366. Die Strohbrücke
Mancher sah wohl schon ein Holzgebild oder ein Porzellanfigürchen, darstellend einen jungen Mönch, der eine Schütte Stroh auf dem Rücken trägt, und in der Schütte Stroh gucken schelmisch oben ein Köpfchen und unten ein Paar Füßchen heraus, die beide keinem Männlein angehören – und keiner dachte wohl dabei daran, daß diesem Gebild eine Sage zum Grunde liegt.
In der Uckermark lag ein Kloster des Namens Himmelspforten, nahe dabei zwei Seen, Modernitz und Sidow gegenannt, welche miteinander durch einen Wasserarm verbunden sind, von einem Steg überbrückt, über den der Weg von Himmelpforten nach dem Dorfe Lichen geht. Da hatte nun vorlängst, als im Kloster Himmelpforten noch Mönche waren, ein Mönch im Dorfe Lichen ein Liebchen, das mochte er wohl für seine wahre irdische Himmelpforte halten, die ihm den Weg in den Himmel aufschließen sollte. Ward daher mit sich und dem Liebchen einig, es in eine Schütte Stroh zu verpacken und huckepack in das Kloster zu tragen. Die Sache machte sich ganz vortrefflich, nur war die Schütte Stroh etwas schwerer, als sonst eine solche zu sein pflegt. Aber wenn Unglück sein Spiel haben soll, bricht einer den Arm im Bette; dort auf der Brücke stand der gestrenge Abt von Himmelpforten und ward des Strohträgers ansichtig und erwartete ihn. Da begann das Mönchlein zu schwitzen, teils von der Last, die es trug, noch mehr aber vor Angst, und grüßete den Abt mit frommem Gruß demütiglich. Was trägst du denn, mein Sohn? fragte der Abt. – Eine Schütte Stroh, hochwürdigster Vater Gnaden, antwortete bebend das Mönchlein. – Wo hast du denn die bekommen? – Drüben in Lichen, hochwürdigster Vater Gnaden! – Aber ich sehe mein Sohn, sie wird dir zu schwer, komm, ich will sie dir abnehmen! – O nein, hochwürdigster Vater Gnaden, das würde sich für Euch nicht schicken. – O doch, mein Sohn, wir sind ja Brüder, und es stehet geschrieben: Einer trage des andern Last. – Da nun der geängstigte junge Mönch sich nicht mehr zu helfen wußte, so lösete er das Trageband und ließ die Schütte auf den Boden gleiten, und wie die Füßchen den Boden spürten, siehe, da lief die Schütte, was sie laufen konnte, von der Brücke herunter und wieder nach Lichen zu. Der Abt aber schlug ein Kreuz und rief:Apage Satana! Was ist dies für ein Zeichen? – Der Mönch fiel dem Abt zu Füßen und rief: Verzeihung, hochwürdigster Vater Gnaden! Diese Schütte Stroh ward mir nicht geschenkt – ich hatte sie – genommen! – Da strafte der Abt den Mönch mildiglich und warnte ihn, solche grobe Sünde nie wieder zu begehen. Unter der Brücke saß ein Bäuerlein, das sah das Wunder, welches sich begeben, daß eine gestohlene Strohschütte lebendig wurde und dahin lief, woher sie genommen war, und brachte es unter die Leute. [257] Seitdem wird jene Brücke zwischen Lichen und Himmelpforten die Strohbrücke genannt.
Ähnliches wird von einem jungen Mönch aus einem Kloster des Harzes erzählt.