Eine schweigende Runde
Dem Andenken an Friedrich Mitterwurzer als »König Philipp« geweiht

Ein kleines Fräulein sprang auf den Künstler zu und sagte: »Oh Herr! Ich möchte – – –. Oh Herr, ich möchte mit Ihnen eine schweigende Runde machen durch die Säle, durch die lärmenden ungestümen Tanz-Säle, durch die wihernden Säle vor Festesfreude, durch die Säle-Meere mit den Heringszügen, die hin und her schiessen und glitzern wie im Ost-Meere, – – – schweigend, schweigend, eine schweigende Runde, oh bitte – – –!«

Der Künstler wurde roth, verlegen, wie ein Schulmädchen; er zögerte, verlor gleichsam seine Grazie, wünschte eine kluge exzeptionelle Rolle zu spielen, zugleich jedoch sich der Natur hinzugeben, den Forderungen des Momentes.

»Eine einzige Runde, oh Herr – – –. Schweigend. Oh bitte. Wie Feuer-Wächter um Eins – – –!«

»Kommen Sie, kleines Fräulein – – –!«

Sie gingen schweigend durch die jauchzenden Säle vor Festesfreude. Eine einzige Runde!: Durch den »französischen« Saal, durch den »deutschen« Saal, den »Almboden«, wo man »Tirol« kopirte, [46] durch die Speisesäle, die kleinen Gänge, die kühlen leeren asphaltirten Vorräume, durch die niederen warmen Buschenschänken, durch die verlorenen Rumpelkammern, diese stillen Friedhöfe verstorbener Festlichkeiten – – – – –.

»Ist es Ihnen zuwider, Herr?!«

»Pssssst – – –!«

Er verbeugte sich, am Ausgangspunkte angelangt, ging.

Er hatte keine Idee, ob er eine kluge Rolle durchgeführt oder der Natur sich hingegeben habe, den Forderungen des Momentes?!

Sie aber, mit dem Herzen voll von »Lederstrumpf's Erzählungen«, »Maria Stuart«, »Les malheurs de Sophie«, fühlte: »Ich habe mit meinem Gotte eine schweigende Runde gemacht! Heilige Nacht vom 21. zum 22. Februar – – –! So, jetzt ist Alles gut – – – nein, jetzt ist aber Alles vorüber – – –.«

Frau L. sagte zu dem Künstler: »Sie, was hat dieses Kind von Ihnen wollen?!«

»Sie bat mich, mit ihr eine schweigende Runde zu machen durch die Säle.«

»Oh – – –. So wird es nicht weitergehen. Ich selbst habe an solchen Dingen Schiffbruch erlitten. Es ist schrecklich. Wie Gespenster meiner eigenen Jugend. Ihr Vampyre der Seele! Schweigende Runden?! Wo befinden wir uns, bitte?! Mit dem Leben stellt sie sich, wie das Kaninchen, welches die Anaconda beschnuppert. Schweigende Runden [47] zu machen!? Absinth der Seele!! Gebt Ruhe. Sind wir im Garten der goldenen Äpfel?! Sie hätten es ihr verweigern sollen!«

»Warum?! In der Art wie ich neben ihr herging, lag eine tiefere Enttäuschung, eine heilsamere Lektion für das kleine Fräulein, eine unerbittlichere Schulung des Lebens, als in einer romantischen ›Versagung‹. Versagen?! Das heisst, einem Herzen Gelegenheit geben, die Dinge innerlich und ideal durchzuleben – – –. Aber gewähren?!? Das sind die Versagungen!!«

»Thaten Sie es wirklich deshalb, Herr?!«

»Ja, deshalb. Und dann – – – Neigung zu uns?! Sympathieen?! Freundschaft?! Redliche Gefühle?! Existiren wir?! Kann man uns fassen?! Wo weilen unsere Seelen, unsere Wünsche?! Ihr seid Ihr! Jawohl. Ewige träge unzulängliche Darsteller Eurer einzigen armseligen Lebens – Rolle! An Euch selbst geschmiedet lebt Ihr hin! Euch kann man fassen! Ihr bleibt Euch treu und habt Character. Armseligkeiten habt Ihr!! Wir aber sind die Welt und ihre Wandlung, von Urzeit, die da war, in Zeit, die kommen wird. Wehe uns, wenn wir zu fassen und zu halten wären! Geliebt?? Gehasst?? Wir sind die Wandlungen der Welt! Liebe doch Sonnen-Systeme oder hasse sie – – gleichviel, sie kreisen, sie bringen Leben und Zerstörungen! Voilà! Ihr aber seid Ihr selbst! In Ewigkeiten. Hat man Euch, so hat man Euch! Euch kann man fassen, halten, lieben! Wir aber [48] sind das Un-Haltbare! Hasset uns!! Lasst uns allein!! Lasst uns in Frieden, bitte – – –!«

Der Künstler sass da, bleich, nervös. Wie ein Hellseher seiner selbst! Die Dame legte ihre Hand auf die seine, mitleidsvoll.

Er zog sie zurück und sagte hart:

»Und überhaupt – – – was will man von mir?! Ah, sich verkriechen! Ausweichen den »Sterblichen«! Was will man aus mir herausschlagen?! Welches seelische Geschäft entriren?! Hören Sie – – – ich bin dieGestalten, die ich schaffe!! Sonst nichts, nichts, nichts. Hören Sie?!? Wie Gott die Welt ist, die Erschuf und in ihr ist und sonst unsichtbar! So bin ich meine Werke, meine Schöpfungen. Sonst nichts, nichts. Verstehen Sie mich?! Aber wie könnt Ihr das verstehen?! Ihr, die Ihr immer Etwas seid, Euer eigenes Leben!? Brrrrr! Ich aber bin ein Leichnam, ein Leichnam. Was kann ein Leichnam schaden?! Welche Bedeutung hätte er?! Dort aber, in meinen Welten, die ich mir erschaffe, ist mein Lebendigsein!! Dort! Verstehen Sie das?! Dort ist meine perfide Macht! Zittert für Seelen, wenn wir lebendig werden in unseren Welten! Wie wenn ein missgestalteter Zwerg ein riesenhafter Zauberer würde! In Euren Welten aber sind wir todt. Verirrte Wanderer! In Eurem Eintag-Leben verrathen und verleugnen wir uns selbst, wie Judas Christum. Wie Albatrosse watscheln wir am Strande. Jedoch in Lüften?!«

[49] Die Dame senkte das Haupt. An ihre junge Nichte dachte sie, welche das Leben beschnupperte wie das Kaninchen die Anaconda. Ziemlich belanglos, fade, adaptirt waren diese »psychologischen Complicationen« des Künstlers. Nicht?! »Er verstrickt sich in sich selbst« dachte sie, »was bleibt für uns übrig?!«

Traurig sass sie da.

Dann sagte sie: »Ein Künstler! Versteht Ihr denn das?! Ihr Künstler?!

Wie wenn man im Affenreiche sagte: »Ein Mensch!« An dieses Wort klammert sich die Frauenseele an. Wie ein im Ozeane Schwimmender mit seinen Augen sich klammerte an die Kristall-Leuchten des fernen Thurmes!

Ein Künstler – – –! Rettung, Rettung, Rettung!! Einer, den nach Anderem dürstete als seinen Durst an uns zu stillen!?!

Siehe! Wer sind wir?! Existiren wir?! Zuwider, unappetitlich sogar sind wir uns selber, körperlich, seelisch, geistig! Unangenehme Hüllen in rosa, angefüllt mit mysteriösen dunklen Dingen und unsere Brüste sind fette gelbe Zellengänge für Milch-Bereitung! Wir ersehnen deshalb eine Kraft im Leben, die uns umschaffte zu schaumgebor'nen Aphroditen, uns verzauberte zu mächtigen und milden Königinnen! Wie wenn Einer zu einer zarten Pflanze sagte: »Du miserables Konglomerat feucht-schleimiger Zellen – – –!«

Direkt verwelken würde sie, vertrocknen! [50] Ein Anderer aber resümirte, schüfe Synthesen: »Holde Blume – – –!«

Gleich würde sie da zu duften beginnen, beginnen, lächend zu sein! So ersehnen wir den Künstler und seine Phantasie, damit wir seien! In seiner Seele werden wir zur Frau geboren!

Denn uns selber und den Anderen sind wir fade werthlose Gebilde, zweckmässig wie ein Tisch, daran man sitzt! Wehe, wenn der Künstler uns im Stiche liesse und uns nicht erst im eigenen Herzen zu unseremwahren Sein erschüfe!! Wie Albatrosse watscheln wir am Strande – – – jedoch in Lüften?! Wenn Er unsmitnimmt?! Und Die uns später retten aus dem »Ozean des Leben, sind wie die Haie, welche die Matrosen vom Ertrinken retten, indem sie sie in Splitter reissen!!«

Die Dame sass da, bleich, nervös.

»Sie verstrickt sich in sich selbst – – –« dachte der Künstler.

Später sagte die Dame zu dem jungen Mädchen:

»Nun, Isabella?! – – – – – – Wie bleich Du bist!?«

Das Mädchen erwiderte: »Geliebte Tante – – – jetzt versteh' ich Alles – – –! Dich, mich und Ihn undAlles, Alles! Siehe! Nur was ein Künstler schafft, das ist er! Nichts Anderes. Nicht was er in der armseligen Stunde ist, am lauten Tage, in der stillen Nacht, im Jahr, im Leben, ist er. Sondern was er ist, wenn er nicht ist, wenn er fortgeflogen ist von seinem Strande[51] und nicht mehr vorhanden ist – – – dann ist Er!!! In ewigem Schweigen müsste man mit diesem edlen Todten leben, der seinen Leichnam bei uns am Strand zurückliess, um in seine Welten zu fliegen und dort zu sein!

Siehe, geliebte Tante, was Dieser mir mitzutheilen hatte in der Welt, hat er mir an dem einen Abende gesagt von 7 bis 11, als er gestorben war und auferstand als König Philipp, Vater des Don Carlos, in namenloser Herrlichkeit und Majestät!!«

Frau L. betrachtete das junge Mädchen: »Süsse! Tapfere! Ah – – – wir glauben immer, die eine Generation müsse so stupide sein wie die andere, so »marlittisch«, süsslich, schwächlich, unbehülflich. Dennoch giebt es Fortschritte! Ja, Mädchen

– – ungestraft darfst Du selbst mit einem Künstler wandeln – – – schweigende Runden!!«

Das Mädchen nahm die Hand der geliebten Tante und legte sie an ihre bleiche Stirne.

Die Tante fühlte: »Siehe! Sendet ein Schifflein auf die See, verdirbt es – – – – – haltet es am Strand, verfault es! Hélas – – –.«

Das junge Mädchen sagte: »Tante – – – was hast Du?!«

»Nichts – – –.«

Beide sassen schweigend – – –.

Das junge Mädchen dachte: »Ich werde mich auf die englische Lehrerinnen – Prüfung vorbereiten – – –. Man muss Programm machen – – –.

[52] Von 9–2 Englisch. Dann Diner. Dann eine Stunde Ruhepause zur Verdauung – – –. Aber nicht vor sich hinträumen – – –! Dann Englisch bis 6. Dann Spaziergang. Dann Souper. Dann »Macauley, biographical Essays« – – –. Dann zu Bette. Dann – – – eine Rede des König Philipp an Marquis Posa! Nein, keine Rede des König Philipp – – – –. Übrigens, ich kann es ja in's Englische übersetzen – – –. Eine gute Übung dürfte es sein – – –. Man muss arbeiten.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
»Isabella – – –« sagte die Tante sanft.
»Isabella – – –« sagte die Tante noch sanfter.
»Isabella – – –« wiederholte die Tante zum drittenmale und nahm das weinende Kind in ihre Arme.
[53]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. Eine schweigende Runde. Eine schweigende Runde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DB8F-3