Ein »Wiener«
Er las keine Bücher mehr, verbrannte seine wenigen »Lebensbibeln«, ging langsam durch die Strassen der Stadt, durch die Gärten in schmiedeeisernen Käfigen mit Kinderspielplätzen und Bonnen.
In der »französischen Gouvernante« erschien ihm, wie eine junge welkende Göttin in staubgrauen Schleiern, die »Melancholie der Welt« repräsentirt!
Die Gesänge Byrons, die Klagen Hölderlins verstummten, verblassten vor diesen schweigsamen Gleichgiltigkeiten der französischen Bonnen auf den Gartenbänken!
J'ècris à ma mère à Genève – – –.
J'écris à ma soeur à Genève – – –.
J'ècris à Alfred à Genève – – –.
Je n'ècris plus à Genève – – –.
In der fünfjährigen Rosamunde mit den riesigen flachen Perlmutterknöpfen an dem Mäntelchen, erblickte er das »Opfer«. Er sah die scheussliche Horde der Männer sich bereits auf sie stürzen, von dem Tage an – – – bis zu dem Tage – – –, sie in Fetzen reissen, in Verlogenheiten ertränken, ihre Göttlichkeiten zu Weiblichkeiten umstampfen! Gleichsam im Kerker sah er sie bereits, rufend: [290] »Heinrich, Heinrich – –mir graut vor Dir!« Ein Weiser sein, hiess überhaupt für ihn, Entwicklungs-Nothwendigkeiten anticipieren. Wissen ist anticipiertes Sein! Sein – – – nachhumpelndes Wissen!!
Eines Tages sagte er: »Lueger?! Was ist denn das für eine verlogene Beurtheilung in den Gazetten?! Was ist es denn mit diesem ›Führer‹?! Er ist Wiens Bismarck ganz einfach. Jawohl. Sogar wenn es Sie ärgert, ist es so, mein Herr!
Bismarck ist das ›Individuum gewordene‹ Deutschland. Mensch gewordener Staat!
Deutschland hat ein Gehirn erhalten, Deutschland hat eine Seele erhalten, Deutschland hat einen Willen erhalten. Dieses Gehirn, diese Seele, dieser Wille Deutschlands heisst: Bismarck!
Auch Wien hat nun ein Gehirn erhalten, Wien hat eine Seele erhalten, Wien hat einen Willen erhalten. Dieses Gehirn, diese Seele, dieser Wille Wiens heisst: Lueger!
Giebt es grössere Identitäten?!
Jede Nation, jede Rasse kann sich zu einem Einzelwesen concentrieren, einen Extract seiner selbst erzeugen, ihren Inhalt gleichsam zu einem Individualkinde ausgebären! Solche Identitäten, solche ›Söhne‹ nennt man dann ›Genies‹!
Warum aber ist der Socialdemokrat der Feind Luegers?!
Der Socialdemokrat ist gleichsam die ›Individuum gewordene‹ Menschheit! Lueger ist das ›Individuum gewordene‹ Wien. Wien hat andere Bedürfnisse als die [291] Menschheit. Die Menschheit hat andere Bedürfnisse als Wien. Daher verstehen sich die ›Extracte‹ nicht!!
»Wofür treten Sie denn ein?!« erwiderte man ihm gereizt nach diesen Auseinandersetzungen.
»Für a + b = c. Für die ›Algebra des Lebens‹, mein Herr!«
Einmal war er in der Oper »Carmen«. Er erblickte die wunderbaren Hände der Marie Renard. Diese Hände waren für ihn das Kunstwerk, das gottbegnadete. Gott-Vater triumphierte da über Bizet-Sohn!
Er dachte: »Carmen! Welches unverdiente verlogene Schicksal! Hätte nicht Don José und der Torreador und tausend Andere in Frieden vor diesen Händen ihre Andacht morgens und abends verrichten können?! Wozu das Morden?! Kann Carmen schlimm oder leichten Sinnes sein, unedel, buhlerisch und dirnenhaft, so lange sie diese heiligen Hände hat?! Kann Carmen uns durch anderes enttäuschen als durch erfrörte aufgerauhte Hände?! Und Bizet hat eine Musik geschrieben zu diesen Händen. Braucht man diese Hände zu orchestrieren?! Und zu diesen Händen hat man ein riesiges Opernhaus gebaut und verwickelt die Trägerin dieser Hände in ein dummes verlogenes Schicksal!? Carmen – Marie Renard, Marie Renard – Carmen! Ist denn das wirklich die ganze Tragik der Welt, dass der Mann bis heute ein »frecher stupider Pavian« geblieben ist, mit »Besitz-Wahnsinn im Rückenmarke?! Rückenmarksvieh, werde Gehirnmensch!!«
Einmal erlebte er einen Ibsen-Cyclus. »Was ist[292] denn das?!« sagte er ganz erstaunt. »Ja, giebt es denn überhaupt etwas anderes auf der Welt als Noras, Hedda Gablers, Meeresfrauen?! Wozu schildert er dieselben so emphatisch?! Auf allen Strassen gehen sie, in allen Zimmern sitzen sie, auf allen Bällen tanzen sie, unter allen Traualtären knieen sie, in allen Gräbern liegen sie! Brauchen wir den Dichter, um uns emphatisch zu verkünden: Es giebt Gascandelaber, auf Nacht folgt Tag, und a-b-c des Lebens?!«
Einmal sandte er an eine Zeitschrift folgende Sache ein:
L'amour.
»Einzigste, Süsseste – –,« sagte er zu ihr und zugleich dachte er: »Du musst heute abends Sardellen gegessen haben oder so etwas, meine Liebe – –«.
»Ich liebe Dich – – –,« sagte sie zu ihm und zugleich dachte sie: »Zwischen Schulter und Elbogen hast Du Bewegungen, eines alten Hausierers würdig! Hast Du denn keine Charniere, mein Lieber?!«
Die Zeitschrift schrieb zurück: »Sehr tiefe Wahrheiten! Könnten Sie dieselben nicht für unseren Leserkreis adaptieren?!«
Nein, adaptieren konnte er es nicht.
Einmal sagte man zu ihm: »Sie, was halten Sie von Shakespeares ›Romeo und Julia‹?!«
»Die fascheusen Complicationen der Pubertäts-Liebe sind Privatangelegenheit,« erwiderte er.
Stundenlang stand er in den japanischen Geschäftsläden. Er empfand wirklich: Hier sind Kunst [293] und Natur eines geworden. Die Hochzeit wird hier gehalten, in diesen Räumen. Ja! So fliegt der Sperling, so schwebt die Hummel, so steht der Reiher, so hockt die Wildente, so blüht der Apfelbaum, so breitet sich die Chrysantheme, so hebt der Tagesfalter seine Flügel. Basta. Wozu Ereignisse?!«
Ganz unglücklich verliebt war er in einzelne Gegenstände. Einmal kauft eine Dame ihm gleichsam sein Lieblingskästchen weg.
»Behandle es gütig«, rief er ihr innerlich nach, »Du, hörst Du, nimm ein Tüchelchen aus Flanell, wenn Du es reinigst; zerkratze mir nicht den Lack gefälligst!?«
Wenn Jemand sich äusserte: »Die Mode ›Japonisme‹!« erbleichte er direct. »Die Mode ›Christenthum‹,« dachte er, »Du Hund!«
Immer ging er in die Gärten. »Was habe ich dort zu suchen?!« dachte er. Wohlerzogene Blumen, die für nichts ihre Schönheit geben!
Einem jungen Mädchen schrieb er in das Stammbuch:
Die Verwandten der Dame sagten: »Soll sie so überspannt werden wie er?! Gott sei Dank versteht sie es nicht.«
Aber die junge Dame sagte zu ihm: »Für Sie[294] müsste Japan das Idealland sein. Denn die dortselbst wunderbar blühenden Apfelbäume bringen es nie zu Früchten, bleiben in prangender Blüthenpracht!«
»Was sucht er in den Gärten?!« sagte man.
»Die Bonnen natürlich.«
»Er hat der Marie Renard einen verrückten Brief geschrieben – – –.«
»?!«
»Ich möchte Ihr Schicksal kennen lernen, Fräulein. Es muss schrecklich sein. Denn die Vollkommenheiten sind etwas, woran die Menschen sich am schrecklichsten versündigen!«
Manche betrachteten ihn als ihren Seelenarzt, consultirten ihn ganz einfach über Bauchweh der Seele. Andere hielten ihn für einen Charlatan.
Einer citirte den Baron von L.: »Dichter sind Narren, welche dem Schicksale ein Schnippchen geschlagen haben. Es sind Auferstandene – – vom Irrenhause!«
Aber Frau S. erwiderte sanft: »Bitte sehr, giebt es nur das Leben auf unserer Erde, mit Lungen-athmen und Herzpumpe?! Denken Sie, am Saturn am Mars, auf Milliarden Welten!? Lebewesen unter anderen Umständen ganz einfach. Sie athmen vielleicht mit den Augen oder gar nicht. Giebt es dort Geschlechter?! Wie liebt man sich daselbst?! Kann man es controlliren mit unseren Erdorganen?! Nun also! Zum Beispiel, könnte es nicht Menschen geben, die von der Schwerkraft frei wären?! Und sind die ›sexuellen Kräfte‹ in uns nicht ›Schwerkräfte [295] der Erde‹ für unser Nervensystem?! Wir können uns nicht erheben. Und die übrigen Anziehungskräfte?! Und die von Gewohnheit und Vererbung?! Von Schwerkraft Freie! Das wäre es! Jedoch wir Bleiernen?!«
Seitdem nannten ihn viele: Marsbewohner. Die Vertheidigung der Dame kam ihm zu Ohren. Er ging in einen seiner Lieblingsgärten, stand lange vor den wohlerzogenen Blumenbeeten, die für nichts ihre Schönheit gaben.
»Uns erkennen!« dachte er, »Letztes Zauberwort, das uns noch treffen, uns noch rühren kann! Hier ist die Stelle, an der gleichsam das Lindenblatt fiel. Hier liess uns das Leben nicht hörnern werden!! Frau S.! Amen.«
Später sagte man: »Der Marsbewohner hofiert Frau S. Ob er sie ›drankriegen‹ wird?!«
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