Hochverehrter Herr Geheimerrath
und Staatsminister!
Ew. Excellenz verehrtes Schreiben vom 13ten v. M.1 habe ich zu seiner Zeit richtig erhalten
und eben so auch die Sendung vom 16ten ejusd. nebst dem Schluß des dazu gehörigen fernern
hochgeneigten Schreibens2, dessen Anfang bis zu Nr: 15, indeß wohl ohne Zweifel durch ein
Versehen des absendenden Secretairs liegen geblieben ist. Ich erlaube mir deshalb zu-
nächst die ganz gehorsamste Bitte mir, wenn Ew. Excellenz den currenten Theil der
chromatischen Verhandlungen zur Hand haben, den so ungern vermißten Anfang des
gedachten Schreibens noch jetzt hochgeneigtest zukommen zu lassen. - Eine überaus will-
kommene Erscheinung war mir das seit meiner vorjährigen Anwesenheit in Jena mit
Ungeduld erwartete, so reich ausgestattete neuste Heft zur Naturwissenschaft, für dessen
gnädige Mittheilung ich mich Ew. Excellenz zu ganz besonderm Dank verpflichtet fühle.
Am lebhaftesten hat natürlich der so inhaltsvolle Nachtrag zur Farbenlehre meine Theil-
nahme in Anspruch genommen, da ich dieses ganze Jahr hindurch diesen Gegenstand fast
keinen Tag aus den Augen verlohren und zumahl während der beyden letzten Mo-
nate, auf Veranlassung meiner öffentlichen chromatischen Vorträge, Alles was
ich von Muße zu erübrigen vermochte auf Erwerbung einer immer größern Ver-
trautheit mit den Farben- und Lichtphänomenen verwendet habe. - Es ist voraus-
zusehen daß die Widersacher der wahren Lehre, die Ew. Excellenz langes Schweigen
gewiß zu ihren Gunsten ausgelegt haben, sich durch dieses neue Hervortreten
[31v] aufgefordert fühlen werden wieder zu ihren bekannten Waffen zu greifen um gegen
Ew. Excellenz einen nachträglichen Feldzug zu beginnen; mir ist indeß davor nicht
bange und es soll mir im Gegentheil ganz erwünscht seyn wenn sich mir da-
durch Gelegenheit darbietet im Kampfe für eine so treffliche Sache meine Spo-
ren zu verdienen. - Arbeit und Geduld wird es auf jeden Fall noch hinlänglich
kosten bis zur völligen Verdrängung der alten Irrlehre, allein der Erfolg
kann nicht zweifelhaft seyn, denn dafür bürgt die ganze intellectuelle Richtung
unseres Zeitalters und das bey der Menge neuer Entdeckungen und Erfah-
rungen unter den Physikern selbst immer dringender werdende Bedürfniß dem
ins Ungeheure anwachsenden Stoff durch eine gedanken- und naturgemäßere
Anschauungsweise zu gewältigen. Auch in diesem Fall wird jener Ausspruch sich gel-
tend machen: qu'on embrasse la verité en la repoussant. Nahmhafte Physiker,
welche die von Ew. Excellenz aufgestellten Ansichten bey sich und Andern bereits
hinlänglich abgefertigt zu haben meinten, sehen sich, ohne daß sie wissen wie ihnen
geschieht, gleichsam von einer magischen Gewalt getrieben immer wieder dar-
auf zurück zu kommen. So höre ich denn auch daß einer der eifrigsten Wider-
sacher, der Professor Fischer, bey seinen diesjährigen physikalischen Vorlesun-
gen, indem er auf das Capitel von den Farben gekommen ist, ein nicht zu ver-
kennendes Unbehagen gezeigt und, trotz seines Eiferns für die newtonsche
Lehre, von physiologischen und von einander fordernden Farben gesprochen
haben soll. Eben so hat auch der Professor Ermann, der übrigens auch schon frü-
her sich immer glimpflich geäußert haben soll, bey Erwähnung des Gegensatzes zwi-
schen der newtonschen und der von Ew. Excellenz begründeten Farbentheorie
mit dankenswerther Offenherzigkeit erklärt, die Sache sey, wie sie gegenwär-
tig vorliege, seines Erachtens, noch nicht zum Spruche reif, es lasse sich indeß
bey dem Eifer womit man in unserer Zeit der Natur des Licht nachspü-
[32r]re, mit Zuverlässigkeit erwarten, daß die definitive Entscheidung nicht mehr lange ausblei-
ben werde. Besonderes Gewicht hat denn Herr Ermann in dieser Beziehung auf das
französische Lichtpolarisationswesen gelegt; so wenig man ihm nun auch darin beystim-
men kann, so ist doch so viel gewiß, daß ein reines Auffassen der durch Obliquierung des
Lichts bewirkten Phänomene, für einen Unbefangenen allein hinreichen würden, um
sich von der Nichtigkeit der newtonschen Zersplitterungstheorie zu überzeugen und zu der
Einsicht in die eigentliche Grundbedingung aller Chroagenesie zu gelangen. - Nun wir
wollen diese Herrn, gelinde und heftige, zweifelnde und einseitig verstockte, sich nach
ihrer Weise herumarbeiten lassen, uns des Besitzes der wahren Lehre, mit dank-
barer Verehrung ihres Urhebers, erfreuen und deren Fortbildung und Verbreitung
uns nach Kräften angelegen seyn lassen. - Meine chromatischen Vorlesungen haben den
erwünschten Fortgang; wie viel oder wenig ich meinen zahlreichen Zuhörern leiste
muß ich dahin gestellt seyn lasen; so viel ist gewiß daß ich selbst durch dieses Geschäft
auf das entschiedenste gefördert werde was hoffentlich demnächst auch der Sache selbst
auf die eine oder die andere Weise zu Gute kommen wird. An Theilnahme und Eifer las-
sen es meine Zuhörer nicht fehlen, viele unter ihnen haben sich selbst Prismen ange-
schafft und ich höre daß unter Studierenden und Nichtstudierenden vielfältig über die
Farbenlehre verhandelt wird, wobey es denn, wie man sich vorstellen kann, diess
an einem muntern Pochen auf die erworbene Kenntniß nicht fehlen soll. Viel-
leicht wird hin und wieder etwas zu viel gethan und durch jugendliches Absprechen
der MuthUnmuth1 der Newtonianer mehr als billig erregt; das ist indeß nicht ganz zu ver-
meiden und ich bemühe mich wenigstens an meinem Theil durch wiederhohltes und
bestimmtes Einschärfen und Veranschaulichen der Hauptpunkte Mißverständnissen und
oberflächlichem Halbwissen nach Möglichkeit vorzubeugen. Ich behalte mir vor
Ew. Excellenz diesen Herbst über den Weg den ich bey meinen Vorlesungen verfolge
und über die Bemerkungen welche ich dabey zu machen Gelegenheit habe, mündlich
[32v] ausführlich Rechenschaft abzulegen und mir dabey zugleich Ihren Rath und Ihre Be-
lehrung über das was in Zukunft etwa anders einzurichten seyn würde, zu
erbitten. - Höchst erfreulich, war es mir zu vernehmen daß Ew. Excellenz
eine neue Ausgabe Ihrer sämmtlichen Werke vorbereiten und indem ich die ehren-
volle Aufforderung bey Redaction des physischen Theils hilfreiche Hand zu lei-
sten auf das dankbarste anerkenne, erkläre ich mich, obschon nicht ohne
Zagen rücksichtlich meines Mangels an Geschick und Kenntnissen, jedoch mit Freu-
den bereit Alles zu übernehmen und nach Kräften zu fördern was Ew. Ex-
cellenz mir anzuvertrauen für gut finden werden. Auch in dieser Hinsicht sehe
ich der Zeit meines Aufenthaltes in der thüringer Heimath mit Ungeduld
entgegen; es war ohnehin meine Absicht einen großen Theil der Ferien mich
mit physikalischen und besonders optisch-chromatischen Gegenständen zu beschäf-
tigen und so werde ich nicht säumen mich alsbald nach meiner Ankunft in Gotha
bey Ew. Excellenz einzufinden um Ihren Willen über das von mir zu leisten-
de zu vernehmen. Dann würde sich auch ein Plan der mich schon seit län-
gerer Zeit beschäftigt in nähere Erwägung ziehen lassen, nämlich der ei-
ne gedrängte Übersicht der Farbenlehre, in compendiarischer Form, theils
für Lehrvorträge, theils zum summarischen oder vorläufigen Selbstunterricht,
auszuarbeiten, wobey vielleicht das zum Behuf meiner didactisch-experimentalen
Vorträge ausgearbeitete, und Ew. Excellenz zur Prüfung vorzulegende Heft als
Grundlage dienen könnte. Vorläufig habe ich die meinen Vorlesungen vorausgeschickte
Einleitung, worin ich den Standpunkt von welchem aus meines Erachtens die von
Ew. Excellenz aufgestellte Lehre zu beleuchten ist, zu bezeichnen mich bemüht ha-
be, dem Druck übergeben und ich hoffe Ew. Excellenz diese kleine Brochüre,
welche etwa vier Bogen stark werden wird, binnen hier und vierzehn Tagen über-
senden zu können. Ich habe heute den ersten Correcturbogen erhalten und
[33r] kann nicht läugnen daß mich bey dessen Durchsicht doch eine gewisse Bangigkeit, etwas Über-
eiltes gethan zu haben, angewandelt hat; der Wurf ist indeß einmal geschehen und
so bleibt mir nur übrig im voraus Ew. Excellenz gnädige Nachsicht dringend
in Anspruch zu nehmen. Das gelehrte Publikum mag übrigens sagen was es
will; ein billigendes oder misbilligendes Wort von Ew. Excellenz gilt mir
mehr und wird auf mein weiteres Thun und Lassen entschiedenern Einfluß üben,
als alles Lob oder aller Tadel der gesammten physischen Genossenschaft.
Anliegend erhalten Ew. Excellenz die von einem meiner Zuhörer gefertig-
te Zeichnung, welche das in meinem letzten ehrerbietigsten Schreiben erwähn-
te entoptische Phänomen darstellt. Das große Viereck zur linken Hand
stellt die obere Fläche des zwischen die beyden einander antwortenden
schwarzen Spiegel gebrachten großen Cubus von Spiegelglas, welches
wegen seiner Stärke etwas ins Grünliche fällt, dar, wie sich solche im obern
Spiegel zeigt. Die entoptische Eigenschaft des Cubus ist, wie die Zeichnung aus-
weist, sehr schwach und wurde, da ich an einem sehr trüben Tag in der Abend-
dämmerung damit zu experimentieren anfing, erst von mir wahrgenommen
als ich den kleinen entoptischen Cubus auf des großen Fläche versuchs-
weise hin und her schob und dabey mit freudiger Verwunderung die gesetz-
liche Umkehr der farbigen Figur entdeckte. Das weiße Kreuz zeigt
sich auf der Mitte des großen Cubus und es bleibt unverändert wenn der
kleine Cubus auf dem hellen Raum herumbewegt wird. Dagegen
tritt bey der Bewegung nach den vier dunkeln Ecken unverzüglich die
Umwandlung in das schwarze Kreuz, mit der demselben entsprechenden
Färbung der Pfauenaugen ein. Die Figur zur linkenrechten2 Hand
zeigt das ganze Phänomen umgekehrt, bey obliquer Stellung des obern
Spiegels. Der ganze Hergang ist sehr einfach für den der mit der
von Ew. Excellenz gegebenen Exposition der Obliquierung des Lichts
[33v] und der entoptischen Erscheinungen vertraut ist und dient nur zu einer erfreulichen
Bestätigung des allgemeinen Gesetzes; die Polarisationsmänner werden auch hier
wieder ihre Zuflucht zu den Paroxismen der Lichtmolecülen nehmen müssen
und, bey ihrer guten Gabe das Widersinnige zu verdauen, sich gleichfalls zu
helfen wissen. Sollten Ew. Excellenz keinen großen entoptischen Cubus be-
sitzen, so werde ich den Meinigen mitbringen um, auf Verlangen, in Ih-
rer Gegenwart das Experiment zu wiederhohlen. -
Die metallisch getrübten Glasscheibchen, deren ich mich gleichzeitig mit dem
chamäleontischen Trinkglas bey einer Demonstration bedient habe, werden
Ew. Excellenz durch den Herrn Oberstleutnant von Horn3 erhalten haben.
Das Verdienst der Auffindung gebührt meinem Freund Förster, der mich über-
haupt durch wohlwollende Theilnahme auf das mannigfaltigste fördert und un-
terstützt. Leider ist der junge Glasmaler von dem die Scheibchen her-
rühren von hier nach Marienburg abgereist; ich habe ihn indeß davon3 unter-
richtet worum es zu thun ist und er hat mir versprochen am Orte seiner
Bestimmung weitre Versuche anzustellen. Eine ganze Reihe von Versuchen,
welche auf meine Bitte der Vorsteher der hiesigen Porcellanmanufactur,
Herr Oberbergrath Frick, ein vorzüglicher Chemiker, unternommen hat,
ist bis jetzt noch fehlgeschlagen; Herr Frick ist seit einem Monat ver-
reist und wird, wie er mir zugesagt hat, sogleich nach seiner, in diesen
Tagen bevorstehenden Rückkehr, die Sache wieder vornehmen und nicht
eher ruhen bis daß er sich der Procedur bemächtigt hat. - Ich
gedenke den 20 oder 22sten August von hier abzureisen; bis dahin
würden mich Nachrichten von Ew. Excellenz, wofern Hochdieselben mich
damit beehren wollten, noch hier antreffen; in den letzten Tagen
des August hoffe in Gotha anzulangen.
besten Wünschen für eine glückliche Heimkehr verharre ich
Ew. Excellenz
ganz unterthäniger Diener
- Rechtsinhaber*in
- Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. Juli 1822. von Henning an Goethe. Z_1822-07-31_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1857-6