Der Freund

Alles ereignete sich für Jolanthe in milden guten Ordnungen.

Nirgends hatte sie Gelegenheit, innerlich aufzubegehren.

Wie ein Reicher, welcher niemals denken könnte:

»Die armen Frierenden!«

Wie ein Magenkranker, der immer weichen Reis erhielte, gequirlte Dotter, Spinat, Rebhühnerbrüste.

Wie empfindlich du auch immer organisiert sein magst, bist du nicht gleich dem Widerstandsfähigsten, wenn man dir bietet, was dich nicht belastet?!

Alles erhielt Jolanthe.

He, ein Harzer, ein Edelroller, Lichtschlager, bedarf für seinen Edelsang der Morgensonne und des Sommerrübs! Schatten und Hanfsame verderben ihn.

Einmal im Monate, an jedem 15., erschien aus England für Jolanthe das Heft »The Studio, an illustrated Magazine of fine and applied Art.«

An diesem Abende sass Jolanthe immer nach dem Souper in einem niederen Fauteuil in der Ecke [72] bei der milden englischen Stehlampe, welcher sie den Namen »Edith« gegeben hatte und welche sie mit Zärtlichkeit und Dankbarkeit behandelte wegen ihres angenehmen Lichtes.

Auf ihren zarten Knieen lag das Heft »The Studio« und langsam wendete sie Seite um Seite, oft zurückblätternd und wieder Halt machend.

Manchesmal machte sie sehr lange Halt.

Dann sagte der Gatte: »Jolanthe« – – –.

Und sie blätterte weiter.

Nie rief sie ihn, nie sagte sie: »Du, schau' –.«

Er blieb an dem grossen Tische sitzen, rauchte ruhig, ruhte aus vom Tage.

Sie sass in dem niederen Stuhle, blätterte.

Sie sah die weltentrückten Damen des Burne Jones, welche gleichsam bereits auf der Erde bloss mit den Zehenspitzen standen, ferner wunderbare ganz schlanke nackte Leiber in Marmor, verschiedene Dinge in Elfenbein und getriebenem Kupfer, Reliefs in Stahl und Gold, unendliche satte Wiesen mit vereinzelten Baumriesen, Wasser und Erde an Regentagen, die Sonne durch schwarze Baumkronen hindurch Adieu sagend, Teiche mit kerzengeraden Schwertlilien, Jungfrauen splitternackt auf Pferden, Blumen aus Japan. Ein Bild hiess: »Dame, sorgenlos auf einer Bodentenne.« Eines hiess: »Ich gab – – –.« Ein kleines zwölfjähriges wundervolles ganz nacktes Mädchen und eine fertige, aus dem Leim gegangene Frau mit einem Säugling an den welken Brüsten. Sie hatte gegeben, der Zwölfjährigen die [73] Schönheit, dem Säuglinge die Kraft. »Sie gab –«, behielt wirklich nichts zurück.

Dann das Lieblingsbild: »Lady Godiwa.« Der Herr über Lady Godiwa sagte: »Ich will deine Armen in der Stadt vor Hungertod retten, wenn du nackt durch die Strassen der Stadt rittest!«. Lady Godiwa ritt splitternackt durch die Strassen der Stadt. Aber die englischen Bürger hatten sämmtliche Fenster und Thore geschlossen und verhängt und kein englischer Bürger erblickte die heilige Pracht ihres Leibes! Am häufigsten waren in diesen Heften friedevolle Parklandschaften abgebildet. Endlich irgend einmal das Porträt von Burne Jones selbst. Dieses schnitt Jolanthe heraus, verwahrte es irgendwo.

Manchesmal trat der Gatte an die Stehlampe, corrigierte das Licht, rückte den weiten grünseidenen Schirm, zog sich zurück.

Wie ein Feiertag wurde dieser 15. des Monats. Jedesfalls wie ein anderer veränderter Tag.

»Ich bin in England,« fühlte sie, »in England!«

Einmal fragte jemand an einem solchen Tage den Gatten: »Wo ist Jolanthe?!«

»Sie ist in England,« erwiderte er einfach.

Nie berührte er Jolanthe nach einem solchen Abende, in einer solchen Nacht. Einmal costümierte sie sich als Burne Jones-Dame: Ein leichter weisser seidener Mantel in tausend Plissés, über den nackten Leib, und tief gescheitelte Haare. In der Hand [74] einen langen Blumenstengel. Aber niemand erblickte diese Costümierung.

Eines Abends sass der Gatte allein und erwartete Jolanthe, welche einen Spaziergang gemacht hatte.

Er nahm das Heft »The Studio«, betrachtete mit Interesse die schönen Bilder.

Lautlos trat Jolanthe ein.

Der Gatte schloss rasch das Buch, schob es von sich, erröthete, wurde ganz verlegen.

Da legte Jolanthe ihre Wange an seine Schläfe, gab ihm mit ihren zarten Armen und Händen ihre ganze Zärtlichkeit.

An diesem Abende sagte sie beim Blättern in dem Hefte einmal zu ihm: »Du, schau – – –.«

Er aber blieb ruhig sitzen an dem grossen Tische, rauchte, ruhte aus vom Tage, umfing die süsse Gestalt der Leserin mit dem liebevollsten väterlichsten Blicke.

Und Jolanthe betrachtete wieder für sich die weltentrückten Damen und die Parklandschaften der englischen Herrensitze.

So lebten diese Drei in Frieden miteinander, Jolanthe, Jolanthe's Gatte und »Studio«, das schöne Heft aus England!

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. Der Freund. Der Freund. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DBE8-C