Die zwei Brüder.

Ein Vater hatte zwei Söhne; der ältere hieß Jörg, der jüngere Hans. Als sie groß und stark geworden, so sagte der Vater eines Tags zu ihnen: »Ziehet nun fort in die Fremde, und suchet euch selbst zu ernähren. Und bleibt einträchtig, und liebet einander; und wer mehr hat, der theile mit; und, wenn einer aus euch krank oder elend wird, so stehe ihm der andere bei, und helfe ihm.« Also schieden die beiden Brüder vom Vater, und gingen desselben Weges fort mit einander. Als sie aber an einen Scheideweg kamen, da sagteJörg, der ein böses Herz hatte, zu seinem Bruder: »Gehe [252] jeder von uns seines Weges, und sorge für sich. Und das sage ich dir: wenn wir uns wieder begegnen, du arm, und ich reich, so schlage ich dich todt, damit ich nicht für dich zu sorgen habe, wie der Vater gewollt. Und du magst mir deßgleichen thun, wenn ich arm geworden und du reich.« Ueber dieser Rede erschrack Hans sehr, der von guter Gemüthsart war. Doch tröstete er sich, und dachte: Gott wird's recht fügen; und nahm vom Bruder Jörg Abschied.

Es war ungefähr ein Jahr vergangen, als Hans eines Tags in einem fremden Lande die Straße zog ohne Brod und Geld und in schlechtem Anzuge; denn er hatte nirgendwo Arbeit gefunden. Da sah er eine Kutsche herbei kommen, worin ein vornehmer Herr saß in reichem Kleide und von gutem Aussehen. Den sprach er um einen Zehrpfenning an. Es war sein Bruder Jörg, den er aber nicht kannte. Dieser hatte durch Diebstahl und Wucher in kurzer Zeit großen Reichthum erworben, so daß er nun in einer eigenen Kutsche fahren, und ein Wohlleben führen konnte, während sein Bruder betteln mußte. Der Reiche erkannte sogleich in dem Bettler seinen Bruder. Zornig sprang er aus dem Wagen, packte ihn, und sprach: »Kennst du mich? Ich bin Jörg, dein Bruder. Du mußt nun sterben, wie wir's [253] verabredet haben.«Hans in seines Herzens Angst bat, er möchte ihn doch beim Leben lassen. »Beim Leben will ich dich lassen, sagte Jörg; aber die Augen muß ich dir durchstechen, damit du mich nie mehr erkennest, und mir fortan zur Last fallest.« Das that er denn auch. Drauf schleppte er ihn zu einem Galgen, und band ihn dran fest. Da ließ er ihn, und fuhr sodann davon.

Der arme, geblendete Hans wußte aber nicht, an welchem schlechten Orte er sich befand. Er fühlte um sich, und merkte, daß er unter einem Holzbalken saß. Da meinte er, es wäre ein Kreuz, und sprach: »Dank dem Himmel, daß er mich wenigstens unter ein Kreuz gebunden habe; Gott ist bei mir, und von ihm wird mir Hülfe kommen.« Wie es nun anfing, Nacht zu werden, hörte er etwas über sich flattern. Das waren aber drei Krähen, die ließen sich auf dem Balken des Galgens nieder. Da fingen sie zu reden an, und die eine sagte: Woher kommst du, Schwester? Diese antwortete: »Ich komme aus Norden.« »Was bringst du Neues?« »Des Königs Sohn hat seine beiden Augen ausgefallen, und der König gäbe dem gern sein halbes Königreich, der helfen könnte. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich – sagte die andere – hier unter dem Galgen wächs't ein Gras; auf das fällt [254] von Zeit zu Zeit ein Thau; und wer damit die Augen eines Blinden bestreicht, dem werden sie wieder sehend.« – Drauf geschah die Frage an die zweite: »Und woher kommst du, Schwester?« »Ich komme aus Süden.« »Was bringst du Neues mit?« »Ein reicher Edelmann hat in seinem Garten einen Baum, der trägt silberne Birnen; aber wenn sie anfangen, reif zu werden, so fallen sie ab, und werden zu Staub und Asche. Er gäbe gern die Hälfte davon in jedem Jahr dem, der wüßte, wie dem Uebel abzuhelfen sey. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich, sagte die dritte. Unter dem Baum liegt eine garstige Kröte; man darf sie nur heraus graben, und zu Asche verbrennen, und die Asche nach allen vier Winden zerstreuen.« – Nun wurde die dritte gefragt: »Woher kommst du, Schwester?« »Von Westen.« »Was bringst du Neues?« »In einem dichten Walde, zwischen vier Bergen, liegt ein gläserner Sarg; darin schläft eine Prinzessin schon viele Jahrhunderte; es liegt auf ihrer Zunge ein Schnitz von einem giftigen Apfel; und wer den heraus nehmen könnte, der würde sie wieder zum Leben bringen. Aber wer weiß das?« »Das weiß ich, sagte die erste. Man müßte von dem Vogel Greif drei Federn holen, und mit diesen der Prinzessin [255] den Mund streichen. Der Vogel Greif würde aber wohl für jede Feder eine silberne Birn verlangen.« – Wie die drei Krähen das gesprochen, hörte er es wieder flattern, und sie flogen da fort. Hans aber machte sich allmählich von seinen Banden los, und dann bückte er sich, und brach ein paar Gräslein ab, und bestrich damit seine Augen. Alsbald ward er wieder sehend, und Mond und Sterne leuchteten ihm wieder, und er dankte dafür Gott. Darauf sammelte er in einen Scherben von dem köstlichen Thau, so viel er zusammen bringen konnte, und ging fort, gerades Weges nach Norden, um den König aufzusuchen, dessen Sohn blind geworden.

Er war noch nicht gar viele Tage gegangen, als er einen Herold ausrufen hörte: Wer des Königs Sohn wieder das Gesicht gibt, der soll das halbe Königreich haben. Nun wußte er, daß er recht gegangen sey. Er ließ sich sogleich in des Königs Schloß führen, und meldete, daß er des Königs Sohn zu heilen gedenke. Das wurde mit Freuden vernommen. Er bestrich darauf dessen Augen mit dem Thau, und alsobald wurde jener sehend. Der König hielt sein Wort, und trat ihm sein halbes Königreich ab. Dieser wollte es aber nicht sogleich antreten, sondern [256] verlangte, daß man es ihm aufbewahre, bis er wieder käme.

Drauf zog er weiter, und ging gerades Weges nach Osten. Da hörte er bald von dem reichen Edelmann, und von dem Baum, der silberne Birnen trug. Er meldete sich bei ihm, und sagte, was zu thun sey. Die Kröte wurde ausgegraben und verbrannt, und sodann ihre Asche nach allen vier Winden zerstreut. Drauf, wie eine reife Birn gepflückt wurde, blieb sie eitel Silber, und zerfiel nicht in Staub. Der Edelmann wollte alsogleich die Früchte mit ihm theilen; dieser aber las nur drei Birnen aus, die schönsten, und zog weiter, um den Vogel Greif aufzusuchen.

Da zeigte man ihn des Weges nach Osten; und wie er viele Tage gegangen war, so kam er vor zwei Berge, die gingen immer zusammen, und er sollte doch durch. Da rief er: Laßt mich durch! laßt mich durch! »Das wollen wir, wenn du den Vogel Greif bittest, daß wir wieder ruhig stehen dürfen.« Hans versprach es, und drauf ließen sie ihn ungehindert durch. – Als er wieder eine Weile gegangen war, kam er an einen großen See, und drüben lag des Vogels Greif sein Schloß. Da kam in einer Nußschale ein kleines, altes, häßliches Weib heran geschwommen. »Fahr mich über,« rief Hans. [257] »Das will ich thun, sagte das Weib; aber fragen mußt du den Vogel Greif, wie lange ich hier noch überfahren soll.« Das versprach Hans zu thun, und stieg ein, und ließ sich hinüber fahren. Als er ins Schloß trat, war Vogel Greif eben nicht zu Haus; doch bald rauschte es von ferne her, wie ein Sturm, und der Greif nahete und verdeckte mit seinem breiten Gefieder die Sonne, daß es ganz dunkel wurde. Da ward es Hansen doch bange ums Herz, und er versteckte sich. Vogel Greif aber, als er sich aus der Luft niedergelassen, sagte: Ich riech, ich riech Menschenfleisch. Das wiederholte er öfter, und schnupperte umher. Da kroch Hans aus seinem Winkel hervor, und sprach: Mächtiger Vogel Greif! wenn ihr mir drei Bitten gewähren wollt, so will ich euch diese drei silbernen Birnen geben. Vogel Greif sagte: Ich gewähre sie dir; sag' an. Da sprachHans: Für's erste, wie lang müssen die zwei Berge zusammen und auseinander gehen? – »Bis sie einen Menschen erdrücken.« – Fürs zweite: »wie lange muß die alte Hexe noch die Leute überfahren?« – »So lange sie lebt.« – Aber nun zum dritten, so bitte ich, daß ich euch drei Federn ausziehen darf aus dem Schweif. Der Greif sagte: »Du verlangst viel; doch will ich dir Wort halten. Wenn du aber bei eine Feder zweimal [258] ansetzest, so fress' ich dich.« – Drauf zwängte sich Vogel Greif zwischen zwei Felsen ein, undHans zog nun, was er ziehen konnte. Der Vogel Greif zermalmte vor Schmerz die Felsen, und soff einen ganzen See aus. Wie Hans die drei Federn hatte, bedankte er sich, und gab die drei Birnen her. Drauf ging er des Weges zurück, den er gekommen.

Als er wieder zu dem See kam, schwamm die Alte in ihrer Nußschale heran. Die rief ihm gleich zu: Sag an, wann darf ich aufhören, überzufahren? Hans sprach: Ich darf es dir erst sagen, wenn ich drüben bin. Als sie ihn nun ans Land gesetzt hatte, sagte er: Du mußt so lange fahren, als du lebst. Da erhob die Alte ein großes Geschrei; sie sprang aus ihrer Nußschale ins Wasser, wo sie so lange tobte, bis sie ertrank. Von ihrem Toben war aber die See so ausgetreten, daß Hans bis an den Hals im Wasser ging, und beinahe ertrunken wäre; und das dauerte fort, bis er an die Berge kam. Die fragten ihn sogleich: Sag an! wann dürfen wir still stehen? Hans sprach: Ich darf es euch erst sagen, wann ich durch bin. Als er durch war, sagte er: Ihr dürft nicht eher still stehen, als bis ihr einen Menschen erdrückt habt. Da ergrimmten die Berge; es tosete und wüthete [259] in ihrem Innern, so daß sie in Stücke zersprangen, die weit umher flogen. Aber Hans duckte sich, und kam glücklich davon.

Nachher zog er gen Osten, und fand den Wald, und die drei Berge, und den gläsernen Sarg, und das Mädchen, das darin lag. Das war aber eines Königs Tochter, und die Geschichte hat sich also begeben: Ihre Mutter, die Königin, war viele Jahre kinderlos. Eines Tages saß sie traurig am offenen Fenster und nähete. Es war aber zur Winterszeit. Da fiel ihr eine Schneeflocke auf den Schoß, und auf die Schneeflocke fiel ein Blutstropfen; denn sie hatte sich in den Finger gestochen. Da seufzte sie gar innerlich: Ach hätte ich doch ein Mägdlein, so weiß wie Schnee und so roth, wie Blut! Nach einiger Zeit gebar sie auch ein Mädchen, so weiß wie Schnee, und so roth, wie Blut. Und das Mädchen wurde Schneeweißchen genannt, und wuchs, und wurde groß und schön und fromm, und sie war der Mutter einzige Freude. Aber ein böses, altes Weib mißgönnte der Königin ihr Glück; und sie gab eines Tags dem Schneeweißchen einen vergifteten Apfel, und als das Mädchen einen Schnitz davon in den Mund nahm, so fiel sie als todt hin, und erwachte nicht mehr. Und weil sie nun gar so schön war, und roth blieb, wie Blut, und weiß, [260] wie Schnee, so thaten es die Eltern in einen gläsernen Sarg, und stellten den Sarg zwischen die drei Berge. Die Eltern starben, aber Schneeweißchen blieb unverändert. – Zu dem trat nun Hans, und, nachdem er den Deckel abgehoben, so strich er mit den mitgebrachten Federn des Mägdleins Mund. Der that sich auf, und alsobald fiel der Apfelschnitz heraus. Da that das Mägdlein die Augen auf, und, als erwachte sie aus einem langen, schönen Traum, sah sie den Jüngling, der vor ihr stand, mit ihren holdseligen Augen an. Der war, wie ihr leicht denken könnt, voller Freuden, und er nahm das Mägdlein gleich mit in sein Königreich, das er gut aufgehoben fand.

Als er nun Hochzeit machte, war der Hof voll von Armen. Die saßen in zwei Reihen, und Schneeweißchen vertheilte unter sie das Almosen. Der junge König ging aber hinten drein, und freute sich über sein schönes und frommes Weib. Da bemerkte er plötzlich unter den Armen und Siechen seinen BruderJörg, der gleichfalls die Hand ausstreckte nach einer milden Gabe. Als der junge König ihn sah, und so elend, da dachte er nicht an das Unrecht und an Rache, sondern er nahm ihn aufs Schloß, wo er ihn speis'te und tränkte; und er erzählte ihm alles, wie es ihm ergangen, von [261] Anfang bis ans Ende. Und zuletzt sagte er: Jetzt bleib bei mir, daß ich dir wohl thun möge, wie es der Vater gewollt hat. Aber Jörgs böses Herz ließ das nicht zu, in welchem Neid und Zorn und Stolz war; und er sprach: Willst du mir nicht thun, gleichwie ich dir gethan, so laß mich ziehen; denn ich mag nicht bei dir bleiben. Also zog er vom Hofe, und er dachte bei sich: »Die Krähen werden mir so gut weissagen, wie diesem Hans; und, da ich klüger bin, als er, so werde ich nicht bloß ein halbes, sondern ein ganzes Königreich bekommen. Dann werde ich ihn bekriegen, und einfangen, und ihn wiederum blenden, und noch elender machen, als vor her.« Als er zu dem Galgen gekommen, da blies ihm der Neid ein, und rieth ihm: Raufe alles Gras aus, das da ist, damit dein Bruder nicht wieder das Gesicht bekommen kann, wenn du ihn blendest. Das that er denn auch, und er legte sich dann auf den Rücken, und erwartete so die Krähen. Bald kamen sie; und die erste sprach: Das letzte Mal muß uns ein Mensch behorcht, und unsere Geheimnisse verrathen haben. Drauf die andere: Seht! da unten liegt wiederum einer. Der dritte sagte: Hacken wir ihm die Augen aus. Und sogleich flogen sie herab, saßen ihm auf den Kopf, und hackten ihm die Augen aus, und [262] hackten weiter im Gesicht, so lange, bis er ganz todt war. Da blieb er liegen unter dem Galgen. Wäre er nicht so neidisch gewesen, und so dumm, und hätte das Gras stehen lassen, so hätten ihn die Krähen nicht gesehen, und hätten ihm auch geweissagt.

Hans aber lebte als König lang und glücklich, und Schneeweißchen auch.

[263]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Büchlein für die Jugend. 10. Das Zaunköniglein, eine Fabel. - Der Teufel und der Bauer, usw.. Die zwei Brüder. Die zwei Brüder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-15EC-E