Vision

Mündlich.


Ueber den Kirchhof gieng ich allein,
Zu meines Liebchens Kämmerlein,
Und als ich wollt von dannen gehn,
Da hielt es mich, ich mußt da stehn.
Ein Seel stand traurig an eim Grab,
Und schrie mit heller Stimm hinab,
[15]
»Steh auf mein Leib, verantwort dich,
Dann ich bin hier, beschuldge dich.«
Da hebet sich des Grabes Stein,
Und geht hervor ein weiß Gebein,
Der Leib steht auf gar bald und schnell,
Und geht dahin, spricht zu der Seel:
»Wer ist daraus, der mein begehrt,
Der mich da rufet aus der Erd,
Bist du es Seele, die vor Jahren
Aus meinem Leibe ist gefahren?«
Die Seel sprach: »Hab ich beten wöllen,
Da pflegtest du dich krank zu stellen,
Wenn ich anfieng das Abendgebet,
Da hast du dich gleich schlafen gelegt.«
Der Leib sprach: »Ach ich schien nur faul,
Und gähnte, macht ein schiefes Maul,
Und war zum niederknien verdrossen,
Denn ich hatt einen Bettgenossen.«
»Ach weh! Ach weh, antwort die Seel,
Daß ich gewesen dein Gesell,
Wovon die Ursach du allein
Darum leid ich die Höllenpein.
Im Thal Josaphat am Jüngsten Tag,
Da will ich führen grosse Klag,
Alsdann wird angehn auch dein Leid,
Du wirst brennen in Ewigkeit.«
[16]
Da sprach der Leib: »Du seyst verklagt,
Du warst die Frau, und ich die Magd,
Du trägst mit mir die Sündenlast,
Weil du mich bös geführet hast.«
Die Seel wollt da noch widersprechen,
Da thät der Morgenstern anbrechen,
Sankt Petrus Vogel thät auch krähen,
Da waren beid nicht mehr zu sehn.
Ich aber schrieb dies Liedelein,
Und steckts an Liebchens Fensterlein,
»Ich war mit Leib und Seel zu Gast,
's ist mir leid, wenn du auf mich gewartet hast.«

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Arnim, Ludwig Achim von. Gedichte. Des Knaben Wunderhorn. Band 3. Vision. Vision. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0FE3-B