Rechtspflege

Vor wenigen Wochen wurde eine junge Mutter zu vier Jahren Kerker verurteilt, die ihr vierjähriges Töchterchen zu Tode gemartert hatte; diese Mutter hatte nach der ersten Anzeige mitfühlender Nachbarn vom Richter einen »strengen Verweis« erhalten. Mit desto tieferer Wut, desto geheimnisvoll geschickter (Knebel im Mündchen) vollführte sie von da an ihr Werk »der Zerstörung«. Dieser eine Fall hätte die »grausame, bequeme, feige Gesellschaft« aufrütteln sollen! Keineswegs. Wenige Wochen später, vorgestern, erhielt eine junge Mutter, die ihr zweijähriges Töchterchen mit einer ledernen Hundspeitsche bearbeitete und ihr Schreien mit Tüchern im Mündchen verhinderte, wieder den für das Opfer vielleicht todbringenden »strengen ersten Verweis«! Es steht mir nicht zu, in die Geheimnisse der gewiß organisch, historisch und naturgemäß entwickelten Rechtspflege kritisch-mißtrauisch zu blicken. Auch begreife ich besser als viele andere die Verzweiflung hysterischer, überbürdeter, arbeits-belasteter armer junger Mütter, die ihrem eigenen Schicksale, trostlos und die Welt verfluchend, gegenüberstehen – – –. Ich verstehe sogar diejenigen, die sich »an ihren eigenen unschuldigen Würmchen«, für die Brutalität und Gemeinheit des Lebens rächen – – –. Ich verstehe die »Hysterie der menschlichen Seele«! Was ich aber nie und nie verstehen werde, ist, daß nicht Tausende reicher Mütter sofort Spenden senden, damit die durch den »ersten strengen Verweis« des Richters aufgereizte Mutter [95] ihr ungeliebtes Kindchen irgendwohin »in Pflege« geben könne!?! Ich selbst zeichne 10 Kronen. Es ist nicht Edelsinn, ich will nicht im Halbschlafe die Lederpeitschenhiebe niedersausen hören auf die überzarte Haut einer Zweijährigen! Es stört mich.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Märchen des Lebens. Rechtspflege. Rechtspflege. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DC28-3