202. Die Hand aus dem Grabe

Vor vielen hundert Jahren stand zu Marienstede im Lauenburger Lande in einer Kapelle ein Muttergottesbild mit dem Kinde, und dicht an der Kapelle hin floß ein Wasser. Welcher Kranke darin badete, der wurde gesund durch die Wunderkraft des Muttergottesbildes. Daher war viel Zustrom und Wallfahrens zu dem Mirakelbilde, und darüber hatte niemand mehr seinen Spott als ein benachbarter Edelmann; der hielt gerne die frommen Gläubigen für Narren und trieb Possen mit ihnen und spielte ihnen manchen Schabernack. So hatte dieser Edelmann einen Vogt, der war nur wenig oder gar nicht besser als sein Herr. Als einmal diesem Vogt sein Pferd krank wurde, daß ihm kein Viehdoktor helfen konnte, da dachte und sagte der Edelmann: Reite doch nach Marienstede und laß das Pferd aus der heiligen Pfütze saufen und schwemme es tüchtig darin herum, so wird es schon wieder genesen. Nun hatte der Vogt einen alten Vater, der ihn schon oft zum [157] Guten vermahnt, aber der gottlose Sohn lachte den Alten stets aus, und wenn er ihm von Gott sprach, da sagte er: Ich bin so lange ohne den lieben Gott fertig geworden, daß ich vermeine, ich werde auch wohl noch länger ohne ihn fertig werden. Da nun der alte Vater hörte, daß sein Sohn wirklich das Pferd nach Marienstede reiten wollte, so warnte er ihn abermals und sprach: Solchen Frevel wird dir Gott nimmermehr hingehen lassen, versuche Gott nicht, er läßt sich nicht spotten! – Ei was! versetzte der Sohn, ist unser Pferd nicht auch deines lieben Gottes Geschöpf, und ist es nicht mehr wert als alle die alten Krüppel, die Tag um Tag nach Marienstede wallen? Der alte Mann aber, da er nun sah, daß mit guten Worten bei seinem verwahrlosten Sohn im Guten nichts auszurichten war, und ihn doch nicht der göttlichen Strafrute ausgesetzt sehen mochte, stellte sich vor das Pferd, da jener es wegreiten wollte, und faßte den Zaum und wollte ihn durchaus nicht weiterlassen. Da nahm der Vogt einen Riemen und schlug seinen alten Vater damit über den Kopf. Da hob der Alte seine Hand zur Höhe und rief: Daß dich Gott strafen möge, du Unmensch! Aber der gottlose Vogt lachte darüber und entritt und brachte sein Pferd nach Marienstede und tränkte es aus dem heilenden Wasser. Von diesem Tage an verlor das Wasser seine Heilkraft. Und mit dem Vogt nahm es ein böses Ende. Seit er die beiden Untaten getan, hatte er keinen vergnügten und gesunden Tag mehr, und bald darauf starb er. Als er begraben war und andern Morgens zeitig der Küster auf den Kirchhof kam, so sah er auf des Vogtes Grab etwas Weißes liegen, und als er näher darauf zuging, war es eine Menschenhand, und zwar dieselbe, mit welcher der Vogt seinen Vater geschlagen hatte. Nun gruben sie die Hand wieder unter, aber sie blieb nicht im Grabe, sie wuchs immer wieder heraus. Da brachten sie sie in die Kirche und legten sie in eine Blende der innern Kirchenmauer, und alle Jahre einmal erhebt der Prediger diese Hand und zeigt sie den Kindern und spricht: Diese Hand hat sich gegen den Vater aufgehoben, darum hat sie keine Ruhe bis auf den heutigen Tag.

Auch in Oldenburg wird eine solche Hand gezeigt, ebenso in Lübeck und im Flecken Heinrichs auf dem Thüringerwalde liegt auch eine in einem kunstvollen Sakramentschrein aufbewahrt. Zu Groß-Redensleben in der Altmark hängt eine solche Hand an eiserner Kette in der Kirche. Ja bis nach Polen hinein geht diese Sage.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 202. Die Hand aus dem Grabe. 202. Die Hand aus dem Grabe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2207-7