V. Das Hirtenbüblein. – Marianne. – Die Christgeschenke. – Röschen.

Es fiel wieder nebelige, naßkalte Witterung ein. Die Kinder zeigten sich Morgens etwas träge, verdrossen. Man fühlte sich verlegen, sie auf eine angenehme und nützliche Weise zu unterhalten. Da hatte der Vater einen Einfall, und er sagte: »Heute wäre so ganz der Tag, um mit Mährchen und ähnlichen Erzählungen uns zu unterhalten. Da nun aber wir Größern zum Theil schon das Unserige geleistet, so kommt es wohl nun an euch, ihr Kleinern, daß ihr dasselbe versuchet. Es ist also zu erwarten, daß Großvater und Großmutter und wir übrigen heute Abends mit ähnlichen Geschichten von euch unterhalten werden, wie bereits von uns euch zu Liebe geschehen ist.«

[89] Die Kinder machten große Augen bei dieser Erklärung des Vaters, und der Fritz sagte: »Ich weiß nichts, gar nichts.« Darauf versetzte der Vater: »Wenn man nichts weiß, so muß man lernen, und sich an Leute wenden, die etwas wissen.« Das verstandFritz, und mit ihm auch die andern. Und der Knabe wandte sich sogleich an den Onkel, und sagte: »Bitte, Onkel! erzähle mir was, damit ich auch was zu erzählen habe.« Der Onkel sagte es ihm zu.

Die Absicht des Vaters war, den Kindern eine nützliche Beschäftigung zu geben, ohne daß sie eben als eigentliche Schulaufgabe erscheinen sollte. Er war der Meinung, man sollte den Geist auch nicht eine Woche, einen Tag ganz brach liegen lassen, sondern immer dessen Anbau besorgen, bloß mit Abwechselung der Saat, und in rechter Folge derselben.

Die Knaben wandten sich also zu guter Stunde an den Onkel, die Mädchen an die Tante. Denn die Mutter, an die sich sonst Malchen am liebsten anschloß, besonders auch in Hausangelegenheiten, hatte in der Küche, überall viel zu thun; deßgleichen am Schreibtische der Vater, den sonst Karl, zumal in Schulsachen, gern zu Rath und zu Hülfe zog.

[90] Für Fritz hatte der Onkel eine kleine Geschichte ausgesonnen, die er ihm vorerzählte, und sie dann so lange wiederholen ließ, bis der Knabe sie wörtlich auswendig wußte. Karln machte er die Arbeit nicht so leicht; er gab ihm wohl einen Gedanken zu einem Mährchen, das er aber selbst weiter aussinnen und schriftlich ausführen sollte. Ungefähr auf dieselbe Art verfuhr die Tante mit den Mädchen. Sie hatte als Gouvernante in einer guten Familie, deren Töchter sie zu lehren und zu leiten hatte, Gelegenheit genug gehabt, über die verschiedenen Methoden nachzudenken und sie anzuwenden, um zum Verstande und zum Gemüthe der Kinder Eingang zu finden, und ihnen das Wahre und Gute vorzuhalten in den naturgemäßesten Formen.

Abends, nach Tisch, erklärten die Kinder, daß sie im Stande seyen, ihre Erzählungen vorzutragen.Fritz wollte der erste seyn, der seine Geschichte vortrage; und man gestattete es. Er begann:


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Das Hirtenbüblein.

Ein Hirtenbüblein war wegen seiner klugen Einfälle und witzigen Antworten weit und breit bekannt. Von ihm hörte auch eines Tages der [91] Bischof; der ließ ihn sogleich zu sich kommen, um zu erfahren, ob die Leute wahr geredet. Der Knabe erschien vor dem geistlichen Herrn, das Käpplein in der Hand, züchtig in Gebärden und freundlich von Antlitz. Da sagte der Bischof: er habe von ihm gehört, daß er ein kluger Knabe sey, und er wolle ihm nun zur Probe drei Fragen vorlegen, und wenn er sie gut beantworte, so solle er für jede Antwort einen Goldgulden erhalten. Das war dem Büblein recht. Der Bischof sprach: »Zum ersten sag' mir, wie viel Sterne sind am Himmel?« Das Büblein verlangte Dinte, Feder und Papier; denn er hatte fein schreiben und lesen und rechnen gelernt, und Religion obendrein. Dann machte er auf das Papier so viel Tüpflein, als er vermochte, und zeigte drauf das Papier dem Bischof, und sagte: So viele Sterne sind's, und nicht mehr. Der Bischof sagte: Wer wird diese Tüpflein alle zählen? Das Büblein antwortete: Der Sterne sind eben auch unzählige. Mit dieser Antwort war der Bischof zufrieden, und er gab ihm einen Goldgulden. – Drauf fuhr er fort: Zum zweiten sag' mir: wie viel Tropfen sind im Meer? Das Büblein nahm wiederum einen Bogen Papier, und schrieb Zahl an Zahl, so weit das Papier reichte. Das gab er dem Bischof hin, [92] und nahm einen andern Bogen, und schrieb wiederum fort. Der Bischof sagte: Wenn du so fort schreibst, so kommen wir an kein Ende. Das Büblein antwortete: Und wenn die Quellen und die Flüsse es so forttreiben, so kommen wir mit dem Zählen der Tropfen auch an kein Ende. Wollt Ihr aber machen, daß alle Quellen versiegen und alle Flüsse vertrocknen, so will ich's sagen, wie viel Tropfen das Meer hat; anders nicht. Mit dieser Antwort war der Bischof wiederum zufrieden, und er gab ihm einen zweiten Goldgulden. – Drauf legte er ihm die dritte Frage vor: Wie viel Blätter gibt's auf allen Bäumen, die in der Welt sind? Aber das mußt du mir im Kopf ausrechnen, anders gilt's nicht. Das Büblein war nicht verlegen, sondern sagte: Wenn ihr alle Blätter, die im Herbst abfallen, wollt abziehen von denen, die im Frühjahr darauf wachsen, so wißt ihr's ganz genau. Der Bischof sagte: Da bleiben ja keine übrig. Ja, sagte das Büblein, es sind auch keine Blätter auf den Bäumen im Winter. Der Bischof mußte lachen, und gab ihm den dritten Goldgulden. – Das Hirtenbüblein bedankte sich. Dann sagte er: Herr Bischof, erlaubt mir nun noch, daß ich an Euch auch eine Frage stellen darf. Der Bischof erlaubte es ihm, und war begierig zu hören. Das Büblein sagte: Worin gleichen [93] wir beide einander, und worin unterscheiden wir uns? Das errieth der Bischof nicht. Da sagte das Büblein: Im Katechismus steht, daß Ihr ein Hirt seyd, und Schafe zu hüten habt; darin sind wir einander gleich. Wir sind aber darin von einander unterschieden, daß Ihr ein Oberhirt seyd, und Reichthum und Ehre besitzt, und ich bin ein ganz armer Hirtenbube, und habe von beiden nichts. Darum, so bitte ich Euch, nehmet mich in Eure Dienste, und gebt mir Nahrung und Kleidung, und tragt Obsorge für mich. Das that denn auch der Bischof; und aus dem armen Hirtenbüblein wurde später ein angesehener und hochstudirter Mann.


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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Büchlein für die Jugend. 5. Das Hirtenbüblein. - Marianne. - Die Christgeschenke. - Röschen. Das Hirtenbüblein. Das Hirtenbüblein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-15BE-5