen es vorkömmt, wenn es mit denselben in einem Widerspruch stehet, ob es gleich unter andern Bedingungen und in andern Umständen nicht unmöglich wäre. Der Schöpfer der Natur hat allen erschaffenen Dingen ein ausgeseztes Wesen, Kraft und Vermögen mitgetheilet, er hat ihnen gewisse Gesetze vorgeschrieben, nach welchen sie ihre Handlungen einrichten müssen, er hat sie auch der Zeit und des Ortes halber nach gewissen Absichten mit einander verknüpfet: Was nun durch die Kraft dieser erschaffenen Wesen nach denen bestimmeten Gesetzen der Bewegung und dem Laufe der Natur in gewissen Umständen möglich ist, das ist wahrscheinlich, weil es mit unsern gewöhnlichen Begriffen übereinstimmet; und dieses Wahrscheinliche ist von dem Wahren alleine darinnen unterschieden, daß es kein genugsames Zeugniß der Würcklichkeit hat. Weil aber die gegenwärtige Einrichtung der Welt der würcklichen Dinge nicht schlechterdings nothwendig ist, so hätte der Schöpfer bey andern Absichten Wesen von einer gantz andern Natur erschaffen, selbige in eine andere Ordnung zusammen verbinden, und innen gantz andere Gesetze vorschreiben können: Da nun die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung und der Natur nicht nur in dem Würcklichen, sondern auch in dem Möglichen ist, so muß ihre Dichtung, die eine Art der Schöpfung ist, ihre Wahrscheinlichkeit entweder in der Übereinstimmung mit den gegenwärtiger [140] Zeit eingeführten Gesetzen und dem Laufe der Natur gründen, oder in den Kräften der Natur, welche sie bey andern Absichten nach unsern Begriffen hätte ausüben können. Beydemahl bestehet die Wahrscheinlichkeit darinn, daß die Umstände mit der Absicht übereinstimmen, daß sie selber in einander gegründet seyn, und sich zwischen denselben kein Widerspruch erzeige. Was die Erdichtung und Aufstellung gantz neuer Wesen und neuer Gesetze anbelanget, so hat der Poet dießfalls eine grosse Vorsicht und Behutsamkeit zu gebrauchen, daß das Wunderbare nicht ungläublich werde und allen Schein der Wahrheit verliehre. Er muß darum, seine Freyheit zu erdichten, wenigst nach dem Wahne des grösten Haufens der Menschen einschräncken, und nichts vorbringen, als was er weiß, daß es schon einigermaassen in demselben gegründet ist. Wenn Aristoteles in seiner Poetick von der poetischen Materie handelt, so eignet er derselben zu, ἢ οἷα ἦν, ἢ ἔοτιν, ἢ οἷά φασι καὶ δοκεῖ, ἢ οἷα εἶναι δεῖ, was entweder war, oder jetzo ist, oder was zu seyn scheinet, und was laut der Sage ist, oder was seyn soll. Damit lehret er zugleich, was der Grundstein und das Band der Vereinigung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen sey. Nemlich, die Wahrscheinlichkeit und die Möglichkeit auch der seltzamsten und wunderbarsten Vorstellungen muß in einem von folgenden Stücken gegründet seyn, entweder in dem Zeugniß der Historie, oder der Sage und eines angenommenen Wahnes, oder in einer Vermehrung oder Verminderung der würcklichen Vollkommenheiten. Das Wahrscheinliche muß demnach von der Einbildung beurtheilet werden, und die Grundsätze, auf welche diese ihr Urtheil gründet, sind folgende: I. Was durch glaubwürdige Zeugen bestetigt wird, das kan man annehmen. II. Den Vorstellungen der Sinnen darf man trauen. III. Was bey einem grossen Haufen der Menschen Glauben gefunden hat, und eine Zeitlang von einem Geschlechte zu dem andern fortgepflanzet worden, [141] das ist nicht zu verwerffen. IV. Was nach gewissen Graden eingeschränket ist, das kan vollkommener oder unvollkommener seyn. V. Was einmahl geschehen ist, das kan wieder geschehen. Was nun mit diesen und andern dergleichen Grundsätzen des Wahnes übereinstimmet, es mag dem reinen Verstande noch so wunderbar und widersinnig vorkommen, das ist für die Einbildung gläublich und wahrscheinlich. Man muß also das Wahre des Verstandes und das Wahre der Einbildung wohl unterscheiden; es kan dem Verstand etwas falsch zu seyn düncken, das die Einbildung für wahr annimmt: Hingegen kan der Verstand etwas für wahr erkennen, welches der Phantasie als ungläublich vorkömmt; und darum ist gewiß, daß das Falsche bisweilen wahrscheinlicher ist, als das Wahre. Das Wahre des Verstandes gehöret für die Weltweißheit, hingegen eignet der Poet sich das Wahre der Einbildung zu; daher hat Aristoteles im fünf und zwanzigsten Cap. der Poetick gesagt: »Der Poet muß die unmöglichen Dinge, wenn solche nur wahrscheinlich sind, denen möglichen, die bey ihrer Möglichkeit ungläublich sind, vorziehen.« Er hat nicht nöthig seine Vorstellungen vor wahr zu verkauffen; wenn sie nur nicht ungläublich sind, so eröffnen sie ihm schon den Zugang zu dem menschlichen Hertzen, so daß er dadurch die erforderliche Würckung auf dasselbe thun kan. Die eigenthümliche Kunst des Poeten bestehet demnach darinnen, daß er die Sachen, die er durch seine Vorstellung angenehm machen will, von dem Ansehen der Wahrheit bis auf einen gewissen Grad künstlich entferne, jedoch allezeit in dem Maasse, daß man den Schein der Wahrheit auch in ihrer weitesten Entfernung nicht gäntzlich aus dem Gesichte verliehret. Folglich muß der Poet das Wahre als wahrscheinlich, und das Wahrscheinliche als wunderbar vorstellen, und hiemit hat das poetische Wahrscheinliche immer die Wahrheit, gleichwie das Wunderbare in der Poesie die Wahrscheinlichkeit zum Grunde.

[142] Beyde, das Wunderbare und das Wahrscheinliche, haben demnach ihre Grade und Staffel, nach welchen sie einander biß zur Vermischung nähern, oder sich von einander biß an ihre äussersten Gräntzen entfernen; je nachdem der Schein der Wahrheit über den Schein der Falschheit mehr oder weniger die Oberhand hat; je mehr das Wunderbare in einer Vorstellung steiget und wächst, desto mehr verbirgt und vermindert sich das Wahrscheinliche; je offenbarer hingegen der Schein der Wahrheit ist, desto mehr verliehret sich das Wunderbare.

Es sind auch die Urtheile der Menschen von dem Wunderbaren und Wahrscheinlichen sehr ungleich und unterschiedlich: Alles dasjenige, was für die Gelehrten wahrscheinlich ist, ist es gleichermaassen für das gemeine Volck, aber nicht alles das, was für die Unwissenden wahrscheinlich ist, ist es auch allemahl für die belesenen Leute. Die Verwunderung und die Leichtgläubigkeit sind Töchter der Unwissenheit. Daher ließt der rohe und unwissende Pöbel gemeiniglich die abentheurlichsten Erzehlungen von Hexen, Zauberern, weisen Frauen, Gespenstern, und die Romanen von den irrenden Rittern, mit dem grösten Ergetzen, welches nicht geschehen könnte, wenn dieselben ihm ungläublich und unwahrscheinlich vorkämen; wo man die Kräfte der Natur nicht kennet, und nicht fähig ist, die weise Verknüpfung der Umstände unter einander, und mit den Absichten einzusehen, da ist man nicht geschickt, das Unwahrscheinliche zu entdecken: Hingegen je genauer einer die Gesetze und Kräfte der Natur und das Wesen der Dinge kennet, desto besser wird es ihm gelingen, das Wahrscheinliche genau und richtig zu bestimmen, und desto mehr Fertigkeit wird er in Unterscheidung des Abentheurlichen von dem Wunderbaren zeigen. Von dieser besondern Art der poetischen Vorstellungen, in welchen das Wunderbare mit dem Wahrscheinlichen künstlich verbunden ist, entstehet die bezaubernde Kraft der Dicht-Kunst. Die Zauberer [143] täuschen uns auf eine angenehme Weise durch den geborgten Schein der Wahrheit und Würcklichkeit; der Poet hintergehet uns hingegen auf eine noch unschuldigere Weise zum Behuf der Wahrheit durch einen angenommenen Schein der Falschheit: Es ist aber das menschliche Gemüthe so beschaffen, daß es beydemahl in Verwunderung gesetzet wird, es sey, daß wir die Unmöglichkeit dessen erkennen, was wir dem ersten Anscheine nach für wahr und möglich gehalten hatten, oder daß wir die Wahrheit und Möglichkeit dessen einsehen, was wir zuvor für falsch und unmöglich angesehen hatten. Das widersinnige Aussehen einer solchen Vorstellung ziehet unsere Aufmercksamkeit nothwendig an sich, und verheisset unserer Wissens-Begirde eine wichtige und nahmhafte Vermehrung: Die nachfolgende Beschäftigung des Gemüthes, da es die Vorstellungen mit seinen Begriffen und angenommenen Sätzen vergleichet, da es durch den Schein der Falschheit durchdringet, und in dem vermeinten Widerspruch eine Übereinstimmung und Vollkommenheit entdecket, muß nothwendig angenehm und mit Ergetzen verknüpfet seyn; zumahlen da diese Entdeckung die unschuldige List des Poeten recht verwundersam machet, und unsere Eigenliebe und die vortheilhaftige Meinung von unserer eigenen Geschicklichkeit speiset.

Nach dieser allgemeinen Abhandlung von dem poetischen Wunderbaren und dessen künstlicher Verbindung mit dem Wahrscheinlichen will ich diese Materie noch nicht aufgeben, sondern jezo bedacht seyn, die Minen oder Quellen des Wunderbaren aufzusuchen, und meine Sätze mit Exempeln zu erklären. Die erste und vornehmste Quelle desselben, die von dem Wahrscheinlichen am weitesten entfernet ist, findet sich bey derjenigen Art der Erdichtung, da der Poet die Natur nicht bloß in dem, was würcklich ist, und nach den eingeführten Gesetzen in einer andern Einrichtung der Welt möglich wäre, nachahmet, [144] sondern durch die Kraft seiner Phantasie gantz neue Wesen erschaffet, und entweder solche Dinge, die keine Wesen sind, als würckliche Personen aufführet, denselben Leib und Seele mittheilet, und sie geschickt machet, allerley vernünftige Handlungen und Meinungen anzunehmen; oder diejenigen Wesen, die schon würcklich sind, zu der Würde einer höhern Natur erhebet, indem er den leblosen Geschöpfen Meinungen und Gedanken leihet, wenn er Wäldern, Flüssen, Landschaften und allen andern unbelebten Wesen Gedancken und Reden zuschreibet; oder den Thieren mehr Witz und Vernunft lehnet, als sie in ihrer Sphär haben, und ihnen auch die articulierte Stimme, die ihnen mangelt, mittheilet. Aus jenem ist die allegorische, aus diesem die esopische Art der Fabel entstanden.

Was nun erstlich die erste von diesen bey den anlanget, da allegorische Personen aufgeführet werden, als die Tugenden, die Arten des Lasters, die Welt-Theile, Königreiche, Städte, Flüsse, die Leidenschaften, die Künste, die Winde, die Jahrszeiten, und so fort, so müssen wir in Ansehung dieser Personen uns erinnern, daß die meisten von denselben viele Jahrhundert alt sind; sie haben ihren Stand seit vielen Jahren hergebracht, sie haben sich auf so vielen Schauplätzen gezeiget, daß auch ein Halbgelehrter sie gleich an ihren Wappen erkennet; sie haben so zu sagen bey den Menschen das Bürgerrecht erhalten. Also stehen sie in einem Rechten mit den heidnischen Gottheiten, Mars, Pallas, Apollo, Venus, Flora, Ceres und andern, welche zwar in dem Heidenthum, wo der gemeine Mann in dem Wahne stuhnd, daß es würckliche Wesen wären, historische Personen waren, aber in den Gedichten unserer christlichen Dichter nicht anderst als allegorische Personen können eingeführet werden, ausgenommen wenn sie die Materie ihrer Erzehlung, ihre Scenen und Platzhalter aus den Zeiten des Heidenthums hergenommen haben. Und so kan man sagen, daß [145] diese allegorische Personen durch ihre öftere Wiederkunft gantz bekannt worden, und sich durch so viele Erscheinungen in den Wercken der Poeten einen allgemeinen Ruf und Ansehen der Wahrscheinlichkeit erworben haben.

Was jezo den Gebrauch dieser Personen anbelanget, so ist derselbe zweyfach. Entweder führet der Poet in einem Gedichte lauter dergleichen allegorische Personen ein, oder er verbindet sie mit denen historischen Personen seines Gedichtes. Derer allegorischen Gedichte halber, in welchen lauter erdichtete Personen vorkommen, ist zu bemercken, daß eine allegorische Handlung keine anständige Materie für ein weitläuftiges oder dramatisches Gedichte sey; sie hat alleine in einem kurtzen Gedichte Platz, wo der Poet in seinem Nahmen redet, und also das Geheimniß seiner allegorischen Vorstellung selbst erklären, und die Arbeit des Lesers erleichtern kan. Ich will zu einem Exempel das Gedicht des Hrn. Hofr. Königs anführen, das den Titel führt: Der befriedigte Elbe-Strohm durch die abermahlige glückliche Geburt eines Chur-Sächsischen Printzen.

Der Poete hatte sich in den Gedancken die allgemeine Trauer vorgestellet, die das Land von Sachsen über den frühzeitigen Verlust des verstorbenen Chur-Printzen empfunden hatte, jezo aber sein Leid durch die Geburt dieses zweyten Printzen versüsset, und seine Hoffnung mit allgemeiner Freude auf ein neues belebet sah. Diese gemeine und bekannte Wahrheit recht wunderbar vorzutragen, besann sich der Poet dieselbe in eine allegorische Handlung einzukleiden. Er machete die Elbe, die Schickung, und die Natur zu Personen. Er führete die erste als den Elbe-Gott ein, wie er seine Trauer über das frühzeitige Ableben des erstgebohrnen Chur-Printzen, der sein Alter nicht gar auf zehn Wochen gebracht hatte, in einem Klage-Liede ausläßt. Die Schickung hörte ihn klagen, ward zum Mitleiden bewogen, und verhieß ihm ehender [146] als in einem Jahr einen andern Chur-Printzen, an welchem die Natur alle ihre Kräfte ausüben sollte. Die Natur formiert auf Befehl der Schickung einen Sohn, an dem sie das gantze Vermögen ihrer Kunst erschöpfet hatte. Auf Vernehmen dieser frohen Zeitung stimmet der Elbe-Gott einen freudigen Glückwünschungs-Gesang an. Diese Dichtung gab dem Poeten die schönste Gelegenheit, seine Geschicklichkeit in Verfassung zierlicher Schildereyen an den Tag zu legen. Die mahlerische Beschreibung der Natur, des Elbe-Gottes, und seiner Grotte, geben uns davon eine unverwerffliche Probe; Schade, daß er in Ausdrückung des wahren Characters der Leidenschaften nicht eben so vortrefflich ist. Das Klage-Lied des Elbe-Fürsten, welches in zehen Versen begriffen wird, ist einigermaassen matt und frostig, insonderheit folgende vier Zeilen:


Dieß zarte Rauten-Reiß blüht noch kaum zehen Wochen,
Fängt kaum zu sprossen an, und ist schon abgebrochen.
Dein Kummer hat mit Recht, o Dreßden, meinem Strand
Jezt eine neue Flut von Thränen zugesandt.

Das fremde Bild der Raute ist für eine grosse Betrübniß allzu gesucht, und diese verblümte Redens-Art stehet der Absicht des Poeten mehr im Wege, als daß sie dieselbe befördern könnte, angesehen ein Rauten-Reiß, das zehn Wochen blühet, in eigentlichem Sinne genommen wider die Wahrheit läuft, und nichts beklagenswürdiges ist. Hernach ist die Thränen-Flut, welche Dreßden der Elbe zugesandt hat, ein poetischer Aufschnitt, der alle Wahrscheinlichkeit übersteiget. Es ist ein Fehler von einer andern Natur, wenn er von dem Elbe-Gott, der jezo die [147] Nachricht von der Geburt des Chur-Printzen erhalten hatte, also spricht:


Er fieng, was er zuvor sein lebtag nie gethan,
Gantz aus sich selbst entzückt, wie folgt, zu reimen an.

Zu reimen, ist für einen Gott eine allzu niedrige Arbeit; es ist etwas mechanisches, dazu keine Entzückung erfordert wird. Und gesezt daß der Ausdruck des Poeten schlechter ist, und weniger sagt, als er ihm in die Gedancken legen wollen, so findet sich dennoch ein Widerspruch darinnen, weil er in dem Eingange dieses Gedichtes eine Elegie einfliessen lassen, die der Elbe-Gott im Jahr zuvor soll geredet haben, welche ebenfalls in Reimen verfasset ist. Der Poet hätte besser gethan, wenn er den Leser auf dem Wahne gelassen hätte, daß der Zierrath der Reimen den Gedancken des Elbe-Gottes von dem Poeten gelehnet worden.

Was jezt zweytens die Einmischung allegorischer Personen in einem Gedichte von lauter historischen Personen anbetrifft, so braucht es da mehrere Behutsamkeit, alldieweil wir diese erdichteten Personen nicht anderst ansehen können, als Hirn-Gespenster und zur Lust ersonnene Bilder, die von einer gantz andern und höhern Natur seyn würden, als die Menschen sind; also daß es wider alle Wahrscheinlichkeit lieffe, daß dieselben mit denen historischen Personen gleichen Antheil an einer Handlung haben sollten. Man hat daher die Regel vorgeschrieben, daß die allegorischen Personen keine Haupt-Personen seyn, oder eine Haupt-Rolle in der Handlung auf sich haben sollten, sondern darinn nur Platz bekommen können, entweder als zufällige Eigenschaften der vornehmsten Personen, oder um der Ausdrückung willen, da man mittelst der Erdichtung auf eine edlere Weise saget, was sonst, so es einfältig gegeben würde, platt herauskommen [148] müßte. Aus demselben Grunde wollte ich dem Poeten auch nicht rathen, daß er bey jedem Anlaß, da er es könnte, dergleichen erdichtete Wesen aufführen, oder daß er ihnen, wenn er sie sparsam auftreten läßt, allzu viel Platz in dem Gedichte einräumen sollte; weil dadurch die Aufmercksamkeit des Lesers von den Haupt-Personen und der Haupt-Handlung nur abgeführt würde, welches nothwendig der Haupt-Absicht des Gedichtes grossen Nachtheil verursachen müßte. Diese behutsame Bescheidenheit haben die vortrefflichen Dichter des Alterthums beobachtet, und uns mit ihrem Beyspiel eine Regel gegeben. Homerus hat in dem weitläuftigen Gedichte der Ilias ein einziges Exempel von einer solchen allegorischen Person, wenn er im vierten B.v. 440. die Zweytracht einführet, die er in sechs Versen dergestalt beschreibet: »Mars spornete die Trojaner an, und Pallas die Griechen, nach ihnen gieng das Schrecken, die Flucht und die Zweytracht, die Schwöster und Gefehrtin des mörderischen Krieges-Gottes, die anfänglich gar klein ist, nach und nach wächßt, und zulezt ihr Haupt an den Himmel stößt, wiewohl sie auf der Erden gehet, sie entzündete jedermanns Brust mit Hitz und Wuth, sie gieng unter der Armee von Linie zu Linie, und machete das Übel noch schlimmer.« Ihr sehet, wie geschickt der Poet ist, seine Dichtung wahrscheinlich zu machen, und ihre Kühnheit zu verbergen. Er stellet dem Leser diese allegorischen Personen, das Schrecken, die Flucht und die Zweytracht nicht geradenweges vor Augen, als Haupt-Personen, auf die er vornehmlich seine Aufmercksamkeit zu richten hätte, sondern er zeiget sie ihm etwas entfernet, und nur in dem Gefolge des Gottes Mars, und der Minerva. Er rücket dieselben noch etwas weiter aus dem Gesichte, wenn er in einer blossen Erzehlung beschreibet, was er als ein Poet gesehen hat, und keineswegs fodert, daß andrer Leute Augen dasselbe gleichfalls sehen. Wenn er dichtet, daß die Zweytracht [149] mit dem Krieges-Gott befreundet ist, so lehnet er ihr damit einen neuen Zusatz von Wahrscheinlichkeit, indem er sie dadurch von unsren Begriffen, die wir von menschlichen und uns bekannten Wesen haben, entfernet, und über dieselben erhebet. Und er ist in der Ausführung so bescheiden, daß er nur diejenigen Umstände anbringet, die ausser der allegorischen Verwandlung der Zweytracht in eine Person, als so viele absonderliche Metaphoren würden angesehen werden; derer geheimer Verstand auch so offenbar ist, daß man alsobald vergißt, daß der Poet uns dieses Unwesen als eine Person vorstellen wollen. Sonst kan man sich von der Richtigkeit der Hyperbole in denen Worten, »die anfänglich klein ist, nach und nach wächßt, und zulezt ihr Haupt biß an den Himmel stößt, wiewohl sie mit den Füssen auf der Erden stehet«, von den Kunstrichtern unterrichten lassen, die unten an dem Rand dieses Blattes A1 angezeiget werden.

Virgil hat sich schon mehrere Freyheit herausgenommen, wenn er im vierten B. der Eneis das Gerüchte als eine Person aufführet, und fast zwanzig Verse damit anfüllet, auch sie dem Leser unter einer ungeheuren und abentheurlichen Gestalt vor das Gesicht stellet.


Monstrum horrendum, ingens: cui quot sunt corpore plumæ,
Tot vigiles oculi subter, mirabile dictu,
Tot linguæ, totidem ora sonant, tot subrigit aures.

Wodurch er zwar das Wunderbare erhöhet, aber das Wahrscheinliche darunter schier erstecket. Da auch diese Person nach seiner eigenen Erinnerung


Tam ficti pravique tenax quam nuntia veri,


[150] so kan ich nicht wissen, warum er sie so erschrecklich vorstellet, als monstrum horrendum. Und wenn er das Maaß ihrer Grösse nach der homerischen Zweytracht mißt,


Parva metu primo, mox sese attollit in auras,
Ingrediturque solo, & caput inter nubila condit,

so hat Macrobius guten Grund gehabt, im vierzehnten Cap. des fünften B. anzumerken: Quod Homerus de Contentione hoc idem Maro de Fama dixit, sed incongrue. Neque enim æqua sunt argumenta contentionis & famæ: Quia contentio, etsi usque ad mutuas vastationes ac bella processerit, adhuc contentio est, & manet ipsa quæ crevit: Fama vero cum in immensum prodit, fama esse jam desinit, & fit notio rei jam cognitæ. Quis enim jam famam vocet, cum res aliqua a terra in coelum nota sit? Deinde nec ipsam hyperbolen potuit æquare. Ille coelum dixit; hic auras & nubila. Hæc autem ratio fuit non æquandi omnia, quæ ab autore transscripsit, quod in omni operis sui parte alicujus Homerici loci imitationem volebat inserere: nec tamen humanis viribus illam divinitatem ubique poterat æquare. Wenn denn die Phantasie des Lesers mit diesen grossen Ideen angefüllet auf die folgenden Verse kömmt:


Luce sedet custos aut summi culmine tecti,
Turribus aut altis. – – –

So werden diese hohen Begriffe auf einmahl zernichtet. Sonst ist auch Virgil mit dergleichen allegorischen Personen so sparsam als Homerus selbst; hingegen hat Lucanus dieselben ohne Maaß und Ende angebracht. Ich erinnere mich auch hier, daß unter den deutschen Poeten der Hr. Hofrath König in seinem Gesange von dem Lager bey Radewitz, die Einholung betitelt, die Zweytracht [151] und die Eintracht zusammen auf den Schauplatz geführet, und mit Beschreibung derselben schier zweyhundert Verse angefüllet hat, welches den fünften Theil des Gedichtes, das aus tausend Zeilen bestehet, ausmachet. Ich bekenne zwar mit Vergnügen, daß diese Beschreibung, wenn sie als ein abgesondertes Gedichte betrachtet wird, viele mahlerische Schönheiten hat, und daß der Poet dem Homer und Virgil glücklich nachgeahmet; aber da sie in einem historischen Gedichte eingetragen wird, und die Aufmercksamkeit des Lesers mehr bemühet, und länger aufhält, als selbst ein Haupt-Stück der historischen Erzehlung, so verliehret sie alle Wahrscheinlichkeit, und der Poet hat vergessen, was er in der Vorrede verheissen hat: »Ich werde mich solcher Erdichtungen auf das allerbehutsamste bedienen, da ich die Ehre habe, eine Geschichte, die erst vor kurtzem zu unsern Zeiten vorgegangen, nicht aber eine blosse Fabel aufzuführen.« Indem die hohen Gäste an der Tafel sitzen, das Frühstücke einzunehmen, verläßt er sie und damit die Haupt-Materie plötzlich, und führt euch ohne einige Vorbereitung in eine Welt des Epicurus hin, wie Opitz dieselbige nennet, er hält euch eine gute Zeit darinnen auf, beschäftigt den Verstand mit emblematischen Vorstellungen und Bildern, und wenn ihr dann die erstere Materie gantz vergessen habet, so bringet er euch einesmahles wieder auf die Stelle, wo ihr die frühstückenden Gäste verlassen hattet. Als ich dieses Gedicht das erstemahl las, so war mir bey dieser Stelle nicht anderst, als wenn ich bey der Tafel in Gorisch über dem frühstücken eingeschlaffen wäre, und dasjenige im Traume gesehen hätte, was der Poet vom 355sten Verse biß zum 555sten erzehlet, ich erwachete zu allem Glücke, da sie gleich von der Tafel aufstuhnden, doch war das Frühstück verschlaffen. Der Poet hat diese Unrichtigkeit selbst gespüret, und sie damit verbessern wollen, daß er diese chimärischen Personen unsichtbar erscheinen ließ:


[152]

Sie ward zwar nicht geseh'n, doch überall verspürt.


*

Als sie sich nun herab recht vor das Zelt geschwungen,
Ward uns ein Segens-Lied durch sie selbst vorgesungen.
*

Ward aber nicht gehört, nur innerlich empfunden.

Alleine damit entfernet er sie noch mehr von der Wahrscheinlichkeit: Und wenn sie unsichtbar waren, wozu dienet denn die weitläuftige Beschreibung ihrer Gestalt, Kleidung, ihres Aufputzes? Zu diesem allem kömmt noch, daß in der Materie des gantzen Gedichtes nichts zu finden ist, was euch eine so gewaltthätige Entführung euer selbst sollte vermuthen lassen.


Ficta voluptatis causa sint proxima veris,
Nec quodcunque volet poscat sibi fabula credi.

Diese allegorische Wesen haben den Grund ihrer Wahrscheinlichkeit zum Theil in den Metaphoren und andern verblühmten Redens-Arten, welche in der Poesie allen leblosen Dingen die Empfindung, die Rede und die Gedancken mittheilen; und die meisten allegorischen Beschreibungen sind nichts anders, als eine Sammlung und Verbindung solcher verblühmten Redens-Arten, die einzeln und zerstreuet gantz gewöhnlich sind, und niemanden mißfallen; und darinnen lieget auch der Grund, warum eine allegorische Beschreibung nicht zu weitläuftig, und ihre Bedeutung offenbar seyn muß. Zum Theil aber beruhet diese Wahrscheinlichkeit darauf, daß der Wahn der Menschen geneigt und gewohnt ist, sich alles [153] unsichtbare unter einem cörperlichen Bilde, und alles, wovon eine Würckung herrühret, als eine Person vorzustellen. Was waren die heidnischen Gottheiten anfangs anders als allegorische Personen, bis ihnen die Leichtgläubigkeit der Menschen eine würckliche Existentz verliehen hat? Und hat sie nicht das Licht der christlichen Religion aus historischen Personen wiederum in allegorische erniedrigt? Ferner, da wir in dem Christenthum wissen, daß die Engel diejenigen Rüstzeuge und Mittel sind, durch welche Gott seinen allmächtigen Willen und seine Rathschlüsse gemeiniglich ausführet, so ist ja nichts gewohnteres, als daß wir die Kräfte, die Gott in die Natur geleget hat, weil sie unsichtbar und würcksam sind, oder auch die Triebräder und Mittel, die er in Ausführung seiner Gerichte brauchet, als Geister und würckliche Personen ansehen. Es leidet eine gesunde Auslegung, was Aratus in seinem Gedichte von den Sternen gleich beym Anfange bezeuget: »Alle Gegenden sind von Gott erfüllet, alle Versammlungen der Menschen, das Meer ist voll von ihm und das Gestade.« Welches mit dem übereinkömmt, was der Apostel Paulus in seiner Rede zu den Athenern hat einfliessen lassen: In ihm leben, weben, und sind wir. Daher auch Brockes angemercket hat:


Die Heiden haben dort bald Nymphen, bald Naiaden,
Dryaden, und Hamadryaden
Im Wasser, Feld und Wald erdacht,
Die gleichsam jedes Kraut theils machten, theils versorgten.
Dieß war zwar schädlicher Abgötterey
Verworfne Brut und eitle Fantasey,
Die nun die Christenheit mit allem Recht verlacht:
Doch die zu Gottes Ehr geschäft'ge Geistigkeiten,
Die der Gewächse Pracht, den Schmuck der Büsch' und Bäume
[154]
Vermuthlich zubereiten,
Sind nicht wie jene leeren Träume.

*

Wer aber ihre Zier, Pracht, Farben und Figur,
Nutz, Eigenschaft, Geruch und Würckung der Natur
Betrachtet und besieht,
Der glaubt fast offenbar zu sehn,
Wie unbekannte Geistigkeiten,
Auf ihres Schöpfers Wort und einziges Geheiß,
Zu seinem Ruhm in ungehemmtem Fleiß
Mit unsichtbarer Hand solch künstlich Werck bereiten.

Was endlich diejenigen Wesen anlanget, die der Poet zu einer höhern Würde und in den Rang vornehmer Geschöpfe erhebet, wenn er zum Exempel den leblosen Dingen die Empfindung, und den Thieren die Gedancken und die Rede mittheilet, so ist dieser Personen halber anzumercken, daß sie nicht tüchtig sind, eine Rolle in einer poetischen Handlung zu spielen, ausgenommen, wenn es eine Handlung in einem Apologo ist. Worauf die Wahrscheinlichkeit derselben sich gründe, ihren Ursprung und ihre gantze Natur, will ich hiernächst in einem eigenen Abschnitte untersuchen, weil es eine Arbeit von tiefen Betrachtungen ist, die eine weitläuftige Abhandlung erfodern.

Wenn wir denn ferner aus der Welt dieser phantastischen Wesen, die alleine in dem Gehirne der Poeten erzeuget, und von dem Wahne der Menschen ernehret werden, in die unsichtbare Welt der Geister hinüber gehen, so eröfnet sich uns eine neue Quelle des Wunderbaren. Denn da die Götter und Geister in allen Religionen vor Wesen von einer andern und höhern Natur, als die menschliche ist, angesehen und geglaubet worden, da sie an sich uncörperlich [155] und unsichtbar sind, da ihre Macht, ihre Wissenschaft und andere Vollkommenheiten alle menschlichen Begriffe weit übersteigen, so müssen die poetischen Vorstellungen aus der Welt der Geister in dem höchsten Grade wunderbar seyn. Die Geheimniß-Lehren und Wunderwercke haben in allen Theologien dem Scheine nach und in Vergleichung mit den Begriffen der menschlichen Vernunft etwas widersinnisches; und was die wahre Theologie insbesondere angehet, so gründet sich das Wunderbare in derselben auf den göttlichen Ausspruch: Meine Wege sind nicht wie eure Wege, und meine Gedancken sind nicht wie eure Gedancken. Der scharfsinnige Dübos hat darüber in seinen critischen Betrachtungen über die Poesie und die Mahler-Kunst §. XXIII. folgende Anmerckung gemachet: »Die Wunderwercke unserer Religion haben eine Art von Wunderbarem in sich, welche sich in den Fabeln des Heidenthums nicht findet. Man kan sehen, wie glücklich sie Corneille in dem Polyeuctes und Racine in der Athalia behandelt hat. Wenn man Sannazar, den Ariosto und andere Poeten tadelt, daß sie in ihren Gedichten die christliche Religion eingemenget haben, so geschicht dieses, weil sie nicht mit der Ehrfurcht, der Hohheit und der Würde davon geredet haben, als sie von uns erfodert, weil sie die Fabeln des Heidenthums unter die Wahrheiten unserer Religion gemischet haben, weil sie, wie Boileau gesagt hat, in christlichen Materien auf eine thörigte Weise Abgötterey treiben. Man tadelt sie, daß sie nicht gesehen haben, daß es der Vernunft zuwider wäre, damit ich nichts harters sage, in Sachen, die unsre Religion angehen, sich eben so viele Freyheit zu erlauben, als Virgil sich in der seinen herausnehmen dorfte.« Ich bin nicht gesonnen, mich an diesem Orte in eine weitläuftige Untersuchung dieser Materie einzulassen, und die Verbindung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen, insofern sie in dergleichen Vorstellungen aus der unsichtbaren [156] Welt Platz hat, in dogmatischen Sätzen und Regeln abzuhandeln. Mein werthester Freund Hr. Bodmer hat sich die Mühe gegeben, das vortreffliche epische Gedicht des berühmten Miltons, des christlichen Homers, von dem Verlust des Paradieses, welches so wohl in Ansehung seiner Materie, als der Kunst des Poeten den Nahmen eines göttlichen Gedichtes verdienet, gegen die Anklagen der Herren Magny, Voltaire, und einiger andern zu vertheidigen, und da ihre schwersten Beschuldigungen auf die Wahl der allzu hohen und wunderbaren Materie, welche nach ihrer Meinung in der Nachahmung keiner Wahrscheinlichkeit fähig ist, hinauslaufen, so wird mein Leser diese wichtige Materie nach allen ihren besondern Stücken in dieser Schutzschrift für Milton ausgeführet vor sich finden. Damit ich auch denselben nicht weit verweisen müsse, ist besagte Schrift als eine Zugabe zu gegenwärtigem Wercke geleget worden. Hier will ich nur noch eine allgemeine Anmerkung hinzufügen, welche zur Vertheidigung Homers dienet. Man hat ihn beschuldigt, daß er seine Götter von ihrer Hohheit und Würde abgesetzet, sie in sterbliche Menschen verwandelt, ihnen menschliche Leidenschaften, Zufälligkeiten und Schwachheiten, zum Ex. Zancksucht, Rachgier, Verwundungen, Thränen, zugeleget, und nach Longins Anmerkung in der neunten Abtheil. sie dadurch elender vorgestellet, als die Menschen sind, weil er nicht ihre Natur, sondern ihr Elend ewig gemachet habe. Alleine diese Beschuldigung ist eben so ungereimt, als wenn sie es ihm vor ein Verbrechen anschreiben wollten, daß er kein Christ gewesen. Sie zeiget nichts mehrers, als daß die heidnische Gottes-Gelahrtheit, wenn man sie bey dem Lichte der wahren und durch die göttliche Offenbarung gereinigten Vernunft betrachtet, nur einen leeren Schein des Wunderbaren in sich habe, in der That aber gantz abentheurlich und ungereimt sey; weil sie in diesem rechten Gesichtes-Punct nicht die geringste Wahrscheinlichkeit[157] übrig behält, sondern mit allen gesunden Begriffen von der göttlichen Natur streitet. Weil aber nicht alleine christliche Kunstrichter, sondern auch die gescheitern unter den Heiden selbst, welche sich vor der ansteckenden Seuche des unsinnigen Aberglaubens zu verwahren gewußt, als Plato und Longinus, Homer eben denselben Fehler Schuld gegeben, so möchte jemand daraus schliessen wollen, daß er nach Longins Ausdrückung sich beflissen habe, die Götter in Menschen zu verwandeln; und daß seine Vorstellungen nach dem Systema der heidnischen Theologie selbst ärgerlich und anstössig seyn. Alleine wer also schliessen wollte, der müßte vergessen haben, daß die Theologie der Weltweisen Heiden gantz was anders gewesen, als die Theologie des gemeinen Volcks; und daß die Poesie eine Kunst ist, die für den grossen Haufen gewiedmet ist, und durch eine geschickte Nachahmung auch die unsichtbaren Dinge der Einbildung vorstellig und sichtbar machen soll. Was konnte Homerus anders thun, da er mit sehr abergläubigen Götzendienern lebete, die sich ihre Götter nicht anderst, als unter menschlichen Gestalten vorstelleten, als sich nach ihrer Schwäche richten, wenn er gleich mehr Erleuchtung gehabt haben mag, als andere; ihrer Theologie gemäß reden, und ihnen entweder eben dieselben Fabeln, welchen sie schon Glauben zugestellet hatten, oder gantz gleichmässige vorschwatzen? Zudem müssen auch die Tadler dieses Poeten selbst gestehen, daß er auch in theologischen Sachen mitten in der diken Finsterniß, die ihn umgeben hatte, zuweilen die Wahrheit erblicket, und zwar einige wichtige Wahrheiten erkennet, welche die Voreltern durch eine mündliche Erzehlung auf die Nachkinder fortgepflantzet hatten. Ja was noch mehr ist, Homerus hat die fabelhafte Theologie seiner Zeiten mit so vieler Kunst und Weißheit anzuwenden gewußt, daß auch solche Leute, die über diese Materie eine viel grössere Erleuchtung hatten, mittelst der figürlichen [158] Deutung und der physicalischen und moralischen Allegorien, selbst die unwahrscheinlichsten Erdichtungen desselben haben retten und entschuldigen können. Über diese Materie verdienen folgende berühmte und scharffsinnige Kunstrichter aufgeschlagen zu werden. Unter den Alten: Porphyrius, Proclus, der eine besondere Ver theidigungs-Schrift für Homer gegen die Beschuldigungen Platons an das Licht gestellet hat, Palephatus, Heraclides Ponticus, Eustathius, ein berühmter Bischof von Thessalonich. Unter den Neuern: die Frau Dacier in der Vorrede über ihre Ilias vom XIII.ten Bl. biß zum XXVII.sten, und in der Streit-Schrift von den Ursachen des verderbten Geschmacks von Bl.100. biß 114.; der Hr. Dacier über das XXVI.ste Cap. der Poetick Aristoteles, sonderlich Bl. 459.; Pope in seinen Anmerckungen über Homer Bl. 41. 42. Mithin ist es ein nothwendiger Wunsch, daß diejenigen unter den Deutschen, die seit wenig Jahren angefangen haben, sich mit critischen Schriften hervorzuthun, nicht so fertig wären, einem Perrault, La Motte, Voltaire, Magny und andern ihre raschen Urtheile ohne fernere Untersuchung, und ohne Erwegung desjenigen, was von andern darauf geantwortet worden, nachzuschreiben, sondern die Einbildung fahren liessen, sich dadurch in das Ansehen grosser Kunstrichter zu sezen. Diese Critici Mustacei wiederholen zum Ex. die Critick über die Unwahrscheinlichkeit der wandelnden Dreyfüsse, des Schildes Achilles und einige andere, die Scaliger zuerst erfunden hat, ohne Aufhören; alleine wer kan sie ohne Verdruß mehr lesen, nachdem der Ungrund derselben von Dacier in seinen Anmerckungen über Aristoteles Poetick Bl. 489–496. so gründlich dargethan worden; und wer muß nach diesem nicht schliessen, daß diese Wiederholung entweder eine grobe Unwissenheit, oder eine grosse Schwachheit des Urtheils, oder gar eine schändliche Boßheit anzeigen müsse. Ich will ihnen darum folgende Lection fleissig zu [159] lernen anbefohlen haben: Modeste & circumspecto judicio de tantis viris pronuntiandum est, ne, quod plerisque accidit, damnent, quæ non intelligunt: at si necesse est in alteram partem errare, omnia eorum legentibus placere, quam multa displicere maluerim.

Fußnoten

A1 Longin vom Erhabenen in der neunten Abtheilung. Boileau in der vierten critischen Erwegung. Die Frau Dacier in ihren Anmerckungen über diese Stelle.

Von der Kunst gemeinen Dingen das Ansehen der Neuheit beyzulegen

[160] Der neunte Abschnitt.
Von der Kunst gemeinen Dingen das Ansehen der Neuheit beyzulegen.

Pflicht des Poeten, denen Dingen, die an sich eine geringe Schönheit haben, oder selbst verächtlich und widrig sind, durch die Kunst ein Ansehen mitzutheilen. Eintheilung der Vortheile, die zu diesem Ende dienen, in solche, welche der Poet in seiner Scharfsinnigkeit findet, und andere, die er von der Mischung der poetischen Farben erhält. Worinnen das Neue bestehe, welches die poetische Kunst bekannten Dingen mittheilen kan. Von dem Wunderbaren, das in einem Betrug der Sinne besteht. Wie die Poeten sich dieses Scheines bedienet, den Wechsel des Tages und der Nacht, die Entfernung eines Schiffes von dem Gestade, Gemählde, auf eine wunderbare Weise vorzustellen. Verteidigung des homerischen Schilds des Achilles. Hyperbolische Bilder, die sich auf den Wahn der Sinne gründen, der himmelstützenden Berge, des Atlas, der Centauren, der Schiffe als schwimmender Inseln. Von dem Wunderbaren, das in einem Betrug der Affecte besteht. Hyperbolische Redens-Arten der Furcht in einem Sturm zur See. Wie sie die Umwelzung des Felsens vor Cacus Höle, und die nunmehr offen stehende Höle beschreibet. Wie Opitz nach Homer die Einbildung durch die Vergrösserung der Gefahr der Schiffenden in Furcht gesetzet. Wie die Traurigkeit die Sachen auf eine seltsame Weise vorstellet, vornehmlich bey Verliebten. Wie die erhizte Phantasie Dinge sieht, die nirgend, oder weit entfernet sind; daher Longin solche Phantasie-Bilder vor ein Mittel den Geist zu erheben angepriesen. Wie König nach dieser Art die Früchte einer milden Regierung, Gottsched die Sehnsucht nach dem Frieden vorstellet. Trefflichkeit der heroischen Ode Königs auf die Geburt einer Churfürstlichen Printzessin, in dieser Absicht. Daß der Enthusiasmus der Alten nichts anders gewesen. Maaß und Ziel, das in dergleichen Verzückungen zu halten ist. Von dem Wunderbaren, das sich auf einen allgemeinen Wahn gründet. Ansehn der gemeinen Meinungen. Behutsamkeit, so in Anwendung derselben zu gebrauchen ist. Vertheidigung der Verwandlung der Pfeile Polymnestors,[160] und der verbrandten Schiffe des Eneas, ingleichem des güldenen Zweyges des Eneas. Die truckene Erzehlung wird durch Einstreuung solcher Fabeln vor Mattigkeit bewahret. Wie Opitz solches bewerckstelliget habe. Daß unsre Poeten ihre Materie durch die Hinuntersetzung der historischen Wesen der heidnischen Poeten in allegorische, in angenehme allegorische Fabeln einkleiden können. Fruchtbarkeit der Allegorie, die auf die alte Mythologie gegründet ist. Wie Opitz auf diese Weise die allgemeine Freude bey der Geburt des Herzogs von Holstein beschrieben habe.


Die Poesie ist eine Nachahmung der Natur: Nun muß man bey einer jeden Nachahmung zwo Sachen absonderlich in Betrachtung ziehen, eine ist dasjenige, so nachgeahmet wird, die andere, wie und auf was vor eine Weise es nachgeahmet wird; jenes ist die Materie, dieses die Weise und Kunst der Nachahmung. In beyden, so wohl in der Materie der poetischen Nachahmung, als in der Kunst derselben muß das verwundersame Neue herrschen, als welches die einzige Quelle des poetischen Schönen ist. Ist die Materie, die der Poet erwehlet hat, mit einer eigenthümlichen verwundersamen Neuheit begabet, so wird sie das Gemüthe durch ihre eigene Kraft, auch ohne die Hülfe der Kunst, einnehmen und entzücken, wenn sie in ähnlichen Bildern und übereintreffenden Ausdrücken nur einfältig vorgestellet wird. Weil aber der Poet nicht immer neue und ungemeine Dinge findet, oder vorzustellen Gelegenheit hat; so muß er auch wissen, gemeinen und bekannten Wahrheiten durch die Kunst der Nachahmung ein neues Ansehen mitzutheilen, und sie in ihrem vortheilhaftesten Licht vorzustellen. Er muß hierinnfalls den Frauenspersonen folgen, die entweder durch die angebohrne oder durch eine angenommene Schönheit den Männern zu gefallen suchen. Also kömmt eine mittelmässige, ja eine geringe Schönheit dem Mangel derselben durch den prächtigen Zusatz eines entlehnten Schmuckes verständig zu Hülfe, und macht sich durch die Kunst angenehm, mit welcher sie die Fehler der Natur auf eine geschickte Weise verbirgt, und den angenommenen [161] Glantz eines auswärtigen Zierrathes sich ganz gerecht und zu eigen machet: Hingegen haben diejenigen, die von Natur schön sind, eines solchen geborgten Glantzes nicht vonnöthen, ihre nackende Schönheit hat ohne fremde Hülfe für sich selbst Kraft genung sich der Hertzen zu bemeistern; und der überflüssige Gebrauch eines fremden Schmuckes würde dem natürlichen Ansehen der Schönheit nur nachtheilig seyn, und sie verdunckeln. Eben diese Bewandtniß hat es auch mit den unedlern mechanischen Künsten, die so wohl als die höhern in einer Nachahmung der Natur bestehen; ihre Wercke können entweder durch den Zeug oder durch die Kunst schätzbar werden; wenn jedoch der Werth von beyden in einem Wercke vereinigt ist, so bekommen sie eine gedoppelte Kraft die Gemüther zu entzücken, und mit Verwunderung einzunehmen. Also preiset der Schäfer Menalcas in der dritten Ecloga des Virgilius v. 36. das hölzerne Trinckgeschirr, das er zum Gewinn aufsetzet, alleine der Kunst halber, von welcher es seinen gantzen Werth empfangen hat:


– – – – – – Pocula ponam
Fagina, cælatum divini opus Alcimedontis:
Lenta quibus torno facili superaddita vitis
Diffusos hedera vestit pallente corymbos.
In medio duo signa, Conon; & quis fuit alter,
Descripsit radio totum qui gentibus orbem,
Tempora, quæ messor, quæ curvus arator haberet?
Necdum illis labra admovi, sed condita servo.

Wiewohl aber unwidersprechlich der Verdienst eines Poeten vornehmlich in der geschickten Wahl und Erfindung solcher Materien besteht, welche vor sich selbst gantz neu, fremd und wunderbar sind, und ohne die Hülfe der Kunst durch ihre eigene Kraft die Gemüther [162] einnehmen und entzücken, von welcher Art alle diejenigen sind, die der Poet aus der Welt der möglichen Dinge mittelst der Erdichtungs-Kraft nach den Regeln des Wahrscheinlichen hervorholet, so ist dieses dennoch nicht genung, das Lob des Dichters vollkommen zu machen, sondern da die poetische Kunst vermögend ist, die wesentliche Schönheit der Dinge durch die Art der Vorstellung augenscheinlich zu erhöhen, ja auch schlechten und durch die Gewohnheit in Verachtung gekommenen Dingen ein wunderbares und herrliches Ansehen mitzutheilen, so wird überdieß noch erfodert, daß ein solcher die Schönheiten seiner erwehleten Materie durch die Kunst der Nachahmung in ihrem rechten Licht und Vortheil vorzustellen, und auch den gewöhnlichsten und unachtbarsten Wahrheiten und Umständen einen solchen verwundersamen Glantz beyzulegen wisse, daß der dadurch entzückte Leser sich nicht erwehren kan, seinen Vorstellungen alle Aufmercksamkeit und Bewunderung zu gönnen. Wer besagte beyden Stücke in seinem Vermögen hat, und dieselben geschickt zu vereinbaren weiß, der hat das poetische Schöne zu seinem Dienst bereit, und kan mit Recht versichert seyn, daß seine Schriften, in welchen er die poetischen Schönheiten weißlich ausgespendet hat, jedermann gefallen werden, weil die menschliche Natur darinnen unveränderlich ist, daß das Schöne ihr niemahls mißfallen kan.

Nachdem ich denn in unterschiedenen Abschnitten von der Materie der Nachahmung, ihrer Erfindung und Wahl, ausführlich gehandelt, und absonderlich gezeiget habe, welches die Fontes inventionis oder die Mienen des poetischen Schönen seyn, und wie diesen Nahmen nichts verdienet, was sich nicht auf die Wahrheit gründet, was nicht die Aufmunterung zur Tugend und guten Sitten zum Zweck hat, was nicht das Auge der Seele durch den Glantz einer verwundersamen Neuheit auf eine angenehme Weise entzücket, und das Gemüthe mit einer [163] süssen Unruhe anfüllet: So ist es nun an dem, daß ich ferner die Vortheile und Geheimnisse der poetischen Mahler-Kunst in Absicht auf die Art und Weise der Nachahmung entdecke, mittelst deren der Poet alle seine Vorstellungen beleben, ihnen ein wunderbares Ansehen und eine entzückende Kraft mittheilen, oder zum wenigsten ihren eigenen Werth um einige Grade erhöhen und in das rechte Licht sezen kan. Nun sind diese Kunstgriffe und geheimen Vortheile der poetischen Mahler-Kunst von zweyerley Gattung; einige rühren von der eigenen Scharfsinnigkeit des Poeten her, welche ihm hilft, in allen Dingen, so er sich vorstellet, verborgene Schönheiten zu entdecken, und diese regieren ihn in der Anordnung und Ausführung seines Plans; die andern Vortheile gehören zu der mechanischen Kunst des poetischen Mahlers, und entstehen von der Kundschaft in der Sprache und der Mischung der poetischen Farben. Mit diesen leztern gedencke ich eine eigene Untersuchung anzustellen, wenn ich zuerst die Kunst-Streiche der erstern Gattung werde angezeiget haben, welche dem Poeten dienen, theils bekannten und unachtbaren Dingen ein herrliches Ansehen zu lehnen; theils alle seine Vorstellungen ohne Absicht auf ihren innerlichen Werth nach einem so vortheilhaftigen Licht aufzuführen, bey welchem man ihre vollkommene Schönheit nicht ohne Verwunderung erblicken muß. In der gegenwärtigen Abhandlung will ich erstlich erklären, wie die Kunst des Poeten auch bekannten und täglich vorkommenden Dingen ein gantz neues und verwundersames Ansehen beyleget.

Ich verstehe durch bekannte und unachtbare Dinge solche Sachen in der materialischen, der historischen, und der moralischen Welt der Würcklichen Dinge, welche nicht bloß eine gewisse Wahrscheinlichkeit, sondern das Siegel und Zeugniß der Wahrheit selbst haben, und uns durch den täglichen Umgang und Gebrauch so bekannt und gewöhnlich worden, daß sie in ihrer nacketen Vorstellung [164] weder Aufmercksamkeit noch Verwunderung erwecken könnten, sondern gantz unachtsam und kaltsinnig vorbeygegangen würden. Da nun der Poet sich unmöglich entschlagen kan, von solchen Dingen zu reden, und dergleichen Umstände in den Zusammenhang seiner Erzehlung einzutragen, so muß er die Kunst lernen, wie dem Eckel vorzubauen sey, den eine solche Vorstellung gewöhnlicher Dinge, die entweder durch den beständigen Gebrauch, oder in dem Munde des Pöbels etwas verächtliches an sich genommen haben, nothwendig verursachen muß. Ich habe an seinem eigenen Orte die Anmerkung gemachet, daß der Poet, dessen Kunst in einer geschickten Nachahmung der Natur bestehet, sich wenig darum bekümmert, daß seine Vorstellungen vor wahrhaft und würcklich angesehen werden; er kan diese Sorge dem Geschichtschreiber überlassen, weil er seinen Zweck erreichen, und durch die blosse Ähnlichkeit seiner Vorstellungen mit der Wahrheit ein nützliches Ergetzen verschaffen kan, wenn solche sich nur auf die Wahrscheinlichkeit gründen, und nicht unglaublich sind. Sein gantzes Vermögen bestehet in der geschickten Verbindung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen; dieses erwirbt seiner Erzehlung Glauben, und jenes verleihet ihr eine Kraft, die Aufmercksamkeit des Lesers zu erhalten, und eine angenehme Verwunderung zu gebähren. Wie nun das Wunderbare ohne die Wahrscheinlichkeit abentheurlich und unglaublich wird, so hat andern Theils das Wahrscheinliche, wenn es von dem Verwundersamen nicht unterstüzet wird, keine genugsame Kraft auf das menschliche Gemüthe, selbiges angenehm zu rühren, oder mit Ergetzen anzufüllen. Darum muß der Poet wissen, diejenigen Dinge, die das Zeugniß der Wahrheit und Würcklichkeit haben, von dem Ansehn der Wahrheit bis auf einen gewissen Grad zu entfernen, und ihnen eine wunderbare aber dabey unbetrügliche Gestalt anzuziehen. Dieses geschieht, wenn [165] er die Sachen vorstellet, nicht wie sie würcklich sind, sondern wie sie uns in verschiedenen Gesichts-Puncten vorkommen. Diesemnach bestehet das Wunderbare, welches die poetische Kunst bekannten und würcklichen Dingen zulegen kan, in einem angenommenen unbetrüglichen Schein der Falschheit, der entweder in einem angenehmen Betrug der Sinne, oder in einem Betrug der Affecte und Gemüthes-Leidenschaften, oder endlich in einem Betrug einer allgemeinen Sage oder eines eingewurtzelten Wahnes beruhet. Der erstere dienet die bekanntesten Phänomena aus der materialischen Welt, der andere diejenigen, welche in der moralischen Welt, und der dritte die so in der historischen Welt der würcklichen Dinge vorkommen, wunderbar vorzustellen.

Was denn zum ersten das Wunderbare anlangt, so in einem Betruge der Sinnen bestehet, so ist aus der Erfahrung bekannt, daß uns öfters die äusserlichen Sinne eine Sache gantz anderst vorstellen, als der Verstand sie einsiehet; dieses äusserlichen Scheines der Falschheit weiß sich nun die poetische Kunst meisterlich zu bedienen, damit sie eine gar bekannte Wahrheit auf eine wunderbare und ergetzliche Weise vorstelle. Wenn die Poeten den Wechsel des Tages und der Nacht durch den Aufgang und den Untergang der Sonnen anzeigen wollen, so sagen sie:


Oceanum interea surgens aurora reliquit.

Virg. L. IV.


Quaque patent ortus, & qua fluitantibus undis
Solis anhelanteis abluit amnis equos.

Tibull. L. II. Eleg. 5.


Welches Opitz in dem ersten B. seiner Trost-Gedichte dergestalt gegeben:
[166]
– – – – – – – – – Es gieng in ihrem Reiche
Zu Abend in die See der göldnen Sonnen Lauf,
Und stuhnd zu Morgen auch in ihrer Herrschaft auf.
Und von dem Untergang des Mondes saget Postel im dritten B. des Wittekindes; p. 537.
So bald nach Mitternacht zum Untergang sich lenkte
Der weiß-gehörnte Mond, und seine Pferde tränkte
Im Spiegel-hellem Flach der grünen Abend-See.

Nun scheinet es ja gantz wunderbar und in dem Verstande recht widersinnig, daß der feurige Cörper der Sonne sich alle Abende ins Meer versencken, und gleichwohl jeden Morgen heller und reiner aus demselben wieder hervorsteigen sollte. Diese Vorstellung verbindet unsren Begriffen nach zwey gantz widerwärtige und streitende Dinge, nemlich Glut und Flut. Nichtsdestoweniger gründet sich dieses nach dem ersten Anschein unglaubliche Phänomenon auf das Zeugniß der Sinne. Die Seefahrer, die jezo auf dem hohen Meer nichts anders vor sich sehen, als die unermeßliche See rund herum mit dem Himmel begräntzet, würden betheuren, daß die Sonne des Morgens aus dem Wasser aufsteiget, und des Abends an dem Ende gegenüber in das Meer sincket. Und weil nach des Herrn Brockes Worten


Wann ein schnelles Schiff der Wellen Fläche theilet,
Und neben einem Strand mit vollen Segeln eilet,
Der unbewegte Strand sich zu bewegen scheint;

so bedienet sich der Poet dieser sinnlichen Vorstellung eine bekannte Sache und Wahrheit, nemlich die Entfernung von dem Gestade und die Veränderung des Ufers recht wunderbar vorzustellen:


[167]

Provehimur portu, terræque urbesque recedunt.

Und Seneca in den Trojanerinnen:
Cum semel ventis properante remo
Prenderint altum, fugietque littus.
Und im Agamemnon:
– – – – – – – – – – Aut terras procul
Quantum recedunt vela, fugientes notat.
Ausonius in seiner Mosel redet von einem andern wunderbaren Phänomenon:
Quis color ille vadis, seras quum protulit umbras
Hesperus, & viridi perfundit monte Mosellam?
Tota natant crispis juga motibus: & tremit absens
Pampinus, & vitreis vindemia turget in undis:
Adnumerat virides derisus navita vites. etc.

Also wenn Herr Brockes in der Betrachtung des Mond-Scheines in einer Frühlings-Nacht sagt, es habe sich gleich nach eingebrochener Nacht ein neuer Tag sehen lassen, so ist diese Vorstellung, die selbst die Nacht gleichsam in den Tag verwandelt, wunderbar. Auf denselben Grund und nach dem Scheine des Gesichtes sagen die Poeten von den Figuren eines Gemähldes, sie leben und reden, die Mahlerey und die Bildhauerey, schrieb einer, sind zwar stumm, und haben doch eine Sprache; und Plinius sagt von Apelles: Pinxit quæ pingi non possunt; und von Timanthes: In omnibus ejus operibus intelligitur plus semper quam pingitur; & cum ars summa sit, ingenium tamen ultra artem est. Wenn denn ein Poet ein vortreffliches Werck und Meisterstück dieser Künste beschreiben soll, so erzehlet er nicht bloß, wie die [168] Figuren in der That beschaffen sind, sondern wie sie einem aufmercksamen Zuschauer wahrscheinlich vorkommen. Die gemahlete Bilder haben freylich kein wahres Leben, noch eine wahre und würckliche Bewegung; es stehet nicht in dem Vermögen der Kunst, diese ihren Wercken mitzutheilen, aber sie kan ihnen dennoch den Schein eines Lebens und einer Bewegung mittheilen. Die Zeichen, durch welche ein Mahler seinen in dem Kopf wohl eingerichteten Plan andern offenbaret und erkläret, sind die Farben und die mahlerische Vorstellung; da nun reden nichts anders ist, als seine Begriffe und Gedancken durch Zeichen zu verstehen geben, so kan man von einem jeden wohlgemachten Gemählde im eigentlichen Sinne sagen, es rede, und alles was ein verständiger und aufmercksamer Kenner aus desselben Betrachtung anmercket und lernet, hat der Mahler in demselben auch würcklich vorgestellet. Also beschreibet der Poet, wenn er von einem Gemählde redet, nicht nur id quod pingitur, sondern auch quod intelligitur; und dieses machet seine Beschreibung und die Kunst des Mahlers zugleich recht wunderbar. So wenn Virgilius in der Beschreibung des Schildes seines Helden unter anderm sagt,


Atque hic auratis volitans argenteus anser
Porticibus, Gallos in limine adesse canebat;

beschreibet er damit, was keine Kunst einiges Mahlers erreichen, oder genugsam ausdrüken kan; aber was die Betrachtung dieser künstlichen Vorstellung auf Eneas Schilde dennoch nicht undeutlich zu verstehen giebt; und gleichwie Virgil in dieser Dichtung von Eneas Schild das homerische Schild des Achilles zum Muster genommen, also lieget in der eben angeführten Anmerckung der Grund zu der bündigen Vertheidigung dieses kunstvollen Schildes von göttlicher Arbeit wider die übereilten Criticken des gelehrten Scaligers, wie solche von dem [169] verständigen Herrn Dacier in seinen Anmerckungen über Aristoteles Poetick gründlich ausgeführet worden; daher es mir nicht wenig anstössig vorgekommen, als ich in einem neuen critischen Wercke eines deutschen Kunstrichters diese Anklage Scaligers unbedachtsamer Weise wieder aufgewärmet fand, wo sie mit ungemeiner Dreistigkeit also beschlossen wird: Kurtz, Homer hat sich versehen, und die Wahrscheinlichkeit nicht recht beobachtet. Opitz hat die Verwunderung, die ihn bey der ersten Erblickung eines Conterfeys von einer Frauensperson überfallen, welches von der kunstreichen Hand des berühmten Strobels verfertiget war, in einer Aufschrift sehr natürlich also ausgedrücket:


Wem seh' ich, oder wer sieht mir vom Bilde zu?
Hats die Natur gemacht, Herr Strobel, oder du?
O Bild! o nicht ein Bild! dieß lieblich seh'n, dieß Lachen,
Den Hals, dieß Haar, den Mund, kan dieß der Pinsel machen?
Wo bleibet dann der Geist? Das Antlitz ist allhier;
Der Geist sey wo er will, das Mensch steht doch bey mir:
Es lebet! oder muß ja etwas in ihm leben.
Bistu Bild, oder Mensch? Willstu nicht Antwort geben?

Auf diesen Grund sind viele hyperbolische Bilder erwachsen, welche auf einem Wahn der Sinne beruhen. Der Herr Brockes sagt in dem ersten Th. des Ird. Verg. von den Gipfeln der Berge, daß sie


Wenn sie voll Wolcken hangen,
Nach dem blöden Augenschein
Selbst des Himmels Stützen seyn.

[170] Daher Virgilius in dem ersten B. der Eneis noch ziemlich bescheiden, aber ungemein nachdrücklich sagt:


Hinc atque hinc vastæ rupes, geminique minantur
In coelum scopuli. – – – –
Welches Amthor in seiner Übersetzung sehr matt also giebt:
Das Ufer zeiget sich von Felsen aufgeführet,
Wovon das höchste Paar bis an den Himmel rühret.

Wo das Wunderbare zwar beybehalten, aber der Nachdruck des Wortes minantur, welches das erschreckliche Aussehen dieser ungeheuren Felsen kräftig bezeichnet, übel aus der Acht gelassen wird. Und aus diesem optischen Betrug ist die Fabel von dem Atlas entsprungen, welche Opitz in dem Lob des Krieges-Gottes v. 648. in dem schertzreichen Einfall angeführet hat:


– – – – Es trug vor dieser Zeit
Den grossen Himmels-Bau der Atlas, wie sie sagen:
Jezt wird auf einer Hos' ein gantzes Dorf getragen,
Die Bauren und der Schultz. – – –

Wie auch einige davor halten, ist die Fabel von den Centauren, einem Volck in Thessalien, aus einem solchen Betrug entstanden, weil diese Leute zuerst die Pferde gebändiget, und zum Reuten abgerichtet haben, da der unwissende Zuseher anfänglich nach dem ersten Anschein den Reuter und das Pferd vor ein Stücke genommen hat. Wenn Virgil im achten B. der Eneis von den Flotten Marc-Antons und Augusts in der Schlacht bey Actium gedencket:


[171]
– – Pelagoque credas innare revulsas
Cycladas. – – –

So gründet sich dieser vorgegebene Wahn ebenfalls auf einen Betrug der Augen, indem unstreitig ist, daß die schwimmenden Inseln dem Auge in einem gewissen Gesichtes-Punct nicht anderst vorkommen, als eine Schiffs-Flotte; und hinwiederum wird einem Menschen, der eine Flotte zum ersten mahl siehet, solche ins Auge fallen, wie schwimmende Inseln. Ich könnte noch einen reichen Vorrath von dergleichen Beyspielen zusammentragen, wenn ich nicht die schon angeführten vor zulänglich hielte, diesen Kunstgriff der poetischen Mahler-Kunst deutlich zu erklären.


Ich gehe darum weiter fort, eine andere Quelle des Wunderbaren in der Kunst der Nachahmung zu entdecken, die aus einem angenehmen Betruge der Begierden oder Gemüthes-Neigungen entspringet. Von dieser hat schon Aristoteles in dem zweyten B. seiner Rede-Kunst angemercket, daß liebende und hassende, entrüstete und gesezte Menschen eine Sache nicht auf einerley Weise ansehen, sondern daß sie ihnen entweder gantz anderst, oder in einem andern Grade der Grösse vorkommt. Durch einen Affect in Verwirrung gesezte Gemüther hören den Verstand nicht, und sind zu ungedultig, sich der Leitung desselben zu unterwerffen; je heftiger die Leidenschaft ist, desto schwerer kan die Vernunft Gehör erlangen; die erhizte Phantasie ist von ihrem Gegenstande so sehr eingenommen, und damit so starck beschäftiget, daß sie auch der Vorstellung der Sinnen, die von aussen auf sie eindringet, nichts achtet; sie ist von dem Verstande und den Sinnen gantz abgezogen, und in sich selbst hinein gekehret, sie hänget ihren Träumen nach, und stellet sich die Gegenstände ihrer Betrachtung vor, nicht wie sie an sich selbst und in ihrer Natur beschaffen [172] sind, oder wie sie von den Sinnen und dem Verstande eingesehen werden, sondern wie sie dieselbigen wünschet. Man saget darum mit Recht, daß die Leidenschaften alles mit eigenen und gantz andern Augen anschauen, als ein geseztes und der Leitung seiner Vernunft gehorchendes Gemüthe: Und wie Aristoteles in der angeführten Stelle anmerket, so ändert sich die Vorstellung eines gleichen Gegenstandes ab, je nachdem die Phantasie von einer Regung aufgebracht und entzündet worden; Die Liebe sieht die Vollkommenheiten durch ein Vergrösserungs-Glaß an; hingegen kehret der Haß den Tubum opticum um, und sieht dieselben in der Entfernung gantz verkleinert; die Liebe ist blind, wenn es die Fehler und Gebrechen ihres geliebten Gegenstandes angehet, eben wie der Haß hingegen blind ist, wenn er die Vollkommenheiten desselben Gegenstandes der Liebe wahrnehmen soll. Kurtz, die Phantasie, die durch die Leidenschaften erhitzet ihren Träumen nachhängt, sieht die Dinge, die vor Augen liegen, entweder gar nicht, oder in einer gantz andern Grösse, Figur und Gestalt, als sie haben: Hingegen bildet sie sich ein, daß sie dasjenige würcklich sehe, was sie wünschet oder fürchtet, wenn es schon nicht vorhanden ist, und daher entstehen die wunderbaren und seltsamen Vorstellungen der Phantasie, die poetischen Entzückungen, Gesichter, Weissagungen, Träume, welche vornehmlich in der Ode herrschen, und von dem poetischen Enthusiasmo oder der Begeisterung herrühren. Da nun dem Poeten sehr viel daran gelegen ist, daß er das Gemüthe des Lesers mit seiner Materie und dem Schicksal seiner Personen einnehme, und in einer beständigen Unruhe unterhalte, so muß er in beschreibung der Umstände, in die er seine Personen versetzet, die Sachen nicht immer in ihrer wahren und natürlichen Grösse vorstellen, wie sie demjenigen vorkommen, der keinen Antheil an einer Begebenheit hat, sondern er muß sie nach dem Maasse künstlich vergrössern [173] oder verringern, wie sie denen Personen, für die er seine Leser einnehmen will, nach ihrem Gemüthes-Zustande wahrscheinlicher Weise vorkommen mußten; und durch diese kunstreiche Anwendung des Betrugs der Affecte werden seine Vorstellungen nicht alleine wunderbar, sondern auch hertzrührend.

Wenn Virgil im dritten B. der Eneis v. 564. seinen Helden einführet, wie er die Gefahr beschreibet, in welcher die Flotte bey der Charybdis geschwebet, so sagt er:


Tollimur in coelum curvato gurgite, & idem
Subducta ad maneis imos desedimus unda:
Ter scopuli clamorem inter cava saxa dedere;
Ter spumam elisam & rorantia vidimus astra.

Diese hyperbolische Redens-Arten der Furcht, welche gleichsam mit der Gefahr anwachsen, erwecken bey dem Leser nicht alleine einen lebhaften Begriff von der Grösse der Gefahr, mit der die schiffenden umgeben waren, sondern entdecken uns zugleich, wie solche ihrer mit Furcht eingenommenen Phantasie vorgekommen sey. Opitz sagt im vierten B. der Poet. W. in dem Gedichte an Nüßlern von einem Sturm nach einem gleichen Betrug der Einbildung:


– – Wie die grüne See, im Fall sie durch Gewalt
Des Nordens wird gezwängt, bald ihre trüben Wellen
Bis an die Wolcken führt, bald an den Schlund der Höllen
Das Hofnungs-blosse Schiff mit Sturm und Brausen schlägt.

Und wenn Virgil im achten B. der Eneis v. 240 die Aufschliessung der ungeheuren Höle des Cacus beschreiben will, so sagt er erstlich von der Wegweltzung des Felsen-Stückes, womit der Eingang verschlossen war:


[174]
– – Impulsu, quo maximus intonat æther!
Dissultant ripæ, refluitque exterritus amnis.
– – – – – – – – – – – – – Aller Grund erzittert,
Die Wasser fürchten sich, und fliehen von dem Lande.

Hernach wenn er die erschreckliche Gestalt der nunmehr offen stehenden Höle, wie sie Leuten beym ersten Anblicke vorgekommen, beschreibet, so sagt er:


Non secus, ac si qua penitus vi terra dehiscens
Infernas reseret sedes, & regna recludat
Pallida, DIs invisa; superque immane barathrum
Cernatur, trepidentque immisso lumine manes.

So wenn Opitz in dem Lob des Krieges-Gottes v. 749. demselben die Erfindung der Schiffahrt zuschreibet, sagt er:


Du hast den Fichten-Baum zuerst geheissen hauen,
Hast unsern Muth gereizt ein Holtz-Pferd aufzubauen,
Das Segel hoch zu zieh'n, zu reisen durch den Wind,
Wo Meer und Tod von uns in gleicher Weite sind.

Hier ist zwar die lezte Anmerckung, daß das Meer und der Tod gleich nahe bey den Eingeschiffeten stehn, nicht von der Phantasie, sondern durch den überlegenden Verstand erfunden worden, nichts destoweniger ist sie wunderbar, und dienet vortrefflich, die Einbildung durch die Vergrösserung der Gefahr in Furcht zu setzen, wie Homer in dem vierzehnten B. der Ilias v. 624. zu erkennen giebt: »Die Schiffenden zittern in ihren Hertzen vor Furcht, weil sie nur einen Schritt weit von dem Tode fahren.« Auch kan die aus Opitz angeführte Stelle die [175] Gründlichkeit der Critick, die Longinus in der zehnten Abtheilung über eine Stelle aus einem gewissen Gedichte, Arimaspia genannt, gemachet hat, genugsam erweisen, massen der einzige Umstand, den er von Homer glücklich hinübergetragen,


Wo Meer und Tod von uns in gleicher Weite sind,


die Grösse der Gefahr, und hiemit die kühne Verwegenheit der Seefahrenden weit erschrecklicher und erstaunlicher machet, als alle die daselbst angebrachte kleinen Umstände und spitzfündige Gegensätze, welche mehr von dem spielenden Witz des Poeten, als einer von Furcht eingenommenen Phantasie und richtigen Urtheile Anzeige geben.

Gleichwie die Furcht das vergangene und das zukünftige Übel, also siehet hingegen die Traurigkeit das gegenwärtige immer vor grösser an, als es an sich selbst ist; diese beredet die Einbildung, daß allemahl das gegenwärtige Leid das schwerste und schmertzlichste sey, und daß beynahe die gantze Natur Theil daran nehme: Ein Gemüthe, das von Traurigkeit gantz eingenommen ist, sieht alles mit andern Augen an, es hat keine Empfindlichkeit für das Angenehme und Ergetzliche, auch der helleste Tag düncket ihm mit einer traurigen Finsterniß umnebelt zu seyn, daher auch die Vorstellungen dieser Leidenschaft sehr seltsam herauskommen. Opitz sagte unter anderm in seinem Trauergedichte des dritten B. der Poet. W. wo er die allgemeine Trauer über den tödtlichen Abschied Ertz-Herzog Carls von Österreich beschreibet:


– – – – – – – – – – – Die Donau schwellt sich auf,
Der Wasser Königin, und ändert ihren Lauff:
Der strengen Multe Strohm scheint röther noch zu fliessen,
[176]
Als damals wie man sah' in solcher Menge schiessen
An seinem Ufer her so vieler Menschen Blut.
Und bald hernach:
– – – – – – – – – – – – – – – Die Felsen in Tirol
Und Hügel allesamt sind grossen Traurens voll.
Und in einem andern Gedichte, über das Absterben einer hochgebohrnen Fürstin:
Und unser Lignitz auch, die sonst so schöne Stadt
Verbirget ihre Zier: die Oder will nicht fliessen
So klar mehr als zuvor: die Najades begiessen
Ihr weisses Angesicht aus grosser Traurigkeit
Mit Zehren mannigfalt: das Feld sieht weit und breit
Öd' und verwüstet aus: Pandions Tochter singet
Mit kläglichem Geschrey, daß Wies' und Wald erklinget:
Wo die Violen vor bey solcher Frühlings-Zeit
Im grünen Hessen seh'n ihr Wolken-blaues Kleid,
Wächst Raut und Wermuth auf: Ein jedes ist verzaget
Um diesen Todes-Fall. – – – –
Welches mit folgender Stelle in der zehnten Ecloge des römischen Poeten übereinkömmt:
Illum etiam lauri, illum etiam flevere myricæ;
Pinifer illum etiam sola sub rupe canentem
Mænalus, & gelidi fleverunt antra Lycæi.

Wie nun die Traurigkeit nichts anders ist, als die lezte Wuth der Liebe über den Verlust eines besessenen Gutes, so ist keine Leidenschaft unter allen fruchtbarer an Bildern, als die Liebe. Diese füllet die Einbildung gäntzlich mit dem geliebten Gegenstande an, und mahlet ihr dessen [177] Schönheit und Vollkommenheit in einem solchen Lichte vor, daß sie dadurch gantz entzücket, denselben als den einzigen Mittelpunct und die Quelle aller Schönheit, alles Ergetzens, aller Glückseligkeit ansiehet, und sich darum nach ihm alleine sehnet, alles andere in Vergleichung mit dem einig geliebten Gegenstand verachtet, und einen Eckel davor empfindet, und nichts anders, als nur um desselben Willen liebet. Diese Liebe hat eine verwundersame Kraft, welche Opitz in der Hercynia also beschrieben hat: »Sie will über alle Furcht und Notwendigkeit siegen, und ihre Freyheit unbeleidiget wissen. Sie verwundert sich über keinen Reichthum, sie fürchtet keinen König, scheuet kein Gerichte, und pfleget keinen Tod zu fliehen: Sie läßt sich durch kein Feuer, kein Wasser, keinen Degen, kein Thier, noch Menschen, keine Hoffnung des Glückes, noch Verlust der Wohlfahrt von ihrem Vorsatz bringen: Was andere meiden, das verachtet sie; und was andern schwer fürkommt, das macht sie ihr leichte. Sie schwimmet durch die Tieffe der Flüsse, segelt im Ungewitter und klettert über alle Berge. Sie hat alles in ihrer Gewalt, und macht ihr alle Gewalt unterwürffig. Ein herrliches Wesen, wenn dieses alles aus einem Muth der Tugend, und nicht aus Verwegenheit, oftmahls auch aus Verzweiffelung herrührete; wenn ihre End-Ursache mit den Umständen übereinstimmete, ja wenn sie nicht eben diejenige wäre, darüber so viel Hirten-Gedichte schreyen, welche auf allen Schauplätzen gezeiget, und in allen Fabeln verklaget wird, voll Wütens, voll Ungedult, voll Weinens, und Jammers ist.« Wenn diese Liebe der Vernunft nicht mehr gehorsamt, und sich nur von dem Glantz einer betrüglichen Schönheit beherrschen läßt, wird sie toll und ausgelassen, sie verfällt in alle Ausschweifungen, sie vereiniget sich mit allen andern Leidenschaften, Schmertz, Verachtung, Furcht, Verzweifelung sind ihre beständigen Gefährten und Hencker; mit einem Wort, sie macht den Menschen zum Narren. Cornelius [178] Gallus hat einige dergleichen wunderbare Würckungen der sinnlichen Liebe in seiner vierten Elegie beschrieben:


Singula visa semel semper memorare libebat,
Hærebatque animo nocte dieque meo.
Sæpe velut visæ lætabar imagine formæ,
Et procul absenti voce manuque fui.
Sæpe velut præsens fuerit, mecum ipse loquebar:
Cantabam dulceis, quos solet illa modos.
O quoties demens! quoties sine mente putabar!
Nec puto fallebar, nec bene sanus eram.
Und Propertius hält seine geliebte Schöne in der vierten Elegie des ersten B. vor unvergleichlich:
Tu licet Antiopæ formam Nycteidos, & tu
Spartanam referas laudibus Hermionem,
Et quascunque tulit formosi temporis ætas,
Cynthia non illas nomen habere sinet.

In der achten und der neunten Elegie sieht er sie vor die Quelle aller Freude an, ohne welche ihm Rom, seine Freunde, seine Ältern, ja das Leben selbst verhaßt seyn könnte:


Illi carus ego, & per me carissima Roma
Dicitur, & sine me dulcia regna negat.
Und wiederum:
An mihi sit major caræ custodia matris?
Aut sine te vitæ cura sit ullæ meæ?
Tu mihi sola domus, tu Cynthia sola parentes,
Omnia tu nostræ tempora lætitiæ.

[179] In diesen beyden leztern Stellen wird Herr Heinecken das Original von dem Besserischen Gedancken finden: »Sie hatten weder Vaterland noch Freundschaft, aber sie waren sich das alles.« Welchen er in seiner eigenen Untersuchung vom Erhabenen Bl. 346. nicht genung zu bewundern weiß, und bey Sophocles und Ovidius vergeblich gesuchet hat; woraus er leicht erkennen wird, daß dießfalls dem deutschen Poeten nicht mehr gebührt, als das Lob einer nicht unglücklichen Nachahmung. Aber auch unser Opitz hat die wunderbaren Würckungen der Liebe an seiner eigenen Person, in dem Gedichte an Nüßlern ausführlich beschrieben; in dem vierten B. der Poet. W.


– – – – – – – – – – – – Mir graut vor allen Dingen
Die sonst die Jugend liebt: der Tantz, das Spiel, der Wein,
Der Freunde Gegenwart, die sonst pflegt lieb zu seyn,
Ist lauter Gall und Gift: Die Einsamkeit, die Wüsten,
Ein melancholscher Berg, ein Thal, da Eulen nisten,
Ein trüber Fluß, ein Ort, da nichts als trauren ist,
Dieß hab ich einig mir zu lieben auserkießt.
Hier ist mein Aufenthalt; Hier irr ich hin und wieder,
Und rede mit mir selbst: dann setz' ich bald mich nieder,
Bald steh' ich wieder auf, und wann ich müde bin
Vom klagen und vom geh'n, so streck ich dann mich hin
Bey einem dicken Baum, erseufze mit Verlangen,
Bis an statt Flavien mich pfleget zu umfangen
Der Schlaff des Todes Bild, des Todes den ich mir
Gezwungen durch Gewalt der närrischen Begier
Von Hertzen wünschen muß.

Und gleich darauf beschreibet er uns seinen Gemüthes-Zustand überaus nachdrücklich, und mit solchen Zügen, [180] daß man glauben könnte, er hätte zum Theil die berühmte Ode der Sappho, die Catullus in Latein übersetzet hat, vor Augen gehabt:


Ich fürcht' und hoffe doch, ich bitt' und schweig auch stille,
Ich bin wie kaltes Eys und fühle Gluth die Fülle,
Ich löß und binde mich, ich wünsche frey zu seyn,
Und wenn ich denn frey bin, so geh' ich wieder ein.
Wie einer dem der Trunck den Kopf gantz eingenommen,
Und nun nicht ist sein selbst, wenn er das Schwert bekommen,
Läufft rasend in den Feind, und fühlt die Wunden nicht:
So bin auch eben ich dem Rath und Sinn gebricht.
Ich eil', ich wart', ich zörn', ich weiß nicht was ich treibe,
Was mein Begehren ist, zugleich in einem Leibe
Haß' ich die Härtigkeit, und Liebe die Gestalt. etc.

Eben dieser ruhmwürdige Poet soll uns auch einige Exempel von dem wunderbaren Betrug seiner von Liebe entzündeten Phantasie lehnen. In dem ersten B. der Poet. W. sagt er über die Zurückkunft der Herzogin von Braunschweig:


O Bluhme dieser Zeit! O Fürstin aller Frauen,
So Titan irgend kan von seiner Bahn beschauen!
O edle Halb-Göttin! Kommt der gewünschte Tag
Da uns're Erde dich nun wieder sehen mag,
Die sonst in Trauren stuhnd? Als des Geblütes Liebe
Dich vormahls von uns trug, war alles öd und trübe,
Du andre Morgen-Röt': Es lag das bleiche Land
Mit strengem Schnee bedeckt, und deiner Oder Strand
[181]
Trug fort bereifftes Eyß auf seinem grauen Rücken;
Es ließ kein Thal sich mehr, und kein Gefilde blicken;
Der Wald war ohne Wald: Jetzt mehret seine Zier
Das ungedeckte Dach des Himmels über dir:
Wir seh'n das göldne Licht der Sonne besser blincken,
Den sanften West-Wind geh'n, die Sternen auf dich winken:
Dir grünet Berg und Thal, dir läutert sich die Luft,
Die Brunnen fliessen mehr.
Womit übereinstimmet, was Virgil in der siebenten Ecloge sagt:
Omnia tunc rident: At si formosus Alexis
Montibus his abeat, videas & flumina sicca.
Und wiederum:
Phyllidis adventu nostræ nemus omne virebit,
Jupiter & læto descendet plurimus imbri.
Auf denselben Thon singt Opitz in dem vierten B. der Poet. W. in der dreyzehnten Ode:
Allhier in dieser wüsten Heyd'
Ist gar kein Mensch nicht weit und breit,
Die wilden Thier allein
Die seh' ich selbst Mitleiden tragen;
Die Vögel traurig seyn,
Und mich mit schwacher Stimme klagen,
Die kalten Brunnen stärker fliessen,
Viel Thränen gleichfalls zu vergiessen.
Stein, Wälder, Wiesen, Feld und Thal
Hör' ich beklagen meinen Fall;
[182]
Sie fühlen meine Pein;
Die Schafe wollen gar nicht weiden:
Du Delia allein
Wirst nicht beweget durch mein Leiden.

Und wie seltsam, ja närrisch lauten nicht die Wünsche in dem Gedicht an die Jungfrauen in Deutsch land, welches Opitz aus Daniel Heinsius Holländischem übersetzet hat:


O daß ich Sonne wär', und ihren hohen Wagen
Einmahl regierete nach meinem Wohlbehagen;
Daß ich nur von der Luft herab recht schauen kunt
Auf derer Angesicht, die mich so sehr verwundt!
O daß ich Sonne wär', ich wollt' ihr' Augen machen
Zu Sternen in der Luft, sie frölich anzulachen,
Und jederzeit zu sehn; sie sollte nahe stehn
Dem Monden, und mit ihm doch nimmer untergehn.
Wie oft hab' ich gewünscht, wie ofte dörffen sagen,
Daß ich wär' eine Bien und Honig sollte tragen
Aus ihrem rothen Mund. etc.
Ach Amor daß ich mögt' als eine Fliege werden,
Mich dünckt ich stühnde wohl am besten hier auf Erden;
Ich wollt' ein Häusichen aufbauen bey dem Mund
Derjenen, die ich weiß, darinn ich wohnen kunt.

Bey dieser Stelle muß ich die Anmerckung hinzuthun, daß die Leidenschaft der Liebe sich von der Art der Traurigkeit unter anderm darinnen unterscheidet, daß sie sich an seltsamen Einfällen des Witzes belustigen kan. Wenn ein verliebter Mensch Geist besitzet, so suchet er sich auch dadurch bey seiner Geliebten in Gunst zu setzen, daher sagte Propertius in der ersten El. des zweyten B.


[183]
Seu quicquid fecit, sive est quodcunque locuta,
Maxima de nihilo nascitur historia.

Da hingegen die Traurigkeit nur bemühet ist sich selbst zu erkennen zu geben, und alle Spiele und Einfälle des Witzes, als die einen freyen und ausgeklärten Sinn erfodern, gäntzlich verwirfft.


Ich habe Aristoteles Anmerckung von dem wunderbaren Betrug der Gemüthes-Leidenschaften so viel erweitert, daß ich mit wenigem angedeutet habe, wie der Geist, der durch eine heftige Leidenschaft aufgebracht ist, die Dinge nicht nur in einer andern Gestalt, Figur, und Grösse sehe, sondern auch durch die Hitze der Gemüthes-Bewegung öfters so gar getäuschet, und verblendet werde, daß er sich beredet, solche Dinge zu sehen, die nirgend sind, oder wenigstens von dem Gesicht weit entfernet und erst noch zukünftig sind. Dem ist auch in der That also; die aufgebrachte, und durch eine strenge anhaltende Leidenschaft erhizte Phantasie wird öfters so sehr verzücket, daß sie ihre lebhaften Einbildungen von den Empfindungen gegenwärtiger Dinge nicht wohl unterscheiden kan; der Poet, der das Wort für sie führet, wird daher in währender Entzückung von solchen als von würcklich gegenwärtigen Dingen reden, und sie dem Leser gleichsam mit dem Finger zeigen; er wird sie anreden, als ob sie ihm vor Augen stühnden, sie werden eben dieselben Empfindungen bey ihm erregen, und er wird euch mitten in dem Irrthum zu Zeugen nehmen, und sich auf eure eigenen Empfindungen beruffen; seine Aussprüche werden von ihm nicht als blosse Wünsche und Muthmassungen vorgetragen, sondern sind den Weissagungen ähnlich, und sie schliessen das künftige Geschicke auf eine sichtbare Weise auf, und legen es vor Augen; die sehnliche Hoffnung stellet sich das zukünftige und gewünschte Gut als gegenwärtig vor, und belustigt sich an [184] dessen Genuß in dem süssen Traume ihrer Einbildung; die verzagte Furcht holet nicht alleine alles mögliche Unglück, das noch ferne von uns ist, auf die Stelle herbey, sondern jagt sich selber durch die Vorstellung scheußlicher Gespenster und Plage-Geister, die nirgends sind, Angst und Schrecken ein; die Eifersucht hält ihre Träume vor unfehlbare Wahrheiten; und die brünstige Liebe, die unter allen Leidenschaften die verwegenste, mächtigste, und in ihrem Betragen die wunderlichste ist, wird ihren geliebten Gegenstand, seiner Abwesenheit und Entfernung ungeachtet, niemahls aus dem Gesichte verliehren. Der berühmte griechische Lehrer des Erhabenen hat daher in der fünfzehnten Abtheilung diese Phantasie-Bilder als ein nahmhaftes Mittel den Geist zu erheben angewiesen, da er insbesondere den Euripides als einen solchen kunstreichen Phantasierenden rühmet, und desselben Geschicklichkeit mit vielen Exempeln erweiset. Seine Lehre davon beruhet hauptsächlich auf folgendem: Die Einbildungen in der Rede seyn ein vornehmer Kunstgriff, die Rede zu erheben, prächtig und nachdrücklichlebhaft zu machen. Er verstehe durch das Wort Einbildungen in einem engen Verstand diejenigen Reden, die eine ungewohnte Bewegung und Verzückung in der Seele zu erkennen geben, da es das Ansehen hat, als ob die Sache, von der sie gerühret wird, würcklich gesehen, und den Zuhörern vor Augen gestellet würde. Die Einbildungen werden zu einem andern Ende von den Rednern, zu einem andern von den Poeten gebraucht. Diese brauchen sie, das Gemüthe in Bestürtzung zu setzen, jene die Sachen deutlich zu schildern: Beyden müssen sie dienen, das Hertz zu rühren. Gleichwie man sich von demjenigen gerne einnehmen und an sich ziehen lasse, was einen vortrefflichen Schein von sich giebt, also werde das Gemüthe durch eine solche Einbildung, die man ihm vorleget, leicht gerühret; das grosse Ansehn, womit sie die Rede umgebe, bemächtige sich des Gemüthes so vollkommen, [185] daß es uns auch hindere, auf die Richtigkeit eines Beweißthums, wo es um einen solchen zu thun ist, Achtung zu geben. Und dieses sey etwas natürliches, weil unter zweyen Dingen, so zusammen gefüget werden, allemahl das schwächere das stärckere an sich reisset.

Lasset uns diesen Schwung der Einbildungs-Kraft, der von der höchsten Stärcke derselben Anzeige giebt, mit etlichen Exempeln aus unsern einheimischen Poeten erläutern. Wenn der Herr Cerimonien-Rath J.U. König in dem Glückwunsch-Gedichte an den Königl. Printzen Friederich August am Tage der Dreßdnischen Erbhuldigung die gesegneten Früchte der künftigen Regierung desselben vorstellen will, so schleußt er also:


Ich sehe schon voraus, daß Zweytracht sammt dem Kriege
Gefesselt am Altar des Friedens künftig liege.
Es stellt die güldne Zeit mit dir sich wieder ein.

*

Was aber fliehet dort für eine wilde Schaar?
Mit blassem Angesicht und mit zerstreutem Haar?
Es ist der Laster Schwarm, den du nicht kanst ertragen,
Und den dein blosser Blick von hinnen wird verjagen

Und wenn Hr. Prof. Gottsched die Sehnsucht nach friedlichen Zeiten in dem Gedicht, das er bey demselbigen Anlaß verfertiget hat, lebhaft ausdrücken will, so singet er:


Wenn wird das menschliche Geschlecht
Doch endlich seiner Wuth vergessen,
[186]
Und sich nach Billigkeit und Recht,
Nicht nach der blinden Macht gestählter Fäuste messen!
Zurück, ihr Furien, zurück!
Verbergt nur euren finstern Blick
In des Avernus Pfuhl, und räumt den Kreis der Erden:
Irenens Gottheit zeigt sich schon,
Sie pflanzt sich unter uns den Thron,
Und gantz Europa soll ein Friedens-Tempel werden.

Insbesondere muß ich in dieser Absicht die heroische Ode loben, welche der Herr Hofrath König 1725. auf die Geburt einer Chursächsischen Printzessin herausgegeben, in welcher durchgehends eine künstliche Verwirrung und durch den Verstand geleitete Entzückung herrschet. Die gantze Ode verdienete vor ein Muster hier ausgesetzet zu werden, alleine Weitläuftigkeit zu vermeiden, muß ich mich begnügen lassen, ein paar Stellen daraus anzuführen:


Du aller Schönheit reinste Quelle,
Du besserst den Geschmack, du leitest den Verstand,
Daß ich nicht, als berauscht, mich aus mir selbst verliere,
Noch auch mit Flitter-Gold den falschen Einfall ziere,
Du Wahrheit! Doch was seh ich da?
Was für ein Aufzug kommt uns nah?

*

Wer ist die, die hier in der Mitte
Bey so viel Pracht und Majestät,
Doch mit so Demuths-vollem Schritte
In einer langen Ordnung geht?
[187]
Zu deren Seiten man die Tugenden erblicket,
Die bey so keuscher Fruchtbarkeit,
Und edler Eingezogenheit,
Sich mehr mit Gottesfurcht, als reichen Steinen schmüket.
Seht wie die Laster flieh'n vor ihrem Angesicht!
O! wer erkennt sie wohl im ersten Anblick nicht!
Josepha kommt in diesem Reihen
Den ersten Ausgang Gott zu weihen.

Nachdem der Poet voll von der Hoheit und Wichtigkeit seiner Materie den Geist angespornet, und statt der Muse die Wahrheit um ihren Beystand angeruffen, damit er sein Vorhaben nach Würde ausführen mögte, und jezo der Erhörung vergewissert, die strengen Triebe derselben nicht ohne Verwunderung inwendig fühlete, welchen er sich auch gäntzlich überließ, reißt ihn die erhizte Phantasie plötzlich aus sich selbst, und stellt ihm die königliche Wöchnerin, die im Begleit der Tugenden nach dem Tempel gehet, gleichsam auf eine sichtbare Weise vor Augen; der majestätische Aufzug setzet ihn in eine solche Verwunderung, daß er eine Zeitlang diejenige nicht zu kennen scheinet, welche niemand mißkennen kan, und dieses giebt ihm Gelegenheit, ihr dasjenige wahre Lob beyzulegen, welches sie vor allen andern Frauen kenntlich machet, und euch durch die Betrachtung derselben in eine gleiche Verwunderung zu setzen. In der folgenden Strophe, wo er die Kraft der allgemeinen Fürbitte für die neugebohrne Prinzessin vorstellen will, sagt er in einer prophetischen Entzückung:


Ich seh schon auf und ab, mit jauchzendem Gethön,
Die ihm zum sichern Schutz bestellten Engel fliegen,
Und dieses Töchterchen auf ihren Armen wiegen,
Sie lächeln es holdselig an,
Und singen: Folg der Mutter Bahn!

[188] Und wenn er weiterhin die Zurückkunft dieser königlichen Mutter aus dem Tempel nach vollendeter Einsegnung beschreiben will, so stellet er euch alle Dinge so sichtbar vor Augen, als ob er euch ein Schauspiel geben wollte:


Macht Platz! Es kommt schon mit Vergnügen
Zurück die hohe Wöchnerin:
Man legt jezt wieder in die Wiegen
Die kleine zarte Prinzessin.
Schlaff wohl, holdseligs Kind, damit nichts möge stören
Die dir so nöthig-süsse Ruh,
So deckt dich selbst die Liebe zu.
Weil du mein Lied noch nicht verstehen kanst und hören,
Hingegen unser Hof solch einen Künstler nährt,
Den in der Thon-Kunst selbst ein jeder Meister ehrt,
So mag, dich in den Schlaff zu bringen,
Von ihm ein Wiegen-Lied erklingen.

*

Wie ist mir? Hör ich dich nicht schon?
Du, der sich selbst nur zu vergleichen,
Du weltberühmter Pantalon.
*

Hört' doch wie fremd, wie sanft, wir rein,
Wie süß! Doch still! sie schläft schon ein.
Noch ein poetisches Gesicht findet sich in dem Verfolge dieses Gedichtes:
Wohin? wohin, ihr jungen Krieger?
Wohin du Paar von grossem Muth?
[189]
Man sieht es wohl, ihr frühen Sieger,
Ihr stammt aus Wittekindens Blut.
Ihr eilt des Erbfeinds Sitz im Aufgang zu bestreiten,
Und für uns Christen wiederum
Von Roms zerstückten Kayserthum
Den abgerißnen Theil zurücke zu erbeuthen.
Nur fort! Nur frisch gewagt! der Pforte Fall ist nah.
*

Die Flucht vor euch ist allgemein.
Ihr brecht mit unzertrenntem Hauffen
Als eine Straff- und Sünd-Fluth ein.
Seht! Seht, wie die Beschnittnen lauffen!
Nur Muth! Seht, wie es euch als Siegern schon gelingt,
Daß aus des Nils fruchtbaren Wellen
Von euren tapfern Spieß-Gesellen
Ein deutscher Kürassier aus seinem Sturmhut trinckt. etc.

Die Alten haben diese äusserste Bestrebung einer aufgerührten und durch die Leidenschaften erhizten Phantasie einer göttlichen Begeisterung zugeschrieben, und in der That geglaubt, daß ihre Poeten von Apollo, oder den Musen, oder einer andern Gottheit gantz angefüllet und gleichsam aus sich selbst verzücket würden, da sie dann solche wunderbare Dinge sähen, höreten, und nach der göttlichen Eingebung auch redeten, und aussprächen. Plato und Democritus selber stuhnden nach Cicerons Zeugniß in diesem Wahn, wie er uns in dem zweyten B. von dem Redner, und in dem ersten B. von der Wahrsagung berichtet: Illa concitatio declarat vim in animis esse divinam; negat enim sine furore Democritus quemquam Poetam magnum esse posse. Quod idem dicit Plato. Daher sie auch, wenn sie etwas wichtiges besingen wollen, den Apollo, die Musen, oder irgend eine [190] höhere Gottheit um ihre Hülfe angeruffen haben. Ja auch einige unserer heutigen Scribenten, die von dem Enthusiasmo reden, schwatzen auf eine Weise davon, als ob sie selber in der Verwirrung stühnden, von der sie uns eine Erklärung geben wollen. Sie kommen mit lauter prächtigen Wörtern von einem heiligen Rausch, einer göttlichen Raserey, Licht, Verzückungen des Gemüthes, Aufwallungen, aufgezogen, welche neben einander gesetzet vortrefflich klingende Sätze machen, aber in dem Gemüthe keinen deutlichen Begriff hervorbringen. Aber dieses alles giebt uns alleine zu verstehen, daß die Poeten bey der alten Welt in einem nicht geringern Ansehen gestanden, als die Wahrsager und Propheten, und daß die Leichtgläubigkeit ihnen mächtig dazu behülflich gewesen; und wenn die neuern Scribenten von dieser poetischen Begeisterung mit eben so hochtrabenden Worten reden als jene, muß man sich dadurch nicht blenden lassen, und sie vor nichts anders, als vor freye Metaphoren ansehen, die sich auf eine Vergleichung der erhizten Phantasie mit der Raserey der Priester gründen, wenn diese von ihrem Gott entzündet wurden, und ihre Orackel aussprachen; gestalt Herr Gottsched solches in der Ode, der wahre Held Friederich August betitelt, auf eine geschickte Art ausgeführet hat:


Wie dort Apollens Priesterin,
Wenn unter ihr die Klüfte keichen,
Sich selber fast vergißt, indem ihr schwacher Sinn
Der stärckern Gottheit Kraft muß weichen;
Gantz Delphos bebt, der Tempel kracht,
Aus Ehrfurcht vor den höhern Sprüchen:
So ist mein blöder Geist den Musen jezt gewichen,
Er fühlt der hohen Triebe Macht,
Und kan sich selber dem, was sie ihn singen heissen,
So wenig als den Kiel entreissen.

[191] Kurz, das Geheimniß, so darunter verborgen liegt, will nichts weiters sagen, als eine Hize der Einbildungskraft, in die man sich selber jagt, und der man sich gerne ergiebt, woraus Schönheiten und Fehler entspringen können, je nachdem sie blind oder scharfsichtig ist. Es ist auch so ferne, daß diese poetische Begeisterung von einer übernatürlichen Kraft und Entzückung herrühre, daß sie vielmehr nichts anders ist, als eine künstliche Nachahmung der Reden und Aussprüche solcher Personen, die sich himmlischer Erscheinungen und prophetischer Eingebungen rühmen. Auf diesem Grund beruhet die Verwirrung, welche die Kunst in der Ode erfodert; der Enthusiasmus mag da noch so starck seyn, so muß er doch allezeit von der Vernunft geleitet werden, und der erhizteste Poet muß sich öfters fassen, damit er von den Dingen, die ihm die Einbildung vorleget, ein gesundes Urtheil fällen möge; und die Kunst muß selbst die Unordnung in der Ode in Schrancken fassen. Also siehet man, daß die Begeisterung zur Kunst des Poeten gehöret, und das Ansehen von etwas göttlichem dadurch erworben, weil sie die göttlichen Begeisterungen geschickt nachzuahmen gewußt, hat. Damit nun der Poet die Phantasie mit dergleichen Raserey anfülle, muß er bey sich selbst einen Affect der Materie halber, die er vor sich hat, rege machen, indem er sie als etwas gutes oder schlimmes, etwas vortreffliches oder schnödes betrachtet, so ferne die Materie nicht selbst schon zuvor in dem Gemüthe eine von diesen verschiedenen Bewegungen erzeuget hat, wie bey verliebten Poeten zu geschehen pfleget. Ferner wird er unter den Bildern der Phantasie diejenigen auslesen müssen, welche ihm anmuthiger, oder prächtiger, oder schnöder, oder lächerlicher, oder erschrecklicher, oder lebhafter vorkommen werden, mit einem Wort, welche die absonderliche Art und Beschaffenheit der Materie, von der er handelt, am besten ausdrücken können. Wie nun gewiß ist, daß wir die Affecte in unserer Brust [192] natürlicher Weise aufwecken können, und daß eine jede Sache, die uns vorgeleget wird, in uns Liebe, oder Furcht, oder Zorn, oder Verwunderung, oder einige andere Leidenschaft gebähren kan, also ist nichts gewisser, als daß eine jede Materie unsre Phantasie auf gewisse Weise entzünden, und uns folglich in Raserey versetzen, und mit einem guten Vorrath von Bildern versehen kan. Derowegen müssen die Poeten Fleiß anwenden, daß sie mittelst der Kunst einen Affect in Absicht auf die Materie, von der sie handeln wollen, bey sich rege machen. Die Seele muß ihrer Einbildungs-Kraft befehlen, den vorgelegten Gegenstand zu besichtigen, alle Eigenschaften, Umstände, Zufälligkeiten desselben zu betrachten, wenn sie dann von dem Affecte mit aller Macht angespornet, und in eine starcke Bewegung gebracht worden, wird sie neue und wunderbare Bilder hervorbringen, welche, so ferne wir sie mit einer verständigen Wahl auserlesen haben, der Materie ein ungewöhnliches Licht und Leben mittheilen werden.

Alleine in der Anwendung dieser seltsamen Vorstellungen, deren Wahrscheinlichkeit in einem Betruge der Affecte gegründet ist, kömmt es hauptsächlich darauf an, daß man das rechte Maaß nicht übersteige; der Poet soll zwar die Natur in ihrem Betragen künstlich nachahmen, aber er muß dabey immer in Obacht nehmen, wie weit er die Affecte seinen besondern Absichten gemäß zu führen habe, damit er sie in ihrer erfoderlichen und wahrscheinlichen Grösse vorstelle. Derjenige würde thörigt handeln, der seinen verliebten Personen alle die lächerlichen Einfälle in den Mund legete, welche den Leuten in diesem Gemüthes-Stande in den Sinn kommen können, und der sie auf alle die Ausschweifungen führete, womit dieselben sich thörigter Weise vergehen; so wohl als ein anderer, der in seinen Trauer-Elegien alle die gekünstelten Seufzer und gezwungenen Klagen, die man oft in dergleichen Fällen hören muß, anbringen; oder der bey[193] allen Anlässen sich zu Entzückungen, Gesichtern, Träumen versteigen wollte. Cicero hat in dem zweyten B. von dem Redner weißlich erinnert: In parvis rebus non sunt adhibendæ dicendi faces. Wer etwas von dieser Art vorzustellen hat, der muß sich selber fragen: Wenn ich diese Person wäre, in diesem Affecte stühnde, in solchen Umständen schwebete, könnte ich auf diese Weise reden? Würde ich so starck nachsinnen, damit ich diesen Gedancken so spitzfündig vortragen könnte? Oder würde ich ihn lieber auf eine einfältigere Art ausdrücken? Würde mir die Leidenschaft solche Künsteley erlauben? Solche und dergleichen Fragen soll der Poet in allen Affecten, die er seinen Personen zuleget, an ihn selbst thun, also daß er allezeit die Natur im Gesichte habe, welche von ihm nachgeahmet, nicht verwirret werden muß. Quintilianus hat dieses gantze Kunst-Geheimniß, insofern es dienet der Rede einen bewegenden Nachdruck zu geben, und den Richter einzunehmen, in dem dritten Cap. des sechßten B. so deutlich vorgestellet, daß ich mich nicht enthalten kan, die gantze Stelle hier auszuschreiben: Si mihi tradita sequi præcepta sufficeret, satisfeceram huic parti, nihil eorum, quæ legi, didici, quod modo probabile fuit, ommittendo. Sed mihi in animo est, quæ latent penitus, ipsa hujus loci aperire penetralia; quæ quidem non aliquo tradente, sed experimento meo, ac natura ipsa duce accepi. Summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos affectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi. Nam & luctus & iræ & indignationis, aliquando ridicula fuerit imitatio, si verba, vultumque tantum, non etiam animum accommodaverimus. Quid enim aliud est causæ, ut lugentes utique in recenti dolore disertissime quædam exclamare videantur; & ira nonnunquam indoctis quoque eloquentiam faciat, quam quod illis inest vis mentis & veritas ipsa morum? Quare in iis, quæ verisimilia esse volumus, simus ipsi similes eorum, qui vere patiuntur affectibus, & a tali animo proficiscatur [194] oratio, qualem facere judicem volet. An ille dolebit, qui audiet me, cum hoc dicam, non dolentem? irascetur, si nihil ipse, qui in iram concitat, idque exigit, simile patietur? siccis agens oculis lacrymas dabit? fieri non potest. Nec incendit nisi ignis, nec madescimus nisi humore, nec res ulla dat alteri colorem, quem ipsa non habet. Primum est igitur, ut apud nos valeant ea, quæ valere apud judicem volumus, afficiamurque, antequam afficere conemur. At quomodo fiet, ut afficiamur? Neque enim sunt motus in nostra potestate. Tentabo etiam de hoc dicere, quas φαντασίας græci vocant, nos sane visiones appellemus, per quas imagines rerum absentium ita repræsentantur animo, ut eas cernere oculis, ac præsentes habere videamur. Has quisquis bene conceperit, is erit in affectibus potentissimus. Hunc quidam dicunt εὐφαντασίωτον, qui sibi res, voces, actus secundum verum finget, quod quidem nobis volentibus facile continget. Nam ut inter otia animorum & spes inanes, & velut somnia quædam vigilantium, ita nos hæ, de quibus loquimur, imagines prosequuntur, ut peregrinari, navigare, prœliari, populos alloqui, divitiarum, quas non habemus, usum videamur disponere; nec cogitare, sed facere; hoc animi vitium ad utilitatem non transferemus? Ut hominem occisum queror, non omnia, quæ in re præsenti accidisse credibile est, in oculis habebo? non percussor ille subitus erumpet? non expavescet circumventus? exclamabit? vel rogabit? vel fugiet? non ferientem, non concidentem videbo? non animo sanguis, & pavor, & gemitus, extremus denique hiatus exspirantis insidet? Insequetur ἐνάργεια, quæ a Cicerone illustratio & evidentia nominatur, quæ non tam dicere videtur, quam ostendere, & affectus non aliter, quam si rebus ipsis intersimus, sequentur. Ubi vero miseratione opus erit, nobis ea, de quibus querimur, accidisse credamus, atque id animo nostro persuadeamus. Nos illi simus, quos gravia, indigna, tristia passos queramur. Nec agamus rem quasi alienam, sed assumamus parumper [195] illum dolorem. Ita dicemus, quæ in simili nostro casu dicturi essemus. Vidi ego sæpe histriones atque comoedos, cum ex aliquo graviore actu personam deposuissent, flentes adhuc egredi. Quod si in alienis sola pronuntiatio ita falsis accedit affectibus, quid nos faciemus, qui illa cogitare debemus, ut moveri periclitantium vice possimus? Sed in schola rebus quoque ipsis affici convenit, easque veras sibi fingere, hoc magis, quia illic ut litigatores loquimur frequentius, quam ut advocati. Orbum agimus, & naufragum, & periclitantem, quorum induere personas non adtinet, nisi affectus assumimus. Hæc dissimulanda mihi non fuerunt, quibus ipse quantuscunque sum, aut fui (nam pervenisse me ad aliquod nomen ingenii credo), frequenter motus sum, ut me non lacrymæ solum deprehenderent, sed pallor, & vero similis dolor. Zu dieser weitläuftigen Stelle habe ich nichts weiter als die kurtze Anmerckung hinzuzufügen; weil die Einbildung der Poeten heftiger soll und muß erreget werden, als der Redner, so kan deßwegen der Poet künstlichere, fremdere und ungewöhnlichere Bilder, als die einfältigen sind, formieren, damit er mittelst derselben nach Belieben diesen oder jenen Affect in das Gemüthe der Leser oder Hörer mit Gewalt hineindrücke.


Ich habe noch die dritte Quelle des Wunderbaren in der Kunst der Nachahmung zu untersuchen, welche auf einem angenehmen Betrug einer alten Sage und eines allgemein angenommenen Wahnes beruhet. Die Sage ist eine After-Historie, die nichtsdestoweniger bey dem grösten Haufen der Menschen mehr Glauben findet, als die wahrhafte Historie, indem sie ihre Nachrichten durch solche Personen, die bey uns gleichsam in einem heiligen Ansehen stehen, zu einer Zeit, da wir noch keine eigene Einsicht haben, und zwar von Mund mit einem gebietenden Thone fortzupflantzen pfleget. Was vor seltsame Meinungen haben nicht bey gantzen Geschlechtern und [196] Völckern einen allgemeinen Beyfall erhalten, und sich durch die Verjährung ein solches Ansehen erworben, daß die Vernunft, da sie sich unterstanden, diese so tief eingewurtzelten Meinungen zu bestreiten, dadurch eine allgemeine Empörung des menschlichen Geschlechts wider sich veranlasset, und sich in den verhaßten Ruf einer abgesagten Feindin der Religion gesezet hat. Man erinnere sich nur, was vor Lermen sich in der gelehrten Welt selbst wider diejenigen erhoben, welche sich erkühnet haben, die durchgängige Meinung von den Gegenfüssern, von dem Umlaufe der Sonnen um die Erden, von den Cometen, als Weissagern allgemeiner Land-Plagen, und andere dergleichen anzutasten. Die Unwissenheit und der Aberglaube sind die Zeuge-Mütter dergleichen seltsamen Meinungen, daher solche auch in denen Zeiten, da sie die Welt beherrscheten, ihre Brut am meisten vermehret haben. Schon in den ältesten Zeiten mag die hieroglyphische und allegorische Lehrart, in welche die göttlichen und die natürlichen Wahrheiten eingehüllet wurden, erstlich Anlaß zu den Fabeln der heidnischen Mythologie gegeben haben, indem der Aberglaube die Personen, die zuerst bloß allegorisch waren, hernach in historische verwandelte. Da nun die gemeine Sage bey dem grösten Haufen der Menschen in einem so grossen Ansehen stehet, und ihre Lehren und Meinungen so leicht Eingang finden, so ist es sich nicht zu verwundern, daß die poetische Kunst der Nachahmung, die sich begnüget, ihre Vorstellungen wahrscheinlich zu machen, sich öfters der Sage mit gutem Nutzen bedienet, damit sie ihre Erzehlungen und Beschreibungen recht wunderbar mache, ohne Besorgniß, daß sie die Wahrscheinlichkeit verlieren. Indessen ist in dem Gebrauche dieses Kunstgriffes grosse Behutsamkeit nöthig; ich wollte nicht, daß die Poesie mißbrauchet würde, den Aberglauben in seinen abentheurlichen Träumen zu besteifen, und dieselben noch weiter auszubreiten. Der Poet muß sich freylich [197] die Historie des Aberglaubens und die verschiedenen Meinungen, die von Zeit zu Zeit einen allgemeinen Glauben bey den Leuten erhalten haben, bekannt machen, damit er das Wunderbare in seinen Vorstellungen nach Beschaffenheit der Materie allemahl auf solche Meinungen gründen könne, die zu der Zeit, da die Personen, die er aufführet, gelebet, einen durchgehenden Beyfall gehabt hatten. Die Meinung, die er ihnen zuschreibet, muß zu derselben Zeit allgemein gewesen seyn, keine geschickter erklärte und besser bekannte Wahrheiten müssen damahls mit ihr im Widerspruche gelegen haben, sonst würden diese wunderbaren Vorstellungen alle Glaubwürdigkeit verlieren, und also gantz abentheurlich werden.

Aristoteles hat in seiner Poetick, im sechs und zwanzigsten Cap. §. 9. die Götter Homers gegen die Beschuldigungen Platons damit gerettet, daß er zeiget, dieses sey zur selben Zeit das allgemein angenommene Systema gewesen, Orpheus und andere Poeten haben schon vor Homer dieselben Fabeln von den Göttern in ihren Gedichten eingestreuet, und dieser habe ihnen lediglich gefolget. Die Lehren und Meinungen, welche durch die Sage fortgepflantzet, und von der Unwissenheit und dem Aberglauben unterstützet werden, bleiben nicht immer in einerley Ansehen, sie sind einer beständigen Veränderung unterworffen. Unsere erleuchteten Zeiten haben einer unzehlbaren Menge dergleichen wunderbaren Meinungen den Glauben gäntzlich verderbet; die abentheurlichen Geschichten von den weisen Frauen, den Zauberern, von der Verwandlung in andere Gestalten, und dergleichen, haben wenig Beyfall mehr; daher man sich nicht verwundern muß, daß die Erzehlungen beym Virgil von der Verwandelung der Pfeile Polymnestors in die Äste eines Baumes, im dritten B.; von der Verwandelung der verbrannten Schiffe des Eneas in Meer-Nymfen, im eilften B.; und das Wunder in dem sechsten B. da ein [198] güldener Ast an einem Baum hervorgewachsen, einigen philosophischen Köpfen unserer Zeiten gantz unwahrscheinlich und lächerlich vorgekommen; welches Urtheil aber nicht auf Virgil und die Zeiten desselben zu erstreken ist, gestalt dergleichen Legenden in denselben einen so grossen und allgemeinen Beyfall gefunden haben, daß Ovidius sich getrauet, den Römern ein gantzes langes Werck von dergleichen wunderbaren Verwandlungen vor Augen zu legen, und dabey nicht gefürchtet hat, daß es ihnen wegen Mangel der Wahrscheinlichkeit, als etwas abentheurliches, mißfallen würde. Ja was noch mehr ist, die Geschichtschreiber selbst, Herodotus, Livius und andere, haben dergleichen seltsamen und wunderthätigen Begebenheiten, welche die gemeine Sage aufhebenswürdig gemacht, ohne Bedencken neben ihren wahrhaften Erzehlungen einen Platz gegönnet. Wie es nun recht lächerlich wäre, wenn man zum Exempel den Livius tadeln wollte, daß er den Aberglauben so beschrieben hat, wie er solchen in den alten Urkunden und der gemeinen Sage gefunden; so würde man sich noch weit mehr zum Gelächter machen, wenn man den Poeten im Ernst tadeln wollte, daß er in der poetischen Erzehlung der Geschichten weit älterer und leichtgläubigerer Zeiten einige wenige Beyspiele von dergleichen ausserordentlichen Begebenheiten einfliessen lassen; angesehen der Poet durch das Wunderbare in seinen Erzehlungen die Aufmercksamkeit und die Verwunderung des Lesers beständig unterhalten muß. Wiewohl nun solche wunderthätige Erzehlungen uns bey dem Licht unsrer erleuchteten Zeiten nicht mehr glaubwürdig vorkommen, und es also den Anschein hat, als ob diese Quelle von Wunderbarem nunmehro gäntzlich verfallen und mit Schutt verworffen wäre, so ist nichtsdestoweniger gewiß, daß auch dieselbe unsren heutigen Poeten trefflich zu statten kommen kan, indem sie die truckene Erzehlung durch die geschickte Einstreuung dergleichen angenehmer [199] Fabeln vor Mattigkeit bewahren können, welches sie vornehmlich dadurch zuwegebringen, daß sie ihre Gedancken und ihre Materie in allegorische Fabeln einkleiden, wenn sie die historischen Personen der heidnischen Gottheiten wieder in ihren ersten Stand allegorischer Wesen hinuntersezen. Macrobius hat in dem sechszehnten Cap. des fünften B. seiner Saturnalien angemercket, daß schon Homerus sich der Eintragung fremder Fabeln auf eine geschickte Art bedienet habe, seinen geographischen Erzehlungen ein angenehmes poetisches Aussehen zu geben, welche dem Leser ohne diese Auszierung wegen ihrer Gleichförmigkeit verdrüßlich gefallen wären. Homerus, sagt er, inter enumeranda regionum & urbium nomina facit locum fabulis, quæ horrorem satietatis excludant. – – Et sie amoenitas intertexta fastidio narrationum medetur. Demselben ist Opitz gefolget, wenn er in seinem Vesuvius die Landschaft Campanien beschreibet:


Der Himmel lacht dich an, die Lüfte so hier streichen
Sind nimmer ungesund; hier will noch Ceres weichen,
Noch Bachus, jene rühmt ihr Korn, der seinen Wein;
Und Flora heisset es zweymahl hier Frühling seyn,
Beblühmet zwier das Feld. Kein Meer ist mehr bebauet,
Kein Hafen weit und breit wird schöner nicht geschauet,
Als um Cajeta her, um den Misener-Strand,
Und wo Anchisen Sohn den Weg zur Höllen fand
Durch stilles Finsterniß geführet von Sibyllen:
Auch wo das Römer-Volck der schönen Bäder Willen
In voller Üppigkeit die lange Zeit vollbracht,
Und selbst der Hannibal verlohren seine Macht,
Durch Laster nicht durch Krieg. An Büschen zwar und Wilde
[200]
Sind viel Gebirge reich; hier stehn die Wein-Gefilde,
Der edle Massicus, das trächtige Surrent,
Und Gaurus, welchen Pan vor allen Klippen kennt,
Wo oftmahls Nereis bey stiller Nacht gegangen,
Und in ein Reben-Blat die Thränen aufgefangen
Für Liebe, die sie trug, und etwan Galathee
Den wilden Satyren nebst dem Lucriner-See
Durch List entgangen ist. – – – –

Wahrhaftig, es scheint nicht anderst, als wenn der Poet mit dem Leser an diese Örter gereiset wäre, und als derselbigen kundig ihn bey einem jeden erinnerte, was sich vor Zeiten daselbst merckwürdiges zugetragen habe. Wenn eben dieser vornehme Poet die Lage des herzoglichen Meyerhofes Vielgut beschreiben will, so weiß er seine Beschreibung durch die Einstreuung solcher Allegorien und Fabeln überaus angenehm zu machen:


– – – – – – – – – – – Hier ziert der Herr das Haus,
Das Haus, so ferne liegt von Falschheit, von dem Neide,
Der in Pallästen wächßt. Der stille Strom die Weide
Läufft ringes hier umher, und wird doch kaum gehört;
Und dieses hat ihn auch sein Herzog selbst gelehrt,
Das Bild der Gütigkeit. Hier wohnen die Najaden,
Der keuschen Nymphen Chor, so mit den Schwanen baden:
Die unser Phöbus liebt, weil keiner, wie man sagt,
Wenn Zeit zu sterben ist, sich über dieß beklagt,
Was Tod genennet wird; sie fangen an zu singen
Ein süsses Grabe-Lied, und gehn von diesen Dingen
Mit solcher Fröligkeit, ob ihnen auch bewußt
Wie uns und kündig sey, daß dieser Erden Lust
Zergeht und eitel ist.

[201] Vornehmlich aber gewinnen die Gedancken eine recht wunderbare Gestalt, wenn der Poet sie, mittelst der Verwandlung der historischen Wesen in allegorische Wesen, in Fabeln dieser allegorischen Art einkleidet. Auch dieser Handgriff der Kunst war den alten Poeten nicht unbekannt; die Geschichte des Narcissus warnet vor übermässiger Eigenliebe; die Erzehlung von Midas zeiget, wie thörigt die Gold-Begierde sey; des Bacchus Auferziehung von den Nymfen sollte die Mässigkeit im trincken anbefehlen; Phaetons Fall sollte lehren, wie übel es ausfalle, wenn die Regierung unerfahrnen und ungeschickten Jünglingen anvertrauet wird; die Verwandlungen der Circe sollten die verderbliche Zauberey der fleischlichen Wollüste anzeigen: Und es ist längst bekannt, daß nicht alleine die alten sondern auch die neuern Critici viele Stellen der homerischen Gedichte mittelst der Allegorie wider die Beschuldigung der Unwahrscheinlichkeit retten. Auf diese Weise ist auch die Allegorie, die auf die alte Mythologie gebauet ist, eine der reichsten und fruchtbarsten Quellen des poetischen Schönen, inmassen sie dem Poeten eine Menge wunderbarer Bilder an die Hand giebt, durch die er gantz bekannte Gedancken auszieren und erheben kan. Wenn er sagen will, ein König sey allezeit sieghaft, so drücket er diesen nicht ungemeinen Gedancken durch das Bildniß aus, daß der Sieg ihm aller Orten auf dem Fuß nachfolge; will er die gottesvergessende Boßheit der Menschen beschreiben, so leihet ihm die Fabel von den Aloiden oder Riesen ein edeles Bildniß, auf welches Horatius mit den Worten gesehen hat: Coelum ipsum petimus stultitia. Will er die allgemeine Freude beschreiben, die über die Geburt eines klugen und dapfern Feldherrn entstanden war, so sagt er, wie Opitz an den Hertzog Ulrichen zu Holstein:


Ich glaube für gewiß, es ist an allen Seiten
Die Enge des Codans mit Bluhmen überseet
[202]
Gestanden, Zephyrus hat um und um geweht,
Der weisen Nymfen Schaar ein Freuden-Lied gesungen,
Davon die reiche See durch Grund u. Strand erklungen,
Als du, o Hulderich, bist kommen auf die Welt,
Die dich für ihre Zierd und Lust der Menschen hält.
Du hast den Wunder-Muth bald mit der Milch gesogen,
Bist zu der Tapferkeit von Kindheit an erzogen:
Mars kam zur Wiegen hin und gab dir seine Kraft,
Latonen weiser Sohn den Preiß der Wissenschaft,
Mercur den freyen Sinn, der nie kan stille stehen,
Pflegt, wie sein erstes Quell, der Himmel umzugehen,
Ist lebhaft, starcker Art, als eine schnelle Bach,
Die alles, was sie rührt, zeucht hinter sich hernach.

Wenn Besser die Vereinigung der Schönheit mit der Dapferkeit vorstellen will, so sagt er nach dieser Weise:


Den ihr jezt seht Pfeile tragen,
Der wie seine Mutter schön,
Wird bald mit des Vaters Wagen
Auch als Mars zu Felde gehn.

Er redet von eines Helden noch jungem Sohne, der in einem Lustspiele in einen Cupidon verkleidet, und mit dessen Pfeil und Bogen ausgerüstet worden. Und Postel giebt diesen Gedancken im achten B. seines Wittekindes also:


– – – – – – – – So daß ihm nichts zu gleichen,
Was Saracenisch war, und dabey mußt ihm weichen
Der Frauen Lieblichkeit. Wer ihn gewaffnet sah
Vermeinte Venus stühnd' in Pallas Kleidern da.

[203] Wenn der Poet nur bloß gesagt hätte, wenn ihr ihn in einer Schlacht sehet, so erkennet ihr ihn vor den dapfersten, und wenn ihr sein Angesicht sehet, so haltet ihr ihn vor den schönsten; so würde es keine ausserordentliche Artigkeit haben. Doch kan ich nicht unangemercket lassen, daß diese Vorstellung ungemein mehr Nachdruck hat, wie der Italienische Tasso sie ausgebildet hat:


Se 'l miri fulminar trà l'arme avvolto,
Marte il diresti, Amor, se scopre il volto.
[204]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Breitinger, Johann Jakob. Theoretische Schrift. Critische Dichtkunst. Critische Dichtkunst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3E59-0