Goldhähnchen

Es lebte einmal ein alter Mann in einem Waldhäuschen, der besaß außer mehrern Kindern auch einGoldhähnchen, das ist der kleinste unter den europäischen Vögeln und gehört in das Geschlecht der Zaunkönige. Dieses allerliebste Vögelchen hatte der Alte sehr lieb, und die Kinder hatten es nicht minder lieb, und wie der Alte starb, so sagte er zu den Kindern: »Verkauft nur ja das Goldhähnchen nicht, denn das ist ein Glücksvögelchen.« Aber wie der Alte gestorben war, kehrte Not und Mangel in das Häuschen der Kinder ein. Nun legte Goldhähnchen jede Woche ein Ei so groß wie eine Erbse, und von erbsengelber Farbe. Diese Eier hatte der Vater immer fortgetragen, und war mit Geld und Lebensmitteln zurückgekehrt. Da nun die Lebensmittel ausgegangen waren, entschloß sich der älteste Sohn, die indes gelegten Eier zu nehmen, und sie feil zu bieten. Wo er die Goldhähncheneier aber anbot, wurde er ausgelacht, und endlich gab ihm ein Mann, den der arme hungernde Knabe dauerte, aus Mitleid ein paar Pfennige dafür. Als diese verzehrt waren, und der Hunger stärker als zuvor war, so machte sich der Knabe wieder auf den Weg, diesmal nur mit einem einzigen Ei, und da war er glücklicher. Er fand den Mann, dem der Vater immer die Eier verkauft hatte, und der ihren Wert wohl kannte, denn sie waren von purem Gold. Wie der Mann aber merkte, daß der Junge nichts von dem Geheimnis wußte, so sagte er: »Was soll [318] ich mit dem Ei? Verkaufe mir den Vogel, ich will dir ihn sehr gut bezahlen,« Und ging auch gleich mit in das Waldhäuschen. Die andern Kinder weinten und klagten, als ihr ältester Bruder das Goldhähnchen an den Mann verkaufte, der einige blanke Taler dafür auf den Tisch legte. Das Vöglein flatterte unruhig im Käfig hin und her, und den Kindern war es, als wenn es schrie: »Verkauf mich nicht, verkauf mich nicht!« Aber es wurde doch verkauft.

Und wie das Vöglein fort war, da war es vollends aus mit dem Glück in dem Waldhäuschen; die Kinder konnten dasselbe nicht erhalten und mußten betteln gehen, und kamen weit voneinander.

Um diese Zeit geschah es, daß der König des Landes starb, und seine junge schöne Witwe ließ nach der Trauerzeit bekannt machen, sie werde demjenigen ihre Hand reichen und den Thron mit ihm teilen, der mit verbundenen Augen die aufgehängte Krone mit einer Lanze herabstechen werde. Das Goldhähnchen sang damals immerfort: »Wer mich ißt, wird König! Wer mich ißt, wird König!« Das gefiel dem Mann, der es gekauft hatte, und obgleich er nun auf die goldnen Eier verzichten mußte, wenn er es verspeiste, so tötete er es doch, ließ es rupfen und mit bunter Seide bezeichnen, um es, gebraten, wieder zu erkennen, und gab der Köchin strengen Befehl, ja recht darauf Acht zu haben. Er hatte viele Freunde zu einem festlichen Mahle geladen, damit ihm gleich gehuldigt werde, wenn er den Vogel gegessen, und plötzlich König werde.

Während nun zu dem Festmahl alle möglichen Zurüstungen geschahen, kam der junge Mensch, der das Goldhähnchen verkauft hatte, als ein armer müßiger Bettler vor das Haus, und sprach die Köchin um ein Almosen oder ein Stück Brot an, und diese sagte: »Haben sollst du etwas, mußt aber auch etwas tun!« und dazu war jener gern bereit. Er holte Wasser, spaltete Holz zum Herdfeuer, drehte den Bratenwender und hatte Acht auf die Vögel, die in der Pfanne brieten, und darunter das Goldhähnchen auch war. Von ungefähr stieß er mit einem Stück Holz an die Pfanne, und da fiel das Goldhähnchen heraus in die glühenden Kohlen.

Schad um das Vögelein! dachte der Jüngling, obschon er sehr erschrocken war, und schob es in den Mund und verspeiste es, obschon er sich tüchtig verbrannte. Er wußte es [319] aber nicht, daß es sein ehemaliges Goldhähnchen gewesen. Als die Köchin in die Küche kam, zählte sie die Vögel, sah, daß eins fehlte, und jagte den neuen ungetreuen Küchenbuben mit Schimpfen und Schelten von dannen, zeichnete aber geschwind einen andern kleinen Vogel und trug das Gericht ihrem Herrn auf. Dieser aß das gezeichnete Vöglein, und sitzt heute noch, und wartet, bis er König wird, und ärgert sich, daß er seine Freunde traktiert hat.

Der Fortgejagte schlich trübselig durch die Straßen, und bettelte vor der Türe eines Müllers. Dieser brauchte just einen Eseltreiber, und verlieh diese Stelle dem armen Burschen; er durfte bei den Eseln im Stalle schlafen. Und siehe, am andern Morgen fand der Müller, als er anderes Stroh streute und das alte wegräumte, goldne Eier in dem Stroh, darauf sein Eseltreiber geschlafen hatte. Das gefiel ihm, und er dachte: den Burschen mußt du lange behalten, das ist ein Goldfink, während der vorige ein Mistfink war.

Jetzt kam der Tag des Kronenstechens, und da meinte der Eseltreiber, wenn jedermann stechen und sein Glück versuchen dürfte, möcht er's auch wagen, bat den Müller um einen Speer und um ein Pferd. Der Müller lachte aus vollem Halse, doch dachte er, das gibt einen Hauptspaß, gab ihm eine alte lahme und spindeldürre Mähre, und einen alten Speer, und sandte ihn hin zum Stechen um die Königskrone.

Alles lachte, wie der wunderliche Ritter von der traurigen Gestalt daher getrabt kam, und die Königin schaute unwillig drein, daß so ein armseliger Bursche sich zu dem Kronenstechen drängte, zu welchem sich so viele vornehme Ritter und Herren eingefunden; allein da sie das Kronenstechen einmal gänzlich freigegeben hatte, so durfte sie dasselbe nun nicht ausschließlich machen.

Das Kampfspiel begann damit, daß ein Graf und ein Ritter nach dem andern nach der Krone mit verbundenen Augen stach, und keiner dieselbe erlangte; und es endete damit, daß der Eseltreiber so glücklich war, die Krone zu treffen, und herab zu stechen. Der Königin war das gar unlieb, allein sie mußte des Eseltreibers Gemahlin werden, weil sie das einmal beschworen hatte, und so wurde derselbe König, und jener Müller, sein Herr, fand fürder keine Goldeier mehr im Stroh seines Stalles, sondern nur solche, wie sie die Esel legen.

[320] Da die Königin ihren Gemahl nicht liebte, wegen seiner geringen Herkunft, so sann sie Tag und Nacht darauf, sich seiner zu entledigen. Sie nahm deshalb ihre nächste Zuflucht zu einer alten mächtigen Zauberin, und die gab ihr ein Kraut, das die Kraft hatte, die menschliche Gestalt in eine tierische zu verwandeln. Dieses Kraut mischte die böse Königin ihrem Gemahl und Herrn unter die Speise, und siehe, als der König die Speise genossen hatte, so begann er sich zu verwandeln, und wurde ein leibhaftiger Esel aus ihm, der [321] vorher ein sehr schöner junger Mensch gewesen war. Dieserhalb wurde er mit Schimpf und Schande aus dem Hofe gejagt, und nun wurde ein andrer zum König gewählt, dessen Wahl man klugerweise nicht wieder dem Glück und dem blinden Zufall überließ, weil man fürchtete, abermals einen Esel zur höchsten Stelle gelangen zu sehen.

Der arme gewesene Eseltreiber, jetzt selbst Esel, hatte alle Mühseligkeit seines neuen Standes zu empfinden. Er hatte seinen Weg nach der Mühle genommen, wo er einst zufrieden die Esel getrieben und auf Stroh geschlafen hatte. Der Müller, als er ihn kommen sah, vermochte nicht, ihn von den andern Eseln zu unterscheiden, obgleich in seinen Augen etwas Menschliches war. Und da wurde er in der Mühle zu den andern Eseln gestellt, mußte Säcke mit Getreide und Mehl tragen Jahr aus Jahr ein, und hatte es um kein Haar besser oder schlimmer, als die übrigen Esel auch.

Nun hatte dieser arme Esel, als er weiland noch ein Mensch gewesen war, eine Schwester gehabt, die war auch damals von ihm gekommen und hatte gebettelt, und da hatte sie auch in einem Kloster Brot geheischt, und man hatte sie als junges kräftiges Ding zu Mägdediensten angenommen. Sie war treu und fleißig, wurde endlich selbst eine Nonne, und man vertraute ihr das Amt der Pförtnerin. Dieses Kloster ließ nun just in derselben Mühle mahlen, in welcher der gewisse Esel sich befand, und wie er zum erstenmale mit seinen Säcken an die Klosterpforte kam, erkannte er gleich in der Pförtnerin seine Schwester, denn er hatte noch menschliche Gedanken und menschliche Erinnerungen. Da yate er hellauf und gab seine Freude zu erkennen, und auch im Busen der Pförtnerin erwachte eine gewisse Sympathie für diesen Esel; das war die Stimme der Natur. Nun war die Pförtnerin kundig aller Kräuter, und baute die besten und kräftigsten in dem Klostergarten selbst. Da ging sie hin, pflückte ein Zauberkraut, das die Kraft besaß, die tierische Gestalt, wenn sie durch Zauberei verliehen war, wieder in [322] menschliche zu verwandeln, und gab es dem Esel zu fressen. Da wurde er wieder Mensch, wie zuvor, und bedankte sich bei seiner guten Schwester mit vielen Küssen und Tränen. Er hatte aber sieben Jahre Säcke und Prügel genug getragen und verlangte nicht wieder zu den Menschen. In der Nähe des Klosters, wo er seine gute fromme Schwester wieder gefunden, erbaute er sich eine Hütte von Baumzweigen und wurde ein frommer Einsiedel und Waldbruder. Da lebte er von Wurzeln und Kräutern, und hatte seine Lust an dem lieblichen Gesang der Waldvögel, und fütterte und pflegte sie, mit Ausnahme der Goldhähnchen, die konnte er nicht leiden, und verwünschte sie, weil das eine ihm nur Unglück gebracht hatte, und fing sie und tötete sie, wo er nur eins habhaft werden konnte.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Märchen. Deutsches Märchenbuch. Goldhähnchen. Goldhähnchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-27A8-4