Etwas über farbige Dunsthöfe an Glasscheiben.

[44r]

Am Tage der (h.)heiligen 3 Könige, als ich mit einem Jugendfreunde (de Lichtenfels)1
um 4 Uhr nachmittag, bei heftigem Froste und nahem Sonnenunter-
gange, in einem ganz gedeckten Wagen über die Brücke fuhr,
sah ich beim Schauen durch die Fenster des Vordersitzes die Peitsche
des Kutschers in einer sehr erquicklichen Farbenerscheinung prangend.
Das sonst dunkle Innere des Bildes erschien rosenroth; die Ränder
hatten gegen den weißen Hintergrund des Himmels einen grünen
Schein, eben so erschienen die vorbeischwindenden Statuen der Heiligen
auf der Lehnmauer der Brücke. Als der dunkelnde Brückenthurm
herannahte modificirte sich die Erscheinung dahin, daß die rothe Farbe
im innern dunklen Raume des Bildes zunächst dem äußeren Umrisse
nur einen beschränkten Streifen einnahm, eben so die grüne im
weißen Hintergrunde des Himmels. Die Freude des Anschauens, und
die Kürze der Dauer, indem der Wagen bald in mißfarbige Gassen
hineingerieth, machten daß ich versäumte die näheren Bedingungen
der Erscheinung auszuspähen. Ich machte den Freund darauf aufmerksam
und forderte ihn auf gelegentlich die näheren Bedingungen zu erforschen
und mir mitzutheilen, die Vermuthung äußernd, daß das Phänomen von
der damaligen Richtung der Sonne gegen das Wagenfenster und ihrer röth-
lichen Farbe abzuhangen schien. Dafür ward mir die Mittheilung
[44v]daß meine vermuthete Bedingungen nicht stattfinden, sondern daß zu jeder Ta-
geszeit unter jeder Richtung das Phänomen zur Erscheinung komme, sobald
der Hauch der an den Wagenfenstern sich anlegt eine gewisse Intension erlangt
hat. Ein Versuch brachte mich bald ins Klare. Ich ging Morgens bei
noch tieffinsterer Nacht, als es eben heftig fror, auf den Hofraum des
Hauses, und sah gegen eine einige Fuß entfernte Kerzenflamme
durch eine Glasscheibe. Als ich diese mehreremal in kurzen Zwi-
schenzeiten anhauchte, so daß der Frost Zeit gewann die Dunstkügelchen an
der Glasscheibe zu condensiren, erschien allmählig die Lichtflamme mit einem
schwach grünlichen Hofe. Bei fortgesetztem Anhauchen wurde die Flamme
lebhaft roth mit einem schön grünen Scheine. Endlich wurde sie bei fernerer
Fortsetzung des Anhauchens grün mit einem rothen Scheine. Als aber die
Menge des gefrornen Dunstes zunahm und sich Frostblumen bildeten
wurde die Erscheinung immer verworrener und unscheinbarer, bis endlich wieder
nur ein blasses Lichtbild sich durch die gefrorne Dunstschicht zeigte. Bei
Besichtigung der an der Glastafel anhängenden Dunstpartikelchen, als sie
noch die Farbenerscheinung gaben, durch das Mikroskop, fand ich diese durchaus
nicht in eckige Gestalten erstarrt sondern rund, und ich wäre geneigt zu
glauben daß das Wasser in so kleinen Quantitäten als die Dunstparti-
kelchen sind viel später zum Gefrieren komme, und noch vorher eine sogenanntefarbenzerstreuende Eigenschaft annehme welche beiträgtbeym Übergang zurSolidescenz2 das oben erwähn-
te Phänomen zu erzeügen. geeignet werden.3 geeignet werde.

Purkinje.
[45r]

Vorstehendes Phänomen
möge doch ja ein jeder Na-
turfreund, bey eintreten-
der heftiger Kälte,4 sich
zu eigenem Vergnügen
wiederholen. Man setze
sich in einen Stadtwagen,5
wenigstens in einen solchen
der große und reinliche
FensterScheiben6 hat, und fahre mit
zugeschlossenenheraufgezognen7 Fenstern
schnell vor die Stadtins Freye8, wo
möglich in eine Allee, im. Im9
ersten Moment wo die Fen-
ster zu überlaufen anfan-
gen,10 wird man die herr-
lichste Farbenerscheinung da
sehen, wo der StandStamm11 der
Bäume sich hinter den Schei-
ben vorbey bewegt,12 und
also jedesmal einen dunkeln
Grund abgiebt; es ist nur
der Augenblick des Anlau-
fens, ehe sich der Hauch
zu Eis krystallisirt.

[45v]

Eben so schön kann man
auf einem schwarzen Spiegel
das An- und Ablaufen des
Hauches völlig gefärbt,
je nachdem man sich benimmt
in reihenweiser oder ver-
worrener Farbenerschein-
ung erblicken.

Der sogenannten Silberblick
zeigt sich auch am allerbril-
lantesten wenn man von
dem Zinn Amalgam über den
Kohlen den Merkur weg-
treibt.

Diese Farbenerscheinun-
gen kann man die apparen-
testen nennen, denn sie ma-
nifestiren sich nur zwischen
dem Erscheinen und ver-
schwinden, deshalb denn auch nachfol-
gende Citate hier13 am rechten
Orte stehen, wo eine die
Augen bezaubernde Erschein-
ung zwischen Leben und Tod
sich hervorthut.

[46r]

Und so will ich denn auch
hier abermals wiederholen,
daß die Bedingungen, unter
welchen die Farbe sich sehen
läßt,14 gränzenlos sind,15 und wie
bey der geringsten Annährung
des Eisens an den Magnet,16
bey leisester Berührung idio-17
electrischer Körper,18 bey
dem einfachsten anschließen
des Metalles an Metalle immer
die höchsten Naturerscheinun-
gen hervortreten, so auch
die Farbenerscheinung bey
dem geringsten Hauch, bey
der geringsten Veränderung
des körperlichen Zustandes sich
hervorthut unsere Auf-
merksamkeit zu reizenihre. Ihre19
Beweglich20Empfindlichkeit gegen
Säuren und Basen ist genug-
sam bekannt,21 und so ist ihre
Erscheinung gleichfalls vom
Temperaturwechsel abhängend,22
wie uns vergangenen Winter
ein sehr schönes überraschendes
Phänomen zu Augen gekommen.

[46v]

Möge ich von Zeit zu Zeitdurch aufmerksame Beobachtererregt werden über die ver-schiedenen Erscheinungen nachzu-denken und mich bewogen sehengar manche einzelne den schönenKreis der Chromatik immermehr ausfüllende und eini-gende Erfahrungen mitzutheilen.23

(de Lichtenfels)]
noch vorher eine sogenanntefarbenzerstreuende Eigenschaft annehme welche beiträgtbeym Übergang zurSolidescenz]
. geeignet werden.]
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FensterScheiben]
zugeschlossenenheraufgezognen]
vor die Stadtins Freye]
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Möge ich von Zeit zu Zeitdurch aufmerksame Beobachtererregt werden über die ver-schiedenen Erscheinungen nachzu-denken und mich bewogen sehengar manche einzelne den schönenKreis der Chromatik immermehr ausfüllende und eini-gende Erfahrungen mitzutheilen.]
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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. M 104 (1823): Etwas über farbige Dunsthöfe. M_104_1823.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-0C2A-7