[16r]
Hochwohlgebohrener Herr
Hochverehrter Herr Geheimerrath
und Staatsminister!
 

Ew. Excellenz hochgeneigtes Schreiben vom 23sten März1habe ich bisher unbeantwor-
tet gelassen, da ich meiner Antwort gleich eine bestimmte Anzeige über den Fort-
gang meines chromatischen Unternehmens hinzufügen zu können wünschte. Dieß ist
itzt nunmehr der Fall; der in der Anlage beschriebene Apparat ist bis auf We-
niges in meinen Händen und vor einigen Tagen habe ich dann endlich auch von
dem zu den Versuchen bestimmten, bisher vom Professor Tralles innegehabten
Zimmer in der Universität2, förmlich Besitz genommen. - Als eine gute Vor-
bedeutung sehe ich es an, daß es sich anmuthig gefügt hat daß gerade
ein so eifriger Newtonianer, der wahren Lehre das Feld hat räumen müs-
sen und ich will nur wünschen daß nicht irgendwo in den Winkeln etwas
von dem newtonschen Spuck zurückgeblieben seyn1 und mir demnächst zur ungele-
genen Zeit in die Quere kommen mag. Nun ich habe mich gehörig gerüstet
und hoffe daher daß die, zumahl von den französischen Physikern, neuer-
dings wieder zu so großem Ansehen gebrachten newtonschen fits und Pa-
roxismen mir nichts anhaben sollen. - Einen großen Theil der Oster-
ferien habe ich darauf verwendet mich über die neuern Untersuchun-
gen die vermeintliche Polarisation des Lichts und die davon hergeleiteten
Farbenphänomene betreffend, in's Klare zu setzen und ich habe die ver-
drießliche Arbeit nicht von der Hand weisen zu dürfen geglaubt, so ziem-
[16v]lich Alles zu lesen was darüber seit 1809, vornämlich in Frankreich, verhandelt
worden ist. Als ein wahrhafter Leitstern hat sich mir bey dieser {Irrfarth}
fortwährend Ew. Excellenz eben so lichtvolle als naturgemäße Abhandlung über
die entoptischen Farben
bewährt und ich werde bey meinen Vorträgen, wie
überhaupt, so auch bey diesem Capitel mit wohlbegründeter Überzeugung auf
das gewissenhafteste den von Ew. Excellenz vorgezeichneten Weg, als den al-
lein wahren und zum Ziele führenden, verfolgen. Mir ist, so oft ich mich
aus dem bunten Gedränge der mit ihren hypothetischen Eigenschaften und An-
wandlungen in sinnverwirrendem Taumel durcheinanderfahrenden Molecülen,3
wieder zu der von Ew. Excellenz gegebenen Darstellung des reinen, in sich ei-
nigen Lichts gewendet habe, immer zu Muthe gewesen wie Einem der
die Woche hindurch sich mit schmutziger Arbeit herumgequält hat und
dann am Sonntag dazu gelangt reinliche Kleider anzulegen und innerlich
gesammelt sich in Gottes freyer Natur bey heiterem Sonnenschein zu erge-
hen. - Überhaupt jemehr ich mit der dermaligen Gestalt der Physik und der Be-
trachtungsweise unserer gelehrten Physiker mich vertraut mache, umso deutlicher
sehe ich ein, warum die von Ew. Excellenz aufgestellte Lehre bisher so wenig
Eingang gefunden hat, denn es ist wohl nicht in Abrede zu stellen daß es sich
hier nicht bloß darum handelt einer endlichen und dem bloß verständigen Den-
ken zugänglichen Erklärungsweise eine andere, eben so endliche zu substituieren,
wie dieß z. B. bey Verdrängung der phlogistischen durch die antiphlogistische
Verbrennungstheorie4geschehen, sondern darum, die Vernunft und den gesun-
den Menschensinn in einem Gebiet5 geltend zu machen, worin der am Endlichen
haftende Verstand bisher eine wahrhaft eiserne Gewalt behauptet hat und
zur Zeit noch behauptet. - Man rühmt zwar heut zu Tage oft genug den
großen Zuwachs an neuen Erfahrungen und Entdeckungen wodurch während
der letzten Jahrzehnde fast alle Zweige der Naturwissenschaft bereichert
worden sind und es würde undankbar seyn wenn man den großen
Werth dessen was in dieser thätigen und strebsamen Zeit erarbeitet
worden ist, nicht nach Gebühr annehmen wollte; indeß geschieht doch
[17r]dem Bedürfniß des Erkennens damit allein noch kein Genüge daß nur immer Er-
fahrungen auf Erfahrungen gehäuft und so das Gebiet der Empirie in's Uner-
meßliche erweitert wird, sondern es thut sich dann auch das tiefere Bedürf-
niß des Geistes hervor die zerstreuten Glieder zu einem Ganzen zu vereini-
gen und die bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dem Gedanken zu unter-
werfen. Auch dafür ist nun wohl, in Deutschland wenigstens, seit Kant Vie-
les geschehen; die atomistische Ansicht hat nicht nur in der Philosophie einer tie-
fern, geistigern Betrachtungsweise weichen müssen, sondern auch ein großer
Theil der deutschen Physiker hat durch Zuhülfenahme der dynamischen Formen
sich die Erscheinungen des Magnetismus, der Electricität, des Galvanismus und
des Chemismus erklärlich zu machen gesucht. Allein man ist, wie es mir
scheint, hier auf halbem Wege stehen geblieben, man hat einerseits sich des
Ideellen nicht länger erwehren können, hat den Worten nach die atomi-
stische
mit der dynamischen6Ansicht vertauscht, aber andererseits nicht die
Kraft gehabt dem Aberglauben des abstracten Verstandes, dem das Getrennte
und Unterschiedene als ein Wahres und Selbstständiges gilt, entschieden zu ent-
sagen; und so ist es denn geschehen daß die deutschen Physiker gegenwärtig mit der
Attraction7und Repulsion,8dem Positiven und Negativen9und wie die Gegensätze
sonst gefaßt werden mögen, auf eine eben so steife und hölzerne Weise hand-
thieren und die Welt aus solchem ein für alle Mal fertigem und erstarrtem
Stoffe zusammen zimmern, wie unsre Nachbarn, die Franzosen, aus ihren Atomen10
und ihren gleichfalls polarisierten Molecülen.11Das was den eigentlichen
Geist der dynamischen Naturansicht bildet, daß das Außereinander und das
Mannigfaltige, sey es nun ein aus unendlich Vielen oder auch nur aus den
Verschränkungen zweyer {Entgegesetzten} Bestehendes, überhaupt ein Unwahres
und Todtes ist, mit einem Worte das Princip der Idealität, dieß scheint auch
den sich zur dynamischen Ansicht bekennenden Physikern, die trotz ihres
theilweisen Vornehmthuns gegen die Atomistiker, den alten Götzen noch
im Herzen tragen und immer auf dem Sprunge stehen sich der alten Leh-
re wieder in die Arme zu werfen, völlig entgangen zu seyn und darum
haben sie sich denn auch so einmüthig gegen Ew. Excellenz erklärt, weil
in der Farbenlehre sich in der That zum ersten Male, von der Seite der Er-
[17v]fahrung aus das wahrhaft Vernünftige oder Speculative sich2 geltend gemacht hat. Als
keineswegs gleichgültig sehe ich es übrigens an, daß gerade der Farbenlehre zu-
erst die Wohlthat einer naturgemäßen und3 dem speculativen Erkennen gemäßenzusagenden4 Behandlung zu Theil
geworden ist. Dadurch daß ihr Princip der Chroagenesie erkannt und für immer fest-
gestellt worden ist, hat zugleich die Lehre vom Licht ihre absolute Begründung erhalten
und nur von diesem Punkt aus kann, meines Erachtens, die nicht länger abzuweisende
Reformation des ganzen physikalischen Lehrgebäudes ihren Anfang nehmen. Ich be-
halte mir vor Ew. Excellenz demnächst in einer besondern Abhandlung meine An-
sicht hierüber ausführlich darzulegen; nur so viel erwähne ich für jetzt, daß es mir eben
so unmöglich scheint der newtonschen Irrlehre die wahre Lehre ruhig und friedlich
zu substituieren, als es unmöglich war dem Ablaßkram ein Ende zu machen,
ohne zugleich das in sich morsche Gebäude der katholischen Hierarchie über den
Haufen zu werfen. Besorgen Ew. Excellenz übrigens nicht daß ich in wohlgemein-
tem philosophischen Eifer mich ins Maaßlose ergehen und so am Ende der guten
Sache, anstelle ihr zu nützen nur schaden werde. Es ist mein festes Vorhaben bey
meinen didaktisch-experimentellen Vorträgen, die ich nächsten Dienstag zu eröffnen
gedenke, mich5 aller solchen Digressionen durch welche Verwirrung entstehen könnte zu
enthalten und vor allen Dingen einer reinen Darlegung der Erscheinungen und
ihres Zusammenhanges mich zu befleißigen, stets eingedenk der von Ew.
Excellenz mir gewordenen Ermahnung, darauf zu halten daß wenn wir Recht
haben, wir auch in Gegenwart der Erscheinungen Recht haben müssen. -

Für den mir gnädigst bestimmten entoptischen Apparat sage ich Ew. Excel-
lenz im voraus meinen unterthänigsten Dank, indem ich die Versicherung
hinzufüge daß ich Alles aufbieten werde um zu Ehre der Wissenschaft da-
von Gebrauch zu machen. -

Ehrerbietigst verharre ich
Ew. Excellenz
ganz gehorsamster
Leopold von Henning.

Übersicht
des Apparats zu den Vorträgen
über die Farbenlehre nach Göthe.

[23r]
  • 1. Ein geräumiges, gegen Süden gelegenes Zimmer im Universitätsgebäude,
    mit zwey Fenstern, welche durch wohlverwahrte Laden verschlossen werden
    können; der eine Laden mit den nöthigen Schiebern, Blechen pp. versehen.
  • 2. Ein Heliostat, nach s Gravesand's Angaben, mit einer Penduluhr, auf
    einer Marmorplatte; in der Werkstätte des Geheime-Postrath Pistor ge-
    arbeitet (wird erst in 14 Tagen ganz fertig). Zu 400 Rth. verdungen.
  • 3. Ein großer Tisch, dessen Platte herumgedreht und, mittelst einer Kurbel, auf­
    und ab bewegt werden kann.
  • 4. Das große Wasserprisma; vom Herrn Geh. Oberregierungsrath Schultz dem
    chromatischen Cabinet verehrt.
  • 5. Zwölf gewöhnliche Prismen von 6 Zoll Länge und 1 Zoll Breite, den Zuhö-
    rern bey den subjectiven Versuchen in die Hände zu geben.
  • 6. Drey Prismen von Crownglas, zu 60°, auf messingnen Gestellen.
  • 7. Zwey rechtwinkliche Prismen von 6 Zoll Länge, so in zwey Gestellen
    aufgestellt daß sie horizontal und vertikal um ihre Axen bewegt wer-
    den können.
  • 8. Das dreyfache Prisma aus Crown- und Flintglas, in einer Fassung von Mes-
    sing.
  • 9. Zehn kleine Prismen von 5° bis 90°; darunter 3 von 15°.
  • 10. Ein dreyfach zusammengesetztes Objectivglas, zum Auseinandernehmen; 15 Zoll Brenn-
    weite 13/8 Zoll Apertur.
  • 11. Ein zweyzolliges Convexglas in einem messingnen Gestell, mit einer Ein-
    theilung in Zolle und Linien, auf und ab beweglich. (Farbenlehre I. § 199. S. 75)
  • 12. Eine gewöhnliche Lorgnette.
  • 13. Eine Einrichtung in Messing mit den dazu gehörigen Gläsern, concav, con-
    vex und plan, um durch den Druck einiger Schrauben die epoptischen Farben-
    [23v]{benerscheinungen} hervorzubringen.
  • 14. Sechs keilförmige Gefäße von Glastafeln, 8 Zoll lang und 3 Zoll breit,
    zum Aneinanderschieben.
  • 15. Ein gläserner Würfel, 21/2 Zoll hoch.
  • 16. Farbige Glasscheiben von allen Farben (Roth ausgenommen). Rothe Glasschei-
    ben sind durch Auftragung eines durchsichtigen Firniß vorerst hergestellt.
    (Opalglas ist bis jetzt nicht aufzutreiben gewesen)
  • 17. Eine starke Tafel von grünem Glas. (Diese und auch alle die übrigen farbigen
    Scheiben zeigen das von der vordern Fläche herrührende Bild sehr schön
    in der jedes Mal geforderten Farbe).
  • 18. Ein kleiner Spiegel von 3/4 Zoll starkem Glas.
  • 19. Ein dergleichen von gewöhnlicher Stärke, mit einem hölzernen Griff.
  • 20. Drey mattgeschliffene Glastafeln, von verschiedener Durchsichtigkeit.
  • 21. Ein cubisches Gefäß von Blech, 1 Cubikfuß, inwendig weiß angestrichen,
    um die Phänomene der Brechung und Hebung zu zeigen.
  • 22. Ein blechernes Gefäß, mit einem Spiegelboden.
  • 23. Ein längliches Gefäß von Blech nebst einem breiten Lineal von
    Blech, auf6 welches die Farben des prismatischen Bildes aufgetragen sind;
    nach Antonius Lucas12 zur Controverse gegen Newton.
  • 24. Ein Paar Stufengefäße von Porcellan.
  • 25. Ein Schwungrad, nach der Angabe des Herrn General von Helvig,
    durch den Druck eines Fadens in beliebig schnelle Bewegung zu setzen.
  • 26. Ein Rad mit zarten Speichen zum newtonschen 12ten7 Versuch des 2ten Theils.
    Farbenlehre I. Pol. § 529. S. 586.
  • 27. Der Apparat zum 2ten newtonschen Versuch d. 1sten Theil; nach der Anga-
    be § 69 und § 171. Farbenlehre I. Pol. - Die Linse läßt sich auch auf ei-
    nem Schlitten rechts und links seitwärts bewegen, so daß die Mitte der-
    selben abwechselnd vor den einen oder den andern Theil des Vorbildes
    gebracht werden kann. (Der Herr Prof. Hegel wird darüber eine beson-
    dere Abhandlung liefern).
  • 27.b. Zwey Linsen, eine größere und eine kleinere. -
  • 28. Fünf Schirme von verschiedener Größe zum Auffangen und zum
    theilweisen Durchlassen des prismatischen Bildes.
  • 29. Alle die übrigen kleinen Geräthschaften und Gegenstände so zur Darstellung
    der chromatischen Erscheinungen erforderlich sind, als überzogene Pappen,
    buntes Papier, {Pergamentbätter}, Stahldrath, Flor, geblümtes Zeug,
    Seifenspiritus, wohlriechendes Wasser, nephritisches Salz - desgleichen
    eine Auswahl chemischer Substanzen pp. sind entweder bereits zur
    Hand oder werden doch binnen hier und einigen Tagen zusammenge-
    bracht seyn. -
  • 30. Die betreffenden Tafeln zu den subjectiv-dioptrischen Versuchen sind im
    gehörigen Maaßstabe nachgezeichnet und auf Pappe aufgezogen. -
Notes
2
Tralles als Astronom war unter dem Dach des Universitätsgebäudes einquartiert, vgl. Lenz 1918, S. 369. Nach seinem Tod wurde die Wohnung dem zoologischen Museum zugeschlagen, vgl. Lenz 1910a, S. 427 und Z 25. Juli 1822.
3
mit Bleistift unterstrichen
4
mit Bleistift unterstrichen
5
mit Bleistift unterstrichen
6
mit Bleistift unterstrichen
7
mit Bleistift unterstrichen
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mit Bleistift unterstrichen
9
mit Bleistift unterstrichen
10
mit Bleistift unterstrichen
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mit Bleistift unterstrichen
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nicht in der GND
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naturgemäßen und]
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Rechtsinhaber*in
Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 16. Mai 1822. von Henning an Goethe. Z_1822-05-16_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-17AB-8