Sechsundachtzigstes Kapitel.
Das große Trauerhaus.
Wo der Trauerhimmel über eine ganze Stadt ausgespannt ist, wer achtet da sehr auf ein einzelnes Trauerhaus! Die Aerzte, nach denen Wandel geschickt, waren nicht zu Hause gewesen. Sei doch der Krankheitsanfall einer Art, daß ein gesunder Körper sich selbst heile, hatte er geäußert, oder wenn – dann war er plötzlich aufgesprungen, und ließ doch noch einen Arzt rufen. Er hatte ihm im Vorzimmer die Symptome beschrieben, sie hatten gelacht, und als der Doktor ins Zimmer trat, hatte er lächelnd den Puls des Kranken befühlt und auch lächelnd zum Baron gesagt: »Etwas Kamillenthee und Einreibungen – das wird den Patienten bald auf die Beine bringen, aber wenn er auf den Beinen ist, gnädige Frau, dann thun Sie mir den Gefallen und lassen ihn nicht wieder Melone essen und sich erkälten.« Liebevoller, aufmerksamer, aufopfernder, hätte ein Bruder den Baron nicht pflegen können. Tag und Nacht saß er abwechselnd mit der Baronin an seinem Bette. Er trocknete, er rieb den Leib er schenkte ihm den Thee, den er selbst vorher kostete. –
Wandel stand am Fenster. Lärm, Unruhe, Hin- und Hergelaufe, kernige Fluchworte, dazwischen ein Geschrei, das hier in Heulen überging. Ein Reiter sprengte auf der Straße vorüber: »Das ist der Rittmeister Dorville. Ich fürchte, er bringt Uebles vom Schlachtfelde.« Eine Stimme rief zum Fenster hinauf: »Verloren! Es ist Alles verloren.« Was eine Stimme, was Stimmen! Es war Alles in der Stadt nur eine, und das war ein entsetzlicher Wehruf. Wohl Denen, die ihn laut machen konnten; der stumme Schmerz ist der tiefere. Er sprengt nicht immer die Brust, aber er stopft die Adern, er wirkt einen Niederschlag, der alle Funktionen der Glieder lähmt. Das Herz, das so muthig noch eben schlug, scheint still zu stehen, die Gedanken, die gradaus schossen, zittern und verirren. Es war kein lauter Aufschrei in der Stadt; kein Todeshieb, der eine Wunde öffnete, aus der das Herzblut mit einem Mal ausströmt; es war eine Quetschung, ein Niederschlag. Ein Uhrwerk war's, dessen Räder noch gingen, aber keines griff ins andere.
Ein Knäuel von Hiobsposten wälzte, flog durch die Straßen. Die Franzosen hatten gesiegt, die Armee war in die Flucht geschlagen; die Besonnenen hatten wohl Recht, wenn sie schrieen, man solle zukochen, heizen, für Stroh, Decken, Quartiere und Lazarethe der Flüchtlinge sorgen, Andere schrieen nach Waffen und Widerstand. Da schreckte Beide die Nachricht zu blassem Verstummen: Nichts von Flucht und Widerstand! Unsere Armee ist aufgerieben, [762] vernichtet, alle Generale, der König, der Prinz gefallen! Das ward zwar von Unterrichteten dahin korrigirt: die preußische Armee sei von den Franzosen nur umgangen worden, Napoleon habe sich zuerst bei Jena auf das Corps Hohenlohe geworfen und es vernichtet, darauf oder zugleich sei die Hauptarmee, wo der König und die Prinzen, bei Auerstädt total geschlagen, der Herzog von Braunschweig, der Oberfeldherr im Getümmel erschossen, und beide geworfenen Corps, auf einander gedrängt, würden von den Franzosen nach dem Rheine zu verfolgt; aber für die Begriffe der Masse war das zu schwer zu entwirren. Wenn auch einige Kluge kalkulirten, dann entferne sich ja die Gefahr, wenn noch Klügere meinten, es sei nur eine Kriegslist, um den Krieg nach Frankreich zu wälzen, so hörten Andere dafür schon, wenn ein Piket Husaren durch eine entfernte Straße preschte, die Vorposten der Franzosen in die Stadt einreiten. Andere aber hatten besser gesehen oder gehört, es waren Russen oder Engländer, die gelandet oder geflogen waren um Berlin beizustehen.
Man sah Einige durch die Massen sich drängen. Aber wo Rathes sich erholen? Die Lenker des Kabinettes sollten im Hauptquartier sein. Hier klopften sie umsonst an die Thür eines Großen. Er lag in einer heftigen Kolik und hatte befohlen, Niemand vorzulassen. Ein Anderer war bei einem Andern, der Andere war aber wieder anderswohin geeilt. Im Gedränge trafen sich Zwei, die sich einst gesehen und seitdem nicht wieder, Walter und der alte Rittgarten. »Zum Gouverneur!« rief der Invalide. »Er muß die Trommel rühren lassen.« – »Trommeln! Das fehlte noch,« rief ein gutgesinnter Bürger, »um den Wirrwarr voll zu machen.« – »Es giebt nur Einen, und wenn Er nicht Hülfe weiß –«
Walter ward durch einen lauten Aufschrei unterbrochen, der durch die Stimmen von Tausenden immer neu anwuchs. Das waren Laute des Schmerzes, aber auch der Freude – »Die Königin! die Königin!« In der Entfernung, bog ein Reisewagen um die Straßenecke. Thränen, Schluchzen, Jubelrufe! Es war in dem Gewirr nichts zu verstehen. Ein Tuch, ein Arm wehte heraus. Die Beiden, die sich eben gefunden, wurden wieder getrennt. Jeder hatte ein anderes Ziel. Aber die Stimmung schien sich geändert zu haben. Der Anblick der Königin hatte gewirkt. Der alte Rittgarten traf auf entschlossene Gesichter. Kernworte, Flüche! Da schüttelte Einer seinen markigen Arm. Rittgarten ergriff ihn. Er sprach Worte, die zum Herzen drangen. Als sie das Hotel des Ministers erreicht, hatte sich die Zahl bedeutend verstärkt; es waren kräftige Männer, alte Soldaten darunter. Wuth und Freude strahlte auf den Gesichtern.
Wo war die alte Ordnung, die heilige Ruhe, wenn man [763] berußte Arme, Schurzfelle auf den Treppen sah, Einige sogar bis in das innere Heiligthum gedrungen. Es musste hier schon viel vorgegangen sein, wenn wir den Minister, denselben, welcher den jungen Walter nach Karlsbad schicken wollte, zwischen diesen, selbst für die Antichambre ungeeigneten Gestalten umhergehen sehen, ohne daß sein Auge Blicke der Entrüstung warf. Nein, er trug weder Uniform noch Hofkleid, auch keinen Stern an der Brust, er ging nicht aufrecht und die Stirn leuchtete nicht vom Widerschein seiner unantastbaren Würde. »Meine lieben Freunde!« sprach er, zwischen den Eingedrungenen sich bewegend. Seine feinen aristokratischen Hände, stets in einer Position erhalten, die sie vor jeder Berührung schützen sollte, berührten doch freiwillig die Arme der Bürger, er drückte dem Nagelschmied die Hand, er legte sie dem patriotischen Stadtwachtmeister auf die Schulter: »Mein liebster guter Freund, nur keine Uebereilung.«
»Aber, Excellenz, sie stürmen Ihnen das Haus!« riefen drei, vier Stimmen. Der Hausflur war voll, die halbe Treppe, sie drängten von außen, Andere standen im Hofe und gafften mit hässlichen Blicken die Reisewagen an, die in Hast bepackt wurden. Die Excellenz beugte sich übers Geländer, sie rang die Hände, es war der mildeste, freundlichste Ton: »Um Gottes Willen, meine Freunde, keine Uebereilung! Was wollen Sie?« Da brach es los, wie, ich weiß es nicht; es war aber das Unglück, daß Keiner wusste, was er wissen sollte. Es war die Wuth, die in hundert Lauten sich Luft machte. »Wir sind verrathen!« – »Der König und die Königin sind verrathen!« – »Das Vaterland ist in Gefahr« – »Die Franzosen sind vor der Thür!«
»Ja, ja, meine lieben Freunde, um Gottes Willen ja, es ist wahr, wir sind Alle in Gefahr – aber was wollt Ihr was sollen wir thun?« Die im Hofe zeigten auf die bepackten Reisewagen: »Er kratzt aus, uns lässt er im Stich.« Ein höhnisches Gelächter verschlimmerte die Lage der Autorität, die es nicht mehr war. Da ward der Ruf laut: »Widerstand! Waffen! Ein Schuft, wer seinen König verlässt!«
»Um Gottes Willen, verehrte Mitbürger! Ich beschwöre Sie, bedenken Sie Ihre Familien, Ihre lieben Kinder, Ihre Lage, diese Stadt! Es ist ein Unglück, ja ein großes, ein unermessliches Unglück, unsre Armee ist geschlagen, total geschlagen, wir wissen nicht wo sie ist. Wo eine so tapfere Armee erliegen musste, ist es Thorheit, ich beschwöre Sie, es ist Raserei an den geringsten Widerstand noch zu denken.« – »War's Thorheit,« rief eine Stimme, es war der alte Rittgarten, »als Haddick in unsre Straßen sprengte, daß die Berliner nicht zu Kreuz krochen? Raserei, daß sie Schanzen aufwarfen, daß wer eine Muskete tragen konnte, der Trommel [764] folgte, als die Russen ihre Kugeln in die Friedrichsstadt warfen? Des Königs Hauptstadt ward gerettet!« – »Meine lieben, theuren Mitbürger, bedenken Sie doch die veränderten Verhältnisse. Wer war Haddick, wer die Russen! Der Kaiser Napoleon ist unüberwindlich. Sie waren selbst Militär. O erklären Sie Ihren Mitbürgern, daß aller Patriotismus und alle Bravour gegen ein disziplinirtes Heer nichts ausrichten. O mein Gott, stehn Sie mir doch bei, diese braven, rechtlichen, unsere Mitbürger vor einer entsetzlichen Verirrung zu bewahren.«
»Excellenz,« erwiderte Rittgarten, »eine Schlacht können wir den Franzosen nicht liefern, noch besteht Bürger und Bauer vor Denen, die den Krieg erlernt. Das weiß ein Kind. Aber hier gilt's, was Keiner erlernt, was geboren ist: das Herz zeigen am rechten Fleck. Ist der König geschlagen, so gilt's, ihm aufbewahren als treue Unterthanen, unsern Muth, unsre Treue, uns selbst. Er wird wissen, ob er Berlin halten soll oder aufgeben, und an uns ist's, ihm die Entscheidung offen erhalten. Das ist unsre Schuldigkeit. Es gilt, der Obrigkeit, die er zurückließ, gehorchen, und wenn sie stumm bleibt, sie fragen was müssen wir thun, daß dem Könige seine Hauptstadt gerettet wird? Sind Soldaten da, so sammelt sie, sind's Invaliden, ruft sie auf, sie werden dastehen. Sollen die Bürger ihnen zutragen, schanzen, Wache stehen? Sollen Wagen und Proviant hinaus, die Flüchtlinge einzuholen? Soll ihnen ein Lager abgesteckt werden? Soll junge Mannschaft geworben werden? Sollen wir Pulver holen, Kugeln gießen, abkochen für die Ankömmlinge? Alles das weiß der Bürger nicht, Excellenz, aber er hat ein Recht, von Denen es zu erfahren, die der König zurückließ an seiner Statt. Die müssen es wissen, Die uns vorangehen. Und Die und wir Alle haben die Verpflichtung, uns so zu zeigen, daß der Feind erfährt, er hat eine Stadt von Männern vor sich, nicht von Memmen.«
Gewirkt hätte die Rede, wenn nicht zwei Umstände die Wirkung paralysirten. Von draußen schrie es: »die Königin! die Königin flieht aus Berlin!« – »Die Königin redet zu den Bürgern!« Darauf eilten die Entschlossensten nach dem Palais. Vielleicht war dort Rath und Hülfe. Im hintern Hofe aber hatten Andere einen Reisewagen umgestürzt. Wo mischt sich nicht schlechtes Gesindel hinein, wenn der Patriotismus aufbraust! »Sie plündern! Herr Major, hindern Sie's! Man weiß nicht, was draus wird! – Es sind Soldaten dabei.« Es bedurfte für den Offizier kaum der Aufforderung.
Die Excellenz ließ ihren Wagen im Stich, sie hatte eine höhere Aufgabe, das Terrain war günstiger, die Haufen gelichtet, er glaubte geneigtere Gesichter zu sehen. Er war auf die letzte [765] Stufe in ihren Kreis getreten: »Mitbürger! Theuerste Freunde! Der Augenblick ist entsetzlich, aber lassen Sie sich von unruhigen Köpfen nichts aufreden. Hier ist nicht zu helfen. Der Himmel hat es so gefügt, wir müssen uns drein finden. Der mindeste Widerstand, irgend ein unruhiges Benehmen von Ihrer Seite könnte die schrecklichsten Folgen haben. Denken Sie an Ihre Frauen, Ihre Kinder, denken Sie an Wien! Wie ungnädig hat Seine Majestät der Kaiser Napoleon das trotzige Benehmen der Bürger aufgenommen. Er ist nun einmal der Sieger. Er wird ein großmüthiger Sieger sein, wenn Sie der Vernunft Gehör schenken. Seien Sie freundlich, seien Sie sehr freundlich gegen ihn. Ueberwinden Sie sich; wenn er einzieht, rufen Sie Vive l'Empereur. Ich weiß, es wird Ihnen schwer werden, aber der Mensch kann sich überwinden, meine Herren, der Mensch kann viel, wenn die Noth ihn zwingt. Recht friedlich, recht besonnen! Illuminiren Sie! Das wird ihn überraschen, sein Herz wird sich aufschließen. Liebe Mitbürger, hören Sie auf den Rath eines Mannes, der's mit Ihnen wohl meint, es ist nicht für mich. Bedenken, erwägen Sie, ich wiederhole es nochmals, wie schrecklich sein Zorn auf Wien fiel. Sie sind keine Wiener, Sie sind Berliner, und das Beispiel wird Sie lehren, daß eine männliche, ruhige Hingebung im Unglück es allein ist, die den Patrioten ehrt.«
In den Akten der Zeit wird man freilich diese Rede nicht aufgeschrieben finden. Aber man findet mehr – ein gedrucktes Aktenstück. An allen Straßenecken stand – an einem spätern Tage – folgendes Proklama und in den Berliner Zeitungen las man es am 21. Oktober 1806.
In dem Proklama hieß es:
»– Nur festes Anschließen an Diejenigen, welche das mühselige Geschäft übernehmen, die von einer solchen Begebenheit unvermeidlichen Folgen zu mindern, so wie die, mehr als jemals nöthig gewordene Ordnung zu handhaben, kann die schrecklichsten Folgen abwenden, welche der mindeste Widerstand oder irgend ein unruhiges Benehmen der Einwohner über die Hauptstadt verbreiten würde, und das noch neuerliche Andenken des Betragens, welches die Einwohner Wiens in einer ähnlichen traurigen Lage beobachtet haben, muß die Einwohner Berlins belehren: daß der Ueberwinder nur ruhige männliche Hingebung im Unglücke ehrt. – – – Ich ermahne Jeden (denn – hoffentlich werde ich es nicht nöthig haben zu befehlen) – – ruhig bei seinem Gewerbe zu bleiben, und alle Sorgen Denjenigen zu überlassen, welche sich rastlos mit seinem Wohl beschäftigen werden. Ich verbiete durchaus alles Zusammenlaufen, alles Schreien auf den Straßen, [766] alles öffentliche Theilnehmen an denen so verschiedentlich einlaufenden Krieges-Gerüchten; denn ruhige Fassung ist dermalen unser Loos, unsere Aussichten müssen sich nicht über dasjenige entfernen, was in unsern Mauern vorgeht; dieses ist nur unser einziges höheres Interesse, mit welchem wir uns allein beschäftigen müssen – – –
Berlin, den 19. Oktober 1806.
Fürst von Hatzfeld.«
Es mussten schon Flüchtlinge in der Stadt sein; vielleicht verbargen sie sich vor der Neugier oder dem Grimm des Volkes in den entfernteren Theilen. Aber das Volk suchte nach ihnen. Da hielt es eine staubbedeckte Reisekalesche an, und zwang einen Offizier herauszusteigen. Vergebens protestirte er, daß er die Schlacht nicht mitgemacht, nicht vom Schlachtfeld komme, vielmehr über Schlesien aus Oesterreich; der Wagen kam vom schlesischen Thor. Zum Gouverneur wollte er sich führen lassen, obgleich die Eskorte ihm unangenehm war, als Herr von Fuchsius ihm begegnete und von der verdächtigen Begleitung befreite.
»Zu spät!« – »Wieder zu spät!« erwiderte Eisenhauch und drückte die ihm entgegen gehaltene Hand. »Das ist mehr als Austerlitz.« – »Zum Gouverneur! Kommen Sie mit? – So lange die Möglichkeit da ist –« »Die Gewißheit!« unterbrach der Rath. »Auch Sie ohne Trost und Hoffnung?« – »Die Gesetze der Natur sind ewig. Die Kugel rollt nur, bis sie den Abgrund erreicht, und der Verbrecher bleibt nur ungestraft, bis sein Maß voll ist.« Welche fast lüsterne Freude glänzte auf Fuchsius' Gesicht, als er dem alten Bundesgenossen die Hand rasch zum Abschied gedrückt. »Wohin? Wohin?« – »Das im Kleinen thun, was Gott im Großen vollenden wird, wenn – auch da das Maß voll ist. Jetzt entlarven – ein Scheusal!«
Eisenhauch begriff ihn nicht. Wer konnte einer Bagatelle jetzt nachgehen! Das Reich der Pygmäen war ja aus. Er bedachte nicht, daß um deßwillen noch nicht das von Titanen beginnt. Er traf den Minister auf dem Flur – er kannte ihn, er wußte, was er unter andern Umständen von ihm erwarten durfte, aber jetzt. – Der Minister war zugleich preußischer Krieger, ein hoher General, er hatte einst ein Armeecorps kommandirt. Jetzt musste er den Zopf fortgeworfen haben, jetzt in Stahl und Eisen aufspringen, und wirklich der Minister schien erfreut, wie man erfreut ist nach einer guten That. Er erkannte sogleich den Freiherrn: »Gott sei Dank, mir gelang eben etwas, was von dieser Stadt eine große Gefahr abwendet.«
Da rückte Eisenhauch rasch in kurzen Worten mit seinen Anträgen vor: er bot seine Dienste an, er stellte sich zur Disposition, [767] wohin man ihn brauchen könne, er wollte noch mehr: einen unterwegs entworfenen strategischen Plan andeuten, wie man durch rasches Zusammenziehen der gebliebenen militärischen Kräfte und Benutzung der Lokalitäten Positionen einnehmen könne, nicht stark genug, um einem ernsten Angriff des siegreichen Feindes zu widerstehen, doch ausreichend, um die Hauptstadt vor dem ersten Anprall zu schützen, die zersprengten und flüchtigen Truppen aufzunehmen in Cadres, zu sammeln – als der Minister mit Entsetzen ihn unterbrach: »Sind Sie rasend! In ein brennend Haus sich stürzen! Wir – wir werben nicht – was neue Soldaten – sollen wir noch den Kaiser reizen! Wir können Gott danken –« »Wenn wir unser elendes Leben salviren,« rief eine stimme von der Hofthür her.
»Machen Sie sich aus dem Staube, liebster Freiherr Eisenhauch, verschwinden Sie, schnell, schnell, ehe ein Spion Sie erblickt. Gott sei Dank, mir gelang wenigstens eins: das Pulver ist aus Berlin, ehe er eintrifft. Er wittert überall Verschwörungen, Empörungen, Herr Gott, er hätte in Zorn gerathen können –«
»Ueber die Kreatur, die er zum Mann schuf, und sie ward ein Wurm!« rief eine Stimme und der alte Rittgarten hob seinen Stock. Es war ein erschrecken der Anblick, der Greis, der sichtlich auf den Füßen schwankte, seine Brust bebend, sein Gesicht vom Blutandrang geröthet, aber weiße, verrätherische Streifen zogen sich von der Nasenwurzel bis an die Mundwinkel. Seine Stimme polterte, aber die Laute waren nicht mehr artikulirt. Man konnte auf einen Schlaganfall aus Gemüthserschütterung schließen. Und den Stock in der Luft schwingend, drohte er das Gleichgewicht zu verlieren. Eisenhauch hatte ihn rasch unterfasst. Mit äußerster Anstrengung stieß der alte Krieger Worte vor: »Fluch – über die Verräther! – Diese Sykophanten an Friedrichs Thron, die sein Volk für nichts achteten – sie werden die ersten sein – die ihm die Füße lecken, dem neuen Herrn – Stempelt diesen, zeichnet ihn, daß man ihn wieder erkennt, – er wird die fremde Livrée tragen. – O fort, – hinaus, die Luft hier erstickt.«
Rittgartens Stock hatte den Minister nicht getroffen, aber sein Blick und Wort. Er war verschwunden, in der nächsten Stunde auch aus Berlin. Die Prophezeiung des Sterbenden ging in Erfüllung. Der Minister – aber er nicht allein – ließ wenig Monate darauf sich ein neues bordirtes Galakleid anmessen; er antichambrirte im Ministerrock des Königs von Westphalen, so stolz und aufrecht, die Brust so reich geschmückt, und er sah so gnädig und herablassend auf Niedere, als damals, wo er nichts war und sein wollte, als ein treuer Diener seines Herrn, des Königs von Preußen. Kleider machen Leute, sagt das Sprüchwort, aber nicht [768] auf Alle passt es, denn in der Politik giebt es Männer, für die alle Kleider passen.
Ein Sterbender war der Major Rittgarten. Er athmete draußen noch einmal die freie Luft, er schien Eisenhauch zu erkennen, er erschrak nicht. Der führte ihn, den er einst auf Tod und Leben gefordert. Ein Anderer hatte die Loose geworfen, eine andere Hand die Kugel abgedrückt. Aber da lief ein Mann mit Pinsel und Zettel heran und klatschte ein Plakat an die Thür. Als er das gelesen, zitierte er zusammen, Eisenhauch fühlte eine Erschütterung in den Gliedern des Greises. Auf dem Plakate standen die Worte:
»Der König hat eine Bataille verloren. Seine Majestät und dessen Brüder, Königliche Hoheit, sind am Leben und nicht verwundet. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Ich bitte darum.
Schulenburg.«
»Es wird besser,« antwortete Rittgarten auf des Majors Frage, der Hülfeleistende heranwinkte. »Ja, es wird besser, es muß besser werden,« rief Eisenhauch. »O mein Gott, mein Vaterland!« – »Er kann nicht mehr allein stehen,« sagte Jemand. »Preußen!« athmete der Sterbende, an des Freiherrn Brust sinkend – es war sein letztes Wort. »Kann nicht mehr allein stehen,« wiederholte Eisenhauch dumpf. »Es hätte nicht allein stehen dürfen ohne Deutschland.« Der Schlag hatte den Invaliden getroffen.
* * *
Im Trauerhause, dem Hotel des Minister gegenüber, hatte auch ein Schlag getroffen. Die Baronin lag auf ihren Knieen am Bette, ihr Gesicht verbergend. Gott verzeih ihrer Seele, wenn sie nicht für die des Mannes betete, der eben, nach furchtbaren Konvulsionen, sanft entschlummert war. Warum war's eine Sünde, wenn ein edles Weib in ihrem Gebet an eine andere Seele dachte, wenn sie für diese um Vergebung flehte. Der Todte vor ihr hatte nie Jemand getäuscht, was er war, hatte immer zu Tage gelegen, der Richter überm Sternenzelt kannte ihn und würde nach seinem Werth oder Unwerth das Urtheil fällen. Aber die Seele des Einen war mit einem Fleck dahin gegangen. Ein einziger Fleck hatte die reinste Seele getrübt, und ehe er sich verantworten können, hatte das blitzende Schwert den Helden niedergeschmettert. Wußte sie, in welchen Aengsten, daß er Keinen hatte, dem er beichten, gegen den er sich von dem einzigen Fehler, der ihn drückte, entlasten konnte! Und war es denn eine Sünde, hatte er nicht wissen können, daß sie gern Alles für ihn hingab, daß sie mit Freuden seine Schulden bezahlt hätte, wenn er sich nur an sie gewandt![769] War das nicht edel, daß er es nicht gethan! Nur in einem schwachen Augenblick hatte er sich verführen lassen, auch nur vielleicht in Betreff des Wucherers, der ihn aus der Noth ziehen sollte. Und darum auf ewig verdammt! Nein, wenn Einer, er bedurfte des Mitleids. Und sie hatte zum Vater, von dem alle gute Gaben kommen, gebetet, daß er Dohleneck vergebe. Da war sie, fast erheitert, aufgestanden, sie hatte des Todten Hand gedrückt, auch er würde im Leben nichts dagegen einzuwenden gehabt haben, und in stiller Fassung saß sie im Lehnstuhl, die Augen schließend, als ein heftiger Schrei sie aufschreckte. Der Legationsrath, der, um Nachricht, ob Gefahr sei, einzuziehen, sie verlassen, war zurückgekehrt, er hatte sich über das Bett geworfen, der stöhnende konvulsivische Schrei kam von ihm.
»Da ist ein edler Freund mir hingegangen. Er da oben nur weiß, was er mir war!« rief er, sich erhebend, die Hände über's Gesicht deckend. – Nur auf kurze Sekunden. Den nächsten Augenblick beugte er sich über die Wittwe, sie fühlte einen langen Kuß auf ihre Stirn gedrückt: »Das ist der Bruderkuß, der Schwester gegeben. Die Sterne wollen es so. Edler Todter, Deine Seele blickt auf uns, aber ich sehe Dich ruhig lächeln, denn Du weißt, daß ich Deine heiligen Pflichten gegen Dein Weib erfüllen werde. Durch diesen Kuß besiegle ich mein Gelöbniß.«
Sie war vorhin überrascht worden, jetzt, als seine Lippen sich ihr näherten, stieß sie ihn zurück. Sie wollte sich auf die Leiche werfen, aber mit eben solcher Entschlossenheit riß er sie am Arme zurück: »Unglückselige! Wissen Sie, was Sie thun? Er ist an der Cholera gestorben. Sein Hauch ist Pest. Er muß noch heut unter die Erde.« Er stand gebieterisch zwischen ihr und der Leiche. Ehe sie Zeit zu antworten hatte, führte er sie schon, halb zwang er sie an den Schreibsekretär: »Schnell, keine Minute verloren! Ihre wichtigsten Papiere, Kleinodien, was Sie an Geldeswerth fassen können – in einen Kasten, was es ist. Ich besorge mit Ihrem Kammermädchen die nöthigsten Kleider. Der Wagen rollt vor –« »Was ist's, mein Herr!« – »Sie wissen nicht! In einer Viertelstunde spätestens müssen wir fort. Auf der Schöneberger Höhe sieht man schon die Avantgarde. Alles flieht, wer nur Pferde auftreibt. Die Königin beinahe in Lebensgefahr. Sie wird jetzt schon aus dem Thore sein. Gestreckter Galopp. Die Franzosen werden plündern, vielleicht die Stadt in Brand stecken. Napoleons Wuth ist unaussprechlich. Nur keine Frauen zurückgelassen, ruft es durch alle Straßen. Sie mißhandeln – Ihre Brutalität ist ohne Grenzen. Unglücklich Weib! Keinen Augenblick verloren!«
Er hatte den Sekretär aufgerissen. Mechanisch folgte sie seinem Befehl; sie hatte keine Luft, keinen Athem zum Denken, [770] zum Erwägen. Das Rädergerassel draußen, das Stimmengewirr unterstützten, was Wandel sagte. Eine Chatoulle war in lautloser Angst gepackt. »Nur nichts Unnützes!« rief er, als sie ein Pack eröffneter Briefe hineinwerfen wollte. »Wozu sich mit Erinnerungen beschweren! Nur nichts hinter uns.« Die Briefe fielen zerstreut auf die Tischplatte. Sie ließ Alles geschehen in sprachloser Erstarrung. Da nahm er einen: »Ah, Dohlenecks Hand. Selig sind die Todten, aber sie haben nichts zu schwatzen.« Ehe sie es hindern konnte, hatte er den Brief in kleine Stücke zerrissen. Aber sie hatte den Blick gesehen, der auf das Papier schoß, die Freude, die aus seinen Augen blitzte – es war eine ganz eigenthümliche Freude – das Weiße des Auges verzog sich, er kniff die Unterlippe mit den Zähnen ein. Da blitzte etwas in ihr; es war, als ob ein Vorhang riß. Einige Schritte zurückfahrend, maß sie ihn von Kopf bis zu Fuß. Es war ein fürchterliches Licht, das in ihr aufschoß. Ihr Gesicht röthete sich, ein Strahl von einer Freude schoß darüber, während sie unwillkürlich die weißen Zähne zeigte, und die Finger der schönen Hände sich krümmten. »Warum vernichten Sie gerade den Brief?«
»Weil – weil ich im Interesse dieses heiligen Todten seiner Wittwe Erinnerungen sparen will, die den Seelenfrieden einer treuen Gattin trüben könnten.«
Der imponirende Ton verfehlte seine Wirkung. Ein krampfhaftes Lachen erheiterte ihre Brust: »Falsch! es ist Alles falsch an Ihnen – jetzt – ich – ahne – Sie sind ein Mensch, dem Niemand trauen durfte – o mein Gott! – und da der todte Mann – Wer schützt mich!«
Wir zweifeln nicht, daß der Legationsrath auch jetzt noch Mittel gefunden – wenigstens würde er danach gesucht haben, das Mißtrauen der Wittwe zu beschwichtigen, wenn sein Blick nicht plötzlich durch einen Gegenstand an der Thüre absorbirt worden wäre. Es lag in der Natur der Dinge, daß, nachdem durch die Diener die Nachricht von dem Tode des Barons bekannt geworden, eine Anzahl Freunde, Angehöriger und Theilnehmender sich in das Haus drängte. Eben so natürlich war es, wenn bei der obwaltenden Krisis Einige unangemeldet in das Zimmer drangen, zur Förmlichkeit eines Trauerbesuches war nicht mehr Zeit. Wandel glaubte, als die Thür aufgerissen ward, den rothen Kragen eines obern Polizeibeamten entdeckt zu haben. Der war zwar noch nicht eingetreten, aber wie aus einer geöffneten Schleuse ergossen sich Nachrichten, die ihm nicht alle angenehm waren. Dem »Wissen Sie schon?« der und jener Freundin folgte eine Reihe von Unglücksfällen und eine Todtenliste.Der ist erschossen, der gefangen, der niedergehauen! Rittmeister Dorville schien die Pandorabüchse, welche [771] alle diese Hiobsposten ausgeschüttet hatte. »Sah er auch den Major Dohleneck fallen?« fragte sie sich selbst überwindend die Baronin schüchtern. »Den hat Dorville selbst gesprochen.«
»Gesprochen! eh' er fiel?« – »Nur verwundet, aber nicht schwer. Er ist ranzionirt, oder losgegeben, er kommt direkt nach Berlin, nur darf er nicht mehr dienen in dem Kriege.« Wandel hatte nicht mehr Zeit den Blick zu sehen, den ihm Auguste Eitelbach zuwarf, ein triumphirender, durchbohrender Blick. Er sah auch nicht, wie ihre Brust sich hob, wie tief sie Athem schöpfte, um dann aus dem Stuhl zusammenzusinken, ihre Hände zu falten und ihr Gesicht zu verbergen. Der junge Mensch, den wir am Morgen bei Fuchsius sahen und den er Eckard nannte, hatte sich hinter ihn geschlichen und ihm zugeflüstert: »Es will Sie draußen Jemand sprechen.« Wandel fixirte den Menschen, ob er ihn einer Antwort zu würdigen habe, als sein Auge auf Fuchsius fiel, der unbeweglich an der Thür stand. »Ah, ein alter Freund!« sagte er. »Das glaube ich nicht,« entgegnete der junge Mensch.
In dem Augenblick öffnete sich die Thür und ein Polizei-Inspektor schritt zum Befremden der Anwesenden auf Wandel zu, und sprach mit tönender Stimme: »Auf Requisition des Tribunals der Seine zu Paris, und auf ausdrückliches Ansuchen des Kaisers der Franzosen durch seine vormalige Gesandtschaft hier verhafte ich Sie.«
Todtenstille. Wandel erblasste, doch nur auf einen Augenblick: »Das ist ein Mißverständniß!« er knöpfte sich zu, verbeugte sich leicht gegen die Anwesenden und folgte rasch dem Inspektor. Hinter ihm schnitt ein greller Pfiff durch die Luft. Der junge Vigilant hatte sich einen Spaß gemacht. Er schien ihn fortzusetzen, indem er beim Hinausgehen zu einem Angehörigen des Hauses sagte. »Sehen Sie nur im Sekretär nach, ob da nichts fehlt.«
Der Inspektor brachte den Gefangenen in ein abgesondertes Zimmer zu flacher Erde, bis der bestellte Wagen ankam. Fuchsius Gesicht war undurchdringlich geblieben, als Wandel an ihm vorüberging. Das des Polizeimanns versprach ihm vielleicht mehr, als er mit verschlungenen Armen ihn beweglich anblickte: »So will man mich wirklich ausliefern – auf Requisition des Napoleonischen Gerichts?« – »Sie hörten es.« – »Wissen Sie, was mit mir geschieht? In vier und zwanzig Stunden bin ich erschossen. Ich wusste um eine Verschwörung gegen Bonaparte's Leben, ich war vielleicht selbst dabei implicirt. Der Kaiser weiß es; mein Loos ist entschieden. Ist Ihre Regierung so verzagt, mich ihrem Feinde auszuliefern, weil er droht, so sind vielleicht doch noch Patrioten im Volke, die den Vortheil ihres Vaterlandes und ihren eigenen bedenken.« Der fatale Pfiff des Vigilanten antwortete von draußen. Der Inspektor erwiderte ruhig: »Sie sind wegen Giftmordes [772] verhaftet.« – »Das ist eine andere Sache,« hatte Wandel auch ruhig erwidert und sich nach dem Fenster gewandt.
Nach einer kleinen Weile trat Herr von Fuchsius ein. Wandel begrüßte ihn höhnisch: »Ich gratulire, Ihr Staat macht noch in seinem Untergang Progressen zur Gesetzlichkeit. Als wäre ich in dem glücklichen England, hat man mir so eben das Verbrechen benannt, um was man Lust hatte, an mir einen Justizmord zu begehen. Ich danke Ihnen aufrichtig, Herr Regierungsrath, für die Berücksichtigung, da ich weiß, daß ich nach der alten Observanz sehr wohl ein halbes, auch Jahre in Ihrem freien Quartiere schmachten können, ohne mit einer Sterbenssilbe zu erfahren, was mir die Ehre verschaffe.«
»Guido Florestan Baron Vansitter, genannt von Wandel!« redete Fuchsius ihn an. Er irrte, wenn er auf eine Bestürzung des Gefangenen gerechnet hatte. Nur ein moquanter Zug schwebte, um die Lippen desselben, als er erwiderte: »Ich bedaure die Mühe, die es Ihnen machen wird, meine Identität mit der meines genannten Vetters herzustellen. Die meisten Zeugen sind gestorben; bis Sie die überlebenden auftreiben und nach Berlin schaffen, darüber können Jahre vergehen. Der Untersuchungsrichter hat ein saures Geschäft, mein Herr von Fuchsius, wenn er Inquisiten vor sich hat, welche die Gesetze, die Menschen und ihre Inquirenten kennen. Aus persönlicher Freundschaft und Respekt vor Ihrem Charakter würde ich Ihnen rathen, die Untersuchung abzugeben. Sie erscheint Ihrem Ehrgeiz lockend, ich versichere Sie aber, ich ärgere Sie zu Tode.«
»Aus Respekt vor Ihrer Bildung, und nur darum, habe ich zwei Worte mit Ihnen allein zu reden.« – »Allen Respekt vor Ihrer Versicherung, aber ich glaube Ihnen nicht, weil die Pflicht der Selbsterhaltung mir gebietet. Ihnen zu mißtrauen. Allein Ihnen, was Sie wünschen, aber vorher die Gewißheit, daß hinter der Tapete kein Protokollführer lauert.« – Wandel schien sich diese Gewißheit verschafft zu haben: »Was steht zu Ihren Diensten?« – »Führen Sie Gift bei sich? Ich meine Mittel, die es Ihnen ermöglichen, sich der Schande und der weltlichen Strafe Ihres Richters zu enziehen? Es ist meine Pflicht, mich davon zu vergewissern.«
»Soll ich Ihnen mit Macbeth antworten:
Weshalb sollt' ich den röm'schen Narren spielen.
Sterbend durchs eigne Schwert? So lange Leben
Noch vor mir sind, steh'n denen Wunden besser.
So lange ich athme, will ich von dieser süßen Gewohnheit des Daseins nicht lassen. Besser Kerkerluft und schimmliche Brodrinde, [773] als schwimmen ein Atom im grauen Nebel der wesenlosen Leere. Nein, da beruhigen Sie sich, Sie sollen mich als Epikuräer kennen lernen. Ich wollte Viel, ich lasse mich aber auch genügen am Wenigen. Die Welt ist ein Kerker, warum sollte nicht der Kerker zur Welt werden für Den, der noch Lust am Leben hat! Ich gebe Ihnen mein Wort, ich werde mich vertheidigen – besser als Ihr Staat gegen seinen Ueberwinder. Gewissermaßen soll jetzt mein Leben erst anfangen. Sie kennen mich doch einigermaßen, und wissen, wie ich in die Schranken trat. Man meinte, ich war ein glücklicher Advokat, ich setzte manches durch, noch mehr wandte ich ab. Alles für Andre! Nun, mein Herr, jetzt gilt es für mich selbst. Werde ich mich schlagen, wie Ihre Soldaten, für Kommisbrod, aus Furcht vor dem Korporalstock? Nein, wie der Pirat, den die Fregatten eingeholt. In dem Todeskampfe siegt er wohl zuweilen gegen die Uebermacht. es kommt öfter vor, daß er die Verfolger mit sich in die Luft sprengt. O, es soll ein Kampf werden, auf den ich mich freue; eine Beschäftigung für den Geist, wie ich sie wünsche. Sperren Sie mich in den engsten Kerker; je kleiner der Kessel, um so größer die Expansionskraft des Gases. Mein Kompliment Ihnen, ich weiß, wen ich vor mir habe: keine plumpe Kriminalspinne, die außer ihrer Aktenhöhle, blödsichtig, nicht um sich weiß, nein, einen feinen Welt- und Lebemann, der mit seinen Kenntnissen und psychologischen Erfahrungen mich umgarnen und harmlos saugen möchte. Grad auf solchen Gegner freue ich mich. Ich schätze Sie. Wir wollen uns in Minen und Contreminen begegnen. Das wird meinen Geist frisch erhalten; das erfrischt auch das Blut; weit mehr, als die körperliche Bewegung. Ich werde ein gesunder Gefangener bleiben. Auch Sie sollen Ihre Freude an mir haben. Ein Inquisitor verliebt sich am Ende in seinen Inquisiten – er sehnt sich in der Nacht auf den nächsten Morgen, wo er ihn wieder erblickt –«
»Bis er ihn an einem Morgen dem Richter abliefert, der ihn nicht zurückliefert.«
»Das bilden Sie sich ja nicht ein. Sie meinen das Schaffot. Was wollen wir wetten? Auf's Schaffot bringen Sie mich nicht. Ich kenne Ihre Gesetze, die Ansichten Ihrer Richter. Höchstens, wenn Alles gut geht, nämlich für Sie, eine außerordentliche Strafe. Zehn, fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahr Gefängniß. Die ganze Welt ist ein Gefängniß; wie angestrichen, schwarz-weiß, blau, grün, schwarz-gelb, das ist am Ende gleichgiltig. Ja, wenn Sie mich nach Frankreich auslieferten, das wäre eine andere Frage, vor den Geschwornen, da hört unsre Logik auf. Aber Sie sind ein zu guter Patriot, und die Sache ist doch auch für Sie zu interessant, um sie aus der Hand zu geben.«
[774] »Der Baron Eitelbach ist nicht an der Cholera gestorben.« sprach Fuchsius, ihn fixirend. »Dann wäre es mir doch sehr interessant, zu erfahren, was man bei ihm finden wird! – Nichts Mineralisches, darauf können Sie sich verlassen,« – sprach Wandel mit höhnisch freundlicher Stimme, indem er die Frechheit hatte, dem Rath dabei sanft auf die Schulter zu klopfen. »Scheusal!« rief dieser zurückweichend.
Der Wagen, der Wandel nach dem Gefängniß schaffen sollte, war vorgerollt. An der Thür wandte Fuchsius sich noch einmal um:
»Herr von Wandel, es ist möglich, daß Sie Recht behalten, daß die Gerichte mit ihren groben Werkzeugen nicht in alle verborgenen Winkel Ihrer Verbrechen dringen, ich aber habe die volle moralische Ueberzeugung. Um deshalb werde ich die Untersuchung vielleicht einem unbefangenern Richter abgeben. Hier aber, vor Gott, vor der Ewigkeit, oder, wenn Sie wollen, vor der wesenlosen Leere, deren Annahen Sie grauen machte, möchte ich in Ihre Seele schauen und eine Frage thun –«
»Deren Inhalt ich mir denken kann. Geben Sie sich nicht die fruchtlose Mühe. Nur ein Wort. Nicht wahr, vor dieser Ihrer moralischen Ueberzeugung bin ich ein gräßlicher Verbrecher, weil – weil ich mit Menschenleben gespielt habe, das nehmen Sie an, zu meinem Vortheil, der Wißbegier, des Vergnügens wegen, was es sei. Nun blicken Sie um sich, links und rechts, in West und Ost, in Nord und Süd, auf die großen Spieler. Die haben gespielt und spielen fort, mit tausenden, mit hunderttausenden von Menschenleben, und ich kleiner bescheidener Bankhalter! – Ja, die haben Motive, antworten Sie, Menschenliebe, Allgemeinwohl, Religion, Freiheit und Gleichheit, Thron und Altar, Sitte und Nationalität – Herr, wer sagt Ihnen, daß ich nicht auch Motive habe, Ideen, vor denen alle Rücksichten schwinden müssen? Kann ich sie nicht auch überkleistern mit Goldschaum und Tugendfloskeln? Das wahre Motiv, Herr, das ist überall dasselbe: der Größere frißt den Kleinern, wenn er Appetit hat und sein Magen es verträgt, und der Unterschied ist nur der: die großen Verbrecher kommen in die Geschichtsbücher und wir kleinen irgendwo in ein Kriminalregister. Wenn der Wurm auf uns Mahlzeit hält, ist's uns Beiden gleichgültig, ein Stein ist mir vom Herzen gewälzt, ein Quell sprudelte in der Wüste –ich habe nichts mit der verfluchten Politik zu thun. Dieser Verstellung, dieser Heuchelei, für Andre denken, fühlen zu sollen, bin ich quitt. Mögen sie sich todtschlagen, betrügen, verreden, glorificiren, wie sie Lust haben, mich kümmert's nicht mehr. Von nun an bin [775] ich wahr, ja, mein Herr, ich fühle ganz die Seligkeit der Wahrheit, ich athme, kämpfe, lebe nur für mich.«
Die Gerichtsdiener waren eingetreten. »Haben Sie mir nichts mehr zu sagen? Wir sehen uns wahrscheinlich zum letzten Mal.«
»Das würde ich aufrichtig bedauern.« – »Nicht die Baronin Eitelbach, deren –« »Deren Glück ich gemacht, wollen Sie andeuten,« lachte Wandel auf. »Wider Willen allerdings, wenn es wäre! Wenn ihre Wunden und seine Wunden geheilt, die Trauermonate mit honetten Thränen anständig verweint sind, wird sie ihn heirathen, und wenn ich an das Glück dieser geistreichen Ehe denke – wahrhaftig, dann wird mein Gefängniß mir noch einmal so interessant erscheinen.« – »Und keinen Wunsch mehr?« – »Nur eine Bitte. Haben Sie die Güte und empfehlen mich der Frau Geheimräthin Lupinus. Ich traue ihr zwar zu, daß wenn sie von dem Evenement hört, eine kleine Schadenfreude in ihr aufblitzt. Warum nicht, sie bleibt doch eine charmante Frau. Wir verstanden uns, es war eine wirkliche Sympathie. Durch Mauern und Räume getrennt, werden wir noch mit einander leben, eine platonische Ehe; um so sicherer, denn unter einem Dach hätte sie mir doch vielleicht, aus Rache oder Liebe, einen ihrer Tränke gereicht, die für meinen Geschmack zu stark sind. Es hat sich so besser gefügt.«
* * *
Die Kutsche mit dem Gefangenen musste oft anhalten. Wagen, schwer rasselnd unter starker Militärescorte, versperrten die Straße. Es waren die Kassen, welche der neue Minister fortschaffen ließ. »So wird doch etwas gerettet,« murmelte der Transportirte. »Und wenn Preußen sagen kann: Tout est perdu, sauf l'argent, ist's am Ende ein Anfang zu einer neuen Existenz.« Walter van Asten gab aus dem Fenster des Ministers den Kommandirenden beim Transport Anweisungen. Auch der Geheimrath Alltag schien unter Denen, welche auf ihn hörten. Wandel, der den Zusammenhang gefasst, lächelte: »Die Welt dreht sich um: das kann was werden! Wer Geld bringt, kann eine Karriere machen. Die beste freilich wäre es, wenn der junge Mensch damit nach Amerika liefe.«
Walter, der sich dem Auftrage des neuen Ministers mit Eifer unterzogen, war gekommen, um seinen letzten Bericht abzustatten. Er hoffe das Geld mit sichern Renten an den Ort seiner Bestimmung abzuliefern, aber – sein Bericht über die Volksstimmung war traurig, er hegte keine Hoffnungen, nach dem, was er gesehen, gehört. »Wie Jeder beobachtet.« sagte der Bankodirektor Niebuhr der ebenfalls vom Minister Abschied nahm. »Niemand [776] kann an allen Orten zugleich sein.« »Diese jubelnden Tramknechte, diese gepressten Bauernbengel die froh sind, dem Stock und der Fuchtelklinge einmal entlaufen zu sein, sind freilich so wenig das Volk, als da die zitternden Käsekrämer und Schnittwaarenhändler,« hatte der Minister nachdenkend erwidert.
»Und doch, Excellenz,« fiel Niebuhr ein, »auch unter ihnen regt sich schon eine andere Stimmung. Ich lernte, wie Sie, dies Volk erst kennen. Aber wenn Sie es jetzt kennten, wie ich, Sie würden es Ihrer Liebe werth finden. Ich habe in diesen Tagen nirgend mehr so viel Kraft, Ernst, Treue und Gutmüthigkeit zu finden erwartet. Von einem großen Sinne geleitet, wäre dieses Volk immer der ganzen Welt unbezwingbar geblieben, und wie sturmschnell auch die Fluth unser Land überschwemmt, noch jetzt drängte ein solcher Geist sie wieder zurück. Aber wo ist er, der große Geist, der es vermöchte!« 1
»Er wird erscheinen,« rief der Minister und seine Stirn leuchtete, indem er Niebuhrs Hand drückte, die andere reichte er Walter. »Warum sollen nur die Völker des Alterthums ihren Phönix haben! Ist das Christenthum nicht basirt auf dem Mysterium der Wiedergeburt! Sollten nur die germanischen Völker bestimmt sein, auszugehen und überzugehen in andre! Ich glaube an den Phönix, aber der Scheiterhaufen ist noch nicht hoch genug. Es muß noch vieles Morsche, Faule, Wurmstichige darin verbrennen, viel mehr, als wir wähnten, vieles, was wir gestern noch für gesund hielten, vielleicht was uns das Liebste und Theuerste war. Leben Sie wohl, meine Freunde, wir sehen uns wieder, wenn noch nicht in besserer Zeit, doch in einer, wo wir wieder hoffen dürfen.«
In den Geschichtsbüchern steht, und es ist daraus nicht wegzulöschen, daß viele der gutgesinnten Bürger Berlins die Mahnung jenes Ministers befolgten. Sie schickten sich in die Zeit, denn es war böse Zeit. Sie schwenkten die Hüte vor dem einziehenden Napoleon und riefen Vive l'Empereur, und illuminirten ihre Häuser, daß der Kaiser selbst in jene Worte der Verwunderung, und der Schmach ausbrach, die wir nicht wiederholen wollen. Aber es gab Männer und Frauen auch, welche das Uebel beim rechten Namen nannten, und nicht erschraken, wenn es ihnen ein böses Gesicht machte. Diese Einigen waren die Kieselsteine, an denen der Stahl Funken schlagen sollte, aus denen der stille Brand ward, welcher später zum allmächtigen Feuer aufloderte. Gut Ding will Weile im deutschen Lande. Viele hat die Geschichte genannt, oder fängt jetzt an, ihre Namen zu nennen, aber wie viele[777] sind schlummern gegangen, auf ihren Grabsteinen wächst Moos, und die Geschichte kratzt es nicht mehr ab, um von ihrem stillen Wirken Zeugniß zu geben. Da darf die Dichtung, die so viel Trauriges und Schlimmes nicht verschweigen durfte, auch an den einzelnen Muthigen erinnern, und wo wir solche Bilder muthloser Zerschlagenheit aus der preußischen Hauptstadt hinstellen mussten, um wahr zu sein, wird es zur Pflicht auch einiger Züge zu gedenken, die schon wie das ferne Wetterleuchten einer besseren Zeit am Horizont erscheinen:
Da stand eine Deputation vor dem Gewaltigen, und er erwartete stammelnde Unterwürfigkeit, Bewunderung und demüthiges Flehen. Er konnte es erwarten nach dem, was vorging. Aber Einer im Priesterkleide trat vor und sprach: »Sire, ich wäre nicht werth des Kleides, das ich trage, des Königs, dem ich diene, des Wortes, das ich verkündige, wollte ich nicht bekennen, ich sehe – Eure Majestät nicht gern in Berlin.« – Was Napoleon erwidert, haben die Kinder der Zeitgenossen vergessen, aber im Verlauf des lebhaften Gesprächs, worin der kühne Mann den Sieger fragte, ob er denn in der Geschichte lieber als ein Räuber dastehen wolle, denn als ein christlicher Herrscher, trat der alte Erman plötzlich herzhaft auf den Kaiser zu, fasste seinen Arm, schüttelte ihn und sagte: »Ce bras victorieux sera bienfaisant!« Es wird erzählt, Napoleon sei erschrocken zurückgetreten. Das hätte er aus Berlin nicht erwartet. Später habe er zu seinen Adjutanten geäußert: »quel géant que ce vieux druide! Jamais prêtre ne m'a dit cela.«
Erman, so weiß man, aber nicht aus dem Munde des bescheidenen Mannes, der selten davon sprach, wußte das Gespräch, als Napoleon eine gnädige Miene annahm, auf die Königin Louise zu lenken. Als warmer Lobredner der erhabenen Tugenden seiner Monarchin habe er versucht, die böse Meinung oder den bösen Willen des Kaisers zu beschämen. – Darüber ruht ein Schleier, den Niemand lüften wird. Nach der Rückkehr des Königspaares nach Berlin überreichte die Königin selbst Erman die Dekoration, welche der König ihm verliehen, mit der Anrede: Mon chevalier!
Der vor Kurzem verstorbene Sohn jenes alten Erman, der auch wieder der alte Erman genannt ward, der berühmte Professor und Chemiker, schrieb in einem Briefe an eine Verwandte zur Zeit der Mobilmachung im Herbste 1850: »Ich denke jetzt oft an die Worte, die Napoleon an meinen Vater richtete: Votre reine m'a fait une guerre de petit fille et de petit garçon. Schon sieben Jahre später waren die Kinder der Knaben zu den Männern der Katzbach und von Leipzig erwachsen!
[778] Eine andere Deputation berief später der zürnende Kaiser nach Paris. Es waren Männer des Gerichts, eines hohen Tribunals, das gewagt, ein Urtheil zu fällen, welches dem Gewaltigen nicht gefiel. Sie hatten Einen, der von Paris aus verfolgt ward, freigesprochen, und Napoleon wollte ihn verurtheilt wissen. Napoleon donnerte sie an und schloß mit der Drohung, wenn der Fall wieder vorkäme: Je vous fusillerai!« Der Präsident des Tribunals erwiderte dem Imperator: »Sire, vous fusillerez la loi.« Napoleon leitete gegen ihn ein Disziplinarverfahren ein. Der Mann Rechtes, der die männliche Antwort gab, hieß Sethe.
Ob der Fall in unsere Geschichte gehört? – Er geht über sie hinaus. Wandel ward von Paris aus verfolgt, das preußische Gericht fand aber die Beweise nicht zur Ueberzeugung geführt. Auch in Bezug auf seine Verbrechen in Berlin hatte Wandel gegen Fuchsius richtig vorausgesagt. Trotz der moralischen Ueberzeugung, welche das Gericht gewann, genügten die Beweise nicht, um gegen ihn die letzte Strafe zu diktiren. Er büßte, wie die Lupinus, für seine schweren Verbrechen nur durch eine lange Freiheitsstrafe. Beide überlebten sogar ihre Strafzeit.
Viele von den Personen, die wir hier vorgeführt, haben auch den Tag überlebt, mit dem wir unsere Geschichte beschließen, es wäre sogar möglich, daß sie noch heute leben. Wenn sie die Theilnahme unserer Leser sich erwarben, wäre es möglich, daß wir auch von ihren ferneren Schicksalen Kunde gäben, denn es ist viel vorgegangen seit fünfzig Jahren und heut.
* * *
Das war der traurigste Auszug, den je Berlin gesehen. Selbst der Jubel des Volks, als die Wagen der Königin vorm Schlosse hielten, um Wäsche und das Nöthigste zu einer Reise ohne Ziel einzunehmen, war herzzerreißend für die hohe Frau. Sie hatte nicht Worte, nur Thränen. Dann die Straßen, die Tausende, die dem Wagen folgten, die zum letzten Mal die geliebte, schöne, milde, bürgerfreundliche Königin sehen wollten. Auch da schrien Viele, sie wollten ihr Gut und Blut lassen, man solle sie nur rufen. Wassollte Louise antworten! – Auf Wiedersehen, auf Wiedersehn! schluchzte es aus den Fenstern. Waskonnte sie darauf antworten! Die Fenster alle aufgerissen, überall Kopf an Kopf, Tücher wehten und Tücher trockneten die Augen. Sie konnte nicht mehr hinauswehen, sie lehnte sich erschöpft zurück. Und doch fielen ihr zwei stattliche Häuser auf, da war es still, die Fenster, auch hie und da die Laden, waren geschlossen. Die Blicke ihrer Begleiter sahen mißvergnügt dahin. Die milde Fürstin sagte: »Gewiß sehr[779] Kranke!« – »Da wohnt der Geheimrath Bovillard,« sagte die Hofdame verlegen, »er soll in der That krank sein!« Die Königin schütterte zusammen und fragte nicht mehr, auch nicht, wer in dem andern Hause wohne? Der Adjutant zu Seiten des Wagen flüsterte der Voß zu: »'S ist doch unglaublich vom Grafen St. Real. Er hat Angst, daß Napoleon es ihm übel vermerken könnte.« – »Aber ein nobler Kavalier sonst,« bemerkte die alte Gräfin. »Auch ein Kranker,« sagte sie zur Königin.
Da war die Straße gesperrt in der Nähe des Doms. Ein Hochzeitszug kam aus der Kirche. Die Leute lachten, die Straßenjugend war sogar sehr laut; sie machten ihre Glossen zum Brautpaar. Auch die Kassenwagen hatten hier Halt machen müssen, und Walter war mit dem Geheimrath Alltag aus dem Wagen gesprungen, nicht aus Theilnahme für die Hochzeitleute, sondern weil Jeder den Augenblick nutzen wollte, um Abschied von einem Angehörigen zu nehmen. Walter presste seinen Vater an die Brust: »Ich suchte Sie vergebens in – Ihrem Hause. Aber, was bedeutet das, die Siegel waren abgenommen?« – »Freude, mein Sohn, es können ja nicht Alle trauern. Die Welt ist ein großes Kaufmannsspiel: wenn Viele verlieren, müssen doch Einige gewinnen, wo bliebe es sonst! Der Rothwein steigt, die Häfen werden gesperrt. Er ist schon gestiegen. Gestern bot man mir zehn Prozent über den Einkauf, heute zwanzig, wenn die Franzosen da sind, bieten sie funfzig. Soll ich mich freuen, daß die Franzosen da sind, oder soll ich weinen, daß unsre Junkeroffiziere Schläge bekommen haben? Dein Vater ist ein reicher Mann, er hat Kredit, Freunde überall, die ihm längst hätten helfen wollen, wenn sie nur gewusst, daß er in Noth war. Nicht wahr, die Menschen sind doch besser, als wir denken, wir merken's nur nicht! Lebewohl, mein Junge, behalt' im Gedächtniß, daß der beste Rechner oft die größten Fehler macht. Wer weiß, wenn der Bonaparte mal 'ne Null zu viel schreibt! Drum rechne nicht zu viel, schone Dein Leben, denn Du musst rechnen, daß Du wieder eines reichen Mannes Sohn bist und sein Erbe; und Minchen Schlarbaum, vor der brauchst Du Dich nicht zu fürchten, wenn Du wiederkommst, sie wird wohl den Herrn Fuchsius heirathen. Drum bleibe meinethalben romantisch, hast Recht, ich muß ja jetzt auch romantisch sein, auf jeden Fall aber bleibe – ein Patriot!«
»Platz!« rief es, der Hochzeitszug bewegte sich fort. Aber als der Geheimrath Lupinus mit der ihm eben angetrauten Geheimräthin nach dem Lustgarten schritt, rief es wieder: »Platz! Ihre Majestät die Königin!« Der Zug stiebte auseinander, als der Wagen sich langsam Platz machte. Charlotte hatte in der Kirche viel geweint vor Gemüthsbewegung, und sie hatte Gründe:
[780] der Tod ihres Wachtmeisters, die unverhoffte Ehre, zu der er ihr endlich verhalf, und der Verdruß, daß sie keine Kutschen und Pferde erhalten können. Die waren alle requirirt zum Transport und für die Fliehenden. Ein Brautzug zu Fuß hatte ihr eine Entwürdigung der Ehe gedünkt. Was aber war das gegen ihr Gefühl, ihre Bestürzung, nein, es war ein Donner schlag, als man ihr auf die Schulter stieß: »Zurück! die Königin!« Die Königin hatte halten und warten müssen um Charlotten! – Sie sah das holdselige Gesicht der Königin, das verwundert über das Unerwartete zum Kutschenschlage herausblickte. Da war's um sie geschehen; es war zu viel. In ihrem Brautanzuge, der sehr kostbar war, aber doch vielleicht aus der Garderobe der seligen Frau Geheimräthin, war sie auf die Knie gestürzt, das schwere bauschigte Damastkleid im Gemüll der Straße! »Gnade, allerdurchlauchtigste Königin, aber ich kann nicht dafür. Er hat mich geheirathet.« Als die Königin, die vielleicht ein Bittgesuch vermuthete, den Kopf weiter vorbeugte, setzte der Geheimrath mit tiefer Verbeugung hinzu: »Majestät, nur wegen der allgemeinen Kalamität.«
Ob die Königin in ihren Schmerzen gelächelt, ob sie wirklich eine Bewegung mit der Hand gemacht, die für eine Segnung gelten konnte? Sie hatte sich schnell wieder in die Kutsche zurückgelehnt. Alles war das Werk des Augenblicks. Walter zuckte plötzlich auf. Der Brautzug trennte ihn noch von jener Wagenreihe; aber er sah eine weibliche Gestalt in Trauer sich aus der dritten Kutsche hinauslehnen und dem alten Alltag einen Scheidekuß geben. Es war Adelheid. Ihre Augen trafen sich. »Eine junge Wittwe, die Frau von Bovillard,« sagte Jemand neben ihm. Der Wagen rollte den andern nach. Adelheid sah noch ein mal hinaus und winkte mit dem Tuche, er wusste nicht, ob ihm, ob ihrem Vater. Durch die Pappeln schwirrte ein Luftzug; ihm war es, als säusele er: Auf Wiedersehen!
»Rebutant!« sagte die Gräfin Voß, als die königlichen Wagen außer dem Thore waren. »Daß Ihro Majestät zuletzt ein solcher ridiculer Auftritt in Dero Residenz begegnen musste. Man sieht, es ist mit aller Ordnung und Dehors dort aus.«
Man musste Zeit gehabt haben, vielleicht um sie zu zerstreuen, die Fürstin von den Verhältnissen zu unterrichten. Auch hatte man sie aufmerksam gemacht, daß der alte wohlbekannte Kaufmann van Asten lächelnd an der Straße gestanden: »Er hätte doch wenigstens in solchem Augenblick seine Freude verbergen müssen.«
Die Königin hatte schweigend dagesessen. Jetzt öffnete sie die Lippen: »Weshalb, meine Freunde, weil wir traurig sind und Millionen mit uns, sollen Alle trauern? Hat die Vorsehung es nicht so gefügt, daß während es hier Nacht ist, jenseits der Erde [781] die Sonne scheint, und wir wissen, daß, wenn es dort dunkelt, hier der Tag anbricht. Wenn wir Alle in Finsterniß und Trauer vergingen, wie sollte der Hoffnungsstrahl uns erleuchten! Freuen wir uns doch, daß nicht alle Herzen brechen, daß sie sogar noch lachen können, während wir blutige Thränen weinen. Die heute ausruhen, sind morgen wach. – Ich will es als eine gute Vorbedeutung nehmen, daß wir eine Hochzeit, Lachende und Frohe sahen beim Abschied aus Berlin.«
Als sie, um von der Höhe einen letzten Scheideblick auf die Königsstadt zu werfen, den Kopf aus dem Fenster steckte, theilte sich der Herbstnebel am Horizont und die Sonne strahlte aus dem blauen Firmament. Sie horchte auf die Lerchen in der Luft. Ob sie das Lied verstand? Es war kein letzter Seufzer des Mohrenkönigs, als er sein »Wehe mir, Alhama!« auf dem Berge sang, von dem er zum letzten Mal sein geliebtes Granada sah.
Ende.