Emilia Galotti
Von Lessing
Wenn am Ziele der Wanderung eine schöne Landschaft für den rauhen, steilen und mühsamen Weg belohnt, so mag nicht minder ein reizender Weg für ein unerfreuliches Ziel Ersatz geben. Solches geschieht mit Emilia Galotti. Bei Virginius, dem Vorbilde Odoardos, stand der Vater im Solde des Bürgers, und man sieht nur mit freudiger Rührung ein frommes Lamm auf dem Altare der Freiheit bluten. Aber wenn die schreckliche, unnatürliche Tat, wie hier, vergebens geschieht, wenn der Vater seine Tochter ermordet, nicht für die Götter oder das Vaterland, nicht um ihre Herzensreinheit zu bewahren, die er keiner Verderbnis fähig hält, sondern nur um ihre anatomische Unschuld zu retten, so wendet man sich mit Abscheu vor einem solchen Anblicke zurück. Auch die Sittenlehre aus dem Munde des Prinzen befriedigt die gerechte Forderung des Zuhörers nicht. Die Wahrheit wäre mit einem solchen Opfer zu teuer bezahlt, die Lüge ist es um so gewisser. »Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« Nein, mein Prinz! die Verantwortlichkeit der Minister gilt nur in Staatssachen; wo Fürsten beginnen Menschen und wo sie aufhören menschlich zu sein, da treten sie unter das [366] Gesetz der Sitten. Gute Fürsten haben auch immer gute Ratgeber gefunden.
Aber wie reizend sind die Irrgänge des Dichters, und selbst der Unnatur der bürgerlichen Schauspiele, deren Vater Lessing war, sieht man gern nach, wenn sie so voll hohen Adels sind wie bei ihm. Wie wahr sind die Charaktere aufgefaßt, wie naturtreu und scharf, und doch kühn und geistreich, sind sie umschrieben, und wie fein schattiert. Es wird dem Leser oder Zuhörer kein Spielraum zum Irren gegeben; er muß die Personen ganz so ansehen, wie sie ihm erscheinen sollten. Wie faßlich und willkommen sind die Kunstlehren und Kunst-Liebegeständnisse in der Malerszene. Welche männlich kräftige und zugleich anmutige Sprache überhaupt. Man bedauert, daß Lessing unter den Deutschen nur sich selbst zum Vorbilde nehmen konnte und die schönsten Erfindungen seines Geistes an unterirdische Grundsätze, worauf die nachgeborenen Dichter ins Freie bauten, verwenden mußte. Dreißig Jahre später wäre er genußbringender und unsterblich geworden.
Die kunstfertige szenische Darstellung solcher Dramen findet Hindernisse, die nicht bloß in dem darstellenden Künstler liegen, sondern auch in der gegenwärtigen Zeit und ihren Schauspieldichtern. Jene hat die scharfe Sonderung der Stände im bürgerlichen Leben, die noch zu Lessings Tagen obwaltete, abgestumpft. Die Großen sind herab-, die Niedrigen hinaufgestiegen; diese und jene sind durch so viele Hände und Schicksale gegangen, daß sie ihr Gepräge verloren haben und sich nur noch durch den Metallwert unterscheiden. Das Zunftwesen und die Häuslichkeit sind aufgehoben, und keiner ist mehr Herr in seiner Werkstätte, noch fremd in eines Fremden Hause. Man hindert sich wechselseitig, und es geschieht nichts. Daher viel Kraft und wenig Taten, viel Geist und wenig Gedanken, viel Empfindung [367] und wenig Teilnahme, viel Licht und wenig Farben. Wo sollen unsere Schauspieldichter die Vorbilder zu bürgerlichen Charakteren hernehmen? Sie können ihr Talent nicht üben und müssen es aus Mangel an Übung endlich, verlieren. Alle ihre Personen sind daher humoristisch, und der ganze Theatereffekt beruht darauf, daß sie im letzten Akte aus dem Charakter stürzen. Der unverschämte Betrüger wird beschämt, die Spröde zuvorkommend, der unerbittliche Vater gerührt, die Eifersucht geheilt, der Bösewicht gebessert, der Wildfang gesetzt. Den Schauspielern ist hierdurch eine köstliche Zwickmühle aufgetan. Geht es nicht auf diese Weise, so geht es auf die andere. Da sie, wie die Personen, die sie darzustellen haben, nicht wissen, was sie wollen, und ihr Spiel gleich den gespielten Charakteren ohne bestimmte Richtung hin und her schwankt, so wäre es ein seltener unglücklicher Zufall, wenn sie nicht in einem Abende einmal zusammentreffen und glückliche Momente haben sollten. In einem Kotzebueschen Stücke kann auch ein gewöhnlicher Schauspieler nicht durchaus schlecht spielen; aber in den Dramen Lessings, wo die plastischen Dimensionen kein Zurückbleiben und keine Überschreitung dulden, kann er dieses allerdings. Aus den angeführten Gründen darf in gegenwärtiger Zeit nur wasjetzt möglich ist, gefordert werden, und von diesem Möglichem ist bei der Darstellung der Emilia Galotti manches geleistet worden.
Durch Vortrauer, Schmerz und Klage geht Emilia zum Tode. Sie erscheint zuerst unter dem Nonnenschleier des Grabes, dann als geschmücktes Schlachtopfer. Ihre heitere Vergangenheit liegt hinter der Bühne. Keine Kraftäußerung, keine Helle; ihr Spiel sei leise und düster, gleich einer sinkenden Lampe, und das augenblickliche Aufflackern der Heiterkeit, während sie mit Appiani vom Hochzeitkleide redet, mache das Nachtstück nur [368] noch schauerlicher. Sind dieses die Forderungen an die Rolle der Emilia, so ließ Demoiselle *** nichts zu wünschen übrig. – Herr ***, als Odoardo, bewährte seine ausgezeichnete Gabe, mit dem Anstande des Weltmannes die Biederherzigkeit eines schlichten Bürgers und die Gemütlichkeit eines Hausvaters zu vereinigen. In bezug auf Nachfolgendes wird bemerkt, daß er einer der wenigen von den Mitgliedern unserer Bühne ist, die das Gebieterische der Vornehmen als ein angebornes Recht unbefangen auszuüben verstehen und nicht, gleich Emporkömmlingen, Eilfertigkeit aus Furcht, Arroganz aus Mißtrauen und barsches Wesen aus Schwäche damit verbinden. Manche andere wissen nicht einmal, wie man dem Kutscher befiehlt, anzuspannen. – Herr *** spielte den Prinzen. Von dem Fürsten hatte er nur das Staatsrechtliche, von dem Hofmanne nur die Charakterlosigkeit, von dem Liebenden nur das Lächerliche. Er war hart, wo er fest, morsch, wo er weich, schwach, wo er nur nicht gebieterisch sein sollte. Ist es denn so schwer, sich in einen Fürsten hineinzudenken, da doch jeder ein Fürst in seinem Hause ist und wenigstens im Bedienten einen Untertan zählt! Hoheit ist nicht ungemessene Breite; die Hochgestellten sehen ihren Untergebenen aus der Vogelperspektive, und sie haben nicht nötig, den Gehorchenden Platz und Rede wegzunehmen, um sich auszudehnen. Man hörte es Herrn *** an, daß er erst seit sechs Uhr auf dem Throne sitzt. Wenn er als Herr sprach, imponierte er, als müßte er sorglich dem Widerspruche zuvorkommen und gebrauchte die ganze Artillerie der Macht, um einen furchtsamen Hofmann zu schrecken, der schon vor dem Schalle des leisesten Wortes zurückfährt. Dann beging er den Fehler, die Personen nicht anzusehen, mit denen er sprach, und weit von ihnen entfernt zu bleiben. Das gehört nicht zur Fürstengrazie. Es ist sehr unbequem, mit einem zu reden, [369] der hinter dem Rücken steht, aber Fürsten machen sich's bequem; und was den räumlichen Abstand betrifft, so mag wohl der Untergeordnete ehrerbietig zurücktreten, aber der Vornehme muß ihm immer wieder auf den Leib rücken. Den Regierungsgrundsatz, die Untertanen in der Entfernung zu halten, dehnte Herr *** sogar auf leblose Sachen aus; denn als er das Bildnis der Orsina betrachtete, das nur zwei Fuß hoch war, blieb er fast die ganze Zimmerweite davon ab stehen, als wäre es ein Freskogemälde, und dennoch wird von den Augen und dem Munde der Gräfin gesprochen, die man doch in solcher Entfernung unmöglich genau sehen konnte. Die Szene mit dem Maler mißlang ihm im höchsten Grade. Die feinen Bemerkungen, die der Dichter dem Prinzen in den Mund legt, wurden mit gar keiner Feinheit und als wären sie nicht verstanden worden, vorgetragen. Auch gegen den Maler war Herr *** zu vornehm zurückhaltend. Der Prinz liebte die Kunst und die Künstler und mußte also herablassender und freundlicher gegen Conti sein, als es Herr *** war. Um von den vielen Beispielen falscher Deklamation nur eines herauszuheben, hatte Herr *** die Worte, mit welchen er den Maler verabschiedete: »Lassen Sie sich für beide Porträte bezahlen, was Sie wollen, so viel Sie wollen, Conti« mit dem höchsten Pathos gesagt und mit den prächtigsten Gebärden begleitet (wie die Schauspieler es oft tun, wenn sie eine Rede schließen, weil sie glauben, diese müsse immer wie eine Rakete, ehe sie verlischt, knallen und platzen); diese Betonung war höchst unzeitig. Es hörte sich an, als brächte der Prinz mit Anstrengung ein Opfer. Viel Geld mag dem Künstler ein wichtiges Wort sein, aber einem Fürsten, der nur zu seinem Schatzmeister schickt, ist es keines; der Prinz wollte nur seine Zufriedenheit ausdrücken, und dieses mußte mit Ruhe geschehen, wenn auch mit Nachdruck. – Man könnte dem Marinelli, diesem[370] Großvater aller theatralischen Hofschurken, gram werden wegen der unleidlichen Brut von Söhnen und Enkeln, die er in die Welt gesetzt und mit welchen er seit fünfzig Jahren unsere Bühnen übervölkert hat. Es ist nicht die Schuld des Ahnherrn, wenn seine Nachkommenschaft ausgeartet ist; er hat ihnen die besten Grundsätze hinterlassen, und er selbst steht vollendet da als Schmeichler, Sünder und Verführer. Wie unverschämt entblößt er sich gleich bei seinem ersten Auftritte, wo er, dem Prinzen gegenüber, die Gräfin giftig verlästert, vor der er einige Wochen früher noch im Staube lag. Herr *** ist sonst Meister in solchen Rollen und bewährte sich auch heute als solcher, indem er die Grundzüge dieses Charakters richtig auffaßte und darstellte. Aber nur die Grundzüge, im Kolorit war einiges verfehlt. Er war etwas zu steif und unrührig. Der Prinz ist jung und liebt und mochte wohl einem solchen sein Vertrauen schenken, der sich ihm herzlich hingab, nicht aber fest, schroff und dürre, wie ein Felsen im Meere, selbst in seiner Untertänigkeit eine imponierende Selbstbeherrschung zeigte und durch sein Lauern und seine Ruhe, der Leidenschaft gegenüber, beschämend und unbehaglich sein mußte. Auch zeigte Herr *** überall zuviel Hohn. Das liegt nicht in der Rolle. Bösewichter solcher Art tun keine Schandtat aus Liebhaberei, sondern nur, weil sie ihnen Vorteil bringt, und daher ohne die Grimasse der Sünde, so wie sie ohne die Verklärung der Tugend auch etwas Gutes tun, wenn es ihnen nützlich ist. Nur die bessern Menschen begehen eine Übeltat mit Leidenschaft, weil sie sie nur in Leidenschaft begehen. – Die Rolle der Gräfin Orsina ist ungemein schwierig. Der Verstand, einen Charakter so aufzufassen, wie ihn sich der Dichter gedacht hat, und die Kunstfertigkeit, ihn getreu nachzubilden, reichen hier nicht hin. Denn der wahre Charakter der Gräfin erscheint nicht auf [371] der Szene. Ihr Geschick hatte sie mürbe gemacht, sie so, wie der Maler Conti ihr Bildnis, umgestaltet, worüber der Prinz sich äußerte: »Stolz haben Sie in Würde, Hohn in Lächeln, Ansatz zu trübsinniger Schwärmerei in sanfte Schwermut verwandelt.« Die Stolze erscheint gedemütigt, die Spötterin verspottet, die giftige Eifersüchtige sich mit Recht gekränkt fühlend. Da ihre Strafe größer ist als ihre Schuld, so kann man der Unglücklichen das Mitleid nicht versagen. Frau ***, eine vorzügliche Künstlerin im tragischen Fache, und die immer bedenkt, was sie tut, hat ihr Spiel meisterhaft durchgeführt. – Nicht so Herr *** als Maler Conti. Er hatte sich das Ansehen eines funfzigjährigen Mannes gegeben, war altväterisch gekleidet, sah aus wie ein Prokurator und betrug sich auch darnach. Was auch der Kostümschlendrian gefordert haben mag, ein Maler hätte sich wohl etwas malerischer kleiden dürfen. Die steife Untertänigkeit war einem sich fühlenden Künstler nicht angemessen, hier am wenigsten, wo der Prinz herablassende Freundlichkeit zeigte. Alle das Feine, Gedankenreiche und Empfindungsvolle, was Conti zu sagen hatte, ging durchaus verloren, da es im dürren Professortone hergesagt wurde.
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