Erster Theil
Erstes Buch
Erstes Kapitel.
Der Haidekretscham.
Ein ansehnlicher Theil der beiden Lausitzen, namentlich die früher unter sächsischer Botmäßigkeit stehende Niederlausitz, ist mit unermeßlichen Kieferwaldungen bedeckt, welche unter dem Namen der großen Haide bekannt sind. Diese ungeheuren Wälder, auf deren feinem Sandboden nur Haidekraut und dürre Gräser Nahrung finden, erstrecken sich bis in die Nähe der Stadt Görlitz und bergen in ihrem schattigen Dunkel mehrere Städte und eine Menge Dörfer, so wie einzeln gelegene Häuser und Vorwerke. Hie und da unterbricht ein niedriger Höhenzug das einförmige Dickicht, von dem herab man die schwarze Waldung meilenweit übersehen kann. Am Fuße solcher meist kahlen Hügel haben sich an Waldbächen, [] deren Gewässer grünen Wiesenbänder um die gelben Sandflächen winden, genügsame Menschen angesiedelt, um von Kohlenbrennerei, von Fischfang, dürftigem Ackerbau, Handarbeit und Bienenzucht kümmerlich zu leben. Ergiebiger wird der Boden der Haide an den Grenzen der Oberlausitz. Hier durchschneiden fruchtbare Thäler die rauschende Waldung, ansehnliche tiefe und bereits schiffbare Flüsse bewässern das umliegende Land und sichern den Anwohnern eine heiterere Existenz als ihren in den dürren Haideflächen versteckten Brüdern. Weiterhin gegen die Mark zu verliert sich das fruchtbare Erdreich wieder und die ganze Haide verwandelt sich in einen ungeheuren waldigen Moorbruch, den zahllose Flüßchen, Bäche, Kanäle und Teiche durchschneiden, und in welchem noch ein eigenthümliches Völkchen mit alterthümlichen Sitten still und zurückgezogen haust. Es sind die Bewohner des Spreewaldes.
Durch die ermüdende Oede jener sandigen Haide schleppte sich in den letzten Tagen des Septembers 1832 ein ärmliches Fuhrwerk, dessen gebrechlicher Bauart man es ansah, daß es polnischen Juden angehören müsse. Die Räder [] waren theilweise ohne Schienen, eine zerlöcherte und mit hundert Flicken besetzte Plane von schmutzig grauer Leinwand war über halb zerknickte Reifen ausgespannt, um die darunter Sitzenden gegen Wind und Wetter zu schützen. In liederlichem Geschirr, an Strängen mit zahllosen Knoten und Troddeln, gingen drei muntere polnische Pferde, von denen zwei an die Deichsel, das dritte nach polnischer Sitte mittelst einer Kette an die Achse des Hinterrades gespannt war. Dies letztere Thier, jung und feurig, versuchte selbst in dem fußtiefen Sande häufig zu galoppiren, was ihm bei dem langsamern Schritt der beiden andern Pferde nicht recht gelingen wollte.
Vorn in der sogenannten Kelle saß ein untersetzter Kerl im langen schmutzigen Rock der gemeinen polnischen Trödeljuden. Ein struppiger Bart von unsicherer Farbe bedeckte sein ganzes blaurothes Gesicht, ein vielfach eingebogener Filzhut, hie und da zerbrochen, seinen Kopf. In Ermangelung eines Stützbretes für die Füße ließ er die in starken juchtenen Stiefeln steckenden Beine zu beiden Seiten der Deichsel herabbaumeln, so daß sie, wenn die Räder im Sande tief einsanken, oft den Boden streiften.
[] Im Innern dieses Fuhrwerks saßen ein Greis und ein Jüngling von etwa siebzehn Jahren, und auf der an der Seite des Wagens angebrachten eisernen Stiege stand ein jüdischer Knabe von etwa funfzehn Jahren und hielt sich mit beiden Händen an den Tragreifen der Plane fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Dies polnische Fuhrwerk hatte in schräger Richtung auf einem der vielen tiefen Sandwege die Haide aus der Gegend von Priebus her durchschnitten und erreichte jetzt eine hochgelegene Waldblöße, über die eine etwas besser gehaltene Landstraße führte. Links am Fuße des Haidehügels in grünem, von vielen Gräben durchschnittenen Wiesengrunde lag ein Schenkhaus mit Stallung, Scheuer und Schuppen. Hinter den Wiesen sah das graue Dach einer Torfgräberhütte unter den Bäumen hervor, und weiter hin beschrieb die Haide einen schmalen Bogen, durch welchen man die blauen Wasserspiegel mehrerer großer Teiche im Abendschein blinken sah.
Die Sonne war dem Untergang nahe und ließ hinter blaugrauen Wolkenschichten eine Menge jener breiten Strahlen auf die Erde fallen, welche der Landmann für Vorzeichen nahen Regens [] hält. Die breite schwarze Haide jenseits der Teiche ward dabei stellenweise blendend hell erleuchtet, während der Horizont purpurn erglühte und sowohl den interessanten Gebirgsknoten der weit bekannten Königshainer Berge, als auch die einsam gelegene hohe Doppelluppe der Landeskrone mit blitzendem Gold überströmte.
Nach dem Einerlei der Haide mußte dieser unerwartete Anblick einer fernen schönen Gebirgsgegend das Auge der Reisenden erquicken. Auch war der polnische Fuhrmann wirklich so überrascht, daß er unwillkürlich die Pferde anhielt und einige Sekunden die heitere Aussicht dummdreist angaffte. Mehr aber noch, als die farbigen Tinten der Abendbeleuchtung, schien dem Juden ein röthlicher Feuerschein in die Augen zu stechen, der aus dem unfern im Thale gelegenen Schenkhause vertraulich einladend heraufwinkte. Fragend sah er sich um nach dem Greise und zeigte dabei mit der Peitsche nach dem rauchenden Schornsteine der Thalschenke. Der Greis nickte bejahend und in leichtem Trabe flog das ärmliche Fuhrwerk den Sandweg hinab und lenkte in den offen stehenden Thorweg des Gehöftes.
[] Ein Knecht, unter dem Schuppen mit Holzspalten beschäftigt, ging den Fremden entgegen behandelte aber den hastig fragenden Juden sehr kurz und machte sich mehr mit den hübschen wohlgenährten Pferden zu thun. Erst als der Greis mit seinem jugendlichen Begleiter abstieg und ihn in wendischer Sprache anredete, erheiterte sich sein Gesicht. Er reichte beiden Fremden die Hand, sagte ihnen ebenfalls auf wendisch, daß sie ein vortreffliches Nachtquartier bekommen sollten, und geleitete sie bis an die Hausthür, ein paar Bündel und Packen dienstfertig ihnen nachtragend.
Der Greis war ein hoch gewachsener, von der Last der Jahre nur wenig gekrümmter Mann. Er trug sich ziemlich altmodisch und vollkommen bäurisch. Kurze Beinkleider von schwarzem Leder bedeckten kaum das Knie, blauwollene Strümpfe schützten die Beine und grobe rindslederne Schuhe mit großen messingenen Schnallen umschlossen seine Füße. Außerdem trug er einen dunkelblauen Tuchrock, der von oben bis unten mit sehr breiten übersponnenen Knöpfen besetzt war, über der Brust aber bloß durch zwei silberne Heftchen zusammengehalten wurde und eine bis [] an den Hals zugeknöpfte Weste von hellerem Tuch sehen ließ. Ein niedriger runder Hut mit sehr breiter muldenartig aufwärts gebogener Krempe bedeckte sein schneeweißes starkes Haupthaar. Als er diesen an der Schwelle des Hauses abnahm, mußte ein fingerbreiter Riemen von schwarzem Glanzleder, den der Alte um das Haar gelegt und vorn auf der Stirn mittelst einer Silberschnalle befestigt hatte, die einen auffliegenden Habicht darstellte, Jedermann auffallen. Dieser Riemen hielt die reiche Haarfülle des Greises fest zusammen und gab dem stramm Einherschreitenden eine überraschende Aehnlichkeit mit irgend einem Helden des Alterthums, wie wir sie aus Abbildungen auf antiken Münzen kennen.
Schon von dem Waldhügel herab hatte der Greis die am Wiesenrande liegende Schenke an ihrer ganzen Bauart, noch mehr an dem leuchtenden Heerd- oder Kaminfeuer für einen der vielen gastlichen Haidekretschame erkannt, die in den endlosen Wäldern zerstreut liegen. Er schien darüber sehr erfreut zu sein und seine strengen, tief gefurchten Züge, die in einem Zeitraume von mehr als achtzig Jahren vielen Kummer [] und schweres Herzeleid erfahren haben mochten, heiterten sich etwas auf, als er in die Schenkstube trat. Es kam ihm Alles darin so bekannt vor, daß er den Arm seines jungen Begleiters drückte und auf der Thürschwelle stehen bleibend mit leiser Stimme zu ihm sagte: »Sieh, Paul, das ist die Heimath Deiner Väter!«
Der Wirth stutzte, als er diese obwohl in deutscher Sprache gemachte Bemerkung hörte und rückte mit größerer Eile, als er sonst zu thun pflegte, ein paar Schemel an den großen in der südlichen Stubenecke befindlichen Tisch. Inzwischen sah der Jüngling sich neugierig im Zimmer um, wo der umfangreiche Kachelofen mit dem großen hellpolirten kupfernen Ofentopfe, und daneben der in die Wand eingemauerte Kamin, auf dem ein knisterndes Kienfeuer hochauf loderte und die dämmernde Stube mit grellem Lichtschein beleuchtete, besonders seine Aufmerksamkeit zu fesseln schienen. Auf der Ofenbank dem Kaminfeuer zunächst saß eine bejahrte Frau mit hagerm, bleichem Gesicht und drehte rastlos beim Schein der Flamme die Spindel. Sie war in schwarze Stoffe gekleidet, nur um das ergrauende Haar, die Stirn mehr als zur Hälfte bedeckend, [] hatte sie ein zwei Hände breites weißes Tuch geschlungen, das am Hinterkopf in zwei steif auslaufende ohrenähnliche Zipfel zu einem Knoten verknüpft war. Sie sah die Fremden mit großen neugierigen Augen an, ohne sie zu grüßen oder ihren Gruß zu erwiedern, und drehte dann emsig die Spindel fort, dann und wann leise mit sich selbst redend. Ihr ganzes Benehmen ließ errathen, daß sie geistesschwach oder vor Alter kindisch geworden sein mußte.
»Ich bitte um Nachtquartier für mich und meine Leute,« sagte jetzt der ernste Greis, am Tische Platz nehmend. »Eine gute Streu und ein Gericht Kartoffeln oder Haidegrütze werdet Ihr wohl für uns haben.«
»Für Euch gäb's wohl auch noch ein Stück geräuchertes Fleisch und frisches Sauerkraut,« fiel der Wirth ein, »und dazu möcht' ich Euch rathen, damit Euer Knecht nicht Hunger leiden darf. Mit Erlaubniß, Ihr kommt aus Polen?«
»Tief aus Polen!«
»Nun ich will hoffen, daß Ihr nicht zu den Rebellen gehört und Eure Papiere in Richtigkeit sind. Die Gensdarmen sind jetzt wachsamer und strenger als vor Jahr und Tag; denn die Haiden [] stecken voll verlaufenen Gesindels, das sich heimlich über die Grenzen geschlichen hat.«
»Mein Paß steht Euch zu Diensten.«
»Daß mich Gott bewahre! Meinethalb frag' ich nicht, es geschieht blos der Sicherheit der Reisenden wegen. Gäb's nicht Gensdarmerie, mir zu Gefallen brauchten die Pässe, weiß Gott, nicht erfunden worden zu sein! Ihr seid kein Pole scheint mir?«
»Von Geburt nicht.«
»Sah's Euch gleich an, alter Vater! So ehrlich und treuherzig wie Ihr, sieht kein polnischer Bauer aus.«
»Muß ich denn gerade ein Bauer sein?« versetzte der Fremde. »Heut zu Tage trägt mancher einen Rock, der nicht auf seinen Leib gemacht ist.«
»Das trifft sich wohl, alter Vater, indeß wer so viel mit Menschen verschiedenen Schlages umgehen muß, wie der Wirth eines Haidekretschams, der bekommt ein scharfes Auge, glaubt mir's, und so leicht ist ihm nicht etwas weiß zu machen! Ja, ich wollte wetten, daß mehr altwendisches als deutsches Blut in Euren Adern fließt!«
[] Der Greis sah den Wirth nach dieser Bemerkung mit seinen hellen dunkelblauen Augen scharf an, und da er einen ehrlichen Mann in ihm zu entdecken glaubte, nickte er und rief ihm den wendischen Gruß »Bomhai boh!« zu, denn bisher war das Gespräch deutsch geführt worden. Schnell und heiter entgegnete der Wirth »Wersh bomhasi!« schüttelte beiden Gästen die Hand und setzte mit Lebhaftigkeit und jener traulichen Freundlichkeit und sorglos-heitern Laune, die den Wenden eigen ist, die Unterhaltung fort.
Inzwischen war auch der jüdische Knecht mit seinem Sohne in das Zimmer getreten und hatte sich abseits vom Schenktische, dem Ofen gegenüber, an einen besondern Tisch gesetzt. Sie verlangten Schnaps und trockenes Brod mit Salz, das ihnen nebst einem Glase Bier ein junges Mädchen vorsetzte. Das Mädchen war stark und kräftig, strotzte von Gesundheit und schien sich um Druck und Noth der Zeit keine Sorge zu machen. Es richtete einige Fragen an die emsige Spinnerin, erhielt aber keine Antwort. Erst, als sie ziemlich heftig ihre Fragen wiederholte und dabei aus Versehen den Faden am Rocken zerriß, sah die alte Frau erzürnt auf. [] Ein paar Sekunden schien es, als wolle sie eine Fluth von Schimpfreden über das Mädchen ausgießen, plötzlich aber ward ihr Gesicht wieder ernst, ein wehmüthiges Lächeln spielte um den reizlosen faltigen Mund, und den Faden wieder anknüpfend und mit größerer Emsigkeit die Spindel drehend, summte sie erst leise, dann immer lauter eine jener melancholischen Liederweisen vor sich hin, die noch heut bei den Wenden der Lausitzen in Gebrauch sind. Nachdem sie mehrere Verse unverständlich geflüstert hatte, erhob sie plötzlich ihre Stimme ganz laut und der fremde Greis verstand die Worte:
»Hinaus sie ihn trugen,
Viel Volk hinterher,
Jüdevoi!
Vor allen sein Liebchen
Ging zwischen zwei Andern,
Jüdevoi!
Das Mägdelein weinte
Und brach ihre Hände,
Jüdevoi!« Bruchstücke noch jetzt unter den Wenden gäng und geber Volkslieder.
[] Hier ließ sie die Stimme sinken, so daß die nächsten Verse den Zuhörern unverständlich blieben, dann aber, die Spindel heftig an sich reißend, an ihren Brustlatz stemmend und den Faden aufwickelnd, fiel sie wieder laut ein:
»Für mich starb der Liebste,
Für ihn will ich sterben,
Jüdevoi!
Hier hab' ich zwei Messer,
Die hat er gekauft mir,
Jüdevoi!
Eins senkte sie in sich,
Warf's and'r hint'r ihm her,
Jüdevoi!.
Begrabt nun uns Beide
Dort unter die Linde!
Jüdevoi!«
Abermals ließ sie die Stimme sinken und erhob sie erst beim letzten Verse wieder zu verständlichem Gesange, indem sie äußerst langsam in zitternden Tönen und Thränen vergießend mehr rief als sang:
[]»Sie liebten sich Beide –
In Eines verflochten,
Jüdevoi!
In Eines verflochten.«
Mit steigender Aufmerksamkeit hatte der junge Begleiter des Greises den Gesang verfolgt. Als nun die spinnende Alte am Schlusse des Liedes die Spindel auf ihren Schooß sinken ließ und schluchzend das Gesicht in die magern Hände drückte, sagte Paul, zu dem Greise gewandt: »Großvater, war das nicht meiner verstorbenen Mutter Lieblingslied?«
»Es war das Lied, das sie nimmer vergessen konnte, die arme Seele!« erwiederte die alte Wende. »Man kennt und singt es, so wenn die wendische Sprache reicht, zumal, wenn man ein selbst erlebtes Unglück zu beweinen hat. Aber wie, Herr Wirth, wie kommt die alte Mutter zu dem Liede?«
Der Wirth zuckte die Achseln. »David wäre viel zu erzählen,« versetzte er, »wenn ich Euch mit den Einbildungen einer schwachsinngen alten Frau unterhalten wollte. Wir sind darauf gewöhnt und lassen uns nicht mehr durch ihre Gesänge stören. Wohl zehn-und mehrmal täglich [] pflegt sie das alte Lied abzuleiern, so oft sie ein junges Mädchengesicht erblickt. Es scheint, sie bildet sich dann ein, ihre Tochter stände vor ihr, die ein schlechtes Ende nahm in Folge einer leichtsinnigen Liebelei. Eine alte Klage aller Aeltern, die nie ganz aufhören wird, so lange es noch junge heißblütige Burschen gibt.«
Das Mädchen hatte unterdeß ein Linnentuch über den Tisch gebreitet, eine Schüssel kaltes Rauchfleisch und gewärmtes Sauerkraut aufgesetzt, und auch ein paar Gläser Bier eingeschenkt. Dann legte sie neue Kienspäne auf die Kaminplatte und fachte die Flamme mit ihrem Athem an, bis sie knisternd hoch aufflackerte und die geräumige Stube leidlich erhellte. Lichter wurden nicht angezündet, das Kaminfeuer mußte, so gut es gehen wollte, deren Stelle ersetzen.
»Nun langt zu, alter Vater, und Du, blonder Junge, sieh munter in die Welt!« ermahnte der Wirth seine Gäste, selbst zulangend und ein tüchtiges Rippenstück auf seinem hölzernen Teller, deren einen jeder Gast erhalten hatte, emsig zerlegend. »Wart Ihr lange in Polen?« fragte er den Greis. »Vordem ging viel Volks dahin, auch hier aus der Gegend. Man erzählte[] sich Wunderdinge von dem billigen Leben in den polnischen Wäldern und von dem leichten Verdienst, den Einwanderer haben sollten, wenn sie die Feld- und Landwirthschaft verständen. Es muß aber doch nicht so gar herrlich gewesen sein, sonst hätten sie wohl schwerlich die martialische Revolution gemacht, die nun ein so klägliches Ende genommen hat! Habt Ihr auch darunter gelitten, alter Vater?«
»Persönlich bin ich verschont geblieben,« versetzte der Wende, »aber zwei meiner Enkel mußten den Aufstand mit ihrem Leben büßen. Doch laßt uns davon schweigen! Es ist nicht gut von Dingen reden, die nicht zu ändern sind.«
»Gedenkt Ihr Euch wieder ganz in Deutschland niederzulassen?« nahm der Wirth das Gespräch abermals auf, da es ihm nicht gemüthlich war, sein Mahl stillschweigend zu verzehren.
»Das hängt von Umständen ab,« erwiederte der Greis, »und vielleicht könnt Ihr mir selbst über Einiges, das für mich bestimmend sein dürfte, Aufschluß geben.«
»Von Herzen gern, Landsmann. Nur zugefragt und Ihr sollt Antwort haben, bis meine Zunge sich nicht mehr rühren kann.«
[] »Ihr seid doch hier einheimisch?«
»Hier und aller Orten in der Haide bis hinauf an die Berge in den böhmischen Grenzen.«
»Da werdet Ihr vermuthlich in früherer Zeit von einem vielbekannten und in seiner Art berühmten Manne gehört haben, den man zu meiner Zeit nur den Maulwurfsfänger nannte von dem Gewerbe, das er trieb. Wißt Ihr wohl, wo und wann der Mann gestorben ist und ob seine Verwandten noch leben? Denn Kinder hat er meines Wissens nicht. Wenigstens war er niemals verheirathet.«
»So gerade heraus, alter Vater, kann ich auf Eure Frage nicht antworten. Es gibt hier in den Haiden mehrere Maulwurfsfänger, alte und junge, die sich alle nähren, viel herumkommen auf den Dörfern, bei Bauern und Herren leicht Quartier finden und alle, der Eine mehr, der Andere weniger, einen guten Ruf haben.«
»Derjenige, den ich meine, kann nicht zehn volle Jahre jünger sein, als ich. Er war nicht aus der Haide, auch kein Wende von Geburt, sondern ein rechter hartköpfiger Oberlausitzer. Bin ich nicht ganz irre, so lebten seine Aeltern auf dem Hahne unterm Hochwalde. Später zog [] er aus dem Gebirge herunter und kaufte sich auf dem hohen Hübel zwischen Löbau und Herrnhut ein Häuschen. Den Ort nannten sie dazumal insgemein ›den Todten‹, weßhalb wir den Mann scherzweise oft den todten Maulwurfsfänger hießen.«
»Mein Gott, mein Gott, wie ist mir denn?« sagte der Wirth im Haidekretscham. »Gewiß, ich kenne den Mann und sicherlich leb er noch und treibt sein Gewerbe so sachte hin immer noch fort; wenn ich mich nur auf seinen Namen besinnen könnte.«
»Mit dem Spitznamen hieß er Pink-Heinrich, weil ihm des vielen Sprechens wegen die Pfeife häufig ausging und er fortwährend genöthigt war, aufs Neue Feuer anzuschlagen, was die Oberländer ›pinken‹ heißen.«
»Meine Seel', alter Vater, Ihr habt Recht!« rief erfreut der Wirth aus, das erhobene Glas wieder niedersetzend, ohne es zum Munde zu führen. »Der Mann lebt und wie Gesund und frisch wie ein junger Bursche und alert wie eine Forelle! Weiß Gott, wie er es macht, daß ihn nichts auf Erden anficht, weder Krankheit, noch Krieg, noch Kummer noch Arbeit! Er läuft wie ein Rebhuhn noch heut sein [] sechs Meilen des Tages und schläft dann auf harter Bank besser, als mancher großmächtige König und Herr in seinen weichen Pfühlen! Ja das ist noch ein Mann, so unverwüstlich und herzerfreuend, wie die Berge, auf denen er jung geworden!«
Zustimmend lächelnd nickte der Greis freundlich mit dem Kopfe. »Ihr schildert den Pink-Heinrich meiner Jugend, den wackern Helfer in jeglicher Noth, den Freund aller Armen, Nothleidenden und Bedrückten und den unversöhnlichen, aber schlauen Feind rechtloser Gewalthaber! Er lebt! Gott, der Mann lebt! Und wißt Ihr, wo ich ihn treffen, ihn sprechen kann?«
Zwar kam es dem Wirth sonderbar vor, daß sein Gast, der seit langer Abwesenheit tief aus den Wäldern des zerrütteten, mit Blut gedüngten, rechtlos unterjochten Polen kam, mit solchem Jugendfeuer von einem Manne sprach, der in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr Geltung hatte, als der gemeinste Tagelöhner, indeß war er doch auch zu gutmüthig und mittheilsam, als daß er einen Gast, der noch dazu von Stamm sein Landsmann war, nicht die gewünschte Auskunft hätte geben sollen.
[] »Wenn Euch daran gelegen ist, den Maulwurffänger zu sprechen,« versetzte er nach kurzem Besinnen, »so könnte ich Euch wohl einen Ort nennen, wo Ihr ihn sicher trefft, wenn die Witterung nicht ganz zum Davonlaufen schlecht wird. Das Häuschen auf dem Todten hat er längst verkauft, weil's ihm zu einsam gelegen war und er die Aussicht nicht mehr leiden konnte. Sie hatten ihm nämlich in den ersten zwanziger Jahren oder noch früher kaum eine Viertelstunde von seinen Fenstern am Saum des Waldes ein Rad aufgepflanzt und darauf die Gebeine eines Mordbrenners geflochten, der wohl ein halbes Dorf aus gemeiner Rache in Asche gelegt hatte. Das verdroß ihn und so zog er in das letzte sächsische Dorf auf der Straße von Löbau nach Reichenbach. Was ihn bewegen mochte, gerade diesen Ort zu wählen, weiß ich nicht anzugeben. Es muß aber wohl eine besondre Bewandtniß damit haben.«
»Wie so?« warf der Greis fragend ein.
»Ich vermuthe dies blos, weil der Mann so lange ich ihn kenne, und das mögen jetzt an die zwanzig Jahre her sein, alle Sonntage, dir Gott werden läßt, und an denen nicht Hagen [] oder todbringendes Schneewetter die Wege ungangbar macht, in die Königshainer Berge wallfahrtet. Kennt Ihr den Todtenstein?«
»Ob ich ihn kenne!« sagte der Greis, die Hände faltend und seine großen blauen Augen mit schauerlichem Ernst zum Himmel aufschlagend.
»Nun seht,« fuhr der Wirth fort, den die geheimnißvolle Schweigsamkeit des alten Wenden immer mehr anzog, »heut ist Sonnabend, will's Gott, und wenn Ihr morgen in der Frühe mit Eurem ungläubigen Kutscher aufbrecht und die Richtung nicht ganz verliert, auch Euer gottserbärmliches Gerüll von Wagen nicht auf unsern mitunter holprigen Wurzelwegen zerbricht, so mögt Ihr in den ersten Nachmittagsstunden am Fuße der Königshainer Berge ankommen. Macht Ihr Euch dann auf den Weg und geht schnurstracks nach dem Todtensteine, den Ihr in einer guten halben Stunde vom Gasthofe aus erreichen könnt, so werdet Ihr unter irgend einer der vorspringenden Felsenkanten den Mann, den Ihr sucht, in stilles Nachdenken verloren sitzen sehen! Ob er ein Anhänger des lieben Heidenthums ist, das vor alten Zeiten in der Gegend gehaust haben soll, oder ob er heimlich Schätze gräbt[] oder gar mit den Geistern und Holzweibeln Verkehr treibt, die um die schauerlichen Klüfte schweben und ihre unheimlichen Weisen singen, das weiß ich nicht und mag's auch nicht wissen! Aber ich will kein Wort wendisch mehr sprechen, wenn Ihr dem Pink-Heinrich nicht am Todtensteine begegnet!«
Sichtlich erheitert reichte der alte Wende dem Wirth die Hand über den Tisch, dankte und trank ihm nach altwendischer Sitte zu. »Gott segne Euch und Euer Haus für diese Auskunft!« sagte er. »Ruhiger, als ich glaubte, lege ich jetzt mein weißes Haupt auf das Stroh nieder, das auf dem Boden meiner theuren Heimath gewachsen ist! Schwere, traurige, furchtbare Schicksale vertrieben mich daraus und ich verließ sie mit der lähmenden Gewißheit, sie nie mehr wieder zu sehen. Aber der Herr hat es anders mit mir beschlossen. Er will vielleicht die Wunden, welche seine prüfende Hand meinem armen Herzen in den Jahren der Kraft schlug, jetzt im Alter heilen und einen vollen, segnenden Strahl seiner Gnade mir schenken! Sein Name sei gepriesen, was mir immer begegnen möge, aber verdreifacht wird mein Glaube werden, der mich[] stets aufrecht erhalten hat in Noth und Elend, wenn ich diese abgehetzten Glieder endlich nach langer Irrfahrt an meiner Aeltern Grabe zur Ruhe niederlegen sollte.«
Der Greis sprach so ernst und feierlich, daß selbst dem etwas neugierigen Wirth, der gern heiter und launig war, die Wiederanknüpfung des Gespräches verleidet ward. Er schwieg gänzlich, auch der jüdische Kutscher mit seinem Sohne flüsterte nur leise, dagegen erhob die spinnende Alte, die schon längst wieder ihrer Gewohnheit nach die Spindel drehte und ein Gespräch nur dann beachtete, wenn Worte darin vorkamen, die irgend ein vergangenes Ereigniß urplötzlich in ihr unklares Gedächtniß zurückriefen, abermals ihre Stimme. Phantastisch die linke Hand schüttelnd, sprach sie in singendem dumpfem Tone:
»Zu Haus, im Felde
Zwiefache Noth!
Schlimm ist's für Jeden,
Der hat kein Brod!«
Dann fiel sie sogleich in ein lustiges Gelächter, stampfte taktmäßig mit dem Fuße auf das Bänkchen ihres Rockenhalters und sang munter [] und fröhlich, den Kopf hin und her wiegend und häufig laut dazwischen auflachend, indem sie die Spindel in hohen Bogen um sich tanzen ließ:
»Tom tom tinz,
Sie buck 'ne Blinz;
Tom, tom tich,
Drauf lüstert's mich.
Tom tom tin,
Sie gab mir ihn;
Tom tom tauf,
Ich aß ihn auf.
Tom tom ther,
Ich wollte mehr;
Tom tom ticht,
Sie gab mir's nicht.
Tom tom terr,
Da kam der Herr,
Tom tom tort,
Ich wälzt' mich fort.«
»Wollt Ihr nicht Feierabend machen, Mutter Maja?« sagte jetzt der Wirth zu der wunderlichen Alten, als sie den barocken Gesang endigte. »Ihr habt ja bald einen ganzen Rocken abgesponnen und was soll ich mit dem vielen [] Garne anfangen bis Weihnachten? Der Garnsammler kommt nicht vor Neujahr, wie Ihr wißt, und in unserm ganzen Hause gibt's so viel Mäuse, daß weder Speck noch Flachs einen Tag lang sicher sind. Schade um Euer schönes Gespinnst!«
»Wohl gesprochen, mein Sohn! Ich will schlafen gehen,« erwiederte die Alte, schob den Rocken bei Seite und steckte die Spindel darauf. »Des Nachts seh' ich die Wassernixen tanzen, und wenn sie singen und mit mir reden, macht's mir keinen Aerger, wie das dumme Geschwätz der Mägde. Gute Nacht, Jürge; wünsche angenehme Ruhe, edle Herren!«
Sie stand auf und machte ein paar tiefe Knixe gegen die Fremden, worauf sie langsam die Thür aufstieß und quer über die Hausflur nach ihrer eigentlichen Wohnung schritt. Denn Mutter Maja lebte als Wittwe des früheren Wirthes und als Mutter des jetzigen im Ausgedinge.
»Es ist übel mit solchen alten Leuten,« sagte Jürge zu seinen Gästen. »Mit Härte und Gewalt ist nichts von ihnen zu erlangen und Güte und freundliches Zu reden fruchten blos dann, [] wenn sie grade mit ihrem verworrenen Gedankengange im Einklange stehen. Die arme Mutter! So treibt sie's nun alle Tage schon seit Jahren! Bald bricht sie in herzerschütterndes Weinen aus und singt die traurigsten Lieder unseres Volkes, bald, ehe man die Hand umdreht, lacht und jubelt sie und erinnert sich der schabernäckischen Weisen, mit denen die jungen Burschen ihre Mädchen bei der Spinte und auf dem Felde necken. Denn Ihr müßt wissen, daß Maja die erste Liederkennerin im ganzen Wendenlande ist. Fragt sie, wonach Ihr immer wollt, sie wird Euch Rede stehen und auf jedes Begegniß, auf jede Verrichtung im gewöhnlichen Leben einen passenden Vers, ein Lied oder einen Spruch wissen! Deßhalb kommen auch Sonntags im Winter die Burschen oft stundenweit her zu mir, um von der Mutter neue Lieder und Melodien zu lernen, und es geht dann in meiner einsamen Schenke häufig lustiger zu, als im besuchtesten Kretscham großer Hofedörfer.«
Nach seiner Weise gab der Greis seine Zustimmung durch Kopfnicken zu erkennen. Die heitere, unbefangene Unterhaltung des Wirthes gefiel ihm und er hätte gern noch etwas Näheres [] über die Verhältnisse des Mannes und seiner alten gestörten Mutter erfahren, da ihm die Schicksale seiner Stammesgenossen immer wichtig erschienen, weil er selbst von den traurigsten nicht verschont geblieben war, allein die Müdigkeit Pauls, der schon während des Essens eingenickt war, und der Wunsch, am nächsten Morgen zeitig wieder aufzubrechen, bestimmten ihn, für diesmal neue Erörterungen zu unterlassen. Er bat daher den Wirth, daß er die Streu für ihn möge bereiten lassen, was dieser bereitwillig selbst unternahm. Der Knecht, der schon geraume Zeit am Ofen gesessen hatte, führte den Juden in den Stall und wies ihm und seinem Sohne auf dem Futterkasten eine warme Lagerstatt an.
»Solltet Ihr früher wach sein, als ich oder meine Leute,« sagte der Wirth, nachdem die Streu auf umgestürzten Schemeln bereitet war, so dürft Ihr blos mit dem Deckel des Ofentopfes herzhaft klappern. »Das ist unsere Klingel, für die wir allesammt ein gar feines Ohr haben. Gute Nacht, der Herr behüte Euch!«
Er drückte seinen Gästen nochmals die Hand und ging dann ohne Licht, wie die Uebrigen, in die an die Wohnstube stoßende Schlafkammer.
[] Zweites Kapitel.
Eine Eröffnung.
Unter halblautem Gebet streckten sich Greis und Jüngling auf die duftige Streu. Wie schläfrig aber auch Paul den ganzen Abend gewesen war, so munter ward er jetzt, als jedes Geräusch um ihn her verstummte. Die bleichen Flämmchen, die noch zuweilen über dem Aschenhäufchen des erlöschenden Kaminfeuers gaukelten, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich und beschäftigten seine Einbildungskraft. Die todte Stille der Haide, von keinem Thierlaut unterbrochen, wirkte gewaltiger auf den Geist des Jünglings ein, als das verworrenste Gelärm. Die Nacht war so still, daß nicht einmal das fast nie feiernde leise Rauschen der Wälder, dies Athmen der Natur, gehört ward. Sanft rieselnd [] schlug ein feiner Regen an die Fenster, dem sich bald das lautere Plätschern einer ausgießenden Dachrinne auf die Steinplatten vor dem Hause zugesellte.
Das wiederholte tiefe Aufseufzen des Großvaters sagte ihm, daß auch diesen der Schlummer fliehe. Jetzt mehr als vorher, wo fremde Gesichter ihn störten, zum Reden aufgelegt, sprach er zu dem Greise:
»Ihr schlaft auch nicht, Großvater?«
»Mit den Jahren kommt der Schlaf nur langsam, doch laß Dich dadurch nicht in Deiner Ruhe stören, Paul!«
»Mir ist's, als hätt' ich schon ausgeschlafen. Hört nur, wie es regnet!«
»Haidewetter, nichts weiter!«
»Großvater, ich möcht' Euch was fragen.«
»Wer verwehrt es Dir?«
»Haben wir noch weit bis an den Ort, wo meine selige Mutter geboren ward?«
»Nein, Paul! Wir kommen aber vor jetzt nicht dahin.«
»Aber warum denn nicht? Ich möchte so gern das Haus sehen, wo sie gewohnt, wo sie Euch gepflegt und geliebt hat.«
[] Der Greis richtete sich auf und wendete sein patriarchalisches Gesicht dem Enkel zu. Die hüpfenden bläulich rothen Flämmchen am Kamin beleuchteten ruckweise seine ausdrucksvollen, von Schmerz durchfurchten, aber in Demuth gefaßten Züge. »Paul,« sprach er, »ich habe, als wir zusammen die weite Reise antraten, versprochen, deren Veranlassung und Zweck Dir an dem Tage zu erklären, wo wir das Land unserer Väter betreten würden. Dieser Tag ist gekommen, und da es scheint, als wolle Gott mein Gebet erhören und mir die letzten Stunden meines Lebens aufheitern, so will ich gleich jetzt mein Wort lösen und Dich, so weit es frommt, in das einweihen, was die Zukunft auch von Dir erheischen wird.«
»Du hast mich oftmals gefragt,« fuhr der Greis fort, »weshalb ich, da es doch sonst Niemand zu thun pflegt, mit ledernem Riemen mir Haar und Stirn umwinde? Es geschieht dies zur Erinnerung an eine schwere und furchtbare Vergangenheit, deren Schauplatz diese endlose Haide und deren Umgegend ist. Oft, lieber Paul, ehe die blutige Revolution in Polen ausbrach, hast Du den Zustand der elenden unwissenden [] Bauern beklagt, die jeder Laune ihrer hochmüthigen, brutalen Herren demüthig nachkommen müssen und nicht einmal murren dürfen, wenn sie unmenschlich gemißhandelt, gleich dem Vieh mit Füßen getreten werden. Es ist dies das beklagenswerthe, empörende Loos aller Leibeigenen, es war auch das meine, Paul, als ich hier lebte, denn Dein Großvater war ein Leibeigener!«
Hier überwältigte das Gefühl den alten Wenden, die Stimme versagte ihm, in lautem Schluchzen und weinend barg er sein Antlitz in die zitternden Hände.
»O Gott, o Gott!« rief Paul. »Wie kann dies möglich sein!«
»Es war noch weit mehr möglich,« versetzte der Greis, sich wieder beruhigend. »Höre mich an und schweige! – Wir, die wir einem und demselben Herrn unterthan waren, wir erhielten von ihm am Tage der Confirmation den Stirnriemen als Schmuck und Zierde, wenn Du willst als Abzeichen. Wie man den Schaafen mit glühendem Eisen eine Ziffer in ihre Wolle brennt damit kein Anderer sie als sein Eigenthum ansprechen kann, so legte uns unser Herr und Gebieter [] diesen schimmernden Sclavenring um die freie Stirn, um uns aus allem Volk heraus zu erkennen und sein Recht auf uns geltend zu machen! Du wirst sagen, wir hätten ja nur dieses Band der Schmach wegwerfen und fliehen dürfen, um frei, um Menschen zu werden, aber das war nicht so leicht! Einmal ist der in schimpflicher Abhängigkeit geborene Mensch von Natur feig und nur im Augenblick wilder Aufreizung zu selbstständigen Thaten und Entschlüssen fähig, und sodann gab es tausend Verräther aus Furcht vor Strafe. Nie gelang es einzelner Flüchtlingen, für immer zu entkommen. Man entdeckte ihre Spur, ehe sie noch die Grenzen überschritten hatten, und dienstwillig lieferte sie ein Herr dem andern aus!«
»Aber Ihr entkamt ja doch, Großvater Ihr fandet in Polen Aufnahme und ein freies Leben, warum kehrt Ihr nun dahin zurück, wo es Euch so elend erging, und noch dazu mit der Abzeichen der Knechtschaft um die Stirn?«
»Ja,« sagte der Greis, »ich entkam, aber nicht allein, nicht, weil ich es überdrüßig was zu dienen, sondern in Folge eines Ereignisses wovon Du später hören sollst! – Warum ich [] hieher zurückkehre und das Band der Sclaverei trage? Nun, ich suche am Rande des Grabes mein Vaterland auf, um Gerechtigkeit zu fordern oder Rache zu üben! Und ich habe diesen Reif der Schmach und Schande bis heut getragen, damit er mir in jeder Minute ein ernster Mahner sein möge nicht blos an mein eigenes vergangenes Elend, sondern an die rechts- und naturwidrige Unterdrückung von tausenden meiner Brüder! Längst hätte ich zu sterben gewünscht, denn ich habe alle meine Angehörigen begraben, wäre nicht die Bitte stärker gewesen, die ich an Gott richtete, mich noch die Zeit erleben zu lassen, wo das Wort Sclaverei nur noch in der Sprache, nicht mehr in der Welt existirt! So lebe ich noch, und ich fürchte noch lange leben zu müssen, sollte der Herr der Sterne die Wünsche der Sterblichen dem Wortsinne nach erhören!«
»Gewiß, Gott wird Euer Gebet erhören!« sagte Paul mit der naiven Zuversicht eines jungen Menschen, der noch geneigt ist, die Lehren der Schule ohne Bekrittelung als untrüglich hinzunehmen. »Ihr werdet dann auch Eure Enkelin, meine Schwester, wiedersehen, von der ich Euch so oft heimlich mit der Mutter sprechen [] hörte, wenn sie heftig weinte und keinen Trost finden konnte.«
Ein letztes Aufflackern des Kaminfeuers warf bei diesen Worten helle Lichter auf den Greis. Paul er schrak, als er die entsetzten Mienen des Großvaters gewahrte, die seine Bemerkung hervorgerufen hatte.
»Um Gott, Großvater!« schrie der Jüngling auf und warf sich an die breite Brust des Greises. »Was ist Euch? Ihr seht ja bleich, wie die steinernen Männer auf den Kirchhöfen, und Eure Augen glühen wie Kohlen!«
»Fürchte Dich nicht,« erwiederte der Alte, schwer aufathmend. »Ich zürne nicht, ich bin auch nicht krank, ich wußte nur nicht, daß schlafende Kinder zuweilen wachen.«
»Ich darf also hoffen, meine Schwester zu sehen?« fragte Paul nochmals.
»Deine Schwester! Nun ja, ja, Du hast oder hattest eine Schwester, aber ich weiß doch nicht, ob Ihr einander liebhaben würdet!«
»Hat denn die selige Mutter nie etwas von ihr gehört?«
»Sie war verschollen oder verloren gegangen, [] ehe wir auswanderten,« erwiederte ausweichend der Greis.
»Das ist traurig!« sagte Paul. »Ich war immer der Meinung, jener Brief mit dem zerbrochenen Kreuz, der Euch so heftig erschütterte, sei von dieser unbekannten Schwester und ihr gelte unser Besuch, nachdem wir in Polen keine näheren Freunde mehr hatten.«
»Allerdings war es jener Brief, den ich noch auf meinem Herzen trage, welcher mich zum Verkauf meines kleinen Höfchens veranlaßte. Er rührte von dem Manne her, den wir morgen aufsuchen wollen. Der Maulwurffänger war, so lange ich in meiner Heimath lebte, mein treuester, uneigennützigster Freund. Er war der Letzte, dem ich beim Abschiede die Hand drückte und der mir wiederholt die Versicherung gab, daß er nie aufhören würde, meiner zu gedenken und nach Kräften für Freimachung meiner Stammbrüder zu wirken. Wir versprachen uns gegenseitig, einander zu schreiben, aber die Sorgen und Mühen schwerer Jahre ließen mich dies Versprechen scheinbar vergessen. Ein einziges Mal bald nach meinem Anlauf meldete ich dem Freunde, wie es mir in der Ferne gehe, und bald kam ein [] ausführliches Antwortschreiben zurück, das neben manchem lustig klingenden Schwank viel Trauriges enthielt. Mir fehlte es an Zeit und Stimmung, darauf zu antworten, und so erfuhr ich auch nichts mehr von dem aufopfernden Freunde. Nur die Hälfte des Messingkreuzes, das wir beim Abschiede theilten, damit es uns als Erkennungszeichen dienen möge am Tage der Noth oder des Glücks, bewahrte ich sorgfältig auf. Der Brief des Maulwurffängers enthielt die andere Hälfte und eben dies zeigt mir an, daß er mir Eröffnungen von außerordentlicher Wichtigkeit zu machen hat.«
»Habt Ihr ihm denn unsere Ankunft gemeldet?«
»Wie hätte ich dies vermocht! Auch bedarf es dessen nicht! Ich kenne den Muth und die Ausdauer Heinrichs, der nicht müde werden würde, täglich nach mir auszuschauen und die Hoffnung erst mit dem letzten Athemzuge aufzugeben. Ist er, wie der Wirth versichert, wirklich noch am Leben, so finden wir uns irgendwo zusammen, um uns fernerweit zu berathen.«
»Nun dann, Großvater, laßt uns freudig Vertrauen fassen,« sagte Paul. »Unangefochten [] haben wir den alten theuren Vaterlandsboden betreten, sind herzlich begrüßt worden von diesem Fremden und wissen sogar die Wege, die wir gehen sollen. Weßhalb da noch zagen und fürchten! Laß uns gemeinschaftlich den Allmächtigen anrufen und auf unsern Knien ihn um Erhörung bitten. Er wird dann die milden Schatten des Schlummers über unsere Augen breiten und die trüben Erinnerungen in unsern Seelen auslöschen, bis das Licht des neuen Tages uns weckt.«
Die ungeheuchelte natürliche Frömmigkeit des Enkels rührte den Greis und gab ihm wirklich ein Vertrauen, das eigener Wille nicht mehr lebendig machen konnte.
»Amen! Amen!« versetzte er. »Du sprichst, wie rechtgläubige Christen handeln sollten. Komm denn und laß uns beten!«
Und der Greis kniete auf sein Strohlager, streckte die Arme nach seinem jungen Enkel aus und schloß ihn fest an seine Brust. Paul aber begann mit bewegter, halblauter Stimme eines jener langen, aus einer Menge Bibelsprüche und Liederversen zusammengesetzten Gebete, worauf die Landleute besonders viel halten, herzusagen. [] Andächtig und gemessen wiederholte der Greis jeden Satz, und wer diese beiden in hoffnungreiches Gebet tief Versunkenen so treuherzig und kindlich gläubig einander umschlingen gesehen hätte, der würde nicht ungerührt vorüber gegangen sein und, wäre er ein Verächter des Glaubens gewesen, vielleicht mit dem Seufzer des Zöllners an seine Brust geschlagen haben.
Wohl eine Viertelstunde beteten Großvater und Enkel. Dann küßte Paul die faltige Stirn des Greises und Beide legten sich wieder auf die harte, prunklose Streu. Noch hörten sie eine Zeitlang das raschelnde Brüseln des feinen Regens an den Fensterscheiben, zählten die Tropfen, die in gemessenen Pausen durch eine schadhafte Stelle des Daches über ihnen auf einen metallenen Gegenstand fielen, und versanken dann unmerklich in einen erquickenden traumlosen Schlummer, aus dem sie erst durch das Knarren der Thür wieder erweckt wurden, welche zur Kammer des Wirthes führte.
[] Drittes Kapitel.
Der Todtenstein.
Ein kühler Nordwestwind hatte über Nacht die Regenwolken zerstreut und die rein und klar aufgehende Sonne verhieß einen schönen Tag. Mit freundlichem »guten Morgen!« grüßte der Wirth seine Gäste, die schnell aufstanden und die Strohhälmchen, welche an Haaren und Kleidern hängen geblieben waren, abschüttelten.
»Ihr habt eine ruhige Nacht gehabt unter meinem Dache, will ich hoffen?« sprach der Wirth, klappte den Deckel des Ofentopfes auf und fuhr mit beiden Händen in das noch laue Wasser. »Schönes Reisewetter heut und gute Haidewege! So ein anhaltender Nachtregen ist der beste Wegausbesserer. Ihr findet harten Sand bis an die bergigen Lande hin.«
[] Ohne die Antwort der Reisenden abzuwarten, schlug er den kupfernen Deckel jetzt drei Mal laut schallend zu, worauf die hübsche Magd vom vorigen Abend den Kopf zur Thür hereinsteckte und nach seinem Begehr fragte.
»Zünde Feuer an, Lene!« befahl der Wirth, »Der Morgen ist schaurig, und ehe die Sonne über die Haide geht, fegt uns der Wind die ganze Stube aus. Du kannst auch ein Kienfeuerchen anmachen der Heimlichkeit wegen und hörst Du, sag' dem Knecht, er solle das faule Judenpack wecken und ihm die Pferde unserer Nachtgäste anschirren helfen! Ihr wollt doch bei Zeiten aufbrechen,« fuhr er, zu dem Greise gewandt, fort, »oder habt Ihr Euch anders besonnen?«
»Mein Beschluß steht fest. Sobald der Fuhrmann gefüttert hat, brechen wir auf.«
»Doch zuvor eßt Ihr noch ein paar Löffel frische Grützsuppe. Die Lene versteht sich auf die Kocherei, wie selten eine Dirne. Euer Lebtage, sag' ich Euch, habt Ihr in Polen keine solche Grützsuppe gegessen, wie ich sie Euch vorsetzen werde.«
Dankbar nahmen die Reisenden diesen Vorschlag[] an und gaben gern schon dem freundlichen Wirthe zu Gefallen zu, daß die genannte Morgenspeise untadelig und überaus vortrefflich sei. Nach diesem derben kräftigen Frühstück berichtigte der Greis die billige Zeche und verabschiedete sich von dem Schenkhalter.
»Habt Dank,« sprach er, »für Quartier, Kost und gute Auskunft, die Ihr mir gegeben. Der Herr vergelt's Euch tausend Mal, und sollten wir uns einmal wieder zusammenfinden, will's Gott, so möge unser Wiedersehen ein recht fröhliches sein. Behüt' Euch Gott!«
»Reis't glücklich, alter Vater, und macht gute Verrichtung! Aber sagt, wollt Ihr mich so fremd wieder verlassen, als Ihr in mein armes Haus getreten seid? Es ist Sitte bei uns, daß ein Nachtgast seinen Namen zurückläßt. Also, wie nennt Ihr Euch?«
»Jan Sloboda,« versetzte der Greis. »Der Name erlöscht mit meinem Tode, da ich keine männlichen Nachkommen habe.«
»Gottes Segen auf Euer Haupt, Jan Sloboda!« rief der Wirth, schüttelte dem Alten wiederholt die Hand und half ihm in das zerbrechliche Fuhrwerk steigen, das bereits vor der [] Thür auf die Reisenden wartete. Der schmächtige jüdische Knabe sprang auf den Wagentrim der Kutscher pfiff den Pferden und in munter Trabe ging es fort an dem Wiesenrande hin in die rauschende, harzduftige Haide hinein.
Der sandige, vom Nachtregen festgeschlagen Weg führte dicht an den großen Teichen von über, die alle nur durch schmale Dämme getrennt waren und mittelst Schleußen mit einander in Verbindung standen. Zusammen bildete sie eine ansehnliche Wasserfläche, die auf alle Seiten von der dichtesten Haide umschlossen ward. Ein paar Vorwerke, Torfhütten und ein Forsthaus lagen in der Nähe auf ausgerodetem Haideboden. Der Fahrweg streifte fast die Försterwohnung, bog alsdann wieder in die Kieferwaldung ein und verlor sich im Dunkel der hohen, rauschenden Stämme. Die Reisenden brauchten ein paar Stunden, um diese Wälder in querer Richtung zu durchschneiden, und sie würden auf diesem einförmigen Wege lange Weile gehabt haben, wären sie nicht von Zeit zu Zeit an Köhlerwohnungen und Pechsiedereien vorübergekommen, um die es immer ein buntes Gewimmel von Menschen gab. Auf freien, hochgelegenen [] Plätzen im Walde, über die sich die Straße zog, sahen die Reisenden auch über dem unabsehbaren schwarzen Dickicht die blauen Rauchsäulen der Meiler an hundert Orten zugleich in die kühle Morgenluft steigen.
Mit dem Aufhören der Haide nahm die Gegend sogleich einen andern Charakter an. Thäler, Hügel, Berge und Felsgruppen traten zu romantischen Aus-und Ansichten zusammen. Klare, lebendige Bäche hüpften murmelnd über Kies und schimmerndes Gestein. Heitere Dörfer zogen sich in Thälern und an Hügeln hin. Kirchthürme blinkten im Sonnenschein und die hohen Giebel und alten Thurmzinnen manchen Edelhofes sahen aus ehrwürdigem Ulmen- und Eichengebüsch hervor. Das Geläut der Glocken, die zur Kirche riefen, ertönte auf allen Seiten, und berührten die Reisenden ein Dorf, so begegneten sie häufig geschmückten Mädchen und Frauen, die wohl dem ungewohnten Fuhrwerk verwundert nachsahen.
Obwohl der Jude seine Pferde tüchtig antrieb, war die Mittagsstunde doch schon vorüber, als das am Fuß seiner romantischen Gebirge prächtig gelegene Königshain den Reisenden [] sichtbar ward. Paul konnte sich nicht satt sehen an den vielen wechselnden Fernsichten und den sonderbar gestalteten Gipfeln der Berge, die kühn und phantastisch hinter dem im Thale liegenden volkreichen Orte emporstiegen. Hätte Sloboda ihn nicht belehrt, daß er nur uralte Felsgebilde vor sich habe, so würde der schaulustige Jüngling mit Zinnen und Wartthürmen geschmückte ungeheure Burgtrümmer aus dem Mittelalter zu erblicken geglaubt haben.
Von einer Menge gaffender Kinder umgeben, erreichte das polnische Fuhrwerk den Gasthof. Hier beschloß der Greis bis auf Weiteres zu rasten, ließ ein Mittagsmahl auftragen und erkundigte sich, gleich einem Fremden, nach den Sehenswürdigkeiten der Gegend und namentlich nach den umliegenden merkwürdigen Felsbergen. Der Wirth war sogleich bereit, jede möglich Auskunft zu geben. Er hielt die Reisenden für Russen schon wegen der ungewohnten Tracht des Greises und pries ihnen die wundervolle Aussicht auf den nahen Bergen, namentlich auf dem Todtensteine, mit beredter Zunge an.
»Den Todtenstein, ja, den müssen Sie sehen, meine Herrschaften,« sagte er, auf einem Schemel [] neben den Reisenden Platz nehmend und behaglich seine Pfeife rauchend. »Das ist ein Felsen, wie es keinen mehr gibt in deutschen Landen! Die Gelehrten aus Görlitz und Dresden und andern berühmten Städten kommen blos hieher, um die alten Steine zu beschauen, und ich habe von den gelahrten Herren manch wundersames Wort vernommen, wenn sie nachher mit einander bei einem Glase Bier hier an demselbigen Tische über das Gesehene und Gefundene discurirten. Sie müssen nämlich wissen, meine Herrschaften, daß hier herum und weit ins Land hinein, sogar bis hinauf in die Gebirge vor alten Zeiten dumme und blinde Heiden gewohnt haben, von denen die Wenden nach Löbau zu und weiterhin noch ein Ueberrest sind. In meiner Jugend gab's auch ganz in der Nähe noch einzelne wendische Bauern, jetzt aber sind sie schon seit Jahren theils ausgestorben, theils weggezogen. Es hieß, sie hätten sich nicht mit den Deutschen vertragen können, was leicht sein kann, denn es ist ein hartköpfiges, abergläubisches Volk, das eine Sprache redet, wie sie kein Hund bellt! – Aber, was ich sagen wollte, die Herren Gelehrten und Bücherschreiber haben es [] richtig herausgebracht, daß diese alten Heiden auf dem Todtensteine ihre götzendienerischen Opfer gehalten, ihre Feinde geschlachtet und sie nachher mit Stumpf und Stiel verbrannt haben. Denn grausam, ach grausam war das Volk ganz abscheulich! Letzthin erst, es sind noch keine vier Wochen her, haben ein paar Gelehrte, die über acht Tage lang in den alten Klüften herumgekrochen sind und alle Spalten visitirt und genau beguckt haben, eiserne Ringe gefunden und Kettenglieder und einen steinernen Schlägel, den sie ein Opferbeil nannten, und Blutkrüge und Schüsseln und mehr solch Zeug, was Alles die wendischen Götzenpriester bei ihren Opferfesten brauchten. Deswegen, meine Herrschaften, weil entsetzlich viel Blut da oben vergossen worden ist, heißt der Fels auch bis auf den heutigen Tag der Todtenstein!«
Nach diesen Bemerkungen, die Sloboda dankend hinnahm, erbot er sich, da es gerade Sonntag sei und er weiter nichts zu thun habe, die Reisenden, wenn sie es wünschen sollten, zu begleiten. Damit war aber dem Greise nicht gedient, weshalb er für diese Gefälligkeit dankte unter dem Vorwande, daß er schwerlich schon heut [] dazu kommen werde, die umliegenden Berge zu besteigen, indem wichtige Geschäfte seine Zeit in Anspruch nähmen, an einem der nächsten Tage dagegen würde es ihm sehr angenehm sein, wenn er ihm einen der Gegend kundigen Führer verschaffen wolle. Der Wirth stand sogleich von seinem Vorhaben ab, da er auf ein längeres Verweilen der Reisenden hoffen durfte, und Sloboda konnte sich nach einiger Zeit in Pauls Begleitung unbemerkt entfernen.
Auf Stegen, die ihm noch wohl bekannt waren, führte Sloboda seinen Enkel aus dem Dorfe. Ein vielspuriger Feldweg zog sich den Berg hinan, dessen Gipfel die hohe und breite Steinmasse der granitenen Burg schmückte. Links und rechts war der Berg eine gute Strecke hinauf bebaut, bis Steingeröll, Schlinggewächse und Schwarzholz das fruchttragende Erdreich verdrängten.
Etwa einen Büchsenschuß von dem Todtensteine entfernt hörte der eigentliche Weg auf. An dieser Stelle übersah man das reich angebaute Land mit seinen Dörfern, Schlössern und Kirchen bis weit in die Lausitz hinein. Sloboda blieb stehen und kehrte sich um. Eine Thräne [] rieselte über seine gefurchten Wangen, und indem er Pauls Hand ergriff und auf die sich kreuzenden Pfade deutete, deren eine Menge nach allen Seiten liefen, sprach er: »Das ist der Ort, wo das große Unglück begann!«
»Welches Unglück, Großvater?«
»Das mich vertrieb, mich flüchtig und heimathlos machte und Dich unter einem fremden Volke geboren werden ließ.«
»Und das meine arme Mutter nie vergessen konnte?«
»Das sie nie vergessen durfte!« wiederholte Sloboda mit dumpfem Zornesgrolle.
»Ach warum habt Ihr so oft davon gesprochen und mir doch nie gesagt, worin es bestanden hat!«
»Weil es unnütz gewesen wäre! Doch jetzt Paul, ist vielleicht die Zeit gekommen, wo Du erfahren mußt, was Deine Mutter, Dein Vater, was ich und alle Diejenigen erduldet haben, die vor vierzig und mehr Jahren in diesen gesegneten Fluren lebten! Darum laß uns eilen! Dort oben unter den drohenden Granitklippen des Todtensteines wird sich das Räthsel lösen!«
Mit sonderbaren Gefühlen traten die beiden [] Reisenden in das gelichtete Holz einen schmalen Fußsteig hinanklimmend, der durch niedriges Gestrüpp, durch Wachholderbüsche und Brombeergesträuch grade nach dem Granitfelsen führte, dessen schwarzgraue Breitseite, von Immergrün, Epheu, wildem Wein und Hopfen malerisch umrankt, wie eine ungeheure Burgmauer grade vor ihnen lag. Hie und da wucherte in dürftigem Erdreich eine Kiefer auf dem Gestein und schlang ihre gekrümmten Wurzeln, gleich goldglänzenden Schlangen, um die vorspringenden Felsen. Der Anblick des Todtensteines war imposant und staunend starrte der junge Paul die zerrissenen, wohl achtzig Fuß hohen Wände an, um die jetzt pfeifend der Nordwestwind heulte. Sloboda aber ließ ihm keine Ruhe. Schneller, als man von dem Greise erwarten konnte, schritt er nach einer tiefen Kluft, die den riesigen Granitblock in zwei ungleiche Hälften zerschneidet und den Aufgang zur freien Höhe desselben bildet. Nicht fern von dieser kaum anderthalb Ellen breiten Schlucht sieht man schräg am Gestein eine sitzartige Vertiefung, welche das Volk den »Teufelssitz« nennt.
Die Reisenden mochten etwa noch hundert Schritte von dem Felsen entfernt sein, als Sloboda [] ein Geräusch zu hören glaubte, wie wenn Jemand mit Eisen oder Stahl gegen einen Stein schlüge.
»Was war das?« fragte er mehr sich selbst als seinen neben ihm herschreitenden Enkel.
»Ich glaube, es schlug sich Jemand in der Nähe Feuer an,« versetzte Paul und blieb horchend stehen. Indem wiederholte sich das Geräusch deutlich und die Horchenden konnten nicht mehr zweifeln, daß wirklich irgend wer mit Stahl und Feuerstein zu schaffen habe.
»Paul,« rief Sloboda mit gepreßter, vor Freude und Erwartung zitternder Stimme, »das ist Niemand als Heinrich, mein Jugendfreund, der ehrliche Maulwurffänger vom Todten!«
Mit verdoppelter Eile kletterten sie nun über das von hohem Farrenkraut, Ginster und anderem Gesträuch wild bewachsene Steingeröll, erreichten die erwähnte Schlucht, in welcher hölzerne Stiegen zur Erleichterung des Hinaufklimmens eingekeilt waren, und erblickten jetzt den moosbewachsenen, von Epheu dachartig überwölbten Teufelssitz. Er war nicht leer, ein Mann hatte ihn eingenommen, der eben damit beschäftigt war, ein frisch angezündetes [] Stückchen Schwamm auf seine kurze Holzpfeife zu legen, die er mit bedächtigen Zügen tüchtig in Brand zu setzen suchte. Er war so ganz mit Seele und Auge dabei, daß er die Annäherung der Fremden nicht bemerkte.
[] Viertes Kapitel.
Der Maulwurffänger.
Unschlüssig blieb Sloboda stehen und betrachtete den Rauchenden so gierig, als wolle er ihn mit seinen Blicken durchbohren. Der Mann am Teufelssitze war von untersetzter Statur, stämmig und von breitem Schulterbau. Sein Gesicht ähnelte einem Europäer nur wenig, so dunkelbraun hatten es Sonne und Wetter gefärbt. Wie alle Landleute dieser Gegend trug er keinen Bart. Ein schmales, spitz zulaufendes Kinn, ein kleiner Mund und eine keckgebogene stolze Adlernase, über der sich trotzig eine stark gewölbte, etwas vorspringende Stirn erhob, gaben ihm ein unternehmendes, furchtloses und ungemein listiges Ansehn. Ein offenbar viel getragener und nur bei alten Leuten noch üblicher dreieckiger [] Hut saß ihm etwas schief auf dem linken Ohr. Neben ihm an dem Felsen lehnte ein langer Stock von rothgebeiztem Schlehdorn, der keine andere Zierde, als ein schmales Lederbändchen am obern Ende trug, um es um die Hand zu schlingen.
Als dieser Mann seine Pfeife gehörig in Brand gesetzt hatte, schlug er die Beine über einander und sah aufwärts nach dem Himmel, als wolle er das Wetter erproben. Dabei fiel sein Blick auf die Fremden, die kaum zwanzig Schritte von ihm an einem Felsblock lehnten. Dieser Blick war so merkwürdig, so charakteristisch, daß, wer nur ein Mal von ihm getroffen ward, ihn nie wieder vergessen konnte. Wie ein silberner Funken glitt er aus einem krystallklaren, hellgrauen Auge, in dem ein unbeschreibliches Gemisch von Gutmüthigkeit und Schalkheit, von Humor und Ernst, von Stolz und Demuth lag. Starke und struppige eisgraue Augenbrauen verliehen diesem wunderbarem Auge noch mehr Charakter, während das lang gewachsene Haupthaar, das ein schwarzer Hornkamm am Hinterkopf zusammenhielt, zu scheuer Ehrfurcht aufforderte.
[] »Jan Sloboda,« sagte er nach kurzem Zögern, »wenn es nicht Dein Geist ist, der hier umgeht, so tritt näher, denn bei der heiligen Gottesmutter, ich sehe Dich vor mir, wie ehedem in vergangenen Tagen!«
»Du irrst Dich nicht, Heinrich, ich bin Jan Sloboda!« rief der Wende und warf sich dem Jugendfreunde gerührt an die Brust.
Der Maulwurffänger, nicht gewohnt, seine Gefühle rücksichtslos zu offenbaren, erwiederte die Umarmung des alten Freundes herzlich, aber weniger stürmisch, als der heftig ergriffene Greis. Er stand auf und ohne langes Hin- und Herreden Pauls Hand ergreifend, der dieser Begrüßung stumm zugesehen hatte, zog er Beide mit sich fort nach einem Ueberhange, unter dem sich eine breite Moosbank, geschützt gegen den Luftzug, befand.
»Hier setzt Euch, Großvater und Enkel,« sprach er heiter lächelnd, »denn daß der schlanke Junge Dich etwas angeht, das ist ihm auf die breite Stirn geschrieben. Also niedergesetzt und dann erzählt, ruhig, ohne Sprung und Leidenschaft! Hat mein Brief Dich gefunden?«
»Ihm verdanke ich es, daß ich Dich noch [] ein Mal wiedersehe, daß ich nach vierzig Jahren Deine Hand nochmals in der meinigen fühle, Dich wieder sprechen höre!«
»Ja,« fiel der Maulwurffänger still lachend ein, »ein Erdfahrer wie ich, der mit allerhand schlechtem Gewürm frühzeitig Bekanntschaft macht, wird bei Zeiten klug und hart gegen weltliches Ungemach und menschliche Tücken. Noch fühle ich mich kräftig, wie vor vierzig Jahren, und wenn's mir nachgeht und meinem Willen, so höre ich unter zwanzig Jahren nicht auf, die feinöhrige Brut in ihren Schatzgräbereien zu stören. Aber weißt Du, daß mir bange war vor Dir, Alter? Der hat lange in's Gras gebissen, dacht' ich, als ich mich hinsetzte und mühselig die paar Zeilen kritzelte. Denn ich rechnete so: entweder er ist vor Kurzem gestorben oder Polen und Russen haben ihn gemeinschaftlich massacrirt. Daß Du trotz dem am Leben bist und obendrein gesund und hier, hier an dem alten Götzensteine, das freut mich von Herzen, Jan! Wie geht's Deinem Kinde?«
Sloboda zeigte gen Himmel. »Sehr wohl, Heinrich! Sie ging heim, ehe die Revolution beendigt war.«
[] »Also auch schon dahin! Nun, Alter, das thut nichts. Sie war grade kein apartes Glückskind trotz ihrer Lieblichkeit, und für ihre Jahre hat sie genug erdulden müssen. Aber wieder auf meinen Brief zu kommen: was dachtest Du denn dazu?«
»Ich bin hier und Du fragst noch?«
»Freilich, Jan! Das Schäkern und Necken hab' ich noch immer nicht verlernt. Verdammt! Da ist mir richtig mein Kraut wieder ausgegangen!« Und – pink! pink! – schlug Heinrich aufs Neue Feuer an und setzte sein Gespräch gemüthlich fort.
»Was veranlaßte Dich zu diesem räthselhaften Briefe?«
»Ein glücklicher Zufall, ein Wunder, wenn Du willst! Du kennst mein Gewerbe, dem ich von Jugend auf mit Lust und Liebe zugethan war, das mich leidlich nährte und mir die Bekanntschaft vieler bald guter bald böser Menschen verschaffte. Ich hab's fortgetrieben bis heut, ohne die Lust dran zu verlieren, obschon in neuester Zeit wenig mehr dabei zu verdienen ist, weil die meisten Grundbesitzer sich einbilden, das Maulwurffangen sei keine Kunst, und nun, was[] ich mit der elastischen Schlinge zierlich und leise bewerkstellige, sie mit plumper Hand mittelst spitzer Fangeisen zu erreichen suchen. Freilich läuft ihnen manchmal eine der blinden Bestien in die grob gelegte Falle, aber ich sage Dir, ein solch gefangenes Thierchen sieht sich nicht mehr ähnlich. Die Stacheln zerfleischen ihm den sammetweichen schwarzen Spenser, den ihnen unser Herrgott angezogen und der mir manchen Speciesthaler eingetragen hat. Na, sei's wie's sei, ich mache doch noch immer meine Wege, senke meine schlank gebogenen Schlingen in die Erde und habe meine Freude daran, wenn früh und Abends die frischen Wippen mit meinen Gefangenen wie schwarze Fähnchen über den grün schillernden Saaten aufgerichtet stehen.«
»Nach Deiner Auswanderung that mir Niemand etwas zu Leide,« fuhr er fort, »obwohl Mancher heimlich Lust dazu haben mochte. Sie trauten sich nicht an mich, weil sie mich fürchteten und auch nichts Sicheres gegen mich aufbringen konnten. So blieb ich denn völlig ungestört wer ich war, und fing Jahr aus und Jahr ein meine Maulwürfe. Der Edelhof an der Haidenkante, wo damals unser blauhutener Junker [] hauste, war nach wie vor ein häufiger Aufenthaltsort für mich. Seine Aecker, Wiesen und Ländereien standen unter meinem Messer und ich habe manch tausend Nasenwürfel auf die künstlich gegrabenenen Mördergruben gelegt, aus denen meine Springeisen die fleißigen Arbeiter in die Luft schleuderten. Sieh da begab sich's in diesem Frühjahr, daß ich auf dem großen Flachsfelde dicht hinter dem Herrenhause eine Falle stellen will, just neben einem hohen frisch aufgeworfenen Maulwurfshaufen. Um Raum zu gewinnen, stoß' ich mit dem Fuße den Erdaufwurf um und ein zusammengerolltes Papier kommt zum Vorschein. Das wundert mich, denn es war mir dergleichen noch nicht begegnet. Sind denn die Maulwürfe Schriftgelehrte geworden, denk' ich, und hebe das Röllchen auf, das ganz sauber in ein wachstuchenes Läppchen eingeschlagen ist. Als ich's aufwickle, war's nicht mehr und nicht weniger als ein Bogen gestempeltes Papier, auf einer Seite halb beschrieben, und was mir auffiel, unter der Schrift stand in mir wohlbekannten Zügen der ganze Name unsers saubern Zeisigs von Grafen. Wohl bekomm' ihm das ewige Leben, er ist schon lange todt! Das [] machte mich natürlich neugierig und so fange ich denn an zu lesen, lese ein, zwei, drei Mal und glaube immer noch zu träumen, denn ich hatte nichts anderes in Händen, als eine vollkommen giltige, rechtskräftig untersiegelte Verschreibung vom Grafen Blauhut für Röschen –«
»Für Röschen!« unterbrach ihn Sloboda.
»Das ist unmöglich, Du hast Dich getäuscht! Röschen hat nie eine Sylbe davon gesagt!«
»Leider wahr! Sie hat nie davon gesprochen, daß ich es wüßte, dennoch aber, Freund Jan, ist die Verschreibung da und ich habe sie daheim wohl verschlossen in meiner Lade.«
»Es muß ein Irrthum sein, Heinrich! Wie hätte sich auch das Papier so lange halten können und wie konnte es in den Maulwurfshaufen kommen?«
Heinrich lachte. »Das ist eben das spaßhafte Wunder dabei,« versetzte er. »Unser Herrgott weiß immer Mittel und Wege zu finden, wenn ihm etwas daran gelegen ist, altes furchtbares Unrecht auszugleichen und frühere Missethaten zu bestrafen!«
»Und was stand in dem Stempelpapiere, das Du eine Verschreibung nennst?«
[] »Darin steht, daß Röschen Sloboda, falls sie lebendige Nachkommen hinterläßt, zu Gunsten dieser Kinder nach des Grafen Tode Anspruch haben soll auf den fünften Theil seiner Güter! Noch mehr! Das Schreiben führt namentlich die Besitzungen auf, welche ihr von Rechtswegen zufallen sollen, und unter diesen den schon erwähnten Edelhof nebst dem Vorwerke, die großen Fischteiche und die ganze moorige Haidestrecke, die sie links und rechts umgibt. Das und noch mehr kannst Du mit eigenen Augen lesen, wenn Du zu mir kommst!«
»Und aus diesem Grunde allein hieltest Du es für nöthig, mich alten Mann über hundert Meilen hieher zu rufen?« fragte mit betrübter Stimme und äußerst niedergeschlagener Miene der alte Wende.
»Ich glaube gar,« erwiederte Heinrich, indem er die schon wieder erloschene Pfeife durch neuen Schwamm in Brand setzte, »ich glaube gar, Du willst mir Vorwürfe machen, daß ich Dich aus Deinem halbwilden Schlupfwinkel unter vernünftige Menschen gebracht habe? Rechne doch nur zusammen, was Dir und Deinen Nachkommen dieser Fund nützen kann! Der Graf ist [] freilich todt, an ihn können wir uns nicht mehr wenden, aber seine drei Söhne leben und besitzen, was in Folge schlechter und lüderlicher Wirthschaft von den großen Gütern ihrer Vorfahren aus dem allgemeinen Untergang zu retten war. Zwei sind im Auslande, der Aelteste blieb in seiner Heimath. An ihn wenden wir uns. Die Jugendstreiche seines grausamen Vaters sind noch nicht vergessen im Volke. Der Vater erzählt sie dem Sohne, der Sohn dem Enkel, wenn sie den Kindern ein Bild schwerer Zeiten, kummer- und thränenreicher Tage entwerfen wollen. Er hat oft davon hören müssen und es kann und wird ihn nicht überraschen, wenn die Folgen von seines Vaters Schandthaten jetzt an seine Thür klopfen und um Recht bitten. Ich weiß, daß er hochmüthig drein schauen wird, denn er ist von Gemüth nicht viel besser als sein Herr Vater. Er wird die Aechtheit des Papieres läugnen und Dich anfangs abweisen. Später, wenn Du mit gerichtlicher Verfolgung drohst, wird er sich geschmeidiger zeigen und das Ende nach mancherlei Winkelzügen wird sein, daß er Dir eine anständige Geldsumme zahlt, dem Scheine nach, um Dich abzufinden, eigentlich [] aber um Dein Schweigen damit zu erlaufen. Diese aber wird Dir und Deinem Enkel vortrefflich zu statten kommen.«
»Du vergißt, alter, ehrlicher Freund, daß jene Nachkommen, deren die Schrift Erwähnung thut, gar nicht vorhanden sind.«
Der Maulwurffänger sah den Wenden mit seinen hellgrauen funkelnden Augen so schlau an, daß Sloboda ganz verwirrt ward.
»Diese Nachkommenschaft will ich aus ihrem Grabe erwecken,« sagte er düster und mit einem Blick, in dem ein Gemisch triumphirender Lust, Bosheit und Rachsucht funkelte. »Frage mich nicht, alter Freund, was ich damit sagen will, Du sollst es später erfahren! Erinnere Dich nur noch der schauerlichen Hochzeitsnacht, des Herbsttages, der Streu in der Haide –«
»O ich erinnere mich!« rief Sloboda aus, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckend, als wolle er die Erscheinung eines erschütternden Bildes, das in grausiger Beleuchtung vor ihm aufstieg, von sich abwenden. »Aber sie kam um – ward umgebracht – mit Gewalt, mit Absicht – ich darf nicht daran denken!«
»So heißt es, Jan, und möglich, daß es [] so ist, den noch verspreche ich Dir, die Schatten der Todten aus ihren unbekannten Gräbern aufsteigen und sie Zeugniß ablegen zu lassen! Ich will nicht umsonst gelebt haben, nicht umsonst ruhelos Berge und Haide durchwandert sein zu jeder Stunde des Tages und der Nacht! Für Dich oder für die allgemeine Gerechtigkeit lebte, forschte, arbeitete ich. Nicht der kleinste Umstand ging meinem scharfen Auge, meinem sich nie trügenden Gedächtniß verloren. Ich habe Alles aufgezeichnet und aus längst vergangenen und verschollenen Begebenheiten ein Netz geschürzt, das Niemand ahnt, am wenigsten Deine Feinde. Du konntest das nicht wissen, was zu meiner Kenntniß gelangte. Deine Flucht hinderte Dich daran. Ich aber sammelte und würde meine Sammlung schon längst benutzt haben, wäre die Zeit günstig dazu gewesen. Jetzt ist der glückliche Augenblick endlich gekommen und nun soll der große Prozeß der Unterdrückten, Gepeinigten, Geknechteten gegen ihre Unterdrücker und Peiniger beginnen und ich verlange von Dir weiter nichts, als daß Du zuerst Deine Stimme als Kläger erhebst!«
Obwohl Sloboda kaum eine Ahnung von [] dem Vorhaben des Maulwurffängers hatte, setzte er doch ein so unbedingtes Vertrauen in die Redlichkeit dieses seltenen, eigenthümlichen Charakters, daß er ohne Zaudern seine Einwilligung dazu gab und als Kläger aufzutreten erklärte.
»Top, es gilt!« sagte Heinrich mit jenem schlauen und gutmüthigen Lächeln, das stets über seine braunen Züge lief, wenn er einen weislich entworfenen Plan seinem Gelingen sich nähern sah. »Ehe wir jedoch die Feindseligkeiten eröffnen, will ich mit meinem Bruder, dem Schulmeister, Rücksprache nehmen. Bei all seinen oft beschränkten Ansichten hat er doch einen praktischen Blick und hinlängliche Rechtskenntnisse, um in den vertrackten Formeln nicht zu verstoßen. Auch kann er gut schreiben, weshalb er die ganze Unglücksgeschichte bis in alle kleinsten Einzelnheiten zu Papiere gebracht hat. Solche Schriften sind gute Gedächtnißaufhelfer, und wenn mir irgend etwas nicht mehr ganz deutlich vor der Seele steht, so werfe ich einen Blick in die Schreiberei und frische die erbleichenden Farben wieder auf.«
Sloboda, von dem Gehörten ganz betäubt, schüttelte mehrmals den Kopf, als könne und dürfe er nicht daran glauben. Nach einer Weile [] fragte er lebhaft: »Wie ist Nathanael gestorben? Ich habe oft in der Fremde sein Schicksal beklagt, obwohl er glücklicher war als ich!«
»Er starb den Tod der Armen,« versetzte Heinrich. »Fasse Dich nur in Geduld, Du sollst über Nichts in Zweifel gelassen werden und Alles soll beitragen, Deine Feinde, die immer auch die meinigen sein werden, zu demüthigen, wo möglich zu stürzen, Dich aber zu erhöhen.«
»Ich verlange nicht darnach, Freund, ich will mich glücklich schätzen und dem Vater im Himmel danken, wenn ich in nicht gar langer Zeit ruhig und glaubensvoll sterben und dann sagen kann: Gott Lob, Deine Gnade hat sich wunderbar an mir und den Meinigen offenbart!«
»Das ist, nimm mir's nicht übel, Jan, ein Bischen wendisch gesprochen! Die göttliche Gnade mag eine ganz hübsche Einrichtung sein, zu der wir in schlimmen Stunden Alle unsere Zuflucht nehmen können, allein mein Kopf- und Ruhekissen will ich mir nicht damit ausstopfen lassen. Ein Stück redlicher Wille und geistige Kraft reichen schon eine Weile aus und befriedigen mehr als die liebe Gnade, und überdies taugt es in dieser verdorbenen Welt oft gar nichts, wenn [] man allzu häufig von ihr Gebrauch machen will. Ich halt's in diesem wie in manchem andern Punkte mit meinen Landsleuten, den Bauern, die immer und immer, wenn ihnen der Pfarrer hundert erquickliche Predigten von Vergeben und Hinhalten des andern Backen vorgesagt hat, auf die einfachen und vernünftigen Worte zurückkommen: So denke ich eben auch, Herr Pfarrer, aber ich will justement mein Recht und sollte mich's den letzten Groschen kosten! – Diese Bauernregel, Freund Jan, ist ein Satz voll Weltweisheit, den Niemand vergessen sollte, am wenigsten der Arme, der Gedrückte. Erst wenn jeder Arme unablässig nach dem Rechte schreit und Blut und Gut, so viel er eben davon hat, willig dafür hingibt, erst dann wird es besser werden mit dem Volke. In meinen Gedanken stelle ich mir unter dieser Zeit der allgemeinen Rechtsherrschaft das vor, was die Gottesgelehrten das tausendjährige Reich nennen.«
Während Heinrich wieder Feuer anschlug, fuhr er fort: »Bisher, Alter, habe ich von dem gesprochen, was sich hier zugetragen hat, jetzt, dächte ich, wär' es Zeit, daß Du auch mir Dies und Jenes von Deinen Erlebnissen mittheiltest. [] Ich sehe, daß Röschen Dich zum Großvater gemacht hat, denn der Page da hat die ganzen Augen der Mutter.«
»Paul ist mein Enkel, Du hast es errathen, der einzige noch übrige Sprößling meines unglücklichen Kindes! – Lieber Gott, was soll ich viel von meinem Leben voll Arbeit, Mühseligkeit und Drangsal sprechen! – Als ich mit den Meinigen nach jenem entsetzlichen Ereignisse die Flucht ergriff, nahm ich den niederschmetternden Eindruck des Erlebten mit mir in die Fremde. Froh und heiter ward ich nur auf Stunden. Es gelang mir, durch große Sparsamkeit und unermüdliches Arbeiten nach Jahren etwas vor mich zu bringen, wobei meine Tochter mit ihrem Manne mich redlich unterstützte. Röschen gebar ihrem Gatten drei Söhne, wovon Paul der jüngste ist. Sie wuchsen zu unser Aller Freude kräftig auf und ihre Aeltern glaubten, daß vor dem dereinstigen Glück dieser Kinder ihr eigenes Unglück endlich ganz in den Hintergrund treten werde. Obwohl die Aeltern es wünschten, daß sich die um Vieles älteren Brüder Pauls vortheilhaft verheirathen möchten, blieben sie doch ledig, zu unserm Glück, muß ich sagen nach [] dem, was später sich ereignete. Ich übergehe die kleinen Erlebnisse im Hause, da sie von keiner Wichtigkeit sind. Unser Umgang war so beschränkt, daß wir eigentlich nur unter uns allein lebten und einen kleinen Staat für uns bildeten. Wir waren den Umständen nach zufrieden, denn was wir besaßen, darüber konnten wir nach Belieben verfügen. Es gab keinen Herrn, der uns plagen und schinden durfte, obwohl wir nur zu oft dies Schauspiel bei den armen verdummten Bauern traurigen Blickes mit ansehen mußten. – Da brach die Revolution aus und gestaltete das ganze Land um. Alles, was Waffen tragen konnte, mußte freiwillig oder gezwungen unter die Reihen der Vaterlandsvertheidiger eilen. Auch Pauls ältere Brüder theilten mit tausend Andern das nämliche Schicksal. Sie schlossen sich den gefürchteten Sensenmännern an, und obwohl sie mit ihren Herzen nicht Polen waren, muß ich ihnen doch das Zeugniß geben, daß sie rühmlich und heldenmüthig ihr zweites Vaterland gegen die hereinbrechenden russischen Heere vertheidigten. Bei Ostrolenka fiel der Aelteste, mit Wunden bedeckt kehrte sein Bruder zu uns zurück, um uns die Trauerkunde zu überbringen. Die [] Mutter warfen Schreck, Kummer, Verzweiflung aufs Krankenlager. Nach kurzer Rast verließ uns der kaum von seinen Wunden Genesene abermals, diesmal in Begleitung seines Vaters. Es galt die Vertheidigung der Hauptstadt, zu der auch ältere Männer dringend aufgerufen wurden. Vater und Sohn schieden mit stummem Händedruck von meiner weinenden Tochter und von Paul, der allein mit mir und zwei jüdischen Dienstboten bei der Kranken zurückblieb. Ich habe die Scheidenden nicht wiedergesehen. Russische Kartätschenkugeln zerrissen Beide in einem Augenblicke auf den Schanzen von Wola! Dieser neuen Todesbotschaft erlag auch Röschen. Sie ruht, von Immergrün umrankt, in den polnischen Wäldern! Ich gedachte bald neben sie gebettet zu werden, als Dein Brief das erlöschende Licht meines Lebens von Neuem anfachte und mich um Kraft zu dieser schweren, gefahr- und mühevollen Reise zu Gott bitten ließ. – Ehe ich aufbrach, verkaufte ich mein Besitzthum an einen vornehmen Russen, dem ich das Leben gerettet hatte und der aus Dankbarkeit dafür nicht wissen wollte, daß zwei meiner Enkel gegen ihn gekämpft hatten. Er verschaffte mir zugleich [] die nöthigen Papiere, um nicht an den Grenzen als Flüchtling aufgegriffen und zur Strafe nach Sibirien transportirt zu werden. So kam ich denn glücklich nach Preußen, erreichte die heimischen Haiden und sah Dich wieder, den ich hundert Mal unter den Todten geglaubt und gesucht hatte!–«
»Pink-Heinrich stirbt nicht so geschwind,« versetzte gutmüthig lachend der Maulwurffänger, sich selbst mit seinem immerwährenden Feueranschlagen persifflirend. »Aber das muß ich sagen, Jan, ein Glücksvogel bist Du grade nicht geworden, ausgenommen, daß Du selber dem gefräßigen Unthiere, das wir so bescheiden Tod nennen, entgangen bist. Freut mich nur, daß meine alten Augen wenigstens ein Stiftchen von dem lieben saubern Haideröschen sehen, in das ich mein Lebtage vernarrt gewesen bin. Gott gebe ihr eine sanfte Ruhe und Dir, ihrem Ebenbilde, eine fröhliche Zukunft!«
Der Maulwurffänger reichte bei diesen Worten dem Jünglinge seine braune, schwielige Hand, die Paul mit Herzlichkeit drückte. Nur unvollkommen mit den seltenen Schicksalen seiner Aeltern bekannt, vermochte er nicht ein Wort in das für ihn äußerst wichtige Gespräch der beiden [] alten Freunde zu streuen. Seiner gespannten Aufmerksamkeit entging keine Sylbe von Heinrich's freilich immer dunkler und geheimnißvoller sich gestaltenden Mittheilungen, aber er mußte ihm in natürlichem Rechtsgefühle vollkommen beistimmen und seine noch in undurchdringliche Schleier gehüllten Pläne durchaus billigen. Deshalb sagte er jetzt zu dem alten, graden Manne:
»Ich danke Euch, Freund meiner verstorbenen Mutter und meines Großvaters, für den Eifer, womit Ihr Euch bereit erklärt, einer Angelegenheit Eure Kräfte und Geistesgaben zu widmen, von der ich gegenwärtig wenig mehr begreife, als daß dies Alles mir dereinst im Falle des Gelingens zu Gute kommen soll. Gibt es dabei eine Rolle, die meine Kräfte nicht übersteigt, so möchte ich Euch bitten, mir diese zu übertragen. Ich habe schweigen gelernt und mißbrauche kein mir geschenktes Vertrauen!«
»Brav gesprochen, mein Sohn! Just so dachte und handelte auch Deine Mutter, das schöne, reizende Kind der braunen Haide! – Doch genug für heut, ihr Lieben! Ich merke, der Wind macht sich wieder auf und treibt ein Rudel Wolken vor sich her, die nicht das freundlichste [] Aussehen haben. Das Wichtigste wißt Ihr jetzt. Morgen, will's Gott, gehen wir unserm Ziele ein paar Schritte näher! Wo habt Ihr Euer Quartier aufgeschlagen?«
»In der Königshainer Schenke bei einem Wirthe, der fürs Leben gern den Führer gemacht hätte!«
»Ha ha ha! Ich kenne den Götzenleopold! Was bei ihm einkehrt, muß sich auch seine gelehrten Bissen in Suppe und Kaffee brocken lassen. Immer laßt ihn reden, bleibt bei ihm heut Nacht und morgen bis Nachmittags, dann aber macht Euch auf mit Zug und Zeug und kommt in mein stilles Haus. Ich wohne in B ..., ein ganz natürlich gemalter Maulwurf, wie er grade aufstößt, zeigt Euch schon von weitem mein Haus an. Ihr trefft mich des Abends sicher, den Tag über muß ich herumstreichen, da ich verschiedene Geschäftsgänge zu besorgen habe.«
»Gott behüte Dich!« sprach Sloboda, dem Freunde zum Abschiede die Hand schüttelnd. »Er hat es wunderbar mit mir vor, seh' ich, und will mich nicht zu Schanden werden lassen zum Jubel meiner Feinde. Morgen Abend, wenn die [] Sonne zur Ruhe geht, wird Jan Sloboda mit seinem Enkel an Deine gastliche Thür klopfen.«
»Wer da klopfet, dem wird aufgethan!« citirte listig blinzelnd der Maulwurffänger, langte Stahl und Stein aus seiner Westentasche und verschwand, dem Steine häufige Funken entlockend, hinter dem bergenden Tannicht.
Sloboda und Paul stiegen schweigend den Berg hinab nach Königshain, wo sie Götzen-Leopold den ganzen Abend hindurch mit Geschichten und Sagen vom Todten- und Hochsteine unterhielt, die dem alten Wenden größtentheils bekannt waren, den jugendlichen Paul aber höchlichst ergetzten.
[] Fünftes Kapitel.
Die Unterredung.
Heinrichs Wohnung lag etwa eine Stunde hinter den Königshainer Bergen im Dorfe B ..... und bestand aus einem kleinen wohl eingerichteten und in baulichem Stande erhaltenen Häuschen. An Raum war darin kein Ueberfluß, dennoch konnte der Maulwurffänger im Nothfalle drei bis vier Gäste beherbergen, ohne dadurch zu sehr beschränkt zu werden, denn es stand und lag jedes Ding am rechten Orte. Heinrich hatte noch einen Hausgenossen, den früheren Besitzer der Wohnung, der sich nach dem Verkaufe derselben, wie dies in der Gegend uralter Brauch ist, das Gedinge ausgemacht hatte. Es war dies ein stiller, alter Mann von großer, fast übertriebener Frömmigkeit, die stark nach Herrnhuterei [] schmeckte. In der Jugend war er lange Soldat gewesen, hatte als sächsischer Dragoner tüchtig dreingeschlagen, bei einem Ueberfalle des Feindes aber das Unglück gehabt, daß er, um sicherem Tode zu entgehen, sich auf einen Thurm retten und, um auch hier nicht entdeckt zu werden, aus dem Fenster steigen und an dem blechernen Vorsprunge desselben mit beiden Händen so lange festgeklammert hängen mußte, bis er aus seiner fürchterlichen Lage befreit wurde. Schreck, Todesangst, übermenschliche Anstrengung und Dehnung aller Flechsen zogen ihm bald darauf eine Schwäche in den Armen zu, in Folge deren er einen ehrenvollen Abschied erhielt. In seine Heimath zurückgekehrt ging diese Schwäche in vollständige Lähmung über, so daß er beide Arme nicht mehr ordentlich brauchen konnte und sich auf Arbeiten legen mußte, die keine Anstrengung der Muskeln erforderten.
Schlenker hütete in Heinrichs Abwesenheit das Haus gleich dem treuesten Kettenhunde, vertrieb sich die Zeit mit Lesen religiöser Bücher, namentlich solcher, die Missionsangelegenheiten behandelten und über die Ausbreitung des Christenthums in Asien und auf den Inseln des stillen [] und indischen Meeres ein Langes und Breites berichteten. Für solche Bücher gab er jährlich ein hübsches Sümmchen aus. War er aber des Lesens müde, so pappte er Düten von allen Größen, die er an die Landkrämer verkaufte, oder reinigte, säuberte und glättete die gegerbten Fellchen der Maulwürfe, welche Heinrich in freien Abendstunden auf mancherlei Weise zu verarbeiten und für sich einträglich zu machen wußte.
Hinsichtlich ihrer religiösen Ueberzeugung waren diese beiden Hausgenossen niemals gleicher Meinung. Heinrich tadelte Schlenker's Hinneigung zum Pietismus und zu zeitraubendem Bitten und Beten, und Schlenker eiferte wieder über den argen Weltsinn seines Hauswirthes und über dessen sündlichen Hang, andern Leuten gelegentlich eine Nase zu drehen. Daß er ihn noch nie in der Kirche gesehen hatte, konnte er ihm vollends gar nicht vergeben. Dennoch aber war er ihm von Herzen gut und konnte Nächte lang in seinem hartgesessenen alten Lederstuhle auf ihn warten und sich die Augen müde lesen, wenn Heinrich, ohne ihn zuvor davon zu benachrichtigen, nicht nach Hause kam.
Besser vertrug er sich mit Heinrichs Bruder, [] dem Schulmeister Gregor. Dieser war ein Verehrer des Wortglaubens, der nie über irgend eine religiöse Frage oder über einen tiefsinnigen vieldeutigen Spruch der Schrift Zweifel hegte. »Was geschrieben steht, das steht geschrieben,« war sein Grundsatz. Nach diesem brachte er den Kindern die Grundlehren des Christenthums bei und hatte seit einem halben Jahrhunderte beinahe ein paar Generationen zu gehorsamen Unterthanen und zufriedenen Staatsbürgern erzogen. Gregor theilte keineswegs die sehr revolutionären Ansichten seines Bruders, obwohl er dessen größere Geistesgaben willig anerkannte. Nur zuweilen, wenn Heinrich es ihm nach seiner Meinung zu arg trieb, erlaubte er sich, ihn zu ermahnen und sich als christlicher Schullehrer zu zeigen. In solchen, äußerst selten vorkommenden Fällen konnte Gregor sogar beredt werden, während er in der Regel bei aller Aufmerksamkeit, die er nahen und fernen Ereignissen, politischen und religiösen Bewegungen schenkte, doch stets so einsylbig blieb, daß er geradezu häufig albern erschien.
Täglich kam dieses Kleeblatt bei sinkendem Abende zusammen, um sich über die Weltangelegenheiten[] zu unterhalten, deren Heinrich immer eine Menge von seinen Herumstreifereien mit heim brachte. Häufig geschah es dann, daß sowohl Schlenker als auch Gregor über die frivolen Anmerkungen des Maulwurffängers unwillig wurden und im Zorne die Stube verließen. Beide kehrten jedoch sogleich wieder um, der Schulmeister an der Hausthüre und der ehemalige Dragoner an der Stiege zur Kammer, um nochmals die Stubenthüre zu öffnen und dem schlau lächelnden Haberecht eine gute Nacht zu wünschen.
Am Abende nach dem Zusammentreffen der alten Freunde am Todtensteine waren alle drei beinahe gleichaltrige Männer in Heinrichs Zimmer versammelt, das überall Spuren von der Beschäftigung seines Bewohners trug. Zu beiden Seiten eines schmalen und etwas trüben Spiegels, an dessen oberem Theile die Geschichte vom keuschen Joseph mit karminrother Farbe auf Glas gemalt war, hingen eine Menge länglich runder glänzend heller und feiner Drähte an hanfenen Bindfäden. Hinter dem Spiegel, an den Fensterstöcken und in allen vier Winkeln des Zimmers staken und lehnten große und kleine Bündel biegsamer Birken-, Eichen- und Buchenstäbe, [] die zu schnellem Gebrauch am einen Ende bereits zugespitzt und etwas gekrümmt waren. Ein Einschnitt am obern Ende, um die Bindfäden darum zu schlingen, war an keinem vergessen.
Der Maulwurffänger saß hinter seinem großen Tisch von ungemaltem weißen Lindenholz und beschäftigte sich, die feinen, zarten und wie Seide glänzenden Fellchen der Feldthiere, die er mit so großem Geschick zu verderben wußte, in ausgehöhlte lange Hölzer fest zu kleben, aus denen er dann Blaseröhre machte, die guten Abgang fanden. Schlenker hatte sich am Ofen postirt, die Beine über einander geschlagen und die breiten, großen Hände seiner lahmen und abgemagerten Arme um das eine Knie geschlungen. Er hörte mit größter Aufmerksamkeit der Erzählung Heinrichs zu, die sein Zusammentreffen mit Sloboda und dessen Enkel schilderte. Auf einem freistehenden Schemel endlich, in ansehnlicher Entfernung vom Tische, wo der Maulwurffänger handthierte, und fast in der Mitte des Zimmers saß Gregor der Schulmeister in seiner altmodischen halbbäuerischen Tracht, denn er ging, wie die alten Leute auf dem Lande, in kurzen schwarzen Manchesterhosen, Strümpfen und [] Schuhen mit großen silbernen Schnallen, und einem entsetzlich langen und weiten Rocke, dessen Taille grade um eine halbe Elle zu lang war. Ein dreieckiger Hut bedeckte sein viereckiges Haupt gleich dem seines verwegenen Bruders.
Gregor hatte die Gewohnheit, sobald er sich irgendwo setzte, seinen Körper nicht allein in eine rechtwinklige Lage zu bringen, was äußerst komisch aussah, sondern auch die Schöße seines Rockes jedesmal sorgfältig zurückzuschlagen und seine prallen Schenkel Jedermann zu zeigen. Den Grund davon konnte Niemand erfahren, und so oft auch Spötter und Witzbolde sich darüber lustig machten, befreite sich der Schulmeister doch immer wieder von den ihm lästigen Rockschößen, indem er rund und nett erklärte, daß es ihm unmöglich sei, anders in sitzender Stellung sich wohl zu befinden.
»Es ist aber doch mit tausend Schrecken!« sagte Schlenker, als der Maulwurffänger eine Pause machte. »Ja rede mir nur Einer von Krieg und Kriegsnoth! Ich weiß ein Lied davon zu singen, daß es Gott im Himmel erbarme!«
Und der tapfere Dragoner griff nach der [] neben ihm stehenden zinnernen Schnupftabaksdose, öffnete sie und schüttete sich eine tüchtige Prise auf die Außenseite seiner rechten Hand. Dann schob er die linke darunter und führte beide Hände dadurch, daß er ihnen mit dem Beine einen tüchtigen Ruck gab, an die Nase, die begierig das wohlriechende Kraut einschlürfte. Klotzartig fielen die Hände wieder auf den Schooß zurück, wo sie ein buntes Taschentuch erhaschten, dessen Grundfarben nicht mehr zu erkennen waren. Nachdem auch dies seine Dienste verrichtet hatte, wußte Schlenker dem rechten Arme einen solchen Schwung zu geben, daß er sich mit der Hand bis zur Stirn erhob. Hier setzte sich der Zeigefinger über dem Auge fest und wackelte beim Sprechen fortwährend wie ein bewegliches Horn hin und her, während Schlenker jeden Satz durch eine schütternde Bewegung des Oberkörpers begleitete. Nur in solcher Stellung pflegte er längere Zwiegespräche zu führen oder ernste Ermahnungsreden an Heinrich zu halten.
»Aber, Freund Heinrich,« fuhr er fort, »bildet Euch nur nicht ein, Ihr mit Eurem Briefe hättet den Wenden hieher citirt! Wenn Ihr das glaubt, so thut Ihr Sünde, sag' ich Euch! Daß [] Jan Sloboda noch lebt und daß Euer Brief wirklich in seine Hände kommen muß, noch mehr, daß, der alte Mann auf Eure Krakelfüße hört und spornstreichs hundert und so und so viel Meilen herkutschirt, endlich Euch gar bei dem alten Götzendieneraltar trifft und Euch flugs erkennt; das, seht Ihr, das ist Gottes allmächtige Fügung! Und weil's justement so gekommen ist und auch kein Stäubchen anders, darum und dessentwegen glaube ich und will's gegen eine Million behaupten, daß Eure Sache gerecht ist und einen gott- und menschengefälligen Fortgang haben wird.«
»Natürlich, natürlich!« sagte der Schulmeister, seinen langen Rohrstock mit dem glänzenden Silberknopfe bald mit der linken bald mit der rechten Hand zwischen den Beinen drehend.
»Gottgefällig ist sie zuverlässig,« erwiederte Heinrich, ein neues Fellchen aufleimend, »den Menschen wird aber, sollt' ich meinen, ihr glücklicher Fortgang verdammt viel Herzeleid machen. Ihr könnt dann Gelegenheit haben, Freund Schlenker, Eure Gebete an den Mann oder vielmehr an den lieben Gott zu bringen, denn an [] Flüchen, die auf Vergebung harren, wird kein Mangel sein. Da kenne ich meine Leute zu gut!«
»'s Ist gar mit tausend Schrecken, was Ihr für ein gottvergessener Spötter seid!« sagte Schlenker. »Manchmal mach' ich mir ordentlich ein Gewissen darüber, daß ich mit Euch umgehe, zumal vor dem Einschlafen, wo einem die unrechten Gedanken am ärgsten zusetzen.«
»Setzt Euch lieber die Schlafmütze auf,« erwiederte der Maulwurffänger. »Das hält warm und soll ein vortreffliches Mittel sein, einen gesunden und dauernden Schlaf herbeizuführen.«
»Natur, ganz Natur!« meinte Gregor. »Also heute kommt der wendische Mann, der so viel erfahren hat!«
»Heute, wenn Du's erlaubst, Bruder Schulmeister. Ich habe ihn zu mir eingeladen sammt seinem Enkel und schon mit eigenen Händen die Betten für sie aufgeschlagen. Mich wundert's, daß sie noch nicht hier sind! Wie weit, Bruder, bist Du mit der Auszeichnung dieser verwickelten Geschichte?«
»Ich simulire schon geraume Zeit, wie ich das zuletzt Vernommene schicklich in Worte fasse. Es ist ein wichtiger Casus, höchst wichtig und [] für ein Chronikon wie geschaffen. Ich werde noch eine Nacht dem angestrengtesten Nachdenken opfern.«
»Mach's, wie Du willst, nur vergiß nichts Hauptsächliches.«
»Natürlich, natürlich! Alles Hauptsächliche ist natürlich.«
»Kann sein, bei Euch Schulmeistern, bei uns andern Menschen ist das Hauptsächliche manchmal ganz verflucht unnatürlich! Wer's nicht glauben will, der denke doch nur an diese vermaledeite Grafengeschichte! Du weißt es ja so gut, wie ich, Bruder Gregor!«
Der Schulmeister wollte auf diese Bemerkung eigentlich blos mit einem beistimmenden Kopfnicken Antwort geben, es fuhr ihm aber doch unwillkürlich ein höchst überflüssiges »ganz Natur« heraus, worauf er seine Miene wieder in die würdevollsten Lehrerfalten zu legen suchte.
Schlenker, der sich über die Antwort Gregors höchlichst verwunderte, konnte sein Staunen ebenfalls nicht bemeistern und rief sein ihm sprichwörtlich gewordenes »'s ist gewiß und wahrhaftig mit tausend Schrecken!« was denn dem [] Maulwurffänger Veranlassung gab, mit der ironischsten Betonung, die ihm zu Gebote stand, und mit jenem vergnüglichen Lachen, das nie laut ward, sondern in der Kehle wieder erstarb, zu betheuern, es sei wirklich mit tausend Schrecken! –
In diesem Augenblicke klingelte messingbeschlagenes Riemenzeug vom Wege her, drei muntere kleine polnische Pferde kamen in schnellem Trabe auf das Haus zu, dessen Maulwurf am Giebel schon von weitem zu erkennen war, und rissen das ärmliche Judenfuhrwerk so schnell über die steinige Straße, daß die Speichen in den Felgen seufzten und ächzten.
»Da kommen sie!« sagte Heinrich in seiner gemüthlichen Ruhe und legte das beinahe fertige Blaserohr weg. »Ich bitt' Euch, Schlenker, fallt mir den Alten nicht gleich mit Euern frommen Redensarten an, daß er nicht denkt, er komme in ein Brüderhaus, und Du, Bruder, laß die steifen Complimente sein! Das dumme Zeug taugt nichts.«
»Disciplin, blos Disciplin,« sagte Gregor höchst bedächtig.
»Dummes Zeug!« wiederholte Schlenker die Hände faltend. »Fromme Redensarten nennt [] der gottlose Mann dummes Zeug! Himmlischer Vater, ich bitte Dich, hör' ihn nicht, denn er weiß wahrlich nicht, was er spricht! –«
Inzwischen hatten Sloboda und Paul den polnischen Planwagen verlassen und wurden von Heinrich ins Zimmer geführt. Neugierig starrten Gregor und Schlenker die Ankömmlinge an, die ihrerseits keine Rücksicht auf sie nahmen. Erst als Heinrich ihre Namen nannte, wünschte der ernste Sloboda Beiden einen guten Abend und reichte Jedem die Hand zum Gruße.
»Ehe wir eins ins andere reden, Freund Jan,« begann der Maulwurffänger, »sage mir, was Du mit Deinem Judengesindel anfangen willst. In mein Haus nehme ich das Volk nicht auf, und ob sie der Kretschamwirth beherbergt, bezweifle ich auch; denn wir haben ein Gesetz in den Lausitzen, nach dem Niemand verbunden ist, das Volk von Schacherern und Betrügern über Nacht bei sich zu behalten.«
»Ich werde sie ablohnen,« erwiederte Sloboda. »Pferde und Wagen sind ihr Eigenthum und von mir nur auf die Dauer der Reise gemiethet. Brauche ich später wieder einen Wagen, um meine etwas stumpf gewordenen Glieder [] fortzuschleppen, so wirst Du schon für ein leidliches Transportmittel sorgen.«
»Natürlich, ganz Natur!« sagte Gregor der seinen langern hagern Körper wieder auf den Schemel hatte niederknicken lassen.
Da sich der Wende schon früher mit seinem jüdisch-polnischen Fuhrmann über den Preis geeinigt hatte, war die Ablohnung bald geschehen und mit einem wohlthuenden Gefühl heimischer Sicherheit sah er das ärmliche Gefähr mit den wild davon galoppirenden Pferden im Sandstaub der Straße hinter dem Dorfe verschwinden.
»Ihr seid ein vielgeprüfter Mann,« redete jetzt Schlenker den Wenden an, ihm seine steif herabhängende kühle und stets feuchte Hand aufdringend, ›bedenkt aber nur, daß wen Gott lieb hat, den züchtigt er!‹ und Ihr werdet genugsame Ursache finden, ihm ein Hosiannah anzustimmen! »In der Perlenburger Bibel könnt Ihr eine grausam prächtige Abhandlung über das Hosiannahsingen lesen – ich will sie Euch nach dem Abendsegen bringen – denn es ist gar mit tausend Schrecken, was der Herausgeber dieses seltenen Bibelbuches für ein hochgelahrter Mann gewesen sein muß!«
[] »Hochgelahrt, sehr hochgelahrt!« betheuerte Gregor, die in Unordnung gekommenen Rockschöße behutsam bis an die Schemellehne zurückschiebend.
»Ich danke Euch!« erwiederte Sloboda, die Bank hinter dem Lindentische einnehmend. »Meine Augen legen mir ab, so daß ich des Abends bei Licht nicht mehr gut Gedrucktes lesen kann, es wäre denn sehr große Schrift.«
»O eine Schrift für Blinde!«
»Halt Dein Maul, Freund Schlenker!« fiel Heinrich dem Frommen in die Rede. »Was wir zusammen mit einander zu verhandeln haben, geht allem Bibellesen vor; hat Jan später noch Lust dazu, so könnt Ihr ihn meinetwegen in's Gebet nehmen, so lange Ihr wollt, und ihm alle Lügen hererzählen, die Ihr Euch von den Missionsblättern aufbinden laßt.«
»Lügen, Bruder Heinrich, ist in diesem Falle kein gewähltes Wort,« bemerkte der Schulmeister, »ich würde lieber Unrichtigkeiten sagen. Lehrer der christlichen Religion pflegen nicht zu lügen.«
»Wie Du willst, Gregor, meinethalben bring's zu Papiere.«
[] »Natürlich, natürlich!«
Schlenker schüttelte den Kopf, setzte sich wieder auf die Ofenbank, die Beine über einander schlagend und beide Hände gefaltet über seine Knie legend. In dieser Stellung verharrte er den ganzen Rest des Abends und hörte mit größter Spannung dem Gespräche Heinrichs mit Sloboda zu. Nur wenn er das Bedürfniß fühlte, eine Prise Tabak zu nehmen, machte er regelmäßig die schon beschriebenen wunderlichen Bewegungen. Auch Gregor mischte sich nicht in das Gespräch, nur bei Stellen, die ihn besonders ansprachen oder wo sein Bruder sich direct an ihn wandte, ließ er sein bekräftigendes »Natürlich« hören.
Das Erste, was der Maulwurffänger hervorholte, war jenes räthselhafte Papier, dessen Entstehung sich eben so leicht erklären ließ, als es beide befreundete Männer wunderte, daß nie ein Wort davon zu ihrer Kenntniß gelangt war. Nur die Annahme, daß Röschen in Folge des Verlustes der Verschreibung an deren Giltigkeit völlig verzweifelt sein möge, und deshalb mit Absicht über deren Empfang gänzliches Stillschweigen [] beobachtet habe, gab im Nothfall den Schlüssel dazu her.
Als sich Sloboda von der Aechtheit des Papieres und der Handschrift des Grafen vollkommen überzeugt hatte, drang er in Heinrich, ihn mit seinen Plänen und Schritten, die er beabsichtige, bekannt zu machen. Der Maulwurffänger war dazu bereit und ließ sich in eine genaue Auseinandersetzung des Geschehenen ein, alles Muthmaßliche vor der Hand noch ganz bei Seite schiebend.
»Du mußt vor Allem wissen,« sagte er, »daß die früheren mächtigen Grafen von Boberstein schon seit Jahren weiter nichts sind, als speculirende Handelsherren, die sich in dieser neuen Eigenschaft des Grafentitels begeben haben, da das Markten und Feilschen allem Adel schlecht zu Gesicht steht. Sie nennen sich jetzt als Großhändler einfach Herren am Stein. Solcher Herren am Stein leben gegenwärtig noch drei, wovon zwei schon sehr lange auf großen Reisen sind, wie es heißt, der älteste aber auf seinem Grund und Boden geblieben ist. Ich will dem Manne, den ich nur selten gesehen habe, nichts Böses nachsagen, nur so viel bemerke [] ich, daß ihn der Ruf als hartherzig und egoistisch schildert. Den Rest des väterlichen Erbes, in nicht viel mehr bestehend als dem Grundbesitz der zur eigentlichen Stammburg gehörenden Ländereien, hat er klug angelegt, indem er, die Zeit und ihre Bestrebungen richtig deutend, eine bedeutende Fabrik errichtet hat und wohl gegen tausend Arbeiter darin beschäftigt.«
»Wenn das der maßlos stolze Blauhut geahnt hätte,« fiel Sloboda ein, »er würde sich noch im Grabe umwenden vor Aerger und Zorn! Aber was fabriciren denn die ehemaligen Herren Grafen?«
»Röcke für die Ungläubigen,« versetzte der Maulwurffänger mit boshaftem Lächeln.
»Für die Ungläubigen?«
»Wie ich Dir sage, Jan, für die Ungläubigen! Die Herren am Stein spinnen nämlich Baumwolle, ein Artikel, von dem man behauptet, daß sich mit leichter Mühe die Erde von dem gegenwärtig vorhandenen Vorrathe desselben drei- bis viermal einwickeln lassen könnte. Mir gefällt es eigentlich von den großen Herren, daß sie jetzt bedacht sind, das nackte Elend, die heulende Armuth, den frierenden Mangel mit ihrer [] Hände Arbeit zu bekleiden, woran sie selbst schwerlich denken werden. Früher sannen sie immer nur darauf, den Leuten die Kleider vom Leibe zu reißen, was ihnen, wie Du ja weißt, besonderes Vergnügen machte. So ändern sich die Zeiten! – Nun, wie gesagt, diese großmächtigen Herren sind jetzt großmächtige Baumwollenspinner und nebenbei Garnbleicher geworden. Beide Geschäfte sind in gutem Gange und mögen 'was Tüchtiges eintragen. Ich schließe dies daraus, daß der Aelteste am Stein im vorigen Jahre den Versuch machte, ein Stück Land, das seinen Vorfahren gehörte, beim Tode seines verschuldeten Vaters aber in fremde Hände übergegangen war, durch Kauf wieder an sich zu bringen. Ob es ihm gelungen ist, weiß ich nicht, denn ich bin seit langer Zeit nicht mehr in jene Gegend gekommen, die mich, wie Du leicht denken kannst, nicht sehr anlockt.«
»Wo wohnen sie denn?«
»Auf der Burg Boberstein.«
»Auf dem zerstörten Schlosse des alten Grafen?«
»Auf jenen schwarzen Trümmern hat der gegenwärtige Herr am Stein die himmelhohen [] Gestocke seiner großen Spinnerei erbauen lassen. Er selbst bewohnt ein bescheidenes Häuschen dicht unter dem Felsen, wovon er seinen neuen Namen als Handelsherr entlehnt hat. Unter seines Gleichen nennt er sich nach wie vor Graf von Boberstein.«
»Dies kann, scheint mir, unser Geschäft sehr erschweren, da sich der jetzige Herr am Stein gar nicht auf die Sache einlassen wird.«
»Man muß es versuchen, Jan, und einige krumme Wege nicht verschmähen. Ihn zu kirren, habe ich mir folgende List ausgedacht. Wir besuchen ihn in seiner Spinnburg als Fremde, die seine großartigen Werke zu besehen wünschen. Um mehr Respect einzuflößen, geben wir uns für Russen aus, das öffnet uns alle Thüren, oder ich müßte unsere deutschen Herren nicht kennen. Er wird keinen Zweifel in unsere Aechtheit setzen. Haben wir uns nun auf's Genaueste über den Zustand der Fabrik, über ihre in- und ausländischen Verbindungen und so fort Kenntniß verschafft, so bringst Du wie von ungefähr das Gespräch auf die Grafen von Boberstein und fragst naiv, als wissest Du gar nichts von der noblen Race, was denn aus ihnen geworden [] sein möge? Das altadlige Blut wird diese Frage nicht ruhig hinnehmen und der Baumwollenspinner keine Minute anstehn, sich mit selbstgefälligem Stolz als Stammhalter des alten Geschlechtes uns vorzustellen. Was dann zu thun sein wird, hängt von den Umständen ab. Jedenfalls genügt dieser Besuch, uns Fuß fassen zu lassen und uns die Herren am Stein als die wahren Grafen von Boberstein kennen zu lehren. Noch wird es nöthig sein, daß der Fabrikherr dieses Geständniß vor vielen Zeugen ablegt.«
»Natürlich, natürlich!« sagte der Schulmeister.
»Mich schaudert, jene Gegend wieder zu betreten,« erwiederte düster der alte Wende. »Alle Schrecknisse werden wieder aufsteigen vor meinen Augen und beim Dienst der Leibeigenen werde ich alle Pein nochmals empfinden, die ich und die Meinigen so lange Jahre ertrugen.«
»Laß Dich davon nicht abschrecken,« sagte Heinrich beruhigend. »Auch in dieser Hinsicht haben die Jahre eine völlige Umwälzung bewirkt. Die jetzigen Herren am Stein haben so wenig über einen Unterthanen zu gebieten, wie ich. Es gibt bei uns keine Leibeigenen [] mehr seit jener Katastrophe! Das Volk ist frei, wie die Herren, es kann sich jetzt beliebig in vollkommenster Freiheit ertränken, erhängen, erschießen oder freiwillig verhungern. Die Hungerfreiheit, sagt man, sei die am häufigsten vorkommende, weshalb es Hunderte gibt, die sie um einen Spottpreis losschlagen, und sich als Knecht bald der Menschen, bald der Maschinen verdingen.«
»Nun so vergeb' ich dem Feinde meiner Familie seine Ungerechtigkeiten,« sagte Sloboda feierlich, »ja ich segne seine Frevel, da sie Ursache geworden sind, eine Einrichtung aufzuheben, die kein göttliches Gesetz billigen kann! Wo es keine Leibeigenen gibt, da steht die Thür des Paradieses offen! Nur der freie Mensch ist das Ebenbild Gottes, der Knecht ein verkrüppeltes Scheusal, Mitleid und Abscheu in gleichem Maße erregend!«
»So glauben wir, Jan, und wohl uns, daß wir diesen Glauben haben, geht man aber der Sache näher auf den Grund, so mindert sich unsere Freude, wird unser Entzücken herabgestimmt. Das Wort ›Freiheit‹ hat die neue Zeit wirklich an's Licht gebracht, ihr Wesen aber [] liegt noch tief verborgen im Schooße der Zukunft! Vielleicht muß das Menschengeschlecht noch einige Revolutionen, wie jene erste französische, erleben, ehe dies heilige Kind, dieser wahre Sohn Gottes und der Menschen, zum Heil der Welt geboren wird!«
»Mein lieber Heinrich,« unterbrach hier Schlenker den Maulwurffänger, »wenn Ihr noch lange so fortfahrt in der Gotteslästerei, so muß ich, ich mag nun wollen oder nicht, die Stube meiden! Es drückt mir das Herz ab und bringt mich um alle gottseligen Gedanken! Bedenkt doch, es ist ja mit tausend Schrecken!«
»Ganz Natur!« betheuerte Gregor.
»Nun so geht zum Teufel!« versetzte Heinrich kurzab, verdrießlich, daß ihn der Fromme in seinen besten Gedanken unterbrochen hatte.
Schlenker stand beleidigt auf, der Schulmeister folgte. »Es steht in der Schrift,« sagte der Fromme, »wir sollen nicht sitzen im Rathe der Spötter und Thoren! Darum verlasse ich Euch, Heinrich, bis daß Ihr in Euch gehet und Euch bekehrt!«
Gregor nickte stumm mit dem Kopfe und schritt dem voranwackelnden Schlenker, dessen [] Strümpfe bis auf die Schuhe herabhingen, steif und gravitätisch nach. Kaum aber war die Thür hinter den beiden wunderlichen Leuten zugefallen, als sie Gregor auch schon wieder aufriß und beide die Köpfe durch den Spalt hereinschiebend, der Schulmeister den seinigen über den Schlenker's, dem Maulwurffänger eine gute Nacht wünschten. –
»So sind nun die Menschen,« nahm Heinrich lächelnd wieder das Wort. »Die Wahrheit mögen auch die Besten und Gutherzigsten nicht hören, und doch verlangt man, es solle besser werden auf Erden! – Sieh, Sloboda, das allein verbittert mir oft die reinsten Stunden und läßt mich zuletzt an allem Großen und Dauernden verzweifeln! Ich bin weder so klug noch so beschränkt, wie die großen Gelehrten; ich habe auch in ihrem Sinne wenig gelernt. Meine Schule war und ist noch die Erfahrung, die Beobachtung, das große und kleine Leben des Volkes und der Natur. Was mit diesem nicht übereinstimmt, halte ich für unächt, für erkünsteltes Product irgend eines verkünstelten Geistes! – Ich spreche selten mit Jemand von diesen meinen Ansichten, denn ich finde selten [] Gehör und habe es mir schon oft müssen gefallen lassen, daß mich vornehme Leute einen verschrobenen Narren nannten. – Nun was thut's? Ein Licht, das, vom Zufall angezündet, unsern Geist mit klarer Helligkeit erfüllt, können auch die witzigsten Spötter nicht auslöschen. Deshalb lasse ich Spott und Scherz über mich ergehen, wie ich es mir erlaube, gelegentlich dieselbe Münze ebenfalls auszugeben. Es wird aber nur zu bald eine Zeit kommen, in der Viele, wo nicht alles Volk erkennen werden, daß es noch sehr jämmerlich aussieht in unsern wohlgeordneten Staaten, daß unsere Gesetze häufig nur die Stützen der Willkür sind und daß, wie ehedem die rohe Gewalt, jetzt das kalte Metall die Alleinherrschaft in der Welt ausübt! Die Sclaverei hebt man auf und die Engländer, hab' ich in den Blättern gelesen, wollen alles Ernstes den verruchten Menschenhandel abschaffen, aber Niemand denkt daran, den immer härter werdenden Sclavendienst inmitten unserer christlichen Gesellschaft aufzuheben! Man kennt und steht ihn nicht, oder will ihn nicht sehen und kennen! Wir, Sloboda, in deren Gedächtniß noch unverwischt die Schrecken brutalen Herrendienstes [] leben, wir wollen uns mit dieser neuen Sclaverei, die sich über die ganze alte Welt verbreitet hat, genauer bekannt machen und morgen am Tage unsere Wallfahrt beginnen.«
»Soll Paul uns begleiten?«
»Nein, er wird stören.«
»Ich werde Euch hier erwarten, Großvater.«
»Erwäge, was ich Dir gesagt habe,« ermahnte nochmals Heinrich den Greis. »Nur List kann uns zum Ziele führen. Wenn der Tag graut, werde ich Dich wecken.«
»Gute Nacht! Ich werde bereit sein,« versetzte Sloboda und zog sich mit Paul in die enge Kammer zurück, die der Maulwurffänger für seine Gäste in Bereitschaft gesetzt hatte.
[] Sechstes Kapitel.
Der Herr am Stein.
Auf der Felseninsel eines kleinen, aber tiefen See's mitten in der Haide lag die Fabrik der Herren am Stein. Zwei thurmhohe Schornsteine, aus roth gebrannten Backsteinen erbaut, ragten hoch in die Luft und fesselten die Blicke des einsamen Wanderers schon in meilenweiter Entfernung durch ihre langen und breiten schwarzen Rauchwimpel, die weithin über die stille Waldung wehten. Die vielen Sandwege, die von allen Seiten durch die Haide nach dem See führten, einigten sich an dessen Ufern in einem breiten Landungsplatze, an welchem stets eine Fähre lag, die mit den Dampfmaschinen der Fabrik in Verbindung stand und sehr häufig Waarenballen und ab- und zugehende Geschäftsund [] Arbeitsleute bald nach der Insel, bald von dieser zurück an's feste Land übersetzte. Etwa eine volle Stunde rund um diesen See bestand die Haide aus schönem, jungem, überaus harzreichem Kiefer- und Fichtenholz, durchwachsen von üppig wucherndem Gestrüpp. Die Schlankheit der Stämme und ihre in Vergleich mit der übrigen Waldung unbeträchtliche Höhe zeigten deutlich, daß dieser Theil der Haide vor einigen Jahrzehnten ganz ausgerottet und erst später wieder bepflanzt worden sein mußte.
Unweit des Ufers auf der felsigen Insel fiel ein heiteres, in leichtem, geschmackvollem Styl erbautes Wohnhaus in die Augen. Es bestand blos aus einem Erdgeschoß und erstem Gestock und war mit niedrigem Schieferdache versehen. Grüne Jalousien vor den Fenstern, ein wohlgepflegter Blumengarten mit einem Pavillon, den ein dunkelblaues Dach mit glänzendem Goldknopf zierte, gaben ihm das Ansehen einer ländlichen Villa. Hinter diesem Wohnhause zog sich der Weg in mehrfachen Krümmungen den Granitfels hinauf bis zum Thor der Fabrik, deren fünfstockige weißglänzenden Gebäude mit ihren zahllosen Fenstern ein großes Fünfeck bildeten [] und einen sehr geräumigen Hof umschlossen. Ein Blick genügte, um jeden Wanderer zu überzeugen, daß diese Fabrikgebäude auf den festen Trümmern alten Gemäuers errichtet worden waren, deren Ueberreste mit den gothischen Verzierungen unverkennbar auf ein hohes Alter hinwiesen. Das alte Thor mit seinen Spitzbogen, der ein feingemeißeltes mit Moos und Flechten überzogenes Wappenschild umschloß, und über diesem ein verwitterter starker Mauerkranz mit Schießscharten konnten nicht eine Minute in Zweifel lassen, daß hier ehedem ein altes ehrwürdiges Feudalschloß aus den bessern Zeiten des Mittelalters gestanden habe.
Die große Menge von Arbeitern, welche in der Fabrik auf dieser Insel beschäftigt waren, hatte die nächste Umgebung derselben seit einigen Jahren bedeutend lebhafter gemacht, als andere Gegenden der Haide. Ein kleines Dorf war mitten im Walde entstanden, ausschließlich von den Arbeitern und ihren Familien bewohnt. Hie und da hatte man die Haide gelichtet und Kartoffelfelder nebst einigen Wiesen zu gewinnen gesucht, die von murmelnden Waldbächen, welche in den See mündeten, bewässert wurden und[] das allernöthigste Futter für die wenigen Ziegen lieferten, welche die armen Häuslerfamilien hielten. Weiterhin gab es Pechhütten und Kohlenbrennereien, die auf Kosten der Fabrikherren betrieben wurden. Alles Holz, was zum Kohlenbrennen nicht tauglich war, zog die Fabrik an sich und verwandte es zu Heizung der Dampfmaschinen.
Am dritten Tage nach der im vorigen Kapitel mitgetheilten Unterredung zwischen Heinrich und Sloboda war Adrian von Boberstein, Besitzer und Leiter der Fabrik, in dem erwähnten villaartigen Hause am Seeufer beschäftigt, mit seinem ersten Buchhalter die Rechnungen durchzusehen. Adrian war acht und dreißig Jahre alt, hatte ein wohlgefälliges Aeußeres und einen vornehmen Anstand, der eher einen Diplomaten, als einen Fabrikherrn in ihm hätte vermuthen lassen. In gewisser Hinsicht stand auch seine Handlungsweise damit im vollkommensten Einklange. Adrian war einer jener klugen Diplomaten der Industrie, die in unsern Tagen mehr als die der Politik die Geschicke der Völker bestimmen und jene unheimlichen Beschlüsse über Krieg und Frieden entwerfen, von denen [] das Wohl der europäischen Gesellschaft abhängig ist.
Mit übergeschlagenen Beinen in einem weichgepolsterten Lehnstuhl von massivem Mahagonyholze nachlässig ruhend und eine aromatisch duftende Cigarre von ächtestem Havannah rauchend, deren tief dunkelblaues Gedüft er mit wohlgefälligem Lächeln verfolgte, ließ sich Adrian von dem Buchhalter Bericht erstatten über die Ausgaben der letzten Woche an Arbeitslohn. Der Buchhalter las:
»Hundert und zwanzig Feinspinnern jedem Einzelnen einen Thaler fünf Silbergroschen.«
»Streichen Sie für nächste Woche diese fünf Silbergroschen, Herr Vollbrecht,« unterbrach Adrian den Vortragenden. »Die letzten Briefe meiner Correspondenten in Leipzig, Hamburg, Wien und andern Plätzen berichten, daß uns ein großer Gewinn sicher ist, wenn wir auf den nächsten Messen alle Concurrenten durch Billigkeit unserer Wolle aus dem Felde schlagen können. Dies läßt sich leicht durch eine Herabsetzung des Arbeitslohnes erreichen, der ohnehin zu hoch war.«
»Aber Herr Graf –«
[] »Herr am Stein, lieber Vollbrecht, wenn's beliebt!«
»Nun denn, Herr am Stein, die Arbeiter klagen schon seit langer Zeit, daß sie mit dem jetzigen Lohne kaum mehr ihre Familien unterhalten können! Der harte Winter von 29 auf 30 ist sehr vielen dieser Armen gefährlich geworden und hat ihre geringen Ersparnisse gänzlich erschöpft.«
»Desto besser, so haben wir sie in unserer Gewalt! Es ist nicht gut, wenn der Arbeiter wohlhabend wird. Das macht ihn nur stolz, brutal, aufsätzig, wie wir's vor einigen Jahren schon einmal erleben mußten. Damals hätte es noth gethan, wir hätten diese Elenden mit Bitten bestürmt und sie vom Kopf zur Zehe übergoldet, nur um ein paar Hände zu bekommen. Ich habe mir diese Lehre gemerkt und mich fest entschlossen, es nie wieder dahin kommen zu lassen. Noch einige Jahre und die im Wohlleben schwelgenden Arbeiter wären unsere Gebieter geworden! Gott Lob, mein und einiger Collegen System hat bereits angefangen, Früchte zu tragen! Das unmerkliche Schmälern des Lohnes, durch die große Concurrenz leicht zu rechtfertigen, [] hat diese Uebermüthigen uns wieder unterthänig gemacht. Sorglos verpraßten sie inzwischen ihre Ersparnisse, der schwere Winter half auch mit zehren und jetzt haben sie nichts mehr als ihr gutes Auskommen von einem Tage zum andern. Was wollen sie mehr? Ihr Verdienst wird ihnen pünktlich zur Stunde ausgezahlt, während wir armen Speculanten die Gefahr des Wagens stets mit in Anschlag bringen und sie häufig genug mit Gleichmuth überwinden müssen.«
»Sie sprechen von einem guten Auskommen Ihrer Arbeiter, Herr am Stein, und müssen doch wissen, daß schon seit Jahr und Tag die Kartoffel der Meisten alleinige Nahrung ist!«
»Kartoffeln sind eine sehr nahrhafte Kost und geben Kraft. Man merkt's an den vielen Kindern dieser Spinner und Weber! Und überdies gibt es noch Hunderttausende, für die ein Menschenfreund auch sorgen muß. Der Arme will sich kleiden, will sich billig kleiden, mithin dürfen baumwollene Stoffe nicht theuer sein. Streichen Sie also ganz ruhig die fünf Silbergroschen!«
Kopfschüttelnd gehorchte der Buchhalter und fuhr fort:
[] »Sechzig Wollzupfern einem Jeden 171/2 Silbergroschen.«
»Sind das nicht Mädchen von vierzehn bis siebzehn Jahren aus den Gemeindehäusern?«
»Allerdings, Herr am Stein.«
»Und diese bekommen wöchentlich einen so hohen Lohn? Das geht nicht, das muß geändert werden! Machen Sie 15 Silbergroschen bis nach Beendigung der Leipziger Michaelismesse! Das Wollezupfen ist eine bloße Tändelei, keine Arbeit. Man muß unnöthige Ausgaben ersparen, um so mehr, als ich nächstens eine dritte Dampfmaschine zu stellen genöthigt bin, um den Anforderungen der Zeit zu genügen.«
»Es sind Waisen, Herr am Stein!« sagte Vollbrecht bedeutungsvoll. »Keines dieser armen Mädchen besitzt mehr als einen Anzug, nicht einmal an Sonn- und Feiertagen können sie sich, wie ihre glücklicheren Schwestern, das Haar mit einem bunten Tuche umwinden. Sie müssen von ihrem Verdienste all' ihre Bedürfnisse bestreiten und Eine oder die Andere theilt wohl auch noch einer kränkelnden, hinfälligen Mutter etwas davon mit!«
»Lieber Vollbrecht,« versetzte Adrian ruhig, [] »wenn ich mich um den häuslichen Kummer meiner mehr als tausend Arbeiter kümmern und ihn heilen wollte, so müßte ich die Schätze des Krösus besitzen. Ich bin selbst nicht reich, wie Sie wissen, ich suche nur die mir verliehenen Mittel auf eine unserer Zeit angemessene Weise anzulegen und zum Besten der Menschheit zu vermehren. Wem mein Lohn nicht behagt, den will ich nicht halten. Er mag gehen und wo anders sein Unterkommen suchen. Was ich zahlen kann, das gebe ich, und junge Mädchen gedeihen am besten, wenn sie frugal leben. Das macht sie nicht üppig.«
Der Buchhalter las seufzend weiter:
»Achtig Spindelknaben, jedem Einzelnen zehn Silbergroschen.«
»Eigentlich sollte ich diesen Lohn ebenfalls verringern, indeß mag er für die nächsten Wochen noch fortbestehen, da in letzter Zeit mehrere Unglücksfälle vorgekommen sind. Ich will nicht unbillig sein und die Gefahr der Beschäftigung so gut wie die Beschäftigung selbst bezahlen. Fahren Sie fort, Vollbrecht.«
»Den Käutchenschlingern, jedem Einzelnen zwanzig Silbergroschen.«
[] »Setzen Sie 15 für die Zukunft! Diese Arbeit wird vom nächsten Montage an eine bloße spaßhafte Unterhaltung sein, sobald die Käutchenmaschinen aufgestellt sind!«
»Ich erlaube mir, Ihnen zu widersprechen, Herr am Stein. Die Arbeit wird durch die Maschine erschwert, da der Arbeiter beinahe noch ein Mal so viel Käutchen liefern muß, als früher, wo er blos mit seinen eigenen Händen arbeitete! Legen Sie den armen Menschen, die ohnehin meistentheils in Ihrer Fabrik Verunglückte sind, lieber einige Groschen zu, da sie einen bedeutenden Vortheil durch die Maschinen gewinnen.«
»Vom Gewinn lebt der Kaufmann, für den Gewinn speculirt er. Die Maschinen kosten Geld, viel Geld, und ehe die Arbeiter das Käuteln auf denselben lernen, werden sie mir manches Schock Garn verderben. Schreiben Sie 15 statt 20 und halten Sie mich nicht länger durch Ihre humanistischen und kosmopolitischen Einwürfe auf.«
Nach dieser, in spöttischem Tone vorgebrachten Bemerkung enthielt sich Vollbrecht jedes neuen Einwurfes bei den noch häufigen Lohnverkürzungen, [] die Herr am Stein zu besserm Gedeihen seiner Fabrik anordnete. Der reiche Mann that dies mit dem heitersten Gleichmuth, ohne eine Miene zu verziehen oder nur seine bequeme Lage im prächtigen Polsterstuhle zu ändern. Er wußte, daß er ungestraft so verfahren durfte, da er längst vielleicht noch genauer von dem Zustande seiner Arbeiter unterrichtet war, als der menschenfreundliche, an fremdem Unglück innig Antheil nehmende Vollbrecht. Adrian gründete eine mit diplomatischer Schlauheit berechnete Speculation auf diese Lohnverkürzung, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mißglücken konnte. Es lag nämlich in seinem Plane, während des Winterhalbjahres bei heruntergesetztem Lohne noch einige hundert Arbeiter mehr anzunehmen und deshalb eine dritte Maschine zu stellen. Durch so viele Hände hoffte er binnen sechs Monaten so viel Waare zu liefern, daß er andern Concurrenten damit den Rang ablaufen und durch billigere Preise sie nicht allein für kurze Zeit völlig beseitigen, sondern sie auch zwingen könnte, ihren Arbeitern ebenfalls geringeren Lohn zu geben, was dann seinerseits eine abermalige Lohnverkürzung zur Folge haben mußte. Durch diese [] doppelte Betrügerei oder fein angelegte Speculation mußte Adrian über hunderttausend Thaler rein verdienen. Sie machte ihn ferner zum Ersten in seinem Fache und lieferte alle Arbeiter, die ihm früher die Zähne gewiesen hatten, so ganz in seine Gewalt, daß sie völlig von seiner Gnade abhängig wurden. Mit dem Ueberschuß des neu gewonnenen Kapitals wollte Adrian einen Theil der Güter wieder an sich bringen, die sein wilder sittenloser Vater durch schlechte Wirthschaft, verbunden mit den lang dauernden Kriegsstürmen und den gewaltigen Umwälzungen in allen Verhältnissen, verloren hatte.
Inzwischen setzte sich die Fähre vom Seeufer her nach der Insel zu in Bewegung, beladen mit einer Menge Ballen und vielen Menschen. Adrian sah dies aus den Fenstern seines Arbeitszimmers, achtete jedoch wenig oder gar nicht darauf, da sich das nämliche Schauspiel täglich mehrmals wiederholte. Der Buchhalter packte seine Bücher zusammen und entfernte sich, doch kehrte er schon nach einigen Minuten wieder zurück, um dem Herrn am Stein zu melden, daß zwei Fremde ihn zu sprechen und die Fabrik zu sehen begehrten.
[] Adrian hatte es gern, wenn man im Auslande von seinem Etablissement sprach. Er wies daher Niemand zurück, der Interesse für Maschinenwesen und Industrie zeigte, vielmehr ließ er sich meistentheils herab, Fremde selbst herumzuführen und mit großer Zuvorkommenheit alle ihre Fragen zu beantworten. Er bat also auch jetzt, die fremden Ankömmlinge vorzulassen, damit er sich mit ihnen unterhalte und nach dem Grade ihrer Bildung sein eigenes Betragen abmesse.
Gewohnt, immer nur Personen aus den vornehmen oder den vorzugsweise so genannten gebildeten Ständen unter den wißbegierigen Besuchern zu finden, war er überrascht jetzt auf ein Mal zwei Männer des niedern Volkes zu erblicken, die noch dazu ihrer veralteten Tracht nach mit der Zeit wenig fortgeschritten zu sein schienen. Diese Fremden waren, wie unsere Leser schon errathen haben, der Wende Sloboda und sein Freund der Maulwurffänger. Beide gingen so gekleidet, wie wir sie bereits kennen, nur hatte Sloboda auf Anrathen seines Freundes den schmalen Lederriemen, den er für gewöhnlich um Stirn und Haar schlang, abgelegt, um durch ihn nicht Anlaß zu Vermuthungen zu [] geben, die er jetzt noch nicht hervorgerufen wissen wollte.
Adrian empfing die beiden alten Männer mit kühler Höflichkeit, indem er nach ihrem Begehr fragte. Sloboda antwortete darauf, er komme aus dem Innern Litthauens, um die Fortschritte der Industrie in Deutschland und namentlich die außerordentlichen Verbesserungen hinsichtlich der Maschinenspinnerei, die bei ihnen noch nirgends eingeführt sei, kennen zu lernen. Er selbst sei von Geburt Deutscher, habe sich von jeher mit dem Manufactur- und Fabrikwesen beschäftigt, und gehe damit um, die große Wohlthat der Maschinenspinnerei auch seinen jetzigen neuen Landsleuten wo möglich zu Theil werden zu lassen. Diese ohne Schüchternheit und Zurückhaltung gegebene Erklärung ihres Besuches ererregte kein Mißtrauen in Adrian, sie machte ihn eher etwas freundlicher, da er sich für Rußland interessirte, und während er die beiden Männer ihm zu folgen einlud, stellte er manche Frage an den Wenden über die gegenwärtige Lage Polens nach dessen Unterjochung durch die Russen, über die dortigen Aussichten für Industrie[] und dergleichen, die Sloboda bereitwillig und zu seiner Zufriedenheit beantwortete.
Dabei hatten sie den sich krümmenden Felsenweg zu den Fabrikgebäuden erstiegen und das alte, vollkommen erhaltene Eingangsthor des ehemaligen Grafenschlosses erreicht. Sloboda blieb stehen und betrachtete aufmerksam die gothischen Steinschnörkel und das colossale Wappenschild, von zwei Löwen gehalten, in deren geöffneten Rachen Sperlinge ihre Nester gebaut hatten.
»Es fällt Ihnen gewiß auf,« sagte Adrian, »daß Sie über dem Eingangsthore einer Spinnfabrik ein gräfliches Wappen von uralter Herkunft erblicken. Andere Zeiten, andere Sitten, meine Herren, könnte man hier sagen! Ehemals stand hier ein stattliches Feudalschloß, deren Besitzer mächtige Herren waren und sich rühmen durften, es an Reichthum jedem Fürsten gleich zu thun. Unglückliche Ereignisse, Stürme der Zeit, die Niemand voraussehen, Niemand abwenden kann, brachen die festen Mauern auch dieses Schlosses, und damit wenigstens sein unzerstörbar fester Grund etwas nütze, ward vor mehreren Jahren auf die Trümmer der alten Burg die Fabrik erbaut, die besser, als die früheren [] Bewohner des Schlosses, Wasser, Wald und Sumpf, welche sie rings umgeben, sich auf nutzbare Weise zinsbar zu machen versteht.«
»So etwas kommt häufig vor in unsern Tagen,« versetzte der Maulwurffänger. »Es scheint überhaupt die Aufgabe der neuen Zeit zu sein, alle Ungleichheiten, an denen die Vergangenheit krankte, nach und nach auszugleichen und dadurch gewissermaßen die Verbrechen der Geschichte bessernd zu bestrafen.«
»Nicht übel!« meinte Adrian. »Ihr macht demnach die Zeit zum Zuchtmeister, was sie freilich von jeher gewesen ist, nur daß sie jetzt ihre strafende Hand gegen andere Personen und Geschlechter erhebt, wie früher.«
»Das ist eine sehr weise Einrichtung, Herr am Stein,« bemerkte Sloboda, der bisher unverwandt das steinerne Wappen betrachtet hatte. »Ist die Familie ausgestorben, die früher hier herrschte?«
»Noch nicht, mein Herr!«
»Aber vermuthlich ward sie arm durch die Kriegsunruhen?«
»Auch das nicht, Gott Lob! Sie befindet sich vielmehr in den besten Verhältnissen ist noch [] mächtig, wie in den Zeiten ihres größten Glanzes, nur in zeitgemäßiger Umgestaltung, und sie hofft, noch lange zu blühen und zu herrschen.«
»Sie waren bekannt mit ihr?«
»Sehr genau, mein Herr! Doch beliebt es Ihnen nicht, einzutreten?«
»Mich dünkt, auch ich kannte die Herren dieser Burg,« sagte Sloboda nachdenkend, indem er unter dem Thore hinweg in den geräumigen Hof schritt, den jetzt die unermeßlich hohen Fabrikgebäude umgaben.
»Wie?« sagte Adrian. »Sie kannten die Herren dieser Inselburg? Das muß wohl ein Irrthum sein!«
»Ich will es nicht bestimmt behaupten, nur so viel unterliegt keinem Zweifel, daß jenes Wappen Zier und Helmschmuck der Grafen von Boberstein enthält. O, die Grafen von Boberstein, gottseligen Angedenkens, wer, der sie kannte, möchte sie und ihr Schild je vergessen!«
»Ganz recht, es ist das Wappen der Grafen von Boberstein,« sagte der Maulwurffänger trocken, »und das hier war ehedem gräflich Boberstein'scher Grund und Boden.«
Adrian wechselte die Farbe. Es ärgerte [] ihn sichtlich, daß der alte Mann im Bauerkittel so entschieden sein Eigenthum als ihm nicht mehr gehörig betrachtete, er hielt jedoch an sich, und als hätte er die Bemerkung des Maulwurffängers nicht gehört, wendete er sich gleichgiltig fragend an den Wenden.
»Standen Sie in so naher Verbindung mit den Grafen von Boberstein?«
»In sehr naher Verbindung! Doch das ist schon lange her, fast ein halbes Jahrhundert!«
Adrian schwieg und führte die Besuchenden quer über den fünfeckigen Hof nach einer schmalen Thür, deren rothbraune Sandsteinumkleidung und spitze Bogenwölbung ihr hohes Alter verrieth. Ueber dieser Thür in einem Stück alten Gemäuers, auf welchem der leichtere schlanke Neubau der Fabrik ruhte, sah man abermals das gräflich Boberstein'sche Wappen. Wenige Schritte links im stumpfen Winkel der hier zusammenstoßenden Gebäude erhob sich einer der beiden thurmhohen Schornsteine und die unmittelbare Nähe der Maschinenkammer, die in einer Abtheilung des ehemaligen Erdgeschosses von der Burg angelegt war, erfüllte die Luft mit dumpfem Rauschen und machte ringsum den Felsengrund [] leis erbeben. Aus dem Innern scholl das Klirren, Schrillen, Sausen, Rollen und Stoßen der tausend und abertausend Räder, die hier in ununterbrochener Bewegung waren.
»Wie kommt es,« fragte Sloboda, eine gewundene Treppe hinansteigend, von der herab ihm ein unangenehmer warmer Oeldunst entgegenqualmte, »wie kommt es, daß die früheren Besitzer dieser alten in eine Spinnfabrik verwandelten Burg nicht mehr hier leben?«
»Die gräfliche Familie ist zu ansehnlich,« versetzte Adrian, »als daß sie hier Raum finden würde. Und dann, was hätte sie auch mit einem wüsten Trümmerhaufen anfangen sollen?«
»Das Schloß brannte ab, ich erinnere mich,« sagte Sloboda.
»So erzählt man. Ein Blitzstrahl setzte es in Flammen.«
»Ein furchtbares Unwetter brachte ihm den Untergang!«
»Lebten Sie damals in der Nähe?« fragte Adrian. »Es interessirt mich, etwas über den Untergang dieser ehrwürdigen Stammburg des alten Grafengeschlechtes zu erfahren. Was ich bisher davon hörte, konnte mich nicht befriedigen.«
[] »Wenn Sie erlauben, Herr am Stein, so theile ich Ihnen das, was ich selbst weiß, späterhin mit. Mein Freund, noch vertrauter mit der Vergangenheit, wie ich, kann vielleicht manchen Irrthum aufklären, manche Lücke ausfüllen. Die Natur hat ihn mit einem wunderbaren Gedächtniß begabt.«
»Ja das hat sie,« bestätigte der Maulwurffänger mit einer Trockenheit im Tone, als fehle es ihm an geistiger Kraft. Adrian konnte sich kaum eines spöttischen Lächelns enthalten, als er die wichtige Miene des Mannes dabei bemerkte, die wirklich einen auffallenden Ausdruck von Simplicität an sich trug.
»Ihr wart vermuthlich dabei und saht den Blitz einschlagen, nicht so?« fragte Adrian spöttisch lächelnd.
»Wie Sie wollen,« versetzte Heinrich. »Als der Rummel losging, machte mir's Spaß, die alten Schieferthürme so lustig brennen zu sehen, und ich kann sagen, daß es selten ein hübscheres Feuerchen gegeben hat, bei meiner Mutter Seligkeit! Nachher, wenn Sie Lust haben, alte Geschichten anzuhören, will ich Ihnen verteufeltes Zeug davon erzählen.«
[] Noch während dieser Antwort des Maulwurffängers hatten sie den ersten ungeheuren Saal erreicht, in welchem die frische Wolle gekrempelt wurde. Hundert und mehr Mädchen und Knaben, in einem Alter von vierzehn bis sechzehn Jahren, schlecht gekleidet und von bleichem Ansehen, liefen ruhelos geschäftig hin und her, um die mit furchtbarer Schnelligkeit arbeitenden Maschinen zu bedienen. Der ganze weite Saal war mit einem trüben öligen Nebeldunst erfüllt, der aus den staubfeinen fast unsichtbaren Wollentheilchen gebildet ward, die immerwährend von den Maschinen abflogen. Häufiges abgebrochenes Husten der Arbeitenden fiel jedem Fremden auf und ward auch sogleich von Sloboda und Heinrich bemerkt. Es machte einen fast unheimlichen Eindruck, die vielen schlanken Gestalten stumm und traurig unter den rasselnden Maschinen in dieser brühwarmen, feuchten und fettigen Atmosphäre ewig hüstelnd umherwandern zu sehen, Hände, Gesicht, Kleider und Haare mit feinen Wollenflöckchen bedeckt, die nicht selten an den reizbaren Stellen der Haut ein heftiges Jucken verursachten.
»Diese Arbeit muß anstrengen,« sagte Sloboda,[] »und scheint mir nicht ganz unschädlich zu sein. Arme Kinder, wie sie husten!«
Adrian lächelte. »Glauben Sie diesen intriganten Geschöpfen nicht,« sprach er, »sie verstellen sich und heucheln einen krampfhaften Kitzel in der Kehle, der in Wahrheit nicht vorhanden ist. Ich will Ihnen erklären, woher dies kommt. Früher arbeiteten die Maschinen nur zehn Stunden täglich, in welcher Zeit sie abwechselnd von zwei sich ablösenden Parteien bedient wurden. Später, als das Maschinengarn mehr in Aufnahme kam und die Bestellungen sich häuften, ward die Arbeitszeit verlängert und der Lohn natürlich auch erhöht, während im Uebrigen die Verhältnisse ganz dieselben blieben. Bald aber reichte auch dies nicht mehr hin, und ich sah mich genöthigt, die Maschinen Tag und Nacht, mit Ausnahme der Stunden von eilf bis ein Uhr Nachts, ununterbrochen gehn zu lassen. Natürlich muß ich nun auch die Arbeitszeit meiner Leute verlängern, wofür sie angemessen bezahlt werden. Allein diese Menschen, die anfangs froh waren, daß sie Arbeit fanden, und die ein schönes Geld verdienten und durchbrachten, können jetzt nicht mehr genug Lohn erhalten. In [] der Meinung, daß unser Gewinn in gleichem Verhältniß stehe mit dem Mehrertrage, verlangen sie doppelten, ja wohl gar dreifachen Lohn, behauptend, es litte ihre Gesundheit bei den Maschinen, und weil ich auf so thörichte und völlig unsinnige Forderungen bei den äußerst gesunkenen Preisen der baumwollenen Waaren nicht eingehen kann und will, verstellen sie sich und husten, als ob sie alle die Schwindsucht hätten. Doch ich lache zu solchen Maskeraden!«
»Eilf Stunden täglichen Aufenthalts in diesem Oeldunst ist kein Genuß, Herr am Stein,« sagte der Maulwurffänger. »Könnten Sie nicht, um die Maschinen zum Segen der Menschheit wirken zu lassen, die Arbeitszeit viertheilen und vier Parteien beschäftigen?«
Adrian sah den Alten mit großen Augen an, verwundert über einen solchen Gedanken. »Das wäre der erste Schritt zum sichern Bankerott,« versetzte er verächtlich. »Ich müßte dann wenigstens zwei Mal mehr Lohn geben, als jetzt, und hätte überdies noch mit der Widerspänstigkeit dieser nie zufriedenen Menschen unablässig zu ringen. Nein, es ist so besser, und ich rathe Ihnen, mein lieber alter Herr, wenn Sie [] etwa in Rußland das Maschinenspinnen einführen sollten, nie auf die Klagen Ihrer Arbeiter zu achten. Nachgibigkeit macht sie stets unzufrieden. Sie haben so wenig bei den Maschinen zu thun, daß man das Bischen Hin- und Herlaufen eigentlich gar nicht Arbeit nennen kann. Es ist eine bloße müssiggängerische Spielerei, für die ein Trinkgeld hinlänglicher Lohn wäre. Doch bei Ihnen wird solche Aufsätzlichkeit, wie hier, nicht vorkommen. Sie besitzen zum Glück Leibeigene, die Sie für jede Klage mit Knutenhieben belohnen können, eine Einrichtung, die sehr vernünftig und practisch ist und die auch bei uns bestehen sollte! Glauben Sie mir, man hat unsäglichen Aerger mit diesem widerhaarigen Arbeitervolk!«
Sie hatten die verschiedenen Säle durchschritten, stiegen in das zweite Stockwerk hinauf und traten in die Räume der Grobspinnmaschinen. Auch hier fluthete dieselbe schwere, ölige das freie Athmen hemmende Atmosphäre durch alle Säle, und die Luft war ebenfalls, wenn auch nicht in so hohem Grade, mit Millionen feiner Wollentheilchen geschwängert, die als weißgrauer Niederschlag an den Kleidern sich anlegten [] und bei vielen Arbeitern Augenentzündungen verursacht hatten. Die Heftigkeit, mit welcher der feine Wollstaub von den schwirrenden Würteln und Spillen abflog und die darüber Gebeugten traf, mochte viel dazu beitragen. Sloboda und Heinrich bemerkten dasselbe trockene Hüsteln, das freilich aus dem schmetternden Lärm der Räder und Spindeln nur ein achtsames Ohr heraushörte.
Als unsere Bekannten auch diese Räume ihrer ganzen Ausdehnung nach durchwandert waren, kamen sie im dritten Gestock in ein Vorgemach, wo mehrere Aufseher versammelt waren. Achtungsvoll grüßten diese die Eintretenden. Adrian nahm eine sehr vornehme und herrische Miene an und erwiederte den Gruß nur obenhin. Sloboda blieb stehen, um aus den Fenstern einen Blick über die unermeßlichen Haidestrecken zu werfen, die dunkelblau, wie die Wogen des Meeres, sich bis an den Horizont ausdehnten. Sinnend schüttelte er bei diesem Anblick den Kopf.
»Fällt Ihnen etwas auf?« fragte Adrian, der, stolz auf seine Einrichtungen, keinerlei Tadel gut vertragen konnte.
[] »Ach nein,« versetzte Sloboda, »ich dachte nur der Vergangenheit und was der alte Herr Erasmus, den ich wohl kannte, zu der Veränderung sagen würde. Eine Spinnfabrik auf den Mauern seines Schlosses und dies selbst in fremden Händen, ach das ertrüge der ehrenwerthe Herr nicht, wenn er noch lebte! Lieber würde er sich in die tiefste Stelle des Sees gestürzt haben!«
»Wer sagt Ihnen denn, mein Herr, daß die Besitzungen der Boberstein in fremde Hände gekommen seien?«
»Sind Sie nicht der Eigenthümer dieser Fabrik?« fragte Sloboda.
»Der bin ich.«
»Man sagte mir, ein Herr am Stein besitze See und Haide in ziemlicher Ausdehnung.«
»Man hat Ihnen die Wahrheit gesagt, mein Herr, aber man hat vergessen hinzuzufügen, daß die Herren am Stein und die alten Grafen von Boberstein ein und dieselben Personen sind. Mein Stammname ist Adrian Graf von Boberstein, ältester Sohn des erlauchten Grafen Magnus, seiner Zeit unter dem Namen ›Blauhut‹ wohl bekannt bei Vornehm und Gering.«
[] Sloboda und Heinrich entblößten ehrerbietig ihre Häupter und stellten sich äußerst überrascht. »Herr Graf,« sagte der Wende, »es ist Ihre Schuld, wenn wir einigermaßen die Ihnen zukommende Achtung aus den Augen gesetzt haben. Wir glaubten blos den reichen, umsichtigen, kühnen und glücklichen Fabrikherrn, Herrn am Stein, zu sprechen, nicht den Enkel des Grafen Erasmus von Boberstein! Doch muß ich bekennen, daß mir diese Entdeckung von hohem Werth ist, da Sie mir Aufschluß über eine Angelegenheit geben können, die mich zum Theil auch veranlaßt hat, diese Gegend zu besuchen. Sie werden lächeln, Herr Graf, wenn ich mich Ihnen als Ihren Verwandten vorstelle!«
»Sie und in diesem Rock?« sagte Adrian verwundert und empört zugleich.
»Lassen Sie sich den Rock nicht stören! Er deckt ein grades, ehrliches Herz, das die Gerechtigkeit über Alles liebt! Ich kannte Ihren Herrn Vater, Graf Magnus. Schade, daß ihn der Tod schon abgerufen hat!«
»Ich muß wirklich bitten,« fiel Adrian etwas ungeduldig ein, »dieses Gespräch abzubrechen, oder mir auf der Stelle die bündigsten [] Beweise zu liefern, daß ich in Ihnen einen Verwandten meiner Familie vor mir habe, sonst möchte ich mich genöthigt sehen, Ihnen den Weg aus der Burg zeigen zu lassen.«
»Verzeihung, verehrter Herr Graf!« erwiederte Sloboda. »Ihre Burg ist gegenwärtig eine moderne Spinnfabrik, weshalb es Ihnen schwer fallen möchte, Ihr Wort wahr zu machen. Die gewünschten Beweise sollen Sie erhalten. Heinrich, zeige doch dem Herrn Grafen das Papier.«
Der Maulwurffänger holte hierauf mit großer Ruhe die bewußte Verschreibung hervor und reichte sie dem Wenden. Dieser entrollte sie so weit, daß Unterschrift und Wappen des Grafen Magnus sichtbar wurden, und hielt sie Adrian vor.
»Kennen Sie dies Wappen, diese Handschrift?«
»Wie sollte ich nicht?« versetzte arglos der Graf. »Es ist mein Familienwappen und die Handschrift meines verstorbenen Herrn Vaters.«
»Darf ich die Herren ersuchen,« wandte sich Sloboda an die umstehenden Aufseher, »mir zu bezeugen, daß der Herr Graf Adrian von Boberstein [] diese Schriftzüge als die seines verstorbenen Herrn Vaters anerkannt hat?«
»Sie dürfen es, mein Herr,« erwiederte der Aelteste, in dem wir den Buchhalter Vollbrecht wieder erkennen. »Die Schrift des Grafen Magnus kann Niemand verkennen!«
Die Uebrigen stimmten schweigend bei und verbeugten sich.
»Ich danke Ihnen, meine Herren,« sagte Sloboda, die Schrift wieder zusammenrollend und an Heinrich zurückgebend.
»Aber, mein Herr, was soll das?« fragte Adrian, der von dem unerwarteten Auftritt ganz bestürzt war und nicht wußte, was er dazu sagen sollte.
»Bitte, Herr Graf, lassen Sie sich nicht stören noch beunruhigen! Haben Sie vielmehr die Güte, mir und meinem Freunde die noch übrigen Räume Ihrer ausgezeichneten Fabrik zu zeigen, die mich allein zu Ihnen geführt hat. Denn ich ließ mir nicht träumen, im Herrn am Stein den Sohn des Grafen Magnus zu finden! Sie wünschten Aufschlüsse über die Zeit zu er halten, die vor Ihrer Geburt über die Burg Ihrer Ahnen dahinrauschte. Ich werde mir erlauben, [] falls Sie die Gnade haben, mir und gelegentlich meinem Freunde zuhören zu wollen, Ihnen eine Geschichte von Ihren Vorfahren zu erzählen, aus welcher Sie mancherlei lernen können und die hoffentlich auch dazu dient, mich ungeachtet meines groben Rockes für Ihren Verwandten anzuerkennen! Dürfen wir eintreten?«
Von der gewandten Höflichkeit des steinalten Greises besiegt, machte Graf Adrian lächelnd eine billigende Handbewegung. Sloboda und Heinrich traten in die Säle der Feinspinnmaschinen und betrachteten mit größter Aufmerksamkeit Alles, was ihnen bedeutend schien. Auch unterließ der Wende nicht, häufige Fragen an Adrian zu richten, welche dieser schon aus Höflichkeit zuvorkommend beantworten mußte. So gingen denn die beiden dem Herrn am Stein jetzt räthselhaft und unheimlich gewordenen Fremden von Gestock zu Gestock, von den Maschinen in die Weifsäle, aus diesen in die Packgewölbe, zu den Käutchenschlingern, und erst nach zweistündigem Umherstreifen und nachdem sie auch in die glühendheißen Wölbungen hinabgestiegen waren, wo cyclopenähnliche riesige Söhne der Haide die ungeheuren metallenen Oefen heizten, [] geleitete sie Adrian wieder über den Felsenpfad hinab in sein lichtes, freundliches Wohnhaus und lud sie, um ungestört und ausführlich mit ihnen sprechen zu können, ein, den Rest des Tages bei ihm zu verleben.
Sloboda und Heinrich nahmen diese Einladung dankend an.
[]Zweites Buch
Erstes Kapitel.
Die letzte Spinte.
Ehe noch Adrian mit seinen Gästen das Haus am See erreichte, zeigte das Läuten der Glocke auf der Fabrik die Mittagsstunde an, die zugleich diejenige Zeit war, wo die Arbeiter einander ablösten, ohne den Gang der Maschinen zu unterbrechen. Es begegneten daher den vom Felsen Herabsteigenden eine Menge junger Burschen und Mädchen nebst einer hübschen Anzahl kaum achtjähriger Kinder, die zum Auszupfen der Wollenflocken aus den Rädern und Haken der Spinnmaschinen, so wie zum Auflesen verstreuter Wollbüschel unter den arbeitenden Maschinen verwendet wurden. Alle diese Kinder sahen krank und blaß aus, gingen in elenden, zerrissenen und geflickten Kleidern einher und [] hatten meistentheils aufgedunsene Gesichter, starke Leiber und krumme Beine, eine Folge der ungesunden Luft und des alltäglichen eilfstündigen Hockens unter den stählernen Rechen und Zangen, Walzen und Rädern, die ihre zarten Glieder mit den furchtbarsten Verstümmelungen bedrohten. Einen heitern Anblick dagegen bot der blaue See dar, der jetzt in hellem Sonnenschein wie eine Fläche geschliffenen Stahles unbeweglich dalag und mit hundert und mehr Kähnen bedeckt war, in denen die in den nahen Haidehütten wohnenden Arbeiter sich selbst zur Insel herüberruderten, auf dessen Granitgestein die glänzende Zwangsanstalt lag, die ihnen ein spärliches Brod gab und jetzt mit ihren hohen weißen Wänden und vielen hundert Fenstern wie ein Feenschloß schimmerte.
Die schon bereit stehende Mittagstafel hinderte den Grafen, die Fremden sogleich mit weiteren Fragen zu bestürmen. Vornehm höflich lud er sie ein, sein Mahl mit ihm zu theilen, das keineswegs lucullisch genannt werden konnte; denn Adrian war ein eben so großer Anhänger der Sparsamkeit, als sein Vater ein Freund der Verschwendung gewesen war. Selbst der Wein[] fehlte anfangs und ward erst auf einen Wink Adrians aufgesetzt.
Von dieser außergewöhnlichen Frugalität abgesehen, zeigte sich der Graf durchaus als angenehmer Wirth, als gebildeter, unterhaltender Weltmann und als ein mit feiner Sitte wohl vertrauter Aristokrat. Erst nach Beendigung der Tafel bemerkte der lauernde Blick des schlauen Maulwurffängers, daß es Adrian schwer falle, nicht sogleich eine Erklärung von ihnen zu verlangen, und weil ihm selbst daran gelegen war, diesen auch ihm peinlichen Besuch möglichst abzukürzen, fragte er in seiner trockenen Weise: ob er die Geschichte seines alten Freundes jetzt anhören wolle? Adrian beeilte sich, seine Bereitwilligkeit auszudrücken, worauf Heinrich um Erlaubniß hat, statt der ihm angebotenen Cigarre seine Pfeife rauchen zu dürfen, was Adrian natürlich auch gestatten mußte.
Wir bitten jetzt unsere Leser, sich zugleich mit uns aus dem neunzehnten in das achtzehnte Jahrhundert zurückzuversetzen, wo sich die wechselvollen Begebenheiten, die wir jetzt erzählen müssen, zutrugen. Auch sei es uns gestattet, die Mittheilungen des Wenden und des Maulwurffängers [] nicht von diesen selbst erzählen zu lassen, sondern sie als eine eigene, in sich abgeschlossene Geschichte, aus welcher alle spätern Ereignisse hundertästig entsprossen, in einem, wir wünschen, unterhaltenden und ergreifenden Tone vorzutragen.
Aschermittwoch fiel im Jahre 179* Ende Februar, da Ostern erst Mitte April gefeiert ward. In einem jener regelmäßig gebauten wendischen Dörfer der Lausitz, die gleichsam die Grenze bilden zwischen den großen Ortschaften des Gefildes oder freien Landes und den zerstreut liegenden Wohnungen der Haidebauern, war von einer der vielen Spinngesellschaften, die sich nach altem Herkommen regelmäßig in allen sowohl wendischen wie deutschen Ortschaften des genannten Landstrichs bilden, eine recht fröhliche Feier des letzten Spinnabends, der jederzeit am Aschermittwochstage gehalten wird, beschlossen wor den. Man nennt diese lustige Feier noch heutiges Tages »das Erstechen der Spinte«, eine Bezeichnung, die wir alsbald erklären werden.
Die Spinngesellschaft war alle Tage den [] ganzen Winter hindurch auf Ehrhold's Hofe zusammengekommen, hatte ihre volle Mädchenzahl, nämlich zwölf, ohne Unterbrechung gehabt, und manchen Spaß der Burschen, die wöchentlich ein Mal um die Erlaubniß eines Besuches baten, mit angesehen. Jetzt zum Aschermittwochsabende hatten die jungen Burschen abermals ihren Besuch anmelden lassen und es war mit Bestimmtheit auf muntere Scherze und ausgelassene Tollheiten zu rechnen. Die Mädchen freuten sich über alle Maßen darauf, um so mehr, da manche der fleißigen Spinnerinnen fast ihren ganzen Flachsertrag des vorigen Jahres zu feinem Garn versponnen hatte, woraus, wenn sie vom Glück begünstigt werden sollte, binnen ein oder zwei Jahren das Linnen zu ihrer Ausstattung gewebt werden konnte.
Ehrhold hatte einen jüngern Stiefbruder, Jan Sloboda, der einige Stunden weiter im ersten Gürtel der Haide ein kleines Gärtchen mit Sorgfalt bewirthschaftete. Letzterer überließ für die Dauer des Winters dem Bruder seine Tochter Rosa, damit sie ihm spinnen und der Wirthschaft vorstehen helfe. So jung Rosa oder Haideröschen, wie die jungen Burschen sie nannten, [] noch war, so viele Bewerber fand sie unter den schlanken, gesunden und heitern Bauerssöhnen, ja es war so ziemlich für gewiß anzunehmen, daß Röschen im künftigen Herbst Braut sein werde.
Ohne Gesang vergeht keine Spinte unter den Wenden. Das Schnurren der Rädchen, das Tanzen der Spillen, die bejahrte Frauen vorziehen, das Schrillen und Zirpen der Heimchen im Heerd des Ofens und in dem tief in die Wand gemauerten Kamin, wo das Kienfeuer sprüht und prasselt, laden wie von selbst dazu ein, und da Gesang und Gespräch die reinliche Arbeit nicht stören oder unterbrechen, so dauern beide so lange, als die Gesellschaft beisammen bleibt. Späte Wanderer, die in der strengen Jahreszeit ein wendisches Dorf betreten, werden angenehm überrascht von den lieblichen, reinen Stimmen, den bisweilen heitern, meistens aber melancholischen Melodien, die ihnen aus der Schneenacht über die Breterwand irgend eines Bauerngehöftes entgegenschallen.
Bei diesen Gesangübungen hatte sich Röschen besonders durch eine Menge neuer Lieder oder doch solcher, die nur in der Haide bekannt [] waren, sehr ausgezeichnet und die Liebe Aller erworben. Ihr zu Ehren sollte deshalb Aschermittwoch auf Ehrhold's Hofe so feierlich wie möglich begangen werden. Röschen mußte, da sie keine neuen Lieder mehr wußte, versprechen, die Gesellschaft mit einigen Mährchen zu unterhalten, die sie ebenfalls mit reizender Naivität vorzutragen verstand.
Wirth und Wirthin der Spinte hatten für Speise und Trank reichlich gesorgt. Kaum brach der Abend herein, so kamen die Mädchen, ihre Spinnräder nebst Rocken in den Händen, bei Ehrhold an, nahmen ihre gewohnten Plätze auf der rund um die hölzernen Stubenwände laufenden Bank ein und ließen lustig die Rädchen schnurren und die Mäulchen plappern.
Nach Verlauf einer Stunde schlug es plötzlich, ohne daß man vorher ein Geräusch im Hofe oder auf der Flur gehört hatte, so heftig an die Thür, daß man hätte glauben sollen, ein Pferd schlage mit dem Hufe daran. Die Mädchen zerrissen vor Schreck ihr Gespinnst und kreischten laut auf, manche blos zur Gesellschaft und um die andern noch mehr in Furcht zu setzen oder warfen gar Rocken und Rädchen um. [] Inzwischen stieß Ehrhold, anscheinend verdrießlich über den Grobian, der so ungeschliffen sein Ankommen meldete, die Stubenthüre auf, durch welche in gewaltigen Sprüngen ein künstlich aus weißen Regentüchern zusammengesetzter Schimmel hereingaloppirte, auf die Mädchen zusprengte und längs den Bänken unter den lächerlichsten Capriolen hintrabte, hier einen Rocken mit seinem Strohschwanz herabstreifend, dort gar eine der Spinnerinnen mit zudringlichem Kusse beehrend. Erst nachdem das Ungethüm jedem Mädchen einen Kuß geraubt hatte und von ihnen mit Rosinen und Weißbrod gefüttert worden war, unterließ es seine Schelmenstreiche, nickte gravitätisch mit dem Kopfe, wobei die Ohren abfielen und unter lautem Gewieher ein schöner Rocken zum Vorschein kam. Zugleich sanken die Tücher nebst ein paar Sieben auf die Dielen und ein schmucker Bursche, einige zwanzig Jahre alt, kam unter dem zufriedenen Lachen der gefoppten Mädchen zum Vorschein.
Schon früher waren noch mehrere andere Burschen eingetreten. Diese bemächtigten sich jetzt des mitgebrachten Spinnrockens, steckten ihn über der Stubenthür fest und reichten dem [] ausgelassenen Darsteller des Schimmels, den wir Clemens nennen wollen, eine Ofengabel. Clemens nahm sie mit feierlicher Miene an, fragte jedes der Mädchen, ob auch ihr Rocken rein abgesponnen und Platz in der Flachskammer für die Aerndte des nächsten Jahres sei? Als er die befriedigendsten Antworten darauf erhalten hatte, hielt er dem Rocken eine komische Standrede, indem er sich bei ihm für die vielen Freuden, die er den Winter über gebracht hatte, bedankte, sich aber nachträglich auch bei ihm entschuldigte, wenn er ihm zu guter Letzt, anstatt ihn zu pflegen und zu hegen, wie einem Feinde mitspielen müsse. Er könne nicht anders, denn er liebe die Sonne und hasse den Schnee, der Rocken aber sei ein Verehrer gefrorner Fenster, geheizter Stuben und lodernder Heerdfeuer. Das müsse nothwendig ein Ende nehmen, da der Saft schon lange in die Bäume getreten sei und die weißen unschuldigen Todtenglocken des Winters, die Schneeglöckchen, schon längst den Frühling eingeläutet hätten. Um also der Winterwirthschaft mit einem Male ein Ende zu machen, ersteche er hiermit im Rocken auch die Spinte und verbiete allen weißhändigen Mädchen, Rocken [] und Rädchen vor dem Sanct Burkhardtstage wieder anzugreifen! So sprechend ergriff Clemens die Ofengabel und machte, von Burschen und Mädchen umstanden, von diesen unter Lachen zurückgehalten, von jenen angetrieben, mehrmals vergeblich einen Versuch, die schwarze zinkige Waffe in den weichen seidenglänzenden Flachsleib zu stoßen. Endlich aber traf die Gabel unter lautem Jauchzen aller Anwesenden den Rocken, er stürzte an die Erde und die Spinte war erstochen! –
Sogleich wurden nun die Spinnrädchen fortgeschafft, die Schemel an den großen Tisch gerückt, auf dem schon Kuchen, Bier und Tabak in Menge stand, und Mädchen und Jünglinge nahmen in weitem Halbkreise nach Belieben Platz. Nur für Wirth und Wirthin ließ man einen freien Gang, um sie im Zutragen neuer Lebensmittel nicht zu stören. Clemens erklärte die Spinte nochmals für todt und forderte die Gesellschaft auf, dies wichtige Fest so heiter und lustig wie möglich zu begehen.
Die Wenden theilen mit ihren übrigen slavischen Brüdern nur das heitere sinnliche Temperament, das gern in laute Lustbarkeit ausbricht, dagegen ist ihnen der Hang zu ritterlichen [] Thaten, zu Kampf und Krieg, dem sich die große Masse aller slavischen Völkerschaften so gern hingibt, nicht eigen. Sie lieben den Frieden, die stille Häuslichkeit, die Freuden geselligen Zusammenlebens und harmloser Vergnügungen über Alles und vermeiden jeglichen Streit, wenn es irgend möglich ist. Beschäftigungen des Friedens, die nichts mit Waffenprunk zu thun haben, sind ihnen die liebsten. Darum blühten stets und blühen noch heute unter diesem singenden Volk der Haide Ackerbau, Fischerei und Bienenzucht mehr, wie anderwärts, und der Soldatenrock wird von ihnen, selbst in Friedenszeiten, mit furchtsamem Auge betrachtet. Werden sie aber zum Kriegshandwerk gezwungen, so wissen sie sich mit slavischer Gewandtheit in das Unvermeidliche zu fügen und selbst eine Tapferkeit anzueignen, die der angebornen wenig nachgibt.
Das Festmahl, welches die Spinngesellschaft in Ehrholds Hause der erstochenen Spinte zu Ehren hielt, war so heiter, wie man es nur wünschen konnte. Einer von des Wirthes Knechten spielte das Brummeisen mit bewundernswürdiger Gewandtheit und entlockte der zitternden, [] feinen Stahlzunge mit Meisterschaft alle Melodien der vielen Lieder, die nur dem Volke bekannt sind und sich unter diesem von Generation zu Generation fortpflanzen. So oft der geschickte Spieler eine neue Melodie auf das Brummeisen hauchte, brach die Gesellschaft, die schmausend und lachend um den großen Tisch saß, das Gespräch ab, um in Menge oder von einem Vorsänger geleitet, je nachdem die Melodie es mit sich brachte, ihre geliebten Gesänge anzustimmen. Man setzte dies eine geraume Zeit fort, bis einer der Burschen sich Röschens gegebenen Versprechens erinnerte und jetzt, mit geballter Faust auf den Tisch schlagend und seine kurze dampfende Holzpfeife aus dem vergnügt lächelnden Munde nehmend, ausrief: »Gottes Segen auf uns! Haideröschen muß erzählen!«
Von allen Seiten stimmte die Versammlung dieser Aufforderung bei und Röschen war ein viel zu natürliches und unverdorbenes Kind des Waldes, als daß sie sich, wie dies unsere fein gebildeten und wohlerzogenen Mädchen mit so wirksamer Koketterie zu thun wissen, mit scheinbarer Schüchternheit lange gesträubt hätte. Sie nickte vielmehr beistimmend ganz vergnügt, mit [] ihren großen kornblumenblauen Augen die Gesellschaft überblickend, legte beide Arme, die von dem blendend weißen »Kittelchen« leicht verhüllt und am Handgelenk mit Knöpfchen von Glasperlen zugeheftet waren, so auf den Tisch, daß die vollen runden Ellbogen die Höhlung ihrer kleinen Händchen füllten, und wartete nur auf völlige Ruhe und auf das tüchtige Qualmen aller in Thätigkeit gesetzten Tabakspfeifen.
Röschen zählte siebzehn Jahre und war so schlank und ebenmäßig schön gewachsen, wie die jungen Tannen der Haide, aus der sie stammte. Fast alle Wenden, am meisten aber die Mädchen, zeichnen sich durch hohen Wuchs, durch schöne Körperform und durch einen wunderbar reinen Teint aus. Das Wort: »Ein Mädchen wie Milch und Blut« läßt sich vorzugsweise auf Mädchen wendischen Stammes anwenden. Auch sind sie ihrer starken Gesundheit wegen im ganzen Lande berühmt und bei den Vornehmen bis auf den heutigen Tag als Ammen überaus gesucht.
Ein solches Mädchen nun von Milch und Blut war Röschen. Krankheit kannte Sie nur vom Hörensagen, denn ihr hatte buchstäblich noch [] kein Finger weh gethan sie müßte sich denn beim Abraffen des Getraides zur Aerndtezeit in eine Distel gestochen haben. Röschen hatte seidenweiches goldgelbes Haar, das sie nach der Sitte ihres Volkes in Flechten geschlungen und in ein hohes Kränzchen auf der Mitte des Kopfes zusammengebunden trug und hier mittelst einer messingenen »Senkenadel« befestigte. Diese Fülle reichen Haares, das jede Dame von Welt als verführerisches Netz ausgeworfen haben würde, um schmachtende Anbeter darin zu fangen, verhüllte Röschen im Haus und bei der Arbeit mit einem roth und blau gewürfelten Tuche von Kattun, das sie in ein Dreieck zusammengeschlagen über den Kopf legte, zwei Zipfel in den Nacken herabfallen ließ und die andern beiden unter dem feinen Kinn lose zusammenschürzte. Diese ungekünstelte, einfache Kopfbedeckung, die nirgends für einen Kopfputz angesehen wird, kleidet doch alle jungen und hübschen Landmädchen äußerst vortheilhaft, da sie das reine Oval der heitern, rosigen Gesichter in flatternden Purpur faßt, der wie das Blatt irgend einer mährchenhaften Pflanze oder wie ein luftiges Gewölk Haar und Wangen der ländlichen Schönen umgibt. Der allgemeine [] Reiz dieser Tracht ward bei Röschen noch erhöht durch die vielen zarten und dicht gekräuselten kleinen Löckchen, die rund um ihre Stirn wie goldene Rosenknospen blühten und, wenn sie den schönen Kopf bewegte, sich häufig auf die klare Stirn herabbeugten, als wollten sie diesen Tempel ächter Jungfräulichkeit ehrfurchtsvoll küssen.
»Wenn Ihr fein ruhig seid und mich nicht auslacht,« sagte jetzt dies anmuthige Geschöpf voll gesunden Mutterwitzes, »so will ich Euch zur Belohnung für Eure schönen Lieder das Mährchen von den andächtigen Sängern erzählen. Habt Ihr die Geschichte schon einmal gehört?«
»So wie Du's erzählen wirst mit Deinen Marienlip pen,« sagte Clemens, »so haben wir's sicher noch nicht gehört.«
»Wir kennen's auch nicht!« betheuerten ein paar andere junge Bursche.
»Nun so hört denn zu!« versetzte Röschen, ihr blühendes Gesicht gegen Clemens wendend, an den sie vorzugsweise ihre Mährchenworte zu richten schien.
»Noch einen Augenblick, Röschen!« fiel Ehrhold[] ein. »Das Heerdfeuer will verlöschen und das wäre ein schlimmes Zeichen. Des Wanderers Lampe muß hell brennen, wenn die Ohren der Bauern nicht Zeit haben, aufzupassen!« Damit warf er ein paar Hände voll Kienspäne auf den Kamin, daß die glimmenden Kohlen schnell hoch aufloheten, und setzte sich wieder an den Tisch.
Haideröschen begann:
Das Mährchen von den andächtigen Sängern. Dies und die folgenden kurzen Mährchen sind wörtlich dem trefflichen Werke ›Volkslieder der Ober-und Niederlausitz‹ von Haupt und Schmaler herausgegeben entlehnt.
»Es geschah aber, daß der Herr Christus und der heilige Petrus in der Welt herumwandelten. Und sie kamen in ein Dörflein, wo man in einem Hause so schön sang. Und der Herr Christus blieb stehen, um zuzuhören, der heilige Petrus ging aber immer weiter. Und als er ein Stückchen weiter gekommen war, sah er sich um und der Herr Christus stand noch dort. Der heilige Petrus ging aber immer weiter. Und als [] er ein Stückchen weiter gekommen war, sah er sich wieder um und der Herr Christus stand noch immer da. Der heilige Petrus ging aber doch noch immer weiter. Und als er ein Stückchen weiter gekommen war, sah er sich noch einmal um und siehe – der Herr Christus stand immer noch da und hörte zu. Da kehrte der heilige Petrus auch um und kam wieder zu dem Hause und dort sang man so schöne Volkslieder. Da sie nun eine Zeitlang zugehört hatten, gingen sie beide weiter und kamen an ein anderes Haus, dort sang man auch. Und der heilige Petrus blieb stehen, um zu horchen, der Herr Christus ging aber immer weiter. Da ging der heilige Petrus auch weiter und wunderte sich gewaltig. Da sprach der Herr Christus: Was wunderst Du Dich so gewaltig? Und der heilige Petrus sprach: Ich wundere mich darüber so gewaltig, daß Du dort stehen bliebst, wo sie Volkslieder sangen, und hier vorbeigehst, wo sie geistliche Lieder singen. Da sprach der Herr Christus: Mein lieber heiliger Petrus, dort singen sie Volkslieder, aber mit aller möglichen Andacht, hier singen sie geistliche Lieder, aber ohne die geringste Andacht.«
[] Allgemeines Händeklatschen belohnte die glückliche Mährchenerzählerin, und als wollte man zum Dank für das rechtfertigende und kluge Wort Christi im Mährchen sich selbst eine Genugthuung zu Theil werden lassen, stimmten sogleich ein paar von den Burschen das Lied von der Brautwahl an, in welchem das reiche Mädchen dem armen klagt, daß sie ein und denselben Schatz mit ihr liebe, und sie bittet, ihr den Burschen gegen ihren eigenen Bruder abzutreten. Das Mädchen dankt jedoch für diesen Tausch und ihr Bursche, der die Pferde hütend das Gespräch mit angehört hat und in dessen Herzen sich doch die Lust nach reichem Besitz bei den Worten des wohlhabenden Mädchens regt, wird durch die Entgegnung seiner armen Geliebten schnell wieder zu seiner Pflicht zurückgeführt und verschmäht die arbeitsscheue Reiche, um der Armen Herz und Hand zu reichen.
»Nun was Lustiges!« rief Clemens. »Das Lied war zwar hübsch und recht herzerquickend, wenn aber Haideröschen ihr Purpurglöckchen läutet, klingt's doch noch viel schöner. Was meint Ihr?«
»Aber was recht Lustiges, das bitt' ich mir aus!« sagte nochmals der lebhafte Clemens.
»Ach ja, Röschen muß uns noch eins ihrer [] Mährchen erzählen!« riefen einige von den Mädchen.
»Ich weiß aber nichts, das so lustig ist.«
»Warum denn nicht? Besinne Dich nur!«
»Das hilft nicht. Wenn mir's nicht gleich einfällt, so kommt auch beim Nachdenken nichts heraus.«
»Du weißt aber doch ein lustiges Mährchen,« sagte ihre Nachbarin. »Gelt, Du hast's uns erzählt letzthin zur Vesper beim Flachsbrechen! Nun?«
»Ich erinnere mich nicht.«
»Es war eine Geschichte von einem armen Manne –«
»Mit den vielen Kindern, meinst Du?« fiel Röschen ein.
»Ganz recht. O bitte, erzähle sie uns!«
»Ja die Geschichte ist recht lustig,« sagte Röschen schelmisch lächelnd. »Es kommt mir nur vor, als wolle sie jetzt, wo ich ein so ernsthaftes Mährchen vorgetragen habe, nicht recht passen.«
»Sieh, Schelm!« rief Clemens, »bist Du [] nicht gerade wie der heilige Petrus? Wäre doch der Herr Christus gleich bei der Hand, er würde Dir Dein Flachsköpfchen schön waschen! Unser Herrgott hat uns das Lachen in die Augen und in das ganze Gesicht gelegt, daß wir recht oft diesen fröhlichen Spiegel seinem Himmel zukehren sollen, damit er an ihm sehen kann, ob wir auch noch seinem Ebenbilde gleichen!«
»Immer frischweg erzählt,« sagte Ehrhold ermunternd. »Es ist eben so wenig eine Sünde, als wenn Einer bei der Litanei niest und sein Nachbar ruft ihm Gott helf! zu.«
Röschen, noch blühender aussehend, wie gewöhnlich, blinzelte mit ihren strahlenden Augen Clemens zu und begann abermals:
Die Geschichte vom armen Manne, der die vielen Kinder hatte.
»Es war aber einmal ein Vater und eine Mutter, die hatten eine große Schaar Kinder. Da fuhr der Vater einmal in die Stadt und kaufte ein Viertel Eicheln. Als er nach Hause kam, gab er jedem Kinde eine, und da blieb noch eine übrig, die warf er hinter den Ofen und daraus erwuchs eine Eiche bis in den Himmel. [] Darauf sagte der Vater, daß er daran hinaufsteigen wolle. Die Mutter sagte: Meinetwegen steige hinauf! Er kam hinaufgestiegen und klopfte an. Gott der Herr sprach zu St. Petrus: Geh', sieh, wer dort klopft. Er ging und sagte: Wer ist da? Der arme Mann sagte: Ich, der arme Mann, der die vielen Kinder hat. Sanct Petrus sagte: der arme Mann, der die vielen Kinder hat. Gott der Herr sprach zu St. Petrus: Im Kämmerlein sind zwei Laib Brod, gib sie ihm. Der arme Mann stieg fröhlich herab und rief: Frau, mach' auf, ich habe es gut getroffen, ich bringe zwei Laib Brod. Sie verzehrten das Brod und er sagte: Frau, ich möchte dort wieder hinaufsteigen. Sie sagte: Meinetwegen steige hinauf. Er kam dort wieder hinaufgestiegen und klopfte an. Gott der Herr sprach zu St. Petrus: Geh', sieh, wer dort wieder klopft. Er ging und sagte: Wer ist da? Der arme Mann antwortete: Ich, der arme Mann, der die vielen Kinder hat. St. Petrus sagte: Der arme Mann, der die vielen Kinder hat. Gott der Herr sprach zu St. Petrus: Im Kämmerlein steht ein Korb mit Semmeln, gib sie ihm. Der arme Mann der stieg wieder fröhlich herab [] und rief: Frau, mach' auf, ich habe es wieder gut getroffen, ich bringe einen Korb mit Semmeln. Sie verzehrten die Semmeln und er sagte: Frau, ich möchte dort wieder hinaufsteigen. Sie sagte: Meinetwegen steige hinauf. Er kam dort hinaufgestiegen und klopfte an. Gott der Herr sprach zu St. Petrus: Geh, sieh, wer dort schon wieder an die Thür donnert. Er ging und sagte: Wer ist da? Der arme Mann antwortete: Ich, der arme Mann, der die vielen Kinder hat. St. Petrus sagte: Der arme Mann, der die vielen Kinder hat. Gott der Herr sprach zu St. Petrus: Hinter der Thür steht ein großer Stock, nimm den und haue ihn doch so durch, daß er von einem Aste auf den andern fliegt. St. Petrus ging hin und hieb ihn durch. Der arme Mann stieg eilig herab und rief: Frau, mach' auf, mach' auf, ich bin dort sehr übel angekommen, ich bringe sehr große Prügel mit –«
Während die jungen Mädchen noch über die humoristische Bestrafung des Unersättlichen lachten und die Burschen sich nicht genug in Lobeserhebungen über das prächtige Erzählertalent Röschens erschöpfen konnten, klopfte es einigemal an den halbgeschlossenen Fensterladen, erst [] leise, dann laut und immer lauter. Ehrhold bemerkte es zuerst und gebot der summenden Spinngesellschaft Ruhe. Sogleich erscholl das Klopfen von neuem und diesmal so stark, daß die hölzerne Balkenwand schütterte.
»Nun, nun, reißt mir nur nichts Haus ein!« sagte der Wirth aufstehend und so laut, daß der außen so heftig Anklopfende seine Worte vernehmen konnte. »Ihr hört ja doch, daß die Spinte beisammen ist und unter Scherz und Lust begraben wird, werdet's also erwarten! Was soll's denn?«
»Das Krummholz ist da,« erwiederte von draußen die Ehrhold wohlbekannte Stimme des Nachbars.
»Schon wieder? Was hat denn der Richter zu melden?« versetzte Ehrhold, den Schieber am Fenster öffnend und den hölzernen Laden vollends aufstoßend. Ein Mann in Pelzmütze und weißgrauem Schaafpelz reichte ihm ein krummes, fast wie ein Hammer gestaltetes Holz, an das ein Papier genagelt war, welches eine Einladung oder einen Befehl der Obrigkeit enthielt, der auf diese Weise den einzelnen Hauswirthen zugeschickt und mitgerheilt ward.
[] »Es ist von wegen der Hofemädchen,« sagte der Nachbar. »Der Herr will sie über acht Tage beschauen und sich die kräftigsten und die ihm am meisten gefallen aussuchen. Ihr sollt deshalb, wie alle Andern, übermorgen in der Dämmerung in die Schenke kommen und da Meldung thun, welche und wie viele Mädchen Ihr zu stellen habt. Weiter steht nichts auf dem Papiere, und wollt Ihr Eure Gäste nicht gern verlassen, so mach' ich mir schon den Spaziergang bis zum nächsten Nachbar.«
»Vielen Dank, Nachbar, und es wird mir lieb sein,« erwiederte Ehrhold. »Was aber für dieses Jahr den Mägdedienst bei Hofe anbelangt, so habe ich Niemand zu stellen. Ihr wißt's ja.«
»Ihr kommt aber doch in die Schenke, Nachbar?«
»Ich werd' schon da sein und meinen Krug Bier trinken.«
»Gute Nacht denn und fröhliche Spinte! Ich denke, es wird diese Nacht noch ein Schneegestöber geben. Ihr könnt immer vor Schlafengehen die Bodenfenster schließen, daß Euch der schöne Winterwaizen nicht verweht wird.«
»Gute Nacht!« sagte Ehrhold, schloß Laden [] und Fenster und setzte sich wieder zu seinen Gästen.
»Vater Ehrhold,« nahm Clemens das Wort, ohne Zweifel durch Röschen dazu veranlaßt, die ihn während des Wirthes Gespräch mit dem Nachbar zu sich gerufen und heimlich mit ihm geflüstert hatte, »wir hätten Lust, wie wir da beisammen sitzen, künftigen Sonntag über drei Wochen nach Königshain zu gehen. Ihr seid doch mit dabei?«
»Was habt Ihr dort vor?«
»Ach, da ist das Todaustreiben, Vetter,« fiel Röschen ein, vor Freude in die Hände klatschend, »und das möcht' ich gar so gern einmal mit ansehen! Es gehen viele hin, auch der Vater wird vermuthlich dort sein, da er um diese Zeit für die gnädigste Herrschaft eine Lieferung Getraide nach Görlitz führen muß. Ich will auch recht fromm sein die Zeit her und für Dich und die Muhme so schöne Käse machen, daß Du auf Ostern beim Kuchenbacken Deine Freude daran haben sollst! Geh nur mit!«
»Wenn den Andern so viel daran liegt, wie Dir, so werd' ich wohl nachgeben müssen. Zwar hab' ich mir sagen lassen, es sei weiter [] nichts als ein dummer Spectakel, bei dem viel müßiges Volk zusammenlaufe, Abends die Schenken auskehre und sich auf dem Heimwege die Jacken tüchtig ausklopfe, indeß – Dir zu Liebe –«
»Nun also mir zu Liebe, Vetter, und meinem guten Vater, der sich um das Unglück meines Bruders so sehr grämt!«
»Kind, Kind,« versetzte Ehrhold, »mit Deinen frommen blauen Augen ziehst Du einem das Herz aus der Brust! Was will ich thun? Ich muß klein zugeben, um nur den lieben hellen Himmel in Deinem Köpfchen nicht zu trüben. Ganz umsonst aber will ich mein Versprechen doch auch nicht geben. Gewähr um Gewähr! Ich begleite Dich und die ganze Spinngesellschaft nach Königshain für ein Mährchen und zwar ein frommes, das Du uns zum Schlusse erzählen sollst.«
»Hurrah, ho!« riefen die jungen Burschen und schwenkten ihre Mützen, und die Mädchen fielen plaudernd über einander her, als hätten sie sich die wichtigsten Dinge mitzutheilen. Röschen aber nahm ihre vorige hausmütterliche bequeme Stellung wieder ein und sagte mit der [] freundlichsten Miene von der Welt: Zum Schluß der Spinte das Mährchen von
Diter Bernhard.
»Es war aber einmal ein vornehmer, frommer Herr mit Namen Diter Bernhard, so fromm, daß er seine Kleidung in die Sonnenstäubchen hängen konnte, ohne zu fürchten, daß sie auf die Erde fielen. Er ging jeden Sonntag in die Kirche und erblickte dort einst den Teufel hinter dem Altare sitzen, wie er die Namen derjenigen auf eine Kuhhaut schrieb, welche in der Kirche schliefen. Der Teufel hatte aber die Haut ganz und gar vollgeschrieben und fing sie daher an mit den Zähnen auszudehnen, damit er noch mehr aufschreiben könnte. Sie entschlüpfte ihm aber auf einmal und er schlug mit dem Kopfe so an die Wand hinter sich, daß ihm ein Zahn ausfiel. Hierbei konnte sich Diter Bernhard des Lachens nicht enthalten. Weil er aber in der Kirche gelacht hatte, so rechnete ihm dies der liebe Gott als eine große Sünde an. Als Diter Bernhard nach Hause gekommen war, wollte er seine Kleidung wieder in die Sonnenstäubchen hängen, aber diese hielten sie nicht mehr und sie [] fiel dort zur Erde. Darüber erzürnte er sich und wollte dem lieben Gott auch etwas zum Possen thun. Und er nahm Brosamen und warf sie in seine Stiefel und schritt einher, indem er so Gottes Gabe mit Füßen trat. Deswegen entführte ihn bald ein Wagen in die Luft, und er fährt dort seiner Bosheit wegen noch bis zum heutigen Tage umher.«
»Besten Dank, mein liebes Röschen,« sagte Ehrhold. »Ich erkläre hiermit die Spinte für geschlossen, damit nicht Einer oder der Andere auf schlechte Gedanken komme, sondern ein Jeglicher als rechtgläubiger Christ den Heimweg antrete. Gute Nacht, meine lieben, ehrenwerthen Gäste!«
Ehrhold gab das Zeichen zum Aufbruch, Alle reichten ihm und seiner Frau beim Abschiede die Hand, bedankten sich für gute Bewirthung und heitere Unterhaltung, und verließen, die Mädchen schirmend umgebend, das Bauernhaus.
[] Zweites Kapitel.
Der Todtensonntag.
Die warme Märzsonne am wolkenlosen Himmel machte den Schnee auf den Gebirgen schmelzen und ließ zahllose Bäche über Wiesen und Saatfelder rieseln, daß überall schon an den bewässerten Stellen zarte Keime eines frischen, erquickenden Grüns aus der Erde hervorsproßten. Auch die Saalweiden enthüllten ihre weichen honiggelben, süßduftenden Blüthen der milden Luft und ragten hie und da an den bewaldeten Bergen über die noch dürren Gesträuche wie leuchtende Kerzenbüschel empor. Knaben und Mädchen sah man in einzelnen Gruppen auf den Rainen unfern der Dörfer hinwandeln und diese Erstlingsgeschenke des wiederkehrenden Lenzes triumphirend in der Luft schwingen. Sie zogen [] heim aus den Hügeln, um ihre niedrigen schwarz geräucherten und dunstigen Stuben mit den Palmzweigen des deutschen Nordens, die sie in ihrer kindlichen Weise »Palmmietzel« nennen, zu schmücken.
Einer Schaar solcher mit blühenden Weidenzweigen versehener Kinder begegnete am Sonntage Lätare des genannten Jahres in den schon erwähnten Königshainer Bergen ein rüstig über die Felder einsam daher schreitender Mann. Die Kinder grüßten ihn freundlich, wie einen guten Bekannten, wünschten ihn gute Geschäfte und einen fröhlichen Nachmittag und eilten beschleunigten Schrittes dem großen Kirchdorfe zu, das sich am Fuß dieser Berge im fruchtbaren Thale ausbreitet. Der Gegrüßte dankte eben so freundlich den Kleinen, ließ sich aber in kein Gespräch ein, da er selbst ebenfalls Eile zu haben schien.
Es war ein kräftiger Mann von untersetzter Statur in einem Alter von etwa dreißig Jahren. Seine Tracht bestand aus einer blautuchenen Jacke mit großen Seitentaschen, kurzen Beinkleidern von schwarzem Leder, graublauen Strümpfen und schweren rindsledernen Schuhen mit großen Messingschnallen. Als Kopfbedeckung trug [] er eine niedrige Mütze von Grimmerpelz, die ihm tief in der Stirn saß, so daß nur seine lebhaften, grauen, überaus klugen Augen sichtbar wurden. Ueber Brust und Rücken hingen diesem Mann an starker Hanfschnur eine Menge länglichrund gebogener Drähte, an deren zusammengehenden Enden Bindfaden befestigt waren. Diese Drähte verursachten bei jedem Schritte ein klirrendes Geräusch und machten, daß man ihn schon in einiger Entfernung kommen hörte. Außerdem trug er noch einen großen Quersack von Kalbsfell.
Recht heiter und selbstzufrieden seine kurze Holzpfeife rauchend und bei jedem Schritte eine dicke Rauchwolke in die Luft blasend, ging dieser bäurisch gekleidete Mann quer über Wiesen und Saatfelder, ohne sich um Weg und Steg sonderlich zu bekümmern, und wanderte so in fast schnurgrader Richtung dem Todtensteine zu, dessen wir schon gedacht haben. Hier verschwand er in der schmalen Kluft, welche die hohen Granitmassen in fast zwei gleiche Hälften scheidet, erklomm mit gelenker Behendigkeit die Plattform und ließ wohlgemuth sein scharfes Auge über die malerische Gegend gleiten, die fern und nah[] dem Schauenden entgegentritt. Von der Frühlingssonne hell beschienen lagen die hügeligen Niederungen der Lausitz zu seinen Füßen bis an den dunklen Saum der Haide. Die Landeskrone mit ihrem gespaltenen Gipfel und dem weißen Thurme ragte hoch aus der Ebene, zu ihrer Linken im breiten Thal der Neisse glänzten die Thürme und alterthümlichen Giebel von Görlitz, und darüber in blauer Ferne schloß die schimmernde Kette der schneebedeckten Sudeten das reizende Landschaftsbild.
Nachdem der Mann mit den Drähten sich geraume Zeit an der prächtigen Aussicht gelabt und während dem seine Pfeife vollends ausgeraucht hatte, streckte er sich auf ein Mooslager hin, das etwa auf der Mitte der Plattform in einer unbedeutenden Vertiefung bereitet war. Diese Vertiefung hatte die Form einer liegenden Menschengestalt von riesiger Größe und schien künstlich in das harte Gestein gemeißelt zu sein. Hier verbarg er einen Theil seiner Drähte unter das Moos, legte dann seinen Quersack darauf, drückte die Mütze über die Augen und überließ sich sorglos einem festen Schlafe.
Nach ungefähr einer Stunde, während der [] unser Bekannter in der stillen sonnenwarmen Luft ganz ruhig geschlummert hatte, ward er durch näherkommendes Jubeln, Lachen, Schreien und die quäkenden Töne mehrerer Dudelsäcke, in die sich schrillend das Gepfeif der wendischen Flöte oder Tarackawa mischte, aufgeweckt. Hastig schob er die Mütze zurück, fuhr sich mit der breiten schwieligen Hand über die Augen und richtete sich so weit auf, daß er seinen rechten Ellbogen unterstemmen und den Kopf in die hohle Hand stützen konnte. Ein langer und breiter Menschenschwarm, umhüpft von Kindern mit blühenden Weidenzweigen und angeführt von einer Schaar Dorfmusiker, die sich möglichst anstrengten, ihren Instrumenten unharmonische Töne zu entlocken, zog von Königshain den Berg herauf. Unmittelbar hinter der Musikbande gingen Knaben und Mädchen paarweise geordnet, die allesammt lange strohumwundene Stöcke trugen, an denen bunte Bänder flatterten. An diese schloß sich ein junger Bursche an, der auf seinen kräftigen Armen eine große Strohpuppe hielt, die er zu Aller Ergetzen sorgsam, gleich einer Kindermutter, wiegte. Jung und Alt sang in regelmäßigen Absätzen laut lachend: »Eia Popeia« [] und sprang und lärmte dann wieder nach Herzenslust.
Ueber diesen wunderlichen Aufzug brach der Mann auf dem Todtensteine in ein fröhliches Lachen aus, ohne jedoch Miene zu machen, sich den Tumult genauer und in der Nähe betrachten zu wollen. Vielmehr behielt er seine bequeme, lauschende Stellung ruhig bei und heftete nur mit größerer Aufmerksamkeit seine schlauen Augen auf den immer mehr anwachsenden Menschenschwarm.
Sobald der Vortrab desselben den Todtenstein erreicht hatte, holten mehrere Burschen Stahl, Stein und Schwamm aus den Taschen ihrer kurzen Jacken, schlugen Feuer an und entzündeten mitgebrachtes Werg und Heu, über dem sie schnell im Schutz des Felsen einen hell lodernden Scheiterhaufen aus dürren Reisern und Wurzeln erbauten. Um dieses Feuer stellten sich alle diejenigen, welche mit Stroh umwundene Stöcke trugen, im Kreise und setzten sie an der Flamme in Brand. Hierauf trat der junge Mann mit der Strohpuppe in den Kreis, hielt an die zahlreiche Versammlung eine kurze Rede und warf das wunderliche Wickelkind unter fröhlichem [] Zuruf der Menge in die knisternde Flamme. Kaum schlug die Lohe über der Puppe zusammen, als jeder Fackelträger um sich selbst zu tanzen begann, seinen Strohbrand um Kopf und Schulter schwang und in kurzen abgestoßenen Sätzen wiederholt die Worte sang:
»Den Tod haben wir ausgetrieben,
Den Frühling bringen wir wieder!«
Dieser Gesang ward unter fortdauerndem Tanz, dem sich auch die bei der Handlung selbst Unthätigen lustig mit anschlossen, so lange fortgesetzt, bis die Strohpuppe in ein Häufchen glimmender Asche verwandelt war. Dann warfen die Fackelträger ihre Brände theils auf die Feuerstatt, theils in nahe Klüfte des Felsens, und umtanzt und umjauchzt von den »Palmmietzeln« tragenden Kindern machten sich die vielen Hunderte, welche dem Schauspiele beigewohnt hatten, wieder auf den Heimweg.
Diese sonderbare Feier, auf welche man heut zu Tage vergeblich warten möchte, hieß das »Todaustreiben« und ward noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts an sehr vielen Orten Böhmens, Mährens, Schlesiens und der Lausitz gehalten. Weil man sie seit undenklichen [] Zeiten auf den Sonntag Lätare verlegte, nannte man diesen Tag den »Todtensonntag.« Das Volk hing, wie an allem Herkömmlichen, auch an diesem uralten, jedenfalls der heidnischen Vorzeit entlehnten Gebrauche, und die Jugend freute sich auf das Verbrennen der Strohpuppe, welche den Tod vorstellte, fast eben so sehr, wie auf den Weihnachtsabend. Bei den heidnischen Slawen war diese Puppe wahrscheinlich nicht ein Abbild des Todes, sondern des Winters gewesen, und das Verbrennen derselben bei Beginn des wiedererwachenden Lenzes hatte symbolisch die Wiederbelebung der Natur, das Hinsterben des Winters darstellen sollen. Es gab wenige Orte, wo der Todtensonntag so alterthümlich solenn begangen wurde, wie am Fuße des Todtensteines, was unstreitig seinen Grund darin hatte, daß dieser hochgelegene, eigenthümlich gestaltete Felsen im heidnischen Alterthume einer der geheiligten Opferplätze gewesen sein mochte, an denen die Priester der Wenden ihre religiösen Gebräuche, sei's öffentlich, sei's heimlich, übten. Wenigstens deuten vielfache Spuren darauf hin, selbst die erwähnte in Form einer menschlichen Gestalt auf der Plattform des Felsens ausgehauene [] Vertiefung stand wahrscheinlich in irgend einem geheimnißvollen Zusammenhange mit jenen heidnischen Opfergebräuchen. –
Unserm Freunde mit den Drähten war diese Festlichkeit nichts Neues. Er hatte ihr schon häufig beigewohnt und fand sie eigentlich lächerlich. Sie konnte ihn deshalb auch nicht fesseln und er hätte sich vielleicht, wäre ihm der Gedanke eingefallen, daß heut der Todtensonntag vieles Volk um den Stein versammeln würde, eine andere Ruhestätte ausgesucht. Da er nun aber doch einmal durch Zufall am Orte war, machte es ihm Vergnügen, von seinem Versteck herab die wogende, bunte, fröhliche, so lebhaften Antheil nehmende Menschenmenge zu beobachten. Diese bot wirklich ein unterhaltendes, schönes Bild dar, indem sich deutsches und wendisches Volk heiter mischte. Die Wenden, mehr als die Deutschen ihren uralten Sitten treu, zeichneten sich durch ihre eigenthümliche, nichts weniger als unschöne Tracht aus, und weil die Wenden der Lausitz noch bis heut für einen schönen Menschenschlag gelten können, war es in der That eine Lust, die vielen kräftigen jungen Männer und die schlanken, fein gegliederten Mädchen [] mit den edlen, häufig wahrhaft vornehmen, vor Freude strahlenden Gesichtern ungestört bewundern zu können.
Besonders zog seine Blicke ein Trupp junger wendischer Burschen und Mädchen auf sich, die fest zusammen hielten und ein und demselben Orte anzugehören schienen. Unter ihnen zeichnete sich vor Allen ein Mädchen durch Schlankheit der Formen und zierliche, obwohl nicht feine Kleidung aus. Ein schneeweißes Häubchen von gestreifter Leinewand, an den Kanten mit Spitzen umsäumt, umschloß ihr zartes, ovales Gesichtchen und verlieh ihm einen bezaubernden Ausdruck von Kindlichkeit und Unschuld. Zwei ebenfalls weiße Bandschleifen befestigten das einfache Häubchen unter dem runden Kinn, das ein allerliebstes Grübchen reizend verschönte. Das Mädchen, indem unsere Leser gewiß Röschen schon erkannt haben, sah mit ihren großen, kornblumenblauen Augen, die lange goldige Wimpern wie mit sonnigen Franzen schirmten, seelenvergnügt aus und bewegte sich in ihrem braunen kurzen Rocke, ihren blendend weißen, mit roth und blauen Zwickeln versehenen Strümpfen und den kleinen Schuhen unter den übrigen Wendinnen [] wie eine verkleidete Fee. Unter dem rechten Arme trug sie ihr weißes Regentuch, sauber und faltenlos zusammengerollt, um es im Fall eines sich entladenden Unwetters nach wendischer Sitte als Mantel gebrauchen zu können.
Mit unbeschreiblich süßem Lächeln hatte Röschen dem Verbrennen der Strohpuppe und dem Fackeltanze zugesehen, indem sie sich auf die Schulter eines jungen Burschen stützte, oder vielmehr den Nacken desselben mit ihrem linken Arm traulich umschlang. Der etwas zur Seite gebeugte Kopf ließ genug von ihrem Hinterhaupte sehen, um die reiche Fülle ihres seidenweichen Haares zu zeigen, das sich unter dem Häubchen hervordrängte und in glänzendem Gekräusel über den Nacken herabfiel.
Als sich jetzt die bedeutende Volksmenge, unter der man auch verschiedene Städter aus Görlitz und Reichenbach bemerken konnte, nach und nach zerstreute, veränderte Röschen ihre wunderbar anmuthige Stellung, und ihrem Begleiter einen Wink gebend, drehte sie sich auf den Hacken um und entfernte sich leichten Schrittes von der alten Opferstätte. In gedrängter Schaar schlossen sich die übrigen Wenden dem [] jungen Paare an. Haideröschen hatte jedoch kaum den vierten Theil einer Feldlänge zurückgelegt, als sie plötzlich stehen blieb, dem Burschen leise einige Worte in's Ohr flüsterte und gleich darauf in schnellstem Laufe durch die ihr jetzt entgegendrängende Volksmasse wieder nach dem Todtensteine hineilte. Auf diesem Laufe begegnete ihr ein riesengroßer Mann im langen Sonntagsrocke, einen dreieckigen Hut auf dem Kopfe, dessen dichtes lichtbraunes Haar bis in den stämmigen Nacken herabhing. Hingebend warf sich Röschen diesem Manne an die breite Brust. Wenige schnell gesprochene Worte genügten, sich ihm verständlich zu machen, und indem er den linken Arm um die schlanke Gestalt des schönen Mädchens legte, stützte er die halbe Wucht seines riesigen Körpers auf den rothgebeizten Stock von Schlehdorn, den er in der rechten Hand trug.
Während dies geschah, jagte ein Reiter auf schnellfüßigem Rosse quer über die Felder und schlug unverkennbar die Richtung nach dem Todtensteine ein, an dessen geschwärztem, von Schmarotzerpflanzen umranktem Felsgeschiebe noch weißlicher Rauch von dem erlöschenden Feuer emporwirbelte. [] Der Reiter war ein junger Mann in sehr eleganter, vornehmer Kleidung. Kleine goldene Sporen glänzten an seinen Reitstiefeln, ein dunkelgrüner Jagdrock vom feinsten Tuch, reich mit Goldtressen besetzt, wie es die Mode der Zeit erheischte, schloß eng um seine Taille, und ein kleiner dreieckiger Hut von schwarzblauem Castor saß recht kokett auf seinem wohlfrisirten Haar. In der Rechten schwang er eine lange Reitpeitsche, mit der er häufig knallte, sei es, um das an sich schon feurige Thier noch mehr zu beleben, sei es zur bloßen Unterhaltung.
In einigen Sekunden war der wilde Reiter der vom Todaustreiben zurückkehrenden Menge so nahe, daß er den Strom derselben durchbrechen mußte. Dies that er auch, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, ob sein rasch und wild galoppirendes Pferd bei solchem Wagniß auch Jemand verwunden könne. Ja er erkühnte sich sogar, mit hochmüthiger Miene links und rechts mit seiner langen Reitpeitsche in die Volksmenge hineinzuhauen, um seinem Thiere Platz zu verschaffen, und während er dies, wie es schien, mit vielem Behagen that, versäumte er nicht, durch entehrende Schimpfworte die unschuldigen [] Menschen zu schmähen und zu beleidigen. Wahrscheinlich hatte der anmaßende Mann ein Recht zu solchem Verfahren, denn der Menschenstrom theilte sich sofort freiwillig und die Meisten zogen überdies noch ehrerbietig oder scheu ihre Mützen und Hüte. Selbst diejenigen, welche die schwer niederfallende Peitsche schmerzhaft getroffen hatte, murrten nicht, sondern wichen nur um so ehrerbietiger zurück.
Nicht so geduldig nahmen dies brutale Betragen einige wohlhabende Bürger aus Görlitz hin. Sie waren mit Recht über das tyrannische Verfahren des fremden Reiters empört und erwiederten seine Schmähreden mit drohend erhobenen Stöcken. Ein Tuchmacher, heftiger als die Andern, wollte sogar dem Pferde in die Zügel fallen und den herrischen Reiter mit seinem gewichtigen Rohrstocke gut bürgerlich bearbeiten.
»So ein reicher Taugenichts,« rief er aus, »dem's Geld durch den Schornstein in's Haus fliegt und der doch ehrlichen Handwerksleuten keinen wohlverdienten Böhmen gönnt, den soll ja gleich der Teu –«
»Pst!« fiel dem Aufbrausenden ein wendischer Bauerbursche in's Wort, »machen Sie doch [] keinen unnützen Lärm! Der Herr hat Sie gar nicht gemeint, denn über Sie hat er keine Gewalt, nur uns, die wir ihm gehören oder bald gehören werden, galten seine Worte. Kennen Sie den Junker Blauhut nicht?«
Dieser Mann mußte sehr bekannt und gefürchtet sein, denn der erhitzte Tuchmacher ließ nicht allein von seinem Vorhaben sogleich ab, sondern hatte auch sichtlich alle Lust verloren, dem vornehmen Herrn mit einem Wörtchen zu nahe zu treten. Inzwischen hatte der Reiter den Menschenschwarm durchbrochen und den Trupp wendischer Bauern, Burschen und Mädchen erreicht. Mit leichtem Peitschenschlage auf den Rücken Ehrhold's, der Clemens zurückhielt, Röschen nachzueilen, hielt er sein schnaubendes Thier an, beugte sich über den Sattelknopf und sprach:
»Du scheinst ein schlechtes Gedächtniß zu haben, Ehrhold, was doch bei Euch Gesindel selten der Fall ist, wenn es sich um klingenden Lohn handelt. Ich werde mich deshalb genöthigt sehen, Deine Vergeßlichkeit Dir auf andere Weise abzugewöhnen, wenn Du mir nicht auf der Stelle Deine Pathe, die ich an ihrem Feenlaufe gar wohl erkannt habe, hieher schaffst!« [] Bei diesen Worten schwang der Junker die Peitsche und ließ sie einige Male pfeifend um die Ohren des Bauers sausen. Dieser zog demüthig seine Pelzmütze, wodurch ein glänzender Lederriemen um die Stirn sichtbar ward, den vorn ein Schlößchen, welches zwei Adlerflügel vorstellte, fest zusammenhielt.
»Ach gnädigster Herr! Gnädigster Herr!« stotterte Ehrhold bestürzt.
»Warum hast Du mich getäuscht?« fragte der Reiter abermals mit strenger Stimme und funkelndem Zornesblicke.
»Ich habe Ew. Gnaden nicht getäuscht, Sie wissen es! Ihr Anerbieten gebot mir die Ehre abzulehnen und –«
»Ehre!« lachte höhnisch der Junker. »Seit wann hat ein Hund von einem Sclaven Ehre! Ich werde Dich peitschen lassen, Schuft, und einen Tag lang in meinem Schloßhofe an den Pranger stellen! Zum letzten Male, warum hast Du mir Deine Pathe verheimlicht?«
»Ew. Gnaden können mit mir verfahren, wie Sie es für recht halten,« erwiederte Ehrhold, »ich muß es erdulden und werde nicht darüber murren; allein Röschen konnte ich nicht [] in's Schloß schicken, weil das gute, zarte Kind nicht Ihre Unterthanin ist.«
»Nicht meine Unterthanin!« fuhr der junge Graf auf. »Wie erfrechst Du Dich, mir ein solches Wort in's Gesicht zu behaupten, mir, dem alleinigen Erben aller Güter meines weichherzigen Vaters? Ich sage Dir, Schuft, das Mädchen gehört mir so gut, wie Du und Deine ganze Familie, und wenn ich befehle, daß sie im Schlosse ihre Dienstzeit antreten soll, so hat sie blos zu gehorchen. Wer sich weigert, kommt vier und zwanzig Stunden in den Stock, und wenn ich bisher diese wohlverdiente Strafe noch nicht über sie verhängt habe, so hat sie dies blos ihrer Anmuth und Zartheit zu verdanken.«
»Das liebe Kind ist so schwach, Ew. Gnaden!«
»Zu den Diensten, die ich von ihr verlange, besitzt sie Kraft genug,« sagte der Reiter mit spöttisch aufgeworfener Lippe. »Sie soll weder das Haus scheuern, noch Stallmagd werden, ich will sie unterrichten und ihr was lernen lassen, damit sie in freien Stunden mir die Zeit durch heitere und gebildete Unterhaltung vertreibe. Aber Euch dummem Volk ist nicht beizukommen. [] Will man Euch auch helfen und aus Eurem Elende herausheben, so habt Ihr stets tausenderlei Bedenken, und gebraucht diese so lange als Waffe, bis man mit Gewalt erzwingt, was Milde nicht erreichen kann. Dann habt Ihr freilich gut über Willkür und Ungerechtigkeit schreien! Nochmals also, schaffe mir die Widerspänstige herbei, damit ich gleich hier mit ihr abschließe!«
Ehrhold wollte abermals Einwendungen machen, aber des sehr grimmig blickenden Reiters neuerdings geschwungene Peitsche machte ihn verstummen. »Eile Dich,« rief der junge Graf dem langsam Fortgehenden nach, »ich werde Dich hier erwarten!« Und sorglos ließ er die Zügel auf dem Nacken des feurigen Thieres ruhen und sah stolz und verächtlich auf die vor ihm vorübergehende Menge, von welcher bei weitem die Meisten ihn äußerst demüthig grüßten. Der Reiter dankte nur selten, und that er es wirklich ein Mal, so bestand sein Dank in einem kaum merklichen kurzen Zucken des Kopfes.
Fünf Minuten mochten etwa seit dem Weggange Ehrhold's verstrichen sein, als er an der nördlichen Seite des Todtensteines wieder sichtbar [] ward, die schöne Wendin, von dem riesigen Manne begleitet, in dessen Schutz sie sich begeben hatte, an der Hand führend. Das wetterbraune Gesicht des Letztern hatte einen würdigen, herzgewinnenden Ausdruck und der Blick seiner hellen blauen Augen etwas so Offenes und Ehrliches, daß man wohl hätte glauben dürfen, diesem Manne eine Bitte, vom Blick seines Auges unterstützt, abzuschlagen, müsse Jedermann unmöglich sein. Er hatte bereits das Haupt entblößt und zeigte jetzt, wie die meisten übrigen Wenden, welche bei diesem Auftritte zugegen waren, einen schmalen glänzenden Lederriemen um die Stirn, der, wie es schien, am meisten dazu diente, die reiche Haarfülle fest zusammenzuhalten. Zienckich rasch schritten diese drei Personen den Hügel herab der Stelle zu, wo der herrische Ritter, mit kurzen Fragen Clemens festhaltend, auf sie wartete. In einiger Entfernung vor und hinter dem jungen Grafen war das Volk wieder zusammengetreten, offenbar aus Neugierde, was wohl der gebieterische und gefürchtete Herr mit dem schönen Kinde anfangen werde.
Als der Reiter den starken großen Mann [] erblickte, verfinsterte sich sein Gesicht und eine dunkle Röthe bedeckte auf einige Momente Wange und Stirn. Inzwischen waren jene Drei so nahe gekommen, daß sich leicht ein Gespräch mit ihnen anknüpfen ließ, weshalb der Graf in scherzhaftem Tone sprach:
»Röschen, Röschen, Du läßt mich frühzeitig die spitzen Dornen fühlen, die Deine Schönheit birgt! Das ist lieblos von Dir und eigentlich sollte ich Dich dafür strafen. Doch ich weiß, daß alle schönen Mädchen kleine anmuthige Launen haben, die sie uns Männern nur begehrenswerther machen. Darum soll Dir verziehen sein, wenn Du mir jetzt mit Deiner thörichten Furcht nicht die Geduld raubst. Hier ist meine Hand. Schlag' ein! Auf Ritterwort, es soll Dir kein Leid geschehen!«
Obwohl der junge Herr eine geraume Zeit seine vom Reithandschuh freie, weiße und schlanke Hand vom Pferde herab der Wendin entgegenstreckte, rührte diese doch keinen Finger. Gesenkten Hauptes, die Hände unter der Schürze lose verschlungen, stand sie da gleich einer Verbrecherin, die ihr Urtheil erwartet. Da trat ihr Begleiter vor, beugte sich tief vor dem Reiter und [] dessen Hand mit seinen Lippen streifend, sagte er ehrfurchtsvoll:
»Gnädigster Herr Graf, ich bitte Sie fußfällig, lassen Sie mir die arme Kleine nur noch ein Jahr, dann will ich sie Ihnen, wenn Sie darauf bestehen, selbst auf's Schloß bringen, und sie wird gewiß gern ihre Pflicht thun. Es ist meine einzige Tochter, Ew. Gnaden, ihre Muhme, daß Gott erbarm', ward im Walde erschlagen von einem Baume, den Ew. Gnaden Holzschläger fällten. Das schlimme Unglück zog sich mein Sohn, ihr Mann, zu Gemüthe, bis daß ihm die Gedanken vergingen und er, so zu sagen, ein Narr wurde! Das arme Ding hat nun eigentlich keine Menschenseele außer mir und ihrem Pathen, bei dem sie den Winter über die Wirthschaft erlernt hat, und ich hab' sie gepflegt und erzogen, so gut ich konnte, was sie mir Dank weiß, Ew. Gnaden, denn es ist ein recht wackeres und frommes Mädchen! Aber sie möchte mir nun auch gern einen Beweis ihrer Kenntnisse aus Dankbarkeit geben, wornach mein Vaterherz sich sehnt, und seh'n Sie, gnädigster Herr, grade deshalb hätte ich's gern, wenn Sie mir die liebe kleine Unruh' noch ein Jährchen [] ließen. Sie würde mein Herz erquicken mit ihrem süßen Lächeln und mir die kleine Wirthschaft redlich führen helfen. Es ist ja doch Alles zu Ew. Gnaden eigenem Besten!«
Der Wende sah den jungen Gebieter mit seinen offenen Augen so flehentlich an, daß gewissermaßen schon im Ausdruck des Blickes eine Gewährung seiner Bitte hätte liegen müssen. Dennoch erwiederte der Graf kühl und unfreundlich: »Ich sehe es nicht gern, Jan Sloboda, daß Du so oft bittest. Es verbirgt sich dahinter ein aufsätziges Gemüth, wie ich gar wohl weiß, und weil Du hoffst, meinen Vater auf Deiner Seite zu haben, meinst Du, es sei Dir erlaubt, alle meine Befehle durch höfliche Gegenreden zu beseitigen. Ich bin dieser bittenden Widersetzlichkeit müde und will derselben ein Ende machen. Was aber Deinen Familienkummer anlangt, den Du mir auch auf Schritt und Tritt erzählst, so wisse, daß ich mich gar nichts um ihn kümmere und ihn nicht eines einzigen Wortes werth halte. Deine Schnur erschlug ein fallender Baum, wahrscheinlich zur Strafe, weil sie Zweige brach, wo es verboten ist, oder zur unrechten Zeit Streu machte. Was ist's weiter! Du bist zwei hungrige [] Mäuler auf einmal los geworden, was Ihr ja stets für eine besondere Gnade Gottes haltet. Deinem Sohne geht nichts ab im Gemeindehause. Er hat müssige Zeit und wird auf Anderer Unkosten gefüttert. Meine ich es denn nicht gut, wenn ich Dir auch noch die dritte Esserin abnehmen will? Wozu brauchst Du eine Gehilfin? Du bist noch rüstig und kannst immerhin allein arbeiten. Das Faullenzen taugt nichts für Euch Leute. Müssige Zeit macht Euch nur unzufrieden. Röschen aber will ich, weil sie mir gefällt, in's Schloß nehmen und ihr eine gute Erziehung geben. Sie soll nicht, wie ihre Aeltern, eine elende Bettlerin werden und nach fremdem Gut ihre schöne Hand ausstrecken.«
»O Herr,« versetzte Sloboda, ohne seine gebückte Stellung zu verändern, »Ihre Worte fallen wie Feuerflocken auf mein Herz und brennen darin so tiefe Wunden, daß sie wohl nie mehr vernarben und ich sie immer fühlen werde. Möchten Sie durch die Worte eines Andern nie ähnliche Schmerzen empfinden!«
Nach diesen Worten trat er einen Schritt zurück, denn er wußte nicht, was er dem herzlosen [] Gebieter noch sagen sollte. Röschen weinte, daß ihr die Thränen wie Perlen über die fein gerötheten Wangen herabliefen, aber sie wagte nicht die Augen aufzuschlagen zu dem Manne, der sich das Recht und die Gewalt, willkürlich über sie zu verfügen, anmaßte.
»Folge mir, Röschen,« wandte sich der Graf an die Schöne. »Meine Zeit ist kurz und meine Geduld zu Ende. Ich verlange Gehorsam und werde ihn zu erzwingen wissen, wenn dies Sträuben fortdauert. Ich bin kein Freund harter Maßregeln, aber ich werde sie schonungslos anwenden, wenn dieser Geist der Widerspänstigkeit, der anderwärts schon zu Excessen geführt hat, auch unter meinen Unterthanen oder denen, die es dereinst werden sollen, einzunisten droht. Du bist siebzehn Jahre, mithin hofepflichtig. Ob Du auf meinem oder meines Vaters Schlosse in Dienst trittst, ist gleichgiltig. Ich beanspruche Dich im Namen meines Vaters, der mir Dich ohne Widerrede abtreten wird. Zum letzten Male spreche ich als Freund und im Guten zu Dir. Laß Dich von Deinem Vater oder von wem Du sonst willst bis dort nach jenem Vorwerke[] begleiten. Ich reite heim und werde Dich zu Wagen abholen lassen.«
Trotz dieses entschieden ausgesprochenen Befehles blickte Röschen weder auf, noch machte sie Anstalt, den Grafen zu begleiten. Das Gesicht zur Erde geneigt und mit den schlanken Händen die häufigen Thränen von den Wimpern streichend, schmiegte sie sich furchtsam fest an den starken, in finsterer Ruhe neben ihr stehenden Vater. Da sprang der junge Graf aufbrausend vom Pferde, schlug Sloboda mit der Peitsche über den entblößten Kopf, daß sogleich eine dicke blaurothe Schwiele auflief und der schwer Getroffene mehrere Schritte rückwärts taumelte. Dann umfaßte er das junge wendische Mädchen, hob es mit kräftigem Arm auf den Hals seines Pferdes, schwang sich behend in den Sattel und jagte trotz Röschens wimmerndem Hilferuf und dem dumpfen Murren des in naher Entfernung neugierig gaffenden Volkes mit seiner schönen Beute quer über die Felder dem Vorwerke zu, das in halbstündiger Entfernung aus einer Gruppe schöner Buchen und Birken mit seinen weißen Schornsteinen einladend hervorschaute. Als der tyrannische Graf [] in der Ferne verschwand, verlief sich auch das Volk, ohne über die gewaltsame Handlung des vornehmen Herrn anders als durch heimliche Bemerkungen flüsternd seine Mißbilligung zu erkennen zu geben.
[] Drittes Kapitel.
Pink-Heinrich.
Alle diese Vorgänge hatte der Mann mit den Drähten, welchen wir zu Anfange des vorigen Kapitels den Todtenstein besteigen sahen, genau beobachtet, ohne seine nachlässige Stellung, in der er auf dem Felsen ruhte, zu verändern. Erst jetzt, als das Volk achtlos auseinanderlief und der Graf in wildestem Rennen mit dem jungen Mädchen davon jagte, stand er auf, warf Quersack und Drähte über die Schulter, umfaßte heftig seinen langen Stock und stieg die enge Schlucht wieder hinab. Ehe er jedoch diese verließ, raffte er aus einem tiefen Felsenspalt, der ihm als Magazin diente, noch ein Bündel etwa zwei Ellen langer und einen Zoll dicker Buchen-, Birken-und Eichenstäbe auf,[] nahm es unter'm linken Arm und ging darauf mit großen Schritten, die Knie stets etwas gebogen, den Stab regelmäßig weit vorsetzend und bei jedem nächsten Schritt weifenartig damit nach rechts ausbiegend, dem gemißhandelten Wenden entgegen. Dieser ächte Bauerngang, der ohne zu ermüden schnell vorwärts bringt, sah bei dem untersetzten Manne sehr komisch aus und verursachte durch das immerwährende Schaukeln und Aneinanderschlagen der Drähte auf Brust und Rücken ein eigenthümlich klirrendes Rascheln.
Betäubt von dem unerwarteten Schlage und von Ehrhold, dem jungen Clemens und noch einigen andern Wenden und Wendinnen umringt, bemerkte Sloboda nicht die Ankunft eines Fremden. Erst als ihn der Mann mit den Drähten sanft auf die Achsel schlug, kehrte sich Sloboda um und reichte, da ein gutmüthiges Auge ihn grüßte, dem Manne die Hand.
»Man hat Euch da behandelt, wie einen Hund, wackerer Freund,« sagte der Mann mit einer Stimme, die vor gerechter Entrüstung grollend zitterte. »Schade, daß ich nicht bei der Hand war, sonst, bei meiner armen Seele, hätte [] ich dem hochmüthigen Burschen ein Rad um den Kopf geschlagen. Ihr müßt klagen, Mann!«
Der Wende seufzte und schüttelte in stummer Verzweiflung sein braunlockiges Haupt.
»Ihr wollt nicht?« fuhr der mit den Drähten fort. »Warum nicht? Meint Ihr, der Herr behalte Recht, weil er reich ist? Solche Gedanken dürft Ihr gar nicht in Euch aufkommen lassen, mein Lieber! Es ist wahr, der Arme richtet bei unserer Art, die Prozesse zu führen, und sie auf Kind und Kindeskind zu vererben, hier zu Lande selten etwas aus, aber, Freund, es ist nicht klug, dergleichen Bedenken merken zu lassen! Ich sage Euch, soll das Volk den Vornehmen gegen über dereinst und, gebe Gott, bald eine bessere Stellung einnehmen, die es verdient, die es fordern darf, so müssen wir jedes erlaubte Mittel ergreifen und vor Allem uns von diesen hochmüthigen Narren gar nichts mehr gefallen lassen! – Glaubt mir, Freund, ich kenne die Herren, denn ich komme viel mit ihnen zusammen, ich kenne auch den wilden Blauhut. Sie geben klein zu, wenn man ihnen recht derb mit hartem Schuh auf die Zehen tritt. Muth und Ausdauer machen sie ängstlich und furchtsam. [] Und was wollt Ihr denn, guter Freund? Seid Ihr denn nicht im vollkommensten Recht? Mädchenraub ist, Gott sei Dank, in christlichen Landen vor jedweder Obrigkeit ein Verbrechen. Darum nur geklagt, Freund! Der Blauhut muß mir durchaus an den Pranger!«
»Er ist mein Herr!« sagte dumpf der Wende.
»Desto besser! Der Herr muß seine Unterthanen schützen, er darf sie nicht mißhandeln.«
»Ich bin nicht sein Unterthan, guter Mann.«
»Ja zum Teufel, was seid Ihr denn sonst?«
»Sein Leibeigener!« murmelte Sloboda mit einem furchtbaren Blick gen Himmel, indem er seinen Hut wieder abnahm und dem theilnehmenden Deutschen das Zeichen der Knechtschaft, den glänzenden Lederriemen um Stirn und Haupthaar, zeigte. »Ich muß schweigen und dulden,« setzte er hinzu, indem Zorn und Ingrimm seinen Augen bittere Thränen entpreßten, »denn wenn mir der Herr nicht an's Leben geht, habe ich wider ihn kein Recht. Auch ist er sonst immer gut gegen mich gewesen und ich habe keine Noth bei ihm gelitten. Erst seit die Schönheit meiner Tochter ihn berückt hat und [] ich mich seinem Befehle, den ich für ungesetzlich halte, geweigert habe, behandelt er mich hart. O ich wollte, ich wollte –!« Und beide Hände geballt zum Himmel erhebend, knirschte der Wende mit den Zähnen und stieß einen fürchterlichen Fluch über alles Herrenthum aus.
»Lieber Freund,« versetzte jetzt der Maulwurffänger – denn dieses Geschäft betrieb der Mann mit den Drähten – »mit blinder Wuth ist in Eurer Lage nichts zu gewinnen. Ich glaubte Euch nur hofepflichtig; daß Ihr leibeigener Knecht seid, ändert die Sache freilich, doch verloren habt Ihr deshalb noch immer nicht. Ich rechne mir nämlich, daß es einen Weg gibt, auf welchem diesen Herren beizukommen sein muß. Das, lieber Freund, ist die Ruhe, die Schlauheit, die Verstellung! Und Ihr müßtet doch, mein' ich, kein eingebornes Kind dieses Landes sein, wenn Ihr nicht die zehn Gebote aus dem Katechismus des gemeinen Mannes vollkommen begriffen haben solltet! Was mich betrifft, seht Ihr, so ist Schlauheit die Seele meines Geschäfts. Der Maulwurf ist ein verteufelt kluges Thier, der Euch die schönsten Anschläge zu nichte macht, wenn Ihr [] ihn nicht zu überlisten versteht. Mich aber täuscht so eine blinde Ereatur nicht, denn ich kenne ihre Weise. Wo ich meine Drähte in's Erdreich senke, da zappelt auch der unermüdliche Schaufler mit fest zugeschnürter Kehle, bevor zwölf Stunden in's Land gegangen sind. Darum, Freund, ist es mein Rath: seid klug und besonnen! Haltet Euch alle Leidenschaftlichkeit fern und senkt Fangdrähte in den Grund und Boden Eurer Herren so geschickt, so schlau, so heimlich, daß auch der Klügste sie nicht spürt, und ich versichere Euch, binnen hier und zehn Jahren seid Ihr frei, wie der Vogel in der Luft.«
»Euer Wort in Ehren – wie seid Ihr getauft?«
»Heinrich, Euch zu dienen, in's Gemeine Pink-Heinrich.«
»Euer Wort in Ehren also, Heinrich, die Sache mag ihre Richtigkeit haben, allein ich selber kann nichts dazu thun. Für mich gibt es keine Hilfe, ich muß dulden und sterben.«
»Laßt mir den Kirchhof aus dem Spiele,« versetzte Heinrich, »ich bin gerade kein sonderlicher Liebhaber von dem Gewürm. Doch sagt, wie hängt denn die Geschichte mit dem Blauhut [] und Eurem Kinde zusammen? Ihr ließt vorhin em Wörtchen von Rechtlosigkeit und Willkür des Grafen fallen. Könnten wir ihn daran päcken, so sollte er schon zappeln, daß ihm die Augen aus dem Kopfe sprängen!«
»Darüber kann ich Euch die beste Auskunft geben,« fiel Ehrhold ein. »Vor etwa vierzehn oder sechzehn Tagen, müßt Ihr wissen, schrieb der Herr einen Gesindetag aus. Ich gehöre ihm erbunterthänig zu mit den Meinigen, denn der Edelhof, zu dem unser Dorf gehört, ist sein ihm verschriebenes Eigenthum. Nun war dazumal meine Pathe, das Haideröschen, grade zu Besuch bei mir, als die Dienstladung kam. Als eine Fremde meldete ich sie nicht als hofepflichtig, denn ihr Vater, der Jan Sloboda, steht unter der Herrschaft des alten Grafen und frohnt und dient dem Schloß im See, wie wir die alte Burg Boberstein nennen. Meines Wissens ging dem Haideröschen der Dienstruf des jungen Herrn gar nichts an und ich war im Recht, daß ich sie nicht zur Dienstschau abschickte. Es hätte wohl auch kein Hahn darüber gekräht, wäre nicht zum Unglück am nämlichen Tage der junge Herr in unser Dorf gekommen. Obschon es [] eigentlich nicht seine Art ist, sich um uns arme Leute viel zu bekümmern, stieg er doch am Kretscham ab und trat in die Schenkstube, wo sein Voigt eben mit Aufzeichnung der Namen aller Mädchen beschäftigt war. Ich verwette meinen Kopf, die vielen hübschen Gesichter hatten den Herrn ganz allein hereingelockt! Wie er nun die verschämten Kinder mit Kennerblick mustert und Dem und Jenem ein freundlich aufmunterndes Wort sagt, tritt Röschen ein, um mich heimzuholen, weil das junge Fohlen, weiß der Himmel wo durch, den Koller gekriegt hatte. Kaum sah der Junker Blauhut meine Pathe, so fragte er, wer sie sei? Und als ihm der Name Sloboda genannt wird, befiehlt er, das arme Ding ebenfalls auf die Dienstliste zu setzen. Daß wir im Namen des Vaters Einwendungen machten, war natürlich, und daß Röschen selbst keine Lust zeigte, in die Dienste Blauhuts zu treten, könnt Ihr Euch denken, wenn Ihr erwägt, was die Sage von dem jungen Herrn berichtet! Nach einigem Hin- und Herreden stand er auch scheinbar von seinem Entschlusse ab, allein kaum war ich heimgekommen, als auch der Graf in mein Haus tritt, mit Röschen schön thut und ihr [] lauter schöne Dinge vorsagt. Darauf nahm er mich bei Seite und bot mir goldene Berge, wenn ich ihm das Mädchen auf den Edelhof schicken wollte. Ich weigerte mich dessen in zweideutigen Worten, um den Drängenden nur aus dem Hause zu schaffen. Der Graf ging, zufriedengestellt. Drauf melde ich Sloboda das Vorgefallene, und weil ich wußte, daß er in den letzten Tagen auf des alten Grafen Befehl in Görlitz sein werde, versprach ich ihm, hier mit ihm zusammenzutreffen, um über die gefährliche Angelegenheit zu sprechen. Wie ich daran verhindert wurde, habt Ihr selbst mit angesehen.«
Der Maulwurffänger, der seine hellen schlauen Augen bald über die Gegend schweifen, bald auf dem Sprechenden ruhen ließ, schüttelte bedenklich den Kopf, zwischen den beiden Männern langsam fortschreitend.
»Wo seid Ihr zu Hause?« fragte er. »Führt Euer Weg nicht bis in's Niederland, so begleite ich Euch eine Strecke.«
»Ich wohne zwei gute Stunden von hier hinter den Teichen,« versetzte Ehrhold. »Das junge Volk da vor uns ist eben daher.«
»Seitwärts Rothenburg?«
[] »Ganz recht. Der Ort heißt die Zeisel und steht unter dem jungen Grafen, der auf dem eine Stunde südlicher gelegenen Zeiselhofe wohnt. Was Wendisch ist, gehört ihm zu mit Leib und Leben. Die Deutschen haben mehr Glück gehabt, denn sie brauchen ihm blos noch etliche Frohntage zu leisten.«
»Da gehen unsere Wege wacker zusammen,« erwiederte der Maulwurffänger. »Ich habe Kunden in jener Gegend, die ich immer einmal mit umstoßen kann. Unterwegs besprechen wir wohl noch Eins und das Andere.«
Freudig nahmen die niedergeschlagenen Wenden die Begleitung des Deutschen an. Obwohl Jan Sloboda den Maulwurffänger bisher blos von Ansehn und Hörensagen kannte – denn Heinrich war in sehr weitem Umkreise ein in seiner Art berühmter Mann – so war es ihm doch grade in seiner jetzigen düstern Stimmung angenehm, einen verständigen Begleiter gefunden zu haben, dem er nicht zu mißtrauen brauchte. Oft schon hatte er von deutschen Bauern gehört, daß der Maulwurffänger, der aus dem Grenzgebirge stammte, ein geschworner Feind des drückenden Herrenwesens sei, das noch so schwer [] und entwürdigend auf dem Volke lastete. Die vielen Frohn- und Hofedienste, welche Bauer, Gärtner und Häusler verdammten, die schönsten Tage im Jahre dem Gutsherrn zu opfern, der sich Besitzer des Ortes nannte, und ihn dadurch an Verbesserung und gehöriger Bearbeitung des eigenen Grund und Bodens hinderte, hatten ihn längst geärgert. Wo sich Gelegenheit fand, den Saamen der Unzufriedenheit unter dem hörigen Volke auszustreuen, benutzte er sie klug, und warf wohl auch bisweilen eine Hand voll Unkraut mit aus. Seine ihm angeborene und in einem thätigen Leben äußerst geübte Schlauheit bewahrte ihn bei diesem gefährlichen Geschäft vor jedem Mißgriff, der ihm selbst hätte nachtheilig werden können, und so erwarb er sich zahlreiche Freunde unter den gemeinen Leuten, ohne die Gunst der Herren, die er ebenfalls brauchte, zu verscherzen. Ein gewissenhafter Mann in streng christlichem Sinne würde ihn wahrscheinlich einen Schalk genannt und ihn der Zweiächselei bezüchtigt haben, die wahre Cultur aber, die nie und nirgend solche aus Gut und Böse, aus Erlaubtem und Unerlaubtem, aus Herzensgüte und lächelnder Falschheit [] zusammengesetzte Charaktere entbehren kann, besaß in ihm ein unschätzbares Instrument, um die heiligen und großen Zwecke des Fortschrittes, der Volksbildung, der Verbreitung gesunder und freier Ideen im Volke fördern zu helfen. Wir wollen nicht behaupten, daß der Maulwurffänger sich dieses segenbringenden Zweckes um diese Zeit schon vollkommen bewußt gewesen sei, ihm genügte vorerst der Reiz, den alles heimliche Miniren für ihn hatte, weil es ihn einfach ergetzte und unterhielt, dem Gedrückten zu nützen und dem Mächtigen stechende Dornen in das bequeme Leben zu streuen.
Bei dieser etwas frivolen Lebensansicht und bei seiner Beschäftigung, die ihn zu fortwährendem Herumziehen im Lande nöthigte, war es kein Wunder, daß Heinrich in seinen Mitteln nicht wählig war, und daß er häufig auch mit Menschen verkehrte, die in der bestehenden bürgerlichen Ordnung nur ein Hemmniß der Erdenglückseligkeit erblickten.
Sloboda und Ehrhold gaben auf alle Fragen, die Heinrich aushorchend an sie richtete, des Breitesten Antwort, und dieser erfuhr dadurch Alles, was er zu wissen begehrte, um den [] Bedrückten in seiner Weise nützlich werden zu können.
»Habt keine Sorge um Röschen,« sprach er hierauf, mit den Wenden rüstig weiter schreitend. »Ein Mädchen mit gesunden Augen und natürlichem Tact führt Euch den abgefeimtesten Teufel ein paar Tage lang an der Nase herum! Mir ist nicht bange um das liebe Kind. Der Junker wird sich vor ihr, sie sich nicht vor ihm beugen müssen. Nur die ersten Stunden der Angst und Beklemmung werden sie peinigen, später möchte ich wetten, daß sie leichter und besser als wir ihren Vortheil zu wahren verstehen wird. Darin sind die Weiber noch pfiffiger als die Juden! – Doch was ich Euch fragen wollte, lieber Jan, habt Ihr nicht gehört, wem das Fräulein angehört, das schon seit Jahr und Tag auf der Burg des alten Grafen lebt? Es wird viel darüber gefabelt, was Alles ich nicht glauben kann. Nur so viel weiß ich, daß es zwischen Himmel und Erde etwas Lieblicheres, als Fräulein Herta, wie man sie nennt, nicht gibt!«
»Ich sah letzthin das Fräulein mit dem alten Herrn durch den Wald reiten,« versetzte [] Sloboda, »und wirklich bei ihrem Anblick ward mir zu Muthe, als schwebe ein Engel vorüber!«
»Es muß eine eigene Bewandniß mit dieser Herta haben,« fuhr der Maulwurffänger fort. »Der alte Graf, ein braver Herr, wie mich dünkt, trägt das Fräulein auf den Händen, und auch die Frau Gräfin, die doch eine stolze Frau ist, lächelt immer recht freundlich, wenn sie das feine schlanke Mädchen erblickt, ja sie läßt es sogar geschehen, daß Herta ihr um den Hals fallen und sie nach Herzenslust küssen darf, was ich ihrer eigenen Tochter, wenn sie eine hätte, nicht rathen würde. Aus alle dem geht hervor, Freund Jan, daß sie von gar vornehmer Abkunft sein muß.«
»Sehr möglich,« sagte Sloboda. »Die Verbindungen der gräflichen Familie sind groß und sollen sogar mit dem churfürstlichen Hause verzweigt sein.«
»Wißt, Jan, ich habe einen Gedanken! Ihr müßt das Fräulein zu Eurer Fürsprecherin machen. Junker Blauhut fürchtet den Alten, weshalb er auch selten auf das Schloß im See kommt. Stecken wir uns nun hinter diesen und lassen ihm durch Herta die Gewaltthat des[] Sohnes vortragen, so könnt Ihr versichert sein, daß der Nichtsnutz Euch das liebe Kind binnen wenig Tagen mit Extrapost in den Hof fahren läßt!«
»Wer soll einen so gefährlichen Auftrag übernehmen! Ich selbst? – Mir würde man nicht glauben, und ein Anderer? Ach, Heinrich, Ihr kennt die Menschen und ihren Eigennutz nicht!«
»Hat das nette Ding denn keinen Liebsten?« fragte etwas ungeduldig der Maulwurffänger.
»Die Burschen sind ihr wohl alle gut und gingen für sie durch's Feuer, aber erklärt hat sich doch noch keiner.«
»Noch keiner?« warf Clemens ein, der einige Schritte vor den rathschlagenden Männern mit den Uebrigen ging, und drehte sich um. »Fragt Vater Ehrhold, ob Haideröschen ohne Schutz ist!«
»Ehrhold?« sagte Jan gedehnt, den jungen Burschen mit langen Blicken messend.
»Er weiß, was ich nicht lang und breit erzählen mag. Ich liebe das Haideröschen und habt Ihr nichts dagegen, Vater Jan, und kommt sie heil und rein wieder zurück in unser [] stilles Dorf, so gibt's eine lustige Hochzeit, noch ehe die Blätter fallen!«
Der Maulwurffänger lachte leise und sah den Wenden mit dem verschmitztesten Blick seiner muntern Augen an. »Da haben wir ja gleich einen Unterhändler, wie wir ihn nur wünschen können,« sagte er. »Gelt', frischer Junge, Du scheust eine Tracht Prügel nicht, wenn Du der schmucken Dirne und ihrem trauernden Vater einen Dienst erweisen kannst? Legen sie Dich in den Stock, je nun, so sitzest Du eben auf demselben Ehrenplatze, auf welchem vor Dir schon sehr viele ehrliche Leute gesessen haben. Wer liebt und das Herz auf dem rechten Flecke hat, fürchtet weder den Teufel noch seine Großmutter!«
»Ich bin zu Allem bereit,« versetzte Clemens. »Laßt mich nur wissen, was ich zu thun habe!«
»Nachher, wackeres Blut!« sagte der Maulwurffänger. »Ich sehe die Teiche durch das Gesträuch schimmern, und da ich einmal so weit mit Euch gelaufen bin, werdet Ihr mich hoffentlich eine halbe Stunde bei Euch ausruhen lassen. Da können wir das Nähere besprechen. Wichtiger ist es, dem Junker sogleich beizukommen, [] und da ich mich so tief in die Sache eingelassen habe, möchte ich am liebsten selber mit ihm reden, vorausgesetzt, daß es Euch recht ist.«
»Ihr wolltet, Heinrich?« rief Sloboda erfreut und erstaunt zu gleicher Zeit aus. »Habt Ihr auch den Zorn des jungen Herrn überlegt? Er vergibt Euch nie mehr, wenn Ihr seine Wege kreuzt, und wird Euch auf Schritt und Tritt verfolgen, denn in ihm wohnt eine böse, tückische, verwahrloste Seele!«
»Aus Blauhut's Zorne mache ich mir nicht so viel!« sprach der Maulwurffänger lächelnd, indem er mit aufgeworfener Lippe über die Spitzen seiner Finger hinblies. »Ich bin ein freier Mann, dem er nichts zu befehlen hat. Bisher fing ich ihm redlich das blinde Gewürm von seinen Aeckern, wofür er mich immer pünktlich bezahlt hat. Will er mir fernerhin die Kundschaft entziehen und sich die Felder von dem Ungeziefer ruiniren lassen, so steht ihm das frei. Mich soll die Ungnade des Grafen Magnus wenig kümmern, wenn ich um so geringen Preis einem Armen helfen und ein schreiendes Unrecht verhüten oder hintertreiben kann.«
Gerührt über ein so uneigennütziges Anerbieten [] ergriff Sloboda Heinrich's beide Hände, drückte sie mit Inbrunst und umarmte ihn, seine Stirn küssend.
»Vergib,« sagte er, »daß ein Leibeigener einen freien Mann des Volkes zu umarmen und Bruder zu nen nen wagt! Ich kann nicht anders, mein Herz treibt mich dazu. – Hast Du doch selbst gesagt, daß die Kette, die noch an meinen Händen klirrt, gebrochen zu werden verdiente. Nimm an, ich sei frei, wie Du, ich brauchte nicht mehr blindlings den Winken eines launenhaften Herrn zu folgen, und die Schmach, die auf der Person eines Leibeigenen haftet, wird Deine freie Seele nicht beflecken!«
»Ich bin Dein Bruder, Jan Sloboda,« erwiederte Heinrich ernst, Händedruck und Kuß erwiedernd.
»Und nun noch eine Bitte,« sagte Ehrhold. »Tretet als Gast in meine Hütte! Sie ist zwar ärmlich, aber rein und unentweiht von jeder Frevelthat!«
»Ich will die Abendmahlzeit mit Euch und Eurem Freunde theilen,« versetzte der Maulwurffänger, denn wenn ich ehrlich sein soll, so muß ich gestehen, daß ich einen recht gesunden Appetit [] verspüre. Verspätigen wir uns auch beim Gespräch und bricht die Nacht herein, ehe ich meinen Stab weiter setze, so soll mich das wenig verschlagen. Mir sind alle Wege und Stege im Gebirge, in Ebene und Haide genau bekannt.
Die Wanderer hatten auf verschiedenen zwischen den Teichen hinlaufenden Dämmen die fischreichen Weiher durchschritten und erreichten jetzt das Dorf, wo Ehrhold wohnte. Zwischen Wald und sanft ansteigenden Wiesen in breitem Thalgrunde gelegen, den ein heller Bach durchrieselte, machte es einen freundlichen Eindruck. Die mit Moos und Gras bewachsenen Strohdächer leuchteten im goldigen Duft der bereits niedrig stehenden Sonne. Auf den Forsten mehrerer Häufer zeigten sich Storchnester, deren Bewohner noch nicht aus ihren afrikanischen Winterquartieren zurückgekehrt waren. Die alten Mütterchen und Greise des Dorfes saßen vor den Haus- und Hofthüren, während verheirathete rüstige Frauen und Männer auf dem ungepflasterten Fahrwege, der zwischen den beiden Häuserreihen, aus welchen das Dorf bestand, hinlief, mit einander plaudernd auf- und niedergingen. Die Männer rauchten meistentheils [] Tabak, und als sie die vom Todaustreiben Heimkehrenden gewahr wurden, gingen sie ihnen lebhafter entgegen und begrüßten sie herzlich, eine Menge der verschiedensten Fragen an sie richtend.
Das freudlose Wesen der Heimkehrenden mußte den daheim Gebliebenen alsbald auffallen, denn man war gewohnt, die Jugend, wenn sie von ihren Sonntagsausflügen in's Thal herab zog, schon von fern heitere Feldlieder singen zu hören. Es fragten deshalb bestürzt und unruhevoll Mehrere nach der Ursache dieser allgemeinen Betrübniß.
»Vermißt Ihr denn Niemand?« entgegnete Ehrhold. »Seht Euch um! Sind das all unsere Kinder und Schutzbefohlenen?«
»Wo bleibt unser Haideröschen?« rief eine ihrer Freundinnen mit bangem Herzklopfen.
»Sie ist uns gewaltsam entrissen worden,« sagte Ehrhold. »Habt Ihr den Dienstbotentag vergessen?«
Alle standen wie vom Schlage getroffen, während Ehrhold seine Gäste in das uns schon bekannte Wohnhaus geleitete.
[] Viertes Kapitel.
Pläne.
In demselben verräucherten Zimmer, wo unter allgemeiner Lust die Spinte nach altem Brauch erstochen worden war, an dem nämlichen Tische, wo Haideröschen ihre dankbaren Zuhörer mit dem Zauber ihrer Mährchen und Waldlieder entzückt hatte, saßen Ehrhold, Sloboda, Heinrich und Clemens in berathendem Gespräch. Der junge Bursch, den die überkecke That des Grafen erst völlig betäubt hatte, überließ sich jetzt wieder ganz seiner natürlichen Lebhaftigkeit und seinem heftigen sinnlichen Temperamente, das nur angewohnte Scheu vor der Gewalt eines gebietenden Herrn eine Zeitlang hatte niedrücken können.
[] »Gott im Himmel,« rief er aus, »warum konnte ich ruhig zusehen und das Entsetzliche geschehen lassen! Röschen wird mich verachten und dem Feiglinge für immer den Rücken kehren! Verflucht sei die Stunde, wo der Graf sie zum ersten Male erblickte!«
»Laß das gut sein,« bemerkte der Maulwurffänger. »Geschehene Dinge sind nicht zu ändern. Das ist zwar eine sehr abgegriffene, aber doch immer eine wahre Lebensregel. Was sollte denn außerdem noch geschehen? Es ließ sich bei der Affaire schlechter dings nichts thun, als daß Ihr etwa den Herrn Grafen todtschlugt. Das wäre aber meiner schlichten Meinung nach eine eben so respectwidrige, als verbrecherische Handlung gewesen. Weit besser ist's, daß sie unterlassen wurde. Unterlassungssünden solcher Art tragen ihrer Zeit die süßesten Früchte. Haideröschen, wie Ihr das nette Ding nennt, hat einen Ritt durch die Hügel gemacht, und dieser wird ihr ohne Zweifel gut bekommen, denn es war heut eine prächtige Luft!«
»Der Spott steht Euch übel zu Gesichte, Landsmann,« versetzte Clemens verdrüßlich.
»Dein Landsmann kann und will ich nicht sein, wenn Du nichts dawider hast,« erwiederte [] Heinrich, listig mit den Augen blinzelnd. »Hat uns auch dieselbe Erde geboren, so gehören wir doch zwei Volksstämmen an, die in früherer Zeit nicht brüderlich einträchtig zusammen lebten.«
»Wie Ihr wollt,« sagte der junge Wende. »Die Hauptsache bleibt immer, daß wir jetzt redlich und wacker zusammen halten, um der verruchten Grafenbrut den Hals zu brechen. Allein dürfen wir armen geknebelten Teufel dem Gespinnst doch nicht an's Leben, ohne gehangen, gespießt oder gar verbrannt zu werden.«
»Der größte deutsche Weltweise, Eulenspiegel, der recht eigentlich der einzige wahre Philosoph unseres Volkes ist,« nahm Heinrich in unerschütterlicher Ruhe abermals das Wort, »sagte das große Wort: Eile mit Weile! Das ist absonderlich in dieser Angelegenheit mein Rath. Versprichst Du mir, fein still zu sitzen und ganz unthätig zuzusehen, bis ich sage: jetzt mach' Dich auf die Socken und handle; so mische ich mich auf meine Weise in die Geschichte, und ein verwirrter Knäuel Bindfaden, den ich in die Hände kriege, wird gewiß entwirrt, oder ich will kein Maulwurffänger sein! 's Ist mein Geschäft, die Pfiffigen hinter's Licht zu führen, und 'was Lustigeres [] wüßte ich mir gar nicht auszudenken, als wenn mir's gelänge, dem hochmüthigen Blauhut seinen melirten Filz bis über die Nasenlöcher in den Kopfzu schlagen!«
»Ihr spracht vorhin von dem Fräulein auf der alten Burg. Was habt Ihr mit dem Engelsbilde zu schaffen?«
»Mißlingt mein Plan, so sollst Du Dir mit dem Prachtmädchen etwas zu schaffen machen, damit es dem Herrn Junker den Kopf zurecht setzt. Ueberhaupt gelüstet mich's schon lange, etwas genauer und tiefer hinter die alten Burgmauern und die vermoderten Tapeten zu gucken, denn mir schwant, man hält da alte Sünden fein säuberlich hinter Schloß und Riegel. Diesen möchte ich auf die Spur kommen, nicht aus Neugier, sondern weil ich davon für Euch Gutes hoffe.«
»Wie meinst Du das, Bruderherz?« fragte Sloboda.
»Eins nach dem Andern, Freund! Ich gehöre zu den langweiligen Leuten, die nie zwei Dinge unter einander mengen, aber, wenn's sein muß, hundert auf einmal anfangen, um sie gelegentlich alle zu Ende zu führen. Kommt Zeit, [] kommt Rath! heißt einer meiner Glaubenssätze. Die Zeit, rechne ich, wo Fräulein Herta unsere Verbündete werden soll, wird nicht mehr gar fern sein, heut jedoch liegt sie noch ganz außerhalb der Schlingen, die wir auszuwerfen haben, um den Feind zu fangen.«
Clemens sah finster drein und schien kein rechtes Vertrauen zu dem Deutschen fassen zu können, der immer von Vorschlägen und Plänen sprach, und wenn man sie zu hören begehrte, stets wieder ausweichend antwortete. Das Phlegma Heinrich's ärgerte ihn und brachte sein sinnlich regeres Temperament in immer heftigere Wallung. Nur Sloboda's Blicke vermochten ihn, den theilnehmenden Gast mit gebührender Rücksicht und Höflichkeit zu behandeln.
Der Maulwurffänger schlug sich Feuer für seine Tabakspfeife an, die ihm schon auf dem Wege zehnmal ausgegangen war und auch jetzt nicht in Brand bleiben wollte. Während er wiederholt Stahl und Stein zusammenschlug, oder, wie die Lausitzer sagen, »pinkte,« sprach er:
»Ihr habt doch gewiß vielmals von der Bande des braunen Lips gehört, wißt Ihr vielleicht, wo sie jetzt ihr Hauptquartier hat?«
[] »Lips wird sich hüten, seine Schlupfwinkel zu verrathen,« sagte Ehrhold.
»Ach was!« versetzte Heinrich, dicke Tabakswolken von sich blasend, »Räuber haben so gut ihre Launen, wie sogenannte ehrliche Leute, und nun erst ein Mann wie Lips! Es heißt, er verrathe immer eine Abtheilung seiner Leute selbst, um, während man diesen nachläuft, mit seinen übrigen Gesellen desto bequemer plündern und rauben zu können. Der Teufelskerl kommt mir in den Sinn, weil wir ihn just recht bequem brauchen könnten.«
»Mit Spitzbubengesindel will ich nichts zu thun haben,« sagte Clemens stolz.
»Dann thust Du am klügsten, Du verkriechst Dich in's erste beste Mauseloch und hältst Dir jede Creatur vom Leibe, die einem Menschen ähnlich sieht! Das Geschlecht der Spitzbuben ist so groß wie die Menschheit und ohne alle Widerrede der älteste Adel, den es gibt!«
»Geht's,« meinte Sloboda, »so laß die Teufelsbrut aus dem Spiele. Mitgegangen, mitgehangen!«
»Weißt Du so genau, was den Lips zum Freijäger gemacht hat und wer der Mann früher [] gewesen ist?« fuhr Heinrich fort. »Du weißt es nicht! Nun seht, es läuft ein Gerücht von ihm um, das ihm eine hohe Abstammung andichtet. Vielleicht ist's rein erlogen, vielleicht, wer kann's sagen, klebt ein Eierschälchen Wahrheit daran. Ich kann das nicht entscheiden. Etwas aber weiß ich und deshalb fiel mir der Kerl ein. Er hat's nämlich absonderlich, ja beinahe ausschließlich auf die Reichen abgesehen, und ist flugs mit seinem Ausräumen, Anzünden und Gurgelzuschnüren bei der Hand, wenn er sichere Kunde von boshaften und niederträchtigen Bedrückungen vornehmer Herren gegen das arme Volk erhält. Nun mag ich nicht grade behaupten, daß es Lob oder Belohnung verdiene, wenn Einer Unthaten mit Unthaten bestraft, aber ich bin doch der vorsichtigen Meinung, daß es in dieser unvollkommenen Welt Fälle geben könne, in denen man sich verschmitzter Schufte zum Besten ehrlicher Leute bedienen dürfe. Das heiße ich das Laster ein klein wenig wieder zu Ehren bringen, und den argen Schälken thut man stillschweigend sogar einen Himmelsdienst, da man sie Gutes zu stiften nöthigt, ohne daß sie's merken.«
[] »In Deinem Christenthume, Bruder, kann ich mich nicht ganz zurecht finden,« sagte Sloboda. »Mein einfaches, stilles Leben ließ mich so künstliche Gedanken nie denken, viel weniger weiter verfolgen.«
»Dafür bist Du auch ein friedlicher Pflüger und ich bin ein reisender Künstler,« entgegnete pfiffig lächelnd der Maulwurffänger. »Kurz und gut, wüßt' ich den Lips aufzutreiben, ich machte, hol' mich Dieser und Jener, zu des Grafen Verderben Bekanntschaft mit ihm! Er soll sich seit einigen Wochen in die Haide geworfen haben, die freilich für eine so zahlreiche und unruhige Familie das bequemste Haus ist. Aber wo ihn dort aufsuchen, ohne zuvor selbst ein paarmal bis auf die Haut durchsucht und ausgeraubt zu werden? Indeß, nun ich mich doch einmal in diesen vielgekrümmten Maulwurfsgang begeben habe, will ich ihn auch nicht wieder verlassen, ohne das Gewürm unschädlich gemacht zu haben.«
»Vergiß nur nicht, wackerer Freund, auf Deine eigene Sicherheit dabei Acht zu geben,« sagte theilnehmend und dem Deutschen dankend die Hand drückend, Sloboda.
[] Heinrich schnippte mit den Fingern und lachte überaus vergnügt dazu. »Ich bin schlüpfrig, wie ein Aal,« versetzte er, »dabei aber auch hungrig, wie ein Wolf. Und da meine Pfeife bei dem Geschwätz wieder einmal das Athemholen vergessen hat, so dächt' ich, wackerer Gastfreund, es wäre höchst zweckmäßig, wenn Ihr Eure Ehewirthin rieft und sie im Brodschranke nachsehen ließet, ob vielleicht ein Restchen Grütze oder ein derbes Stück Speck von gestern her übrig wäre, das wir gemeinschaftlich, nebst Brod und Butter, verzehren könnten. Ein paar Seidel gute, nicht ganz abgerahmte Milch würde ein recht erfrischendes Getränk dazu sein, wenigstens bin ich ein ausnehmend großer Liebhaber davon. Habt Ihr aber von dem Allen gerade nichts im Hause, so würde es diesen jungen hitzigen Burschen nichts schaden, wenn er sich auf einem Spatziergange in die Schenke die Füße etwas verträte und das Erforderliche nebst einer halben Kanne Schnaps und einigen Maß Bier herbeiholte. Ich bemerke hierbei, daß ich Braunbier lieber trinke, als Weißbier, theils, weil ich mehr davon genießen kann, theils auch, weil es mir besser schmeckt. Offenheit unter [] Freunden, die sich einander dienstbereit die Hände reichen, ist eine große Tugend, und ich denke daher, Freund Ehrhold, Ihr werdet meinen bescheidenen Wünschen kein Hinderniß in den Weg legen.«
Sloboda mußte über die ernsthaft trockene Art, in welcher der Maulwurffänger seinen Speisezettel vortrug, trotz seines Kummers lachen und Ehrhold stand munter auf, um eigenhändig eine tüchtige Schüssel voll Haidegrütze mit kaltem Schweinefleisch, nebst Butter und Brod aufzutragen, Clemens aber mußte, da vermuthlich der Milchkeller des Wenden für den gesunden Appetit des diensteifrigen Maulwurffängers zu klein gewesen wäre, in die Schenke wandern, um die gewünschten Quantitäten Schnaps und Bier herbeizuschaffen.
Heinrich ließ sich die aufgetragenen Speisen trefflich munden und unterhielt dabei fortwährend seine Freunde mit allerhand wunderlichen Geschichten, die ihm alle selbst begegnet sein sollten. Darüber ging die Sonne unter und ein schwerer, feuchter Nebel begann Dorf, Hügel und Feld in schmutziges Grau zu hüllen. Dies konnte jedoch unsern Freund nicht abhalten, [] nach beendigter Mahlzeit unverweilt aufzubrechen, so angelegentlich ihn auch Ehrhold und Sloboda baten, die Nacht bei ihnen zu bleiben.
»Wenn ich nur nicht solche Redensarten hören sollte!« erwiederte Heinrich darauf. »Ihr wißt kaum, was Ihr bittet, und hörte ich darauf, so könnten wir allesammt hinterher ein großes Unglück zu beklagen haben. Laßt mich nur machen, sag' ich! Ich kenne die Wege genau und finde sie in finsterer Nacht so gut wie beim hellsten Sonnenschein. Darum Gott befohlen und ein baldiges frohes Wiedersehen!«
Von den besten Wünschen der Wenden begleitet, verließ Heinrich das Dorf, wendete sich dann südöstlich, ließ die Teiche, die schützend von zwei Seiten den Ort umgaben, rechts liegen und wanderte in gemessenen Schritten, seinen langen Stecken fleißig brauchend und sich gleichsam mittelst desselben wiegend und weifend vorwärts schiebend, einer Waldzunge zu, welche die zur Linken seitwärts laufende Haide hier in's bebaute Land vorgeschoben hatte.
Es nebelte so stark, daß der Maulwurffänger kaum einige Schritte weit sehen konnte, sein Auge war aber durch immerwährende Uebung [] in jeder Tages- und Jahreszeit und bei allen möglichen Witterungsveränderungen so sehr an dies feuchte Nebelgrau gewöhnt, daß er stets genau wußte, wo er sich befand. Selbst im dichtesten Kieferwalde blieb ihm diese Sicherheit treu. Nach seiner Gewohnheit schlug er sich Feuer an, um für die lange Weile eine Pfeife zu rauchen, und schlüpfte bald links, bald rechts um die röthlich-gelben Stämme. Die Luft war völlig still. Man hörte das Geriesel der dürren Nadeln, die in der feuchten Luft zu Boden fielen, und die behutsamen Tritte der Füchse, die nach ihren Bauen schlüpften. Ueber den Wald hin zogen bisweilen einige Krähen, deren unmelodisches Geschrei in der dicken Luft dumpf verhallte.
Eine gute halbe Stunde mochte der Maulwurffänger tüchtig ausgeschritten sein, als die Waldung lichter wurde und einzelne helle, mit dunstigen Ringen umgebene Puncte die Nähe eines benachbarten Ortes ankündigten. Ein des Weges minder kundiger Wanderer würde auf diese freundlich lockenden Zeichen zugeschritten sein, Heinrich aber wendete sich, nachdem er den Wald verlassen hatte, zur Rechten und [] schlüpfte hart an den letzten Bäumen hin, bis die Lichter weit zur Linken dämmerten. Nun senkte sich der Boden, die scharfe Waldzunge fiel in ein Thal oder eine Niederung ab und verlor sich in wolkigem Dunst. Behend lief Heinrich die schlüpfrige Lehne hinunter, übersprang einen Bach und gelangte nun auf einen hohen Damm, hinter welchem unter rollendem Nebelgewölk ein breiter Wasserspiegel sichtbar ward. Diesen entlang schritt der Maulwurffänger, bis ein zweiter kaum fußbreiter Damm quer durch den kleinen See lief und ihn in zwei fast gleiche Hälften theilte. Obwohl kein Fußsteig über diesen schmalen und vom Niederschlag der feuchten Dünste äußerst schlüpfrigen Damm führte, wagte sich Heinrich doch darauf und erreichte nach viertelstündiger Wanderung eine freie, von anmuthigen Hügeln umschlossene Gegend. Fernes Hundegebell verrieth die Nähe bewohnter Dorfschaften oder zerstreut liegender Vorwerke. Auch dauerte es nicht gar lange, so blitzten deutlich bald in der Tiefe, bald schwebend in der Luft, erst vereinzelte Lichter, dann ganze Reihen trüber Flammen. Das Rauschen eines Wehres, das Klappern einer Mühle ward hörbar und nach [] einiger Zeit ließen sich vor und neben einem hohen und breiten Gebäude, das von langgestreckten Nebenflügeln umgeben und von hoher Steinmauer festungsartig umschlossen war, eine Menge kleinerer Wohnungen unterscheiden. Eine heisere Seigerschelle schlug eben die neunte Stunde.
»Na da wären wir ja,« sprach der Maulwurffänger zufrieden zu sich selbst, indem er den Kopf seiner Pfeife ausklopfte und sie in die Westentasche steckte. s' Ist doch eine prächtige Sache um verbotene Wege. Sie bringen einen entschlossenen Mann in kurzer Zeit eine Strecke vorwärts. »Ha, ha, ha,« fuhr er lachend fort, »im Schlosse wird noch stark geleuchtet. Sollte Gesellschaft da sein? Aber da ging's lebhafter zu, denn wo Junker Blauhut zu befehlen hat, darf sich die stille Kopfhängerei nicht blicken lassen.«
Das Gebäude, dem unser Freund den Namen eines Schlosses gab, war eigentlich blos ein geräumiges, von außen stattlich aussehendes Herrenhaus, wie es deren in den meisten größeren wendischen Dörfern gibt. Es lag fast in der Mitte des Dorfes, das sich in breiter [] Gasse diesseits und jenseits des Edelhofes eine fruchtreiche Berglehne hinanzog und von einem starken Bache durchströmt ward. Besitzer dieses Dorfes war der reiche Graf von Boberstein, wie er sich nach seinem mitten in einem See gelegenen Stammschlosse nannte, seit Jahresfrist aber hatte er es seinem Sohne Magnus als Eigenthum überlassen, um ihn zu beschäftigen oder, weil er sich nicht mit ihm vertragen konnte, ihn möglichst fern zu halten. Magnus, von dem Volke seines blauschwarzen Hutes wegen gewöhnlich Blauhut genannt, stand im Rufe eines jähzornigen, herrschsüchtigen und ausschweifenden Mannes. Niemand achtete, Jedermann fürchtete ihn, und weil er dies wußte, suchte er den möglichsten Vortheil für sich daraus zu ziehen. Sein Vater, ein milder, vornehmer und hoch gebildeter Mann, hatte wohl nicht bedacht, daß er dem zügellosen Sohne durch Abtretung des Zeiselhofes grade eine erwünschte Gelegenheit zu Befriedigung aller seiner Lüste gab. Die meisten dem Rittergute zugehörigen Unterthanen waren nämlich entweder hart bedrückte Frohnbauern oder völlige Leibeigene, mit denen ein strenger Gebieter geradezu verfahren konnte, [] wie es ihm beliebte. Magnus war zu genau mit den Vorrechten seines Standes vertraut, als daß er diese nicht im Uebermaß hätte ausüben sollen, wenn er sich Nutzen und Vergnügen davon versprach. Er herrschte daher schon seit Monaten wie seine Urahnen zur Zeit des Faustrechtes. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er seinen leibeigenen Wenden, deren schlanke Töchter ihm ungemein gefielen. Ein herzloser, gegen den Gebieter hündisch kriechender Voigt bot ihm bereitwillig seine Hand zu jeder willkürlichen Handlung, und mit diesem feigen Schurken vereint verübte nun Magnus Dinge, die vor dem Richterstuhle der Menschheit als Verbrechen verdammt und bestraft worden wären. Nur die Macht des Herrn, die Furcht des Volkes vor dieser und die sclavische Scheu, als Kläger gegen den kleinen Tyrannen aufzutreten, schützten ihn und ließen ihn wohl gar glauben, er sei in seinem vollsten Rechte und deshalb völlig unantastbar.
Als der Maulwurffänger der hohen, düstern Mauer sich näherte, welche die umfangreiche Hoferöthe umschloß, mäßigte er seine Schritte und ging mit sich selbst zu Rathe, auf welche [] Weise er sein Anliegen dem auffahrenden Junker am besten vortragen könne. Es fehlte unserm Freunde weder Gewandtheit noch Unverschämtheit, wenn es galt, irgend etwas, von dem er sich persönlich Vortheil versprach, mit Nachdruck durchzusetzen. Er hatte daher in Kurzem eine ganze Menge Vorwände in Bereitschaft, mit denen allen er, wenn es nothwendig sein sollte, den Grafen zu bearbeiten gedachte. Furchtlos ergriff er jetzt den schweren metallenen Widderkopf am Hofthor und schmetterte ihn mehrmals mit solcher Gewalt gegen die eiserne Platte, daß augenblicklich ein wüthendes Hundegebell im Hofe entstand und unmittelbar darauf einige schnüffelnde Köter von innen gegen die Thür sprangen.
»Vortrefflich gelungen!« murmelte Heinrich, sich vor Freuden die Hände reibend. »Der unvernünftige Lärm jagt ihnen wenigstens einen solchen Schreck ein, daß sie alles Andere darüber vergessen. Sehr wahrscheinlich sogar, daß das Gesinde ein aufgehendes Feuer muthmaßt. Das gibt Unordnung, Durcheinanderrennen und Teufelszwirn die Menge. Dabei kann Flucht oder Verstecken höchst täuschend nachgeahmt werden, denn [] Angst lehrt eben so gut Komödie spielen, wie Noth beten. – Horch, sie kommen! Bin doch neugierig, aus welchem Tone sie mir aufspielen werden!«
Während der Maulwurffänger dieses Selbstgespräch hielt, waren mehrere Diener oder Knechte über den Hof nach dem Thorwege geschritten, einige Laternen tragend, andere mit tüchtigen Knitteln bewaffnet, um einem möglicherweise beabsichtigten Einbruche, deren in den letzten Wochen mehrere in der Nachbarschaft versucht worden waren, kräftig begegnen zu können. Der Anführer dieser Eskorte fragte, während seine Begleiter die wüthenden Hunde zu besänftigen suchten, wer so spät Einlaß begehre und was dies unverschämte Lärmen zu bedeuten habe?
»Unverschämt!« wiederholte Heinrich mit seiner den Knechten des Edelhofes wohlbekannten halb zornigen halb scherzhaften Stimme. »Ich finde es verteufelt unverschämt, einen ehrlichen guten Freund durch's Schlüsselloch zu examiniren und in solchem Hundewetter, das ihn nicht abhalten konnte, auf des Herrn Grafen Vortheil zu sehen, eine halbe Stunde lang stehen [] zu lassen. Zum Teufel, macht auf oder ich klettere trotz Eurer Zinken da oben und Eurer dummen Kläffer drinnen wie ein Dieb über den Thorweg!«
»Gott straf' mich,« versetzte der Voigt, »es ist gewiß und wahrhaftig der Sackerments-Maulwurffänger!«
»Ich will dich schon besackermentiren,« entgegnete Heinrich, »wenn ich Dich nur erst hinter'm Tische in der Gesindestube habe!«
Inzwischen klirrten die Riegel, die Thorflügel gingen knarrend aus einander und das helle Licht der Laternen zeigte drei oder vier Knechten, in deren Mitte der Voigt mit blankem Hirschfänger stand, die abenteuerliche Gestalt des Maulwurffängers.
»Der gnädige Herr wird Dir ein schönes Gesicht schneiden, wenn er hört, daß Du den unnützen Specakel gemacht hast,« redete ihn der Voigt an. »Wir dachten nicht anders, als es würde Jemand draußen massacrirt.«
»Seine Gnaden werden das Gesichterschneiden wohl bleiben lassen,« erwiederte Heinrich. »Mach' nur geschwind und melde mich. Ich muß den Herrn sogleich sprechen, denn ich habe [] ihm Nachrichten von äußerster Wichtigkeit zu überbringen.«
»Du?« sagte der Voigt spöttisch. »Vermuthlich willst Du ihm ein paar gestohlene Maulwürfe für sein Eigenthum aufhängen.«
»Ich werde gleich den Versuch an Dir machen, ob Deine Kehle zäher ist, als die eines Maulwurfs,« versetzte Heinrich. »Geh', sag' ich, oder ich melde mich selbst!«
»Es geht aber nicht!« sagte der Voigt trotzig, das Thor wieder fest verriegelnd.
»Es muß und wird gehen.«
»Niemand darf zu ihm heut Abend. Nicht wahr, so lautete sein Befehl?«
Die Knechte bejahten diese Frage einstimmig, doch Heinrich beharrte hartnäckig darauf, daß er den Grafen sprechen müsse. »Grade deswegen, weil er's verboten hat, muß ich nun zu ihm,« sagte er. »Seinen Zorn nehm' ich ganz allein auf mich, Ihr Alle geht frei aus, das verspreche ich Euch, so wahr ich der beste Maulwurffänger im Lande bin!«
»Warum hast Du nicht gepfiffen, wie sonst, wenn Du des Nachts auf dem Hofe einkehren willst?« fragte der Voigt, dem unwillkommenen [] Ankömmlinge zögernd nach dem Herrenhause vorleuchtend.
»Weil es heut Sonntag ist und ich mir die Lunge schon in der Kirche ausgesungen, ausgepfiffen und ausgeschrieen habe, und weil ich außerdem weiß, daß Ihr um die jetzige Zeit in Euer gottloses Kartenspiel so vertieft seid, daß Ihr eines ehrlichen Christen fromme Melodie, und pfiff er sie so rein und schön, wie eine Nachtigall, doch nicht hören würdet. Endlich und zuletzt aber, weil ich stets auf aller Menschen Bestes bedacht bin und für Euch dieses Beste eine rasche Motion war, die ich am sichersten durch mein Klopfen bewerkstelligen konnte. Sagt selbst, ob Euch nicht das faule Blut jetzt viel munterer durch die Adern schießt? Nun und das, denk' ich, sind Gründe genug, um dafür einen Krug englisches Bier und ein warmes Lager in der Hölle beanspruchen zu dürfen.«
»Du bist ein Schalk,« sagte verdrießlich lachend der Voigt.
»Darin irrst Du Dich,« versetzte der Maulwurffänger mit größter Gelassenheit, »ich bin vielmehr ein Mittel gegen Schälke und alle Schurkerei. Meine Kunst beweist es.«
[] So sprechend öffnete er seinen Schnappsack und hielt ihn dem Voigte unter die Nase. »Was siehst Du, Trefflichster?« fragte er.
»Narr, todte Maulwürfe!«
»Bestrafte Schälke,« verbesserte listig lächelnd der Maulwurffänger, den Quersack wieder zuschnürend. »Nun geh' aber und richte meinen Auftrag genau und pünktlich dem Herrn Grafen aus.«
[] Fünftes Kapitel.
Herr und Leibeigene.
Ehe wir unsere Erzählung weiter fortführen, müssen wir uns zurückwenden zum Grafen Magnus. Dieser hatte nach halbstündigem scharfen Jagen mit seiner schönen Beute, die inzwischen vor Angst und Schreck ohnmächtig geworden war, jenes einsam gelegene Vorwerk erreicht, dessen Schornstein man vom Fuße des Todtensteines aus sah. Dieses Vorwerk gehörte zum Edelhofe und wurde von einem Pachter mit Frau und Gesinde bewohnt. Magnus hielt hier sein schaumbedecktes Roß an, sprang aus den Bügeln und trug die noch immer bewußtlose junge Wendin in das Wohnzimmer des Vorwerks.
Des Staunens nicht achtend, das Blicke und Mienen der einfachen Landleute aussprachen, forderte [] er herrisch ihr bestes Fuhrwerk. Leider bestand dies blos aus einem sehr schadhaften und unbequemen Karren, der für gewöhnlich zur Transportirung grüner Feldfrüchte in die Stadt gebraucht ward. Nöthigenfalls bediente man sich desselben allerdings auch zu Spazierfuhren, und dann überspannte ihn der Pachter mit einer viel gebrauchten, fleckigen, sehr oft geflickten und doch immer noch zerrissenen groben Leinewand oder Plane. Da innwendig keine Sitze angebracht waren, so half man sich durch untergebreitetes frisches Stroh, über welches eine Matratze, aus grober Wolle und Roßhaar gewirkt, zur Verschönerung gebreitet wurde.
Dieses unvollkommene Transportmittel richtete jetzt der erschrockene Pachter auf Befehl seines Herrn so schnell wie möglich her, während Magnus mit schlecht verhehlter Ungeduld die feinen Züge Röschens beobachtete, die noch immer besinnungslos in den Armen der besorgten Pachtersfrau lag. Röschen sah wunderbar schön aus in dieser dürftigen Umgebung. Ein feiner Zug schelmischen Lächelns, der ihren kleinen Mund immer umspielte, war auch dem jähen Schreck nicht gewichen, der sie betäubt hatte.[] Auf den lieblich gerundeten Wangen glomm noch, wie verduftendes Abendroth, ein rosiger Schimmer. Die Augen waren fest geschlossen und zeigten erst jetzt vollkommen die zarte Durchsichtigkeit der bläulich-weißen Lider und die langen, gleich feinen Goldfäden erglänzenden Wimpern. Das weiße Häubchen hatte sich während des raschen Rittes verschoben und enthüllte jetzt zugleich mit der weißen, regelmäßig geformten Stirn ein Gewirr kurzer, krauser und dicht gewundener Löckchen, die wie goldene Glockenblumen die schuldlose Stirn küßten. Ihre schmalen Hände, jetzt kalt und weiß, hingen noch matt verschlungen in einander.
Die Pachterin, eine in gewissem Sinne gemeine Frau, bot dem Grafen mit beredter Zunge eine ganze Menge in solchen Fällen sehr erprobter Hausmittel an, die jedoch Magnus alle von der Hand wies. Denn wünschte er auch sehnlichst das Erwachen Haideröschens alls ihrer Ohnmacht, so lag ihm doch wieder Alles daran, daß dies nicht vor Zeugen geschehe, die seinem Willen nicht unbedingt unterworfen waren. Deshalb trieb er auch so sehr wie möglich zur Eile, und ließ alle Fragen der Pachterin, die unter [] vielen Thränen die Schönheit des bewußtlosen Mädchens bewunderte und pries, unbeantwortet. Sie glaubte nämlich, was allerdings nahe lag, annehmen zu dürfen, der Graf habe die armselig Gekleidete in diesem hilflosen Zustande irgendwo auf dem Felde liegend gefunden und wolle ihr aus Menschenfreundlichkeit Unterstützung gewähren.
»Ach was ein feines Händchen hat die Arme!« rief sie aus. »Das ist nicht gemacht, um unsere harten Arbeiten zu verrichten, o behüte! Das sollte nur die Nadel führen, um seidene Zeuge zum Putz der lieben schlanken Glieder zusammenzunähen. Nun warte nur, meine arme Kleine,« fuhr sie fort, indem sie die Stirn der Ohnmächtigen sanft küßte, »der gnädige Herr Graf wird Dich schon erziehen lassen, wie's Dein junges Herz nur wünschen kann. Ach und wie prächtig mußt Du aussehen, wenn Du feine vornehme Kleider anziehen wirst! Ja, dann möchte ich Dich schon wieder ein Mal bei mir sehen und begucken. – Ach und gewiß hast Du auch nicht immer in so groben Hüllen gesteckt, Du liebes Engelsbild. Die böse Brut der Welt wird Dir nachgestellt haben, und um ihr zu entgehen, [] bist Du sicherlich in Deiner Herzensangst auf und davon gelaufen und vor Ermattung liegen geblieben. – O ich hab' ein gar feines Auge, das Vornehm und Gering auf den ersten Blick unterscheiden kann, wenn sie sich auch noch so wunderlich verpacken! Das kommt daher, weil ich in meiner Jugend bei einer gar reichen Herrschaft in Dresden Amme gewesen bin, ehe ich meinen jetzigen Mann kennen lernte. Es ist eine recht gute Seele, gnädigster Herr, mein Mann; er hat mir's nicht ein einziges Mal vorgeworfen, daß ich vor ihm schon zwei Andere recht von Herzen lieb gehabt hatte. Die armen Teufel! – Ich wäre ihnen wohl treu geblieben, aber sie waren ja alle beide geborne Bettelleute! – Und nun sitzt einer schon seit vier Jahren auf dem Baue! – Ja, sehen Sie, gnädigster Herr Graf, der Mensch könnte mir jetzt wieder vor die Augen kommen, nicht ansehen thäte ich ihn, den schlechten Kerl! Spitzbuben und Schufte sollte man verhungern lassen, das sag' ich immer. Es ist nicht anders aufzuräumen unter diesem abscheulichen Unkraut! –«
Die redselige Frau, deren gemeine Denkungsart deutlich genug aus ihrem Geschwätz zu ersehen [] war, hätte den Grafen wahrscheinlich noch lange mit Entwickelung ihrer Lebensansichten und Erfahrungen unterhalten, wäre sie durch die Zurückkunft ihres Mannes nicht daran verhindert worden.
»Seid Ihr fertig?« fragte Magnus ungeduldig.
»Wenn Ew. Gnaden befehlen, können wir aufbrechen.«
»Das arme Kind!« klagte die Pachterin. Der gnädige Herr Graf würden Ihre Menschenfreundlichkeit verdoppeln, wollten Sie mir erlauben, daß ich unterthänigst meinen »Lebensgeist« oder auch den »schmerzstillenden Spiritus –«
»Schweigt!« unterbrach sie Magnus, einen blanken Thaler in ihre Hand schiebend. »Dies für Eure Mühe und jetzt packt Euch!«
»Tausend Dank, gnädigster Herr! Aber Sie werden mir doch erlauben, daß ich das liebe Ding auf meinen Armen in den Wagen trage?«
»Ich werde Euch die unnützen Arme mit meiner Peitsche zerklopfen,« fuhr Magnus die dienstfertige Frau an, »wenn Ihr Euch nicht auf der Stelle fortpackt! Zu lange schon hat mein Schützling in Eurer Nähe verweilt. Ich [] werde Sorge tragen, daß sie Euch nie wieder sieht.«
Obwohl die Pachterin über die letztere Bemerkung sehr bestürzt wurde, da sie durchaus nicht begreifen konnte, was den Grafen dazu veranlassen mochte, mußte sie doch lächeln, denn sie besaß hinlänglichen Mutterwitz, um das Sinnlose in des Grafen Drohung sogleich einzusehen.
»Ach Du lieber Gott!« rief sie wehmüthig die Hände faltend. »Das wird gar nicht in des gnädigen Herrn Gewalt stehen! Das arme Ding hat ja keine einzige Sekunde ihre gewiß sternenhellen Augen aufgeschlagen, noch ein kurzes Sterbenswörtchen gesprochen! Wie soll mich die niedliche kleine Wendin da wiedersehen! Möge sie der liebe Gott nur so treulich behüten, wie Ew. Gnaden sich ihrer liebevoll annehmen!«
Magnus hatte inzwischen Haideröschen behutsam von ihrem Lager aufgehoben und nach dem vor der Hausthür haltenden Planwagen getragen. Die schwatzende Frau folgte ihm, immerfort sprechend, auf dem Fuße, obwohl ihr Mann finster genug drein sah und ihr mehrmals winkte, daß sie endlich einmal ihren Herzensergießungen [] ein Ziel setzen solle. Nachdem der Graf seine schöne Beute auf dem für sie im Wagen bereiteten Heulager niedergelegt und mit Decken und Matratzen so verhüllt hatte, daß ihr die Stöße des Fuhrwerkes auf dem schlechten steinigten Feldwege keine Contusionen oder andere Verletzungen zufügen konnten, bestieg er wieder sein rüstiges Thier und trabte an der Seite der zugezogenen Plane, welche der Pachter selbst leitete, dem entfernten Edelhofe zu, ohne sich weiter um die Lamentationen und Bitten der Pachtfrau zu bekümmern, die sie mit unermüdlicher Zunge bald ihrem Eheherrn, bald dem Grafen nachrief.
Trotz der Ungeduld, die ihn zu größter Eile anspornte, mußte sich Magnus doch entschließen, einen sehr langsamen Trab zu reiten, da der Pachter kurz und bündig erklärte, daß es durchaus unmöglich sei, schneller zu fahren, wenn sein Fuhrwerk nicht binnen Kurzem in Stücken zerbrechen solle.
Verdrossen fügte sich der Graf in das Unabänderliche, immer dicht an dem Wagen herreitend und ihn mit Auge und Ohr eifrigst bewachend. Sie waren noch kaum eine Viertelstunde [] über das Vorwerk hinaus, als Magnus eine Bewegung im Wagen bemerkte und durch eine schadhafte Stelle der Plane sah, daß Röschen wieder zu sich gekommen war. Um sie nicht zu erschrecken und vielleicht eine Scene herbeizuführen, zog er sich jetzt hinter den Wagen zurück. Wider Erwarten blieb es aber ruhig in der Plane, so daß er glaubte, die furchtsame Wendin sei auf's Neue in Ohnmacht gefallen. Er wartete eine mit Rasen bewachsene Stelle ab, um dem Wagen wieder zur Seite zu reiten und dann und wann forschende Blicke hinein zu werfen. Da sah er denn Haideröschen, an die Heupolster gelehnt, aufrecht sitzen. Die hellen Tropfen auf ihren rosigen Wangen und der traurige Zug um den reizend schönen Mund sagten ihm, daß sie weinte, doch deutete ihre stille Gefaßtheit auch darauf hin, daß sie jeden Widerstand für unmöglich halte und sich in die böse Nothwendigkeit ergebe. Haideröschen hatte das Häubchen abgenommen und saß jetzt in der vollen Schönheit ihres goldnen Haares vor den begehrlichen Blicken des Grafen. Sie zupfte die einzelnen Grashälmchen aus dem zarten Gelock, kräuselte die aufgegangenen Ringel über der [] Stirn mit dem Finger und steckte die starken Flechten am Hinterkopf wieder auf. Dann bemühte sie sich vergeblich, ohne ihr stilles Weinen zu unterbrechen, das zerknitterte Häubchen auf ihrem runden Knie mittelst Streichen und sanftem Klopfen wieder zu glätten. Da ihr dies schlecht gelingen wollte, setzte sie es in der etwas unscheinbar gewordenen Form auf und band es unter dem Kinn mit zierlicher Schleife fest, die sie nicht vergaß in die gehörige Richtung und Breite auszuzupfen. Hierauf faltete sie fromm die Hände und fing an in der Noth ihres Herzens Sprüche und Liederverse in wendischer Sprache leise herzusagen, eine Beschäftigung, in der sie nur bisweilen ein unwillkürlich lautes Aufschluchzen unterbrach.
Zufrieden mit dieser Fügsamkeit überließ Magnus das Mädchen sich selbst und langte ohne fernere Störung mit ihr auf dem Zeiselhofe an. Erst hier, im Innern der dunkeln Hausflur, wohin er mit Borbedacht den Wagen fahren ließ, zeigte er sich Röschen, diesmal sein interessantes, keckes männliches Gesicht in die lichtesten Farben gewinnender Freundlichkeit kleidend.
[] »Welch arges Herzeleid hast Du Dir selbst unnöthig zugefügt, kleiner Trotzkopf!« sagte er lächelnd zu der kleinen Wendin, nachdem er den Pachter fortgeschickt hatte. »Bitte, reiche mir jetzt Deine Hand, daß ich Dir von diesem elenden Fuhrwerk herunterhelfe! Ich konnte leider kein besseres auftreiben, um Dich, wie Du es verdient hättest, in mein Schloß zu geleiten! – Sei nicht ängstlich, nicht blöde, sondern sprich keck aus, was Du begehrst. Es wird mir ein unaussprechliches Vergnügen gewähren, Dir in allen billigen Dingen gefällig sein zu können.«
Haideröschen war über dieses veränderte Betragen so verwundert, daß sie sich anfangs wirklich besinnen mußte, ob sie nicht etwa träume. Inzwischen hob sie Magnus aus dem Wagen, geleitete sie äußerst zuvorkommend und mit einer ihr an Männern bisher noch nicht vorgekommenen Galanterie, wobei er kaum die Spitzen ihrer Finger berührte, eine breite Treppe hinan, auf deren gewundenen Absätzen seltene Blumen mit phantastischen Blättern und Blüthen, wie sie in ihrem Leben noch keine gesehen hatte, in großen Töpfen und Kübeln standen, und führte sie, ehe sie noch recht zur Besinnung kommen konnte, in [] ein mittelgroßes Zimmer, das außer einem reich verzierten Divan und mehrern hochlehnigen, mit kostbarem Seidenstoff überzogenen Stühlen große vom Fußboden bis an die Decke hinauf reichende Spiegel von kristallklarer Reinheit enthielt, die Röschens Aufmerksamkeit vorzugsweise fesselten. Eine Stutzuhr von einem jener geschnörkelten Gehäuse umgeben, die jetzt wieder unter dem Namen Rococco Mode geworden sind, zierte einen Schrank aus Nußbaumflaser. Schwere gewirkte Teppiche von bunter Farbe überdeckten den Fußboden, die Wände waren mit alterthümlichen Tapeten bekleidet, auf denen allerhand Jagdscenen abgebildet waren. Ein hoher Kamin mit marmorner Einfassung trug Spuren eines unlängst erloschenen Feuers. Auf einem runden Tisch mitten im Zimmer standen zwei silberne Armleuchter mit Kerzen und zwischen diesen eine silberne Schelle, deren Griff eine zierlich gearbeitete Figur Diana's darstellte.
»Hier bist Du alleinige Gebieterin, mein schönes Kind,« sagte der Graf, die Erstaunte ritterlich galant zum Divan führend. »Sobald Du etwas begehrst, darfst Du nur diese Schelle läuten. Auf einmaliges Geläut wird eine Dienerin [] erscheinen, um Deine Befehle zu empfangen, schellst Du zweimal, so soll dies ein Zeichen sein, daß Du mich selbst zu sprechen begehrst.«
Höflich grüßend entfernte sich Magnus und überließ Röschen sich selbst und der Einsamkeit. Geraume Zeit konnte sich das in den einfachsten Verhältnissen aufgewachsene Mädchen in die sich häufenden Seltsamkeiten nicht finden, und es kostete ihr wirklich Mühe, nicht fest zu glauben, daß sie während ihrer Betäubung von unsichtbaren Mächten verwandelt, ihr Verfolger aber gebssert worden sei. Das Land, noch mehr ihr Volksstamm war reich an Erzählungen dieser Art und mäkelte nicht an ihrer Wahrhaftigkeit, wenn auch gegenwärtig Niemand lebte, dem so Wunderbares zugestoßen war. Nur ihre groben Kleider, die sie noch unverändert trug, machten sie wieder irr und ließen neue Bedenken in ihrem geängsteten Gemüth aufsteigen.
Aus weiblicher Neugier, zum Theil auch, um sich einigermaßen zu zerstreuen, begann Haideröschen die auffallendsten Einzelnheiten des geräumigen, von eigenthümlichem Duft erfüllten Zimmers, wie er Wohnungen eigen ist, die [] zwar zur Aufnahme von Gästen stets bereit stehen, doch nur höchst selten wirklich dazu benutzt werden, genauer zu betrachten. Sie trat zuerst an's Fenster, um sich in der Gegend zu orientiren. Die Aussicht war nicht großartig, aber ansprechend und recht passend für ein Gemüth, das mehr mit den geheimen Reizen der Natur, als mit den geräuschvollen und gefährlichen Genüssen durch zu hoch gesteigerte Civilisation schon wieder verdorbener Menschen vertraut ist. Eine Landschaft, rechts von niedrigen Höhen begrenzt, von freundlichen Häusern, zwischen denen breite Ackergelände sich ausdehnten, belebt, lag in goldigem Sonnenschein vor ihr und verlor sich fern in höheren, gegen den Horizont scharf abschneidenden Bergkuppen. Nur zur Linken blieb ein schmaler Streif von jeder eigentlichen Begrenzung frei. Ein bläulich grauer Schimmer, über dem jetzt blaßrothe Wölkchen wie vom Himmel herabflatternde Rosen schwebten, deutete hier nur den Punct an, bis wie weit die Sehkraft reichte.
Diese Aussicht in ihrer todten Unveränderlichkeit hatte etwas Schwermuth Erweckendes. Dennoch machte sie auf das junge Mädchen [] grade den entgegengesetzten Eindruck. Sie, die bis dahin all das Seltsame und Prächtige mit kaltem Auge angestaunt hatte, fühlte plötzlich elektrisches Feuer durch ihre Nerven strömen. Die großen, klaren, unendlich liebreichen Augen glänzten im Feuer kindlichen Entzückens, und indem sie wie grüßend ihre beiden Hände nach dem grauen Dunststreif ausstreckte, rief sie unwillkürlich: »Meine liebe, liebe Haide!«
Röschen täuschte sich nicht. Es war der graue Saum der unermeßlichen Haide, deren äußerstes Ende sie über den grünen Saatfeldern gewahrte, jener Haide, die einen großen Theil der Oberlausitz und fast die ganze Niederlausitz bedeckt. Dieser Anblick gab ihr Kraft und Lebendigkeit wieder. Sie trat vor einen der hohen Spiegel und betrachtete selbstgefällig ihre schlanke Gestalt. Lächelnd schüttelte sie den Kopf, weil es ihr ungemein komisch vorkam, daß die kleinen muntern Löckchen über ihrer Stirn, die unter dem Häubchen hervorguckten, so zum Angreifen natürlich vor ihren Augen nickten und hin und her schwankten; denn Röschen hatte wohl zuweilen einen Spiegel zu Rathe gezogen, doch immer nur einen kaum handbreiten, fleckigen und nie [] ganz reinen. Hier nun sah sie sich von Kopf zu Fuß, und wenn sie sich gestehen mußte, daß sie recht hübsch sei und allenfalls wohl auch einem reichen Edelherrn gefallen könne, so erröthete sie zugleich auch, was ihr früher nie begegnet war, über ihre gar so ärmliche und unscheinbare Kleidung.
Recht betrübt ließ sie das Köpfchen sinken und sah traurig auf ihren roth und schwarz gestreiften Wollenrock herab, der nur durch das Leibchen von allerdings sehr verschossenem Sammet einen Schimmer von Werth erhielt. Es kam ihr vor, als sei sie noch nie so ganz abscheulich gekleidet gewesen und der Gedanke, doch einmal zu sehen, wie ihr wohl bessere Kleider stehen möchten, stieg so plötzlich in ihr auf und bemächtigte sich so ganz ihrer Phantasie, daß sie mit dem festen Willen, dergleichen zu verlangen, rasch nach der silbernen Schelle griff und sie heftig schwang. Ihr unbedachter Eifer ließ das Glöckchen zweimal ertönen, worauf sie jedoch nicht achtete, sondern erwartungsvoll mitten im Zimmer stehen blieb und angestrengt lauschte, ob man ihren Befehlen zu gehorchen wohl bereit sein werde. Sie richtete dabei ihre [] Blicke auf die Thür, um gleich beim Erscheinen der begehrten Dienerin einigermaßen über deren Willfährigkeit sich ein Urtheil bilden zu können.
Haideröschen mochte etwa eine Minute in dieser horchenden Stellung verharrt haben, als sie es rauschen hörte, nicht aber vor der Thür, sondern hinter oder an der Wand. Sie hielt den Athem an und horchte noch angestrengter. Da bemerkte sie deutlich, daß die gemalten Jäger auf der Tapete zu zittern begannen, die Wand aus ihren Fugen wich und sich gegen sie bewegte. Ein dumpfes Ach! entrang sich ihren Lippen, sie wollte fliehen und eilte nach der Thür. Allein, wie heftig sie auch am Schlosse drückte, es wich und wankte nicht! Auch wäre Flucht bereits zu spät und höchst unklug gewesen, denn Graf Magnus stand schon im Zimmer und drückte die unsichtbar in die Wand eingefugte Thür leise wieder zu. Eben so freundlich, wie er sie vor einer Stunde verlassen hatte, trat er wieder zu ihr und fragte bescheiden, was sie ihm mitzutheilen habe?
Ueberrascht schwieg Haideröschen mit zu Boden gesenkten Blicken.
»Muth, mein Kind, Muth!« sprach der [] Graf, seine Hand sanft unter ihr Kinn schiebend und das Köpfchen aufrichtend. »Du hast mir geschellt, jetzt mußt Du auch sprechen.«
»Ach, gnädigster Herr, Erbarmen!« erwiederte die Wendin zaghaft. »Die Schelle sollte nur einmal läuten und sie hat –«
»Zweimal geläutet,« fiel ihr Magnus lächelnd in's Wort. »Ja, mein Kind, das hab' ich gehört, darum bin ich hier. Und da meine Schelle so klug ist, die verborgenen Gedanken meiner reizenden Gästin zu errathen und mir zuzuflüstern, so werde ich jetzt hier bleiben. Es ist so traulich, so einladend hier zu freundlicher Unterhaltung! – Aber sage mir doch, Du lieblicher kleiner Schelm, was gedachtest Du denn mit meiner Dienerin zu plaudern?«
»O gar nichts, gnädigster Herr!« versetzte Röschen, aus Verlegenheit mit dem Bandendchen spielend, das ihr zum Zuschnüren des Leibchens diente.
»Wenn Du lügst, werde ich Dich bestrafen müssen, Röschen!«
»Thun Sie's nicht, gnädigster Herr!«
»Ich würde es ungern thun, allein ich sehe mich dazu genöthigt, sobald Du mir Deine [] Wünsche und Gedanken verheimlichst. – Was hat Dir den das Bändchen gethan?«
Eine geschickte Wendung ließ Magnus die spielende Hand der Wendin erhaschen, die das Bändchen noch festhielt. Er zog sie mit der seinigen zurück und die Schleife ging auf und ließ das Leibchen so weit zurückweichen, daß das grobe Linnenzeug darunter, welches den Busen des Mädchens züchtig verhüllte, sichtbar ward.
»Ach die schlechten Kleider!« stotterte Haideröschen. »Berühren Sie sie ja nicht, gnädigster Herr, Sie sind nicht gewöhnt, so grobe Sachen in Ihre Hand zu nehmen!« Und behend entschlüpfte sie dem Grafen, und schlang flink wieder, das Band zusammenziehend, eine feste Schleife.
»Ich billige Dein Gefühl, liebes Kind,« entgegnete Magnus, noch immer sanft und zurückhaltend. »So schlechte Kleider mögen für plumpe Bauermägde passen, ein so zartes Wesen, wie Du, mein Röschen, ist bestimmt, feinere Stoffe zu tragen, und wenn Du den Versuch machen willst, so werde ich dafür sorgen, daß Du morgen das Nöthige vorfindest.«
Haideröschen erröthete und konnte eine [] schelmisch lächelnde Miene nicht ganz verbergen. Magnus bemerkte dies und fragte rasch: »Du lächelst? Freust Du Dich darauf?«
Jetzt erst wagte die Wendin ihre prächtigen Augen ein paar Secunden lang frei und offen zu dem Grafen aufzuschlagen, während sie noch immer sehr schüchtern erwiederte: »Darum wollte ich ihre Dienerin bitten, gnädigster Herr.«
Der Graf jubelte innerlich über dies freimüthige Geständniß des schönen Mädchens, da es ihm deutlich den Kern weiblicher Eitelkeit und Putzsucht enthüllte, der auch in dem noch unverdorbenen Herzen dieses Kindes der Haide tief verborgen lag und sorgfältig gepflegt eine ergiebige Aerndte versprach. Er setzte sich auf den Divan und schmeichelte der vor ihm stehenden Wendin so lange mit freundlichen Redensarten, bis sie Muth faßte und neben dem jungen Manne, der jetzt keine Spur von Heftigkeit oder Hochmuth zeigte, schüchtern Platz nahm.
»Sieh, mein süßes Haideröschen,« redete er sie zutraulich an und ganz so, als wolle er ihr blos eine Geschichte erzählen, »ich muß Dich jetzt über Dich selbst und Dein Glück etwas aufklären. Dein sonst recht braver Vater ist ein [] befangener Mann, der vom heutigen Weltleben nichts versteht. Ihm muß ich es daher auch zu Gute halten, wenn er in seiner schwachsinnigen Thorheit meinen guten Absichten entgegentritt. Du aber, ein junges, blühendes, schönes Mädchen von aufgewecktem Geist und heiterm Gemüth, Du mußt Dich gewöhnen, die Zeit mit dem lustigen Auge verständiger Weltleute anzusehen. Dazu, mein Kind, will ich Dich eben erziehen, und nur dies allein ist der Grund, weshalb ich Dich mit Gewalt zu mir genommen habe, da es auf andere Weise nicht gehen wollte. Es fällt mir nicht ein, Dich, wie andere meiner Unterthanen, in die Viehställe zu stecken, Dich will ich für mich allein, zu meiner Gesellschafterin haben. Du sollst mich begleiten, wenn ich ausreite oder fahre, Du sollst das ritterliche Vergnügen der Jagd mit mir theilen, Du sollst mit mir essen und trinken, kurz, Du sollst leben, wie ich, gebieten, wie ich! Hättest Du wohl Lust dazu, Haideröschen?«
Die schöne Wendin sog diese verführerischen Worte des Grafen wie Zaubertöne eines Mährchens ein. Sie blickte mit den brennenden dunkelblauen Augen zu ihm auf und lächelte ihn [] freundlich an. Magnus wagte jetzt seinen Arm lose und wie zufällig von der Lehne des Divans auf ihren verhüllten Nacken gleiten zu lassen. Er fuhr fort:
»Du wirst von dem thörichten Volk gehört haben, ich sei hart, ein Tyrann. Glaube nicht daran, mein Röschen! Ich mache nur einen Unterschied zwischen den Menschen. Wo ich Rohheit, Gemüthsverhärtung, unbändigen Starrsinn und Widerwillen gegen jeglichen Befehl bei vollkommenem Mangel an Bildung entdecke, da wende ich scharfe, empfindliche Mittel an, wie sie allein durchdringen können. Die Mehrzahl dieser Menschen, die zerstreut auf meinen Besitzungen in der Haide und dem niedrigen Hügellande wohnen, verdienen nicht besser wie das unvernünftige Vieh behandelt zu werden. Es ist ein Glück für sie, daß sie keinen freien Willen haben, sie würden an ihrer Freiheit nur zu Grunde gehen! Daß sie zuweilen murren und in ihrer Störrigkeit gegen mich zu rennen suchen, ist Folge ihrer gänzlichen Verstandeslosigkeit. – Wo ich dagegen Anlage, Herz, Gemüth, Geist entdecke, wie bei Dir, meine Perle, da bin ich immer geneigt, zu vergessen, daß ich das [] Recht habe, blindlings zu befehlen. Ich wünsche dann als Lehrer aufzutreten und solchen bevorzugten Wesen die Wohlthaten, welche die Freiheit gewährt, sich selbst verdienen zu lassen.«
Haideröschen hätte gebildeter sein müssen, als sie es war, um diese Rede des Grafen vollkommen verstehen zu können. Sie hörte ihm zwar aufmerksam zu, aber sie wußte doch eigentlich nicht, was er mit all den schönen Worten hatte sagen wollen. Nur die milde Freundlichkeit, die unveränderlich seine interessanten Züge geistig belebte und verschönerte, machten sie begierig, noch mehr zu vernehmen, Sie stützte daher das feine Köpfchen in ihre Hand und wandte mit schalkhaft klugem Lächeln, dem eine entzückende kindliche Unwissenheit inne wohnte, das Gesicht dem Grafen zu.
»Wenn ich von dem Verdienen der Freiheit spreche,« fuhr Magnus fort, »so will ich damit nichts Anderes sagen, als daß ich wünsche, es möge jeder Einzelne meiner Unterthanen die guten Absichten anerkennen, die meinen Handlungen stets zum Grunde liegen. Von Dir, Röschen, verlange ich das vor Andern. Du bist klug und alt genug, um mich zu verstehen. Der [] Instinct, welchen die Natur Deinem Geschlecht in so reichem Maße verliehen hat, sagt Dir schon von selbst, was am meisten dazu dienen kann, Dich mir gefällig zu machen. Ohne Dir einen Wink zu geben, bist Du von selbst darauf gefallen, diese unschönen Kleider mit zarteren, geschmackvolleren Hüllen vertauschen zu wollen. Sieh, mein Kind, das nenne ich natürliches Talent, Anlage, meine Gedanken zu errathen. Mit dem Kleide wirst Du unmerklich auch Deine Wünsche, Deine Erwartungen, Deine Gefühle wechseln. Glaube mir, es ist gar nicht gleichgiltig, wie man sich kleidet! Der rohe Stoff, die grobe, unschöne Tracht drückt mit lähmender Gewalt unsere geistigen Anlagen nieder und stumpft alles feinere Gefühl ab, während die leichte, schimmernde, weiche Hülle, die sich sanft den Formen anschmiegt, unsern Gedanken Schwung und Kraft, unsern Empfindungen dauernden Reiz, unserm Willen erhöhte Festigkeit und einen schönen vornehmen Stolz verleiht. – Vermöchte es der Bettler über sich, die Lumpen, die seine Blöße decken, von sich zu werfen und der Unreinlichkeit zu entsagen, an die ihn sein faules Leben gewöhnt hat, wahrlich, er würde sich alsbald [] seiner selbst schämen und in Kurzem ein anderer, ein besserer Mensch werden! Und so hoffe ich, soll der Geist der Anmuth, der feineren Sitten, der größeren Lebensgewandtheit auch in Deinem schuldlosen Busen mit dem Kleidertausche, den Du wünschest, einziehen. Dafür mußt Du mir jedoch einen Gefallen thun.«
Röschens Bezauberung, die mit ihrer Ankunft auf dem Edelhofe begonnen hatte und in welcher sie wie in einer Welt wunderbarer Träume seitdem lebte, ward immer gewaltiger. Sie fühlte sich von den lockenden Tönen, die von des Grafen Lippe fielen und um ihre Schläfen schmeichelten, wie von einer reizenden Musik berauscht, und ohne zu ahnen, was man eigentlich mit ihr vorhabe oder von ihr wolle, gab sie jetzt durch billigendes Kopfnicken zu erkennen, daß sie die Meinung ihres klugen Gebieters zu theilen bereit sei.
»Recht gut!« fuhr der Graf fort, »wir müssen uns nur auch über das Was und Wie verständigen. Zuvörderst wirst Du also hier bleiben und Dich nach Art der Vornehmen kleiden.«
»O ich werde ganz närrisch werden vor [] Freude, wenn ich in schönen langen Kleidern, blitzende Steine im Haar und an den Füßen Sammetschuhe mit hohen rothen Stelzchen vor den hohen großen Spiegeln auf-und niedergehe,« sagte Haideröschen und lachte dabei munter und seelenvergnügt, wie ein Kind.
»Dann wirst Du mich auch lieb haben, nicht wahr?«
»Ich werde Ew. Gnaden immerdar als meinen Herrn und Gebieter verehren.«
»Nicht doch, Haideröschen! Liebe ist mehr als Verehrung, und es ist mein Wille und mein Befehl, daß Du mich lieben sollst!«
In Röschens Augen erlosch jetzt der Freudenglanz, der sie während der einschmeichelnden Rede des Grafen belebt hatte. »Lieben?« wiederholte sie mit einem leichten Seufzer. »Gnädigster Herr, die Liebe können sie nicht befehlen. Sie ist nicht auf Erden, sie fliegt durch die Himmel und spielt über den Herzen der Menschen, wie Schmetterlinge über den duftenden Blumen der Haide! Sie ist ein Gnadengeschenk des Himmels, dem Geringen so oft, so reieh, so beglückend zugetheilt, wie dem Vornehmen! – Nein, gnädigster Herr Graf. Sie können Alles [] mit Ihrem Willen erreichen, nur nicht, daß eines armen leibeigenen Mädchens schüchternes Herz Sie liebe!«
Magnus ward von dieser unerwarteten Antwort des aufgeweckten Naturkindes sehr wenig erbaut. Doch hielt er noch an sich und fragte anscheinend verwundert:
»Du willst mich also nicht lieben?«
»Ich will, gnädigster Herr, aber ich kann nicht!« versetzte Haideröschen. »Ich liebe den Gesang der Lerche über dem blühenden Buchwaizen, ich liebe den Hänfling, der im Laube unseres Gärtchens sein Nest baut, ich liebe das Schwärmen und Flattern der Schmetterlinge um die nickenden Blumenhäupter, ach ich liebe die feierliche Stille und den brausenden Sturm meiner heimathlichen Haide, ohne es zu wollen, ohne mich zu zwingen! Gott will es so und legte die Kraft dazu in mein Herz, aber er hat mir nicht gesagt, daß ich auch Sie lieben soll. Vor dem gnädigen Herrn beuge ich nur in Demuth und Ehrfurcht mein niedriges Haupt.«
»Wenn Du bei diesen Gesinnungen verharrst, wirst Du mich erzürnen, Röschen, und [] mich zwingen, Dich härter zu behandeln, als ich will.«
»Der gnädigste Herr Graf haben über mich zu gebieten,« sagte die Wendin still ergeben.
»So thue, was ich will!« rief Magnus heftig und stand auf, das zarte, reizende Kind der Haide mit hartem Druck von sich stoßend.
»Ich thue, was ich kann,« versetzte Haideröschen bescheiden und unterwürfig.
»Du bist mir unterthan, Du mußt meinen Befehlen gehorchen!«
»Befehlen, Ew. Gnaden, was Sie dürfen, und ich werde ohne Murren Gehorsam leisten.«
»Dürfen! – Hast Du mir Vorschriften zu machen? Ich darf, was ich will. Du bist meine Leibeigene.«
»Nun ja,« sagte Haideröschen, »ich bin Ihre oder Ihres gnädigen Herrn Vaters Leibeigene. Bedienen sich der Herr Graf meines Körpers; aber über mein Herz zu verfügen, wollen Sie unterlassen.«
Diese rührende Antwort hätte Magnus beinahe erweicht, als er aber die anmuthige Gestalt der schlanken Wendin mit seinen lüsternen Blicken überflog, verhärtete sich sein Gemüth [] auf's Neue und die Lust, dies schöne Mädchen um jeden Preis zu besitzen, steigerte sich zur grimmigsten Leidenschaft.
»Wer hat Euch denn so feine Unterschiede machen gelehrt?« fragte er spöttisch lächelnd. »Eure wendischen Schulmeister sind meines Wissens abgedankte Soldaten, verdorbene Schuhmacher und Schneider, die aus Noth, weil ihr Handwerk sie nicht ernährt, in die Gelehrsamkeit pfuschen und mit Noth und Mühe erst selbst das ABC lernen, um es dann ihren Staarmatzen mittelst Ruthe und Stock in Jahr und Tag ebenfalls beizubringen. Menschenverstand und Geist habe ich auf diesen Eselsweiden noch niemals angetroffen.«
»Bedürfen wir eines Lehrers, um zu begreifen, was Hunger und Durst ist, gnädigster Herr?« warf Röschen ein.
»Ich glaube gar, die Dirne ist trotz ihrer sechzehn Jahre schon in irgend einen Tölpel aus ihrem Sumpf-und Haidelande verliebt bis über die Ohren!«
Haideröschen schwieg erröthend auf diese rohen Worte, Magnus ging einige Male im Zimmer auf und nieder und schellte dann heftig. [] »Licht!« rief er dem Bedienten zu, setzte seinen Gang fort und wendete sich erst, nachdem die Kerzen auf den Armleuchtern angezündet worden waren, abermals zu dem hartnäckigen Mädchen.
»Liebst Du?« fragte er grollend.
»Ich habe es Ew. Gnaden schon gesagt.«
»Wem hast Du Deine Neigung zugewendet?«
Haideröschen sah den Grollenden mit muthigem Auge an. »Wenn der gnädige Herr diese Frage an mich richten,« erwiederte sie, »in der Absicht, mir den Geliebten rauben zu wollen, so würde ich Sie meinem Gefühle nach der Grausamkeit zeihen müssen.«
»Mädchen, Mädchen,« rief Magnus mit zornbebender Lippe, »Du wagst viel! Aber ich will Deine Worte nicht gehört haben Deiner körperlichen und geistigen Schönheit wegen. Versprich mir, Deinen Geliebten zu vergessen und ich will seinen Namen nicht wissen.«
»Ich zweifle, daß ich ein solches Versprechen würde halten können, gnädigster Herr. Geböte mir Jemand, ich sollte anfhören Gott zu lieben, den ich doch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, so würde ich mich traurig [] von ihm wenden, weil ich ja doch wüßte, daß ich seinen Befehl nicht vollziehen könnte. Wie soll es mir nun erst möglich sein, den Mann zu vergessen, dessen Bild in mein Herz eingegraben ist, dessen Stimme mich entzückt, in dessen Auge mir ein Himmel aufgeht? O nein, gnädigster Herr Graf, das wollen und können Sie nicht verlangen, denn es hieße sündigen gegen die Gesetze Gottes und unserer Religion!«
»Nun ich sehe und höre, daß die Kunst, Deine Gedanken geheim zu halten, Dir nicht eigen ist,« versetzte Magnus. »Da ich Dich nicht überreden kann, stände es mir jetzt frei, Dich durch allerhand kleine Foltern von Deiner kindischen Schwärmerei zu heilen, doch ich mag auch zu diesem Mittel nicht meine Zuflucht nehmen. – Du hast Dir selbst Dein Urtheil gesprochen, mein schönes Haideröschen,« fuhr er nach kurzem Besinnen fort und sein jetzt stechendes Auge funkelte tückisch, wie das des Tigers, der seine Beute lauernd umschleicht. »Du hast freiwillig, was ich nur loben muß, zugestanden, daß Dein Leib mir gehöre, Dein Herz dagegen ein Eigenthum sei, über das ich nicht verfügen könne. – Ich halte Dich beim Worte, Röschen. [] Du wirst mir von jetzt an mit Deinem Leibe dienen und ihn ganz meiner Willkür anheim geben, Dein Herz magst Du, wenn es Dir Vergnügen macht, meinetwegen den Schmetterlingen oder einem schmutzigen Fischer schenken. Bist Du mit dieser Theilung zufrieden?«
»Gnädigster Herr, ich verstehe den Sinn Ihrer Worte nicht,« stammelte Haideröschen, an allen Gliedern bebend und mit scheuem Blick die furchtbar verwandelten Gesichtszüge des stolzen, durch sie beleidigten und zur Rache aufgereizten Grafen betrachtend, der mit verschränkten Armen vor ihr am Tische lehnte.
»Ich werde Dir das Verständniß beibringen, ungehorsame Leibeigene,« versetzte Magnus hämisch lachend und trat dem Mädchen einen Schritt näher. »Du wirst die Gefälligkeit haben, Dein Häubchen abzulegen und mir den Anblick Deiner schönen Haare zu gönnen. Auch möchte ich Dich ersuchen, ohne Zögern Deinen weißen Nacken zu enthüllen und mir zu erlauben, daß ich Dir an den feinen Handgelenken die Hemdeknöpfchen löse, damit ich den vollen schönen Arm, der mich an das haßerfüllte Herz [] drücken wird, bewundern kann. Ich bitte, laß mich nicht länger auf Gehorsam warten!«
Wie ein Rallbvogel die schüchterne, schwache Taube in engen und immer engern Zirkeln umkreist, so gewährte es jetzt dem jungen, wüsten Grafen unaussprechliches Vergnügen, die vor ihm fliehende Wendin aus einem Schlupfwinkel in den andern zu treiben. Wohl zehnmal hätte er sich des schwachen Mädchens bemächtigen können, aber er wollte nicht. Die von Secunde zu Secunde wachsende Seelenangst seines Opfers ergetzte ihn mehr, als schnelles Ueberwältigen und rohes Genießen. Er spielte mit ihr, wie der zum Sprunge ausholende Tiger, ja er hoffte, daß Haideröschen es eben so wie der Vogel machen solle, auf welchen die Klapperschlange ihr brennendes Auge gerichtet hat. Um nur die fürchterliche Qual zu enden, glaubte er bestimmt, sie würde sich ihm im Angenblick einer an Wahnsinn grenzenden Verzweiflung in seine Arme werfen. – Da geschahen draußen drei gewichtige Schläge an's Schloßthor, und während Magnus ein paar Secunden an's Fenster trat, um zu sehen, was es wohl geben möge, gewann das arme Haideröschen Zeit, [] sich wieder zu fassen und auf einen neuen, furchtbareren Angriff sich zu rüsten. Ihr Häubchen war bereits in der Hand des frechen Räubers. Die goldblonden Flechten hatten sich aufgelöst und rollten in glänzender Fülle über das schwarzsammetne Leibchen und den grobwollenen Rock herab. Sie lehnte sich ermattet an den hohen Marmorsims des Kamins und strich sich die aufgegangenen, in Angstschweiß gebadeten zierlichen Löckchen aus der Stirn, die gleich vom Thau befeuchteten Goldblümchen ihren Scheitel umsäumten.
Ergrimmt durch die Störung, deren Ursache er nicht entdecken konnte, schritt jetzt der Graf wieder auf sie zu. Haideröschen konnte nicht fliehen, sie hätte sich denn in den Kamin retten müssen. Verzweifelt griff sie um sich und erfaßte ein Scheit Holz, das hinter ihr lag. Wie ein Schwert schwang sie jetzt diese Waffe mit der Kraft der Verzweiflung gegen ihren Verfolger. Magnus lachte zwar der Ohnmächtigen, erhielt aber dennoch einen so heftigen Schlag auf den gegen sie ausgestreckten Arm, daß er ihn kraftlos sinken ließ. In diesem letzten entscheidenden Moment nahten eilige Schritte, es ward heftig [] an die Thür geklopft und die Stimme des Voigtes begehrte dringend den Grafen sogleich zu sprechen.
Haideröschen athmete froh auf und erhob dankend ihre schönen Augen zum Himmel.
»Triumphire nicht zu früh!« drohte Magnus mit furchtbarem Hohne. »Jetzt habe ich blos zärtlich um Dich geworben, das nächste Mal feiern wir unsere Hochzeit!«
Mit nicht zu schilderndem Frohlocken sah die Wendin ihren tückischen Peiniger das Zimmer verlassen, das er fest hinter sich verriegelte.
[] Sechstes Kapitel.
Des Landmanns List.
Aergerlich kehrte Magnus in sein Gemach zurück, die von der Wendin getroffene und heftig blutende Hand im Rocke verbergend. Er war kaum eingetreten, als auch unser Freund schon an der Thür erschien. Beim Anblicke dieses Herumstreichers färbte sich das Gesicht des jungen Grafen braunroth vor Zorn und er machte Miene, diesen handgreiflich dem unberufenen Störenfried fühlen zu lassen. Heinrich besaß jedoch ein zu scharfes Auge und zu viel schlangenglatte Gewandtheit, um selbst einem erzürnten mächtigen Edelmanne gegenüber den Kürzern zu ziehen. In seiner kordialen Manier schwenkte er grüßend die Mütze und sagte, geheimnißvoll und pfiffig mit den Augen blinzelnd:
[] »Gelt, Ew. Gnaden, heut verdien' ich eine Extrabelohnung?«
»Wohl etwa dafür, daß Du in finsterer Nacht mich und mein ganzes Gesinde durch Dein Gelärm in Schrecken setzest?«
»Das will ich just nicht behaupten, Ew. Gnaden, wenn aber der Herr Graf wüßten, weshalb ich so gelärmt habe, – ja, Ew. Gnaden, dann –«
»Was dann? so endige doch!«
»Endigen? Ich möchte wissen, wozu? Sie machen ja ein Gesicht, als hätte Ihnen der Teufel ein Bein gestellt! Und da sollt' ich mich in die Gefahr begeben, Ihnen durch meine Nachrichten noch obendrein den Kamm schwellen zu machen? Ja, daß ich ein Narr wäre! Ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht!«
Der schlaue Maulwurffänger machte einen Kratzfuß und wollte das Zimmer verlassen.
»Bleib!« befahl Magnus, durch diesen Eingang neugierig gemacht. »Ich verspreche, Dich meinen Verdruß nicht entgelten zu lassen. Rede, was gibt es?«
»Wenn mich Ew. Gnaden anhören wollen, so habe ich Ihnen vorerst gehorsamst ein volles [] Dutzend Maulwürfe zu präsentiren, die ich heut und gestern auf Ihren schönen Aeckern durch meine Kunst gefangen habe. Begehren Sie die kleinen Bestien zu sehen?«
»Behalte das Ungeziefer und mache damit, was Du willst. Mein Voigt wird Dir den Lohn dafür auszahlen.«
»Danke unterthänigst, Herr Graf!«
»Was bringst Du sonst noch?«
Heinrich sah sich um, als fürchte er, es möchte irgendwo Jemand versteckt Ihr Gespräch belauschen können.
»Wir sind ganz allein,« sagte Magnus noch immer mit schlecht verhehltem Aerger. »Was Du hier sprichst, bleibt unter uns.«
»Was geben Sie mir,« flüsterte der Maulwurffänger dem Grafen leise zu, »wenn ich mache, daß die niedliche kleine Wendin, die Sie vom Todtensteine mit sich genommen haben, Ihren Willen thut?«
Mißtrauisch betrachtete ihn der Graf eine Weile, dann versetzte er kühl: »Woher weißt Du, daß ich beim Todtensteine war?«
»O die Luft ist geschwätzig, Ew. Gnaden,« erwiederte Heinrich, »und die Wenden haben [] auch eine geläufige Zunge. Ich kenne Haideröschens Vater wie mich selbst.«
»Ein Glück für ihn, daß er nicht in meiner Nähe wohnt, sonst ließ ich ihn vier und zwanzig Stunden lang bei Wasser und Brod in den Stock schließen und nachher noch mit dem Halseisen schmücken. Er allein, Niemand sonst ist Schuld, daß sich die Kleine so spröde zeigt.«
Heinrich schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie gut, daß ich gekommen bin,« fiel er ein. »O ich kenne meine Freunde, ich!«
»Du zweifelst?«
»Ich weiß, gnädigster Herr! Das Mädchen hat einen Liebsten, einen handfesten Bauernlümmel, dumm, aber eifersüchtig, und diesem Kerl zu Liebe würde sie jedes Ungemach, selbst Schläge und andere Qualen erdulden!«
»Kennst Du ihn?«
»Ich sollte meinen.«
»Gehört er zu meinen Unterthanen?«
»Er ist Ew. Gnaden Leibeigener mit mehr Recht als das Mädchen.«
»So verdienst Du, daß ich Dich mit Hunden aus dem Schloßhofe hetzen lasse.«
»Zu Ihrem Haushofmeister sollten Sie [] mich lieber ernennen,« versetzte Heinrich lachend. »Wollten Sie nur Geduld haben, so gäb' ich Ihnen einen Rath, wie sie ihn bei allen Weisen der alten und neuen Welt umsonst suchen möchten.«
Magnus bemühte sich ruhig zu bleiben und winkte dem Maulwurffänger, daß er in seinen Mittheilungen fortfahren solle.
»Der Bursche, Haideröschens Liebhaber,« sprach Heinrich, »gehört zu den Murrköpfen der neuen Zeit, die der Meinung sind, ein Mensch sei grade so gut wie der andre, woraus Ew. Gnaden schon abnehmen können, wie beschränkten Verstandes der Bursche sein muß. Jüngst hatte ich Gelegenheit, ihn zu sprechen, und da hat er mir eine Predigt gehalten über die Freiheit, daß mir jetzt noch die Ohren davon weh thun. Alle Menschen, behauptete er, müßten frei und ihre eigenen Herren sein; es dürfte keine Gebieter, keine Knechte mehr geben, und wer nicht dieselben Gedanken hege, der müsse je eher je lieber fortgejagt oder noch besser todtgeschlagen werden. Daß man im Guten mit Bitten und Vorstellungen nicht sehr weit kommen werde, leuchte ihm wohl ein, darum habe er[] sich auch ein anderes Mittel ausgedacht. Dies sei heimliche Aufwiegelung aller Leibeigenen gegen ihre rechtmäßigen Herren. Der Bund sei schon hübsch weit verbreitet. Die gesammten Haidewenden hätten sich auf Tod und Leben Beistand und Unterstützung zugeschworen, nur die im Hügellande und dem Gefilde zerstreut wohnenden zauderten noch und ohne sie könne man doch nichts anfangen. Sobald sie aber überzeugt und ebenfalls gewonnen seien, würde plötzlich in einer Nacht der Aufstand ausbrechen und Alles, was dem Herrenstande angehöre, ohn' Erbarmen ermordet werden!«
Während dieser Rede war Magnus immer bleicher geworden, jetzt mußte er sich auf die Lehne seines Stuhles stützen, um sich aufrecht erhalten zu können. Nach einer Pause, während welcher der Maulwurffänger, ohne eine Miene zu verziehen, die Wirkung seiner List belauschte, sagte der Graf:
»Glaubst Du, daß diese Unsinnigen wagen werden, ihre Pläne auszuführen?«
»Wer soll sie denn daran hindern?« erwiederte Heinrich. »Alles Volk bis herab auf das verworfenste Gesindel wird sich ihnen zugesellen, [] weil es gegen Herrschaft und Besitz geht und Jeder etwas dabei für sich zu erobern gedenkt. Es sind ihrer Viele, die Wuth wird ihre Macht um das Zehnfache der wirklichen Kraft verstärken, und ehe sich die unerwartet Ueberfallenen sammeln können, sind sie schon vertilgt!«
»Ich kenne bisher nur Deine Neuigkeiten,« sagte Magnus. »Laß jetzt, wenn Du sie erschöpft hast, auch Deine Rathschläge hören.«
»Nun sehen Ew. Gnaden,« fuhr Heinrich fort, »ich getraue mir flugs das Abendmahl drauf zu nehmen, daß mein Plan, wie ich ihn mir heut während meiner Geschäftswanderung ausgedacht habe, zweifellos zum Ziele führt. Der Bursche liebt das Haideröschen, auf welches Ew. Gnaden ein Auge haben. Er wird glauben, Sie wollten dem hübschen Kinde im Ernst ein Leid zufügen, was einem so gütigen und gerechten jungen Herrn gewiß nie in den Sinn gekommen ist. Wenn nun ein paar Tage vergehen, ohne daß der verwegene Bursche etwas Tröstliches von seiner Liebsten hört, so fürcht' ich, treibt ihn die Wuth zum Aeußersten und der Aufstand bricht los, ehe Sie Ihre Jagdflinte zu laden im Stande sind. Gäben Sie sich[] aber den Schein, als seien Sie von der beispiellosen Tugend und erhabenen Engelsschönheit des jungen Mädchens im Innersten gerührt und dermaßen ergriffen worden, daß Sie nicht mehr vermöchten, ihr mit Bitten anzuliegen, sondern das liebe Ding großmüthig laufen ließen, ja ihr sogar gelobten, am Tage der Hochzeit etwa ihr und ihrem Bräutigam die Freiheit zu schenken, so möchte ich meinen Kopf verwetten, daß Sie sich den wilden Burschen mit sammt seinem Anhange zum Freunde und treuesten Beschützer machen.«
»In der That, Dein Vorschlag ist gut und kann zum Ziele führen, und doch –«
»Was hält Sie ab, sogleich Anstalt zu seiner Ausführung zu treffen?« unterbrach ihn Heinrich. »Beruhigung ist nöthig und nichts schläfert die Menge fester und tiefer ein, als eine recht unerwartete, wie vom Himmel herabfallende Großmuthhandlung. Es kommt ja dabei nicht so genau darauf an, was man etwa später noch vorzunehmen gedenkt.«
Magnus Züge überstrahlte wieder ein lebhafter Freudenglanz. »Bei meiner Ehre, ich muß Dich loben, Heinrich!« rief er aus. »Eine [] angemessene Belohnung soll Dir nicht fehlen. Geh jetzt, laß Dir's wohl sein in der Gesindestube, aber halte reinen Mund! Sobald ich mit meinen Anschlägen vollkommen im Klaren bin, werde ich Dich rufen lassen, sollte auch diese Nacht darüber hingehen. Hältst Du übrigens für nöthig, das Mädchen von meinem Entschlusse in Kenntniß zu setzen, so magst Du sie sprechen. Dieser Schlüssel öffnet die Thüre ihres Gemaches. Der Voigt wird Dich zu ihr führen. Auf Wiedersehen!«
Magnus zog sich in sein Kabinet zurück und der Maulwurffänger mußte gewaltsam an sich halten, daß er nicht durch lautes Lachen zur Unzeit seine List dem Gebieter verrathe. Selbstzufrieden sich die Hände reibend, verließ er das Prunkgemach, um sich inmitten der Dienstboten des Edelhofes gütlich zu thun. –
[] Siebentes Kapitel.
Die Gesindestube.
Während der kurzen Unterredung Heinrichs mit dem Grafen Magnus hatte sich das Gesinde des Edelhofes zur Abendmahlzeit niedergesetzt. Die späte Tagesstunde war eine ungewöhnliche dazu, denn in der Regel pflegte das Hofgesinde um sieben Uhr Abends sein frugales Essen zu halten. Weil aber die Marterwoche so nahe war und in dieser Zeit jede Lustbarkeit und Zerstreuung an den Sonntagen streng gemieden wurde, hatte der Voigt dem größern Theile sämmtlicher Dienstboten erlaubt, dem letzten Tanz im Kretscham mit beiwohnen zu dürfen. In Folge dieser Vergünstigung war das beurlaubte Hofgesinde kurz vor der Ankunft des Maulwurffängers aus dem Kretscham zurückgekommen und [] wollte nun das Versäumte einige Stunden später, als Sitte und Ordnung erheischten, nachholen.
Die große Gesindestube befand sich abgeschieden vom Herrenhause in der Wohnung des Voigtes, die einen abgesonderten Bestandtheil des Edelhofes ausmachte. Sie erstreckte sich zu ebener Erde fast durch die ganze Länge des Voigtgebäudes und hing mittelst eines kurzen bedeckten Ganges mit den weitläufigen Stallungen zusammen, in denen zugleich auch die Schlafstätten für Knechte und Mägde angebracht waren. Das Möblement in der Gesindestube bestand nur aus einer langen Tafel von fichtenem Holz, einer Anzahl Schemel und einer rund um die Holzwände laufenden Bank, die hinter dem sehr großen und bis fast an die Decke hinauf reichenden Ofen die Breite eines gewöhnlichen Bettes annahm und der jüngsten unter den Mägden als Lagerort diente. Zu diesem Behufe lagen einige vielgebrauchte Schaaffelle, jetzt zusammengerollt und gegen die Wand gelehnt, hinter dem stets erwärmten Ofen. Denn da dieser vorzugsweise zur Erhitzung des nöthigen Wasserbedarfs in der großen Wirthschaft gebraucht [] wurde, ging das Feuer in seinem geräumigen Bauche selten aus.
Dies ländliche Wohnzimmer ward von vier starken brennenden Kienspänen, die je zwei in eisernen Spanhaltern an jedem Ende des langen Speisetisches staken, düster erleuchtet. Wenn man von der Hausflur durch die starke, aus Holzpfählen mit Lehm und Stroh fest durchflochtene Zuschlagthür, die weder Schloß noch Riegel hatte, in die Stube trat, vernahm man sogleich das schrillende, zuweilen fast wimmernd klingende Gezirp zahlloser Heimchen, vom Landmanne »Heimliche« genannt, die in allen Ritzen und Spalten der Wände wie des Ofens unsichtbar nisteten. Gewöhnlich verstecken sich diese Thiere immer vor den Menschen, hier aber gab es deren eine so ungeheure Menge, daß sie schaarenweise an den Wänden hingen, daran auf und ab liefen und häufig selbst von der Decke herab auf Tische und Bänke fielen. Ihre dünnen graugrünen Flügeldecken verursachten ein seltsames Schimmern in der trüben Kienbeleuchtung und konnten nicht daran Gewöhnten wohl ein leises Grauen einflößen.
In etwa ellenweiter Entfernung von einander [] waren rings an der Holzwand runde blecherne Löffel zwischen lederne Riemchen gesteckt, von denen jeder seinen bestimmten Herrn hatte. Denn nach der Hofgesindeordnung nahmen alle Knechte und Mägde beim Essen immer denselben ihnen zugewiesenen Platz ein, je nach dem Range, welchen sie als Dienstboten bekleideten. Und damit nie eine Verwechselung derselben stattfinden konnte, pflegten wenigstens alle männlichen Dienstboten ihre Löffel nach gehaltener Mahlzeit sogleich eigenhändig auf die einfachste Art von der Welt, indem sie dieselben mit der Hand oder an ihren Jacken abwischten, zu reinigen und sogleich wieder in die ledernen Haltriemchen zu stecken. Die Mägde waren weniger accurat und wählig und ließen diesem Instrument die Wohlthat einer Abscheuerung durch Wasser zu Theil werden.
In Folge der schon erwähnten Aushebung neuer Dienstmägde waren vor Kurzem einige junge Mädchen auf den Hof gekommen. Solche Neulinge dienten den Aelteren meistens zum Stichblatt und mußten, wenn sie sich in ihre neuen Verhältnisse nicht leicht zu finden verstanden, von den rohen Witzen und Gewohnheiten [] der Knechte viel Ungemach ertragen. Wie überall gab es auch unter diesen fast aller Bildung baren Menschen Einzelne, die sich eine gewisse Oberherrschaft über die Andern anmaßten und ihnen diese auf die empfindlichste, ihnen verhaßteste Weise fühlen ließen. Geschah dies auch nicht gerade aus Bosheit, so nahm doch nicht selten die Art, wie man mit Neulingen scherzte, den Schein derselben an. Denn im Grunde wollten und suchten Knechte und Mägde am Feierabend nur Unterhaltung, wobei freilich auf zarte Natur, auf angeborene Sinnigkeit, auf tiefes und leicht verletzbares Gemüth keine Rücksicht genommen wurde.
Unter den neu angezogenen Mädchen befand sich namentlich eins, das einen unüberwindlichen Abscheu vor den an sich unschädlichen und völlig harmlosen Heimchen hatte. Es kam wohl vor, daß einige dieser Thierchen während der Mahlzeit in die riesengroße Schüssel fielen, in welcher die Suppe aus Roggenmehl dampfte. Die Knechte fischten dann die zappelnden Geschöpfchen, ohne sich den Appetit dadurch im Geringsten verderben zu lassen, mit ihren Löffeln heraus und warfen sie unter den Tisch. Marie [] aber kreischte laut auf, wurde blaß vor Ekel und legte den Löffel aus der Hand. Dies reichte hin, um das arme Kind zum Sündenbock für alles Gesinde zu machen. Stillschweigend kam man überein, sich gemeinschaftlich an dem Schreck des Mädchens zu ergetzen und ihr regelmäßig die ärmliche Mahlzeit zu verderben. Kaum war nämlich das Gebet gesprochen, das man niemals vergaß, so strich der oberste Knecht, der als solcher den Ehrennamen Großknecht führte, mit halb zugebogener Hand flach über die Wand, raffte damit eine Menge Heimchen zusammen und warf sie lachend auf die Stelle der Schüssel, wo Marie ihren Löffel eintauchen mußte. Dadurch ward das bedauernswerthe Mädchen regelmäßig um ihre Mahlzeit betrogen, da sie durchaus den Ekel vor den geflügelten Thieren nicht überwinden konnte. Sie mußte wider Willen fasten und magerte zusehends ab. Die übrigen Knechte aber fanden den Spaß unübertrefflich, aßen nur mit desto größerem Appetit und wollten sich über die Gebehrden des entsetzten Mädchens zu Tode lachen. Wenn jedoch ein jüngerer Knecht dem Vorsitzenden in's Handwerk pfuschen und dasselbe Manöver auf seine [] eigene Faust machen wollte, gebrauchte der Großknecht sein Recht, indem er gelassen die Heimchen zählte und dem Vorwitzigen eine gleiche Anzahl sehr derber Maulschellen verabreichte. Diese bewirkten dann, daß dem Bestraften nicht allein die Lust zum Essen auf der Stelle gänzlich verging, sondern daß er auch noch den nächsten Tag darauf verzichten mußte, das harte schwarze Hofebrod zu beißen, weil er vor Schmerzen keinen Zahn gebrauchen konnte.
Marie hatte so eben zur Unterhaltung ihrer übrigen Mitdienstboten wieder auf ihr Abendbrod verzichtet und stand betrübt am Ofen, mit Mühe die Zähren zurückhaltend, die ihr in's Auge stürzten. Sie fühlte doppelten Hunger, da sie sich im Kretscham müde getanzt hatte und nun, weil sie keine Suppe essen wollte, auch weder Kartoffeln noch Brod erhielt.
Diese Behandlung war unstreitig herzlos, grausam und unwürdig, allein der Großknecht dachte nicht daran. Er hatte im Gegentheil das Mädchen sehr gern und behandelte sie in seiner Weise nur so brutal, um sie abzustumpfen und unempfindlich gegen die Rohheiten zu machen, denen jeder Einzelne im Hofedienst ausgesetzt ist. [] Das übrige Gesinde lachte noch und machte sich lustig über das zimperliche Wesen der Betrübten, als der Voigt eintrat und mit Einem Blick die Lage der Sachen erkannte.
Wir haben schon angedeutet, daß dieser einflußreiche Mann ein dienstbereiter, nicht eben scrupulöser Knecht des Grafen war. Dies hinderte ihn jedoch nicht, unter den Dienstboten selbst strenge Zucht zu halten und eine gewisse derbe Gerechtigkeit zu üben. Mit wenigen Fragen erfuhr er den Zusammenhang, mißbilligte mit drohender Miene das Verfahren des Großknechtes, untersagte es ihm bei Strafe und wandte sich dann zu der jetzt ihren Thränen freien Lauf lassenden Marie, indem er sagte:
»Laß gut sein, armes Ding! Weil Dich diese Lümmel um Deine wohlverdiente Mahlzeit gebracht haben, sollst Du heut mein Gast sein und alle Deine bösen Widersacher sollen trocknen Mundes dabei zusehen, während ihnen das Wasser vor Sehnsucht zusammenläuft. Einen Augenblick! Ich werde sogleich wieder da sein.«
»Der Prahlhans!« sagte der Großknecht verächtlich, als der Voigt die Gesindestube wieder verlassen hatte. »Er thut auch immer, als [] regnete es Blutwürste und Schinken, und wenn es auf und an kommt, tütscht er eben auch blos Erdbirnen in schlechte gesalzene Butter! Ich bin doch neugierig, was für Delikatessen er der kleinen Vornehmen auftischen wird.«
»Mir gilt's gleich,« versetzte sein Nachbar, »die Suppe war recht dick und kloßig, und ich bin so satt, daß mir Einer Schweinebraten und gebackene Pflaumen vorsetzen könnte, ohne mich sehnsüchtig zu machen.«
»Nun auf ein paar fette Bissen käm' mir's nicht an,« meinte der Großknecht. »Für ein halbes Pfund Fleisch oder 'was drüber habe ich immer noch Platz.«
»Gebratene Tauben bringt er nicht,« sagte die älteste Magd, ein stämmiges Frauenzimmer mit hochrothem Gesicht und gutmüthigen, aber nichts weniger als klugen Augen.
»Ich glaube, er ist blos heruntergekommen, um ein paar Bissen zu erschnappen,« fiel lächelnd eine der jüngeren Mägde ein, »denn seine Alte, wißt Ihr, hält ihn verdammt kurz und verzehrt die besten Bissen immer für sich allein.«
»Allein?« sagte der Großknecht. »Laß Dir nicht Dinge weiß machen! Mit dem Jäger frißt [] sie alle Teufelsnäschereien auf, wenn ihr Brummbär andere Geschäfte hat. Wovon würde sie auch sonst so dick, wie eine Biertonne? Und der Jäger schleppt ihr immer 'was Leckeres zu unter dem Vorwande, das oder jenes Stück Wild tauge nichts. Deshalb stellt sich der Sapperlot auch so fromm, denn wär's ihm nicht um ein gut Stück Essen zu thun, er säh' die Alte wahrhaftig mit keinem Auge an!«
»Das hat er auch nicht nöthig,« meinte die jüngere Magd. »So ein schmucker, flinker Kerl!«
»Gelt, Du möchtest ihn in der Hölle warm halten?« warf der Großknecht ein, und während die Magd erröthete und die Augen niederschlug, fiel das ganze übrige Gesinde in das lauteste und anhaltendste Gelächter.
Die jüngeren Mägde kicherten noch, als der Voigt wieder eintrat. Er trug in der linken Hand einen miltelgroßen irdenen Napf und unterm rechten Arm ein angeschnittenes Roggenbrod von weißem abgenommenem Mehl, wie es für die herrschaftliche Tafel gebacken wurde. Lächelnd stellte er beides auf den Gesindetisch, wobei namentlich die entfernter sitzenden Knechte [] neugierig lange Hälse machten, um zu sehen, was die Schüssel wohl enthalten möchte.
»Nun komm, Marie,« sagte der Voigt, zwei Schemel an den Tisch rückend. »Bring' die Salzmeste her und nachher iß, so lange Dir's schmeckt. Es ist das reinste Leinöl, süß wie Mandelmilch und gesunder wie Kleebutter!«
Sichtlich erheiterten sich bei dieser angenehmen Nachricht die bisher so traurigen Züge Mariens. Sie brachte die Salzmeste, aus welcher der Voigt einen vollen Löffel Salz schöpfte und es in den mit der braunglänzenden dicken Flüssigkeit bis zum Rande angefüllten Napfe schüttete. Dann schnitt er von dem weichen Laib Brod ein tüchtiges Stück für sich und das Mädchen ab, holte sein Einschlagmesser hervor und reichte dem Mädchen die kurze zweizinkige Gabel, die am untern Ende des Messers eingefugt war. Er selbst bediente sich der stumpfen Klinge, um riesengroße Bissen weißen Brodes damit anzuspießen, sie in das Oel zu tauchen und, nachdem sie sich vollgesogen, in seinen nicht eben kleinen Mund zu schieben.
Es gibt wenige Genüsse, welche die Wenden und auch viele Deutsche unter den Landleuten [] so sehr lieben, als den des frischgeschlagenen Leinöls, und Marie ließ sich daher nicht zweimal auffordern, dem für einen verwöhnten Gaumen vielleicht ungenießbar erscheinenden ländlichen Gericht tüchtig zuzusprechen. Der Voigt hatte nicht zu viel behauptet, die Knechte, am meisten der Großknecht, ärgerten sich wirklich, daß sie hätten blau anlaufen mögen, sie durften es sich aber nicht merken lassen, wenn sie nicht von dem bei solchen Gelegenheiten unerbittlichen Voigt unbarmherzig aufgezogen sein wollten. Deshalb stellten sie sich, als läge ihnen gar nichts an dem duftenden Leinöle, an welchem jetzt Marie so behaglich mit dem Voigte sich gütlich that, ja als sei ihnen die Pfeife schlechten Tabaks, die sich einer nach dem andern am Kienspane anzündete, zehnmal lieber.
Der Voigt unterließ auch nicht, nach jedem Bissen, den er hinunterschluckte, seine malitiösen Bemerkungen zu machen und dabei die außergewöhnliche Güte des Oeles zu preisen. Glücklicherweise endigte diese für die Knechte sehr empfindlichen Hänseleien der Eintritt des Maulwurffängers, der, ohne viel zu fragen, nachdem er den Versammelten einen »guten Abend [] beisammen!« gewünscht hatte, seinen Quersack mit sammt den Drähten ablegte, das Bündel Eichenstäbe unter die Bank warf, einen Schemel neben Marie an den Tisch schob, sie sanft in's Ohr kniff, dann nach dem Brode langte, von dem er sich ein ansehnliches Stück abschnitt, und gleich dem Voigte mit schiffartigen Bissen in den Oelnapf fuhr.
»Hätte ich doch nicht gedacht,« sagte er, »daß ich heut noch so ein grausam gutes Abendessen vor's Maul kriegen würde! Nur schade, daß die Freude so bald ein Ende haben wird!«
Obwohl der Voigt die Manier unseres Freundes kannte, war er doch über die Unverschämtheit des Mannes erstaunt, der, ohne zu fragen und um Erlaubniß zu bitten, seine Abendmahlzeit mit ihm theilte. Er vergaß darüber auf einige Sekunden das Zulangen und diese benutzte Heinrich mit so beharrlicher Ausdauer und Gewandtheit, daß er den Rest des Oeles aufgezehrt hatte, ehe der Voigt wieder Theil daran nehmen konnte. Die gefoppten Knechte brachen darüber in ein wieherndes Gelächter aus.
»Du bist ein Kerl wie ein Hamster,« sagte der Voigt, »vermuthlich ist Dir der Zorn des [] gnädigen Herrn in den Leib geschlagen, denn menschlich kann man solch ein Schlingen nicht nennen, und natürlich ist's eben so wenig!«
»Ich finde es sogar höchst vernünftig,« erwiederte mit behaglicher Gelassenheit der Maulwurffänger. »Wer ein gutes Werk gestiftet hat, soll sich freuen, wer sich freut, verdient, daß er belohnt werde, und gutes Essen und Trinken ist der beste Lohn für einen rechtschaffenen Hunger. Sag' mir mal, Voigt, ob Du darin nicht die sonnenklarste Vernunft findest?«
»Sag' Du mir lieber,« erwiederte der Gefragte, »ob der Herr Graf Vernunft in Deinem Kommen und verzwickten Geschwätz fand?«
»Ich versichere Dich,« versetzte Heinrich, »hätte der Herr Graf Orden zu verleihen und Titel zu vergeben, er würde mich nicht fortgelassen haben, ohne mir und meinem Quersack beide Lasten auf und anzuhängen! O das ist ein kluger Herr! Der hat ein Einsehen und weiß seine Leute zu nehmen! Ich sage Euch, es fehlte wenig, so hätte er mich gedutzt!«
»Das ist eine große Neuigkeit,« sagte der Voigt. »Seine Gnaden heißen alle Menschen [] Du, da soll er etwa bei Dir eine Ausnahme machen?«
»Sobald der nächste Schleifer kommt, Voigt, bitte ich Dich, laß Dir Deinen Verstand abziehen, daß er künftig schneller fassen lernt! Wenn man von Dutzen spricht, ist's doch wohl natürlich, daß zwei verschiedene Personen einander die Ehre anthun?«
»Und für Deine Neuigkeiten hat er Dir das angeboten?« fragte ungläubig lächelnd der Voigt. »Darf man denn nichts erfahren?«
»Warum nicht?« erwiederte der Maulwurffänger. »Ich bin ja nicht des Herrn Grafen Unterthan und verboten hat er's mir auch nicht. Aber was krieg' ich für meine Neuigkeit? Denn Ihr wißt allesammt, umsonst ist der Tod und ich muß vom Verdienst leben.«
»Einen Krug Bier laß ich Dir holen,« sagte der Voigt.
»Wird angenommen,« meinte Heinrich, »und wenn sich das Hofgesinde, wie's da sitzt und mir zuhört, sich dazu versteht, mir noch eine Mohnsemmel verehren zu wollen morgen zum Frühstück, so will ich machen, daß Ihr alle mit einander die ganze Nacht vor lauter süßen [] Träumen in Abrahams Schooße zu liegen glaubt.«
»Das müßte wunderlich zugehen,« sagte der Großknecht. »Ich habe mein Tage von nichts geträumt, als daß mir der schläg'sche Hengst eins versetzte, und daß ich darüber Paradiesesfreuden empfunden hätte, kann ich grade nicht behaupten!«
»Und ich verspreche Dir nochmals, daß Du alle Himmel offen sehen wirst. Zünd't mir zuvor ein paar frische Späne an, denn wenn's so dustert, glaub' ich immer, ich sähe in die Zukunft hinein und hörte es darin von wüstem Unglück rumoren. Davon bin ich just kein Liebhaber. Viel angenehmer ist mir's, ich sehe klar und höre deutlich; da kann man sich schon eher ein Herz fassen und frisch von der Leber weg reden.«
Marie entzündete neue Kienspäne, die Knechte rückten näher zusammen, auch die Mägde, die auf der Ofenbank Platz genommen hatten, horchten mit gespannter Aufmerksamkeit. Heinrich bog sich nun halb über den Tisch und sagte mit gedämpfter Stimme: »Ehe ein Jahr vergeht, sind die Hofedienste abgeschafft!«
[] »Was?« fragten Mehrere zugleich und der Voigt setzte hinzu: »Sein ungewaschenes Maul bringt ihn noch um Vermögen und Freiheit!«
»Den Teufel auch!« fuhr Heinrich auf. »Mit meinem Vermögen, siehst Du, da kann ich mir nicht einmal eine Stube kaufen, so groß, wie diese hier, in der das Geschmeiß die Kammermusikanten abgibt, und was die Freiheit anbelangt, so hat darüber kein anderer Mensch auf Gottes Erdboden zu gebieten, als mein allergnädigster Herr Churfürst!«
»Nun nun,« erwiederte der Voigt, »nur nicht gleich oben hinaus! Man wird doch reden und vermuthen dürfen!«
»Das Gute, ja, das Schlechte, nimmermehr! Ich bin einmal gegen alles Schlechte und da mag und will ich's nicht leiden, daß mir einer ein Wort drein reden soll. Und so sage ich noch einmal: es gibt in Jahr und Tag keine Hofedienste mehr, so der Herr will, und Ihr armen Teufel und hübschen Teufelinnen werdet künftig nicht mehr für fremde Herren, sondern für Euch selbst und ganz allein leben und arbeiten dürfen.«
»Wenn das wahr ist, Maulwurffänger,« [] fiel der Großknecht ein, dem mit der bloßen Aussicht auf ein freier sich gestaltendes Leben der Muth schon wuchs, »so geb' ich Dir ein Gebäck Mohnsemmeln ganz allein, und sollt' ich meinen ganzen Flachs verkaufen!«
»Aber wie ist das gekommen? Wer hat das gemacht und erfunden? Was werden die Herren dazu sagen?« fragten jetzt mehrere Knechte und die Mädchen hörten mit größter Spannung zu.
»Wie's eigentlich gekommen ist, weiß ich selber nicht,« erwiederte, immer mit größter Ruhe, der Maulwurffänger. »Es hat da vor'm Jahre einen großen Lärm gegeben in Paris, wißt Ihr – die Zeitungen und Wochenblätter schrieben auch davon. Das Volk, hab' ich mir sagen lassen, war dort schon sehr lange ärgerlich und unzufrieden mit seinen Herren, die alle Tage herrlich und in Freuden lebten, wie der reiche Mann im Evangelium, während der Arme kaum den trocknen Bissen Brod hatte und die schwere Arbeit obendrein! Nun wißt Ihr oder solltet es doch wissen, daß ein großer Lärm von wegen der grausamen Ungerechtigkeiten losging, die man seit undenklichen Zeiten, grade wie bei uns, über die Armen verhing. Vermuthlich war's ein [] Jahr, wo im Kalender des Himmels den guten Mächten die besondere Pflege der Elenden und Unterdrückten anbefohlen ist, denn der Lärm zu ihren Gunsten griff um sich, wie eine Feuersbrunst bei frischem Winde, und setzte die Herren in solche Bestürzung, daß sie geschwind den Entschluß faßten, sich aller alten und schlechten Rechte zu begeben, um nur nicht ganz zu Grunde gerichtet zu werden! Auf solche Manier, seht Ihr, wurde der Arme ein freier Mensch, Herr seiner Zeit und seiner Hände, und vermuthlich haben die deutschen Herren auch etwas von Aufstand und Niederbrennen munkeln hören und sind deshalb gesonnen, in Zeiten ein Wort zur Güte zu reden.«
»Freiwillig?« fragte der Voigt. »Da werde der Teufel draus klug! Herr sein und die Hofedienste aufheben – thu's und glaub's, wer will – was mich betrifft, ich ließe mich, ehe ich dazu meine Einwilligung gäbe, lieber in Kochstücke zerhacken!«
»Man wird Dich auch nicht fragen,« versetzte Heinrich.
»Und Du sagst, unser Herr Graf habe diesen verrückten Entschluß gebilligt?«
[] »Von Billigung ist dabei nicht die Rede, mein Lieber, hier gilt's, stch gewandt aus der Schlinge ziehen.«
»Wer hat denn den Rumor angezettelt?« fragte der Voigt höchst ärgerlich weiter.
»Kann ich Dir auch nicht sagen. Es schwebt in der Luft, es rumort und spricht sich herum auf allen Haidegütern, und viele deutsche Herren im Braun schweig'schen, geht die Rede, haben's just wie die französischen Herren gemacht.«
»Wenn das wahr werden sollte,« erwiederte der Voigt, »dann sage mir doch, von wem in Zukunft der reiche Gutsherr sein Feld soll bearbeiten, seine Wälder ausholzen, seine Teiche fischen, kurz all die zahllose Arbeit soll verrichten lassen, die großer Besitz unausbleiblich in seinem Gefolge hat?«
»Ohne Zweifel von Menschenhänden, wie bisher,« sagte unbeschreiblich ruhig der Maulwurffänger.
»Na siehst Du,« fuhr der Voigt mitleidig lächelnd fort, »so ist's ja gleich rein unmöglich, daß ein Herr nur daran denken kann, die Hofedienste abschaffen zu wollen.«
[] »Warum nicht? Braucht er Menschenhände, so kaufe er sich dieselben. Erhalte ich, erhältst Du irgend eine Handreichung umsonst? Mußt Du nicht Deine Kleider, Deine Stiefeln bezahlen?«
»Das müssen die Herren auch.«
»Und hebt man Dir einen Graben, rodet man Dir nur einen elenden Strauch aus, ohne einen bestimmten, zuvor ausbedungenen Lohn dafür zu fordern?«
»Nein das thut man nicht, aber das ist auch etwas ganz Anderes!«
»Was Anderes?« fuhr Heinrich auf und seine grauen Augen schienen vor Zorn Funken zu sprühen. »Ich sage Dir, es ist ganz dasselbe nach dem uralten und ewig richtigen Grundsatze: was dem Einen recht, das ist dem Andern billig! Braucht der Herr, weil er viel Besitz hat, viele Hände, so bezahle er sie, und es wird Niemand darüber murren, daß er in dieses oder jenes reichen Herrn Lohne stehe. Es ist aber ein himmelschreiendes Unrecht, von hundert und tausend Armen, die das Glück in keine goldne Wiege mit Perlmutterwalzen gelegt hat, zu verlangen, daß sie zwei Drittheile ihres ganzen [] Lebens unentgeltlich dem Manne zum Opfer bringen sollen, den ihnen der blinde Zufall zum Herrn gegeben, und daß sie dieses furchtbare Opfer auf Kosten ihres eigenen vernunftgemäßen Vortheils bringen sollen! Wer viel besitzt, viel gewinnt, soll viel davon ab- und ausgeben. Das ist Naturgesetz und bringt eine wohlthätige Gleichheit unter die Menschen, die ohnehin zu sehr von einander abhängig gemacht worden sind durch allerhand Wunderlichkeiten, die sich seit Adams Zeiten in der Welt eingenistet haben. Braucht also Jemand viel Arme, so bezahle er diese Arme, verlangt er aber, daß diese Arme für ihn ohne Entgelt arbeiten und sich abmühen sollen, so verdient er, daß man ihm den Kopf zurecht setze, wie's drüben in Paris die Franzosen gemacht haben und noch machen.«
Auf diese lebhafte Entgegnung blieb der Voigt dem Maulwurffänger eine Antwort schuldig, die Knechte, sonst gegen Alles gleichgiltig, was nur irgend wie mit allgemeinen Interessen zusammenhing, rückten dem Sprecher immer näher und bekundeten ihre Theilnahme am sichersten dadurch, daß nach und nach eine Tabakspfeife nach der andern zu qualmen aufhörte.[] Zuletzt rauchte nur Heinrich noch, der nie versäumte, dem verglimmenden Kraut durch frisches Feuer wieder nachzuhelfen.
»Ein Wort, Maulwurffänger,« sprach der Großknecht nach einigem Zögern. »Habt Ihr das unserm gnädigen Herrn in's Gesicht gesagt?«
»Dazu hatte ich keine Zeit,« versetzte Heinrich. »Ueberdies war das auch gar nicht nöthig, da ich ihm genug zugeflüstert habe, um ihn festhalten zu lassen an seinem Beschlusse.«
»Ist's, wie Du sagst,« fiel hier der Voigt wieder ein, »so begreife ich eben so wenig, was aus der Welt, noch was aus den Herren werden soll! Sie müssen gradeswegs zu Grunde gehen, bei meinem Eid!«
Heinrich lachte mit dumpfem Kehllaut. Man konnte nicht leicht errathen, ob aus Schadenfreude oder weil er die Bemerkung des Voigtes lächerlich fand. »Was würdest Du denn machen, he,« sagte er, »wenn nun alle die reichen und mächtigen Grundbesitzer mit sammt ihren alten gemalten Vorfahren und steinernen Wappenschildern so über Nacht verschwänden, als hätte sie die Erde verschlungen oder als wären [] sie in einem Brücherche Moorsumpf. versunken? He, was würdest Du denn machen?«
Der Voigt wußte auch auf diese Frage keine Antwort zu geben. Er schüttelte den Kopf und sah finster vor sich hin.
»Nun ich will Dir auf die Sprünge helfen,« fuhr der Maulwurffänger fort. »Kommt es wirklich dahin, wohin ich wünsche, daß es recht bald kommen möge, so kann zweierlei geschehen. Entweder schlagen die reichen Herren in sich, kriegen, wie vom heiligen Geist erleuchtet, gesunden Menschenverstand und geben ihren Nebenmenschen, was ihnen gehört. Dann werden sie bei einigem Verlust sich ganz wohl befinden und den Dank ihrer Mitbrüder erwerben. Oder sie bleiben verstockt und pochen auf ihre Rechte, die ich in meiner Beschränktheit für Unrecht halte. In diesem Falle wird man ihnen mit Gewalt nehmen, was sie im Guten nicht geben wollen, und da kann's wohl möglich sein, daß Mancher mit sammt seinem Hechelkram von Ritterschwerten und Grafenkronen, ehe er sich's versieht, [] in eine Irre geräth, aus der ihm keine Sonne mehr heimleuchtet.«
»So dumm wird unser gnädiger Herr nicht sein, rechne ich mir,« warf einer der Knechte ein. »Was auch Der und Jener an ihm aussetzen mag, gescheidt ist er wie der Teufel und pfiffig wie ein Advocat!«
»Er wird thun, was die Andern thun,« sagte Heinrich, »und in diesem löblichen Eutschlusse habe ich ihn zu bestärken gesucht. Dafür hat er mich belobt, wie ein Schulmeister seine Jungen, wenn sie 'was gelernt haben, und mir verheißen, Du, mein lieber Voigt, würdest mir die Mandel Maulwürfe, die ich heut auf Seiner Gnaden Feldern abgeknötelt habe, bezahlen. Du kannst sie zuvor nachzählen, sie stecken in meinem Ranzen. Für diese Nacht bitt' ich mir ein Oertel Platz. Stelle. aus, wenn's sein kann, in der Hölle; denn morgen mit dem Frühesten will mir der Herr Graf zu wissen thun, was er von der Sache hält und wie er dabei zu handeln gesonnen ist.«
Wir brechen die Unterhaltung in der Gesindestube[] auf kurze Zeit ab, um denjenigen unserer Leser, die mit den Verhältnissen der Unterthanen zu ihren Herren wenig oder gar nicht vertraut sind, einige Winke darüber zu geben. Zu der Zeit, wo unsere Geschichte spielt, waren noch alle Dorfbewohner ihren verschiedenen Herrschaften frohnpflichtig, eine Last, die mit wenigen Ausnahmen bis in die neuere Zeit sich erhalten hat und erst seit wenigen Jahren ganz aufgehoben worden ist. Alle Landbewohner zerfielen in drei Klassen, in Bauern, Gärtner und Häusler. Das Landeigenthum der Bauern war sehr verschieden, doch kann man annehmen, daß jeder Bauer durchschnittlich wenigstens zu dreißig Dresdner Scheffel Aussaat besaß. Bei Einzelnen mochte sich dieser Besitz verdoppeln, ja verdreifachen. Weit geringer war das Landeigenthum der Gärtner, indeß immer noch groß genug, um darauf Zugvieh zu halten. Der Häusler dagegen hatte über nichts, als über sein kleines Häuschen zu verfügen, dem im günstigsten Falle noch ein kleiner Wiesenplan zu Gebote stand, um eine Ziege darauf grasen zu lassen. Solche Häusler lebten theils von Weberei, theils von Handarbeit und Tagelohn.
[] Jene leibeigenen Bauern nun, von denen wir vorzugsweise sprechen, besaßen zwar Hof und Ackerland als Eigenthum, waren dabei aber doch nicht ihre eigenen Herren, sondern mußten dem Besitzer des Dorfes in allen Dingen zu Willen sein. Um indeß nicht zu hart von der Willkür Einzelner bedrückt zu werden, bestanden gewisse gesetzliche Bestimmungen zwischen Herren und Unterthanen, welche der Herr so gut respectiren mußte, als der Unterthan. Der Letztere war nämlich gebunden, seinem Gebieter jährlich eine gewisse Anzahl Zug- und Handdienste zu leisten. Grade diese waren aber sowohl für Bauer wie für Gärtner und Häusler eine Last, der sie erlagen, die sie nie aufkommen ließ und selbst bei übermenschlicher Anstrengung in schmachvoller Unterwürfigkeit erhielt. Auf dem Schauplatz unserer Erzählung unter den leibeigenen Wenden war z.B. jeder Bauer, der ungefähr für zwanzig Scheffel Kornaussaat Land besaß, gehalten, seinem Herrn wöchentlich sechs Handtage zu leisten oder drei Zugtage mit Pferden und, besaß er diese nicht, mit vier Ochsen. Es blieb ihm also wöchentlich blos ein einziger Tag zu Bestellung seines Feldes, wenn er nicht im [] Stande war, die Handtage in Zugtage verwandeln zu können. Wollte überdies der Zufall oder das Mißgeschick, daß der Herr auf seinen Gütern Brandschaden erlitt, oder daß ein Unwetter seine fahrbaren Wege zerriß oder daß ein Wasserbau nothwendig ward, oder endlich, daß es ihm einfiel, Holz schlagen zu lassen, so mußte der arme geplagte Bauer die Brandstelle räumen und neue Gebäude mit aufführen helfen! Er war außerdem verbunden, die schlechten Wege auszubessern, Steine zu einem nöthigen Wehrbau anzufahren und das geschlagene Holz einzuführen. Alle diese Dienste raubten ihm Zeit, ruinirten ihm Wagen, Geschirr und Vieh, und wenn er ermattet heim kam, trat oft die schlechte Jahreszeit ein und verhinderte ihn an tüchtiger Bestellung seines eigenen Landes. So gerieth er immer tiefer und tiefer in Elend und Armuth, versank unter dem steten Druck in Schmutz und Unwissenheit und ward eine willenlose, stupide Maschine seines launischen, im Ueberfluß schwelgenden Herrn.
Nicht besser hatten es Gärtner und Häusler. Jener mußte drei Vierteljahre hindurch wöchentlich der Herrschaft drei Handtage und [] im vierten wöchentlich zwei leisten, dieser wöchentlich einen Handtag, außerdem noch zwölf Tage als Monatsdienst und während der Aerndtezeit vier Handtage. Hierzu kam noch, daß Söhne und Töchter aller Bauern, Gärtner und Häusler den sogenannten Hofedienst auf dem herrschaftlichen Gute oder Schlosse als Knechte und Mägde abhalten und oft mehrere Jahre unablässig gegen bloße Verköstigung, die schlecht und oft unsauber war, dienen mußten!
Man kann sich demnach vorstellen, wie tief und allgemein der Eindruck war, den Heinrichs Neuigkeiten bei allem Hofgesinde hervorbrachten! Eine neue Welt, die unbekannte Welt der sonnigen Freiheit, lag vor den Augen Aller aufgethan! Wurden die Hofedienste, wie der Maulwurffänger behauptete, abgeschafft, so war das Joch damit abgeworfen, das ursprünglich die Leibeigenschaft erzeugt hatte. Sie wurden frei, wurden ihren Herren gleich durch die Willkür, nach der sie dann über ihr Handeln verfügen konnten. War aber das Gerücht erdichtet, so war damit ein furchtbarer Feuerbrand in die Gemüther aller Leibeigenen geschleudert worden, den keine noch so milde Behandlung mehr auslöschen [] konnte. Die Herrschaft wandelte von Stund' an auf einem glühenden Vulkan, der in jedem Augenblicke bersten und sie zermalmt in die Luft schleudern konnte.
Der Maulwurffänger erkannte dies sehr gut und wußte genau, was er that, ohne sich vor der Hand um die Folgen zu kümmern, die seine Handlungsweise haben konnte und mußte. Der Saame der Unzufriedenheit war ausgestreut, in der Masse aller Leibeigenen fraß der Gedanke um sich, daß sie rechtlos, gegen die heiligen Gebote der Religion unterjocht seien, und dieser Gedanke mußte ein Selbstbewußtsein unter der an sich kräftigen Bevölkerung wecken, von dem sie früher keine Ahnung gehabt hatte. Ihm waren außerdem noch so viele geheime Mißbräuche bekannt, welche viele Herren übten und auf die nur hingedeutet werden durfte, um die Unterdrückten von der Unzufriedenheit zur Erbitterung, von dieser zu einer drohenden Stellung den Herren gegenüber aufzuregen. Der Raub der Wendin durch Magnus gab die erwünschteste Veranlassung, diese Mißbräuche nach und nach, wie es Zeit und Umstände erheischten, aufzudecken. Die bedenklichen Unruhen im Auslande waren [] ein vortrefflicher Anhaltepunkt, den man beliebig benutzen konnte, um den Herren zu drohen. In jedem Falle stand ein Krieg der Unterworfenen gegen die Unterdrücker in naher Aussicht, und diesen durch schmeichelndes Zureden wieder zu beseitigen, hielt Heinrich für unwürdige Feigheit. Wenn überhaupt, konnte nur auf diese Weise uraltes Unrecht aufgehoben und ausgeglichen werden.
Da er gewahrte, welchen Eindruck seine unschuldig und nachlässig hingeworfenen Aeußerungen selbst auf diese ungebildeten Menschen machten, ging er noch einen Schritt weiter, den mißmuthigen Voigt jetzt gar nicht beachtend. Er richtete seine Worte direct an das Gesinde des Edelhofes, das ihm, wie einem Propheten, gläubig zuhörte.
»Ist Euch nichts zu Ohren gekommen,« sprach er, »daß sich Graf Magnus bald verheirathen will? Ich hörte in der Haide davon reden. Auf seines Vaters Schlosse, dem alten Boberstein, lebt ein schönes junges Fräulein, um das er werben soll.«
»Ihr meint gewiß Herta, die Mutter der Armen,« sagte der Großknecht.
[] »Es kann wohl sein, daß sie Herta heißt,« erwiederte der Maulwurffänger. »Ich habe mein Lebtage nicht mit ihr gesprochen. Aber ein Engel an Schönheit ist sie, davon sind meine eigenen Augen Zeuge. Hat das Gerücht Grund, so ist's doch nicht recht, daß der gnädige Herr auch noch mit andern Weibsleuten scherzt!«
»Thut er das?« fragten ein paar von den Mädchen.
»Ich will nicht geradezu behaupten, daß er es thue, der Schein kann trügen, aber ein hübsches Mädchen, das ich kenne, ist bei ihm im Herrenhause.«
»Hier auf dem Hofe?« sagte Marie.
»Es muß doch wohl so sein, sonst hätt' ich sie ja nicht sehen können!«
Hier winkte ihm der Voigt, daß er schweigen solle, und stieß ihn verstohlen mit dem Fuße an. Heinrich aber that, als sehe und fühle er nichts.
»Als ich vorhin bei ihm war,« fuhr er fort, »sah ich ein wendisches Häubchen, in dem ein allerliebstes Gesichtchen steckte, fast noch hübscher, als das Deinige, Marie, und das hat noch keinem schmucken jungen Burschen mißfallen. [] Geweint mußte das blutjunge Ding auch haben, denn sie hatte rothe Augen. Ich möchte doch wissen, warum er das arme liebe Kind bei sich eingesperrt hält.«
»O in dem Punkte,« fiel einer von den Knechten ein, »da hat unser gnädiger Herr gar kein Gewissen! Was ihm gefällt, das nimmt er sich, und hat er sich amusirt, läßt er so ein gutwilliges Geschöpf wieder laufen. Da sieh zu, wo Du ein Unterkommen findest!«
»Wer könnte denn das Mädchen sein?« sagte ein anderer Knecht.
»Ist sie hübscher, als Marie, so ist sie nicht aus der Nähe,« meinte der Großknecht. »Hier herum kenne ich alle Mädchen.«
»Der Tracht nach muß sie irgendwo in der Haide zu Hause sein.«
Bei diesen Worten des Maulwurffängers hörte man einen schrillenden Ton, als ob eine Fensterscheibe zerspränge, und gleich darauf einen lauten, gellenden Hilferuf.
Alle horchten auf und sahen einander bestürzt an. Nur der Voigt senkte die Augen zu Boden und der Maulwurffänger lächelte unheilvoll.
»War das im Hofe?« sagte Marie.
[] »Ich möchte darauf wetten, daß der wunderliche Ton aus dem Herrenhause kam,« sprach Heinrich und stand gelassen auf. »Bleibt nur sitzen, ich werde nachsehen. Kämt Ihr ungerufen, so könnt's Euch Buße tragen, mir thut Blauhut nichts zu Leide!«
Und ungehindert, nicht einmal von dem unschlüssigen Voigt begleitet, verließ der Maulwurffänger die Gesindestube mit ihrer aufgeregten, im Herzen heimlich gegen Magnus erbitterten Gesellschaft.
[] Achtes Kapitel.
Die Flucht.
Erzürnt und niedergeschlagen zugleich über die freche Heuchelei, durch welche Graf Magnus ihr Vertrauen bis zu einem gewissen Grade erschlichen hatte, um seine verbrecherischen Pläne auszuführen, blieb Haideröschen eine Zeit lang am Simse des Kamins lehnen, der ihr bei Abwehr des lüsternen Grafen als Rückhalt gedient hatte. Von der übernatürlichen Anstrengung und der unaussprechlichen Seelenangst, die sie dabei gelitten hatte, gänzlich erschöpft, brach sie jetzt zusammen und glitt mit vorgebeugtem Körper auf den weichen buntfarbigen Teppich nieder, der über den Fußboden des prächtigen Zimmers ausgebreitet war. Ströme von Thränen entstürzten ihren Augen, und obwohl sie in tiefstem Herzen [] Gott dankte, daß er sie aus den Händen ihres Peinigers errettet, konnte sie doch des bittern Schmerzes nicht Meister werden, der sich zugleich ihrer bemächtigte. Wie sollte sie den Verfolgungen des entsetzlichen Grafen begegnen, wenn er seine kaltblütig ausgesprochene Drohung wahr machte? Und mit welchen Gefühlen konnte sie es wagen, unter ihre Gespielinnen zurückzukehren, hatte sie nur eine einzige endlose Nacht unter dem Dache des Verhaßten zugebracht, der sie kurze Zeit mit so meisterhafter Verstellung gekirrt und zutraulich gemacht hatte!
Diese Fragen legte sich die arme Wendin wiederholt vor, ohne in ihrer Angst und Bestürzung eine Antwort darauf zu finden. Sie wußte und ahnte nicht, wer den Grafen abgerufen hatte und daß dieser kecke und entschlossene Eindringling in ihrem Interesse, zu ihrer Rettung auf dem Edelhofe erschienen sei. Der bloße Name des Maulwurffängers würde sie beruhigt und getröstet haben.
In ihrer Rathlosigkeit blieb sie kange auf den Knien liegen, abgebrochene Gebetbrocken mit zitternder Lippe hersagend. Bald faltete sie in wilder Hast die kalten Hände, bald rang sie [] dieselben verzweiflungsvoll über ihrem Haupte und warf sich dann schluchzend mit dem Gesicht auf den Fußboden. Nach und nach aber ward sie ruhiger und sie begann zu überlegen, wie sie sich gegen den Schändlichen waffnen könne, wenn es ihm einfallen sollte, in kurzer Zeit wiederzukommen.
Sie stand auf und untersuchte das Zimmer. Leicht und geräuschlos schlüpfte sie auf den Zehen die Wände entlang und prüfte jeden Falz, jede Buckel der Tapete. Nirgends entdeckte sie eine Thür, die ihrem Druck weichen wollte. Eben so vergebens bemühte sie sich, die Zimmerthür zu öffnen. Sie war und blieb fest verschlossen. Die Schelle zu läuten, nahm sie mit Recht Anstand, da es fast wahrscheinlich war, daß sie in ihrer unsichern Hand mehr als einmal erklingen und dadurch den herrischen Gebieter nur zu schnell wieder herbeirufen würde.
Sie schlich jetzt nach den Fenstern, die hoch und breit waren und von denen das eine bis an den Fußboden herabreichte. Behutsam versuchte sie die Wirbel umzudrehen, die wirklich schon gelinder Kraftanwendung nachgaben. Der Fensterflügel ging wie von selbst auf, so daß Haideröschen [] bequem hindurchschreiten konnte auf einen sehr schmalen Altan, der hier an dem Hause hinlief. Zu beiden Seiten desselben standen ausländische Gewächse in hölzernen Kübeln, die jetzt noch in wärmenden Bast und Leinwand dicht eingeschlagen waren. Unter dem Altan schimmerten die breiten mit rothgelbem Sand bestreuten Gänge eines Gartens unklar durch den schweflig riechenden schwarzgrauen Nebel, der feucht und dick an der Erde lag und Alles mit seinen finstern Schwingen bedeckte. Dennoch bemerkte Haideröschen, daß die Höhe des Fensters unbedeutend sei. Augenblicklich entstand der Gedanke an Flucht in ihrer Seele. Aber sie war unbekannt in der Gegend, sie wußte nicht, wie und ob sie aus dem Garten würde entrinnen können, und wo sollte sie in dieser finstern, naßkalten Märznacht, in diesem grausigen Nebel einen Ort auffinden, der ihr Schutz und Obdach bis zum nächsten Morgen gewähren konnte!
So beschloß sie denn auszuharren, ergeben sich in ihr Schicksal zu fügen und auf Gott zu vertrauen. An ihn wendete sich die fromme Gläubige im Gebet, wie sie es seit ihrer ersten Kindheit [] gewohnt war. Sie bat ihn, daß er sie beschirmen, daß er den Schlaf in dieser Nacht von ihren Augen verscheuchen und ihr klare Besonnenheit und nicht wankenden Muth in der Stunde der Gefahr verleihen möge!
Gestärkt erhob sie sich von ihren Knieen, löschte instinktartig auf den beiden silbernen Armleuchtern drei Kerzen, weil es ihr Verschwendung dünkte, so viele Lichter für eine einzelne Person anzuzünden, die noch dazu vollkommen müßig ging. Unvollständig erleuchtete die vierte Kerze, deren Docht sich in der trüben Flamme krümmte, das einsame Gemach mit den dunkeln Bildern an den Tapeten. Haideröschen schien es oft, als bewegten sich alle Wände, als verdrehten die grimmig blickenden Jäger die Augen und als schlügen sie ihre Gewehre auf sie an. Dann mußte sie sich Gewalt anthun, um nicht laut aufzuschreien, und als ob sie Beruhigung darin fände, preßte sie beide Hände auf ihren fieberhaft klopfenden Busen. So saß sie lange unbeweglich, nur von Zeit zu Zeit schüchterne Blicke nach der Stelle werfend, wo die verborgene Thür sich befand, auf dem weichen, seidenen Divan, mit ihren Gedanken in der Haide [] auf dem Garten des Vaters, dessen Sorgen um sie und ihr Loos die Betrübniß ihres schuldlosen Herzens noch vergrößerten.
Sie saß und zählte die Viertelstunden, welche die Seigerschelle auf dem Herrenhause regelmäßig anschlug. Ueber eine Stunde war lautlos verstrichen, als sie wieder das unheilvolle Rascheln hinter der Tapetenwand vernahm. Sogleich stand sie auf, ergriff den Armleuchter, auf dem sie beide Kerzen ausgelöscht hatte, und stellte sich mit ihm dicht an das bis zur Erde herabreichende Fenster. Kaum hatte Haideröschen hier Posto gefaßt, als die Tapetenwand zurückwich und Graf Magnus mit einiger Schüchternheit und sehr blaß in das Zimmer trat.
Die Gedanken dieses Wüstlings waren durch Heinrichs erdichtete Mittheilungen von Röschen eine Zeitlang ganz abgewendet worden. Der Maulwurffänger hatte ihn mit seinen Neuigkeiten gleichsam überfallen und Magnus sah im ersten Augenblick der Bestürzung, wie alle Menschen, die sich geheimer Schuld bewußt sind, Tage blutigen Aufruhrs, wilder Verheerung in unmittelbarster Nähe. Obwohl er, wie der gesammte Adel, die furchtbaren Ereignisse in Frankreich, [] die eine neue Zeit ansagten, geflissentlich nicht beachtete, waren sie ihm doch genau bekannt. Denn es gebrach ihm keineswegs an Bildung, an Sinn für geschichtliche Ereignisse und an Talent, aus sich selbst ein tüchtiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu bilden, wenn er Lust und Willen dazu gehabt hätte.
Erst nachdem er den Maulwurffänger verabschiedet hatte, drängten sich ihm verschiedene Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Erzählungen dieses Mannes auf. Heinrich konnte ja selbst betrogen worden sein und ihn wieder belogen haben. Denn an die Erdichtung des drohenden Unheils durch den Maulwurffänger dachte er nicht im entferntesten, weil er den umherstreifenden Mann für einen bloßen Schwätzer hielt, der aus purer Selbst- und Gewinnsucht alle Dinge so zu drehen und zu benutzen verstehe, daß sie ihm selbst irgend etwas eintrügen. Leute dieser Art waren nicht selten im Gebirge, und weil sie eigentlich aller Welt Freund waren und Jedermann sie für geringes Entgelt für sich gebrauchen konnte, überall beliebt. Dennoch verdroß es den Grafen, daß er so schnell dem schwatzhaften Manne Gehör gegeben und dadurch das [] kaum in seine Gewalt bekommene Mädchen sich schon wieder hatte entreißen lassen. Freilich baute er im Hintergrunde seiner Seele einen glänzenden verbrecherischen Plan auf, von dem er sich den größten Genuß und eine furchtbare Genugthuung versprach. Er hütete sich aber wohl, diesen abscheulichen Plan irgend Jemand merken zu lassen, denn er hatte bei sich beschlossen, den Großmüthigen, Milden, Bekehrten zu spielen, aber freilich auch nur zu spielen!
Am meisten verdroß es den eitlen Edelmann, daß diese kleine Wendin einen plumpen Bauerburschen ihm unverhohlen vorzog und daß eigentlich nur dies in seinem Auge der Grund ihrer Widerspänstigkeit war. Obwohl er bei seiner Abberufung den festen Willen gehabt hatte, die Wendin um jeden Preis zu gewinnen, stand er jetzt in Folge seiner Unterredung mit dem Maulwurffänger davon ab, und um in Röschens Gemüth die üble Meinung wieder zu verwischen, die sein letztes Auftreten hervorgerufen haben mußte, entschloß er sich nochmals, sie zu sehen, bevor Heinrich Rücksprache mit ihr genommen habe.
»Haideröschen!« sprach er mit sanfter [] Stimme, da er die Wendin bei der einzelnen trüb brennenden Kerze nicht sogleich gewahr wurde. »Wo hast Du Dich denn versteckt und wer heißt Dir die Lichter auslöschen? Sprich, wo bist Du? Ich komme als Freund und gelobe Dir kein Leid zuzufügen!«
Während er nur halblaut flüsternd diese besänftigenden Worte an das Mädchen richtete, trat er vollends in das Gemach und lenkte seine Schritte nach dem Kamin, wo er die Wendin verborgen glaubte. Da er sie hier nicht fand, besorgte er schon, der Maulwurffänger sei ihm zuvorgekommen und habe Röschen mitgenommen. Ein wilder Fluch entglitt seinem Munde, der seltsam gegen die sanften Worte abstach, die er so eben noch geflüstert hatte. Dabei kehrte er sich um und die am schon aufgewirbelten Fenster lehnende Wendin stand vor ihm.
»Kleine Spitzbübin,« sagte er mit freundlichem Lächeln, »Du kannst doch das Necken nicht lassen. Komm näher, mein Täubchen, ich möchte Dich gern um Verzeihung bitten, denn ich sehe ein, daß ich Unrecht habe und Dir unwürdige Zumuthungen machte.«
Haideröschen beharrte in schweigender Regungslosigkeit, [] nur ihre großen Augen schleuderten Blitze der Verachtung auf den Nichtswürdigen, der seine Frechheit so weit trieb, daß er jetzt als Bittender zu erscheinen wagte, wo er vor Kurzem noch die brutalsten Drohungen ausgestoßen hatte.
»Ich will nicht hoffen,« fuhr er fort, der Wendin sich nähernd, »daß Du vor Angst und Furcht in dieser Einsamkeit die Sprache verloren hast. Es ist nicht angenehm, allein in Gesellschaft dieser grotesken Jäger zu sein, und weil ich dies aus Erfahrung weiß und die furchtsame Gemüthsart junger Mädchen kenne, wage ich es nochmals vor Dich zu treten, Dir Abbitte zu thun, wenn Du es wünschest, und Dich unter Menschen zu führen.«
Haideröschen schwieg noch immer, theils aus Verachtung, theils, weil ihr Blut so ungestüm wallte, daß ihr die Sprache versagte.
»Du bist mir immer noch böse, wie ich sehe,« begann Magnus abermals, »es wird mir demnach wohl nichts übrig bleiben, als mich fußfällig vor Dir zu demüthigen und Dich mit einem Handkuß zu versöhnen.«
Der Graf stand nur noch wenige Schritte [] von der Wendin. Als er weiter vordringen wollte, erhob Haideröschen entschlossen den Armleuchter und rief befehlshaberisch: »Wagen Sie nicht näher zu kommen! Es könnte Sie gereuen!«
Magnus stutzte und verschlang das in ihrem Zorn noch schönere Mädchen mit sinnlichen Blicken. Sie hatte etwas von dem trotzigen Stolz und dem fanatischen Heroismus der Judith, wie sie, den linken vollen Arm, von dem sich der am Handgelenk aufgegangene weiße Hemdärmel abgestreift hatte, nach dem Wirbel über ihrem Haupte ausgestreckt, mit der rechten den blank polirten silbernen Leuchter gegen den Grafen drohend erhoben, dastand.
»Wahrhaftig Du bist schön, daß es mir wie eine Versündigung gegen die Schönheit, die wir anbeten sollen, erscheint, Dich nicht zu küssen. Laß Dich also herab, kleine Wilde, und vergib mir im Kusse!«
»Elender!« stammelte Haideröschen, kaum die Lippen öffnend. »Wenn Du es wagst, mich zu berühren, so stoß' ich Dir die Augen mit dem Leuchter aus. Ich will nichts mehr von Dir hören, will Dich nicht sehen! Ehe ich es [] dulde, daß Du mich berührst, werde ich mir lieber den Kopf an der Wand zerbrechen!«
»Immer laß Deinem Zorn freien Lauf, ich werde Dich nicht hindern,« versetzte Magnus mit gehaltener Ruhe. »Sobald Du Dich erschöpft hast und die Ueberzeugung gewinnst, daß ich nur Dein Gutes will, wirst Du auch wieder vernünftig mit mir reden.«
»Verlassen Sie mich!« sagte Haideröschen, ohne ihre Stellung zu verändern.
»Sobald Du mir verziehen und angehört haben wirst, was ich Dir mittheilen will.«
»Wenn Sie nicht auf der Stelle gehen, so gehe ich!«
»Das kann ich nur wünschen, weil Du dann an mir vorüber mußt und ich den Saum Deines Gewandes fürbittend mit meinem Munde berühren kann.«
»Sie irren sich, Herr Graf! Ich werde weder in Ihre Nähe kommen, noch es dulden, daß Sie die meinige suchen.«
»Dann wirst Du lange Deinen Platz behaupten müssen, kleine wendische Heldin.«
»Zwei Minuten noch, nicht länger,« versetzte Haideröschen in finsterer Entschlossenheit.
[] »Ich werde diese Frist gehorsam benutzen, um Dich von meiner Reue zu überzeugen. Du willst nicht zugeben, daß ich Dir näher schreiten soll, gestatte denn, daß ich mich auf meinen Knieen Dir nähere. Die ärgsten Sünder in der katholischen Christenheit nahen sich so der zürnenden Gottheit, die ihnen nach überstandener Kniewallfahrt großmüthig vergibt.«
Und während Magnus noch so sprach, ließ er sich wirklich auf die Knie niedergleiten und näherte sich rutschend dem erzürnten und ihn fürchtenden Mädchen. Schon streckte er die Hände flehend nach ihr aus, indem ein schalkhaftes Lächeln seine interessanten Züge nicht unbedeutend verschönerte. Da hieß ihn Haideröschen nochmals einhalten mit der Drohung, sie werde unfehlbar, wenn er seinen Vorsatz ausführe, entweder ihm oder sich selbst ein Leid zufügen. Magnus achtete nicht auf ihre Befehle. Er war so bezaubert von dem Reiz ihrer entzückenden Schönheit, daß er sie nicht mehr sprechen hörte, daß er nur ihre Hand zu fassen, sie zu umarmen wünschte. Jetzt erhaschte er ihr grobes Gewand und wollte sie zu sich heranziehen, um den Saum desselben zu küssen. Da [] zerbrachen klirrend die großen Fensterscheiben, mit schwerer Wucht flog der silberne Leuchter auf ihn, streifte seine Stirn und verwundete ihn mit scharfer Kante an der Schläfe. Taumelnd stürzte er zurück auf den Teppich. Er sah dunkel, daß die Fensterthür, die Haideröschen ausholend mit dem Leuchter zertrümmert hatte, sich öffnete und gleich darauf die entschlossene Wendin mit einem laut ausgestoßenen Hilferuf im feuchten Nebeldunst verschwand. –
Dieser Hilferuf war es, der den Maulwurffänger in seinem Gespräch mit dem Gesinde des Edelhofes störte und ihn, unglückahnend, in's Frei trieb. Eingedenk der Erlaubniß des Grafen, die Wendin in ihrer Einsamkeit besuchen und trösten zu dürfen, machte er sich jetzt Vorwürfe über seine Saumseligkeit, obwohl er sich gestehen mußte, daß seine Absicht dabei die beste gewesen sei. Er zweifelte keinen Augenblick, daß Haideröschen ein neues Unglück zugestoßen sei, sogar der Verdacht, Graf Magnus möge nicht Wort gehalten haben, stieg in ihm auf.
Mit den Oertlichkeiten vertraut, eilte er schnellen Schrittes über den Hofraum nach dem Portale des Herrenhauses. Durch den niedrig [] ziehenden Nebel sah er den Lichtschimmer aus den Fenstern des gräflichen Wohnzimmers, alle übrigen Fenster in dem geräumigen Gebäude waren jetzt finster. Dies fiel ihm auf, zugleich aber bestärkte es ihn auch in seinem Verdachte.
»Ha,« sprach er zu sich selbst, »der Schelm hat die Lichter ausgelöscht, um desto leichteres Spiel zu haben! Hätte ich nur eine Leuchte mitgenommen! Aber Dank meinem häufigen Hiersein, ich werde auch ohne Licht den Unhold finden und noch zeitig genug an der Gurgel packen! Den Griff des Maulwurffängers soll er sein Lebtage nicht vergessen!«
Die Hausthür war blos angelehnt und drehte sich geräuschlos auf den Angeln. Im Flur brannte keine Lampe mehr, ein Zeichen, daß die Dienerschaft zur Ruhe gegangen war. Heinrich schritt auf den hallenden Fließen nach der Treppe, als er ganz nahe mehrmals nach einander »Hilfe! Hilfe!« wehklagend und laut schreiend rufen hörte.
»Es ist Haideröschens Stimme,« sprach er, »ich kenne diese Nachtigall der Wälder. Aber wie kommt sie hieher? Sollte sie Junker Blauhut in den Gartenpavillon gelockt haben?«
[] Während sich diese Gedanken in seinem Innern kreuzten, lag seine Hand auch schon am Riegel der nach deln Garten führenden Thür und stieß ihn zurück. Mit kräftigem Ruck riß er sie auf, der Wind jagte ihm Nebel und dürres Laub, das sich auf den Sandgängen kräuselte, in's Gesicht und zwang ihn, auf einige Secunden die Augen zu schließen. Dann trat er hinaus auf die breiten Stufen, die in den Garten hinab führten, eilte einige Schritte vorwärts und drehte sich um, seine scharfen luchsartigen Blicke durch den Nebelflor auf die Breitseite des Herrenhauses richtend. Das Zimmer, in dem Haideröschen bisher zugebracht hatte, befand sich fast in der Mitte des Gebäudes und lag grade vor ihm. Der Schimmer der einzigen noch brennenden Kerze drang bis zu ihm herab. Er sah das Flattern der Vorhänge an der offenen Fensterthür und errieth den Zusammenhang.
»Sie muß auf dem Balcon sein,« dachte er und suchte mit verschärfter Aufmerksamkeit an der steinernen Brüstung und hinter den verpackten Stämmen der Oleander und Citronenbäumchen. Am linken Ende schlangen sich an dünnem [] Spalier die zitternden, schlanken Aeste eines Jelängerjelieberstrauchs, oder, wie der Landmann diesen Baum nennt, einer »Rose von Jericho« empor. Dort sah er etwas Weißes schwebend zwischen Himmel und Erde flattern.
Schleunig eilte er darauf zu und erkannte die Wendin, die sich vergeblich anstrengte, aus den sie umrankenden schlangenartigen Aesten des alten Baumes, in denen ein Theil ihrer Kleider hängen geblieben war, sich los zu machen und herabzuspringen.
»Bist Du es, Röschen?« fragte er flüsternd.
Die Wendin hörte ihn. »O rettet mich, rettet mich, wer Ihr auch sein mögt!« gab sie flehentlich zur Antwort. »Die Angst tödtet mich und er wird mich verfolgen!«
»Wo ist der Graf?« fragte Hemrich, am Spalier empor kletternd, die Kleider des Mädchens gewaltsam von dem Geäst losreißend und sie sanft auf die Erde herabhebend.
Haideröschen zitterte wie ein Espenlaub. »Dort! dort!« sagte sie stammelnd, vor Angst und Schauder mit den Zähnen klappernd, und deutete nach den trüb schimmernden Fenstern.
[] »Gott Lob, ich bin ihm entronnen! Aber wer seid Ihr, wackerer Mann?«
»Kennst Du den Maulwurffänger nicht, den Freund der Armen und Nothleidenden?« versetzte Heinrich lächelnd. »Ich komme von Deinem Vater in der Absicht, Dich zu beschützen. Hat Dir der Bube ein Leid angethan?«
»Nein, nein, Gott sei gelobt!« sagte Haideröschen athemlos, ihre Arme vertrauensvoll um den stämmigen Nacken des schlichten Landmannes schlingend. »Die Engel des Himmels haben über mir gewacht und dem Bösen die Hände gebunden. Aber komm, Heinrich, komm, laß uns fliehen, ehe er mir nachsetzt!«
»Das soll er wohl bleiben lassen,« sagte der Maulwurffänger, drohend die Hand gegen die erleuchteten Fenster ballend. »Beruhige Dich, Haideröschen, Du bist jetzt geborgen!«
So sprechend legte er sanft seinen Arm um ihren Oberkörper und führte sie dicht an dem Gebäude hin nach der Hausthür.
»Nicht da hinein, Heinrich!« flehte sie bebend. »Er könnte uns begegnen und seine Knechte rufen.«
»So schlage ich ihm den verruchten Schädel [] ein, wie einem tollen Hunde!« rief Heinrich erbittert. »Komm nur, es giebt hier keinen andern Ausweg.«
Er zog die Zitternde mit sich fort in's Schloß, durchschritt mit ihr die Hausflur und trat in den Hof. Hier vernahm er die verworrenen Stimmen des Gesindes, die den Voigt mit Schmähungen überhäuften. Sie hatten bald nach dem Maulwurffänger die Gesindestube mit dem Voigte verlassen und trugen mehrere Laternen, um bei ihrem Licht zu sehen, was es gebe. Auf sie ging jetzt Heinrich mit seiner Schutzbefohlenen zu. Alle erstaunten, das schöne, bleiche, zitternde Mädchen im Arm des Landmannes vertrauensvoll ruhen zu sehen.
»Voigt,« sagte der Maulwurffänger befehlshaberisch, »öffne das Thor! Ein rechtschaffener Mann verschmäht es, in der Höhle eines Räubers zu übernachten, er will lieber auf offener Haide unter Wölfen obdachlos umherirren. Meinen Quersack, meine Drähte und Bügel wirst Du mir in den Kretscham schicken. Dort werde ich sie mir abholen, wenn ich Zeit und Lust habe. Ausgemacht, sag' ich, oder es nimmt kein gutes Ende!«
[] Die zornigen Blicke des Maulwurffängers, die drohenden Gesichter der Knechte, die murrend umher standen, schüchterten den Voigt ein und ließen ihn den Willen des Landmannes thun. Als die Thorflügel zurückwichen, wendete sich Heinrich nochmals um und sprach:
»Gieb diesen Schlüssel Deinem Herrn und sag' ihm, der Maulwurffänger ließ ihn grüßen. Von jetzt an habe er ihn als seinen Todfeind zu betrachten!«
Dann schritt er mit Haideröschen zum Thore hin aus in die finstere windige Nebelnacht hinein.
Ende des ersten Theils.
Zweiter Theil
Drittes Buch
Erstes Kapitel.
Herta.
Am Fuße der alten Burg Boberstein breitete sich ein Garten aus, der gegen Süden die ganze Ausdehnung der kleinen Insel einnahm und die Ufer des See's berührte. Nach dem abscheulichen Geschmacke damaliger Zeit durchschnitten steife Taxuswände diesen Garten in verschiedener Richtung. Sie waren so vortrefflich unter der Scheere des Gärtners gehalten, daß kaum ein Blatt oder dünnes Zweiglein über die glatte Linie hervorragte. Jetzt standen diese Baumwände entblättert, nur an den Wurzeln der Büsche auf den Rabatten brannten gelbe Crocus gleich Flämmchen aus der braunen Erde und dunkelblaue Veilchen verkündigten durch ihr duftiges Arom. daß sich bald der hellblaue Frühlingshimmel [] wieder über die sehnsüchtige Erde ausspannen werde.
In den sich kreuzenden Gängen dieses Gartens wandelte am »stillen« Sonnabend, der dem Ostertage vorhergeht, leichten Schrittes ein junges schlankes Mädchen. Ein schneeweißes Mußelinkleid floß gleich einer Wolke von glänzendem Lichtstoff um die liebliche Gestalt, die am linken Arm ein zierlich aus Fischbein und gespaltenem Rohr geflochtenes Körbchen trug, dessen Rand und Henkel mit aufbrechenden Feldröschen von künstlicher Arbeit eingefaßt war. Eine Menge kleiner Veilchensträußchen lag kranzförmig geordnet in der mit Rosataffet ausgeschlagenen Höhlung des Körbchens, und in deren Mitte ein Häufchen frischer Bucheckern. Am Busen trug das Mädchen ebenfalls ein Veilchensträußchen, dem noch zwei Crocus beigefügt waren.
Wer die einsam Dahinwandelnde von Ferne erblickte, konnte sie leicht für eine überirdische Erscheinung halten, so schwebend und graziös, wir möchten sagen ätherisch, waren alle ihre Bewegungen. Sie ging stets, selbst bei sehr schlechtem und stürmischem Wetter, in bloßem Kopfe, und ihr schönes und reiches aschfarbenes Haar, das [] sie in zahllosen Locken fessellos trug, umwehte dann häufig ihr von Engelsgüte strahlendes Gesicht gleich weichen Seidenfittichen.
Dieses Mädchen war Herta, deren Name bereits mehrmals in unserer Geschichte genannt worden ist. Auch jetzt, wo sie die Erstlinge des Lenzes gesammelt und mit geschickter Hand und sinnigem Geschmack in zarte Sträußchen gebunden hatte, wühlte der Morgenwind, der scharf und kältend über die Haide fuhr, in ihrem reichen Haarwuchs und verschleierte oft den Glanz ihrer großen rehbraunen Augen. Herta kam von ihrem Morgenspatziergange zurück und ging nach dem Schlosse, dessen graue, mit Moos, Flechten und Epheu überwachsenen alten Mauern mit den vielen zackigen Zinnen und spitzen Schieferthürmen von der Sonne beleuchtet, recht ehrwürdig auf dem schroffen Granitfelsen dalagen.
Die Zimmer in diesem alten Feudalschlosse waren mehrentheils düster und fast immer nur von je zwei Fenstern erhellt, die sich in thurmartigen halbrunden Vorsprüngen befanden. Auch Herta bewohnte eins dieser schmalen, langen, dunkeln und hohen Gemächer, deren uralte Tapeten von gepreßtem Leder, mit breiten Goldleisten verziert, [] diesen Gemächern ein ächt mittelalterliches Ansehen gaben. Selbst die Möbeln erinnerten an längst vergangene Tage. Sie waren steif und massenhaft, dabei aber von großer Dauerhaftigkeit und mit äußerster Sorgfalt gearbeitet. Alle Stuhllehnen zeigten die werthvollsten Holzschnitzereien, und die Ueberzüge von ächtem venetianischen Sammet waren prachtvoll und tadellos.
Herta war zeitig darauf bedacht gewesen, sich ihr Zimmer wohnlich einzurichten, und hatte zu diesem Behufe einen jener erwähnten halbrunden Thurmerker, den sie als Arbeitsplatz benutzte, in eine reizende Epheulaube verwandelt, die sie mit nie ermüdender Geduld pflegte und in der sie wie eine Fee in grünem Blätterdämmer saß.
Als das Mädchen von ihrem Spatziergange im Schloßgarten zurück kam, stellte sie das Körbchen auf ihren Arbeitstisch in der Epheulaube, nahm eine Buchecker und rief: »Hänschen!« Sogleich klirrte ein dünnes Messingkettchen und ihrem Stuhle gegenüber aus einer Höhle dunkler Epheublätter, die eine Oeffnung im Fenster verdeckten, guckte das kleine zierliche Köpfchen eines braunen Eichhörnchens. Lächelnd nahm Herta die Buchecker zwischen ihre frischen schwellenden [] Lippen und näherte sich dem reinlichen Thierchen, das sogleich gewandt an dem Geäst herabkletterte und das beliebte Futter mit großer Geschicklichkeit aus dem Munde des jungen Mädchens nahm. Während sich Herta noch an den gewandten Sprüngen, dem behenden Enthülsen der Eckern und dem komischen Geknusper des muntern Thierchens ergetzte, trat eine Dienerin ein, die jung und hübsch wie ihre Herrin war und überaus saubere Kleider trug.
»Gnädiges Fräulein,« sprach das Mädchen, »es hat schon zweimal ein junger Bauer aus dem nächsten Haidedorfe nach Ihnen gefragt. Erlauben Sie, daß ich ihn einlasse?«
»Warum sollte ich das nicht erlauben?« versetzte Herta heiter und zutraulich, ununterbrochen ihrem Lieblinge neue Bucheckern aus dem Körbchen reichend und die Schalen, die er fallen ließ, behend wieder vom Boden auflesend.
»Ich dachte, es möge sich nicht schicken,« entgegnete das Mädchen, »wenn das gnädige Fräulein mit einem Bauerburschen allein sprechen will.«
»Nun das ist wohl, denk' ich, eine sehr unschuldige Sache,« erwiederte Herta lachend. »Wie oft gehe ich allein durch den dichtesten Wald in [] die Haidedörfer, um die Hütten der Armen und Kranken zu besuchen. Da begegnen mir gar oft recht häßliche Menschen von Ansehen, aber wenn ich ihnen offen in's Auge blicke, da ziehen sie sogleich alle ihre Kappen und Mützen und gehen ihres Weges. Manche bleiben freilich auch stehen und sehen mir nach, aber es hat mir noch niemals irgend Jemand ein unschönes Wort gesagt! Nun siehst Du, Emma, da wird's wohl auch mit dem Bauerburschen nicht gefährlich sein. Bist Du aber durchaus der Meinung, es schicke sich nicht, daß ich allein höre, was er will, so bleibe Du hier, Du kannst ja mit anhören, was ich ihm sage.«
»Er will Sie aber durchaus allein spreehen.«
»Ja, meine gute Emma, da hilft kein Widerstreben. Ich muß ihn entweder anhören oder fortschicken, und da will ich doch lieber das Erstere thun, wenn auch die Schicklichkeit dieses Schlosses einen kleinen Klaps dabei abkriegen sollte. Das kann ihr gar nichts schaden, sie würde nur etwas natürlicher werden. Rufe also in Gottes Namen den Burschen! – Aber wart'! Du bist ja auch eine Blumenfreundin. Da suche Dir eins von diesen Veilchensträußchen aus, die ich[] heut gebunden habe. Nicht wahr, sie sind ganz hühsch und wirklich so zart und duftig, als hätten sie die Elfen gepflückt?«
»Ach Sie sind gar so geschickt!« sagte Emma und nahm mit dankbarem Knicks das kleinste der Sträußchen.
»Nicht doch, mein Kind! Das waren die schlechtesten Ueberreste! Hier, das ist hübsch, das duftet wunderlieblich und, wart', das muß sich an Deiner Brust gar lieblich ausnehmen.«
Und während Herta so plauderte, nahm sie das allerschönste Sträußchen aus dem Körbchen und befestigte es mit eigenen Händen an Emma's Busen. »Sieh, wie das prächtig steht!« rief sie vergnügt aus. »Guck' geschwind 'mal in den Spiegel, damit Du Dich nicht zu verwundern brauchst, wenn Du nächstens ein ganzes Dutzend Liebeserklärungen bekommst. Und nun mach' und bringe mir den Burschen. Ich bin doch neugierig, was der für ein Anliegen an mich hat. Es ist der erste junge Bursche, der mich besucht,« setzte sie mit einem Anflug kecker Laune hinzu, »und wenn's recht ist, so muß er mir Glück bringen. Ich will mich aber auch gleich ein bischen hübsch machen. – So! –«
[] Herta trat vor den Spiegel, warf ein paar ihrer weichen vollen Locken über ihr schelmisches Gesicht und ließ die andern einmal durch heide Hände rollen, daß sie verlängert Nacken und Schultern mit ihrem Glanz verhüllten.
Zögernd verließ Emma das Zimmer, Herta nahm Platz in ihrer Epheulaube und warf dem wieder aus seiner Blätterhöhle klug herausguckenden Eichhörnchen noch ein paar Bucheckern zu.
Mit vielen linkischen Bücklingen und Kratzfüßen trat der Bauerbursche ein, seine niedrige Pelzmütze verlegen in der Hand drehend.
Herta, gegen Jeden, auch den Geringsten, höflich und zuvorkommend, stand auf und erwiederte den befangenen Gruß des Burschen mit einer Verbeugung und der zutraulich an ihn gerichteten Frage: »Wer bist Du, mein Guter und was wünschest Du von mir? Ich höre, daß Du mir allein etwas Wichtiges mittheilen willst.«
»Ach ja, was sehr Wichtiges, gnädiges schönes Fräulein,« versetzte der Bursche, der vor Verlegenheit der vornehmen Dame gegenüber nicht wußte, was er sagen sollte.
»Bist Du etwa arm und hast kranke Aeltern oder kleinere Geschwister, die Du nicht ernähren [] kannst?« fragte Herta weiter, um dem Schüchternen Muth zu machen.
»Ach ja recht sehr arm, gnädiges Fräulein!«
»Dann wünschest Du gewiß, daß ich Dich unterstützen soll? Armer Bursche, ich möchte Dir gern recht viel geben, aber meine kleinen Schätze sind ganz erschöpft. Erst nach dem Feste bin ich wieder im Stande –« und die Freundin der Armen schüttete den Rest kleiner Münzen aus ihrer perlengestrickten Börse in ihre hohle Hand und reichte sie dem Burschen.
»Ach nein, das kann ich nicht annehmen, gnädiges Fräulein,« sagte der Bursche erröthend, da er sah, daß das schöne Mädchen seine Worte in einem Sinne auslegte, den er ihnen nicht hatte geben wollen. »Ich wünschte wohl Ihre Unterstützung, aber das Geld da – o nein – das brauche ich nicht!«
Herta hielt das Häufchen Münze dem Burschen noch immer entgegen. »Ja, mein Guter, Du sagtest doch eben, daß Du sehr arm seist?«
»O das bin ich auch, mein schönstes, allergnädigstes Fräulein, und recht unglücklich dazu! Und wenn sie mich nur anhören wollen und nicht böse werden, wenn ich ungehörige Dinge sage, [] so werden Sie's gleich sehen, wie gar grausam unglücklich ich bin!«
»Armer Junge!« sagte Herta mitleidig. »Nun fasse Dich nur und erzähle, was ich wissen muß dann will ich gern, steht's in meiner Macht, Dir helfen.«
»Ach sehen Sie, mein gutes, gnädiges Fräulein,« fuhr der Bursche, durch Herta's sanfte und theilnehmende Worte aufgemuntert, fort, »ich heiße Clemens, eigentlich Clemens Ehrhold, und bin von drüben her aus dem Gehege, wo mein Vater ein Bauergut hat und sich redlich plagt, um das liebe Brod zu verdienen. Und da hat mein Vater einen Stiefbruder, der ein paar Jahr älter ist und aus der Haide stammt, und der heißt Jan Sloboda, tröst' ihn Gott! Ja und seh'n Sie, gnädiges Fräulein, im Winter da halten wir doch die Spinte, wie Sie wissen werden, damit die jungen Mädchen ihren Flachs aufspinnen, den sie im vergangenen Jahre geärndtet, geröstet, gebrochen und gehechelt haben, und wir Burschen, wir besuchen die Spinnerinnen manchmal, und da machen wir einen Spaß zusammen, so gut arme Leute es können. – Und da war des Sloboda seine Tochter, das [] Haideröschen auch da, weil sie beim Vater die Wirthschaft lernen sollte, Ew. Gnaden – denn mein Vater, o das ist ein Hauptwirth im Gefilde! – Nun sehen Sie, gnädiges Fräulein, Haideröschen ist sehr hübsch, fast so hübsch wie Sie, bitt' um Verzeihung, und auch jung ist sie und wie aus Rosen und Schnee zusammengebosselt. Und da hat sie dem gnädigen Herrn gefallen, aber er gefiel ihr nicht, und weil sie nicht auf seine schönen Worte hörte, da hat er sie entführt vom Todtensteine. Nachher aber ist sie ihm entsprungen mit Hilfe des Maulwurffängers, den Ew. Gnaden gewiß auch kennen, und lebt wieder bei ihrem Vater. Und da hätt' ich nun die grausam große Bitte an Sie, daß Sie das arme Ding zu sich nähmen, damit sie der böse Herr nicht wieder fortschleppen kann; denn sie gehört zu den hiesigen Unterthanen, Ew.Gnaden!«
Aufmerksam, zuweilen lächelnd über den etwas verworrenen und drolligen Vortrag des Burschen, hatte ihn Herta angehört, jetzt versetzte sie: »Das ist ja eine ganze Geschichte und noch dazu eine recht böse Geschichte, mein Guter. [] Eine Entführung! Pfui! Wie heißt denn der Bösewicht?«
»Wir heißen ihn ins Gemein nur Blauhut von wegen seiner Filzkappe, aber eigentlich heißt er Graf Magnus.«
»Wie?« sagte Herta und stand auf, »mein Vetter Magnus hätte eine solche Frevelthat begangen an einem armen schuldlosen Mädchen?«
»Der liebe Gott muß den gnädigen Herrn Grafen wohl auch im Zorn zu des gnädigen Fräulein Vetter gemacht haben,« versetzte Clemens, »aber meine Muhme hat er entführt, obwohl's nicht seine Unterthanin ist!«
»Du bist ihr gewiß recht gut?« sagte Herta, den Burschen schlau ansehend.
»Ach ja, gnädiges Fräulein, ich bin ihr gut, das kann ich wohl sagen und Haideröschen hat auch nichts dawider, und wenn nichts drein kommt und es ist alles auf Pfarre und Hofe wegen der Dispensation in Richtigkeit gebracht, so wollen wir uns auf den Herbst heirathen. Aber nun fürcht' ich, wird der Herr Graf seine Einwilligung dazu nicht geben, wenn das gnädige Fräulein nicht etwa ein gutes Wort bei ihm einlegen und ihm die Sache vorstellen wollte. [] Denn es heißt überall, daß Ew. Gnaden mit dem unbändigen Grafen machen könnten, was Sie wollten.«
»Da schreibt man mir eine Macht zu, die ich leider nicht besitze, guter Clemens,« erwiederte Herta, traurig den Kopf schüttelnd. »Mein Vetter hat einen gar unbeugsamen Willen, den nicht einmal sein eigener Vater immer leiten kann, wie er es wünscht. Indeß glaube ich wohl, daß, stelle ich ihm die Sache in einer glücklichen Stunde recht dringend vor, er Deinem Glück nichts in den Weg legen wird.«
»Ach, Sie sind so gut als schön, gnädiges Fräulein!« fiel Clemens ein, vor Freude einen Blick innigster Dankbarkeit auf das junge Mädchen werfend. »Aber ehe es dahin kommt, wird der Herr Graf Haideröschen wieder abholen und sie zum Dienst zwingen wollen und dann –«
»Nun, Du stockst? Sage grade heraus, was Du meinst!«
»Ja, sehen Ew. Gnaden, wenn er das beabsichtigen sollte, dann fürchte ich, gibt es Mord und Todtschlag. Denn was wendisches Blut in den Adern hat, das wird dann zuschlagen und wahrhaftig, gnädiges Fräulein, Sie [] dürfen mir das nicht übel nehmen, aber ich werde gewiß nicht der Letzte sein!«
»Will's Gott, soll das verhütet werden, guter Clemens,« erwiederte Herta. »Ich zähle mich auch halb und halb mit unter die Wenden, obwohl ich meine guten Aeltern nie gekannt habe, und da verlangt es schon die Stammverwandtschaft, daß ich mich Deiner und Deiner Geliebten annehme. Ich kann es Dir zwar nicht bestimmt versprechen, guter Bursche, daß Haideröschen hier auf dem Schlosse eine Zuflucht finden wird, denn von mir hängt das nicht ab. Ich bin selbst nur Gast, wenn ich auch für das Kind des Hauses gelte. Mein Wort jedoch gilt etwas beim alten Grafen, und diesen werde ich von Deinem Anliegen in Kenntniß setzen. Komm morgen um diese Zeit wieder und hole Dir Antwort. Adieu, auf Wiedersehen!«
Herta reichte dem Burschen ihre kleine weiße Hand, die Clemens schüchtern und voll Ehrfurcht küßte. Als er sich mit vielen Kratzfüßen wieder entfernen wollte, rief ihn Herta nochmals zurück.
»Sage mir doch, Clemens,« sprach sie, »ob Du Haideröschen heut noch siehst?«
»Ei Jeses, freilich!« erwiederte der Bursche. [] »Ich werde nicht schlecht laufen, wenn ich nur erst über das breite Wasser da unten bin. Die Wege durch die Haide kenne ich, aus Wurzeln, Dornen und Disteln mache ich mir nichts, und wenn ich durch Dick und Dünn immer grad' aus wie ein herrschaftliches Kutschpferd renne, da ermach' ich's in knappen zwei Stunden. Hussah, das liebe kleine Ding wird nicht schlecht springen, wenn sie hört, daß Ew. Gnaden so liebreich mit mir gesprochen haben!«
»Haideröschen klingt so zartsinnig,« versetzte Herta, »daß ich mir einbilde, Deine Geliebte müsse eine Freundin zarter und duftiger Blumen sein. Grüße sie denn von mir als eine Schwester und bringe ihr dies Veilchensträußchen. Ich habe die lieben Blümchen selbst gepflückt und gebunden, denn ich habe sie gar zu gern.«
»Ach, gnädiges Fräulein, so viel Güte!« sagte Clemens, vor Staunen über so ungewohnte Herablassung ganz versteinert.
»Laß das und geh' jetzt! Morgen früh vergiß nicht, Dir Antwort zu holen.«
Clemens ging, Herta aber sprang vergnügt ein paar Mal in die Höhe, schlug jubelnd die kleinen Händchen zusammen und sprach dann, [] mit glücklichem Lächeln in den schönen Augen, den Kopf em wenig niederwärts beugend und langsam das Zimmer auf-und abgehend: »Das ist heut der zweite Mensch, den ich durch eine unbedeutende Kleinigkeit glücklich gemacht habe. Erst freute sich Emma, weil ich sie eigenhändig schmückte und ihre Reize pries, und nun jubelt dieser gute, ehrliche Bursche über ein paar werthlose Blümchen, die ich ihm absichtslos reiche. Gewiß theilt Haideröschen seine Freude und hebt die Blümchen auf wie einen theuer erkauften Schatz. – Ach wie süß und angenehm ist es, wohlzuthun, Freuden und Segen überall auszustreuen, ohne damit zu prahlen! Ich möchte wohl die Wunderkräfte besitzen, von denen uns alte Mährchen erzählen. Dann erhöbe ich mich des Nachts von meinem Lager, verwandelte mich in eine Taube, einen Schmetterling oder in was es mir gerade beliebte, und flöge auf den Strahlen des Mondes und der Sterne überall hin, wo Armuth, Kummer, Elend und Schmerz nach Rettung, Trost und Heilung seufzen. Müßte das ein seliges Leben sein!«
Herta blieb stehen und richtete ihr nur mit feinem blassrothen Duft überhauchtes Gesicht [] empor, die großen braunen Augen ernst auf den blauen Damm der Haide heftend, den man in meilenweiter Ausdehnung aus dem Fenster übersehen konnte. Ein paar kleine Wölkchen wurden zwischen den Augenbrauen über ihrer feinen, ganz wenig gebogenen Nase, sichtbar.
»Magnus!« fuhr sie nachdenklich fort und an dem Zittern des durchsichtigen feinen Stoffes über dem Busen sah man, daß ihr Herz heftiger schlug. »Wie oft, wenn er hier war, hat er mir betheuert, daß er nur mich liebe, daß ich allein ihn glücklich machen könne und daß er elend würde, wenn ich auf meiner Weigerung bestände. Ich traute seinen Versicherungen und Schwüren nie, denn es liegt eine Wolke in seinen schwarzen Augen, die verderbliche Blitze birgt. Er ist ein schöner, ein interessanter, ein gebildeter Mann, und doch kann ich ihn nicht lieben, nicht einmal gern um mich dulden. – Es ging mir von jeher, wie es diesem wendischen Mädchen jetzt geht. Armes Kind! – Sie schützt kein mächtiger zürnender Vater, sie gehört sich nicht einmal selbst! Er kann und wird sie zermalmen, wenn er es vermag, denn Verzeihung, glaub' ich, ist dem Herzen dieses unbändigen, [] heuchlerischen Menschen unbekannt. – Eben darum muß ich ihr die Hand reichen, muß ich sie retten, und es wird mir gelingen, wenn ich meinem gütigen Beschützer den Vorfall mit einiger Ausführlichkeit mittheile.«
Nachdem Herta in solcher Weise für Haideröschen in die Schranken zu treten fest bei sich beschlossen hatte, ging sie wieder in ihre dämmernde Epheulaube, durch welche jetzt ein paar schräge Sonnenstrahlen fielen. Hier nahm das junge Mädchen eine feine Perlenstickerei in die Hand, schlug ein sauber gebundenes Buch auf und legte es vor sich auf ein Lesepult. Die Hände fleißig rührend, warf sie häufige Blicke in das Buch, dessen Inhalt sie zwar langsam, aber mit desto mehr Nachdenken durchlas. Nicht selten nahm sie auch einen Silberstift zur Hand und unterstrich einzelne Zeilen, die ihr vorzugsweise gefielen.
Dieses Buch war der eben erschienene Don Karlos von Schiller, der sich bereits bis in dies abgelegene Schloß der Haide verirrt hatte. Herta liebte diese eine neue Religion, eine neue Weltordnung predigende Dichtung mit aller Gluth und Begeisterung eines für das ewige Recht, für Menschenwürde [] und Freiheit schwärmenden Herzens, und je häufiger sie täglich sehen mußte, wie wenig Hoffnung vorhanden war, die Ideale zu verwirklichen, an denen der Dichter in seinen heiligen Träumen hing, desto mehr vertiefte sie sich in die berauschenden Worte, in die hinreichende Gedankenfülle der Dichtung und gelobte sich in der Unschuld ihres Herzens, das Ihrige mit beizutragen, um der Menschheit jenes allgemeine Recht, jene ächte und wahre Freiheit mit erringen zu helfen, die Marquis Posa von Don Philipp fordert. –
[] Zweites Kapitel.
Am Theetisch.
Wenn Herta ihrem reichen Verwandten ein Anliegen von Wichtigkeit vorzutragen hatte, verschob sie dies immer bis zum Abend. Die Theestunde war die günstigste Zeit für dergleichen Eröffnungen. Dann hatte Graf Erasmus, obwohl immer mild, zuvorkommend und billigen Wünschen geneigt, seine rosenfarbigste Laune. Er hörte dann häufig blos mit seinem menschenfreundlichen Herzen und schob die kalte verständige Ueberlegung sanft bei Seite. Um diese Zeit hatte er dem jungen Mädchen, das er zärtlich liebte, noch nie etwas abgeschlagen, und deshalb sparte sie die Mittheilung ihrer Neuigkeit bis zu dieser glückverheißenden Stunde auf. Ein herrschsüchtiges, intriguantes und politisch kluges [] Mädchen würde an Herta's Stelle diese Macht schlau benutzt haben, um den alternden Grafen sich unterthänig zu machen. Herta dachte nicht daran. Sie war zu ehrlich, um von den guten Schwächen Anderer Vortheil zu ziehen, und außerdem auch zu sehr von Dankbarkeit gegen das gräfliche Haus durchdrungen, als daß sie irgend etwas gegen dasselbe hätte unternehmen mögen, das sie vor ihrem Gewissen nicht unbedingt gut heißen konnte. Sie wußte, daß sie zur Familie des Grafen gehöre, allein ihre Armuth und der edle Schutz, den ihr Erasmus anfangs in einer Pension, später in seinem eigenen Schlosse gewährt hatte, machten sie bescheiden. Sie war eine Waise gewesen von Jugend auf, hatte weder Vater noch Mutter gekannt und wußte nur, daß die Letztere eine Schwester von Erasmus gewesen sei. Mehr hatte sie von ihren Aeltern nicht erfahren, und den Grafen, ihren gütigen Oheim, wagte sie nicht zu fragen, weil er ihr mit mildem Ernst bestimmt erklärt hatte, daß ihr mehr zu wissen jetzt nicht fromme, daß sie aber vollkommenere Kunde über ihre verstorbenen Aeltern erhalten solle, sobald sie verheirathet sein werde. In einsamen Stunden, wenn sie dieser [] Rede gedachte, ertappte sich die liebe Unschuld wohl zuweilen auf dem Wunsche, daß diese Zeit nicht mehr fern sein möge, und dann erröthete ihr feines Gesicht und das Herz klopfte ihr vor Neugier und verschämter Sehnsucht. Manchmal aber konnte sie auch recht schwere Seufzer nicht unterdrücken, denn es bangte ihr, daß sie von denen, die sie in anbetender Liebe still verehrte, gewiß recht viel Trauriges, wo nicht gar Entsetzliches erfahren werde.
Graf Erasmus litt am Podagra. Zu seiner Bequemlichkeit ward daher der Thee in seinem Zimmer servirt. Dies war ein hohes, dunkles, alterthümliches Gemach, feudalistisch grau, wie das ganze Schloß, und mit gemalten Tapeten ausgeschlagen, die idyllische Schäferscenen darstellten. Es hatte, wie Herta's Wohnzimmer, nur zwei mehr hohe als breite Bogenfenster. Möbeln von hohem Alter und neuerer Erfindung standen in bunter Mischung umher. Neben dem großen Kamin, dessen Flamme nicht, wie heut zu Tage, mit Steinkohlen, sondern mit Holzkloben genährt wurde, erhob sich noch ein hoher und breiter Ofen von sehr veralteter Fassung. Sein Inneres konnte bequem eine Viertelklafter [] Holz fassen. Er bestand aus dunkelgrünen Kacheln in Wolkenform, aus denen geflügelte Engelsköpfchen sahen. Um stets eine gleichmäßige Temperatur im Zimmer zu erhalten, ließ Graf Erasmus Kamin und Ofen zugleich heizen, schob dann zwischen heide seinen bequemen Lehnstuhl, legte die schmerzenden Füße auf weiche Polster und brachte so, namentlich die Abendstunden, in ruhiger Behaglichkeit unter Gesprächen mit den Seinigen zu.
Erasmus war ein Mann von einigen sechzig Jahren, mit edlen, vornehmen Zügen. Die Zeit, der er angehörte, und die Gewohnheiten, mit denen er von Jugend auf vertraut geworden, hatten ihn zu einem entschiedenen Aristokraten im bessern Sinne des Wortes erzogen. Er hielt den Adel für eine Menschenrace, die himmelweit verschieden sei von dem gemeinen Volk. Daß beide, Kinder des Adels wie des Volkes, gleiche Anlagen, gleiche geistige Befähigung und deshalb gleiche Rechte hätten, das bestritt er aufs Heftigste, und wer ihn sich gewinnen wollte, durfte diesen Punct nicht berühren. Es ging sogar die Sage, daß er in seiner Jugend mehr als einmal in Folge dieser Ansicht unbillige [] Handlungen verübt habe. Dabei aber ließ er dem Volke, worunter er immer Unterthanen verstand, insofern Gerechtigkeit wiederfahren, als er zugab, daß es zu sehr vielen Dingen nützlich sei, daß man es pflegen, schonen und mit Liebe behandeln müsse, weil sonst kein Staat bestehen könne und alle Herrschaft aufhöre. Nach diesen Grundsätzen behandelte Erasmus seine eigenen Unterthanen, die ihn deshalb liebten und ehrten.
Die Bildung des Grafen war eine durchaus französische. Er hatte mehrere Jahre in Paris gelebt und dort die Gesinnungen der vornehmen Welt sich zu eigen gemacht, wie sie unter der lockern, entsittlichenden Regierung Ludwigs XV. sich ausbildeten.
Dies könnte unserm Schützling in den Augen der Leser nicht eben sehr zur Empfehlung dienen, hätten wir nicht hinzuzufügen, daß Graf Erasmus nur die geschmeidige Feinheit im Umgangstone, das sarkastisch-witzige Element bei geistiger Unterhaltung, die frivole, aber aufrüttelnde französische Philosophie damaliger Zeit, mit einem Worte das feine Arom der französischen Bildung mit all seinen Mängeln sich zugeeignet, [] das Frech-Unsittliche aber, das gleißnerisch anlockend mit diesem geistigen Rausche sich verschwisterte, als strenger Deutscher von jeher verachtet hatte. So kam er als vollendeter Weltmann aus Paris zurück, der eleganten Formen mächtig, aber im Innern voll fester und ehrenwerther Grundsätze. Der Anblick der kokettirenden Lasterhaftigkeit, womit der französische Adel prunkte, hatte ihn zurückgeschreckt und zu der Ueberzeugung hingetrieben, daß bei solchem Leben in kurzer Frist das ganze Reich bedroht und in seinen Grundfesten erschüttert werden müsse.
Weil Erasmus im Spiegel des Schlechten das Gute erkannt hatte, gab er sich Mühe, auf seiner Herrschaft danach zu streben. Er verbesserte, so weit es sich mit seinen Ansichten vertrug, die Lage seiner Unterthanen. Er sah darauf, daß seine Vögte Menschen von gutem Herzen waren, die seine Leibeigenen nicht unnöthig quälten. Hatte Jemand ein Anliegen, so hörte ihn der Graf ruhig an und half, wo er konnte oder Hilfe nöthig erachtete. Er verringerte sogar aus eigenem Antriebe die Zahl der Hofetage, um durch größere Freigebung der Bauern [] eine Verbesserung seines Besitzthumes zu erzielen. Und Erasmus hatte nicht falsch gerechnet. Die Unterthanen hingen ihm an, thaten ihm manche Handleistung freiwillig, wurden wohlhabender, hielten bessere Aerndten und konnten ihm in Folge derselben auch die Abgaben pünktlicher zahlen.
Ganz auders dachte seine Gemahlin Utta, aus einem stolzen hannöverschen Adelsgeschlecht. Sie war, was Eleganz, Form, äußern Bildungsfirniß anlangt, vollkommen das Ebenbild von Erasmus, aber sie verachtete, ja haßte sogar den gemeinen Mann. War sie genöthigt, mit irgend Jemand aus dem Volke zu sprechen, so wehte sie sich immer mit ihrem Fächer Luft zu, damit der unedle Athem des armen Proletariers ihre hochgräfliche exclusive Nase nicht mit seinem ungebildeten Duft entweihe. Sogar in Gegenwart ihrer Dienstboten hatte sie diese noble Passion beibehalten, obwohl sie jeden Diener ein wahres Purgatorium durchmachen ließ, ehe sie ihn würdig fand, ihr zu nahen. Gräfin Utta würde es jedenfalls vermieden haben, sich mit Leuten aus dem Volke zu umgeben, hätte es sich nur schicken wollen, Adelige zu so erniedrigenden [] Diensten zu gebrauchen. Daher bedauerte sie auch häufig die unvollkommene Einrichtung der Welt, die nicht eine eigene Dienerkaste hatte erfinden und begründen können, welche zwischen dem rohen Haufen und dem adlig Gebornen mitten inne stehe, diesem allein aber seine unbefleckte Hand zu dienender Huldigung darreiche.
Diese Frau, eine kühle, hohe Schönheit, deren Spuren selbst das Alter der Matrone noch nicht gänzlich verwischen konnte, war Magnus Mutter. Unter ihrer Aufsicht wurde der stolze, trotzige, begabte Knabe erzogen. Ihm lehrte sie täglich den Katechismus der unverfälschten Aristokratie, fragte ihm denselben ab und überschüttete ihn mit Liebkosungen, wenn er gut bestand. Erasmus billigte eine solche Kindererziehung zwar nicht, er hatte aber auch nicht hinreichende Zeit und noch weniger Geduld, ihr entschieden entgegen zu treten. So begnügte er sich mit spöttischem Lächeln und gelegentlichen Bemerkungen, die jedoch Gräfin Utta unbeachtet an sich vorüberrauschen ließ. Konnte man da verlangen, daß Magnus mit seinem angebornen Sinn zum Herrschen, mit seiner heftigen Sinnlichkeit, mit dem sorgsam gepflegten Hange, den unbeschränkten Tyrannen zu spielen, [] ein Anderer werden sollte, als wie wir ihn bereits kennen gelernt haben? Immer fand er eine bereitwillige Fürsprecherin in seiner Mutter, wenn er als Knabe die Herrscherwillkür zu weit getrieben hatte und deshalb Klagen bei seinem Vater einliefen. Ein Verweis, bald mehr bald minder streng, war die einzige Art der Bestrafung, die Magnus kennen lernte. Diesen nahm er mit der von seinem Vater streng geforderten Ergebung hin, um sich unmittelbar darauf von der zärtlichen Mutter seiner Selbstbeherrschung und anmuthigen Sitte wegen loben und in seinen Thorheiten bestärken zu hören.
Nach Entwerfung dieser Silhouetten bitten wir den Leser, uns in das Zimmer des Grafen Erasmus zu begleiten. Der Graf saß in seinem auf Rollen ruhenden Lehnstuhle zwischen Kamin und Ofen. Ein mit Zobelpelz verbrämter Schlafrock von feinstem Stoff umhüllte ihn. Den edel geformten, wohl frisirten Kopf hatte er auf die rechte Hand gestützt. So hörte er mit feinem Lächeln einem Gespräche seiner Gattin zu, das diese in dem Augenblick abbrach, wo Herta mit dem Bedienten eintrat, der ein Theeservice von kostbarem[] meißener Porzellan in chinesischem Geschmack trug.
Das junge Mädchen grüßte Oheim und Tante mit schalkhafter Vertraulichkeit und machte sich sodann, auf der Seite des Kamins Platz nehmend, mit Einschenken des Thee's zu schaffen, dessen Bereitung die Gräfin ihr stets überließ. Seltsamerweise liebte die schroffe Aristokratin ihre Nichte über alle Maßen, obwohl sie mit ziemlicher Bestimmtheit wußte, daß Herta ganz andern Ideen nachhing als sie. Die unverkennbare Herzensgüte des jungen Mädchens, verbunden mit dankbarer Hingabe an ihr Haus, und die natürliche schwebende Grazie, die das junge Geschöpf mit weit mehr Reiz umgab als die kunst- und erziehungsgerechteste Tournüre je um sich verbreitet, gewann der schönen Nichte ihr Herz und ließ sie kleine Flecken, die sonst in ihrem Auge entstellenden Fehlern, ja verachtungswürdigen Verbrechen geglichen haben würden, übersehen.
»Nun, meine Liebe,« sprach Erasmus, als ihm Herta die erste Tasse Thee mit freundlichem Lächeln reichte, »worüber hast Du heut so lange nachgedacht, daß der reine Himmel Deiner Stirn mit leichten Wolken umschleiert ist?«
[] Herta schlug hastig die tiefen großen Augen auf und ein sanftes Roth überrieselte ihre Wangen.
»Bin ich so ernst?« fragte sie schüchtern.
»Nachdenkend, mit Wünschen und Ideen Dich tragend, wie ich es gern habe, doch wär' es mir noch lieber, wenn ich Dich immer frei und froh erblickte. Deine Jugend will ich nicht von dem kleinsten Schatten getrübt wissen.«
»Da mußt Du die Sonne auslöschen,« versetzte Herta schalkhaft, »denn das liebe warme Himmelslicht hat mir schon manchen Schatten in mein Zimmer geschickt und mich gar arg verfinstert.«
Erasmus schlürfte bedächtig den Thee und ließ dabei mehrmals sein Auge auf dem Mädchen ruhen, das darüber beunruhigt niederblickte. »Deine scherzhafte Antwort kann mich doch nicht täuschen,« sagte er nach einigem Zögern. »Du bist nicht meine klare, seelenstille Herta, Du bist aufgeregt.«
»Ach ja, das bin ich auch, Onkel, aber von weiter nichts, als der Lectüre.«
»Was lasest Du?« fragte schneidend scharf die Gräfin.
»Ein deutsches Buch,« erwiederte kaum halblaut das junge Mädchen.
[] »Herta,« versetzte die Gräfin ruhig, aber in befehlendem Tone, »ich habe Dich schon so häufig ermahnt, diese rohe, unzarte und alle ächte Bildung zerstörende Lectüre aufzugeben, aber es scheint nicht, daß meine mütterlichen Warnungen etwas bei Dir fruchten. Wie hab' ich solchen Undank verdient? Fehlt es Dir etwa an bildender Unterhaltung? Die gesammte Bibliothek steht Dir zu Gebote, Du brauchst mir Deine Wünsche nur zu nennen. Altes und Neues ist reichlich vorhanden, alle Schriften der geistreichsten französischen Autoren, denen gebildete Geister allein Geschmack abgewinnen können und dürfen, öffnen sich Dir. Warum also diese Abweichung vom Wege der Pflicht und guten Sitte? Warum diese abscheuliche Vorliebe für unsere neuesten plumpen deutschen Schriftsteller, denen ich kaum diesen Namen zugestehen möchte? Es ist nicht einer darunter, der wahrhafte Lebensart besitzt. Sie lieben alle den Verkehr mit dem Pöbel und incanaillisiren sich durch so entwürdigenden Umgang. Ja habe ich doch sogar von einer Freundin hören müssen, daß mehrere dieser Menschen, von denen der ungebildete Haufe jetzt so großes Geschrei macht, sich zuweilen betrinken! Fi donc! Sich [] betrinken, wie unsere wendischen Holzbauern! – Das allein verdirbt mir allen Geschmack, macht, daß ich jedem Buche so roher Menschen den Zutritt in mein reines Zimmer verwehre, und enthielte es selbst entzückende Dinge. Nur der Mann der Gesellschaft, der feinen Lebensart kann Werke schreiben, die uns fesseln und gefallen! – Was lasest Du?«
Herta warf einen fragenden Blick auf den Grafen, der mit stillem Lächeln dieser Strafrede seiner Gattin zugehört hatte. Erasmus verstand seinen Liebling und sagte mit leichtem Augenblinken, das Herta Unterstützung verhieß: »Ja, Liebe, das möchte ich auch wissen.«
Das Mädchen senkte wieder die Blicke, und während sie Wasser in die Theekanne goß, was eigentlich ein Eingriff in die Rechte der Gräfin war, erwiederte sie: »Es war das neue Trauerspiel von Schiller, von dem die Zeitungen so viel sprachen. Don Karlos, Infant von Spanien hat es der Dichter genannt.«
»Von Schiller?« fiel die Gräfin ein. »Ist das nicht der aufrührerische Taugenichts, der heimlich seinem gnädigen Herrn entlaufen ist und das abscheuliche, schwülstige, der lästerlichsten Gedanken [] volle Buch ›Die Räuber‹ geschrieben hat? Ein sauberer Mensch, dieser Schiller! Die Polizei sollte auf ihn fahnden und ihn in lebenslänglichen Arrest bringen, um alle Unschuldigen vor seiner Verführung zu schützen. Hat er es ja doch schon so weit gebracht mit seinen hochverrätherischen und aufrührerischen Schriften, daß die Schuljugend zusammengelaufen ist und seine höllischen Phantasien auf's wirkliche Leben hat anwenden wollen. Grade dieser Mensch ist mir unter allen deutschen Autoren der verächtlichste, der boshafteste, und der Haß aller Gutgesinnten wird ihn verfolgen. Und dieser Mensch wagt es, seine unsaubern plebejischen Hände zu einem Infanten von Spanien, zu einem Königssohn zu erheben!«
Es war dies ein Thema, bei welchem die Gräfin immer sehr beredt wurde und nicht selten in etwas unaristokratischen Zorn gerieth. Wenn Erasmus einen Ausbruch dieser Art bemerkte, fing er an zu husten, was ein sicheres Zeichen seiner Unzufriedenheit war. Dann mäßigte sich seine Gemahlin, weil sie es für entschieden roh hielt, auch nur die Ahnung an einen Streit mit ihrem Gatten in Andern aufkommen zu lassen. Auch jetzt hustete Erasmus, da er sah, daß Herta von den Worten [] ihrer Pflegemutter in tiefstem Herzen verwundet wurde. Utta brach ihre Rede sogleich ab und reichte dem Grafen einen Teller fein geschnittener Brödchen, als wolle sie ihm den Mund damit stopfen.
Erasmus dankte verbindlich, drehte spielend seine goldene Tabatière zwischen dem Daumen und Zeigefinger der linken Hand und sprach zu Herta:
»Theile ich auch nicht vollkommen die Entrüstung meiner Frau über Deine Lectüre, mein gutes Kind, so gestehe ich doch, daß ich ebenfalls keinen Gefallen an Deiner sonderbaren Wahl finde. Ich gebe zu, daß die neueren deutschen Poeten gebildeter, feiner und geistreicher sind, als ihre Vorgänger, allein Geschmack, jener unbeschreibliche Duft, der uns aus jedem französischen Geistesproduct entgegenweht, dieser fehlt ihnen noch gänzlich. Sie wollen durch Kraft und Ungeheuerlichkeit die mangelnde Eleganz der Form ersetzen, welche einzig und allein nur dem Witz und freien Spiel des Geistes erreichbar ist. Sie besitzen mit einem Worte keinen Esprit. Auch werden sie es nie dazu bringen, weil unsere Sprache zu schwerfällig ist und sich nie die leichte Geschmeidigkeit [] der französischen Sprache aneignen kann. Doch billige ich es, daß man auf diese Bewegungen in der deutschen Literatur achtet und Theil daran nimmt, soweit es sich mit guter Gesellschaft verträgt. Nur sei man vorsichtig dabei! Man wisse zu sondern und lasse sich nicht von Leidenschaft und Vorurtheil leiten! Wir haben bereits recht geschmackvolle und feinsinnige deutsche Schriftsteller, mit deren Werken ich mich selbst einigermaßen beschäftigt habe. Wieland, Herder, Goethe haben recht liebe Sachen geschrieben. Einige ihrer Schriften würde ich Dir, wenn Du deutsche Bücher so sehr liebst, empfehlen. Allein gegen diesen Schiller habe ich meine Bedenken! Er ist ein entschiedener Revolutionär, gefahrvoll für die Jugend, gefahrvoll für das ungebildete Volk! Er redet Ideen das Wort, die, griffen sie Platz im Leben, unsere ganze Existenz bedrohten. Namentlich richtet er seine, ich gebe es zu, furchtbaren Schwerthiebe gegen die höchsten Stände und schon deshalb müssen wir ihn ignoriren. Ignoriren ist eine höchst empfindliche Strafe, die mehr wirkt, als Lärm! – Dies meine Meinung, liebes Herzchen, und nun sage mir, weshalb Du von der Lectüre so nachdenkend gestimmt worden bist?«
[] »Erlasse mir dies, guter Onkel,« versetzte Herta. »Ich müßte die herrlichen Worte, die königlichen Gedanken, welche alle Menschen, ja die ganze Welt mit gleicher Liebe umfassen, auswendig wissen, wenn ich Dir ein nur schwaches Bild von dem Gemälde entwerfen wollte, das jeden Guten entzücken muß. Nein, Oheim, lies es selbst das Buch! Lies es ohne Vorurtheil, in völlig reiner Geistesstimmung, und dann sage mir unumwunden, was Du davon hältst. Verurtheilst Du meinen Schützling, so verspreche ich Dir, meine Hand von ihm abzuziehen.«
»Brav, mein Mädchen!« sagte Erasmus, zog die schlanke Gestalt an sich und küßte sie auf die im Feuer der Begeisterung leuchtende Wange. »Du hast Recht, man muß prüfen, ehe man urtheilt oder gar verdammt.«
»Aber sage mir doch, kleiner Schalk,« warf die Gräfin ein, gewaltsam ihren Verdruß über die Milde und Nachgibigkeit ihres Gemahls niederkämpfend, »wie bist Du denn zu diesen aufregenden Büchern gekommen?«
Herta preßte feurig die Hand der Tante an ihre schwellenden Lippen. »Nicht zürnen, beste Tante!« sagte sie, so hold bittend, mit so engelsanftem [] Blick der großen schönen Augen, daß Weigerung nicht möglich war. Die Gräfin gewährte die Bitte durch gnädiges Kopfnicken.
»Also,« fuhr Herta munter und treuherzig fort, »so hört mich denn! Einige Meilen von hier gegen die Berge hin wohnt ein wunderlicher, aber herzensguter Mann, der sich durch Unterricht der Dorfkinder kümmerlich genug sein Brod erwirbt. Er ist Schulmeister und heißt Gregor. Wenigstens kennt ihn Groß und Klein unter diesem Namen. Ich halte den guten Mann nicht eben für sehr gelehrt, dazu ist er zu steif und unbeweglich, auch mag er wohl nicht viel Zeit zum Studiren übrig behalten, aber für Besorgung des geringsten Auftrages, den man ihm gibt, läßt sich Keiner bereitwilliger finden.«
»Bauernschulmeister!« bemerkte hier die Gräfin und wehte sich mit dem aufgeschlagenen Fächer Luft zu.
»Dorfschulmeister,« verbesserte Herta etwas boshaft.
»Nun siehst Du, dieser ganz prächtige Mann ist ein leidenschaftlicher Bienenvater und als solcher sehr geübt und gesucht. Schon im vorigen Jahre sah ich ihn mehrmals in der Gegend beschäftigt, [] ausgeflogene Schwärme einfangen und die Bauern in der Kunst der Bienenzucht unterrichten. Bei seiner Wortkargheit macht er sich dabei recht drollig. Nun Ihr wißt ja, meine besten Herzensältern, daß ich ein klein wenig neugierig bin und mein Näschen überall hinstecke. So fragte ich also den Schulmeister Gregor eines Tages, wo ich ihn wieder mit seiner Arbeit, die Drahtmaske vor dem Gesicht, beschäftigt sah, was Alles dazu gehöre, ein tüchtiger Bienenvater zu werden? Darüber erschrak der gute Mann so furchtbar, daß er den Räucherkrug fallen ließ und beinahe den Bienenkorb noch obendrein umgestoßen hätte. Er stotterte, verbeugte sich unbeschreiblich komisch und sagte nach mehrmaligem fruchtlosen Ansatz zum Sprechen weiter nichts als« – »ganz natürlich!«
Erasmus lachte recht herzlich über den erschrockenen Schulmeister und auch die Gräfin erlaubte sich eine lächelnde Miene zu ziehen und die Erzählung ihrer neugierigen Nichte spaßhaft zu finden.
»Nach und nach ward mein Mann etwas dreister,« fuhr Herta fort, »und durch langes und vieles Fragen bekam ich doch einen Begriff von [] der Bienenzucht. Es ist aber keine Beschäftigung für Mädchen und Frauen, darum will ich den Bienen ihre Geheimnisse lassen und mich mit den Früchten ihres Sammelfleißes begnügen. Schon wollte ich dem guten Schulmeister für seine Belehrung danken, als er mich beim Saum des Aermels ergriff –«
»Fi donc!« rief die Gräfin entrüstet und schob ihren Stuhl um einen halben Schritt vom Theetisch zurück. »Ein Dorfschulmeister hat den Aermel Deines Kleides angefaßt!« Der Fächer gerieth dabei wieder in sehr lebhafte Bewegung.
»Beruhige Dich, meine Liebe,« sagte der Graf sarkastisch, »er hat ihn angefaßt und das mag uns trösten.«
»Ja,« fuhr Herta fort, »er faßte mich am Aermel und sagte in langen Pausen: Engel, hehrer, süßer Engel – ganz Natur! – Wollen Sie vielleicht ein Buch über Bienenzucht lesen, so kann ich Ihnen ein vortreffliches leihen, natürlich! Dieses Anerbieten rührte mich, ich dankte ihm aufrichtig und fragte dabei, weil es mir gerade einfiel: ob er mir vielleicht irgend ein anderes Buch besorgen könnte? – Ganz Natur, gab er zur Antwort, mit einer Würde, als habe er über ein[] mächtiges Königreich zu gebieten. Sie dürfen nur wünschen, Engel in Menschengestalt, und es soll geschehen, wenn es meine Kräfte nicht überschreitet, natürlich, Natur! – Da nannte ich ihm denn einige Werke, nach denen ich lüstern war, und mein braver Gregor hat mir pünktlich Wort gehalten. So kamen, wie Frühlingsvögel, die den warmen Sommer verkünden, zugleich mit den Lerchen ein paar Bände von Schiller, Novalis und Bürger; so flog auch Don Karlos in mein stilles grünes Blätterboskett, und ich sage Euch, daß sie mich alle recht glücklich gemacht haben, weit glücklicher, als Eure vielgepriesenen steifen und unwahren Franzosen. Und nun rufe ich mit meinem lieben Schulmeister: natürlich, Natur!«
Herta unterließ nicht, nach diesem Geständniß sowohl Oheim wie Tante ehrfurchtsvoll die Hand zu küssen, gleichsam als bitte sie ihrer Kühnheit wegen um Verzeihung. Die Gräfin war auch sichtbar aufgebracht, weil sie aber dem Mädchen ihr Wort gegeben hatte, nicht zürnen zu wollen, so hüllte sie sich in den undurchdringlichen Panzer ihrer aristokratischen Abgeschlossenheit, spreitete den Fächer aus und wehte sich immer von Herta's Seite her frische Luft zu. Die harmlose Erzählung [] mußte ihr erstaunlich auf die Brust gefallen sein.
Erasmus klopfte Herta auf die vor Schaam und Furcht glühenden Backen. »Sei ohne Furcht,« sagte er, »kein Unwetter soll Deinen blauen Unschuldshimmel trüben. Du bist zwar eine kleine gefährliche Schmugglerin, die eigentlich Strafe verdiente, für diesmal jedoch soll diese nur in vorläufiger Confiscation Deiner Contrebande bestehen. Du wirst mir die Lieferungen Deines prächtigen Schulmeisters ausliefern und zwar sogleich! Nach einigen Tagen werde ich Dir Dein Eigenthum zurückgeben und mich darüber erklären, ob der Schulmeister auch künftig noch mit Dir soll verkehren dürfen oder ob ich ihm verbieten muß, in die Nähe des Schlosses zu kommen. Jetzt geh' und hole die Bücher!«
Still gehorchend entfernte sich das junge Mädchen. Diesen Augenblick benutzte die Gräfin um ihrem Gatten einige Vorwürfe über sein Verfahren zu machen. Sie schlug den Fächer zusammen, legte ihn vor sich hin und sagte mit vornehmem Aufwerfen der Lippen:
»Du verwöhnst das Kind, mein Freund! Durch solches Gestatten stählen wir ihren an sich [] schon festen Willen und impfen ihr eine Selbstständigkeit ein, die auf falsche Bahnen gerathend ihr äußerst gefährlich werden kann. Es wäre diplomatischer gewesen, Du hättest dem überspannten Kinde ihre schlechte Lectüre ohne Angabe des Grundes verboten. Das Dictatorische macht auf Jugend und Volk den nachhaltigsten Eindruck.«
»Herta ist ein kluges Mädchen,« versetzte Erasmus, »und ich will nicht, daß man der Entwickelung ihrer reichen, gesunden Naturanlagen hemmend entgegentritt. Sie soll selbst unterscheiden lernen, damit sie in späteren Jahren nach eigenem Urtheil wählen kann.«
»Zu stark treibende Pflanzen muß man der Sonne entziehen, damit sie sich nicht überwachsen.«
»Du erinnerst mich doch immer an Deinen frühern Verkehr mit dem Onkel. Immer und immer schimmert aus Deinen sammetweichen Worten, die noch sanfter klingen, wenn sie über Deine Lippen gleiten, ein feiner Strahl jesuitischen Lampenlichtes heraus, das heimlich in die Herzen der Menschen hineinleuchtet.«
»Warum gedenkst Du dieses als eines Unheils?« versetzte die Gräfin. »Wir verstehen [] schlecht unsern Vortheil, wenn wir uns blödsinnig der Privilegien begeben, die uns Geburt und Rang verliehen haben. Den Jesuitismus betrachte ich nicht als einen religiösen Orden, mir ist er nur ein System, dessen Anwendung auf das Leben von unberechenbarer Wirkung ist. Das sollte der Adel wohl bedenken und sich, gleichviel welcher Confession er angehört, mit den Jesuiten in stillster Stille verbrüdern. Oder siehst Du nicht ein, mein Freund, daß die Erschütterungen in Frankreich eine völlige Auflösung allen Standesunterschiedes prophezeihen? Daß der wahnsinnig gewordene Pöbel seine blutigen Kothhände gegen uns erhebt, um uns in die Kloaken seiner Gemeinheit hinabzureißen?«
Als Erasmus auf diese Bemerkungen seiner umsichtigen Gattin antworten wollte, kam Herta mit den Büchern zurück und legte sie freundlich vor den Grafen hin.
»Hier bringe ich Dir meine Herzensfreunde,« sagte sie, einen langen und tiefen Blick aus ihrem frommen Auge dem Oheim sendend. »Ich werde sie recht vermissen, denn sie waren mir früh und Abends liebe Gefährten, die meine Seele mit ihren entzückenden Weisheitssprüchen labten und [] mich erkennen ließen, wie herrlich das Leben auf dieser schönen Erde sein müsse, wenn ihre Lehren auf fruchttragendes Land fielen! O mir stürzen die heißen Schmerzensthränen in die Augen, blicke ich hinaus in's dampfende Land der Haide und sehe überall nur gebückte Knechte, statt aufrechtgehender Menschen, wie Gott will, daß wir alle sein sollen!«
»Es scheint, Du hast bei Deinem Schulmeister Unterricht genommen im Predigen,« bemerkte die Gräfin mit vorwurfsvollem Tone.
»Beste, gnädige Tante, schmähe meinen alten Freund nicht, er hat es wirklich nicht um mich verdient!« sagte Herta und küßte der Grafin die Hand. »Wenn Du so verächtlich von den armen Leuten sprichst, sinkt mir aller Muth, dem Oheim eine Bitte vorzutragen, die mir recht am Herzen liegt.«
»Mir, meine kleine Revolutionärin?« fragte der Graf, der inzwischen das Personenverzeichniß des Don Karlos gelesen hatte. Er zeigte das Buch jetzt seiner Frau über den Tisch und sagte: »Gegen diese Gesellschaft lassen sich keine gegründeten Einwendungen machen.«
[] »Darf ich reden?« fragte Herta mit leuchtenden Blicken.
»Ich habe Dir nie eine Frage an mich verwehrt. Sprich offen und wahr!«
»Wie immer, mein gütiger Oheim. – Nicht wahr, einer Deiner armen Haidebauern, oder ist er ein Gärtner, heißt Sloboda?«
»Das weiß ich wirklich nicht, liebes Kind, doch glaube ich, daß mehrere dieses Namens unter meine Unterthanen zählen.«
»Der Mann, den ich meine, ist schon bei Jahren und hat eine hübsche junge Tochter, die Röschen heißt.«
»Ja, ja,« sagte Erasmus nachdenkend, »das wird der große Jan sein, dessen Sohn im Gemeindehause als irr untergebracht worden ist.«
»Ganz recht,« fiel Herta lebhaft ein, »ein Baum erschlug ihm seine Frau beim Holzfällen. Den schrecklichen Tod hat er sich zu Gemüthe gezogen und nun ist er geisteskrank, der Arme!«
»Sein Vater bittet mich gewiß um eine Unterstützung?«
»Nein, mein gütiger Oheim. Ich habe weder Vater noch Tochter gesehen und weiß überhaupt Alles, was ich Dir jetzt gesagt habe, blos [] von einer dritten Mittelsperson, einem jungen schlanken Bauerburschen, der mich heut Morgen um Fürsprache bat.«
»Aber Herta! Du, ein Sproß des hochgräflichen Hauses von Boberstein, läßt Dich in Unterredungen mit schmutzigen Bauerburschen ein!« rief die Gräfin und schob das Buch mit einer Bewegung des Abscheus zurück, um wieder nach ihrem schirmenden Fächer zu greifen.
»Ach, beste Tante, der gute Mensch war nicht schmutzig, aber arm, recht sehr arm mochte er wohl sein,« versetzte Herta, betrübt die Augen niederschlagend. »Und was ist es denn Böses, wenn ich einen Unglücklichen anhöre? An wen anders soll sich denn der Bedrängte wenden, als an den Mächtigern? Die Starken sollen die Schwachen beschützen, sollen die Bösen im Zaume halten und sie zum Guten zwingen. Und wenn ich auch weder stark noch mächtig bin, so hat das arme Volk doch Zutrauen zu mir, weil ich es liebe und ihm helfe, wo ich es vermag. Und deshalb wenden sich die Bekümmerten an mich in der Hoffnung, daß ein bittendes Wort bei meinem braven, mächtigen Oheim Linderung ihrer Leiden bewirken könne.«
[] »Du spannst meine Neugier, Mädchen, fast befürchte ich eine gewaltthätige, ungesetzliche Handlung,« sagte der Graf.
»So dürfen wir das Geschehene wohl nennen,« ergriff Herta abermals das Wort und fuhr, immer leidenschaftlicher und zürnender ihre zarte Stimme erhebend, fort. »Der erwähnte Bursche Clemens liebt Sloboda's junge Tochter und will sie als Gattin heimführen, wenn Du Deine Einwilligung dazu gibst. Der arme Wende wohnt in einem entlegenen Dorfe, das zum Zeiselhofe gehört. Auf seines Vaters Gehöft war Röschen zu Besuche. Da wird die Dienstschau ausgeschrieben und der Gutsherr verlangt, daß das zarte Mädchen mit andern ihres Alters auf den Hof kommen soll –«
»Er wußte gewiß nicht, daß sie fremd war.«
»Dies wurde ihm gesagt und dennoch beharrte er auf seinem Befehle.«
»Nun?«
»Die Wendin und ihre Verwandten weigerten sich, dem Befehle zu gehorchen –«
»Und? – Sprich, sprich, was geschah?«
»Der erzürnte Herr raubte das arme Kind mit Gewalt und schleppte es mit sich.«
[] »Der Bube! Wie heißt er? Kennst Du ihn? Kann ich ihn erreichen?«
»Ich sagte schon, mein guter Oheim, daß der Herr vom Zeiselhofe sich eine solche Gewaltthat erlaubt hat!«
»Das ist eine von den ekelhaften Erfindungen des Pöbels,« fiel die Gräfin ein, »wodurch er sich an dem Adel rächen will, weil er nichts besitzt.«
»Wie ist das!« sagte Erasmus mit zitternder Lippe und mit beiden Händen die gepolsterten Arme des Lehnstuhles umklammernd. »Herr des Zeiselhofes ist ja mein Sohn Magnus!«
»Der arme Clemens nannte bebend diesen Namen.«
»Weiter, weiter!« rief der Graf mit zornfunkelndem Auge.
»Durch einen Zufall, den ich nicht näher kenne, entkam das Mädchen und flüchtete sich zu ihrem Vater. Dieser fürchtet aber, daß ihm sein Kind abermals entrissen werden könne und wünscht es deshalb unter Deinen oder – fügte sie lächelnd hinzu – wie der gute Bursche sagte unter meinen Schutz zu stellen.«
»Hast Du ihm Hoffnung gemacht?«
[] »Der arme Mensch dauerte mich, bester Oheim. Er zitterte an allen Gliedern vor Furcht und Scheu und bat so inständig, so aus der rechten Schmerzenstiefe seines Herzens, daß ich mich seines verfolgten Bräutchens anzunehmen versprach, wenn Du mir Erlaubniß dazu gäbest.«
»Sehr brav, mein Mädchen! Doch was soll ich mit der Wendin beginnen?«
»Diese Sorge will ich Dir sogleich abnehmen, Herzensoheim. Aller Beschreibung nach ist Röschen hübsch und ich habe gern hübsche Dienerinnen um mich. Sie wird auch geschickt, lernbegierig sein, wie alle Wenden, und da hab' ich mir denn vorgenommen, so lange sie in meinen Diensten bleibt, sie zu unterrichten und recht gebildet ihrem Bräutigam auszuliefern, wenn er sie als Hausfrau von mir zurückbegehrt.«
»Gestatte dies nicht, ich bitte Dich, mein Freund!« sprach die Gräfin. »Das Mädchen weiß in ihrer Tollheit nicht mehr, was sie verlangt, was sie zu thun im Begriffe steht! Eine gebildete Leibeigene, mon dieu, wo soll das hinaus!«
Erasmus saß mir vorgebeugtem Oberkörper schweigend im Lehnstuhl. Er hielt den ausdrucksvollen [] Kopf etwas gesenkt und aus seinen düster zusammengezogenen Augenbrauen und der tiefen Furche, die sich von der Nasenwurzel an senkrecht bis in die Hälfte der hohen intelligenten Stirn hinauf zog, war zu ersehen, daß er ernstlich und grollend über den Vorfall nachdachte. Aengstlich und erwartungsvoll schwieg Herta, empört über die ihrer festen Ueberzeugung nach erfundene Geschichte die Gräfin. In der stillen Abendluft klang vom See herauf Stimmengeräusch, dann schlugen die Wolfshunde im Schloßhofe an und die Dienerschaft ward lebendig.
Der Graf erhob langsam sein Haupt. Sein Gesicht war bleich, sein Blick ernst und entschlossen.
»Herta,« sprach er, die Winke seiner grollenden Gemahlin nicht beachtend, »wenn Magnus dies wirklich gethan hat, dann wehe ihm! Er hat mein Vaterherz hundertmal verwundet und immer verzieh ich ihm wieder, eine Schandthat aber, die mein reines Wappen beschmutzt, vergeb' ich nimmer! Ich verstoße, ich enterbe ihn. Er ist mein Sohn nicht mehr!«
Der Bediente trat ein.
»Was gibt es für Geräusch im Schlosse?« fragte die Gräfin.
[] »Seine Gnaden, der Herr Graf Magnus, ist so eben angekommen, und bittet den gnädigen Herrschaften seine Aufwartung machen zu dürfen.«
Bei diesen Worten trat Magnus in's Zimmer.
[] Drittes Kapitel.
Vater und Sohn.
Ein zertrümmernder Erdstoß hätte keine größere Wirkung auf die kleine Theegesellschaft hervorbringen können, als die unerwartete Erscheinung des jungen Grafen. Erasmus wendete langsam sein todtenbleiches stolzes Gesicht nach dem frechen Sohne, ihn mit flammendem Blick betrachtend. Herta stand auf und verbeugte sich leicht vor dem Vetter, der mit zarter Anfmerksamkeit an die Gräfin herantrat und ihr ehrfurchtsvoll die Hand küßte. Nur von der Seite streifte sein Blick den alten Vater, dessen Aussehn und finstre Miene ihm sagte, daß er kein willkommener Gast sei. Dies hinderte ihn jedoch nicht, sein Auge mit brennender Lüsternheit auf der untadelichen Gestalt seiner schönen Cousine ruhen zu lassen.
Magnus trug seinen alltäglichen modischen [] Reitrock und war überhaupt eben so fein als elegant gekleidet. Nur sein linkes Auge und die Schläfe waren jetzt mit einem feinen schwarzseidenen Tuche umwunden, was ihm ein lauerndes Ansehen gab. Der kecke Schlag Röschens mit dem silbernen Leuchter hatte diesen Verband nöthig gemacht.
Da Niemand Anstalt traf, den Sohn des Hauses freundlich zu begrüßen, und selbst die Mutter nur einen »guten Abend, lieber Sohn!« zu flüstern wagte, schwellte der Zorn seine Adern. Er trat hart an den Lehnstuhl des Vaters und fragte höflich-kalt:
»Sollte ich vielleicht einen wichtigen Familienrath stören, mein Vater, so bin ich erbötig, mich zurückzuziehen und zu gelegnerer Stunde um eine Unterredung mit Ihnen zu bitten.«
»Kommst Du als reuiger Sohn, so werde ich Dich gern anhören,« versetzte der Greis, »willst Du aber Deine neueren Thaten mit gleißnerischen Worten beschönigen, dann wirst Du wohl thun, Dich so lange von meinem Zimmer fern zu halten, bis ich als Leiche darin liege.«
»Man hat mich verleumdet, wie ich sehe!« fuhr Magnus auf. »Es wird mir doch gestattet [] sein, nach dem Namen meines Verleumders fragen zu dürfen?«
»Das habe auch ich behauptet,« sagte die Gräfin, dem Sohne beitretend. »Du hast dem Mädchen ein zu leichtgläubiges Ohr geliehen.«
»Also meiner liebenswürdigen Cousine bin ich für diesen unfreundlichen Empfang zu Dank verpflichtet,« entgegnete Magnus mit teuflischer Grazie, und das verschüchterte Mädchen mit einem furchtbaren Blicke überflammend. »Nimm einstweilen die Versicherung meiner innigsten Erkenntlichkeit für diese Aufmerksamkeit.«
»Magnus,« nahm jetzt der alte Graf das Wort, »ich will mich noch einmal bemühen, ruhig und liebreich wie ein Vater mit Dir zu reden, aber ich bedinge mir aus, daß Du Herta mit all der Achtung behandelst, die ein tugendhaftes Mädchen von Dir fordern darf.«
»Ich werde mich anstrengen, Ihren Befehlen nachzukommen.«
»Ich wollte, Du hättest es stets gethan, dann hätten wir beide nicht so viele traurige Stunden zu beklagen. Doch laß uns dieses Gespräch endigen und sage, was Dich zu so ungewohnter Stunde zu uns führt?«
[] Diese Frage hatte Magnus erwartet. Er richtete sich stolz auf und versetzte: »Hätte mein gnädiger Vater mich weniger unfreundlich empfangen, so würde er in meinen Nachrichten erkannt haben, daß kindliche Gefühle meinem Herzen nicht fremd sind.«
Er stützte sich jetzt mit dem linken Arm auf die Lehne eines Sessels und nahm eine nachlässige, aber leichte und gefällige Stellung an. Dann fuhr er fort:
»Mein Vater, die Folgen der revolutionären Bewegungen in Frankreich fangen an auch in Deutschland einen Wiederhall zu finden. Unsere Bauern, unsere Leibeigenen werden widerspänstig und wagen es, einen eigenen Willen haben zu wollen.«
»Dies ist ein Pröbchen, welchen Nutzen die Verbreitung neuer Ideen stiftet,« bemerkte die Gräfin mit einem Seitenblick auf Herta.
»Sprichst Du aus eigener Erfahrung?« fragte der Graf.
»Seit einigen Tagen murren meine Knechte,« versetzte Magnus. »Sie weigern sich, dem Voigte, einem rechtlichen, strengen Manne, zu gehorchen und zeigen sogar mir unzufriedene Mienen. Ich [] kann und will das nicht dulden, und weil ich weiß, daß mein Vater niemals der Willkür das Wort geredet hat, wende ich mich zuerst an Sie und ersuche, ja flehe Sie, mit mir vereint diesen aufrührerischen Trotz zu beugen, den frechen Uebermuth elender Sclaven empfindlich zu strafen!«
»Ich erwarte Deine näheren Angaben,« sagte Erasmus vornehm gelassen.
»Vielleicht wissen Sie nicht, mein Vater, daß der Heerd der Unzufriedenheit unmittelbar am Fuße Ihres Stammschlosses zu suchen ist? Ihre Milde, Ihre Güte, Ihre Herablassung hat diese Rotte armseligen Volkes kühn gemacht. Meine schöne Cousine – Sie vergeben mir, mein Vater, daß ich mit aller Achtung vor Schönheit und Herzensgüte den Ankläger machen muß – meine schöne Cousine sät täglich wild fortwucherndes Unkraut durch ihre Besuche in den schmutzigen Hütten der Leibeigenen. Sie behandelt diese Auswürflinge wie gesittete Menschen; sie spricht mit ihnen, als wären sie ihres Gleichen, und fabelt ihnen von bessern Tagen, von einer gerechten Freiheit und Gleichheit der Gesetze vor. Kurz meine liebenswürdige Muhme predigt mit dem besten Erfolge die schmachvollen Lehren [] der französischen Jakobiner! Sie erlauben mir, mein Vater, daß ich meine Behauptungen durch Thatsachen beweisen darf. Vor einigen Wochen schrieb ich eine Gesindeschau auf meinen Ortschaften aus. Ein Mädchen, das ich besonders tauglich fand für meine Dienste, widersetzte sich hartnäckig und bestritt meine Herrschaft über sie. Diese Dirne war die Tochter eines Ihrer Unterthanen, seit längerer Zeit aber schon heimisch in einem mir speciell zugehörenden Dorfe. Dennoch war sie weder durch freundliche Worte noch durch Drohungen zu einer Sinnesänderung zu bewegen. So that ich denn, was ich mußte, ich brachte sie gewaltsam auf meinen Edelhof, und was glauben Sie wohl, mein Vater, daß diese Dirne zu thun wagte?«
Magnus sah den Grafen und seine gespannt aufhorchende Mutter lange an. Erasmus winkte.
»Sie war so beispiellos frech, Hand an mich zu legen, mich beinahe lebensgefährlich zu verwunden!« sagte Magnus. »Ueberzeugen Sie sich selbst, mein Vater, und Sie, meine gütige Mutter, halten Sie Ihr Entsetzen über eine That zurück, für die ich vorschlagen möchte, eine eigne Strafe zu erfinden!«
[] Geschickt wußte der schlaue Magnus während dieser Worte die schwarze Binde zu lösen, unter der eine rothblaue, noch nicht ganz verharrschte Wunde sichtbar ward, die gefährlicher aussah, als sie war. Gräfin Utta schlug die vollen weißen Hände in stummem Erstaunen in einander und auch Herta warf einen kurzen Blick auf den vorgebeugten schönen Kopf des jungen Mannes. Vollkommen ruhig betrachtete Erasmus die Verwundung seines Sohnes.
»Nur eine geringe Kraftvermehrung würde mich todt niedergeworfen haben,« sagte Magnus mit erheuchelter innerer Erregung. »So lag ich nur eine Zeit lang in starrer Betäubung, und diese benutzte das freche Geschöpf, um zu entfliehen. Ich habe sichere Kunde, daß dieses strafwürdige Mädchen sich unter Ihre Obhut, mein Vater, begeben hat, und weil ich nicht Ihre Rechte schmälern will, bitte ich ganz gehorsamst entweder um ihre Auslieferung an mich, damit ich über die Art ihrer Bestrafung mit mir zu Rathe gehen kann, oder ersuche Sie, daß Sie selbst das Richteramt in dieser Sache übernehmen.«
»Wie heißt das Mädchen?« fragte Erasmus.
»Röschen Sloboda.«
[] »Röschen!« wiederholte Herta leise, doch laut genug, um von Magnus verstanden zu werden.
»Hast Du bei Deiner Erzählung auch nichts zu erwähnen vergessen? Es wäre mir sehr unlieb, wenn ich in dieser Angelegenheit zu Deinem Nachtheil entscheiden müßte.«
»Sie haben die volle Wahrheit gehört.«
»Wahrheit, die uns mit ewigem Abscheu gegen diese Elenden erfüllen muß!« rief die Gräfin. »Armer Sohn, guter gemißhandelter Magnus! Sei versichert, daß Dein Vater diese uns Allen zugefügte Schmach streng, beispiellos streng ahnden wird!«
»Uebereilen wir uns nicht, meine Freundin,« erwiederte Erasmus. »Hat sich das Mädchen wirklich so hart an unserm Sohne vergangen, wie Magnus behauptet, so wird es der Strafe nicht entgehen. Vorher aber wollen wir ganz unparteiisch die Sache untersuchen.«
»Sie setzen Mistrauen in die Worte Ihres Sohnes?«
»Ich vertraue Dir so viel, wie Du verdienst,« arrtwortete Erasmus streng. »Darin erfülle ich nur Demen Willen. Hättest Du mich nie getäuscht, [] so würde ich keine Zweifel in die Wahrhaftigkeit Deiner Erzählung setzen. So aber pflegtest Du mich stets zu hintergehen und der lügenhaften Worte sind zehnmal mehr über Deine Zunge gegangen, als der wahrheitsgetreuen.«
»Mein Vater!«
»Schweig, es ist so! – Und was hast Du zu Deiner Entschuldigung anzuführen, wenn ich Dir sage, daß die arme Wendin Dich bereits bei mir verklagt hat?«
Magnus verließ seine bisher beibehaltene etwas kokette Stellung und trat einen Schritt vom Stuhle zu rück. Dann sagte er:
»Ich kann es mir denken, daß diese intrigante Person ihre Frechheit so weit getrieben hat, oder sollte ich vielleicht auch diese neue Wendung der Dinge der zuvorkommenden Vermittelung meiner schönen Cousine –«
»Herta bittet blos für Arme und Unterdrückte,« fiel Erasmus ein, »aber entstellt nie einfache Thatsachen. Mich dünkt, mein Sohn, es ist nicht Alles rein in Deinen Worten! Röschen ward gewaltsam entführt und hat Gewalt mit Gewalt erwiedert. Es ist daran gar nichts Unbegreifliches, nichts Uebernatürliches. Aber wenn [] ich nun Gelegenheit nehme, diese geheime Entführungsgeschichte genauer zu beleuchten, würde dann mein Sohn nicht etwa Ursache haben zu erröthen? Ich will jetzt nicht weiter gehen, Magnus, ich gebe Dir nur zu bedenken, daß ein böses Gerücht umläuft unter dem Volke über den Tod von Jan Sloboda's Schwiegertochter, und daß ich alter Mann nicht vermag, diesem Gerücht die Zunge auszureißen!«
»Geschwätz, rachsüchtige Verleumdungen derer, die ich wegen Waldfrevel bestrafen ließ.«
»Ich sprach die Sterbende,« sagte Erasmus mit einem Tone, der furchtbar klang und selbst Magnus erblassen machte. »Sie hat mir, mir ganz allein gebeichtet und auf ihren Wunsch habe ich ihre Beichte tief in mein bekümmertes Herz verschlossen. Doch glaube mir, Magnus, daß ich seitdem an jedem Abend mein Haupt mit schwerem Kummer zur Ruhe lege, daß ich die Zukunft, daß ich Deine Zukunft fürchte!«
Gräfin Utta blickte zum ersten Male mit Entsetzen auf ihren Liebling, in der Hoffnung, daß der Ausdruck seiner Züge ihr zu muthiger Entgegnung Anlaß geben werde. Aber sie bebte in sich selbst zurück vor Magnus. Dieser stand [] wie leblos vor seinem mit finsterm Richterauge zu ihm aufblickenden Vater. Seine Hände zitterten sichtbar und das Antlitz mit der schwarzen Binde glich vollkommen weißem Marmor. Er hatte die Augen fest auf den Boden geheftet. Weil ihm die Kräfte versagten, sank er auf den Stuhl nieder, auf dessen Lehne er sich bisher in eitler Selbstgefälligkeit gestützt hatte. Es mußte ein furchtbares Geheimniß sein, zu dessen Kenntniß der alte Graf gekommen war und das er jetzt im entscheidenden Augenblick als niederschmetternde Waffe gegen seinen eigenen Sohn gebrauchte. Eine beklemmende Pause trat ein, die Niemand zu unterbrechen wagte. Um diese Todtenstille aufhören zu lassen, die wie ein Sargdeckel über den Häuptern der Familie schwebte, fing Herta an, mit dem Theegeschirr zu klappern. Dies gab dem alten Grafen aufs Neue Fassung, und da es nun einmal zu einer Aussprache gekommen war, ergriff er abermals das Wort und wendete sich damit fast ausschließlich an seinen Sohn.
»Es scheint, als verkenntest Du ganz die Pflichten des Herrn gegen seine Untergebenen,« sagte er. »Dir und leider tausend Andern, welche [] Dir gleichen, sind alle Unterthanen nur Werkzeuge, nur Maschinen, die man abnutzen kann nach Belieben und zu seinem Vergnügen. Du glaubst bloß Forderungen, keine Pflichten an sie zu haben. Es sollte aber die Ehre des Adels sein, die Unterthanen zu schirmen, sich in Noth und Jammer ihrer anzunehmen, sie zu bilden, zu erziehen und aus der dumpfen Atmosphäre geistiger Erniedrigung, in der sie schmachten, emporzuheben in die heitere Luft einer hellern Denkungsart, eines bessern Daseins! Was soll denn aus uns und der Welt werden, wenn wir immer nur auf einem Punkte uns fortdrehen wollen, wie wahnsinnige Derwische? Wir müssen zuletzt in völlige Apathie versinken und als blödsinnige Schwächlinge verkümmern! Schreitet fort! ruft jede Seite der Weltgeschichte uns zu; lernt die Zeiten und deren Bedürfnisse verstehen, predigt uns jeglicher Tag! Es taucht keine Sonne hinter Berg und Meereswoge unter, ohne fern von unserm Auge einen neuen Bildungshalm ins Leben zu rufen, und jeder neue Morgen ist der Tauftag einer neuen That, eines gewaltigen ins Leben geschleuderten Geistes! Das, mein Sohn, laß uns bedenken, dann wird uns der Sturmschritt [] der Zeit nicht wie ein versengender Sirocco überfallen! – Wir sind alle krank, krank an Ge danken, Meinungen, Vorurtheilen, die wir aus längst vergangenen Tagen in unsere Zeit herübergeschleppt haben und die wegzuwerfen als leere Hüllen aus ihnen hervorgegangener buntbeschwingter Seelen uns schwer fällt. Aber wir müssen uns selbst an die Brust fassen und munter rütteln, wenn uns der ermattende Schlaf trüber Erbschaft überfallen will! – Was war, was ist, was soll der Adel sein? Die Gesellschaft der Besten, der Fähigsten, der Muthigsten aller Zeiten! Sucht er nicht darin seinen Ruhm, seine Ehre, so hat er sich überlebt und ist auf ewig verloren! – Wir Deutschen, die wir diesem glücklichen und bevorzugten Stande angehören, sollten nicht blind und taub sein bei den furchtbaren Ereignissen in Frankreich. Sie enthalten eine große Lehre für Jeden, der in albernem Dünkel und in brutaler Macht sich über die Masse der Menschheit erheben will. Ich mag nicht behaupten, daß ich ein Anhänger jenes Camille Desmoulin, jenes Danton und Robespierre sei, daß ich billige, was der Wahnsinn eines verzückten, wuthschäumenden Pöbels [] ruft: Jeder sei dem Andern gleich und Alle hätten gleiche Rechte zu fordern. Aber ich glaube und sterbe auf die Wahrheit des hohen gottähnlichen Gedankens, daß es Zweck und Ziel dieses Erdenlebens und irdischer Fortenlwickelung sei, im Laufe der Jahrhunderte das gesammte Menschengeschlecht zu vervollkommnen und jedem Individuum ein solch allgemeines Bildungsmaß zu Theil werden zu lassen, daß jeder Einzelne behaupten darf: er sei gleich dem Besten der Besten! Diese Zeit, wann sie kommt, wer weiß es! Daß sie kommen wird und muß, sagt mir meine eigene Vernunft! Daß sie bald komme, dahin wirke, wer Kraft und Macht dazu hat, und dies ist zur Zeit noch der Adel! Will er stolz sein und Ursache haben zu solchem Stolze, so schmücke er seine Wappen und die Zinnen seiner Burgen mit Lorbeerkränzen gewunden von den Händen derer, die er jetzt seine Unterthanen, seine Leibeigenen nennt! –«
Schon geraume Zeit hatte Herta mit froh glänzendem Auge dem Grafen zugehört. Als dieser jetzt schwieg, warf sie sich mit Leidenschaft an Erasmus Brust, küßte ihn auf den Mund und sagte: »Ich wußte es ja, daß mein guter, klarer Oheim mich nicht mißverstehen könne! [] Grade so, wenn auch mit andern Worten, spricht mein lieber Schiller, der noch vor einer Stunde ein schlechter, anfrührerischer Mensch sein sollte! Jetzt lies Du nur meine Bücher, lies, so lange Du willst, ich weiß doch, daß Du mir sie selbst wiederbringen und mich obendrein noch beloben wirst!«
»Der Entwurf Ihres idealen Lebens, mein Vater, hat viel Bestechendes,« erwiederte Magnus. »Offen gestanden aber ist es mir noch unklar, wie Sie die gepriesene Bildung in der rohen Masse des Volkes hervorrufen wollen? Sie verlangen doch schwerlich, daß wir selbst das Amt der Schulmeister verwalten oder als Vögte und Verwalter uns unter Knechte und Mägde mischen sollen? Ich wenigstens muß dieses Amalgamirungssystem ein für allemal verschmähen. Es ist mir persönlich nichts entsetzlicher, als eine schwielige Hand, die sich nur mit wenigen Tropfen Wasser begnügt.«
»Mir aus der Seele gesprochen!« sagte die Gräfin und begann wieder ihr Fächerspiel.
»Ich hätte meinen Sohn für fassungskräftiger gehalten,« entgegnete Erasmus. »Wie ich jedoch zu meinem Leidwesen sehe, gehört oder [] zählt er sich mit Absicht den Hohlköpfen zu, die Würde und Ehre des Adels nur im Junkerthume und all den äußern Dingen suchen, zu deren Erlangung weiter nichts als leidliches Geld, etwas Frechheit und ein kaltes Herz gehört.«
»Verzeihen Sie, mein Vater! Haben Sie vielleicht die Absicht, den Notablen Frankreichs nachzuahmen und sich freiwillig zu Gunsten der brüllenden Menge, die sich Volk nennt, Ihrer Ehren, Würden, Titel und Besitzthümer zu entschlagen?«
»Damit wir Deutschen nicht ebenfalls eines schönen Morgens dazu genöthigt sind, fordere ich Gerechtigkeit, Milde und Erziehung für das Volk.«
»Ich möchte Ihnen gern gefällig sein und bitte deßhalb, mir die Wege zu zeigen, die wir einschlagen müssen, um das Volk, wie Sie sagen, zu uns emporzuheben.«
»Wem sie das eigene Herz, die ruhige Besonnenheit nicht nennt, dem wird kein Fingerzeig eines Andern etwas frommen. Es ist so leicht, wie den Gesetzen der Natur folgen! Erhebe Dich zu der freien und allein richtigen Ansicht, jeden Menschen als Deines Gleichen zu betrachten, [] und Du wirst gegen Deinen geringsten Diener nicht hart, nicht launisch, nicht herrisch sein können. Die Stellung, die er durch einen bloßen Unfall Dir gegenüber einnimmt, berechtigt Dich nicht, sein Menschengefühl zu beleidigen, im Gegentheil, wir sind verpflichtet, weil er abhängig ist, ihn zu schonen und seine Schwächen mit Geduld zu tragen!«
»Sehr wohl, mein Vater! Sind Sie gesonnen, diese Grundsätze unter Ihren Leibeigenen mittelst Ausruf bekannt machen zu lassen?«
»Lieber Magnus!« bat die Gräfin. »Du vergißt Dich!«
»Nicht doch, meine Freundin, er bleibt sich nur selbst gleich. Da ich aber nicht gesonnen bin, einen Streit über Ideen und Zeitansichten fruchtlos länger auszudehnen, erkläre ich diese Unterredung für beendigt. Unser Sohn mag überlegen, was zu seinem Frieden dient, und sich am Tage nach Ostern früh um zehn Uhr in der Schloßhalle einfinden. Dort wird er sich seiner Anklägerin gegenüber rechtfertigen oder für schuldig erklärt werden. Keine Einwendung, meine Freundin! Die Frucht ist reif zur Aerndte, und ich will endlich einmal dieser tyrannischen Willkürherrschaft [] ein Ziel setzen, und müßte ich mein eigenes Fleisch und Blut verurtheilen.«
In diesen Worten des alten Grafen lag eine so bestimmt ausgesprochene Entlassung, daß Magnus Anstand nahm, seinem Vater nochmals starren Trotz entgegen zu setzen. Dennoch durfte er um keinen Preis die rücksichtslose Confrontation mit der Wendin geschehen lassen, wenn er nicht vor Unterthanen und Dienerschaft gebrandmarkt dastehen und allen Einfluß auf sie verlieren wollte. In dieser peinlichen Verlegenheit richteten sich seine Gedanken auf Herta. Sie allein konnte, wenn sie zu überreden war, den Vater zu anderer Maßnahme bestimmen. Sie wußte um seine Gewaltthat, wie er aus der Einleitung des Gesprächs wohl erkannt hatte, und darum galt es, sie entweder auf seine Seite herüberzuziehen oder durch irgend welche Scheingründe zu einer andern Ansicht zu vermögen. Noch war er sich unklar über den Operationsplan, den er einschlagen wollte, aber er hoffte auf sein gutes Glück, auf prägnante Einfälle und auf sein Ueberredungstalent, wenn ein schönes Mädchen seinem Geiste Schwung, seiner Rede Kraft und Feuer verlieh. Er stand auf und griff nach seinem Hut.
[] »Ich bitte meinen Ungestüm der Aufregung zu verzeihen, beste Aeltern, in die mich das Unerhörte versetzt hatte. Gehorsam Ihren Winken ziehe ich mich zurück, um zur bestimmten Stunde im Auge meines Vaters Gnade oder Verdammung für sein einziges Kind zu lesen. Meine theure Mutter, vergeben Sie mir, wenn die gemachten Mittheilungen Ihre Nachtruhe stören sollten!«
Magnus führte Utta's Hand mit der ihm eigenen gewinnenden Liebenswürdigkeit an den Mund, verbeugte sich achtungsvoll vor seinem Vater und grüßte mit wohlwollender Vertraulichkeit Herta. Dann verließ er das Zimmer.
»Leuchte mir nach meinen Gemächern!« befahl er barsch dem Bedienten und folgte dem Vorausschreitenden durch mehrere schmale Corridore. Während dieses Ganges riß er ein goldberändertes Blatt aus seiner Schreibtafel, schrieb einige Worte darauf und faltete es in einen Knoten zusammen. Auf seinem Zimmer angekommen, fragte er den Bedienten: »Wann zieht sich Fräulein Herta auf ihr Zimmer zurück?«
[] »Schlag neun Uhr, gnädigster Herr!«
»Siehst Du sie noch?«
»Ich kann es so einrichten.«
»Willst Du mir einen Dienst leisten, von dem das Wohl unseres Hauses abhängt?«
»Gnädigster Herr, Sie wissen, daß ich für das gräfliche Haus in den Tod gehe!«
»Dann gib dies Billet an Fräulein Herta. Ich werde in der Nähe sein und sobald das Fräulein es erbricht, zeige es mir durch das Oeffnen der Thüre an. Ich werde dann in demselben Augenblick, wo Du das Zimmer des gnädigen Fräuleins verläßt, dasselbe betreten. Hast Du mich verstanden?«
»Sehr wohl, Herr Graf.«
»Dann gib Acht, daß uns Niemand störe!«
Der Bediente verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Erben des Hauses und ging nachdenkend, das unscheinbare Blättchen zwischen den Fingern drehend, zu seinen Genossen zurück.
[] Viertes Kapitel.
Magnus und Herta.
Etwa fünf Minuten vor neun Uhr verließ Magnus sein Zinrmer ohne Licht und schlüpfte durch die engen matt erleuchteten Gänge des alten Schlosses nach dem Flügel, welchen seine Aeltern bewohnten. In dem großen Vorzimmer, auf das eine ganze Reihe von Thüren mündete, befand sich ein hoher schwerfälliger Kaminschirm, der zugleich als Garderobe benutzt ward. Hinter diesen zog sich Magnus zurück, nachdem er mit schnellem Griff die gemeinsame Klingel mit einem seidenen Tuche umwunden hatte. Aus diesem Versteck konnte er bequem die ganze Länge und Breite des Gemaches, so wie sämmtliche Zimmerthüren übersehen. Als die Schloßuhr langsam die neunte Abendstunde verkündigt hatte, öffnete sich die Thür zum Wohnzimmer seines Vaters, [] eine glockenhelle, weiche Mädchenstimme rief herzlich »gute Nacht« und Herta, ihr Arbeitskörbchen am weißen Arm, trat heraus, von dem vorleuchtenden Bedienten begleitet. Mit etwas gesenktem Köpfchen, so daß die reiche Lockenfülle ihre schönen Züge fast ganz in Schatten hüllte, schritt das schlanke Mädchen über den Vorraum, ließ sich von dem Bedienten die Thür öffnen und empfing noch, ehe sie diese wieder schloß, das Billet des jungen Grafen.
»Von wem?« hörte sie Magnus mit sanfter Stimme fragen.
»Ich sollte es abgeben,« erwiederte der kluge Bediente.
Herta dachte nicht im Entferntesten daran, daß Magnus mit ihr in Correspondenz treten könne und wolle. Sie hatte noch nie eine Zeile von dem verführerisch wilden Manne erhalten, selbst damals nicht, als er noch auf Boberstein wohnte. Später war er absichtlich kühl und verletzend gegen sie geworden, da er seine Werbungen um ihre Gunst mit einer Kühnheit betrieben hatte, die sie nöthigte, ihm die härtesten Vorwürfe zu machen und sich streng von ihm abzuschließen. Obwohl aber das junge Mädchen den sittenlosen, flatterhaften [] und rachsüchtigen Jüngling fürchtete, fühlte sie doch etwas in ihrem Herzen, das für ihn sprach. Seine feine Galanterie, seine stolze Ritterlichkeit, wohl auch das völlig Rücksichtslose in allen Angelegenheiten, wo seine Leidenschaft in's Spiel kam, zog sie an und veranlaßte sie in früheren Tagen häufig, bei dem unzufriedenen Vater ihm Fürsprecherin zu werden. Allerdings war ihre Achtung vor Magnus jetzt völlig verschwunden. Die Gewaltthat, welche er gegen das schwache wendische Mädchen ausgeübt, hatte sie empört, und die Art und Weise, wie er noch so eben seine Gesinnung gegen den braven alten Vater ausgesprochen hatte, der sich die größte Mühe gab, die Stimme einer neuen Zeit zu verstehen und ihrem Rufe sich anzuschließen, erfüllte ihre jungfräulich reine Seele wirklich mit Abscheu und kaltem Entsetzen. Es lag so gar nichts Kindliches in dem Betragen des Sohnes gegen den Vater. Seine höflich gefaßten Antworten klirrten von scharf geschliffenem Spott, von beißendem Hohn. Er durfte nur diese glatte Form noch abstreifen, und das widerlichste Scheusal, wie es je Undank und Verachtung alles Göttlichen im Menschen auszubrüten vermochten, [] stand m grauenvoller Nacktheit vor Aller Augen.
Das Billet ihres Vetters in der Hand ging Herta nach der Epheulaube am Fenster, um das Körbchen auf den Arbeitstisch zu stellen. Erst als sie dies gethan und durch freundliches Nicken ihr Eichhörnchen begrüßt hatte, dessen kluge muntere Augen am gläsernen Schieber glänzten, knotete sie das Papierstreifchen auf. Der Bediente verbeugte sich und vertauschte unter der Thür seine Stelle mit dem jungen Grafen.
Magnus verhielt sich ruhig, bis Herta seine Zeilen überflogen hatte und entrüstet ausrief: »Johann, wie kannst Du Dich unterstehen –« Zugleich wendete sie sich rasch um und erblickte ihren Vetter im Halbdunkel des grauen langen Zimmers. Das Wort erstarb ihr auf der Zunge, aber sie erröthete so heftig vor Zorn, daß flammende Purpurgluth Gesicht, Stirn und Nacken übergoß.
»Verzeihung, schöne Cousine!« sagte Magnus, mit leichtem Tritt und ohne die geringste Schüchternheit näher kommend. »Ich erscheine heut mit weißer Friedensfahne und trage Dir unter annehmbaren Bedingungen Waffenstillstand an. [] Hoffentlich wirst Du Dein Geschlecht nicht so ganz verläugnen, daß Du einen unglücklich Bittenden ungehört von Dir weisest.«
»Es ist entwürdigend, mich so zu überfallen!« stotterte mit vor Zorn grollender Stimme das empörte Mädchen.
»Im Gegentheil, es zeigt von einer Anhänglichkeit an Dich, die keine Gefahr scheut, ja die es sogar wagt, den Zorn der Schönsten unter den Schönen auf sich zu laden! Aber wie Du auch jetzt von mir denkst, Du wirst milder über mich urtheilen, wenn Du meine Beweggründe gehört hast.«
»Ich will nichts hören, ich befehle Dir, Dich auf der Stelle zu entfernen!« versetzte zitternd Herta und stampfte dabei trotzig mit dem kleinen Fuße auf den Boden.
»Wenn Du so reizend zürnst, werde ich mich für immer bei Dir einquartieren, schöne Cousine. Ein geistreiches Mädchen ist nie entzückender, als im göttlichen Wahnsinne des Zornes. Sieh, ich mache es mir bequem, um Dich ruhig bewundern zu können. Tobe Dich jetzt aus, Herzensblume, wirf mir alle Sonnenfunken Deines Ingrimms in's Gesicht, ich will sie mit gierigen Händen [] auffangen und mit solcher Andacht an meine Lippen führen, als seien es Blättchen aus der Rosenknospe Deines Herzens.«
Und Magnus streckte sich gemächlich auf das alterthümliche Sopha und verschlang seine Arme über der Brust.
Herta antwortete nicht. Dem kecken Eindringling gegenüber lehnte sie an ihrem Schreibtische und maß ihn mit stolzen, kalten Blicken.
»Du wirst ruhig, das gefällt mir,« nahm Magnus nach einer Pause wieder das Wort. »Ein ruhiger Zuhörer läßt dem Sprecher stets am leichtesten Gerechtigkeit widerfahren. – Ich sagte vorhin, daß ich als Friedensbote zu Dir käme, jetzt gehe ich noch weiter und schlage Dir vor: laß uns Bundesgenossen sein!«
Da Herta auch darauf keine Antwort gab, fuhr Magnus fort: »Mein gestrenger Herr Vater, der, ich weiß nicht wie und weshalb? auf einmal zur Partei der Revolutionäre überzutreten Miene macht, hat mir als Nachfeier des Festes eine Scene angekündigt, die unterhaltend und originell zu werden verspricht. Der letzte Sprosse eines edlen Grafengeschlechts einer Rotte schmutziger Leibeigener gegenüber als Angeklagter vor dem [] Richterstuhle des empörten eigenen Vaters – wahrhaftig, das ist so wild romantisch, daß die blutdürstige Canaille aus den Straßen von Paris es nicht vortrefflicher erfinden könnte! In seinem absoluten Gerechtigkeitsfieber sieht der alte Mann nicht ein, daß dadurch, wie sich die Sachen auch gestalten mögen, ein unauslöschbarer Flecken auf sein Haus, auf sein Wappen fällt, den Jahrhunderte neuen Glanzes nicht wieder auslöschen können. Der simpelste Menschenwerstand begreift, daß dies nicht geschehen darf –«
»Warum nicht?« unterbrach Herta den jungen Grafen. »Soll der hochgeborne Graf und Fürst, wenn er ein Schuft gewesen ist, nicht dieselbe Gleichheit vor dem Gesetze haben, in die er sich vorher durch seine Handlungsweise mit dem Pöbel gebracht hat?«
»Diese Sprache der Neuzeit, meine schöne Cousine, verstehe ich nicht. Ich sage, es befleckt unser Haus für immerwährende Zeiten, wenn die angekündigte Gerichtssitzung in der Schloßhalle stattfindet. Darum muß sie hintertrieben werden.«
»Von wem?«
[] »Von Dir und mir. Wir beiden im Bunde halten die ganze Meute ab.«
»Auf mich rechne nicht! Ich kann und will nichts thun, als die gekränkte Unschuld beschützen.«
»Das ist so löblich von Dir, daß ich Dich gleich dafür küssen möchte, müßte ich nicht befürchten, Du würdest Deine weißen runden Perlenzähnchen in meine Lippen schlagen, und das wäre in sofern ein Unglück, als dies nach dem Feste gegen mich zeugen würde. Darum laß uns vernünftig mit einander sprechen und uns verständigen. – Ich habe es längst gemerkt, daß sich die kleine erboste Wendin direct an Dich gewendet und Dir ein Histörchen erzählt hat, welches, die Ausschmückungen weggelassen, der Wahrheit nahe kommen mag. Du siehst, angebetete Herta, daß ich ganz ehrlich bin und mich Dir gegenüber gar nicht besser machen will, als ich in der That bin. Ja ich gestehe Dir sogar freiwillig, daß ich bei der niedlichen Wendin ein klein wenig zu weit gegangen sein mag! Ich habe sie entführt, weil sie ein so böses Gesicht machte und mir grade deswegen gefiel. Und das Satansmädchen hat mich dafür schön gezeichnet! Nun höre mich ganz ruhig an und urtheile, ob ich Urecht [] habe? – Daß ich kein Joseph geworden bin, das mag mein Herr Vater mit der Frau Mama ausmachen. Mein Temperament gefällt sich nun einmal nicht im Entbehren, sondern im Genießen, und solche allerliebste duftende Mädchenblumen, die in stiller Haide lockend aufschießen, sind doch wahrlich nicht dazu da, daß sie von plumpen Bauern geknickt werden! Auch magst Du bedenken, daß, wenn ich in meinen Wünschen und Begierden wirklich zu tadeln sein sollte, nur Du ganz allein daran Schuld bist! Immer nur schwebt Deine zarte, schlanke, warm geschmeidige Elfengestalt vor meinen Blicken, so reizend und begehrerisch, daß ich in jedem schönen Mädchen das Schattenbild von Dir zu erblicken glaube und in Leidenschaft für sie entbrenne! Hättest Du mich erhört, süßer Engel, so säh' ich außer Dir kein Mädchen, ich wüßte gar nicht, daß es noch Weiber gäbe, die auch schön, auch liebeverheißend sind. Seit Du mich aber verschmäht, mir sogar verboten hast, mit Dir zu sprechen, seitdem tobt und lodert eine verzehrende Flamme in meiner Brust, die Nahrung sucht und Alles, was ihr nahe kommt oder was sie erreichen kann, in Fieberwuth zu verbrennen begehrt. Habe ich also der kleinen [] Wendin ein Leid in sofern zugefügt, als ich sie mit Gewalt und unter heimlichen Nebengedanken entführte, so bist eigentlich Du der Anstifter dieses Unglücks und auf Dich müssen alle Folgen, die sich daraus ergeben, zurückfallen. Werde ich nun gezwungen, vor Gericht Rede zu stehen, so sei versichert, daß ich Dich nicht schone! Die Nothwehr zwingt mich, jedes Auskunftsmittel zu ergreifen.«
»Magnus,« unterbrach Herta den Sprechenden mit einem Ausdruck in Stimme und Miene, der ihre moralische Entrüstung hinlänglich verriethen, »bisher habe ich Dich bedauert, wohl auch zuweilen gehaßt, von jetzt an aber muß ich Dich gründlich verachten! Du bist ein gemeiner, verrotteter Bösewicht!«
»Das scheint Dir blos so, schöne Cousine, höre noch meine Gründe und Du wirst Dein Urtheil ändern und mich freisprechen. – Es leuchtet Dir ein, daß so nahe Verwandte, wie wir es sind, einander mit solchen Anklagen nicht entgegentreten dürfen. Dadurch würde unrettbar ein Skandal entstehen, den wirklich alles Wasser der Welt nicht mehr von unserm Namen abwaschen könnte! Nun überlege aber, was auf dem Spiele steht! [] Hier unser aller Ehre und Ehrenhaftigkeit, dort ein unbekanntes, verachtetes Mädchen, ein Geschöpf überdies, das ich als Leibeigene behandeln kann, wie ich will. Ich habe das Recht dazu, und wir wollen uns über Recht oder Unrecht dieses Rechtes jetzt nicht streiten. Halten wir fest, was da ist und gilt. Was, frag' ich, ist besser, ist leichter zu verantworten, wozu räth gesunder Menschenverstand und Klugheit, zu Brandmarkung unseres alten Namens, zu Vernichtung unserer Ehre oder zu Verurtheilung einer leibeigenen Wendin durch das ganz einfache Mittel, daß man sie Lügen straft? Mich dünkt, die Wahl kann hier nicht schwer sein. –«
»Einem gewissenlosen Menschen gewiß nicht.«
»Ich danke für das Prädicat. – Um jedoch weiter zu kommen, fahre ich fort. Nach dem Vorausgeschickten verlange ich von Dir, daß Du morgen früh bei Zeiten meinem Vater erfolgreiche Vorstellungen machst und ihm aufzählst, was Alles bei dem beabsichtigten Ver fahren unserm Hause droht! Ferner wirst Du mir versprechen, Dich bei der Gerichtsscene gar nicht zu zeigen, um nicht durch Deine allbekannte Herzensgüte meine Pläne zu kreuzen, und endlich verbitte ich mir jede [] Fürsprache, wenn ich es in unserm Interesse für nöthig erachte, eine gelinde Strafe über das Mädchen zu verhängen, die mißhandelnd ihre Hand gegen mich aufhob!«
»Ich hätte schon dabei sein mögen, wie die an ihrer Ehre gekränkte Wendin Dich so empfindlich züchtigte!«
»Was hat meine schöne Cousine auf die gemachten Vorschläge zu antworten?«
»Sie fragt zurück: was gedenkt der Herr Graf zu thun, wenn die Cousine gar nicht auf ihn achtet?«
Bis dahin hatte Magnus, nachlässig im Sopha lehnend, das Gespräch mit Herta geführt, jetzt schnellte er empor, als bewegten ihn unsichtbare Kräfte, und stellte sich vor das junge Mädchen. »In diesem nicht denkbaren Falle, meine Schöne,« versetzte er flüsternd, »wird der entehrte Graf Magnus von Boberstein in der gemüthlichsten Weise Genugthuung von seiner liebenswürdigen Gegnerin fordern.«
»Und diese Gegnerin wird nicht anstehen, diese dem Grafen zu geben, wenn sie es für nothwendig hält.«
[] »Wirklich? Sieh da, meine schöne Cousine hat wirklich Heldenblut in ihren Adern.«
Herta wendete sich ab von dem Grafen und setzte sich unter das grüne Laubdach am Fenster. »Da ich nunmehr weiß,« sprach sie, »was Dich zu diesem unschicklichen Besuche veranlaßt hat, und auch Du von mir erfahren hast, was und wie ich von Dir denke, so wünscht' ich, daß eine Unterhaltung beendigt werden möge, die beiden Theilen gleich unangenehm ist.«
»Glaubst Du, ich werde mit solcher Antwort unverrichteter Dinge fortgehen? Dann wäre ich werth, daß man mich als wahnsinnig einsperrte.«
»Du willst mich also noch länger beunruhigen? Nun dann werde ich Hilfe bei denen suchen müssen, die mir sie angelobt haben.«
Sie stand auf, um zu schellen.
Magnus vertrat ihr den Weg.
»Daran hab' ich gedacht,« sagte er sarkastisch lächelnd, »und weil ich einem so schönen und zarten Geschöpf nicht gewaltsam entgegentreten wollte, schnitt ich vor meinem Besuch der Glocke die Zunge aus.«
»Abscheulicher!« murmelte Herta, wie vorhin [] sich wieder mit dem Rücken gegen ihren Schreibtisch lehnend.
»Ich sorgte blos dafür, daß kein nutzloser Lärm noch Skandal entstehn möchte! – Also ganz in der Kürze, zürnender Engel, willst Du mir beistehen und eine Thorheit durch feines Schweigen zur rechten Stunde vergessen machen? Blos ja oder nein!«
»Nein!«
»Das ist wirklich eine bündige Antwort. Auch in der Schloßhalle wirst Du nicht fehlen?«
»Auch da nicht.«
»Und wenn mich die Wendin und ihre vermuthlichen Beistände anklagen?«
»Dann werde ich gegen Dich zeugen.«
Magnus senkte den Kopf ein wenig und schloß die Augen einige Sekunden, als wolle er um jeden Preis einen Ausweg ersinnen. Er fühlte, daß der Boden unter ihm zusammenbrach, daß sein Ansehen für immer dahin war, wenn sein Vater in momentaner Mißstimmung gegen ihn entschied und Röschen frei sprach. Nach einiger Zeit richtete er seine durchbohrenden Blicke wieder auf Herta.
»Nun,« sprach er, »ein Mann schickt sich in [] das Unvermeidliche, so gut es geht. Der Tag nach dem Feste soll mich als Mann kennen lernen! Wie aber stehen wir von jetzt an mit einander, süßer Trotzkopf?«
»Einem wohlerzogenen Cavalier wird dies der Anstand sagen.«
»An Frieden ist also nicht zu denken?«
»Ich heuchele nie!«
»Und wenn ich statt der weißen die blutrothe Flagge aufziehe?«
»Auch dann werde ich weder meine Meinung noch mein Verfahren ändern.«
»Das wird freilich Blut kosten,« erklärte Magnus achselzuckend.
»Willst Du mich ermorden?« fragte Herta lächelnd.
»Nicht doch, nur an die versprochene Genugthuung erinnern!«
»Ja so!«
»Darf ich die schöne Cousine vielleicht gleich heut nach der Waffengattung fragen, die sie für diesen Fall bestimmt?«
»Wenn der Graf Magnus sich mit einem Mädchen durchaus schlagen will,« versetzte Herta [] mit komischer Ernsthaftigkeit, »so muß ich ja wohl zur Pistole greifen.«
»Also Pistolen. Sehr wohl. Und der Ort des Rencontre?«
»Jeder beliebige, welchen Graf Magnus für sicher hält.«
»Großmüthig entschieden, ich muß gestehen!«
Die letzte Hälfte dieses Gespräches hatte Magnus mit gesenktem Blicke geführt. Es schien, als grabe er während des Sprechens mit allem Scharfsinne nach Mitteln, die ihn retten könnten, oder als wühle er in den Schachten seines erfinderischen Geistes nach irgend einem abenteuerlichen Plane. Jetzt sah er seine Cousine wieder mit einem jener dämonischen Blicke an, in denen die ganze Gluth der Hölle, überschwebt von einem einzigen bleichen Funken himmlischen Lichtes strahlte, und schien ihr Bild tief in seine Seele einsaugen zu wollen.
»Nun so wünsche ich Ihnen eine gute Nacht und süße Träume,« sagte er, sich tief vor ihr neigend. »Auf Wiedersehen in der Schloßhalle!«
Magnus durchschritt langsam das Zimmer, ohne daß Herta seinen Abschiedsgruß erwiederte [] oder ihn zurückrief. Dicht an der Schwelle blieb er stehen und kehrte sich nochmals um.
»Schöne Cousine, soll es denn wirklich geschehen?« sagte er mit beklommenem Herzen. »Muß es durch den Starrsinn eines Mädchens dahin kommen, daß die Buben auf den Straßen mit Fingern auf uns zeigen werden? Und dieses selbe Herz, dieser selbe Mund, der jetzt kein Wort der Gnade für mich hat, ließ mich ehedem glauben, sie hörten nicht ungern auf meine Gespräche! – O ich will nicht sprechen von Liebe – das wäre eine Entweihung – ich will nur Minuten, nur lichte gaukelnde Secunden aus der Vergangenheit zurückrufen, in denen wir nicht ahnten, daß wir uns dereinst so gegenüberstehen würden! Und uun, welche Kluft hat sich aufgerissen, welche entsetzliche Verwandlung ist vorgegangen!«
»Wer hat sich dessen anzuklagen?« fragte gleichgiltig Herta.
Magnus that hastig einige Schritte rückwärts. »O Gott sei Dank, doch ein Wort, ein Laut, der mich lehrte, daß jene Bilder noch nicht gänzlich in der Seele verwischt sind! – Herta, angebetetes Mädchen, Engel, wegen dessen Verlust [] ich gefrevelt habe, für den ich litt, wie Wenige gelitten, vergib mir, reiche mir Deine Hand, nimm mich auf an Deinen reinen Busen und ich will Dich ehren, wie eine Heilige!«
Und er warf sich vor ihr nieder.
»Man sieht, daß Graf Magnus die französischen Schauspieler in Berlin nicht ohne Nutzen gesehen hat.«
Dem Grafen stieg das Blut in den Kopf, seine Stimme zitterte, wie sein ganzer Körper.
»Herta,« keuchte er, »keinen Hohn, ich bitte um Deines ewigen Heiles willen! Es ist keine Lüge, es ist Wahrheit, quälende, mich aufreibende Wahrheit, ich liebe Dich, liebe Dich bis zur Raserei!«
»Wenn Sie jetzt wirklich, vielleicht zum ersten Male in Ihrem Leben die Wahrheit reden sollten, Herr Graf,« erwiederte Herta mit vornehmer Ruhe, kalt, aber nicht verletzend, »so muß ich Ihnen, wie ich dies immer gethan zu haben mich entsinne, ebenfalls die volle lautere einfache Wahrheit sagen. Ich liebe Sie nicht, aber ich interessirte mich für Sie, weil ich das Eigenthümliche in Ihrem Charakter, Ihre großen Vorzüge und Anlagen unter einem wüsten [] Trümmerfeld gemeiner Schwächen achtete. Mit solchem Auge sah ich Sie kommen und gehen, bis Sie mich jetzt so unritterlich überfielen. Ich habe es Ihnen bereits gesagt, und nur Sie haben es dahin gebracht – jetzt folgt Ihnen meine Verachtung! – Wir können uns nichts mehr sein und würde auch diese feindselige Trennung, die ich jetzt so ruhig ausspreche, mein Unglück auf Erden!«
Magnus war inzwischen wieder aufgestanden. »Ein so hartes Urtheil aus so schönem Munde ist sehr niederschlagend,« sagte er tonlos. »Ich sehe, daß ich zu viel gewagt, zu viel verloren habe, um noch etwas zu gewinnen. So füge ich mich denn in mein Schicksal. – Aber nach dem Feste –«
»Werde ich Wort halten,« sagte Herta kühl und entschlossen.
»Dann bleibt es also bei dem Rencontre?«
Herta gab ihre Zustimmung durch Kopfnicken zu erkennen und Magnus schlich unbemerkt in sein Zimmer zurück.
[] Fünftes Kapitel.
Das Gericht.
Weder Magnus noch Herta schliefen in dieser Nacht. Jenen folterte gekränkte Eitelkeit und Durst nach Rache, diese entwarf menschenfreundliche Pläne zum Besten des armen leidenden Volkes und ließ ihre Gedanken in die Zukunft hinüberschweifen, wo ihren aufgeregten Sinnen und ihrer entzückten Phantasie das strahlende Bild einer Welt erschien, in der alle Menschen gleichermaßen in Glück und Freiheit schwelgten.
Die Drohungen ihres entarteten Vetters schreckten das muthige Mädchen nicht, denn sie lebte des festen Glaubens, daß Lug und Trug an dem silbernen Schilde der Wahrheit zerschellen müßten. Das angedrohte Rencontre vergaß [] sie sogar vollständig, weil sie es durchaus nicht für möglich hielt, daß ein ehrenwerther Mann im Ernst einem Weibe solche Zumuthungen machen könne. Auch kannte Herta den abenteuerlichen Charakter ihres Vetters hinlänglich, um in seinem Vorschlage eben nichts als einen neuen romanesken Auswuchs seiner mittelalterlichen Ritterlichkeit zu erblicken. Hätte sie wirklich an Ausführung der Drohung glauben können, dann würde die gegen ihre schöne Brust gerichtete Mündung eines Pistols wahrscheinlich alle schelmischen Träumereien aus ihrer Seele verscheucht haben.
Am andern Morgen gab Herta dem fragenden Clemens zusagende Antwort und bestellte ihn mit seiner Geliebten am Tage nach dem Feste wieder aufs Schloß. – Da in der Zwischenzeit nichts Bedeutendes sich zutrug, übergehen wir dieselbe mit Stillschweigen. –
Zur festgesetzten Zeit wurden ihr am Tage nach Ostern die Wenden gemeldet und Herta ließ ihre Schutzbefohlene sogleich vor. Sie ward überrascht von der verschämten Lieblichkeit Haideröschens und konnte jetzt wohl begreifen, daß diese frische, naive Mädchenknospe die Sinne [] ihres lockeren Vetters hatte bestricken und in Flammen setzen können.
Die Wendin hatte ihren besten Staat aufgelegt, der in jener einfachen Kleidung bestand, die wir schon früher beschrieben haben. Eine dichte Reihe goldener krauser Löckchen drang unter dem sauber geglätteten leinenen Spitzenhäubchen hervor und umsäumte die klare Stirn des lieblichen Kindes mit einer reizenden Glorie. Schüchtern und von Dankgefühl durchdrungen, warf sich Haideröschen vor Herta auf die Knie und stammelte unter Freudenthränen:
»Dank, tausend Dank, gütige Herrin, für so viel Gnade!«
»Steh' auf, mein Kind!« sagte Herta, der Wendin liebreich beide Hände reichend. »Umarme mich und betrachte mich wie eine Schwester. Auch mir nagt mancher Kummer am Herzen und die Bekümmerten sollen einander ja suchen, trösten und aufrichten. – Arme Kleine, wie Du zitterst! Wie Dein Herz schlägt! Bist Du allein gekommen oder hat Dich Dein Bräutigam begleitet?«
Bei dem Worte »Bräutigam« erröthete Haideröschen bis an die Stirn. Sie schlug die Augen [] nieder und versetzte: »Wir sind noch nicht verlobt, gnädiges Fräulein, aber Clemens hat mir gesagt, daß er kein anderes Mädchen, als mich, zur Frau nehmen will.«
»Gewiß, so soll es geschehen! Ist Clemens im Schlosse?«
»Clemens, mein armer Vater und auch mein Pathe Ehrhold. Sie ließen sich nicht zurückhalten und warten draußen, um Ihnen für so viele unverdiente Gnade recht von Herzen zu danken.«
»Das ist mir lieb, arme Kleine, denn ich glaube, wir werden ihrer in Kurzem bedürfen. Dein Widersacher ist nämlich hier erschienen und hat Dich bei seinem Vater verklagt.«
»Graf Magnus?« rief Haideröschen erbleichend aus.
»Ja, gutes Mädchen, er selbst. Aber fürchte Dich nicht so, er kann Dir heut kein Leid zufügen. Sein Vater, der gerechtigkeitliebende Graf Erasmus und Dein eigentlicher Gebieter, hat mir zugesagt, Dich zu schützen. Du stehst also unter seiner Obhut, und wenn Du mir offen und wahrheitsgetreu den Vorgang mit dem bösen [] Grafen Magnus erzählst, so kann Dir Niemand ein Haar krümmen.«
»Muß ich denn meinen Todfeind sehen?« fragte Haideröschen.
»Nicht blos sehen wirst Du ihn, Du mußt ihn auch als Deinen Verführer bezeichnen und genau Alles, was er Dir vorgespiegelt hat, im Beisein des alten Grafen erzählen.«
»Ach Gott, das kann ich ja nicht!«
»Warum nicht, mein liebes Röschen?«
»Das würde ja dem Herrn Grafen zur Unehre gereichen.«
»Eben deßhalb mußt Du es Wort für Wort erzählen. Der Elende soll entlarvt werden vor denen, die er beleidigt hat. Die armen Unterthanen sollen erfahren, daß er ein harter Tyrann, ein schlechter Mensch ist und daß, wenn er sich nicht bessert, ihm Niemand Gehorsam zu leisten braucht.«
»Wenn er seinen stechenden Blick auf mich richtet, vermag ich nicht zu reden.«
»Es wird schon gehen, gutes Röschen, nur Muth! Graf Erasmus will Dir wohl, Du bist von diesem Augenblicke an in meinen Diensten und darfst meinen Schutz in Anspruch nehmen. [] Mit ein wenig Selbstvertrauen wird Alles zu Deinem Gunsten sich entscheiden.«
Niedergeschlagen neigte die Wendin ihr Köpfchen und weinte, daß die hellen Thränen über ihre Wangen herabliefen. Herta ließ inzwischen die Ankunft Röschens und ihrer Angehörigen dem Grafen anzeigen und um dessen fernere Befehle bitten. Bevor Antwort auf diese Anfrage erfolgt, wenden wir uns auf einige Minuten zu Magnus.
Der geneigte Leser erinnert sich aus dem vorigen Kapitel, daß die Zimmer des jungen Grafen, der ein seltener Gast im alten Schlosse war, in beträchtlicher Entfernung von den übrigen bewohnten Gemächern lagen und nur durch vielfach in einander laufende und sich kreuzende Corridore mit diesen in Verbindung standen. Eine Menge schmaler Treppen und finsterer Gänge, wie man sie in allen alten Feudalschlössern findet, fehlten auch auf Boberstein nicht und machten es dem, der sie genau kannte, leicht möglich, das ganze Schloß in seiner großen Ausdehnung von einem Flügel zum andern zu durchwandern. Magnus, in Boberstein erzogen, besaß diese Kenntniß, da er als Knabe die abgelegensten [] Verstecke, die finstersten Treppen und geheimsten Thüren zu seinen Spielen aufgesucht und benutzt hatte. Wir erwähnen dies hier, weil es für unsere Erzählung alsbald von Bedeutung sein wird.
Der junge Graf hatte den größten Theil der Nacht in heftiger Aufregung verlebt, nicht aus Furcht vor dem nächsten Tage, der ihm eine Demüthigung prophezeite, die seinen Stolz tödtlich zu verwunden drohte, sondern von Gedanken gepeinigt, von Plänen und Entwürfen gefoltert, die er bei sich erwog und wieder verwarf. Er hatte einen Entschluß gefaßt, der ihn vor wilder Freude zittern machte, von dem er sich unaussprechlichen Genuß versprach, nur über die Art und Weise der Ausführung desselben war er mit sich noch nicht vollkommen im Klaren. Es war dazu nöthig, daß er vorerst, wie er dies als Knabe fast täglich gethan hatte, alle Verbindungsgänge des alten Schlosses genau wieder untersuchte und sich mit Schloß und Riegel so vieler nie geöffneter Thüren abermals bekannt machte. Denn um seinen Zweck zu erreichen, mußte jedes Hinderniß bei Zeiten entfernt werden.
[] So schlich nun Magnus in der Nacht, welche dem Gerichtstage vorherging, als die tiefe Stille ihm sagte, daß alle Diener im Schlosse zur Ruhe gegangen seien, leise aus seinem entlegenen Zimmer. Er glich einem feigen Mörder, wie er das Licht mit vorgehaltener Hand schirmend, den blanken Hirschfänger unterm Arm, gebückt, mit falschem, funkelnden Auge, das bleiche Antlitz von dem schwarzseidenen Tuche umrahmt, die knisternden Stiegen auf und nieder wandelte, Thüren öffnete, die mit grauen Spinngeweben vergittert waren, und deren Bewohner, vom plötzlichen Lichtschein erschreckt, in schnellem Laufe nach allen Seiten hin auseinander stoben. Einige Thüren fand er geschlossen. Vor diesen blieb er lange stehen, während seine Hand die Thürschlösser prüfend untersuchte. Ueber dieser Nachtwanderung verstrich mehr als eine Stunde. Magnus hatte sie gegen eilf Uhr begonnen, und als die Schloßschelle dumpf dröhnend Mitternacht schlug, kehrte der finstere, entschlossene junge Mann eben zurück. Das lange schrille Austönen der Glocke machte ihn stehen bleiben. Ein dünner Luftzug, der von rechts durch eine schmale hohe Thür hereinblies [] und die Flamme des Lichts niederwärts krümmte, erregte seine Aufmerksamkeit. Er stellte den Leuchter in eine Mauerblende zur Seite, drückte gegen die Pforte und öffnete sie. Der dunkle Nachthimmel mit seinen flimmernden Sternen fiel herein in den düstern Gang und übergoß mit weichem Glanz die dämonischen Züge des Grafen.
Magnus trat hinaus auf die Zinne des Schlosses, die rund um die weitläufige Burg lief und von einer ziemlich hohen Brustwehr geschirmt war. Unter ihm lag der See, schwarz und still, nur erleuchtet von den Sternbildern, die sich in ihm spiegelten. Darüber in unabsehbarer Ausdehnung dunkelte die Haide. Ein geisterhaftes Rauschen klang von ihr herüber und bewegte leis die dunklen Kronen ihrer Millionen Bäume. Hie und da schoß eine Sternschnuppe nieder, bei deren dunstigem Leuchten fern und nah grauweiße Rauchsäulen über dem endlosen Baummeere sichtbar wurden, die sich erst hoch in der Luft ausbreiteten und dann wie zartes Piniengeäst majestätisch in den Nachthimmel hinaufwuchsen. Von Zeit zu Zeit dröhnte ein dumpfes Krachen aus der Haide und erstarb in matten Echolauten. [] Dann kreischten Uhu und anderes Gevögel laut auf und schwarzes Gefieder ward momentan sichtbar über den zitternden Wipfeln.
Graf Magnus ließ sein brennendes Auge bald auf dem See, bald auf dem schwarzen Saum der Haide ruhen, indem er langsam nach einem der vier Eckthürme ging, die mit ihrem braunen Mauerwerk weithin die Haide überragten. Bei jedem dieser Thürme wand sich in das Gestein gesprengt eine schmale Treppe bis auf die Felsen der Insel hinab, wo sie mit den tiefen Verließen und Kellern des Schlosses in Verbindung stand. Von Außen konnte auch das schärfste Auge diese Felsenstiege nicht entdecken, was in früher vorgekommenen Befehdungsfällen für die Bewohner der alten Burg sich als höchst vortheilhaft erwiesen hatte. Jetzt hatte Niemand mehr Acht auf diese feudalistisch-praktische Befestigungsart. Die Stufen waren zum Theil zerbröckelt und der ganze beschwerliche Weg nur mit einiger Anstrengung noch gangbar.
Magnus beschlich das Gelüst, auch diese Treppe wieder einmal zu betreten. Als er aber den Fuß auf die erste Stufe setzte, zitterte die Melodie eines Gesanges von der Haide herüber. [] Er blieb stehen. Die Worte konnte er nicht vernehmen, allein Ton und Weise des Gesanges sagten ihm, daß ein später Wanderer eines jener zahllosen wendischen Lieder singe, die unter dem Namen »Feldlieder« bekannt sind und vom Volke bei der Arbeit auf Feld und Wiese erst gedichtet, dann nach selbst dazu erfundener Melodie gesungen werden. Der nächtliche Sänger hatte eine kräftige, klangreiche Tenorstimme, die mit dem heiligen Rauschen der Wälder eigenthümlich harmonirte. Nach einigen Minuten verhallte der Gesang in der Ferne und die vorige tiefe Ruhe trat wieder ein.
Den jungen Grafen überfiel plötzlich ein Frösteln. Er schauerte in sich selbst zusammen, und obwohl er von Natur durchaus nicht furchtsam war, kam es ihm auf der öden Zinne seines Stammschlosses jetzt doch unheimlich vor. Es war ihm, als habe der Schutzgeist der uralten Thürme und Giebel seine Stimme erschallen lassen und als fühle er noch seine unsichtbare Nähe. Schneller, als zuvor, ging Magnus zurück, schloß mit einiger Hast die Luckenthür und kam, in kalten Schweiß gebadet, auf seinem Zimmer an. Hier ging er noch lange auf und nieder, ehe er [] sich ruhig genug fühlte, um sich den schirmenden Armen des Schlafes anvertrauen zu können.
Am nächsten Morgen erweckte ihn Hundegebell. Als er in den Schloßhof hinabsah, bemerkte er Haideröschen inmitten ihrer nächsten Anverwandten. Dieser Anblick jagte ihm das wilde Blut ins Gesicht und vergegenwärtigte ihm die vergangenen ärgerlichen Auftritte, die jetzt einen so peinlichen Ausgang verhießen.
Die Flucht der schönen Wendin von seinem Besitzthume war ihm in jeder Hinsicht verdrießlich, am meisten aber deshalb, weil es nach dem, was zwischen ihm und dem Mädchen vorgefallen war, ganz den Anschein haben mußte, als sei er ein verworfener Bösewicht. Ob ihn das Volk im Allgemeinen dafür hielt, darum kümmerte er sich nicht. Er machte überhaupt kein Geheimniß aus seinen Gelüsten. Daß er aber gerade in einer Angelegenheit, wo er sich einer bessern Absicht, wenigstens in jenem Augenblicke bewußt gewesen, als frevelhafter Verführer erscheinen mußte, dies verdroß ihn über die Maßen und erzeugte jetzt einen Haß gegen Haideröschen, wie er ihn gegen sonst Niemand empfand noch je empfunden hatte. Je mehr er sich dessen bewußt ward, desto [] fester bildete sich in ihm ein Racheplan gegen das arme Mädchen aus, an dessen Verwirklichung er jedoch nur dann zu gehen sich gelobte, wenn seine eigene Ehre auch nur leise durch ihr Betragen gekränkt werden sollte. Dieß war indeß blos ein jesuitischer Kniff, mit dem er sein Gewissen retten wollte, in seinem geheimsten Innern war es längst fest beschlossen, die widerspänstige Leibeigene zu verderben, weil sie gewagt hatte, ihm zu widerstehen, ja ihn sogar zu verklagen und Schutz gegen ihn zu suchen.
Verächtlich ließ Magnus seine Blicke über die drei wendischen Männer gleiten, die unter dem gothischen Portal der Burgthür stehen blieben und leise mit einander sprachen, während Haideröschen allein das Innere des Schlosses betrat. Er kleidete sich gemächlich an, schellte dem Diener und befahl das Frühstück, das er mit gutem Appetit verzehrte. Er wunderte sich, daß sein pünktlicher, strenger Vater so lange auf sich warten ließ und glaubte schon, er könne sich wohl gar anders besonnen haben, als ein Bedienter ihm den Befehl des Grafen Erasmus überbrachte, sich schleunigst in die untere Schloßhalle zu verfügen. Magnus nickte vornehm mit dem [] Kopfe beeilte sich aber keineswegs, dem erhaltenen Befehle pünktlich nachzukommen. –
Inzwischen waren die drei Wenden, Jan Sloboda, Ehrhold und Clemens, auf Erasmus Geheiß in die erwähnte Schloßhalle gerufen worden. Diese Halle lag im Erdgeschoß rechts von der Eingangspforte. Sie war gothisch gewölbt und erhielt durch drei schmale gothische Fenster mit runden erblindeten Scheiben ihr Licht. Eine große Flügelthür von gewaltigen eichenen Pfosten schied sie von der Flur. Doch war diese Thür in der Regel geöffnet, weil aus der Halle eine aus Eichenholz geschnitzte Wendeltreppe in Form eines runden Thurmes in das erste Gestock hinaufführte und dieser Aufgang zu den Zimmern des Burgherrn näher war als auf der breiten Freitreppe von Sandsteinquadern im Flur. Die Schloßhalle war mit bunten achteckigen Kacheln und Ziegeln gepflastert und an den Wänden etwa drei Ellen hoch mit einer Verschaalung von Eichenholz eingefaßt, an der sich breite Bänke hinzogen. In der Mitte stand ein großer langer Tisch, ebenfalls von Eichenholz und wie für die Ewigkeit gezimmert, und der hohen Eingangsthür gegenüber sah man an der Wand einen [] langen über drei Fuß hohen eichenen Klotz aufgerichtet, der mehrere runde Oeffnungen hatte, die etwa vier Zoll im Durchmesser halten konnten. Dieser Klotz war der »Stock,« das gewöhnliche Werkzeug, welches die ländliche Gerechtigkeitspflege bei Bestrafung leichter Vergehen damals anzuwenden pflegte, und das Vorhandensein dieses »Stockes« in der Halle bewies, daß man dieselbe in vorkommenden Fällen stets als Gerichtszimmer benutzte.
An der einen Wand der Halle, den Fenstern gegenüber war eine Art Empore oder Gallerie angebracht, zu welcher eine Treppe führte. Auf dieser pflegten sich bei solchen Gelegenheiten, wo der Schloßherr den Richtern der ihm untergebenen Ortschaften feierlich seine Verordnungen und Befehle bekannt machte, die Mitglieder seines Hauses zu versammeln. Dasselbe fand bei Gerichtsverhandlungen statt und auch jetzt nahmen die alte Gräfin nebst Herta bereits ein paar Stühle mit geschnitzten hohen Holzlehnen ein, die zu diesem Behufe auf der Gallerie vorhanden waren.
Der Graf selbst hatte sich von seinen Dienern in die Halle hinab tragen lassen und saß [] als Richter an dem erwähnten eichenen Tische. Rechts von ihm unweit der Thür hatte Haideröschen bleich und zitternd Platz genommen, während die Wenden und die Dienerschaft an der Schwelle zur Halle mit entblößten Häuptern standen und ehrfurchtsvoll der Eröffnungen harrten, die ihnen der Graf machen würde.
Erasmus beauftragte so eben seinen Kammerdiener, nachzusehen, wo sein Sohn bleibe, als Magnus auf der Wendeltreppe erschien und dem Anscheine nach vollkommen harmlos in die Halle hinabstieg. Er trug sein gewöhnliches grünes Jagdkleid, der kleine dreieckige blaugraue Hut saß schief auf den Locken seines frisch gepuderten Haares. Erst als er in die Halle trat, nahm er ihn ab, grüßte mit verbindlichem Lächeln nach der Gallerie hinauf und verbeugte sich dann gegen den Grafen, indem er an die schmale Seite des Tisches trat und den Fenstern den Rücken zukehrte.
»Sie haben befohlen, mein Vater,« sagte Magnus, »und aus der Bereitwilligkeit, mit welcher ich Ihren Befehlen gehorche, mögen Sie ersehen, welches Vergnügen es mir gewährt, Ihnen gefällig zu sein.«
[] Diese Worte, obwohl lächelnd und mit Grazie gesprochen, enthielten doch einen offenbaren Hohn, denn die Versammelten hatten geraume Zeit auf den jungen Grafen warten müssen und deutlich geung die langsamen Schritte gehört und das Zögern gesehen, womit er die Treppe herunterstieg. Erasmus gab sich nicht die Mühe, seinem ungerathenen Sohne zu antworten, da er voraussah, daß ein Wortkampf daraus entstehen würde, der hier zu nichts führen konnte. Er wendete sich vielmehr sogleich an die junge Wendin und redete sie freundlich und leutselig an:
»Sage mir jetzt, mein Kind, ganz offen und ohne Scheu, wie Du heißt?«
Furchtsam stammelte Haideröschen ihren Namen, die schönen Augen fest auf die bunten Ziegeln heftend.
»Du bist ihr Vater, Jan Sloboda?« fragte Erasmus weiter.
»Ja, ja, gnädigster Herr Graf, das arme Ding ist mein liebes liebes Kind. Ihre Mutter – tröst' sie Gott – war just eben so munter und zierlich, als ich sie kennen lernte vor einem Vierteljahrhunderte.«
Der Graf winkte dem Wenden, daß er [] schweigen solle, und kehrte sich wieder zu dem zaghaften Mädchen.
»Kennst Du diesen jungen Mann?« fragte er, auf seinen Sohn zeigend.
»Ach gewiß kenne ich ihn!« seufzte Röschen. »Es ist ja Ew. Gnaden gnädiger Herr Sohn.«
»Ich höre, Röschen Sloboda, daß Du eine Klage gegen meinen Sohn angebracht hast, ich fordere Dich auf, diese in allen ihren Einzelnheiten jetzt hier zu wiederholen.«
Purpurgluth übergoß Gesicht und Nacken der Wendin, sie blickte einige Male scheu auf nach dem Grafen, schlug aber die Augen sogleich wieder zu Boden und schwieg. Magnus, der seinen scharfen Geierblick keine Sekunde von Röschen verwendete, lächelte ironisch.
»Rede, mein Kind, der gnädige Herr Graf will es,« flüsterte ihr Sloboda zu, allein dem geängstigten Mädchen war die Zunge wie gelähmt; sie brachte nur unverständliche, stotternde Worte heraus.
»Besinne Dich und nimm Dir Zeit,« redete sie Erasmus wieder äußerst freundlich an. »Ich will Dir wohl, arme Kleine, und verspreche Dir, geschehenes Unrecht so viel wie möglich wieder [] gut zu machen. Hat Dich Graf Magnus unwürdig behandelt?«
»Ach nein, nein, Ew. Gnaden, wie wäre das möglich!« stieß Röschen heraus, während verdoppelte Gluth ihr zartes Kindergesicht überflammte.
»Ich sagte es ja,« fiel Magnus lächelnd ein.
»Hat Dich mein Sohn nicht aus der Mitte Deiner Freunde mit Gewalt entführt?«
»Das ist freilich wahr, aber nachher sagte mir der junge gnädige Herr, daß er es gethan habe, um mir schöne Kleider machen zu lassen.«
»Und hast Du ihm verziehen?«
»Warum nicht? Er war nachher recht gütig gegen mich.«
»Aber späterhin drohte er Dir, nicht wahr, und deshalb ergriffst Du einen Leuchter, um Dich gegen ihn zu vertheidigen?«
Hier stürzte Röschen auf die Knie, erhob flehend die gefalteten Hände zu dem Grafen und rief: »Sein Sie gnädig, Herr Graf, daß ich so arg gefehlt habe! Ich wußte ja nicht, daß ich den guten jungen Herrn treffen würde. Ich fürchtete mich so sehr!«
[] Erasmus hieß die Wendin aufstehen und betrachtete sie schweigend. »Eine andere Klage hast Du also wirklich nicht gegen den Grafen Magnus vorzubringen?« fragte er nach einer Pause.
»Gewiß und wahrhaftig nicht!«
»Sie sehen, mein Vater,« fiel Magnus ein, »daß man Ihnen unartige Mährchen erzählt hat. Es ist voll kommen wahr, was die kleine Wendin behauptet. Ich entführte sie, wenn man einen Scherz Entführung nennen will, weil ich ihr eine ihren Naturgaben angemessene Erziehung zu geben gedachte, und, ich gestehe es, weil mich der offene Widerstand verdroß, den ihre Angehörigen meiner Forderung entgegensetzten. Als Ihr Sohn und Erbe, mein Vater, glaubte ich das Recht zu besitzen, eine Ihrer Leibeigenen gleichsam leihweise mir zur Dienerin auswählen zu dürfen. Diesen Eingriff in Ihre Rechte, wenn mein Verfahren ein solcher ist, hat sie hart an mir gerächt. Die Kopfwunde, welche ich trage, zeugt noch von der dämonischen Wuth, die in ihr kochte, und von der aufsätzigen Gesinnung, die seit einiger Zeit unter Ihren Knechten, mein Vater, sich geltend macht. Gern wollte ich der kleinen [] schönen Sünderin ihr Unrecht gegen mich verzeihen, forderten nicht Gesetz und Recht, daß man ihr Verfahren bestrafe. Ein Leibeigener, der frevelnd seine Hand gegen den Herrn erhebt, darf nicht frei ausgehen, wenn ähnliche Verbrechen in Zukunft unterbleiben sollen. Aus keinem andern Grunde trage ich auf exemplarische Bestrafung des Mädchens an.«
Erasmus ward durch das furchtsame Schweigen der Wendin in nicht geringe Verlegenheit gesetzt, da es nicht nur nicht in seiner Macht stand, Haideröschen freizusprechen, sobald sie sich selbst schuldig bekannte, sondern ihm auch alle Aussicht sich als milden Gebieter seiner Unterthanen und als strengen Richter gegen sein eigenes Haus zu zeigen, damit gänzlich abgeschnitten ward. Er hatte grade auf das Gerechtigkeitsgefühl und die Naivetät des unverdorbenen Mädchens am meisten gehofft, und darauf hin allein diesen öffentlichen Weg eingeschlagen, und nun sah er seinen wohl überlegten Plan an der Schüchternheit und Herzensgüte der Wendin scheitern. Rechnen wir noch dazu, daß ihm die Richtigkeit der Bemerkungen seines Sohnes einleuchtete, und daß er, obwohl grade, bieder und durchaus rechtlich gesinnt, [] keineswegs offenem Umsturze des Bestehenden und rohem Aufstande das Wort reden wollte, so blieb ihm nichts übrig, als sich den Umständen zu fügen und Haideröschen für ihr Vergehen wirklich zu bestrafen, obwohl dasselbe nur die allergerechteste Nothwehr gewesen war.
»Besinne Dich wohl, Röschen,« nahm er nach einiger Zeit wieder das Wort .. »Bist Du hart und unehrerbietig von diesem jungen Mann behandelt worden, so sage es mir. Es soll Dir Niemand ein Haar krümmen bei meinem gräflichen Wort!«
Allein auch auf diese nochmalige dringende und in väterlich bittendem Tone an die Wendin gerichtete Aufforderung schüttelte Haideröschen den Kopf, indem sie unter rinnenden Thränen sprach: »Seine Gnaden haben mich behandelt, wie eine Magd, nicht anders, aber ich fürchtete mich vor seiner flehenden Miene. und darum schlug ich ihn.«
Magnus triumphirte. Sein glänzendes Auge begegnete dem Blick seiner Mutter, die neben Herta auf der Gallerie saß und mit stolzer Verachtung auf die demüthigen Wenden hinabsah.
Ein vergnügtes Lächeln ging über ihr Gesicht und[] grüßend erhob sie graziös die Hand mit dem Fächer, der häufig von ihr auf- und zugeklappt wurde.
»Es thut mir leid, mein Kind,« versetzte Graf Erasmus nach diesem Geständnisse des geängstigten Mädchens mit sichtbarem Verdruß, »daß ich Dir eine gelinde Strafe für das gewaltthätige Benehmen gegen meinen Sohn zuerkennen muß. Deine Jugend, Deine Unerfahrenheit und die offenbar ungewohnte Lage, in welcher Du Dich befunden, mildern mein Urtheil, das nach dem Buchstaben des Gesetzes weit härter lauten würde. Meine Frohnknechte werden Dich eine Stunde in den Stock legen, diese Strafe durch Anschlag an dem Burgthore und in Deinem Geburtsorte bekannt machen und Jedem freien Zutritt gestatten, der Dich in dieser demüthigen Lage sehen will.«
Bei diesem Urtheilsspruche stieß Herta einen lauten Schrei aus und fiel entkräftet Gräfin Utta auf die Schulter. Entrüstet über ihre empfindsame Nichte, rief die stolze Frau die Zofen herbei, um die Ohnmächtige deren Pflege zu übergeben.
[] Zugleich trat Magnus seinem Vater einen Schritt näher.
»Wie,« sagte er, »eine Stunde im Stock soll die Strafe für diese freche Dirne sein, die mir den Hirnschädel mit dem gewichtigen Leuchter zerschmettern konnte? Ich protestire gegen diesen Spruch, mein Vater, im Namen aller Edlen, die sich in mir entehrt sehen. Den Pranger hat das ungehorsame Geschöpf verdient und eine Tracht Ruthenstreiche auf den entblößten Sclavenrücken unter Zusammenruf aller Leibeigenen auf dem Schloßhofe! Ich trage darauf an und erwarte, mein Vater, daß Sie meine Gründe berücksichtigen werden.«
Ruhig versetzte dagegen Erasmus: »Mein Urtheilsspruch bleibt in Kraft. Ich habe ihn gefällt nach reiflicher Ueberlegung und wünsche, daß Du die geheimen Beweggründe, die mich dazu veranlassen, Dir selbst sagst, damit ich mich nicht genöthigt sehe, sie Dir einzeln hier vor diesen Leuten ins Gedächtniß zu rufen. – Frohnknechte, vollzieht das Urtheil und legt die Wendin in den Stock!«
Bleich vor Zorn und mit zitternden Lippen trat Magnus zurück. Zugleich ergriffen zwei [] Knechte des Grafen das schlanke Mädchen und führten es zu dem Eichenblocke, der an der Wand der Halle stand. Haideröschen folgte willig und schweigend wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank schleppt. Nur die häufigen Thränen, die in schmalen Silberbächen über die mattrothen Wangen herabrieselten, zeugten von dem Kummer ihres Herzens, von der Schaam, die sie verzehrte. Denn im Stocke gelegen zu haben, war eine Schmach für Jeden, zumeist für ein junges Mädchen, das im Begriff stand, einem ehrlichen Burschen ihre Hand als Gattin zu reichen. Sie sah jetzt ihr ganzes kleines Glück zertrümmert, ihre Zukunft, die sie sich in rührender Genügsamkeit so freundlich ausgemalt hatte, für immer verdüstert. Kein ehrlicher Wende, glaubte sie, würde ihr jetzt einen Tanz mehr antragen, Clemens werde sie verlassen, sie fliehen, wie eine Aussätzige, und jedes Schutzes bar werde sie in die Schlingen des boshaften Blauhuts fallen, der sich, wie sie deutlich durch ihre Thränen bemerkte, an ihrem Jammer weidete.
Sie mußte sich Schuhe und Strümpfe ausziehen, während die Knechte den schweren Block abhoben. Dann nöthigte man das geduldige [] Kind auf den kältenden Ziegelboden niederzusitzen und die zartgeformten Füße bis über die alabasterweißen Knöchel in die Löcher des Eichenpfostens zu legen, worauf die Knechte die abgenommene Hälfte des Blockes wieder aufsetzten, mit starken Klammern an den untern Klotz anschlossen und die arme kleine Wendin unbarmherzig zwischen beide Klötze einklammerten. Haideröschen ward durch diese Strafe in eine höchst unbequeme Lage versetzt. Da sie nur von mittlerer Frauengröße, der untere Theil des Stockes aber bis zu den Oeffnungen fast eine halbe Elle vom Fußboden erhoben war, konnte sie sich nur mit großer Anstrengung aufrecht erhalten. Doch würde sie dies mit Geduld ertragen haben, da ihre Seele tausendmal mehr litt, als ihr Körper, daß aber durch diese Stellung ihre jungfräulichen Glieder bis an die Knie entblößt wurden und daß die lüsternen Blicke des schadenfrohen Grafen Magnus an ihren enthüllten schönen Formen sich ungestraft weiden durften, das preßte ihr Herz zusammen und raubte ihr beinahe alle Besinnung.
Sobald die Straffällige in den Stock gelegt war, ließ sich Erasmus zurück in sein Zimmer [] tragen. Man sah es ihm an, daß er diesen Ausgang nicht erwartet hatte und sehr unzufrieden mit der Wendung war, die die ganze Angelegenheit genommen. Er zürnte sogar der kleinen Wendin, die ihre eigene Schüchternheit gegen seinen Willen so hart büßen mußte. Darum sah er sich auch weder nach ihr noch ihren Begleitern um, die mit entblößten Häuptern, den Riemen der Knechtschaft um die Stirn gewunden, lautlos auf der Schwelle standen und mit Betrübniß das weinende Mädchen im Stocke betrachteten. Glücklicherweise fanden sich außer der zahlreichen Dienerschaft des Grafen keine Neugierigen ein, um die Bestrafte anzuglotzen oder wohl gar zu verhöhnen. Nur Magnus blieb in der Halle und wanderte eine volle Stunde mit verschränkten Armen an Haideröschen auf und nieder, eben so begehrliche als wüthende Blicke auf sie heftend. Die Unglückliche fühlte die Gluth seiner bösen Augen, obwohl sie nicht zu ihm aufzublicken wagte, und weil sie ahnte, daß ihre Erniedrigung ihn ergetzte und die nackten Glieder seinem Herzen ein Labsal seien, that sie sich die entsetzliche Gewalt an, eine volle Stunde ohne die geringste Bewegung in derselben qualvollen Stellung zu verharren. [] Man würde sie für todt gehalten haben, wäre nicht in bald längeren bald kürzern Pausen ihrer Brust ein schwerer Seufzer entschlüpft und hätte man nicht das heftige fieberhafte Klopfen des züchtig verhüllten jungen Busens gesehen.
Die Stunde dünkte Haideröschen allerdings eine Ewigkeit, indeß sie verging und mit einem unbeschreiblichen Wonnegefühl sah sie die Knechte wieder nahen und sie aus dem Blocke erlösen. Als sie sich aufrichtete, traf ihr scheues Auge wie ein Weheruf den jungen Grafen, der mit seinem kalten, festen Lächeln in den dämonisch schönen Zügen vor ihr stand und sich höflich verbeugte. Zu ihrem unsagbaren Erstaunen reichte ihr Blauhut die Hand und sagte:
»Jetzt Versöhnung, liebes Röschen! Ich trage keinen Groll mehr gegen Dich in mir. Du hast gebüßt, das genügt mir. Von heut an bin ich wieder Dein gnädiger, gütiger, Dir wohlwollender Herr!«
Haideröschen war sprachlos vor Erstaunen. Magnus mußte ihr seine Hand aufdringen, was sie zwar geschehen ließ, doch ohne den sanften Druck zu erwiedern, den sie fühlte. Selbst auf [] den Gruß, mit dem er von ihr ging, zu danken, vergaß sie vor Verwunderung und Entsetzen.
Dagegen jauchzte sie innerlich auf vor Frende, und süße, fromme Klänge, wie heiliges Glockengeläut, das zur Kirche rief, ging durch ihre Seele, als sie jetzt eine Hand sich sanft auf ihre Schulter legen fühlte und beim Umwenden ihr noch von Thränen feuchtes Auge auf das gutmüthige Gesicht des Geliebten fiel, der, sie sanft rüttelnd, ausrief: »Arme Röse, nun hast Du's überstanden und bist wieder mein!«
Sie warf sich jubelnd an die breite Brust des jungen Wenden, und ohne daß er sie darum bat, drückte sie die heißen vor Schmerz und Wonne bebenden Lippen an seinen Mund. Dann fiel sie wieder in ein stilles Weinen. Clemens ließ sie gewähren und strich nur manchmal mit seiner flachen harten Hand über die duftigen Löckchen ihrer blüthenweißen Stirn.
Nachdem sich Haideröschen an der Brust des Geliebten ausgeweint hatte, bemerkte sie erst, daß sie barfuß auf den kalten Ziegeln der Halle stand. Schnell bückte sich das arme Kind, raffte die blauen Zwickelstrümpfe mit sammt den blanken [] Bänderschuhen auf und lief der Thüre zu, wo ihr Vater und Ehrhold lehn ten. Treuherzig reichte sie beiden Männern die Hand und bat sie flehentlich, sie möchten ihr die Schande nicht entgelten lassen, die sie unwillkürlich über ihre Angehörigen gebracht habe. Es hätte jedoch solcher Bitte nicht bedurft, denn den beiden ernsten Männern war es nie eingefallen, das arme Mädchen anzuklagen. Jan zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn und Ehrhold nahm ihre kleine Hand und legte sie in die seines Sohnes, um der Zweifelnden durch die That zu beweisen, daß er sie gern und freudig als Tochter begrüßen wollte.
Beruhigt setzte sich nun Haideröschen auf die Holzbank, womit die Wände rundum bekleidet waren, und beeilte sich, die frierenden Füßchen mit Strümpfen und Schuhen wieder zu bekleiden. Noch damit beschäftigt, sagte sie zu ihrem Vater:
»Nicht wahr, ich darf wieder mit Euch heimgehen? Denn das liebe gnädige Fräulein wird mich jetzt, nun ich eine solche Strafe habe erleiden müssen, nicht mehr um sich sehen mögen.«
[] »Ich werde Dich in der Haide verbergen, mein Kind,« versetzte Sloboda.
»Und Clemens sieht schon darauf daß mir der junge Herr nicht wieder nachstellt,« meinte Haideröschen lächelnd.
»Warum läßt unser Herrgott solche Menschen leben, und die besten, die frömmsten, die gütigsten sterben hin wie Mücken! Da kräht kein Hahn drüber.«
»Nach Regen folgt Sonnenschein, Jan! Laß uns hoffen und stark bleiben!« sagte Ehrhold.
Haideröschen hatte die Schuhe angezogen und strich die üppig vorquellenden goldenen Haare unter das reine Linnenhäubchen zurück.
»Nun da können wir aufbrechen, denk' ich,« sagte sie mit einem Anfluge von Munterkeit. »Ein Frühstück setzt uns die Herrschaft schwerlich vor.«
Jan schlang den Arm um den Nacken seiner Tochter und sah ihr still in die großen hellen Kinderaugen.
»Gott erhalte mir nur Dich!« sagte er gerührt. [] »Ich wüßte nicht, was ich thäte, wenn Du mir genommen oder verführt würdest! Alles Andere, allen Kummer, Noth und Elend und Druck will ich ertragen, aber Dich, mein süßes, duftendes Veilchen, das einzige Erbe meines guten Weibes, Dich kann ich nicht entbehren, ohne den Verstand zu verlieren.«
Sloboda überschritt die Schwelle der Halle und wollte eben die wenigen Stufen hinabsteigen, die in die geräumige Flur der Burg führten. Da hörte er laut den Namen seiner Tochter von einem Bedienten hinter sich rufen, der eilenden Laufes die eichene Wendeltreppe herab stürmte. Die Wenden blieben stehen.
»Was befiehlt der gnädige Herr Graf?« fragte Clemens.
»Fräulein Herta will Röschen Sloboda sprechen.«
Die Augen des Mädchens glänzten vor Freude und Dank. »O sie ist gut!« rief sie aus, ihre Hände faltend. »Ihr dürfen wir und Alle, die unglücklich sind, vertrauen. Wartet auf mich, bis ich zurückkomme oder Euch Antwort sagen lasse.«
[] Sloboda nickte beistimmend und Haideröschen stieg gesenkten Hauptes, fromme Wünsche für das gute Fräulein in sich tragend, hinter dem Bedienten die Wendeltreppe in das alte Schloß hinauf.
[] Sechstes Kapitel.
Ein Bubenstück.
Der großen Schloßhalle gegenüber, in welcher Haideröschen die schmählige Strafe erlitten hatte, lag die Wohnung des Kastellans. Ein gewölbter finsterer Gang, der für Unbekannte auch bei hellstem Sonnenschein nur mit einer Leuchte zu finden war, führte in den zweiten Flügel des Schlosses, wo Magnus seine Zimmer hatte. Diesen Gang benutzte der Kastellan, wenn ihm sein Amt in diesem Theile des Schlosses etwas zu thun gab. Magnus kannte diese Verbindung sehr genau und stand von früherer Zeit her mit dem alten Haspel, wie der Kastellan hieß, auf leidlich gutem Fuße, obwohl neuerdings der grade Sinn des Alten sich gegen die Lasterhaftigkeit des reichen jungen Herrn auflehnte.
[] Eine Stunde nach der Strafscene begab sich Magnus durch den erwähnten Gang in Haspels Wohnung. Er fand sie leer. Hatte er dies auch nicht erwartet, so freute er sich doch darüber, denn zu seinem Geschäft, das er mit Haspel abmachen wollte, war Einsamkeit weit vortheilhafter. Er hätte lügen müssen, wenn er im Falle der Anwesenheit des Kastellans seinen Zweck erreichen wollte, und dies fiel ihm gerade jetzt etwas schwer.
Horchend blieb der junge Mann einige Secunden lang an der Thür stehen, bis er sich überzeugt halten konnte, daß ihn Niemand sehe, Niemand höre. Dann schlich er quer über die Stube bis an den bunten Kachelofen, der zur Hälfte in die Mauer eingeschoben war, damit er noch ein kleineres Gemach, wo die Diener hausten, zugleich mit erwärme. In einem an den Ofen stoßenden und etwas gegen die Thür vorspringenden Pfeiler war ein starker Haken angebracht. An diesem hing ein gewaltiges Schlüsselbund mit vielen blanken und verschiedenen verrosteten großen und kleinen Schlüsseln. Magnus griff danach und hob es behutsam, damit es nicht klirre, von dem Hacken. Wieder zauderte und [] horchte er, aber es blieb draußen im Flur wie auf dem Hofraum und im Zimmer der Diener mäuschenstill.
Nun setzte sich der Graf auf den alten mit brüchigem Leder überzogenen Lehnstuhl am Ofen, legte sanft das Schlüsselbund auf seinen Schooß, drehte die Schraube auf, welche den eisernen Reif zusammenhielt, und bog diesen auf halbe Zollweite auseinander. Dann ließ er prüfend die Schlüssel durch seine Finger laufen und wählte drei der rostigsten aus, zwei größere und einen kleinen, die er dem Reif entnahm. Sobald dies mit größter Vorsicht geschehen war, schloß er den Reif wieder mit der Schraube, hing das Bund an den Haken, versteckte sorgfältig seinen Raub und verließ das Zimmer des Kastellans auf demselben Wege, den er gekommen war. Kaum hatte sich die Gangthür hinter ihm geschlossen, so trat Haspel ein. Nichts ließ errathen, daß vor wenig Secunden sein junger Gebieter sich in der Kunst des Stehlens mit so vielversprechendem Erfolge geübt hatte.
In seine Zimmer zurückgekehrt, verschloß Magnus die Thür, legte die drei entwendeten Schlüssel vor sich hin und betrachtete sie lange [] mit Blicken, in denen eine satanische Freudenflamme zuckte. Dann nahm er gelassen den Riemen seines Hirschfängers und säuberte sie von den ärgsten Roßflecken, worauf er sie wieder zu sich steckte. Die Schloßschelle schlug eben die eilfte Morgenstunde, als er damit fertig war.
Magnus öffnete das Fenster und sah hinab auf den Schloßhof, über dem sich fröhlich zwitschernde Schwalben in dem blauen Luftzelt auf und niederschwangen, das in sonniger Durchsichtigkeit auf den grauen Zinnen der Burg ruhte. Die drei Wenden traten aus der Schloßhalle, ihre Hüte in den Händen, ehrfurchtsvoll den Worten lauschend, die Herta's zierlich gekleidete Dienerin zu ihnen sprach. Dies machte den Grafen stutzig und spannte seine Neugier. Das hübsche Mädchen sprach laut genug, um über den ganzen Schloßhof gehört zu werden.
»Es jst der Wille des gnädigen Fräuleins und unseres guten Herrn Grafen,« sagte Emma, »und da fügt Euch nur immer darein. Es wird einmal nicht anders!«
»Wer möchte dies auch wollen, gutes Kind,« versetzte Sloboda. »Ich sage ja bloß, daß ich es nicht begreifen kann. Wundert Euch nicht darüber, [] meine Gute. Wir armen Ungkücklichen, wir finden uns eher zurecht in schwerem Jammer, als in dürftiger Freude. Das kleinste Glück bringt uns gleich aus dem Häuschen. Und wenn ich bedenke, was mein süßes kleines Herzblättchen, mein Röschen, so eben hat ausstehen müssen – so vor allen Leuten – vor Hoch und Niedrig – und ich höre nun, daß das gnädige Fräulein sie trotzdem umarmt und geküßt und mit ihr geweint hat über die Strafe, und daß sie von Stund an bei ihr Dienst, Brod und Schutz finden soll – seht, da schwindelt's mir vor den Augen und ich kann's nur mit Mühe fassen.«
»Fräulein Herta thut nichts halb, mein Lieber,« entgegnete mit sichtbarem Stolz die Zofe. »Das müßtet Ihr doch eigentlich schon wissen, wenn Ihr Augen und Ohren hättet. Darum läßt sie Euch sagen, es sei Euch erlaubt, Eure Tochter zu jeder Stunde zu sehen. So oft Ihr wollt, könnt Ihr in's Schloß kommen, so lange, bis Alles wegen der Heirath Röschens, die der Herr Graf in Gnaden und gegen Erlegung der üblichen Loskaufskosten genehmigt, in Richtigkeit gebracht sein wird.«
»Tausend Dank! Tausend Dank!« stammelte [] Sloboda gerührt, beide Hände des niedlichen Mädchens im Eifer seiner Erregung heftig drückend. Mit einem Ausdruck schmerzlichen Unbehagens entzog diese sich dem riesigen Wenden.
»Schon gut,« sagte sie, »ich thue so 'was gern umsonst.«
»Ach,« fiel Clemens ein, »sagt doch auch dem gnädigen Fräulein viele tausend Segensgrüße von mir, und ich würde für sie beten bei Wachens- und Schlafenszeit und so viel Sterne flimmerten nicht auf der Milchstraße des Himmels, als gute Gedanken für sie in meinem armen Herzen leuchteten und glänzend über sie aufgingen, wie Gestirne an einem hellen Winterabend, und ich ließe sie um alles in der Welt bitten, sie möchte mich nur noch ein außereinziges Mal ihr mildthätiges Segenshändchen küssen und mein trauriges Auge in ihrem frommen Himmelsblick sich sonnen lassen! Um Gottes willen vergeßt das nicht, mein schönes Kind!«
»Gewiß, ich will es nicht vergessen, weil Du ein so höflicher Bursche bist.«
»Auch von Pathe Ehrhold sagt ihr viele schöne Grüße, Jungfer, und Gottes Segen möge mit ihr sein allerwärts!«
[] »Laßt's nun gut sein, Gevatter!« sagte Sloboda. »Es ist Zeit heimgehen, damit wir noch ein paar Stunden an die Arbeit kommen, denn morgen ist Hofetag. Der Herr sei gepriesen, daß ich leichtern Herzens von dannen gehen kann, als ich herkam. Nochmals Gottes Segen auf Seine Gnaden, des alten Herrn Grafen graues Haupt, und Euch, Jungfer, viel fröhliche Tage und einen schmucken Schatz!«
»Ich dank' schön,« sagte Emma schnippisch und hüpfte leichtfüßig die breiten Stufen zur Pforte hinan. Die Wenden aber gingen, leise in ihrem Idiom mit einander sprechend, nach dem innern Burgthore, über dessen crenelirte Mauerzinne ein paar Zacken der colossalen steinernen Grafenkrone heraufragten, welche das stolze Wappen der Boberstein schmückte.
Magnus verfolgte die drei Wenden, bis sie auf dem gewundenen abwärts führenden Wege seinem Auge entschwanden. Seine vorher heitern Gesichtszüge waren jetzt hart und streng geworden und der böse tückische Ausdruck seines Blickes, der in solchen Momenten Entsetzen erregend in ihm aufloderte, schleuderte falbe zuckende Blitze aus den nach innen sich senkenden Augenhöhlen. [] Ungestüm wendete er sich um und sah tückisch nach dem Schloßflügel, wo seine Aeltern und Herta wohnten. Wilder Hohn zuckte um seine Lippe und kräuselte sie in stolzer Verachtung. Dann trat er zurück in's Zimmer, verschlang die Arme über der breiten Brust und ging, das Haupt mit dem zierlich gekräuselten Haar bald senkend, bald es stolz zurückwerfend und triumphirend in die Luft starrend, im Zimmer auf und nieder.
»Also doch,« sprach er für sich, »doch das schöne Trotzköpfchen aufgesetzt trotz Ohnmacht, Stock und Schande! – Das ist so Mädchenart, wenn sie wissen, daß sie einen Anbeter, den sie nicht lieben mögen, damit ärgern können. – Aber Du verrechnest Dich, schönes Mühmchen! Magnus gehört nicht zu jenen schmachtenden Liebhabern, die wochenlang zu den Füßen ihrer grausamen Prinzessinnen liegen können, ohne die Geduld zu verlieren und etwas von Stolz in sich lebendig werden zu fühlen. Der sittenlose, leichtsinnige Magnus hat seit einigen Tagen mit allem Aerger abgeschlossen, sein treuer Gefährte und tapferer Bundesgenosse ist jetzt die Rache! – Du hast ihn selbst dazu aufgefordert und darfst Dich jetzt nicht beklagen, wenn er sein Mannesund [] Grafenwort löst. – Es soll originell geschehen, schönes Mühmchen, das verspreche ich Dir, so originell, wie Du mich immer fandest, ohne mich doch Deiner Liebe werth zu achten. –«
Magnus ging hastiger durch das Zimmer, dann blieb er stehen und sprach wieder:
»Mein Herr Vater hat mich heut zwar auffallend glimpflich behandelt und nur vereinzelte dünne Strahlen seiner Ungunst auf mich fallen lassen, ja im Ganzen kann ich sogar zufrieden sein mit dem Ausgange dieser fatalen Geschichte. Dennoch aber bin ich tief gekränkt an meiner Ehre und davon trägt Herta allein die Schuld. – Für diesen Trotz und Stolz soll sie büßen, soll sie mir Rechenschaft geben! – Genugthuung hat sie mir zugesagt – die Wahl des Ortes mir freigelassen. – Wie, wenn ich sie nun wirklich beim Worte nehme und sie als Dame mit aller ihr gebührenden Galanterie behandle? – Darf ich's wagen?«
Ein Blick voll Gluth und Flamme schoß aus dem Auge des beleidigten, rachgierigen und in sinnlicher Lust wild entbrannten Mannes. Er ballte die linke Hand gegen das Fenster, die heiße, üppig schwellende Lippe öffnete sich und zeigte [] den Silberglanz feiner weißen Zähne. Er holte tief und röchelnd Athem, denn das Blut schoß ihm stürmisch zum Herzen und machte seine Adern auf der Stirn und an den Schläfen schwellen, daß sie wie blaues Pflanzengeäst an die weiße glänzende Haut sich anklammerten. Ein Beben ging durch seinen Körper, als rase die Wuth eines hitzigen Fiebers in ihm.
»Ja,« keuchte er pfeifend aus röchelnder Brust, »es geht, wenn ich die Zeit klug berechne – es geht und Niemand kann etwas ahnen, Niemand kann mich hindern!«
Wohl über eine Minute stand der kräftige Mann in dieser furchtbaren Aufregung mitten im Zimmer; dann ließ die Spannung seiner Muskeln und Nerven langsam nach. Die Pulse schlugen wieder ruhiger, der Athem röchelte nicht mehr, die strotzende Fülle der pochenden Adern verlor sich. Er hatte einen festen, furchtbaren Entschluß gefaßt und jeden Einwurf seines Gewissens mit dämonischer Kraft beseitigt. Sanft, mit weicher, schalkhafter Miene setzte er sich an das Pult und begann einen Geschäftsbrief zu schreiben. –
Haideröschen war inzwischen von Herta mit schwesterlicher Zärtlichkeit empfangen worden. Gerade [] die Schmach, die man dem wehrlosen furchtsamen Mädchen angethan und die sie mit der Ergebung einer gottgefaßten Märtyrerin ohne Murren erduldet hatte, machte sie ihr noch werther und ihres besondern Schutzes bedürftiger. Herta zürnte sogar mit dem alten Grafen, daß er auf Kosten einer armen Wendin dem Buchstaben mehr gefolgt war, als seinen bessern Herzensregungen. Nur der ausdrückliche Befehl des Grafen, daß sie nunmehr Haideröschen in ihre Dienste nehmen solle, versöhnte sie wieder einigermaßen mit ihm.
Das Bestreben des zartfühlenden Edelfräuleins ging zuvörderst dahin, die Wendin zutraulich zu machen. Obwohl ihre Dienerin, sollte sie doch vollkommen wie eine Gesellschafterin mit ihr leben. Darauf hatte sie nach Herta's Art, Welt und Menschen zu beurtheilen, gerechte Ansprüche theils, weil sie ohne Schuld Verfolgung und Strafe erduldet, theils, weil sie schön, aufgeweckten Geistes und reinen Herzens war. Der edele, heilige Wunsch Herta's, für die Befreiung armer Darniedergebeugter, vom Schicksal oder menschlicher Härte Gedrückter ihr eigenes Glück zu wagen, konnte sie nicht anders handeln lassen. So[] auffallend und dem eingefleischten Verfechter adelicher Vorurtheile anstößig daher die trauliche Umarmung dieser beiden trefflichen Geschöpfe erscheinen mochte, so tief berechtigt fühlte sich Herta dazu. Es war nur das unverholene, ehrliche Geständniß der rein menschlichen Weltanschauung, die Herta in dem grünen Frieden ihrer Epheulaube aus den Schriften der neuen deutschen Dichter gesogen hatte, das sie am Busen einer ihrer zarten Schwestern ablegte, jenes Geständniß, daß alle Menschen einander gleich sind, mögen sie in schimmernden Palästen oder im feuchten Moorrauch zerbröckelnder Hütten geboren werden. Für sie gab es keine Stände, keine Kasten. Sie kannte weder Aristokraten noch Demokraten, sondern nur gute und schlechte Menschen, und wo sie jenen begegnete, da blühte ihnen ihre weiche Seele entgegen, wie die sich öffnende Rose dem weltvergoldenden Morgenroth, wo diese ihr in den Weg traten, da schrak sie zurück und ihr Herz verhüllte sich vor jeder Berührung mit ihnen.
Ohne zu sprechen hielten sich beide Mädchen lange innig umschlungen und ließen ihre Thränen wie zwei silberne Bächlein in einander fließen; [] denn auch bei Haideröschen verschwand die angeborene Schüchternheit, da ihr das feine Fräulein mit solcher Liebe, solcher tiefen und reinen Theilnahme entgegen kam. Leicht vergaß sie ihre grobe, dürftige Kleidung und schmiegte sich an die zarten, weichen Stoffe, die Herta's edle Gestalt umflossen und die sie nur gewählt zu haben schien, um mittelst derselben ihre schönen Formen deutlicher hervorzuheben.
Ueber die Schönheit beider Mädchen ein Urtheil zu fällen, würde auch dem gewiegtesten Kenner schwer gefallen sein. Herta überragte die Wendin um eine halbe Handbreite und schien in ihrer feinen modernen Kleidung und dem einfach schönen Haarputz, der blos aus einer üppigen Fülle glänzend brauner Locken bestand, voller, schlanker und von jener unbeschreiblichen Atmosphäre geistigen Adels umwogt, in der ein unnennbares Gemisch von Anziehungskraft und scheuer Abstoßung für Alle liegt, die sich ihr nahen. Der edelste Blüthenstaub reinster Bildung leuchtete auf ihrer Stirn, strahlte mild aus ihren großen, gütigen Augen, in denen so oft eine goldene Thräne glänzte, oder durch dessen schönen Himmel der trübe Schatten eines melancholischen [] Gedankens flatterte. – Haideröschen war die schönste Verkörperung ihres Namens – ein Kind der duftigen Kieferwälder, deren Rauschen ihr das erste Schlummerlied sang, frisch, natürlich, ohne Ahnung jener feinen Verderbtheit, mit deren süßem Parfüm sich die Civilisation besprengt und unter deren befleckender Schminke sie sich erst für gebildet hält. Haideröschen war naiver als Herta, und nach einem überstandenen Schmerze ohne alle Sorge und banges Nachdenken. Sie dachte erst dann an das Vorhandensein eines Unglückes, wenn sie mitten darin stand und sich nicht mehr zu helfen wußte.
Herta sah auf den ersten Blick ein, daß sie gerade in diesem Kinde des Waldes gefunden habe, was sie sich stillschweigend so oft gewünscht. Ihre gegenseitige Verschiedenheit verbunden mit dem edeln Kern und unverfälschten Grundton ihres Wesens mußte das glücklichste Einverständniß zwischen ihnen hervorbringen, sobald die Schranken gefallen waren, die zwischen der Tochter des Leibeigenen und der Cousine des allgewaltigen Grafen aufgerichtet standen. Herta hatte das beste Mittel ergriffen, diese auf einen Ruck für immer niederzustürzen. Die Wendin [] fühlte sich ihre Schwester, als sie nach langer Umarmung der gütigen Retterin in die überströmenden Augen sah. Alle Schüchternheit war von ihr gewichen, sie hatte ein Herz gefunden, dem sie vertrauen, an dem sie sorglos ruhen konnte.
Die ersten Stunden ihres Beisammenseins brachten die seelenverwandten Mädchen mit Erzählung ihrer Jugendschicksale zu. Wir können mit gutem Gewissen sagen, daß diese zu einfach waren, um die Theilnahme unserer heutigen Leser zu erwecken, weshalb wir nicht weiter darauf Rücksicht nehmen wollen. Später wußte Herta durch allerhand Fragen den Bildungsgrad ihrer Schützlingin zu erforschen, und da sie diesen sehr niedrig stehend fand, beschloß sie, der Wendin eine vorsichtige und liebevolle Lehrerin zu werden. Ganz zuletzt erst kam die Rede auf die Beschäftigung, die fortan Haideröschens Tagewerk bilden sollte, und hier ordnete Herta an, daß sie wesentlich weiter nichts zu thun haben solle, als ihr Zimmer in steter Ordnung zu halten und sie zu bedienen. Dies konnte füglich nicht Arbeit genannt werden; allein grade dies beabsichtigte Herta, um bei dem geschäftigen Müssiggange ihrer schönen [] Dienerin diese selbst nie aus den Augen zu verlieren und immer über sie und ihr Wohl zu wachen.
Erst bei Tafel sah Herta ihre Pflegeältern wieder, die beide nicht in der besten Stimmung waren. Graf Erasmus hatte sich geärgert über das bösartige Benehmen seines Sohnes, so wie, daß er sich in Folge desselben genöthigt sah, eine Strafe über das lammruhige Haidekind zu verhängen, die mit seinen Empfindungen nicht sympathisirte. Dadurch hatten sich seine Gichtschmerzen vermehrt und folterten ihn mit hartnäckiger Ausdauer. Seine Gemahlin dagegen fühlte sich schwer beleidigt durch die Aufnahme der bestraften Leibeigenen in ihr Haus und würde ihren Aerger Herta haben entgelten lassen, wenn dies unbemerkt und ungeahndet hätte geschehen können. Da keine Hoffnung dazu vorhanden war, mußte sich die empörte Frau mit schweigender Abneigung und fleißigem Gebrauch ihres Fächers begnügen, wenn ihr von der aufmerksamen und stets zarten Cousine ein Speisegeräth gereicht wurde oder wenn der Graf mit seinem Liebling em karges Gespräch anknüpfte.
Magnus nahm an dieser kleinen Familientafel [] keinen Theil, was bei dem vorherrschenden Verhältniß zwischen ihm und dem Vater nicht auffallen konnte. Es hieß, er sei beschäftigt und werde noch vor Abend nach dem Zeiselhofe abreisen. Bei dieser Nachricht schien Herta leichter zu athmen und ein Gefühl der Bewegtheit, das bisher die gewohnte Freiheit ihres Benehmens behindert hatte und das sie immer befiel, wenn sie Magnus auf Boberstein wußte, verschwand. Auch sah sie bald nach der Tafel den jungen Grafen in Begleitung seines Reitknechtes zum Schloßthore hinausgehen.
Niemand von den sämmtlichen Schloßbewohnern wußte bei hereinbrechender Nacht, ob der künftige Besitzer Bobersteins wirklich abgereist sei. Auch kümmerte sich Niemand darum, da dem jungen herrischen Gebieter nicht ein einziger Diener wahrhaft zu gethan war. Hätte es, wie in den Zeiten des Mittelalters, noch einen Thurmwart gegeben, so würde dieser bei einiger Aufmerksamkeit Abends bei grauweißem Mondlicht, das rollendes Gewölk sehr dämpfte, um die Mauerzinnen eines der vier hohen Eckthürme der Burg einen Schatten haben schlüpfen sehen, welcher der Gestalt des jungen Grafen [] ähnelte. Und wirklich war es Magnus, der nach halbstündiger Entfernung von Boberstein plötzlich sein Roß anhielt, etwas auf dem Schlosse vergessen zu haben vorgab, den Reitknecht vorausschickte und in langsamstem Schritt auf Umwegen durch die Haide zurückritt. Erst mit Einbruch der Nacht ruderte er sich selbst über den See und erstieg auf dem von uns bereits angedeuteten Felsenwege die Höhe der um das ganze Schloß laufenden Brustwehr, die er einige Nächte früher schon umschritten hatte. Die schmale Dachthür verschaffte ihm Zutritt in das Innere der Burg, wo er geraume Zeit brauchte, um – diesmal ohne Licht – die schon vorher untersuchten Gänge und Treppen wieder zu finden und mittelst der geraubten Schlüssel die verrosteten Thüren zu öffnen, die seinem weiteren Vordringen im Wege gewesen waren.
Häufig hat es den Anschein, als sei die Vorsehung mit dem Verbrecher, als ebene sie ihm bereitwillig die Bahn, um das Verderben mitten in das Heiligthum edler Familien zu tragen. Auch Magnus ward auf seiner nächtlichen Wanderung von jener dämonischen Macht beschützt, deren geheimnißvolle Zwecke wir oft erst [] nach langen langen Jahren begreifen und dann als weise anerkennen müssen. Niemand störte den Grafen in seinem verbrecherischen Vorhaben. Die seit Jahren nicht mehr geöffneten Thüren wichen dem leisesten Drucke geräuschlos, und ohne ein einziges Mal zu straucheln, ohne an verdächtig hallende Wände zu streifen, stieg Magnus von Stockwerk zu Stockwerk hinab bis in den von seinen Aeltern bewohnten Flügel. So erreichte er nach mühseliger Wanderung – um der Wahrheit die Ehre zu geben – nicht ohne heftiges, oft seinen Athem versetzendes Herzklopfen einen engen Verschlag. Behutsam betastete er alle Wände, bis er auf den kaum fühlbaren Knopf einer Feder stieß, der bei starkem Druck die Wand nach außen öffnete. Ein zweiter, noch engerer Raum, der sich als ein Wandschrank erwies, nahm ihn auf. Mit Behagen sog er den Duft ein, der aus diesem kaum eine Elle tiefen Verschlage ihm entgegenfluthete und seine Seele mit wollüstigen Bildern umgaukelte. Er griff in das graue Gewebe, das er berührt hatte, und die weichen Seiden- und Sammetgewänder, die sich schlangenglatt an seine Hände schmiegten, überzeugten ihn, daß ein junges Mädchen hier [] ihe Kleider aufbewahre. Er trat zurück, schloß die verborgene Thür wieder und setzte sich lauschend auf die letzte Stufe der Treppe, die ihn bis hieher geführt hatte.
Aus einem der früheren Kapitel werden sich unsere freundlichen Leser erinnern, daß Herta die Gewohnheit hatte, gegen neun Uhr die Gemächer ihrer Pflegeältern zu verlassen und in ihrem stillen Zimmer noch eine Stunde oder auch länger mit den edlen, für das Wohl der Menschheit arbeitenden Geistern ihres Volkes zu verkehren. Die letzten Abende mußte sie auf diesen Genuß verzichten, da Erasmus ihre ganze Bibliothek besaß. Um so erfreuter und von herzinnigem Dank bis zu Thränen gerührt war sie, als ihr heut der Greis, während sie den Thee servirte, ihren kleinen Schatz freiwillig wieder einhändigte. Er sah dabei so mild und dankbar aus, daß in dem klaren Ausdruck seiner Mienen und dem sprechenden Blick seines Auges das Geständniß lag, er billige die Lectüre seiner Nichte. Herta fühlte dies so schnell und sicher, wie ein Liebender die Erwiederung seiner Neigung, und die geliebten Bücher an ihr Herz drückend, sagte sie mit schönem Feuerauge:
[] »Nicht wahr, Väterchen, das ist ein Mann, der Schiller! Und die Andern, wie fein, wie lieb, wie voll ruhigen Geistes und lebengebender Anmuth sind sie! Das kann nichts Unedles sein, was sie uns sagen und lehren, ob's auch ungewohnt klingen mag! Es muß so geschehen und werden auf dieser schönen Erde mit dem sternengestickten Sammethimmel, wie sie's wagen und wünschen.«
»Es sind Gesänge neuer Propheten,« versetzte Erasmus mit mildem Ernst, »Propheten, wie sie wohl jedes Volk haben muß und gehabt hat, wenn es groß werden, groß bleiben oder groß sterben soll. Vielleicht bedarf jedes Jahrhundert solcher zürnender Geister, um die Völker immer auszurufen aus Traum und Schlummer, dem sie alle Neigung haben sich hinzugeben. Warum sollte das deutsche Volk eine Ausnahme machen? Versteht es die Sprache dieser Geister, so verdient es sie zu hören. Ich wenigstens werde gewiß der Letzte sein, welcher Stimmen begeisterter Gotteskinder für närrisches Gespött hält und zu unterdrücken sucht. Deshalb stille immerhin Deinen Durst an diesem Springquell heiliger Töne, so lange Du Genuß daran findest.«
[] Ihre Schätze im Arm küßte sie Oheim und Tante die Hände, wünschte ihnen mit ihrer Silberstimme gute Nacht und bemerkte in ihrer Seligkeit nicht, daß Utta sich von ihr abwendete und die stolze Hand den frommen Lippen beinahe entzog.
Auf ihrem stillen Zimmer schlug sie unverweilt unter dem Epheudach Schiller's Don Karlos auf und schwelgte noch lange in den stolzen Worten dieses freiheittrunkenen, für das Wohl aller Menschen so hoch begeisterten Herzens. Erst als ihre Augen beim Flackern des Lichtes ermüdeten, legte sie das Buch weg, faltete ihre schmalen Hände darüber, wie über einem Andachtsbuche, und sprach mit zum Himmel erhobenen Augen ihr Nachtgebet. Ohne Worte flehete Herta in der Reinheit ihrer Gedanken um Verwirklichung der Ideen, die Marquis Posa vor Don Philipp ausspricht, um allgemeine Freiheit allen Volkes und um Aufhebung jeglichen Elendes, das auf ihm lastet, wie ihr wohl bekannt war. Dann schellte sie. Haideröschen schob schüchtern ihr feines Gesicht durch die halbgeöffnete Thür.
»Immer herein!« sagte Herta fröhlich. »Es [] ist schon spät, später, als ich gewöhnlich die Ruhe suche. Aber das macht das Glück, von dem ich heut ordentlich überschüttet worden bin. Ich bin ganz aufgeregt; fast besorge ich, nicht schlafen zu können, so zittert mir vor Wonne das Herz! – Und Du, bist Du nicht auch glücklich, mein holdes Röschen? Deine Augen strahlen wenigstens, als hätte sie Dir ein Engel geliehen. Sieh mich immer mit solchen Himmelsaugen an, gutes Kind, dann wollen wir zusammen ein Leben führen, wie im Paradiese. Jetzt hilf mich entkleiden.«
Beide Mädchen traten in Herta's Schlafgemach, das unmittelbar an ihr Wohnzimmer stieß und von aller Verbindung mit andern Gemächern abgeschlossen lag. Es glich einer Kapelle und mochte wohl in früherer Zeit auch dazu benutzt worden sein. Wie die meisten kleineren Zimmer des alten Schlosses hatte es blos ein Fenster. Dies war aber so hoch an der ellendicken Mauer angebracht, daß man einer Stiege bedurfte, um es öffnen zu können. Das Meublement des Schlafgemaches bestand aus einem geräumigen Bett, mit Vorhängen aus schneeweißem Wollenzeuch, einer Commode nebst Waschtisch und [] einigen wenigen Stühlen. Ein Teppich überbreitete den Boden. In der Wand, dem Bett schräg gegenüber, war ein Schrank angebracht. In diesem bewahrte Herta ihre Kleider auf.
Während Haideröschen ihre junge Herrin entkleiden half und die Zartheit ihrer Haut eben so sehr wie die Feinheit ihrer Kleider bewunderte, plauderte Herta ununterbrochen und drückte manchen schwesterlichen Kuß auf die Stirn der schönen Wendin.
»Nun kommt das Schlimmste,« sagte sie schalkhaft zu ihrer neuen Zofe, als sie das weiche bequeme Nachtgewand angelegt hatte, »und wenn Du mir darin nicht genügst, jage ich Dich morgen wieder fort, Du mein Herzensröschen! Wickele mir die Locken, aber raufe mich nicht! Bei meiner Ungnade!«
Obwohl Haideröschen mit den Toilettengeheimnissen der vornehmen Damen nicht vertraut war, ging sie doch mit leidlicher Zuversicht an das verlangte Geschäft und beendigte es nach mannichfachen Scherzen und Unterbrechungen zu Herta's vollkommenster Zufriedenheit. Sie konnte dabei nicht unterlassen, den prächtigen schneeweißen Nacken ihrer jungen Gebieterin wiederholt zu [] küssen, worüber Herta jedesmal in so komischen Zorn gerieth, daß Haideröschen nur ermuntert ward, ihren Lippen die Ruhe in dem warmen duftigen Sammet noch mehrmals zu gönnen.
Endlich war die Nachttoilette beendigt und Herta's Kopf mit einer solchen Menge weißer Papiewickel besät, daß man glauben konnte, die junge Schöne habe sich die braunen Haare mit dem glänzend weißen Geflock jener Sumpfblumen geschmückt, die über Torfmooren in ganzen Wäldern wachsen und des Nachts im Mondschein wie flatternde Mantillen tanzender Elfen blitzen und leuchten. Eine nochmalige Umarmung begleitete die letzte gute Nacht der beiden Mädchen, worauf Haideröschen sich zurückzog und Herta in die weichen Hüllen ihres Lagers flüchtete, die Brust voll süßen Jubels, die Seele voll der edelsten und uneigennützigsten Gedanken.
Ungeachtet ihrer Aufregung fiel Herta doch bald in jenen halbbewußten Zustand, der dem festen Schlaf meistentheils vorauszugehen pflegt. Die heitern Gedanken, mit denen sie sich beschäftigt hatte, schufen ihr angenehme Phantasiebilder, die ihrem geistigen Auge in leuchtender Schöne vorüberschwebten. In diesem glücklichen Schwärmen [] der Seele hörte sie die Schloßuhr eilf schlagen. Die Bilder erloschen in ihr und es ward still und dunkel. Plötzlich fuhr sie schreckhaft zusammen vor einem Geräusch dicht neben ihr. Sie erwachte aus der unklaren Seelendämmerung und schlug weit die großen Augen auf. Da schien es ihr, als weiche die Thür des Wandschrankes aus den Angeln und ihre Kleider schwebten langsam gegen sie heran. Anfangs glaubte sie sich zu täuschen und sah dem nächtlichen Spuk mit erstarrenden Pulsen zu, als sie aber unverkennbar gewahrte, daß eine dunkle Gestalt Schritt vor Schritt ihrem Lager näher kam, richtete sie sich auf und sagte: »Haideröschen, laß die Possen!« denn sie meinte wirklich, die kleine Wendin habe sich wieder in die Kammer geschlichen und wolle sich, aufgemuntert durch ihre Heiterkeit, einen Scherz mit ihr erlauben. Aber das Herz stand ihr still und ein eisiger Schauer überrieselte sie, als auf ihre Frage eine Männerstimme antwortete:
»Ich bedaure, daß meine schöne Cousine ihr Herz so schnell an dieses Geschöpf verschenkt hat.«
Es war Magnus, der in Lebensgröße vor [] ihr stand und mit der ihm eigenen galanten Unverschämtheit die Arme über der Brust verschlang und höhnisch lächelnd seine Falkenaugen auf das erschrockene Mädchen heftete.
Die erste Bewegung Herta's war, nach der Klingel zu langen, die auf dem Nachttisch zu Häupten ihres Bettes stand. Allein Magnus sah dies voraus und fiel ihr in den Arm.
»Das ist nicht die Art, schöne Muhme, einen Ehrenhandel beizulegen.«
Herta kehrte die Sprache zurück. Sie schleuderte einen Blick tiefer Verachtung auf den Abscheulichen und sagte:
»Entfernen Sie sich sogleich, Elender, oder ich erhebe ein Geschrei, daß die Mauern dieses Schlosses beben!«
»Das wirst Du nicht thun, reizendes Mühmchen, weil Du ein Weib bist und Deine Stimme dadurch an Klang verlieren könnte. Bei Gott, ich sah Dich nie in einem verführerischeren Costüme!«
Im ersten Schreck hatte Herta uicht bemerkt, daß ihr Nachtkleid von den runden Schultern gefallen war und sie wie eine blendende Marmorbüste in reizender Formenschönheit dem Grafen [] gegenüber saß. Schmerz und Schaam entlockten ihren zürnenden Augen die bittersten Thränen, und indem sie sich schnell in die Decken hüllte und das Gewand wieder zu ordnen suchte, versetzte sie:
»Vergebe Ihnen Gott diesen Frevel, ich vermag es nicht!«
»Ich komme auch nicht deshalb, anbetungswürdiges Mädchen, ich erscheine, weil Du es befohlen hast.«
»Schamloser Lügner, ich befohlen!«
»Auf Edelmannswort, Muhme! Gestatte mir zu reden und Du wirst einsehen, daß ich vollkommen in meinem Rechte bin!«
Herta verhüllte ihr Gesicht und begann laut zu schluchzen. Magnus stützte sich nachlässig auf den Nachttisch und fuhr in leisem Flüstertone fort:
»Erinnere Dich Deiner vor einigen Tagen mir gegebenen Zusage, liebenswürdige Cousine. Du versprachst mir für die Beleidigung, welche Du mir durch Deine Fürsprache für das Bauernkind zugefügt, Genugthuung. Mir überließest Du Ort und Zeit unseres Zusammenkommens, und um Dir zu zeigen, wie hoch Du in meiner [] Achtung stehst, wählte ich grade diesen Ort, grade diese Stunde und schlug den gefahrvollsten Weg zu diesen traulich-stillen Plätzchen ein. Hier werden wir hoffentlich recht ungestört sein und unsern Ehrenhandel ganz in der Ruhe und ohne Zeugen schlichten können.«
»Sie sollen sich irren, mein Herr!« versetzte Herta entschlossen. »Ihre Abscheulichkeit übersteigt alle Grenzen, darum sollen Sie entehrt und gebrandmarkt werden, wie Sie es verdienen.«
Herta richtete sich wieder auf und suchte abermals die Schelle.
»Was willst Du thun?« fragte Magnus mit schwer verhaltenem Athem.
»Das ganze Schloßgesinde nebst Deinen ergrauenden Aeltern will ich herbeirufen, damit sie sehen, welcher namenlosen Schändlichkeit Du fähig bist!«
»Wenn dies wirklich Deine Absicht ist, will ich Dich nicht weiter hindern und stehe mit Vergnügen von meinem Anliegen zurück. Immerhin laß die Schelle läuten, erhebe Deine Stimme! Mache Lärm, so viel Du wünschest! Nur gestatte, daß ich hier Platz behalten darf, Du [] wirst alsdann zu spät einsehen, daß Du Dich selbst in den Augen aller ehrbaren Menschen entehrt hast, und dadurch genöthigt werden, dem verhaßten Vetter Magnus Deine schöne Hand zu reichen, um ihn zum Altar zu führen.«
Schaudernd leuchtete dem unglücklichen Mädchen die furchtbare Wahrheit dieser Worte ein. Schüchtern zog sie die Hand wieder zurück und verbarg sie frierend in die weißen Decken. Magnus lächelte.
»Was haben Sie mir zu sagen?« stammelte Herta.
»Daß ich Dich liebe, schöne Muhme, liebe bis zum Wahnsinn und daß ich Erwiederung meiner Leidenschaft wünsche, hoffe, befehle!«
»Sie haben längst meine Antwort gehört. Verlassen Sie mich und ich will vergessen, welche Schmach Sie mir zugefügt haben, ja sogar versuchen, ob ich Sie in Zukunft wieder achten lernen kann.«
»Ich ziehe Deine Liebe jeder Art von Achtung vor.«
»Magnus, ich hasse Sie!«
»Dann habe ich gegründete Hoffnung, daß [] Du nach Jahresfrist, sind wir nur erst Mann und Frau, närrisch in mich verliebt sein wirst.«
»Gehen Sie oder ich zerschelle mir den Kopf an der Wand!«
»An meiner Brust wirst Du weicher und angenehmer ruhen.«
»Hinweg!«
»Schöne Muhme, ich habe hier zu fordern, Du nur zu gewähren. Gedenke Deiner Zusage! Ich komme um Genugthuung!«
»Nun so nimm sie Dir!« rief Herta in der Angst der Verzweiflung, richtete sich auf und bot ihm den schönen Busen dar, der zart glänzend aus dem Gewande schimmerte.
»Durchstoße mich mit Deinem Hirschfänger, dann hast Du Genugthuung!«
»Es fällt mir nicht ein, so grausam zu sein,« erwiederte abwehrend der junge Graf, den Augenblick benutzend und seinen Arm um die lebende volle Gestalt schlingend. »Versprich mir Deine Gunst zu schenken,« fuhr er flüsternd fort, »mein Weib zu werden, und ich beendige diese Unterbrechung Deiner Nachtruhe.«
Immer heftiger, immer glühender umschlang er die einer Ohnmacht nahe Herta, mit wilden [] Küssen ihr Lippen, Stirn und Busen bedeckend. Ihr Sträuben gegen die Liebkosungen des Verachteten steigerte nur seine Gluth, seinen Ungestüm. Er wußte, daß die Wehrlose gänzlich in seiner Gewalt sei, daß sie es nicht wagen werde noch könne, durch lautes Toben und Schreien sich Hilfe zu verschaffen. Und selbst in diesem Falle war er zu dem Aeußersten entschlossen, um seinen Zweck zu erreichen.
Als er gewahrte, daß die Kräfte des unglücklichen Opfers seiner brutalen Wildheit sich erschöpften und der Körper des schönen Mädchens in seinen Armen zusammen zu brechen drohte, vergönnte er Herta einige Augenblicke der Erholung.
»Herta, mein Herzenskind,« sprach er, »willst Du denn ewig grausam, ewig unerbittlich sein? Habe ich nicht in schüchternster Weise, zart und sinnig um Dich geworben? Und empfing ich je eine andere Antwort von Dir, als starre Kälte oder beleidigende Stichelreden? – O Du göttliches, widerspänstiges Mädchen, Du weißt nicht, welchen verzehrenden Feuerbrand Du in meine Seele geschleudert hast! Ich kann, ich [] will nicht leben, ohne Dich zu besitzen! Und wenn jetzt ein Erdstoß die hundert Gewölbe dieser Burg mit ihren zahllosen Quadern über uns zusammenstürzt, ich weiche doch nicht von Dir. An Deinem Busen, Lippe an Lippe, im Feuerhauch der Liebe will ich die Schauer des Todes begrüßen und die Wonnen einer Seligkeit schlürfen, gegen welche das Paradies Mohammeds ein wesenloser Schatten bleibt!«
Herta suchte sich gegen den Rasenden in ihrer Ohnmacht dadurch zu schützen, daß sie ihre kleinen Händchen ihm entgegenstemmte und unverständliche Bitten wimmerte. Aber Magnus hatte kein Gefühl mehr für den Schmerz der Verlassenen. Er verdoppelte seine stürmischen Liebkosungen, seine wilden Ausbrüche einer wahnsinnigen Leidenschaft so lange, bis das schwache Mädchen in völlige Apathie versank. Erst als er bemerkte, daß Herta ohne Leben, ohne Puls und Athem, mit gebrochenem Auge, ein bleiches Marmorbild, Thränenperlen in den Grübchen der Wangen und weiße Schaumblüthen auf der duftigen Lippe vor ihm lag, fuhr auf Sekunden ein Reuegedanke durch seine verbrecherische Seele. [] Mit einem Anflug von Mitleid hüllte er die Bewußtlose in ihre Decken und ließ seine Blicke wohlgefällig auf ihrem Antlitz ruhen.
»Jetzt denk' ich doch, soll sie mein Weib werden,« sprach er mit triumphirender Miene. »Wenn sie aber aus eigenem Antriebe zu mir kommt, ihre schönen Arme um meine Knie schlingt und mit herzzerreißender Klage zu mir fleht, ich möge mich doch ihres Elendes erbarmen, dann will ich die Rolle mit ihr tauschen und eben so gewandt den Hartherzigen spielen, wie das hochmüthige Mädchen es bisher mit mir zu halten beliebte. Erst wenn sie ganz zerknirscht sein wird und Hand an sich selbst zu legen sich entschlossen zeigt, erst dann will ich sie wieder zu Gnaden annehmen und mit meinem gräflichen Schild und Namen ihre zerstörte Jugend bedecken. Frohes Erwachen, mein süßes weißes Täubchen!«
Magnus schlich auf leiser Sohle gegen die Wand, verschwand schnell hinter der eingefalzten Thür und schlug wohlgemuth und jetzt wieder äußerst zufrieden mit sich, den finstern Rückweg durchs Schloß ein. Unbemerkt erreichte er das Ufer des See's, sprang in den verborgenen Kahn und ruderte sich behend ans Ufer der [] Haide. Es schlug Mitternacht, als der Missethäter hinter den riesigen Föhren verschwand, sein Pferd bestieg und auf bekannten Wegen in wildem Ritt dem Zeiselhofe zujagte.
[] Siebentes Kapitel.
Eine Botschaft.
Drei Tage später klopfte der Maulwurffänger an Sloboda's niedrige Behausung. Ein ehrlicher Handschlag des Wenden verbunden mit treu gemeintem Gruße empfing den Freund.
»Woher des Weges?« fragte Sloboda, indem er mit dem Fuße die Stubenthür aufstieß und den Gast voranschreiten ließ.
»Von Boberstein,« versetzte Pink-Heinrich, seine Geräthe auf Tisch und Bank werfend und daneben selbst mit untergestemmten Armen Platz nehmend.
»Und Du sagst mir nichts von meiner Tochter, von meinem Herzblatt? Keinen Gruß von ihren lieben Kinderlippen?«
[] »Sie läßt grüßen und wird bald selber wieder zu Dir kommen.«
»Ist man der Armen schon überdrüßig?« sagte stirnrunzelnd der Wende. »Ich dachte, sie sollte bis zum Herbste auf dem Schlosse bleiben, was Rechtes lernen und eine tüchtigere Hausfrau werden, als die meisten andern Haidebäuerinnen.«
»Es ist was vorgegangen auf Boberstein, das ihre baldige Entfernung nöthigt macht.«
»Hat sie sich vergangen?«
»Mit keinem Blick und Gedanken!«
»Nun was denn?«
»Kennst Du das Fräulein, Röschens Gebieterin?«
»Gottes Segen auf ihr Engelshaupt!« rief Sloboda mit ausdrucksvoll erhobenem Blicke.
»Sie ist schwer erkrankt und man fürchtet für ihr Leben.«
»Mein Gott, das herzige Mädchen war ja frisch wie ein aufgeblühtes Kleeköpfchen! Sollte ihr der Schreck geschadet haben, den sie über Röschens Verurtheilung hatte?«
»Darüber ist mir keine Kunde geworden,« erwiederte der Maulwurffänger, immer starr vor [] sich hinsehend und ohne Feuer zum Anbrennen seiner Pfeife zu begehren, die halb ausgeraucht neben den Fangdrähten lag. Gestern Vormittag rudr' ich mich über den See, wie ich das immer selbst gethan habe, und steige den Schloßberg hinan. Ich trete in den Hof – kein Mensch läßt sich weder sehen noch hören! – Da ich weiß, daß der Herr Graf kränkelt und es nicht gern hat, wenn man so gradezu die Treppen hinanrennt, fange ich an leise vor mich hin den Reihzufinkenschlag zu pfeifen und steige die Stufen in die Halle hinauf. Des Kastellans Zimmer war leer, die Halle desgleichen. So setze ich mich auf den langen Tisch in der letztern, pfeife mein Stückchen fort und läute dabei mit den Beinen die Esel aus. Weil ich nun grade nicht gar sacht pfiff und auch zuweilen verdammt hart an die Tischbeine anschlug, ward es doch endlich lebendig und das kluge Auge Haideröschens guckte durch das Gegitter der Wendeltreppe. Sie jauchzte vor Freude, als sie mich mutterseelenallein so wunderprächtig musiciren sah, klapperte wie ein Rädchen die Treppe vollends herunter und umhalste mich, was mir recht wohl that, – weiß Gott, Sloboda, 's that mir wohl! – [] Aber mir fror der Finkenschlag in der Kehle ein wie ich Dein schneeweißes Töchterchen mir näher betrachtete. Sie hatte geweint, daß sie der Bock noch stieß und ganze Thränenbäche sich auf ihren weißrothsammtenen Wängelein kreuzten. Ich sah sie groß an und hatte nicht wenig Lust, etwas grob zu werden, da kam sie mir zuvor und sagte:
»Ach Pink-Heinrich, das Unglück! Nun geht es wohl zu Ende mit mir und all' den Meinigen, denn wir haben keinen Schutzengel mehr!«
»Gar so arg ist es noch nicht,« versetzte ieh, »denn wenn Du sonst dem Worte eines armen Mannes Glauben schenken willst, so verspricht Dir der Pink-Heinrich, was er auch schon früher gethan hat, Dich so weit sein Arm und Fuß reicht, ebenfalls zu schützen. Aber sag' an, was gibt es?«
»Fräulein Herta liegt im Sterben!« ruft schluchzend Deine Tochter. »Ohnmächtig fanden wir sie gestern auf ihrem Lager, weiß, wie neu gefallener Schnee, oder wie Lilienblätter, mit unendlich lächelndem Schmerzenszug um die zarten weichen Lippen. Als wir sie riefen, kam sie zwar [] bald zu sich, allein sie war krank, so krank, daß ich gar nicht weiß, wie ich's beschreiben soll. Auch die Aerzte schüttelten den Kopf, wie sie das leichenblasse Fräulein mit den gläsernen geisterhaft schönen Augen sahen, das jede Frage hörte, aber keine beantwortete! Und so ist es mit ihr geblieben bis jetzt. Sie sitzt wieder an ihrem Fenster, füttert ihr Hänschen, drückt mir freundlich die Hände, ja küßt mich liebevoll, wenn ich ihr die nöthigen Handreichungen thue, nimmt Speise zu sich, wenn man sie ihr bringt, und liest in den Büchern, die sie so lieb hat. Doch kein Laut geht über ihre Lippen! Es ist recht entsetzlich und der gute alte Graf grämt sich unaussprechlich um seinen Liebling.«
»Darf ich sie sehen?« fragte ich Haideröschen, worauf sie mich zu melden und mein Anliegen dem gnädigen Herrn mitzutheilen versprach. »Ich ward vorgelassen und in das Zimmer des guten Fräuleins geführt. – Gütiger Himmel, welch einen Anblick hatten da meine Augen! Ich bin doch just kein Weichling und habe auch zu Zeiten schon mancherlei Trübseliges erlebt, aber solch Schreckensbild ist mir noch niemals vorgekommen! – Die kluge, schöne, gütige Herta saß [] still und stumm auf ihrem Fensterplatz, die durchsichtig zarten Hände auf dem Schooße gefaltet. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch, eine von den Schriften, die ihr Gregor besorgt hat. Das starrte sie an mit Augen, aus denen nicht der Glanz einer lebendigen Seele leuchtete, sondern mit einem kalten fahlen Schein, als habe sich ein Mondstrahl darin gefangen und mühe sich vergeblich, sein kristallenes Haus zu durchbrechen. – Und welche tiefe Blässe war an die Stelle der Rosen getreten, die in den Grübchen ihrer Wangen so reizend blühten! Wie erschrocken neigten sich die Krausköpfchen ihrer Locken zu ihnen herab und zitterten vor dem Leichenduft, der ihnen entgegen zu wehen schien! – Ich nannte grüßend ihren Namen – da blickte sie verwundert auf, doch schien sie mich nicht zu kennen, oder ein gräßliches Trugbild mußte an ihrer Seele vorüberrauschen, denn sie schauerte innerlichst zusammen und Fieberfrost schüttelte ihre Glieder, wie der Herbstwind die Zweige der Birken. – Bestürzt bis zur Verzweiflung umringten die Unglückliche das gräfliche Paar und die vertrauteren Diener. Keiner sprach, Keiner wußte zu rathen, zu trösten. Nur das sahen [] Alle schaudernd ein, daß dies herrliche Gemüth durch ein räthselhaft Furchtbares zerrüttet worden sein müsse und daß ihr klarer Geist vielleicht für immer verwirrt sei!«
»Herr des Himmels,« rief Sloboda erblassend, »Herta wahnsinig, die Mutter der Armen den Verstand verloren!«
»Es steht zu fürchten, denn auch heut ist keine Aenderung in ihrem Zustande eingetreten.«
Sloboda rang die Hände und ging gebückten Hauptes durch die niedrige Stube. Vor dem Maulwurffänger blieb er stehen, legte seine beiden gewaltigen Hände auf dessen Schultern und forschend in seine Augen blickend, sagte er:
»Glaubst Du, daß dies von ungefähr und ohne besondere Veranlassung geschehen sei?«
Pink-Heinrich schüttelte den Kopf.
»Hast Du auch keine Vermuthungen?«
Ein Blick des Maulwurffängers traf den Wenden, vor welchem dieser zurückprallte, als fürchte er durchbohrt zu werden.
»Was denkst Du?« sagte er leise, als entsetze er sich vor seiner eignen Stimme.
Der Maulwurffänger stand auf, lehnte sich [] auf beide Arme gestützt über den Tisch und erwiederte mit ergreifendem Tone:
»Ich denke, daß Gott in seiner Weisheit beschlossen hat, ein Strafgericht zu halten über Alle, so verworfen sind, und daß er der unschuldigen Opfer viele bedarf, ehe im Weltall die Stunde dazu schlägt!«
»Das sind vieldeutige Worte, auf die ich mich nicht verstehe.«
»Nicht! Nun wohl, so spricht die Zeichensprache vielleicht deutlicher zu Dir. – Als ich heut Mittag das Schloß wieder verließ, traz mich der Kastellan ängstlich an und fragte, ob ich in seinem Zimmer gewesen sei oder Jemanden darin beschäftigt gesehen habe? Da ich jenes bejahen, dieses verneinen mußte, so drang er in mich, keinen Scherz mit ihm zu treiben. Nun war ich, weiß Gott, nicht zum Scherzen aufgelegt und ließ ihn also nicht sehr freundlich an. Darauf gestand er mir, daß er drei Schlüssel an seinem Bunde vermisse und nicht begreifen könne, wie diese ihm weggekommen sein sollten. Nach einigem Hin- und Herreden ergab es sich, daß die fehlenden Schlüssel alte selten betretene Gänge des Schlosses öffnen, von denen einer mit sämmtlichen [] Gemächern der alten Burg zusammenhängt. – Das fiel mir auf, denn nun erst erinnerte ich mich, von meinem Bruder Gregor gehört zu haben, daß Blauhuts bestes Pferd auf einem nächtlichen Ritt gestürzt sei und die linke Fessel gebrochen habe. Es war in der Nacht geschehen, die jenem traurigen Erkranken Herta's voranging.«
»Sollte daraus ein Schluß zu ziehen sein?« sagte Sloboda. »Das scheint mir gewagt und könnte zu entsetzlichen Folgen veranlassen.«
»List und Vorsicht helfen aus jedem Irrthum,« erwiederte Pink-Heinrich. »So wenigstens dachte ich, als ich des bestürzten Kastellans Rede vernahm. Ach entschuldigt, unterbrach ich den Alten, ich habe was vergessen.« So stieg ich denn nochmals hinauf, trat abermals in das Zimmer der Kranken und sagte zum Grafen Erasmus: »Verzeihung, gnädigster Herr, ich wollte nur unterthänigst fragen ob Sie dem Herrn Grafen Magnus – und diesen Namen betonte ich recht scharf – irgend etwas zu melden, vielleicht von dem Erkranken seiner schönen Verwandten in Kenntniß zu setzen hätten? Bei Nennung dieses Namens fuhr das Fräulein zusammen, wie vom Schlage getroffen, [] ein grauenhafter Seufzer entrang sich dem gepreßten Herzen, und ihre Hände gegen die Augen erhebend, begann sie zu weinen. – Die Frau Gräfin flüsterte ihrem Herrn Gemahl leise zu: Das gute Kind scheint liebeskrank zu sein, der Herr Graf aber wechselte einen finstern Blick mit mir und äußerte sehr ungnädig: ich habe meinem Sohne keine Botschaft zu senden. Er soll nicht wissen, daß Herta erkrankt ist! – Darauf verbeugte ich mich und ging durch die Haide zu Dir, ohne daß ich auf andere Gedanken kommen konnte.«
Sloboda war sehr nachdenkend geworden. Er wagte nicht dem schlauen Maulwurffänger zu widersprechen und mochte ihn noch weniger in seinem furchtbaren Verdachte bestärken. Endlich sprach er unwillkürlich:
»Es wäre doch entsetzlich!«
»Warum?« sagte Heinrich mit seiner sarkastischen Gleichgiltigkeit. »Die Natur will ihren Lauf haben und die Geschichte der Völker auch. Ich sehe da blos Ursachen und Folgen.«
»Glaubst Du, daß der Graf Deinen Verdacht theilt?«
»Nein. Dazu ist er zu wenig Politiker. [] Das Erschrecken des Fräuleins stellt er auf Rechnung ihrer Abneigung gegen Magnus.«
»Sollte man ihn nicht auf den Fall aufmerksam machen?«
»Auch das nicht. Es bleibe ein Dunkel über Herta's traurigem Zustande, bis sie erliegt, oder von selbst die Wolken jener Nacht sich lichten! – Noch hoff' ich, daß Herta's kräftige Natur diesen Sturm überdauern, daß sie Empfindung, Sprache und Errinnerung wieder erhalten wird, und dann steigt der Geist Gottes mit Windesschnelle herab auf die Zinnen Bobersteins und deutet uns an, was wir für Recht zu achten haben. Läge aber meiner Vermuthung dennoch eine Täuschung zum Grunde, so könnte ich mit deren Verbreitung ein nie wieder gut zu machendes Unglück anstiften. Und solch eine Sünde soll nie und nimmer auf dem Gewissen Pink-Heinrichs lasten!«
»Und meine Tochter! Was soll mit ihr geschehen, wenn das unglückliche Fräulein stirbt?«
»Dein Kind muß aus dem Schlosse, auch dann, wenn Fräulein Herta am Leben bleibt.«
»Zu wem, Heinrich, zu wem? Ich kann sie nicht beschützen, denn mir sind die Hände gebunden [] und ich muß Tag und Nacht arbeiten, wenn ich leben soll.«
»Nur nicht verzweifelt, Freund Jan!« sagte der Maulwurffänger. »Ich habe darüber simulirt auf dem ganzen einsamen Wege durch die Haide. Mein Anschlag ist reif und nach meinem Erachten recht gut ausführbar. Wir warten geduldig einige Tage ab, um zu sehen, wie sich die Krankheit der allgeliebten Herta gestaltet. Inzwischen bereitest Du und Ehrhold Alles zu baldiger Ausrichtung einer Hochzeit vor; denn kann Dein Kind nicht auf dem Schlosse bleiben, wovon ich überzeugt bin, so muß sie unverweilt den Clemens heirathen. Als Frau, dafür steh' ich, hat Blauhut keinen freundlichen Blick mehr für sie.«
»Gut,« versetzte Sloboda. »Meine Einwilligung hat sie längst, wird aber auch die Herrschaft einwilligen? Graf Magnus muß sie als Unterthanin annehmen, muß dem Burschen seinen Consens freiwillig geben! – Wenn er sich weigert, können wir ihn zwingen?«
»Zwingen nicht, aber dazu ängstigen. Er fürchtete mich, Jan, und er hat Grund dazu. Und bei meiner ewigen Seele, diesen Wüstling [] verderbe ich, wenn er den hochfahrenden, gebietenden Herrn spielen will!«
»Er wird es dennoch thun, Heinrich.«
»Er thut es nicht! Sein Vater weiß mehr von seinen Lasterwegen, als er glaubt, und wenn ich mit diesem Rücksprache zu nehmen drohe, gwährt er mir, was ich verlange. Ueberdies schwebt er in beständiger Furcht wegen der Gerüchte, die zum Theil durch meine Veranlassung in Umlauf sind. Er fühlt sich nicht mehr sicher in seiner Herrschaft. Die finstern drohenden Mienen seiner Knechte weissagen ihm nichts Gutes, und um den langsam heranziehenden Sturm nichr zu vollem Ausbruche kommen zu lassen, fügt er sich dem Unvermeidlichen.«
»Willst Du selbst mit ihm sprechen?«
»Nein. Seit der Flucht Haideröschens betrete ich den Zeiselhof nicht mehr. Ich habe meine Vermittler.«
»Wen meinst Du?«
»Das ist mein Geheimniß, Freund Jan,« sagte der Maulwurffänger mit ernstem Auge. »Es muß verschwiegen bleiben, bis es gewirkt hat, oder ich ziehe meine Hand zurück!«
»Nicht doch, Heinrich! Du hast mein, Du [] hast das Vertrauen aller meiner eben so gedrückten Stammesbrüder. Thue, was Du für recht und zweckdienlich hältst, und rechne auf die Dankbarkeit eines leibeigenen Mannes!«
Sloboda reichte nicht ohne lebhafte Bewegung dem Maulwurffänger seine rauhe Hand. Heinrich ergriff und drückte sie herzhaft.
»So ist es gut,« sprach er. »Nun ich mit Deiner Einwilligung handle, will ich eilen und Alles in's Werk setzen.«
Er stand auf, warf seine Drähte nebst dem Quersack wieder über die Schultern und schlang sich den Lederriemen seines Stockes fest um die Hand.
»Wann kommst Du wieder?« fragte Sloboda.
»Ich kann es nicht bestimmen. Meine Geschäfte führen mich diesmal tiefer in die Haide, und da mögen wohl ein paar Wochen vergehen, ehe ich zurückkehre. Doch wirst Du schon früher mittelbar von mir hören. Sage Deinem Kinde einen Gruß und sie solle nur muthig, treu und fromm bleiben, dann würde sie Gott nicht verlassen!«
Mit nochmaligem Händedruck trennten sich [] die beiden Männer. Der Wende sah gedankenvoll dem Maulwurffänger nach, wie er mit großen, wiegenden Schritten dem Saum der Haide entgegen ging, die in goldigem Feuerduft Dorf und Feld im weiten Bogen umspannte.
[] Achtes Kapitel.
Der Drohbrief.
Magnus dehnte sich mit wollüstigem Behagen auf schwellender Ottomane und las einen jener verführerischen Romane von Crebillon, die damals unter den verdorbenen höhern Ständen ihrer graziös verhüllten Unmoralität wegen eben so großen Beifall fanden, als durch den geistreichen Witz und treffenden Sarkasmus des frivolen Franzosen. In langen Pausen schlürfte der junge Graf dabei starke Chocolade aus einer großen reich vergoldeten Tasse. In diesem zwiefachen Genusse störte ihn sein vertrauter Kammerdiener, welcher mit den fein gebürsteten Sonntagskleidern des Herrn eintrat, sich jedoch in respectvoller Entfernung von dem Lesenden hielt. Nach einiger Zeit legte[] Magnus das Buch weg und trank den Rest seiner Chocolade.
»Was willst Du, Jean?« fragte er den Kammerdiener, der bewegungslos, den Sammetrock des Gebieters auf dem Arme, im Zimmer stand.
»Mit Ew. Gnaden gütiger Erlaubniß wollte ich unterthänigst melden, daß so eben zum dritten Male zur Kirche geläutet worden ist.«
»Schon so spät, Jean? – Ja, dann muß ich mich beeilen. Die Zeit vergeht doch wunderbar schnell bei angenehmer, geistreicher Lectüre.«
Magnus erhob sich von seinem bequemen Lager, winkte dem Kammerdiener, ihm dem Pudermantel umzuwerfen und ließ sich die Haartour in Ordnung bringen. Dabei gähnte er mehrmals.
»Der gnädige Herr Graf scheinen eine schlaflose Nacht gehabt zu haben.«
»Ach nein, guter Jean, ich langweile mich nur im Voraus schon bei der stundenlangen albernen Predigt unseres zahnlosen alten Pfarrers.«
»Dann brauchen ja Ew. Gnaden blos nicht in die Kirche zu gehen,« sagte Jean. »Sind Sie nicht Ihr eigener unabhängiger Herr?«
[] »Nicht so ganz, wie Du glaubst. Ich muß meinen Unterthanen mit gutem Beispiel vorangehen und mich also ihnen zu Liebe zu Tode langweilen. Man hält mich für einen Freigeist, ich weiß es bestimmt, und eben deßhalb will ich von heut an jeden Sonntag die Kirche besuchen. Ich gebe Dir mein Ehrenwort, Jean, es geschieht blos so lange, bis sich die dummen Bauern von meiner wahrhaftigen Gottesfurcht augenfällig überzeugt haben.«
Es war nämlich Magnus erzählt worden, daß viele seiner Unterthanen laut geäußert hatten, ihr Herr müsse ehestens vom Himmel bestraft werden, weil er nicht ein einziges Mal das Gotteshaus besucht habe, und so hielt er es denn für unumgänglich nöthig, sich in die Umstände zu fügen.
»Noch kein Bote von Boberstein angekommen?« fragte er, während ihm der Kammerdiener den Pudermantel abnahm und einige weiße Tüpfel von Stirn und Wange stäubte.
»Man hat noch nichts gehört.«
»Wie geht es mit Sultan?«
»Der Voigt ist mir die Antwort auf meine Frage bis jetzt schuldig geblieben.«
[] »Warum? Sollte Sultan's Leben bedroht sein? – Geh, Jean! Bescheide den Voigt zu mir. Ich will sogleich die genaueste Nachricht über das Befinden meines Lieblingspferdes haben.«
»Irre ich nicht, gnädigster Herr, so höre ich den schwerfälligen Tritt des Voigtes auf dem Corridor.«
So war es. Der Voigt erschien. Er hatte einen ziemlich großen Brief in der Hand, der schlecht couvertirt und mit schwarzbraunem Siegellack äußerst plump verschlossen war. Auf dem Siegel konnte man kein bestimmtes Zeichen erkennen, da der vermuthlich ungeübte Schreiber zwei- oder dreimal das Petschaft in das halb geronnene Lack gedrückt hatte.
»Du wirst täglich lässiger, Ephraim,« redete Magnus den Eintretenden ziemlich barsch an. »Wenn das so forfgeht, werde ich künftig eine Gesandtschaft an Dich abschicken müssen, um zu erfahren, wie Du Dich in meinen Diensten benimmst. Was bringst Du von Sultan für Nachricht?«
»Die Geschwulst mindert sich, gnädigster Herr,« versetzte der Voigt mit niedergeschlagener [] Miene, »bei sorgfältiger Pflege wird das arme Thier wieder vollkommen hergestellt werden.«
»Das ist mir lieb, aber was zum Henker schneidest Du für Gesichter? Und was hast Du denn da in den Händen?«
»Ich wollte Ew. Gnaden eben um Entschuldigung bitten der Säumniß wegen, der ich mich schuldig gemacht habe. Dieser Brief –«
»Brief?« fiel Magnus schnell ein, mit dem rechten Arm in den Sammetrock fahrend und so plötzlich dem Voigte entgegenschreitend, daß er dem Kammerdiener das Kleidungsstück entriß und es auf dem Boden hinter sich fortschleifte. »Ein Brief von Boberstein?«
»Von dem Stammschlosse des gnädigen Herrn ist mir ein solcher Brief noch nicht zu Gesicht gekommen,« versetzte der Voigt. »Ueberhaupt habe ich solche Schriftzeichen noch niemals erblickt, und eben deshalb zögerte ich mit der Ueberreichung.«
»Wer brachte ihn? Wie kam er an Dich?« fragte Magnus hastig, jetzt mit Hilfe des Kammerdieners auch den zweiten Aermel seines Feierkleides anziehend.
»Ich fand ihn, gnädigster Herr. Draußen [] am Thor zwischen Schloß und Riegel war er eingeklemmt.«
»Vermuthlich ein Pasquill,« sagte Magnus verächtlich, »laß doch sehen!«
Der Voigt überreichte das ungleich gefalzte, äußerlich beschmuzte Schreiben. Magnus besah das verwischte Siegel, die unleserliche, gekleckste Handschrift.
»Vielleicht ist es ein Brandbrief. Man hat neuerdings verschiedene auf Edelhöfen ausgeworfen, um Milderung der Hofedienste zu erzwingen. Wie ich höre, haben sich einige Furchtsame dadurch einschüchtern lassen und wirklich Versprechungen gethan. Bei mir können diese Thoren auf solche Weise nichts erlangen. Ich trotze der Rohheit und werde um so härter strafen, je unerlaubter ein solches Verfahren ist.«
Während dieses Gesprächs hatte er den Brief erbrochen. Schon beim Durchlesen der ersten Zeilen runzelte er die Stirn und wechselte die Farbe.
»Was ist das?« hörten ihn Voigt und Kammerdiener murmeln. Er las noch einige Zeilen, worauf die Anwesenden bemerken konnten, daß ihm die Hände zitterten.
[] »Meinen Wagen!« befahl er dem Voigt. »Du, Jean, hole mein Gesangbuch aus der Bibliothek.«
Kaum hatten sich die Diener entfernt, so warf sich Magnus auf einen Stuhl und stampfte wüthend mit dem Fuße.
»Abscheulich!« rief er. »Mich zwingen zu wollen und in so stolzen, beleidigenden Ausdrücken!«
Der Brief lag auf seinem Schooß. Er lautete:
»Vier Wochen nach Empfang dieses wird Röschen Sloboda, bekannt unter dem Namen Haideröschen, den Bauer Clemens Ehrhold heirathen. Sie werden, Herr Graf, ohne Säumen genannten Clemens Ehrhold die Erlaubniß dazu ertheilen und Röschen Sloboda als Ihre Unterthanin annehmen. Ferner wollen Sie nicht anstehen, obgenanntem Röschen ein Heirathsgut von dreihundert Reichsthalern zu überantworten und am Tage der Hochzeit, zu deren Feier Sie hiermit eingeladen werden, den Neuvermählten einen Freibrief als außerordentliches Hochzeitsgeschenk zu überreichen. Binnen zweimal vier und zwanzig Stunden werden Sie gnädigst Antwort geben, [] wozu das Abfeuern Ihrer Jagdflinte aus demselben Fenster, durch welches die kleine Wendin Ihrer Verfolgung sich entzog, für genügend erachtet wird. Sollten Sie anstehen, die oben genannten Bedingungen eingehn zu wollen und das verlangte Zeichen nicht geben, so werden eine Stunde später alle Fenster Ihres Schlosses von hundert Schüssen zugleich zertrümmert werden und die gerechte Strafe des Himmels wird Sie erreichen mitten im Triumph Ihrer nichtswürdigen Verbrechen!«
Dieser Brief war ohne Namensunterschrift und unverkennbar mit verstellter Hand geschrieben. Magnus fiel daher sogleich auf den Gedanken, der Verfasser desselben könne Niemand anders als sein erklärter Feind der Maulwurffänger sein. Deshalb war er anfangs auch fest entschlossen, die herrische Forderung ganz unbeachtet zu lassen und dem frechen Schreiber damit seine Verachtung zu erkennen zu geben, allein später stiegen doch wieder Zweifel in ihm auf. Der überall thätige Maulwurffänger konnte ja blos das Werkzeug eines Mächtigeren sein! Es ließ sich nicht läugnen, daß eine unglaublich kühne Räuberbande die Haide seit Jahren unsicher [] machte; daß Mitglieder derselben als Bauern und Bürger verkleidet auf allen Dörfern und Schlössern Bekanntschaften anknüpften und über öffentliche und geheime Vorgänge sehr wohl unterrichtet waren. Von der Stärke dieser kunstreich organisirten Räuberbande erzählte man sich Wunderdinge; die Schlauheit, Kraft und originelle Gesinnung ihres Anführers konnte man nicht genug rühmen. Ja das unwissende Volk legte ihm sogar höhere Kräfte bei, hielt ihn für hieb- und stichfest und behauptete, er könne zugleich an mehreren Orten gegenwärtig sein und wie der Sturmwind im Augenblick erscheinen und verschwinden. – Es war ferner so gut als gewiß, daß die niedrigen Volksklassen, namentlich das arme, darbende Volk, in sehr enger Verbindung mit diesem Schrecken der Wälder stand. Jede Hütte stand dem Unhold bei drohender Gefahr offen, während sie sich vor der verfolgenden Macht verschloß. Der schlaue »Fürst der Haide,« wie man den Räuber wohl nennen hörte, hatte nicht selten schreiendes Unrecht auf seine Weise ausgeglichen und hartherzige Herren auf das Empfindlichste gezüchtigt.
Dies und manche auffallende Einzelheiten [] aus dem unstätten abenteuerlichen Leben des Räubers traten dem jungen Grafen blitzschnell vor die Seele und nachdenkend stützte er den Kopf in seine Hand, das bedrohliche Schreiben zerknitternd und auf die glimmenden Kohlen des Kamins schleudernd.
Um Auswege war Magnus nie verlegen, da es ihm auf die Wahl seiner Mittel nicht ankam. Den Inhalt des Briefes nochmals sich wiederholend, sprang er auf und schnalzte lächelnd mit dem Finger.
»Vortrefflich!« sagte er, das Zimmer langsam durchschreitend. »Gräfliche Gnaden fügen sich unbedingt dem Willen des dunklen Unbekannten, fertigen die Erlaubniß zur Hochzeit des jungen Burschen mit der niedlichen Kleinen aus, sind überhaupt unaussprechlich herablassend und zuvorkommend und knallen zu guter Letzt mit ihrer Vogelflinte zu dem famosen Fenster hinaus. – Warum auch sollte ich es nicht thun?« fuhr er fort, in seiner Wanderung inne haltend. »Wer von all meinen Leuten weiß denn, was mir zugemuthet wird, welcher unbekannten Gewalt ich mich ohne alles Sträuben ergebe? – Und welcher Vortheil kann mir aus solchem unbedingt [] willigen Nachgeben erwachsen! – Diese Schlauen, wer sie immer sein mögen, sind in der That ungemein kurzsichtig. Sie muthen mir, der ich jedenfalls weit über ihnen stehe, zu, ich solle mich ohne Rückhalt, ohne Säumen ihren Händen überliefern, und scheinen dabei zu vergessen, daß grade dieses grobe Drängen, wenn ich mich ihm füge, eine laute Aufforderung ist, vorsichtig zu sein. – Sie laden mich naiv gutmüthig zu Haideröschens Hochzeit ein – ein vortrefflicher Gedanke! – Ich habe Lust, die lieben Leute in ihrer Lustigkeit kennen zu lernen. – Und den Freischein soll ich mitbringen zum Trunk und Tanz? – Wirklich, diese Tölpel ahnen nicht, wie bereitwillig sie mir in die Hände arbeiten! – Der Freischein zur Hochzeit – mein Recht als Herr – der Lärm und die ausgelassene Lust der Wenden – ich kann mich gar nicht täuschen, daß ich dabei einen vollständigen Sieg erringe und dem Feinde die empfindlichste Niederlage bereite.«
»Ew. Gnaden?« sagte der Kammerdiener, die Thür öffnend.
»Ist angespannt?«
»Wie Sie befohlen haben.«
[] »So will ich denn zur Kirche fahren und im inbrünstigen Gebet Gott danken, daß er mich erleuchtet und aus schwerer Gefahr gnädig errettet hat.«
Der Kammerdiener machte große Augen, als er seinen Gebieter eine so ungewohnte, noch nie vernommene Sprache anstimmen hörte, indeß begleitete er ihn gehorsam zur Kirche, wo er sich abermals über die außerordentliche Andacht und die gespannte Aufmerksamkeit des Grafen zu wundern hatte. Magnus wartete den Gottesdienst gänzlich ab, dankte sehr gnädig allen Vorübergehenden, die ihn grüßten, und war nicht nur an diesem, sondern auch in den nächsten Tagen die Freundlichkeit und Güte selbst gegen Diener und Knechte. Die Letzteren hielten ihn für geisteskrank und wurden in dieser Meinung noch mehr bestärkt, als sie ihn eines Tages am frühen Morgen wie toll mit der Flinte durch mehrere Zimmer rennen sahen, als ob er einen Dieb verfolge. Gleich darauf fiel ein Schuß. Mit noch rauchender Flinte ging der Graf ruhig zurück in sein Wohnzimmer.
[] Neuntes Kapitel.
Die Hochzeit.
Durch die alterthümlichen Hallen des Schlosses Boberstein schwebte der unheimliche Schatten eines nahe drohenden Unglücks. Herta war in tiefe, herzzerreißende Melancholie versunken, die auf allen Schloßbewohnern drückend lastete, namentlich aber die Tage des alten kränklichen Grafen vollends ganz verdüsterte. Zwar sprach die Leidende wieder seit einiger Zeit mit ihren Umgebungen. Keine Schwäche ihrer geistigen Kräfte war zu bemerken, auch eine fixe Idee schien sie nicht zu beunruhigen, aber sie war dennoch ein ganz anderes Wesen geworden, dem man es ansah und anhörte, daß ein unaussprechliches Weh, ein entsetzlicher Schmerz an ihrem Herzen nagte. Deutete man darauf hin, so verstummte [] sie und konnte tagelang schweigen, bis man sich denn gegenseitig gelobte, die Unglückliche mit ihrem Schmerz sich selbst zu überlassen.
Ueberraschen und angenehm berühren konnte Herta nichts mehr. Sie hörte daher mit vollkommener Gleichgiltigkeit die Botschaft, daß ihr liebes Haideröschen in wenigen Wochen schon verheirathet werden solle. Die Wendin war über diese Eile offenbar mehr erschrocken und zeigte sich gar nicht als glückliche Braut. Immer standen ihr die Thränen in den Augen, die ihr Herta nicht selten mitleidig abtrocknete. Weil sie aber von Jugend auf an blinden Gehorsam gewöhnt und außerdem überzeugt war, daß ihr Vater nur aus besondern Gründen und zu ihrem eigenen Besten die Hochzeit so beeile, fügte sie sich willig allen Anordnungen.
In der kurzen Zeit ihres eigentlichen Brautstandes ereignete sich nichts, was eine besondere Erwähnung nöthig machte. Graf Erasmus gab das Mädchen auf erfolgte Anfrage los und Magnus nahm sie bereitwillig als Unterthanin an. Die herkömmlichen Schriften darüber wurden in üblicher Form ausgefertigt und Haideröschens Vater übergeben, der jetzt fast täglich auf dem [] Schlosse erschien. Clemens hatte mit Einrichtung des neuen Hauswesens zu viel zu thun, um den weiten Weg nach Boberstein häufig einschlagen zu können. Er begnügte sich daher mit Grüßen an seine Braut, die Haideröschen von ganzem Herzen, aber doch immer niedergeschlagen, erwiederte. Das gute Kind härmte sich um Herta, noch mehr darüber, daß es ihr nicht gelingen wollte, die Gemüthskranke aufzuheitern und ihr Vertrauen zu gewinnen. So blieb ihr nichts übrig, als sie mit aufopferndster Sorgfalt und zärtlichster Liebe zu pflegen, was sie denn auch so rührend that, daß sie dem bleichen, jetzt immer so düstern und wie in furchtbarem Schmerz versteinerten Gesicht ihrer Gebieterin zuweilen ein flüchtiges Lächeln entlockte.
Unter diesem sich immer gleich bleibenden öden Hinvegetiren vergingen die festgesetzten vier Wochen, nach deren Verlauf Haideröschen ihrem Geliebten angetraut werden sollte. Nur die uralten Förmlichkeiten und Gebräuche, die jeder wendischen Hochzeit vorangehen und die zu vernachlässigen man nicht allein für einen Verstoß gegen alle Sitte, sondern auch für eine frevle Herausforderung der finstern Mächte und des [] heimlich schaffenden Unglückes gehalten haben würde, brachten einige Abwechselung und auf kurze Stunden ein originelles Leben und Treiben in das so stille, traurige Grafenschloß. So erfolgte unter Andern die eigenthümliche Werbung des Bräutigams um die Braut durch den Brauwerber oder Brazka mit allen Ceremonien, die dabei vorgeschrieben sind. Eben so reich an wunderlichen Gebräuchen, an seltsamen Sprüchen und Reimreden war die feierliche Verlobung Haideröschens mit Clemens, und diese noch nie in der Nähe beobachteten volksthümlichen Gebräuche interessirten auch Herta so sehr, daß sie während derselben ihr schweres Seelenleid vergaß und mit dem alt gewohnten Glanz in ihren schönen Augen, das liebliche Gesicht überstrahlt von freudigen Flammen, das Ungewohnte an sich vorübergehen ließ.
Graf Erasmus, der es sich angelegen sein ließ, die schöne Dienerin seiner Nichte bei dieser Gelegenheit recht auszuzeichnen, wäre beinahe mit Sloboda in unangenehmen Streit gerathen. Der Graf wollte nämlich, daß Haideröschen Dienst und Schloß erst am Tage ihrer Hochzeit verlassen solle, was die Nothwendigkeit einer [] Abholung der Braut vom Schlosse unabweisbar bedingte. Sloboda, sonst in allen Dingen die Fügsamkeit selbst und nie einem Befehle zu widersprechen gewohnt, widersetzte sich dieser Anordnung hartnäckig und meinte, es sei durchaus unmöglich, daß der gnädige Herr Graf so etwas Widersinniges verlangen könne. Eine Braut müsse schlechterdings aus ihres Vaters eigenem Hause abgeholt werden, und dies sei seine schlechte niedrige Hütte. Unterbliebe diese Abholung, so könne aus der ganzen Hochzeit nichts werden, denn alle dabei üblichen und nothwendigen Gebräuche müßten unterbleiben.
Je heftiger der trotzige Sloboda auf seiner Meinung beharrte, desto hartnäckiger ward auch der Graf. Ihn verdroß blos der Widerspruch des Untergebenen und daß man ihm eine Freude damit verdarb, die er sich ausgedacht hatte. Hier nun schritt Herta wieder, wie immer bei streitigen Fragen, als Vermittlerin und Friedensstifterin ein. Sie brachte es dahin, daß Haideröschen am Hochzeitstage von Clemens und dessen Begleitung auf dem Schlosse abgeholt, die Hochzeit selbst aber und Alles, was Ceremonielles [] dabei zu beobachten sein möchte, im Hause ihres Vaters gehalten werden solle.
Dieser Entscheidung fügte sich Sloboda erst nach vielem Zureden. Kopfschüttelnd behauptete er jedoch, es sei nicht gut, daß er nachgebe, denn es könne daraus leicht Unglück für sein ohnehin schon so tief gedemüthigtes Haus entstehen. Das Warum wußte er freilich nicht anzugeben.
»Nun ja,« sagte er nach mehrmaligem Bearbeiten von Seiten Herta's, »es ließe sich zuletzt Alles recht gut hier einrichten. Der gnädige Herr Graf will uns die Schloßhalle einräumen zur Brautschau, wofür ich meinerseits vielmals danke, aber wo haben wir eine alte Frau, die bei der ersten Frage nach der Braut meine Tochter vorstellen kann? Die Frau Gräfin –«
»Um Gotteswillen, Sloboda!« unterbrach Herta den Rücksichtslosen. »Meine Tante wird sich während der ganzen Ceremonie fest in ihre Zimmer verschließen.«
»Wir müssen aber doch eine alte Frau haben, gnädiges Fräulein,« behauptete Sloboda sehr bestimmt und so ernsthaft, daß die immer traurige Herta darüber lächeln mußte.
»Könnte nicht einer der Bedienten –«
[] »Die Frau vorstellen, meinen Sie?«
»Ja, so denk' ich. Für eine täuschende Verkleidung will ich sorgen.«
»Das geht nicht, liebes gnädiges Herzensfräulein; denn es ist, sehen Sie, noch niemals bei uns vorgekommen.«
»Es muß also durchaus ein Frau sein?«
»Ja, lieber Engel, und zwar eine Frau in den Jahren.«
»Seid Ihr zufrieden, wenn ich meine Amme dazu herkommen lasse? Sie wird es gern thun!«
Sloboda überlegte den Vorschlag und nahm ihn endlich zaudernd an. Dagegen lehnte er die Ausrichtung des Hochzeitmahles auf dem Schlosse, die Graf Erasmus nochmals in Vorschlag brachte, entschieden ab, weil es, wie er sich ausdrückte, gegen Grundsatz und Sitte seines Volkes verstoße, bei der Hochzeit das Brod Fremder in fremdem Hause zu essen. Die Zukunft lehrte ihn nur zu bald, daß ein prophetischer Geist in dem Grafen thätig gewesen und daß alles nachfolgende Unglück aus seiner Weigerung herzuleiten sei.
Als der festgesetzte Tag herankam, bestand die unglückliche Herta darauf, die geliebte Braut [] mit eigener Hand schmücken zu dürfen. Sie ringelte ihr mit zartem Finger die glänzenden Löckchen auf der Stirn, setzte ihr die hohe Borta von schwarzem Sammet auf mit dem goldbrokatenen Deckel und der daran befestigten grünen Rautenkrone; sie legte ihr das Halsband mit bunten Perlen um, das mit silbernen Sternen geschmückte Haarband über den untern Absatz der Borta und knüpfte die verschiedenen vorgeschriebenen grünen Bänder in zierliche Schleifen. Ganz besondere Aufmerksamkeit empfahl das ängstliche Haideröschen ihrer sie putzenden Gebieterin bei der Befestigung der Flizur. So nennen nämlich die Wenden ein Stück feiner weißer Leinwand, welches in einer Breite von vier Zoll, in Falten gelegt und mit grüner Seide eingefaßt, über Brust, Schulter und Rücken läuft, und nebst den zwei bis drei Schnuren goldener oder silberner Schaumünzen um Brust und Hals ein nur Bräuten gestatteter Schmuck ist. Außerdem reichte Herta der kleinen Wendin ein feines weißes Tuch, das sie selbst in glücklicheren Tagen gestickt hatte.
Müßten wir nicht befürchten, unsere Leser durch ausführliche Beschreibung der übrigen zahllosen [] und zum Theil höchst seltsamen Gebräuche bei einer wendischen Bauernhochzeit zu ermüden so würden wir noch manches Eigenthümliche hier anzuführen haben. So beschränken wir uns darauf, zu erwähnen, daß sich aus Haideröschens Geburtsorte zwei Brautjungfern einfanden, die fast eben so wie die Braut selbst gekleidet waren. Mit diesen kam natürlich auch die ganze Verwandtschaft der Sloboda, was denn ein lautes und lebendiges Treiben in den untern Räumen des alten Schlosses verursachte.
Es war ein schöner, klarer und warmer Frühlingstag. Die Wipfel der schlanken Tannen wiegten sich mit leisem Rauschen in der blauen Luft und schmetternde Lerchen hingen, dem Auge kaum sichtbar, in dem unermeßlichen Dome. Die meisten Menschen wünschen sich an ihrem Hochzeitstage einen solchen glückverheißenden Frieden der Natur, und auch Haideröschen sah mit ihren wunderbaren Kinderaugen dankend gen Himmel, als sie in der ersten Nachmittagsstunde die schrille Musik der Haidebauern aus dem Walde erklingen hörte, die den Bräutigam begleiteten. Verstohlen sah sie hinab auf den spiegelklaren See, über den eine ganze Flotille kleiner Nachen[] segelte, alle mit geputzten Männern besetzt, welche jubelnd ihre bebänderten Hüte schwenkten und unaufhörlich mit der Musik um die Wette jubelten. Sogar einzelne Schüsse wurden abgefeuert und weckten das schlummernde Echo der stillen Haide.
Am Fuße des Schloßfelsens angekommen, ordneten sich die Begleiter des Bräutigams paarweise, das Musikchor, aus mehrern Clarinetten, einem Fagott und andern nationalwendischen Instrumenten bestehend, stellte sich an die Spitze und der Brautführer mit bandverziertem Stock, Hut und Kleid schritt gravitätisch voraus. Unter fortwährendem Musiciren erstieg diese Schaar junger Männer den Schloßberg und zog bis vor die große Eingangspforte.
Hier wurde sie durch herbeispringende Knechte, die ein langes rosenrothes Band schnell vor die Pforte zogen, aufgehalten und ihnen erst nach Erlegung eines geringfügigen Trinkgeldes der Eintritt gestattet, indem der Brazka mehrmals die Versicherung gab, daß sie nicht als ungebetene Gäste erschienen, sondern mit Erlaubniß des Schloßherrn und auf dessen besondere Einladung kämen.
[] Ein neues, noch bedenklicheres Hinderniß stieß dem Bräutigamszuge im Innern des Schloßhofes auf. Es waren nämlich alle Fenster fest verschlossen, einige sogar mit Läden verbaut. Auch die Haupteingangsthür, die doch sonst immer offen stand, zeigte sich heut fest verriegelt. Bescheidentlich nahte sich nun, während die Musik schwieg, der Brautwerber der Schloßthür und klopfte leise mit seinem Stabe an. Allein Niemand gab Antwort. Das Schloß schien unbewohnt oder gar ausgestorben zu sein. Erst auf heftigeres Klopfen ließ sich drinnen eine mürrische Stimme vernehmen, die Jan Sloboda angehörte. Er fragte: was man begehre? Der Brautwerber antwortete: man suche Herberge. Uebrigens könne er auf Ehre und Seligkeit versichern, daß er und seine Begleiter vollkommen ehrliche Leute wären und mit den freundschaftlichsten Gesinnungen kämen. Obwohl Sloboda und die hinter ihm jetzt sichtbar werdenden Gäste dies in Zweifel zu ziehen schienen, ließ er sich doch bewegen, zaudernd die Thür zu öffnen. Allein weder der Bräutigam noch sein Gefolge trat ein, nur der Brazka erschien auf der Flur und wendete sich nach alter Sitte mit nochmaliger formeller [] Werbung um die Braut an den Wenden. Eine Zeit lang stellte sich Sloboda, als wisse er um keine Braut, bis endlich die Gäste sich bereit erklärten, den Wunsch des Bittenden zu erfüllen. Sie entfernten sich und der Brazka ward von Sloboda in die Schloßhalle geführt, auf deren Gallerie Graf Erasmus mit Herta der wendischen Brautwerbung neugierig zusah. Gräfin Utta fand ein solches Schauspiel zu gemein, um ihre Augen darauf zu richten.
Bald kamen die Gäste der Braut wieder zurück, in ihrer Mitte eine ältliche Frau führend, die Herta's Amme war und welche der Brautwerber nach genauer Betrachtung als eine falsche wieder zurückschickte. Auch ein junges hübsches Mädchen, das ihm nunmehr vorgeführt ward, wollte er nicht als die ihm verheißene Braut, die er als noch weit schöner und lieblicher beschrieb, gelten lassen. Erst nach drittmaligem Suchen ward Haideröschen im vollsten Brautstaat vorgeführt, von dem Brautwerber mit jubelndem Gruß, von der Musik mit einem Tusch empfangen. Jetzt trat auch der Bräutigam mit seinen Geleitsmännern in die Halle, um sich die verschämte Braut zuführen zu lassen. Der Brazka hielt wieder [] lange gereimte Dankreden an Sloboda, an Haideröschen, an die Gäste, und erst nachdem all diesen lang dauernden Gebräuchen volles Recht geschehen war, gab er, der jedesmalige Ordner solcher Feste, das Zeichen zum Aufbruch. Die Musik spielte wieder auf, vom Brazka angeführt. Ihr schloß sich Haideröschen, geleitet von zwei Ehrendienern, an, denen die Slonka oder Salzmeste, so geheißen, weil sie bei Tafel das Salz aufzusetzen hat und überhaupt, als erste Pathe der Braut, Tafelordnerin ist, nebst den Brautjungfern folgte. Erst nach diesen durfte Clemens in den Brautzug treten, begleitet von einer zweiten Slonka und zwei Züchtjungfern. Nach diesem sehr hoch gehaltenen und für unerläßlich geachteten Ehrenpersonal schloß sich erst der Zug der beiderseitigen Gäste an und bewegte sich unter fortwährender Musick den Schloßberg hinab an den See.
Als auch dieser hinter dem Brautzuge lag, bestieg die ganze ziemlich zahlreiche Gesellschaft im Schatten des Waldes harrende Wagen, deren Kutscher und Pferde mit buntseidenen Tüchern und großen Blumensträußern bestens aufgeputzt waren. In vorgeschriebener Ordnung, Braut [] und Bräutigam voraus, nahm das Brautgeleit Besitz von diesen Wagen, unter denen mehrere aus einfachen Leitern bestanden, wie sie der Bauer zu Holz- und Getraidefuhren allein brauchen kann, und in raschem Trabe, nicht selten in wildestem Galopp, jagte der lustige Brautzug hinein in die rauschende, harzduftige Haide dem Geburtsorte Haideröschens zu, wo Trauung und Hochzeitsmahl stattfinden sollten. Seltsamerweise lief bald nach der Abfahrt, was in Jahren nicht vorzukommen pflegte, als erster Begegnender ein Hase über den Waldweg, was, als ein böses Zeichen, die Lustigkeit der Gäste einigermaßen störte und die lieblichen Träume der jungen Braut etwas verdüsterte.
Unmittelbar nach der Trauung begann das Mahl unter genauer Befolgung aller durch Sitte und Gewohnheit vorgeschriebenen und geheiligten Ceremonien. Zu diesem Mahle waren noch zwei längst erwartete Ehrengäste gekommen, Heinrich der Maulwurffänger und dessen Bruder Gregor. Sie erhielten ihre Sitze zunächst dem Pfarrer, der jederzeit die erste Stelle neben dem Bräutigam einnimmt. Durch das Erscheinen dieser beiden Männer, namentlich aber durch die trockenen [] Witze und komischen Erzählungen des Maulwurffängers, ward die Hochzeitsgesellschaft sehr bald in die munterste Laune versetzt. Man vergaß das viele Ungemach, das die Hauptpersonen erlitten hatten, und freute sich der angewandten Listen, die ein so gelungenes, erfreuliches und glückverheißendes Ende herbeigeführt.
Bier und Branntwein wurden zu den vielen und fetten Speisen in Menge genossen und äußerten bald genug ihre Wirkungen. Die Unterhaltung ward so lebhaft, daß sie einem heftigen Gezänk Aller unter einander glich. Dazwischen klapperten Messer, hölzerne Teller – denn nur auf solchen aßen die Hochzeitsgäste – Bierkannen und Gläser. Im Eifer des Anstoßens und Zutrinkens ward auch manches Glas zerbrochen. Die Aufwartenden rannten mit ihren hoch mit Fleisch beladenen Schüsseln zuweilen gegen einander und verschütteten einen Theil der dampfenden Stücke, die alsdann ab- und zugehende Gäste unter allgemeinem Jubel mit ihren kurzen zweizinkigen Gabeln aufhoben und triumphirend selbsteigen auf ihre Teller trugen, wo sie bald verschwanden.
Das eigentliche Mahl war beinahe beendigt, [] als unerwartet noch ein Gast in Sloboda's glückliche Behausung trat. Graf Magnus wollte die Einladung nicht versäumen, die ihm der unbekannte Briefschreiber zugeschickt hatte. Der junge Mann strahlte in voller männlicher Schönheit. Er trug einen prächtigen mit Goldstickerei reich verzierten Reitrock, die feinsten Spitzenmanschetten fielen über seine schönen Hände herab und der feine graublaue Hut saß kokett auf dem wohl frisirten Haar.
So trat er leichten Schrittes unter die tobenden Bauern, die Erstaunten mit Anmuth und freundlicher Herablassung grüßend. Einige Augenblicke verstummten Alle, man hörte kaum einen Athemzug.
»Laßt Euch nieht stören, meine Lieben,« redete Magnus die Versammelten an. »Ich komme, die Freude und das Glück des jungen Paares mit Euch zu theilen und als ihr Grundherr demselben ein kleines Geschenk zu überreichen. Von morgen an, wo Clemens und Röschen als Ehegatten meinen Grund und Boden betreten, erkläre ich sie für freie Leute. Es lebe das freie Brautpaar!«
Schnell entriß er dem zunächst sitzenden [] Bauer das Glas und leerte es in einem Zuge bis auf den Grund, mit freundlichem Augenwink Clemens und Haideröschen grüßend und sich gegen Letztere graziös verneigend.
Es würde ein vergebliches Bemühen sein, den Jubel zu schildern, der jetz ausbrach. Ohne Maaß und Ziel in Freude und Schmerz, in Verehrung wie in Haß, betäubten die vom Trunk aufgeregten Wenden den jungen Grafen mit Lobeserhebungen. Er war auf einmal der gütigste, der gerechteste, der freundlichste und mildthätigste Herr. Jeder beeiferte sich, ihm dies persönlich zuzuschreien und wo möglich für seine Großmuth die Hand zu küssen, was denn einen unbeschreiblichen Lärm und die größte Unordnung hervorbrachte.
»Tusch! Tusch! – Ein Hoch dem allergnädigsten Herrn Grafen! – Zugeblasen! Zugeblasen! – Musikanten, aufgepfiffen! –« so schrien und commandirten hundert Stimmen durch einander und die Tusche der Musiker nahmen eine Viertelstunde lang kein Ende.
Obwohl das Essen noch nicht ganz beendigt war, gab man es doch freiwillig auf. Der Brazka ließ die Diele fegen, um den Tanz beginnen [] zu lassen, nach dem Jung und Alt unter johlendem Schreien lebhaft verlangte. Ein so außerordentlicher Fall, ein Hochzeitsgeschenk so unerhörter Art, schien solchen Verstoß gegen das Herkommen zu rechtfertigen.
»Immer seid lustig, Kinder!« sagte Magnus. »Ein Fäßchen Branntwein geb' ich der Gesellschaft zum Besten. Es wird eben angezapft und soll, hoff' ich, etwas besser munden, als Euer kraftloser Fusel. Ein Stündchen will ich mich mit den schönen Gefährten der schönen Braut auf der Diele drehen, dann muß ich heim eilen, denn morgen warten meiner wichtige Geschäfte.«
Der kaum gedämpfte Jubel brach von Neuem, wo möglich in noch verstärkterem Maaße, aus, Tische, Bänke und Schemel wurden bei Seite geschoben, die Burschen bestellten den Vortanz, und als sich die durchdringenden Klänge der Tarackawa, begleitet von dem kreischenden Schreien der Huslje hören ließen, konnte Haideröschen nicht umhin, dem freundlich lächelnden Grafen gewährend die Hand zu reichen.
Magnus hatte viele bestechende Eigenschaften, mit denen es ihm ein Leichtes gewesen wäre, die Herzen seiner Unterthanen zu gewinnen und [] Jedermann für sich einzunehmen. Dazu gehörte eine genaue Kenntniß aller dem Volke eigenthümlichen Gebräuche, seine Meisterschaft in den von den Wenden hochgehaltenen Spielen und Tänzen, die Leichtigkeit, mit welcher er sich in ihrer Sprache ausdrücken konnte, und noch manches Andere der Art, wodurch der Vornehme dem gemeinen Manne angenehm, gleichsam menschlicher wird, weil es in gewissem Sinne die Kluft ausfüllen hilft, die vom Glück Begünstigte immer in weiter Ferne hält von dem Armen, Mittellosen und Ungebildeten.
Magnus tanzte den Brautreigen bewunderungswürdig leicht, und doch mit so viel dörflichem Tact, daß selbst die im Tanz geübtesten jungen Burschen gestehen mußten, sie wüßten es nicht besser, ja nicht einmal so gut zu machen.
Während des Tanzes, der sich bald zu einem wirren, drängenden Menschenknäuel verdichtete, ward viel getrunken. Der Branntwein des Grafen mundete zu gut, als daß die Wenden im Genuß desselben hätten Maaß halten können. Sogar ältere Männer und Frauen ließen sich vom allgemeinen Frohsinn mit hinreißen und thaten des Guten mehr, als ihre vorgerückten Jahre [] vertrugen. Dies hatte denn einen leichten Rausch fast Aller zur Folge, der durch den immer wilder rasenden Tanz noch mehr gesteigert wurde.
Frei von dieser Ueberlustigkeit hielten sich nur der Maulwurffänger und dessen Bruder. Sogar Sloboda hatte einen leichten »Hieb« und chassirte nicht selten, von einem Beine auf's andere hüpfend, quer durch den qualmigen Tanzsaal nach seiner Kammer, die, wie in den meisten wendischen Häusern, an die Wohnstube grenzte. Eine einzige niedrige Stufe oder eine hohe Schwelle trennte sie von der letztern und eine Zuschlagthür, welche von innen verriegelt werden konnte, sperrte den Eingang. Aus dieser Kammer führte eine zweite Thür in einen schief zur Erde abfallenden schuppenartigen Anbau, wo Sloboda Holz, Reißig, einige Ackergeräthe und andere in einer Wirthschaft nöthige Dinge aufbewahrte.
Mit Absicht vermied es der Maulwurffänger, den Grafen anzureden. Er saß in der Ecke des Zimmers, den Rücken der Thür zugekehrt, trank ein Glas Bier und ließ sich dazu seine kurze Maserpfeife schmecken. Nach dem ersten Tanze mit der Braut trat Magnus an diesen Tisch und [] grüßte den unermüdlichen Raucher. Der Maulwurffänger stand auf und erwiederte gebührend den Gruß des Grafen.
»Du hast den Zeiselhof recht lange nicht mehr besucht,« redete Magnus unsern Freund an. »Wie kommt das?«
»Ich war daselbst nicht nöthig, gnädiger Herr.«
»Du weißt aber, daß ich Dich gern kommen sehe.«
»Wenn dem so ist, werde ich wieder einmal anklopfen.«
Magnus schob einen Schemel an die Wand und setzte sich dem Maulwurffänger gegenüber, so daß jetzt drei an dem Tische saßen, denn auch Gregor hatte inzwischen seinen Platz daran wieder eingenommen und bedächtig die breiten Schöße seines langen, mit rothem Fries gefütterten Rockes von den strammen Beinen zurückgeschoben, so daß sie zu beiden Seiten des Schemels bis auf den Boden herabreichten.
»Wie geht die Kundschaft?« begann Magnus das Gespräch von Neuem. »Ich höre, daß in diesem Jahre der Maulwurf weniger [] Schaden anrichtet, als in dem letzt vergangenen.«
»Möcht' ich nicht so schlechthin behaupten, Ew. Gnaden! Es kommt aufs Erdreich an, denn das Ungeziefer hat einen Geschmack so fein, wie der delicateste Fürstbischof.«
Gregor lachte und sagte mit dem Kopfe nickend: »Natürlich! Natur!«
»Wie ist es denn,« sprach Magnus nach abermaliger Pause, »hast Du neuerdings nichts von dem braunen Lips gehört? Vor einigen Wochen machte er wieder viel von sich reden durch ein paar Einbrüche, die mit großer Kühnheit verübt worden waren.«
»Ich bin kein Polizeimann, Herr Graf,« entgegnete der Maulwurffänger, sein scharfes Auge wie einen leuchtenden Blitz auf ihn heftend.
Magnus stand auf und umfaßte die erste Züchtjungfer, die eben vorbeiging, um mit ihr unter die Tanzenden zu treten.
»Aus mir soll er nichts herausbringen,« flüsterte Heinrich seinem Bruder zu, »und wenn er Schraubenstöcke anlegt und vier Hengste vorspannt. Ich werde kein Narr sein.«
[] »Natur, ganz Natur!« sagte Gregor und zündete sich der Unterhaltung wegen eine Pfeife an.
Inzwischen dauerte der Tanz ununterbrochen fort. Magnus kam nicht mehr vom Plane. Die jungen Mädchen rissen sich um den schönen, leichten, vornehmen Tänzer und legten alle Schüchternheit ab, da sie den als so schrecklich verschrienen Blauhut auf einmal so zugänglich sahen. Wäre es nicht der gnädige Herr gewesen, der alle Dorfschönen ihren Burschen untreu machte, so würde die Hochzeit, wie so oft, mit blutiger Schlägerei geendet haben. So aber war man eines Theils zu sehr hingerissen von der Freigebigkeit und Großmuth des Grafen und sodann hatte man auch wirklich zu viel Gefallen an seinem Tanz, als daß nur Einer gewagt hätte, über das Glück des hohen Gastes zu murren.
Haideröschen hatte schon mehrmals mit Magnus getanzt. Sie war aufgeregt wie alle Uebrigen und von mehrmaligem Kosten geistiger Getränke sogar etwas exaltirt. Ihr lachendes Gesichtchen glühte wie eine Purpurrose; das weiße Brusttuch zitterte von dem stürmischen Klopfen ihres Herzens.
[] Magnus führte sie aus der Hand ihres Bräutigams wieder zum Tanz. Clemens lachte über Röschens Unermüdlichkeit, er lachte so laut, daß der Maulwurffänger aufmerksam wurde und ihn beim Arme nahm.
»Trinke nicht mehr, Clemens,« sprach er zu ihm, »Du wirst zu laut!«
»Weiß Gott, Bruderseele, Du hast Recht! – 's ist verdammt heiß in diesem Backofen. Komm, wir wollen draußen frische Luft schlucken!«
Der Maulwurffänger verließ Arm in Arm mit Clemens die erstickende Atmosphäre der Hochzeitsstube und ging plaudernd im Baumgarten mit ihm auf und nieder. Ein sternenklarer Himmel überwölbte funkelnd die schlummernde Haide. –
Magnus hatte das Verschwinden beider Männer bemerkt. Er sah jetzt außerdem, daß Sloboda trotz des unbändigen Lärmes in einem dunkeln Winkel des Zimmers vor Ermattung zu nicken begann. Alle übrigen waren nur mit sich und dem Tanze beschäftigt und hatten kein Auge auf ihn. – Sogleich endigte er den Tanz und geleitete Haideröschen durch die dicht gedrängte Schaar walzender und zuschauender Gäste. – Er [] winkte ihr, griff in die Brusttasche seines Rockes, wo ein weisses Papier sichtbar ward, und deutete auf die anstoßende Kammer. – Haideröschen, erhitzt, glücklich und neugierig gab nicked ihre Zustimmung und verschwand bald darauf in der erwähnten Kammer. Ungesehen folgte ihr Magnus, der mit geschicktem Griff von innen den Riegel vorschob.
Es vergingen mehrere Minuten, ohne daß Jemand die Braut oder den Grafen vermißte. Die Musik spielte munter auf, die Burschen klatschten in die Hände, sprangen jauchzend in die Höhe, umschlangen mit nervigen Armen ihre Mädchen und stürzten sich in die unaufhaltsame Woge des Tanzes. Da schien es einigen ältern Männern, als vernähmen sie den Hilferuf einer weiblichen Stimme. Sie horchten aufmerksam durch den Lärm, da sich aber nichts regte, achteten sie nicht weiter darauf. Nach einer Pause erklang dieselbe Stimme wieder, aber auch jetzt hörten sie nur einige Wenige undeutlich. Sloboda erwachte jedoch davon aus seinem schläfrigen Hindämmern und suchte mit großen Augen seine Tochter.
In diesem Augenblick trat Clemens mit dem [] Maulwurffänger wieder in's Zimmer, Beide in sichtbarer Aufregung.
»Wo ist meine Braut? Mein süßes Haideröschen?« schrie er mit lauter vor Angst bebender Stimme in den Jubel der Tänzer.
»Hat Jemand den Grafen fortgehen sehen?« fragte nicht minder laut der Maulwurffänger.
Wie vom Donner gerührt, schwiegen plötzlich Musik und Tanz. Es war eine furchtbare, erwartungsvolle Pause. Ein wiederholter, gellender Aufschrei brachte neues, drohendes, grauenvolles Leben in die Masse der keuchenden Tänzer.
»Meine Tochter! Meine Tochter!« rief Sloboda, stürzte nach der Thür zur Kammer – aus der der herzzerreißende Schrei erklungen war – und wollte sie aufreißen, allein sie widerstand jeder Kraftanstrengung.
»Mein Röschen!« jammerte Clemens und schlug wüthend mit den Fäusten gegen die Thür.
Ein paar Secunden und die Thür stürzte krachend unter den Tritten der wüthenden Wenden zusammen.
Es war finster in der Kammer. Der schwache Schimmer halb niedergebrannter dünner Unschlittlichter aus der Wohnstube, in feuchtem Rauche [] trüb und flackernd brennend, ließ am Boden liegend eine Mädchengestalt erkennen, die in völliger Erschöpfung kaum noch athmete. Es war Haideröschen. – Die Brautkrone lag neben ihr, das schöne goldblonde Haar hing in aufgelösten Flechten um den entblößten Busen. Ihre festliche Kleidung war schmutzig, zum Theil zerrissen. Ein Blick genügte, um hier an einem verübten Verbrechen nicht mehr zu zweifeln. –
Clemens stürzte neben der Röchelnden nieder und rief sie mit den zärtlichsten Namen. Sie gab keine Antwort, aber sie hörte, sie sah ihn. Jammernd nur schlug sie beide Hände fest über ihre Augen und wimmerte in herzzerreißenden Tönen.
Der scharfe Blick des Maulwurffängers, der in jedem Winkel der dunklen Kammer den Grafen suchte, bemerkte auf dem Tische ein weißes Blatt. Er hob es auf und hielt es gegen herbeigeholte Lichter. Es war der Freibrief für Clemens und Haideröschen, mit Magnus' Namensunterschrift und Wappen! Der Brief lautete auf den morgenden Tag. –
Als der Maulwurffänger das Blatt durchlesen hatte, ließ er es entsetzt zur Erde fallen.
[] »Auf morgen also! Satanische Bosheit, Du hast gesiegt und wir Armen können nicht einmal gegen ihn klagen! Der Entsetzliche hat blos sein Herrenrecht an der Leibeigenen geübt! –«
Alle standen sprachlos. Sloboda lag gebeugt am Boden neben Haideröschen und netzte mit seinen Schmerzensthränen ihre schönen Haare. Clemens weinte ebenfalls wie ein Kind. Ehrhold dagegen stieß in gerechtem Grimme furchtbare Verwünschungen aus und erhob inmitten der bestürzten Hochzeitsgäste die Hand zum Schwur.
Der Maulwurffänger fiel ihm in den Arm.
»Halt ein!« sagte er. »Nicht Du allein, nicht ein Einziger schwöre hier, wir alle, die wir Männer sind, verbinden uns in gemeinsamem Schwure zu gemeinsamer That! Wer mir beistimmt, der thue, wie ich!«
Der Maulwurffänger kniete nieder. Alle ahmten seinem Beispiel nach. Dann erhoben sämmtliche Wenden zugleich mit dem Deutschen ihre Hände und dieser sprach:
»So lange es noch Herren gibt, die ihre Macht mißbrauchen zum Nachtheile ihrer Untergebenen; so lange noch ein Volk auf Erden lebt das in Armuth, Elend und Druck jammert und [] rechtlos umherirren muß: so lange laßt uns Brüder sein und mit einem Herzen, in einem Sinne handeln! So lange laßt uns verbunden sein zur Befreiung des Volkes vom Druck der Herrschaft, welchen Namen sie auch führen mag! So lange endlich laßt uns nicht schonen weder Gut, noch Blut, noch Leben! Dazu verhelfe uns der gnädige Gott. Amen!«
In dumpfen Tönen sprachen alle Wenden diesen Schwur nach. Als das Amen monoton von ihren Lippen hallte, vernahm man in der Ferne Hufschläge eines davonjagenden Pferdes. Es war Magnus, der in schnellstem Carrière dem Ort seiner Bubenthat und der Rache der beleidigten Wenden entfloh.–
[]Viertes Buch
Erstes Kapitel.
Der Fürst der Haide.
Es war Ende September. Feuchte Schneestürme zogen brausend über die Haide und schleuderten hohe Kronen von den Wipfeln der uralten Tannen und Fichten, die sich mit ihren hundert Aesten wie ungeheuerliche Arme gespenstischer Riesen gegen die Wuth der Windsbraut schirmten. Der feuchte Boden, mit Schlinggewächsen, knorrigen Wurzeln, mit Nadeln und Tannenzapfen bedeckt, zeigte in der stürmischen Nacht nur an Stellen, wo die Waldung sich etwas lichtete, Schilder glänzenden Schnee's, auf denen Schaaren von Krähen saßen, die bei jedem neuen, pfeifenden Windstoß mit heiserm Gekrächz aufflogen und unstätt die in der Luft hin und her sausenden schwarzen Baumpyramiden umkreisten.
[] Mitten in der dichtesten Wildniß thurmhoher Bäume lag eine sumpfige Waldwiese, die im Sommer nur mit einem wallenden Teppich ewig nickender Moorblumen bekleidet war. Ein ziemlich breiter und tiefer Fluß, der sich in zahllosen Krümmungen durch die endlosen Wälder wand, umspülte die Wiese mit seinen schwarzen, nie rauschenden Wellen. Der heiterste Sonnentag verwandelte sich in dem trüben Spiegel dieses schleichenden Gewässers in graue, kühle Dämmerung, und der silberne Glanz der Sterne zitterte und zerrann auf den still kräuselnden Fluthen wie bleicher Irrlichtsschein. Zuweilen trieb dieser Fluß kleine Inseln abgerissenen Moorbodens, die an hinein gestürzten, halb verwitterten Baumstämmen sich ansetzten und eine todesgefährliche, mit grünem Schlammmantel lockend verhangene Brücke bildeten. Schwarze Wasserschlangen und andere Insekten sonnten sich auf diesen zeitweilig erbauten Ueberbrückungen, bis ein plötzliches Anschwellen des Wassers den lockern Bau wieder zerstörte.
Hart am Ufer dieses Flusses, der im weiten Halbbogen die erwähnte sumpfige Wiese umspülte, erhob sich ein breiter Erdwall von nur [] wenigen Fuß Höhe und hinter diesem starrten die schwarzen Mauern eines alten Gebäudes in die Luft. Epheu, Immergrün und wilder Hopfen umspannen einen großen Theil des Mauerwerks und überwölbten es im Frühling und Sommer mit grünendem Laubdache. Jetzt nickten die tausend und abertausend dünnen Aeste und Ranken blätterlos im Sturme und die großen feuchten Schneeflocken flimmerten kaum secundenlang an dem ruhelosen Geäst.
Selten kamen Menschen in diese Gegend der Haide, da sie von allem Verkehr abgeschieden lag und durch natürliche Verhaue vom Winde niedergestürzter Riesenbäume fast unzugänglich gemacht wurde. Nur wer die Haide sehr genau kannte und durch kein Hinderniß sich abhalten ließ, in ihre unheimlichsten Abgeschiedenheiten einzudringen, fand diesen Versteck mit seinen schauerlichen Umgebungen.
Der wallartige Aufwurf am Rande der moorigen Wiese, einige alte, Schanzen nicht unähnliche, Erhöhungen auf dem andern Ufer des breiten Flusses und mehrere auf der Wiese befindliche Reste zerstörten Gemäuers nebst der Umschrotung eines Brunnens deuteten auf ehemalige Befestigung [] dieses Ortes hin. Jetzt war Alles verfallen, begrast oder bemoost, und Sturm und Wetter nagten eben so unermüdet an den schwarzen Mauern, wie die begehrliche Welle des Flusses die uralten Erdschanzen unterwusch und zerstörte.
Als wahrscheinliche Ueberreste einer Feste aus den Zeiten des an Raubnestern reichen Mittelalters nannte man diese Trümmer das Raubhaus. Wer es vom Volke kannte, mied es mit Absicht, da durch die gesammte Haide die Sage ging, die Moorwiese mit dem grauen Getrümmer sei schon seit Jahrhunderten von bösen Geistern bewohnt. Daß das arme unwissende Volk einem solchen Gerücht willig Glauben schenkte, war nicht zu verwundern, denn der Ort an sich schon weckte finstere Gedanken und vermochte die Einbildung mit schauerlichen Bildern zu ängstigen. Dazu kam, daß Viele, die zufällig oder durch Noth gedrungen dem Raubhause nahe gekommen waren, seltsame Stimmen gehört, unerklärliche Gestalten um die Ruinen, lohende Flammen auf Fluß und Wiese gesehen hatten – Erscheinungen, die ihre natürliche Erklärung in der sumpfigen, an entzündbaren oder leuchtenden Dünsten überreichen Umgebung fanden.
[] Nach diesem von allem Volk gemiedenen und verrufenen öden Versteck wanderte in der erwähnten Sturmnacht ein einzelner Mann durch das Krachen, Stöhnen, Seufzen und Brüllen der vom Zorn der Elemente gegeißelten Haide. Die spärlichen Schneeflecke, im Dickicht zerstreut, waren seine Wegweiser. Immer richtete er seine Schritte nach diesen kleinen Lichtoasen in der grauenvollen Finsterniß der stürmischen Herbstnacht, und von ihnen geleitet errichte er nach langem Suchen das Ufer des schwarzen Flusses.
Finster und leblos wie immer lagen die schwarzen Mauern des verfallenen Gebäudes jenseit des Flusses. Der Sturm raste und tobte in den Fensterhöhlen, als wolle er sie in die Luft sprengen. Vereinzelte Krähen schossen wie schwarze Pfeile durch das Flockengewimmel nach der sausenden Haide und mischten ihr klagendes Geschrei mit dem Brüllen des Sturmes. Sonst war weit umher keine Spur eines lebenden Wesens zu entdecken.
Am Erdaufwurfe zunächst dem Ufer des Flusses rastete der einsame Wanderer, lehnte sich auf seinen Stab und schöpfte Luft. An seiner Kleidung, an Haltung und Blick erkennen wir [] unsern alten Bekannten, den Maulwurffänger. Unverwandt heftete er sein Auge auf die unter ihm lautlos dahinschleichende Welle, in deren glänzenden Schwärze sich die jagenden Schneewolken abspiegelten. Jenseits des Flusses und noch eine gute Strecke hinter dem alten Mauerwerk auf der weißlichgrauen Fläche der sumpfigen Wiese leuchteten bisweilen spitze Flämmchen, die wie blaue Dolchklingen, von unsichtbaren Händen gehandhabt, die unverwundbare Luft durchstießen. Diese jähen, blendend aufzuckenden Flammen zeigten sich bald nah, bald fern, und warfen bleifarbene Lichter auf die nächsten Gegenstände, so daß mancher abgebrochene Baumstumpf abenteuerlich geformt erschien und hie und da aus dem finstern Schlunde der Haide in wildem Feuer rollende Augen glotzten. Dann schluchzte auch wohl die Welle, des Flusses und zog, in gurgelnden Trichtern weiße Schaumblumen schaukelnd, zitternde Ringe, als sei in ihren verborgenen Tiefen ein Geist erwacht und hebe träumerisch die müde Hand empor.
Eine geraume Zeit betrachtete der Maulwurffänger diese Erscheinung mit gleichgiltigem Auge. Dann schritt er langsam dem Sturme [] entgegen längs des Erdaufwurfes am Flusse fort, bis die Breitseite des zertrümmerten Gemäuers sichtbar ward. Ein gewaltiger ast- und blüthenloser Baumstamm stand hier aufrecht an dem Gestein und sah in der dunklen Nacht wie verkohlt aus. Als der Maulwurffänger diesen Stamm gewahrte, blieb er wieder stehen und erstieg dann mit zwei Schritten den Damm. Der Fluß war hier in ein sehr schmales Bett eingeengt und auf dem andern Ufer mit niedrigem Gebüsch besetzt, das zaunartig die ganze Länge des alten Mauerwerkes hinablief.
»Das wird die angegebene Stelle sein,« sprach Heinrich für sich, beugte sich zur Erde und entdeckte in dem lockern Boden Spuren eines Eindruckes. »Nun denn, auf gut Glück sei es versucht!«
Darauf setzte er zwei Finger an die Zähne und pfiff dreimal hinter einander mit solcher Kraft, daß der gellende Ton selbst das Getöse des Sturmes überschrie und wohl zehnmal im Waldesdickicht vom Echo erst laut, dann schwach und immer schwächer wiederholt ward, bis er im Lärmen des Windes erstarb.
Es währte nicht lange, so bewegte sich der [] abgestumpfte schwarze Baumstamm, sank gegen den Fluß langsam nieder und legte sich als schmale, aber doch sichere Brücke über das Gewässer. In dem Mauerspalte, der mit dem Sinken der rohen Zugbrücke enthüllt ward, schimmerte ein rothes Licht, gleich dem Wiederschein eines nahen Feuers oder einer brennenden Fackel. Heinrich besann sich keinen Augenblick, auf dem etwas wankenden, nur fußbreiten Stege den Fluß zu überschreiten und durch die Oeffnung in das verfallene Raubhaus zu treten. Unmittelbar hinter ihm schloß sich geräuschlos wieder die Pforte durch gespenstisches Aufsteigen des Stammes.
Der Maulwurffänger befand sich in einem weiten, theils kahlen theils mit Moos und Gestrüpp bewachsenen Mauerviereck, dem jeder Schutz durch Dach und Sparrwerk fehlte. Etwa in der Mitte war eine Erhöhung wie von herabgestürztem Schutt zu entdecken, denn dürre Gräser überwucherten es und eine dünne Schneedecke hatte es jetzt überzogen. Von diesem hünengrabähnlichen Hügel schlug aus der Tiefe der Flammenschein herauf, und als Heinrich dreist darauf zuschritt, entdeckte er den aus festen Quadern[] gewölbten, nur halb mit verkrüppelten Wurzeln verrammelten Eingang zu einem Keller. Drei bis vier Stufen unter der Oeffnung saß ein junger Mensch von sechzehn bis siebzehn Jahren, einen helllodernden Kienbrand über sich emporhaltend und dadurch den Eingang zum Keller vollkommen erleuchtend.
Ueber den Gesichtsausdruck dieses Menschen erschrak der Maulwurffänger trotz seiner bekannten und in hundert Gefahren erprobten Entschlossenheit. Es war eine vollendet classische Spitzbubenphysiognomie. Das Gesicht, hager und länglich, lief in ein spitzes bartloses Kinn aus, das jedoch nicht vorstand, sondern sich mehr nach rückwärts dem Halse zusenkte. Dadurch trat der Mund mit seinen schmalen Lippen und vier ungewöhnlich großen Vorderzähnen auffallend stark hervor. Diese Zähne, blendend weiß und fast spitzig, wie die eines Wolfes, glänzten immer aus den nie vollkommen schließenden Lippen, und zeigten sich in ihrer ganzen Größe, wenn ihr Inhaber sprach oder gar lachte. Noch entsetzlicher war der Blick seiner Augen. Diese lagen wie Aepfel gleichsam außerhalb ihrer Höhlen, waren von tiefstem Schwarz und glühten wie [] Kohlen auf einem Ringe weiß glänzenden Emails, denn weil der junge Mensch heftig schielte und dabei aus Angewohnheit oder Argwohn die Augen immerwährend hin und her rollte, kehrte sich das weiße Innere derselben mehr als gewöhnlich heraus.
Seine Kleidung war die eines armen Dorfbewohners, schlecht, etwas schmutzig und nicht im Geringsten auffällig.
Als er den Schreck des Maulwurffängers bemerkte, lachte er höchst vergnügt, hielt den Kienbrand noch etwas höher und sagte:
»Immer kommt näher, Mann! Ich bin nicht der Teufel, obwohl mich das dumme Pack häufig dafür hält und ich es mir zum Vortheile unsers Handwerkes gefallen lasse. Doch bevor ich Euch in unser Heiligthum geleite, noch eine Frage. Wer seid und was wollt Ihr?«
»Als Wächter kommst Du mir trotz Deines verbotenen Gesichtes etwas dumm vor, lieber Junge,« erwiederte Pink-Heinrich, »denn auf Deine Frage kann ich Dir hundert Antworten geben, die alle passen.«
Der junge Bursche zeigte abermals grinsend sein Gebiß und stieß den Kienbrand gegen die [] feuchte Mauer, daß zischend die abstäubenden Kohlen daran niederfielen.
»Nicht gar so dumm, wie Ihr meint, Mann! Nur Eine Antwort gestattet Euch den Eintritt, jede andere würde Euch sehr unsanft durch jenen Spalt befördern und vielleicht für ewige Zeiten im schwarzen Wasser des Flusses verstummen machen. Also nicht lange gefackelt, mein Bester! Der Brand droht zu verlöschen und mir gefällt es nicht, hier noch länger im feuchten Luftzuge zu sitzen.«
»Du bist sehr kurz angebunden mit müden Wanderern, die eine Herberge suchen,« versetzte der Maulwurffänger. »Indeß jedes Kraut hat seinen eigenen Saft und so will ich mich denn herablassen, ohne lange Umschweife auf Deine Frage zu antworten: Drathschlinge will zu Nachschlüssel.«
»Da ich sehe, daß Du unsern Katechismus vortrefflich auswendig kannst, so tritt ein, Gegerbter der Hölle!« sagte der Bursche und zog grüßend seine verschossene Mütze von Fuchspelz. »Nachschlüssel hat schon seit einer Woche auf Dich gewartet und ist Dir zu Gefallen in dieser ganzen Zeit nicht aus seinem Schlosse gewichen. Deine Ankunft wird ihn sehr erfreuen.«
[] Während dieser Gegenrede schritt der junge Mensch die Stufen hinab, den Kienbrand leuchtend hinter sich haltend. Der Maulwurffänger folgte ohne Furcht, doch mit jener vorsichtigen Bedächtigkeit, die wir in bedenklichen Lagen des Lebens unwillkürlich annehmen.
»Gib Acht, Drahtschlinge!« rief er unserm Freunde zu. »Die Stufen unserer Staatstreppe sind mit glatter und schlüpfriger Schlammfeuchtigkeit statt eines Teppichs überzogen und wer darauf in's Stolpern kommt, bricht regelmäßig Hals und Beine, so daß wir, ist er unten angekommen, weiter keine Noth mehr mit ihm haben, als daß wir ihn begraben müssen. Solche spaßhafte Fälle haben sich schon häufig zugetragen.«
Der Maulwurffänger verachtete diese Warnung nicht und fand, daß sie nicht unnöthig gewesen war. Nur mit Mühe und durch Anklammern beider Hände an die vorspringenden Mauersteine, die im rothen Schein des Kienbrandes vor Feuchtigkeit blitzten und von langen Streifen grünlicher Flechten umsäumt waren, kam er ohne auszugleiten in dem brunnentiefen Keller an. Hier ward die Luft trockener und wärmer. Ein [] gewundener Seitengang, hie und da mit tiefen Löchern in beiden Mauern und mit Ueberresten verrosteter, an schweren Eisenringen hängender Ketten versehen, führte in das geheime Innere. Sein Führer öffnete mehrere Thüren und verriegelte sie wieder sorgfältig, bis sie ein kleiner, mit einigem Hausgeräth versehener Raum aufnahm, der ein ziemlich freundliches Aussehen hatte. Hier hörte unser Freund sprechen und dazwischen ein Geräusch, als ob Jemand in Holz arbeite oder mit scharfem Instrumente buchene Späne schleiße.
»Warte!« sagte sein spitzbübischer Geleiter. »Ich will Dich erst melden, denn es ist Sitte in unserm vortrefflich eingerichteten Hofstaat, daß nur Bekannte oder Genannte vor seiner Alldurchdringlichkeit erscheinen.«
Der Maulwurffänger blieb ein paar Secunden in tiefster Finsterniß, dann kam der junge Mensch wieder zurück, öffnete eine dreifache Reihe sehr fester Thüren aus eichenen Pfosten, die auf beiden Seiten mit starkem Eisenblech beschlagen und mit den künstlichsten Schlössern versehen waren, und sagte mit einem Anflug von Höflichkeit:
[] »Beliebt es einzutreten?«
Unser Freund folgte dieser Aufforderung. Ein großes vierecktes Kellergewölbe nahm ihn auf, das je doch wie ein gewöhnliches Wohnzimmer gedielt und mit alten, zum Theil sehr kostbaren Schränken, Tischen und Stühlen meublirt war. Ein Ofen, von Kacheln verschiedener Farbe und Arbeit zusammengesetzt, verbreitete eine behagliche Wärme in dem Gemache, das von mehreren hell brennenden Kerzen, die auf zinnernen und silbernen Leuchtern staken, vortrefflich erleuchtet ward. Vor dem Ofen kauerte eine Frau von unschönem Aeußern, deren Kleidung ein wunderliches Gemisch von Lumpen und ehemaligen Ueberresten prächtiger Stoffe zeigte. Sie war beschäftigt, über heller Kohlengluth ein wohlschmeckendes Gericht zu schmoren, wenn der Maulwurffänger dem angenehmen Duft trauen durfte, welcher kitzelnd davon in seine Nase stieg.
Neben ihr an der Wand saß ein noch junger Mann mit auffallend schönem und regelmäßigem Gesicht auf einer Schnitzelbank und glättete eben erst aus dem Groben gearbeitete dünne Buchenhölzer mit einem scharfen Schnitzer, wie sie die Tischler zu führen pflegen. Im Hintergrunde [] des Kellers endlich, an einem runden Tische, der mit silber- und golddurchwirkten Stoffen überdeckt war und unserm Freunde ganz besonders in die Augen fiel, saß ein großer, starker Mann, die kräftigen Glieder in einen feinen Pelz gehüllt. Dieser Mann hatte bereits graue Haare, ein stark gebräuntes, mit vielen Falten und einigen tiefen Narben bedecktes Gesicht, trug einen lang herabhängenden Schnurrbart, dessen Enden er häufig mit der rechten Hand kräuselte, und las mit großer Aufmerksamkeit in einem Buche, deren mehrere auf einem in die Wand befestigten Regale in guten, wohl erhaltenen Einbänden standen.
Obwohl der Maulwurffänger wußte, daß der berüchtigte und gefürchtete »Fürst der Haide« ein Mann von vornehmenr Anstande und feinen Manieren sei – denn selbst hatte er ihn nie gesehen – war er doch in Zweifel, ob er die vor ihm sitzende ruhige und imponirende Gestalt für diesen halten sollte. Ungeachtet des Geräusches, das Heinrich beim Eintreten mit seinen starksohligen mit großen Nägeln beschlagenen Schuhen machte, blickte Lips doch nicht auf. Erst als er seine Lectüre beendigt hatte, schlug er das Buch [] zu und hob langsam das freundliche, blaue Falkenauge zu seinem Gaste empor.
»Ihr seid nicht pünktlich,« sprach er aufstehend, einen alten, mit kostbarem rothbraunen Saffian überzogenen Lehnstuhl von Nußbaumflaser an den Tisch ziehend und mit graziöser Handbewegung unsern Freund zum Sitzen einladend. »Hätte mich nicht die ungestüme Witterung an Ausführung meiner Pläne verhindert, so würdet Ihr mich nicht mehr getroffen haben.«
Während der Räuber mit klangvoller fast sanfter Stimme so sprach, hatte der Maulwurffänger Zeit, ihn genauer zu betrachten, sein lebhaftes Mienenspiel und seine Bewegungen zu studiren. Verwundert, ja entsetzt trat er jetzt einen Schritt näher, seine schwielige Hand schirmend über die Augen haltend, um das Licht der Kerzen zu dämpfen, dessen Glanz ihn blendete.
»Mein Gott,« sagte er tief aufathmend, »welche Aehnlichkeit! Aber das kann ja nicht sein!«
Nun horchte auch Lips auf und aus den freundlichen stillen Augen fuhr ein funkelnder Blitz über Heinrich. Er beugte sich über den Tisch und erhob den schweren zinnernen Leuchter, um das Gesicht des Fremden besser zu beleuchten.
[] »Seid Ihr nicht der kluge Heinrich vom Todten?« fragte er, den Leuchter wieder ruhig vor sich hinsetzend und ohne eine Miene zu verziehen.
»Als Knabe hieß ich so bei meinen Gespielen, und wahrhaftig, wärt Ihr nicht der, der Ihr eben seid, so würde ich Euch Herr Johannes nennen.«
»Und wenn ich nun wirklich jener Johannes wäre, den Ihr meint, würde mich dies in Eurer Meinung sinken machen?«
»Ich will nicht Richter sein in fremden Angelegenheiten,« erwiederte der Maulwurffänger in seiner ihm zur Gewohnheit gewordenen ausweichenden Manier. »Weiß ich doch, daß Jeder seine Brodrinde mit den Zähnen beißt, die er dazu gebrauchen kann, warum Ihr nicht auch die Eurige!«
»Wann sahen wir uns zuletzt?« sagte Lipps.
»Nach unserer Art zu rechnen, Herr Johannes – erlaubt, daß ich Euch so nenne – wird das wohl in vergangener Lichtmeß ein neunzehn oder zwanzig Jahre gewesen sein.«
»Mich dünkt, es war später, Heinrich, denn [] ich besinne mich, daß ich mit dem Grafen auf den Schnepfenstrich gegangen war.«
»Mit dem Grafen! – Wenn der alte, brave Mann das hätte ahnen sollen!«
Dem Räuber schwoll die Zornader, in seinen blauen Augen sprühte ein wildes Feuer, er ballte die gebräunte schön geformte Hand und schlug wüthend auf den Tisch, daß er knackte.
»Brav!« stieß er höhnisch heraus. »Wenn Ihr diese Bestie brav nennt, so könnt Ihr eben so gut den Wolf zu Eurem Schlafkameraden machen. Mir wäre wohl, hätte ich ihn in meinen Händen, wie der Geier das Lamm. Dann wollte ich mich an seinem Jammer erlaben, und wenn er unter den Qualen, die ich für ihn erfinden würde, ausgeröchelt hätte, wollte ich, ein frommer Büßer, wieder unter friedliebenden Menschen wohnen.«
»Möge Euch Gott diese lästerlichen Worte vergeben, zu denen Ihr doch wohl gegründete Ursache haben müßt, Herr Johannes,« sagte Heinrich, »allein wenn Ihr auf diesen Tag warten wollt, so werdet Ihr Euch noch einige Jahrtausende in Geduld zu fassen haben. Der Graf ist heimgegangen zu seinen Bätern.«
[] Der Räuber erblaßte. »Also todt,« sprach er, sich mit der Hand über die hohe Stirn streichend, »todt, ohne erfahren zu haben, wozu seine Tyrannei, seine Lieblosigkeit, seine verballhornte Ansicht von der Menschheit und ihrer Gliederung in verschiedene Stände mich getrieben hat! – Nun, ich hoffe, daß er eines elenden, verzweifelten Todes gestorben ist!«
»Gott sei ihm gnädig!« sagte der Maulwurffänger, »er erstickte an einem Fluche –«
»Ha! An einem Fluche! O, Gott ist gerecht, Gott ist den Armen gnädig, Gott straft die Uebermüthigen!« schrie der Räuber und erhob beide Hände wie zu einem wilden Gebet gen Himmel.
»An einem, Fluche, den er über seinen eigenen Sohn ausstieß,« ergänzte Heinrich.
»Sprecht Ihr vom Grafen Erasmus?«
»Erasmus von Boberstein verfluchte sterbend seinen Sohn Magnus!« wiederholte langsam und ernst der Maulwurffänger.
Der Räuber ließ sein Haupt sinken und hing eine lange Weile seinen Gedanken nach. Dann winkte er nochmals dem Gaste, sich zu setzen, [] und nahm selbst wieder Platz in seinem Stuhle.
»Diesen Vorgang müßt Ihr mir ausführlich erzählen, Heinrich,« hob er nach einiger Zeit wieder an, »denn wie ich auch darüber nachdenke, ich kann keinen Zusammenhang darin finden. – Magnus war damals sein Augapfel, sein Ein und Alles! Wer ihm zu nahe trat, der zog sich unausbleiblich den Zorn des Grafen zu! – Es war ein kräftiger, feuriger Knabe, voll eigenthümlicher Energie! – Und solchen Sohn hat solch ein Vater verflucht! – Doch erzählt, Heinrich, erzählt!«
»Ihr sähet mich nicht hier in diesem unauffindbaren Versteck, Herr Johannes, hätte mich nicht der Tod des Grafen Erasmus und die Umstände, welche ihn veranlaßt haben, zu Euch geführt. – Es scheint, Ihr seid trotz Eurer Allseitigkeit nicht gut unterrichtet von den Verhältnissen und wißt namentlich nicht, welche außerordentliche Fortschritte Euer ehemaliger Zögling in der Energie gemacht hat. – Vergebt, Herr Johannes, wenn ich mein Erstaunen darüber nicht bergen kann! Als Ihr vor mehreren Monaten eine an Euch ergangene Bitte, die von [] mir herrührte, so bereitwillig erhörtet und durch dieselbe den unbändigen Grafen Magnus nöthigtet, einem unterdrückten armen Mädchen Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen; da glaubte ich, Ihr durchschautet die geheimsten Pläne dieses gewissenlosen Mannes. Wer konnte ahnen, daß jene Drohung so schreckliche Folgen haben würde! – Nun es geschah, was geschehen mußte nach dem Rathschlusse Gottes, und es wird nicht umsonst geschehen sein. Die entsetzliche Hochzeitsnacht Röschen Sloboda's hat Drachenzähne gesät, die bald aufgehen werden, um blutige Wiedervergeltung zu üben.«
»Ich habe von dem Bubenstück gehört,« versetzte der Räuber, »ohne mich jedoch um den Namen des Herren zu kümmern. Magnus also war der Schurke? – Dann sehe ich, daß er seinem Vater keine Schande macht.«
»Wollte Gott, Ihr sprächet die Wahrheit!« entgegnete der Maulwurffänger. »Wollte Gott, Graf Magnus wäre in die Fußstapfen seines zwar vorurtheilsvollen, aber nichts desto weniger redlichen Vaters getreten! Ich brauchte dann nicht in wilder Sturmnacht durch die Haide zu wandern und bei denen Hilfe gegen Herrenwillkür [] zu suchen, die im gewöhnlichen Leben der gemeine ehrliche Mann flieht!«
»Stachlige Reden verwunden mich nicht, also sprecht Euren Unmuth immerhin aus, wenn es Euch dazu drängt; nur bitte ich, faßt Euch kurz, damit ich erfahre, warum Ihr den verstorbenen Grafen so lebhaft gegen den Sohn in Schutz nehmt.«
»Das ist bald gesagt,« erwiederte Heinrich, mit umgekehrter Hand die unwillkürlich ihm in die Augen stürzenden Thränen abwischend. »Seit Jahren schon, genau weiß ich die Zeit freilich nicht zu bestimmen, lebte ein junges Mädchen auf Boberstein, eins von jenen Wesen, deren körperliche Schönheit von ihrer himmlischen Seele Zeugniß ablegt. Niemand wußte recht, wo das engelschöne Mädchen herkam und wem sie angehörte. Es kümmerte sich auch Keiner darum denn Alle hatten sie zu lieb, und da konnte es Jedem gleichgiltig sein, von wem sie ihr Dasein ableitete. Natürlich gehörte auch Magnus zu den Verehrern seiner Cousine –«
»Cousine! Ihr sagt Cousine?«
»Auf dem Grafenschlosse nannte man sie so und sie mußte es wohl auch sein, denn von [] Herrschaft und Dienern ward sie wie ein Kind des Hauses gehalten und standesgemäß erzogen. – Genug, der junge Graf steigerte seine Verehrung der Cousine bis zur Liebe und trug ihr seine Hand an – mehrmals, wie ich späterhin erfahren habe. Allein Herta –«
»Wer nennt sich Herta?« warf der Räuber aufspringend ein.
»Es pfiff nicht, es war nur der Wind, der im Schlot heult,« sagte der junge Mensch, welcher den Maulwurffänger in die Kellerwohnung geführt hatte, denn er glaubte, sein Herr vermuthe oder erwarte noch einen Besuch.
»Nun ich denke, des Grafen Cousine nannte sich Herta,« erwiederte unser Freund.
»Denke! – Wenn Ihr erzählen wollt, so unterrichtet Euch zuvor, damit Ihr Andere nicht in Angst und Unruhe versetzt!«
Lips stützte nach diesen Worten den ergrauenden Kopf in die Hand und drehte wildblickend seinen Schnurrbart. Der Maulwurffänger ward jetzt aufmerksamer. Sein schärfster Blick glitt über die Mienen des Räubers, dann sagte er mit feierlich-ernstem Tone:
»Bei meinem Eid, Herr Johannes, ihr [] Name ist Herta und ein Gerücht im Volke will behaupten, daß ihr Ursprung nach den gewöhnlichen Begriffen des Adels und der Vornehmen kein ganz gesetzlicher sei.«
Der Räuber hatte sich wieder aufgerichtet. Er sah den Gast mit Augen an, vor deren brennender Gluth selbst Heinrich erschrak.
»Nun?« fragte Lips heftig, da unser Freund schwieg. »Ist Eure Geschichte zu Ende?«
»Sie ist es bald, Herr Johannes. – Das gute, schuldlose Kind wies den kühnen, zudringlichen Bewerber ab, verbot ihm das Zimmer, sagte ihm in's Gesicht, daß sie ihn und seinen Lebenswandel hasse, verabscheue. – Magnus lächelte und ging. Er haßte jetzt seine Cousine, und als er die Gelegenheit erspäht hatte, schlich er sich in stiller Nacht auf nur ihm bekannten und zugänglichen Wegen in ihre Kammer –«
»Weiter! Weiter!« schrie Lips, den Tisch mit beiden Händen umklammernd.
»Und zwang sie seinem Willen!« flüsterte der Maulwurffänger.
Ein Schrei des Räubers hallte wieder an dem grauen Kellergewölbe, dann hörte man ein [] Krachen, der Tisch borst mitten auseinander und der gewaltige Körper des bis zum Wahnsinn aufgeregten Mannes stürzte zugleich mit den Trümmern des Tisches, mit Leuchtern und Allem, was darauf lag, zu Boden.
Heinrich sprang helfend auf, doch Lips erhob sich schon wieder aus eigener Kraft, stieß die zerbrochene Tafel von sich und befahl, einen andern Tisch herbeizubringen, was ohne Zaudern geschah.
»Ich bitte Euch jetzt,« sagte er mit ruhiger Haltung, aber bleich vor Entsetzen und mit bläulichen, zitternden Lippen, »ich bitte Euch, Heinrich, endiget!«
»Das entehrte Mädchen schwieg bis vor wenigen Tagen. Da drang Graf Erasmus in sie, weil sie immer elender, immer bleicher ward, und als sie die Schandthat seines Sohnes ihm gestand und daß sie die schreckliche Hoffnung habe, Mutter zu werden, da raufte der Greis sein Haar, verfluchte den Sohn und stürzte vom Schlage getroffen bewußtlos zu Boden. Seine Diener hoben eine Leiche auf. In vier Tagen soll er mit allem Pomp des alten Grafenhauses beerdigt werden.«
[] Der Räuber hatte den letzten Theil dieser Mittheilungen mit abgewandtem Gesicht angehört. Jetzt verhüllte er es mit beiden Händen, und aus dem schweren Athmen zu schließen, kämpfte er gewaltsam mit seinen hervorquellenden Thränen. Keiner der Anwesenden wagte den von Schmerz oder Entsetzen so furchtbar Ergriffenen anzureden, selbst der Jüngling mit dem Wolfsgebiß, der gern die grauenvollsten Thaten mit wieherndem Gelächter begleitete, verzog keine Miene. Nach längerer Pause ermannte sich Lips wieder und reichte dem Maulwurffänger, jedoch mit immer noch abgewandtem Gesicht, seine braune, schlanke Hand.
»Ich erinnere mich mit Wehmuth jenes Pfades,« sagte er. »Des Grafen Schwester, so jung, so schön, so unschuldig, wie Ihr Herta beschreibt, ging ihn oft, um auf den freien Zinnen der alten Burg Unterricht in der Sternenkunde zu nehmen. Es war der Weg zu ihrem Tode! Und nun –«
Schaudernd unterbrach sich der gerührte Räuber, als habe er ein tiefes heiliges Geheimniß zu verschweigen; dann fragte er mit einiger [] Hast, um das Gespräch gewaltsam auf einen andern Gegenstand zu leiten:
»Ihr kommt als Abgesandter der armen Wenden, Heinrich, das Euch zugesendete Stichwort sagt es mir. Welch ein Anliegen haben sie an mich? Was kann ich für sie thun? Beabsichtigen sie ihren Zwingherrn zu züchtigen?«
»Ja,« sagte der Maulwurffänger, »ich komme im Auftrage dieser armen unterdrückten Leibeigenen. Sie Alle wissen, daß der plötzliche Tod des alten Erasmus den großen Grundbesitz dieses Mannes in die Hände seines Sohnes bringt. Der Graf ist ohne Testament gestorben, wenigstens hat sich keines gefunden. Magnus wird als alleiniger Sohn Universalerbe des unermeßlichen Vermögens. Er kann damit schalten und walten nach Gutdünken, er kann seine nächsten Verwandten, er kann vor Allem die arme verlassene Herta quälen, so lange es ihm Vergnügen macht, und wie ich ihn kenne, wird er es thun, wenn sie ihm nicht die Hand reicht, was er vielleicht beabsichtigt –«
»Nimmermehr!« rief der Räuber. »Herta soll eher auf den Landstraßen betteln, soll verhungern, [] ehe sie einen Groschen von dem Elenden annimmt!«
»Das ist ungefähr auch meine Meinung,« fuhr der Maulwurffänger fort. »Allein Ihr werdet begreifen, daß im Guten mit diesem Wütherich nichts anzufangen ist. Gesichert in seinen Rechtsansprüchen verlacht er uns Alle und thut doch, was er will. – Darum sind die Leibeigenen entschlossen, sich in Masse gegen ihn aufzulehnen, ihm einen förmlichen Vertrag abzunöthigen, der Herta's Zukunft sichert und ebenso der Tochter Sloboda's ein Jahrgeld zuspricht, und will er sich diesen Forderungen nicht fügen, im Nothfall mit Waffengewalt ihn dazu zu zwingen. Ihr aber, Herr Johannes, sollt als ein in heimlichen Belagerungen erfahrener und, wie das arme Volk am besten weiß, nicht so schlimmer Mann, als Euch die Verleumdungen der Reichen schildern, Ihr sollt diesen Aufstand leiten und ordnen.«
»Hört mich an,« erwiederte der Fürst der Haide, »und wollt Ihr, daß ich gemeinschaftliche Sache mit Euch machen soll, so laßt mir freie Hand in dieser Angelegenheit. Ich mache sie ganz zu der meinigen, denn sie ist die meinige. [] Ich habe alte Frevel zu rächen, alte Verbrechen zu sühnen. – Ich will Beides zu vereinigen suchen. Geht,« fuhr er lebhafter fort, »geht zurück in die verfallenden Hütten des geknechteten Volkes und sagt ihm, der Johannes der Haide, ihr Fürst und Herr, käme aus der Einöde zurück, um eine neue Religion zu predigen. Sie brächte Friede den Armen und Gepeinigten, Krieg und unerbittliches Gericht den rechtlosen Unterdrückern! Ich wolle die Leibeigenschaft vernichten oder unter ihnen kämpfend sterben! – Sagt das Euern Freunden, Heinrich, und vergeßt nicht hinzuzufügen, daß sie von heut an gerechnet in der dritten Nacht sich bereit halten sollen!«
Statt aller Antwort drückte der Maulwurffänger dem ungewöhnlichen Räuber, dessen Schicksal ihm in seltsame Schleier gehüllt zu sein schien, herzlich die Hand, worauf von der bisher besprochenen Angelegenheit unter den beiden Männern nicht mehr die Rede war.
Lips befahl der früher am Ofen beschäftigten Frau, das Abendessen aufzutragen, was sogleich ohne Widerrede geschah. Uneingeladen nahm Heinrich daran Theil, da er, wie uns bekannt ist, sich eines sehr gesunden Appetites erfreute.
[] Erst spät in der Nacht sank der schwarze Baum wieder über die finster kräuselnde Fluth und der Maulwurffänger schritt wie ein Gespenst über die schwanke Brücke und verschwand in der jetzt von grauen Nebelwolken durchsausten Haide.
[] Zweites Kapitel.
Geheimnisse.
Abgesondert von den übrigen Wohnungen des Dorfes lag das Gemeindehaus der Heimath Sloboda's. Auf dem Lande vertritt ein solches auch die Stelle des Kranken- und Armenhauses und wird auf Kosten der Gemeinde, zuweilen mit Zuschüssen des Gutsherrn, in baulichem Stande erhalten. Unter »baulich« versteht man nämlich in diesem Falle, daß Wände, Gebälk und Dachstuhl nicht geradezu über den Köpfen der Bewohner zusammenbrechen. Mit allen übrigen zu einem wohnlichen Hause gehörenden Dingen nimmt man es nicht allzu genau. Daher gibt es nur äußerst selten Gemeindehäuser mit ganzen Fenstern, guten Oefen, unzerbrochenen Schemeln, Bänken und Tischen. Dergleichen hält man für [] unnöthigen, überdies den Bewohnern solcher Gebäude nicht ziemenden Luxus.
Das Gemeindehaus, von dem wir sprechen, gehörte unter die schlechtesten. Es war einstöckig, Lehmwand und Strohdach waren, jene nach außen, dieses nach innen eingesunken, so daß der Firsten eine Schlangenlinie beschrieb und die kleinen mit Spänen, Papier und Scherben verklebten Fenster jeden Augenblick auf die Straße zu fallen drohten. Von der Feuerösse waren blos noch vier stumpfe Pflöcke übrig. Ein Gewittersturm hatte das runde Schutzdach entführt und seitdem fanden Regen und Schnee ungehindert Eingang in diese Höhle der Armuth, Krankheit und Noth.
Glücklicherweise war das Dorf nicht stark bevölkert, so daß die Zahl der Bewohner des Gemeindehauses sich nur auf vier Individuen belief. Zu diesen gehörte auch Sloboda's verwittweter Sohn, der »närrische Nathanael,« wie ihn seine Bekannten nannten. Seit er den Verstand verloren hatte, war er hier untergebracht worden, weil es Sloboda an Zeit fehlte, den Unglücklichen zu beaufsichtigen und zu pflegen. Denn im Gemeindehause mußte auf Kosten der Gemeinde [] für Kranke eine Wärterin gehalten werden, die für ihren höchst kargen Lohn verpflichtet war, zu bestimmten Stunden für die Bedürfnisse derselben zu sorgen.
Eigentlich hätte Nathanael keine Wartung gebraucht. Er war der stillste, gemüthlichste, lenksamste Wahnsinnige, den es geben konnte. Wer an der baufälligen Hütte vorüberging, konnte sein blasses, immer lächelndes Gesicht entweder in der Oeffnung einer fehlenden Fensterscheibe sehen, was ganz den Anstrich hatte, als habe man statt des Glases eine menschliche Larve mit beweglichen Augen hineingeklebt, oder ihn selbst vor der lochartigen Hausthüre betrachten, wo er, einen Knüttel im Arm, Wache stand und wie ein Posten gravitätisch auf- und niederging. Er that keinem Kinde etwas zu Leide, war mit Allem zufrieden, aß und trank, wenn man ihm etwas gab, und fastete ohne Murren, wurde dies vergessen. Gewöhnlich sprach er mit sich selbst, und so wenig man auch von seinen Reden verstehen konnte, so war doch aus vereinzelten Worten und aus stets wiederkehrenden Wendungen und Gedankenbruchstücken abzunehmen, daß er des festen Glaubens lebe, seine erschlagene Frau habe ihm einen Knaben hinterassen,[] der beim Begräbniß der Mutter verloren gegangen sei und nun ohne Vater und Mutter elend umkommen müsse. Es wußte aber Jedermann, daß Nathanaels Frau nach kaum anderthalbjähriger Ehe ums Leben gekommen war, daß sie niemals ein lebendiges Kind geboren hatte, wohl aber etwa ein halbes Jahr vor ihrem plötzlichen Tode von einem todten Knaben entbunden worden war.
An alle dem hatte bei Lebzeiten der unglücklichen Frau Niemand gezweifelt, jetzt aber durch des Irrsinnigen Reden aufmerksam gemacht, erhoben sich ganz im geheim einzelne Stimmen, welche andeutungsweise behaupteten, es sei damals bei der Entbindung von Nathanaels Frau nicht ganz nach Recht und Gerechtigkeit zugegangen! Ihr Kind habe wohl gelebt, indeß – später sei es als todtgeboren begraben wor den! – Solche Gerüchte liefen, wie gesagt, jetzt um, allein wer hätte Zeit, Lust und Bedürfniß gehabt, ihrem Ursprunge nachzuspüren und die Wahrheit zu ermitteln! Die arme Frau war todt, Nathanael verrückt und sein Vater hatte mit der einzigen Tochter Kummer genug, als daß irgend einer seiner Mitbrüder ihm eines hohlen Gerüchtes [] wegen das Herz noch mehr hätte beschweren mögen. –
Fast alle Tage besuchte der bekümmerte Vater seinen unglücklichen Sohn, um ein paar Worte mit ihm zu reden und sich von seinem elenden Hinvegetiren zu überzeugen. Stand Nathanael Wache vor der Thür, so ließ er den Vater nich in's Haus, denn er behauptete dann, sein Knabe sei drinnen in der Pension, werde zum vornehmen Herrn erzogen und erhalte jetzt eben Unterricht in feiner Lebensart; wer nun da Einlaß begehre, der beabsichtige, ihn zu entführen und wieder unter die Bauern zu verstoßen. Lag dagegen das blasse Gesicht des Wahnsinnigen in der fehlenden Fensterscheibe, so durfte Sloboda eintreten und dann erzählte ihm Nathanael die Verirrung seines Kindes beim Begräbniß der Mutter. Um diese beiden fixen Ideen drehte sich nun schon seit langen Monaten der Gedankengang des Unglücklichen. –
Am Tage nach Heinrichs nächtlicher Zusammenkunft mit Lips machte Sloboda seinen gewöhnlichen Besuch im Gemeindehause. Es war nach der stürmischen Schneenacht, wie dies zu Anfang Herbst oft geschieht, am Morgen wieder [] ganz still und warm geworden und die Sonne schien so erquickend mild, daß man hätte glauben können, der Lenz sei eben angebrochen.
Nathanael lag mit dem lächelnden Gesicht im Fensterloche und sah mit den blödsinnigen, ausdruckslos gläsernen Augen auf die Haide, über deren blauschwarzem Walle die äußersten Thurmspitzen des fernen Schlosses Boberstein deutlich zu erkennen waren.
»Guten Tag, Nathanael,« sagte Sloboda grüßend, »es will nochmals Sommer werden, scheint es.«
»Er kommt doch nicht wieder,« entgegnete mit traurigem Kopfschütteln der Wahnsinnige, indem er das Fenster verließ, um seinem Vater bis an die Stubenthür entgegen zu gehen.
Außer ihm war noch eine alte Frau in der dunstigen schmutzigen Stube, die auf der Ofenbank saß und die Spindel drehte. Ein paar Ueberreste von Dielen waren erst am Morgen aufgebrochen und in kleine Stückchen zerspalten worden, um Feuer damit anzumachen, denn das Reißig war ausgegangen und die Gemeinde hatte noch kein neues geliefert, weil der Vorstand vergessen hatte, anzuzeigen, daß alles Holz der Armen[] verbrannt sei. Der Fußboden des Gemeindehauses bestand daher gegenwärtig aus nacktem schwarzgrauen Lehm. Die Bewohner hatten große Löcher darin ausgehöhlt, um Kartoffelschalen und Spülicht hineinzugießen oder sie auch gelegentlich als Waschbecken zu gebrauchen. Auf den Stangen um den Ofen hingen graue Lumpen, die Schürzen und Kleidungsstücke vorstellen sollten. Auf dem gemeinsamen Tische summten gefräßige Fliegen um einen Teich verschütteter saurer Milch und um einige Stücke eisenharter Rinde von Schwarzbrod. Bänke und Schemel, denen die Beine fehlten, und welche, wenn man sich setzen wollte, erst aus allen Winkeln zusammen gesucht werden mußten, waren unsauber und fettig, da Niemand sich die Mühe gab, sie zu reinigen.
In dieser ungesunden, ekelerregenden Wohnung lebte Nathanael und dieses Leben würde für ihn unerträglich gewesen sein, hätte ihn die Außenwelt überhaupt noch gekümmert. Die Nacht, welche seinen Geist umhüllte, verdeckte auch mit wohlthätigem Schleier das entsetzliche Elend seiner Umgebung.
»Er kommt noch immer nicht,« sagte er zu [] Sloboda, seine abgemagerten, schweißig-kalten Finger in die Hand des Vaters legend. »Sie haben die Haiden durchsucht bis nach Schlesien, aber die Fußstapfen sind verweht von Laub und Nadeln.«
»Wenn die rechte Zeit kommt, werden sie ihn schon finden,« erwiederte Sloboda mit schwerem Seufzer. »Warten, Geduld haben ist leider unser aller trübes Loos auf dieser unvollkommenen Erde!«
»Geduld! – Ich hatte immer viel Geduld.«
»Weißt Du schon von dem Todesfalle?« fragte Sloboda.
Nathanael sah den Vater blöd lächelnd an, dann erwiederte er: »Es wird bald ein großes Sterben kommen – unter die Hochmüthigen. Alle Bäume trauern schon – das sieht so fürchterlich aus.«
»Sie trauern um ihren Herrn, den Grafen.«
»Graf? – Graf heißt Schurke. Marianne hat's hundertmal gesagt.«
»Nicht immer, Nathanael! Graf Erasmus, der nun zu seinen Vätern gegangen ist, war ein braver Mann.«
[] Der Wahnsinnige lachte und schüttelte wiederholt den Kopf dazu. »Närrisches Volk, solche Grafen! – Kartoffeln dem Braten vorzuziehen! – Rechte Schurkenkost!«
Sloboda hatte seinen Sohn noch nie in solcher Stimmung gesehen und wußte nicht, wie er sich die unverständlichen Reden deuten sollte. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, fragte er, ob er Lust habe, den alten Grafen auf dem Paradebette zu sehen, so wenig er selbst daran dachte, das graue Schloß zu diesem Zwecke zu besuchen.
Mit dem wahrhaft entsetzlichen stereotypen Lächeln auf seinem blassen Gesicht trat Nathanael nach dieser Frage an sein Fenster, legte den Finger in die Oeffnung und sagte:
»Schloß dort drüben! Abends die Sonne dahinter – immer ein gräfliches Paradebett!«
Dann legte er das Gesicht wieder in die zerbrochene Scheibe und ohne sich ferner noch um seinen unglücklichen Vater und dessen an ihn gerichtete Fragen zu bekümmern, sah er unverwandt hinüber auf die Haide und die vier Thürme von Boberstein, dessen hohe Schieferbedachung mit den vergoldeten Kreuzen, Knöpfen und Windfahnen jetzt im Goldschaum der Abendsonne zu [] glühen begannen. Mit schwerem Herzen und der trostlosen Gewißheit, daß sein armer Sohn noch immer keine Spur des zurückkehrenden Verstandes zeige, mußte Sloboda das wacklige Gemeindehaus wieder verlassen, um in der eignen stillen Hütte immer noch den alten Kummer als treuen Hausgenossen zu finden.
Aus der Thür dieses Asyls der elendesten Armuth tretend, ließ er seine melancholischen Augen über die dunstige, jetzt mit einem breiten Gürtel purpurn flimmernden Duftes umwundene Haide gleiten und sie auf den blitzenden Spitzen der Schloßthürme ruhen. Eine Fluth der widersprechendsten Gedanken trieb mit Sturmeseile durch seinen Geist, ohne daß er in seiner tiefen Niedergeschlagenheit im Stande gewesen wäre, nur einen einzigen, ihm praktisch scheinenden, festzuhalten und in ruhiger Ueberlegung weiter zu verfolgen. Nach einiger Zeit, keines vollkommen klaren Gedankens sich mehr bewußt, schritt der Wende gebeugten Hauptes die kothige Gasse entlang, welche das Dorf in zwei gleiche Hälften theilte. Auf dieser Wanderung überholte ihn ein Anderer und grüßte ihn ermuthigend mit den Worten:
[] »Nicht so verzagt, Freund Jan! Unsere Angelegenheiten schießen rasch in Blüthe.«
Es war der Maulwurffänger, der unermüdlich die halbe Nacht durchwandert war und jetzt schon wieder von einem anstrengenden Gange durch eine Menge zu Boberstein gehörender Dorfschaften kam. »Lips ist unser mit Herz und Hand und voll Feuer und Flamme! Ich sage Dir, Jan, der Mann hat einen Zweck bei seinem Thun, und wie hart immer Sitte und Gesetz dies tadeln mögen, auf wessen Seite das größere Recht zu finden sein dürfte, das ist noch eine schwer zu beantwortende Frage. Ein feiner, verschlagener und in vielem Betracht auch rechtlicher Mann ist unser Fürst der Haide und einen Giftzahn hat er jetzt auf den Blauhut, daß mir fast bange wird um das Leben des exquisiten Schurken.«
»Er will also unsere Partie ergreifen?«
»Mehr, mehr, Freund Jan! Er will uns blos zur Stütze haben und übrigens die ganze Angelegenheit zu seiner eignen machen! Laß Dir genügen, wenn ich Dir sage, daß Lips ein alter Bekannter von mir ist und daß er die Heimlichkeiten der gräflichen Familie besser kennt und Schlimmeres von ihr wissen muß, als wir ahnen! [] Vor zwanzig und mehr Jahren stand unser Todfeind Magnus unter seiner Zuchtruthe. Lips war der Hofmeister des wilden Jungen.«
»Sprächst Du nicht zu mir, dann würde ich die ganze Erzählung für ein Märchen erklären,« versetzte Sloboda, »und weil uns wirklich zu unnützen Fragen und Erörterungen keine Zeit übrig bleibt, unterlasse ich alles vergebliche Forschen. Du sprichst, er ist der Unsrige mit seinem ungeheuren Anhange, er will theilnehmen an der Rache, die unser Gewissen fordert, und somit erkläre ich ihn für meinen Freund, meinen Bruder. – Seid Ihr einig geworden über Zeit und Stunde?«
»Uebermorgen Abend, während Familie und Dienerschaft am Sarge des Verstorbenen knieen und Thränen heucheln, soll der Angriff geschehen.«
»Auf welche Art?«
»Das wollte mir Lips nicht mittheilen. Wir sollen überhaupt keinen thätigen Antheil nehmen an dem, was er zu thun gesonnen ist, nur im Rücken sollen wir wachen, damit nicht fremde Eindringlinge ihn überrumpeln und den ganzen Plan zerstören. Dies hat für Euch Wenden das [] Gute, daß Ihr nicht als Aufwiegler dasteht und Euch späterhin, kommt die Sache zur Sprache, vor Gericht in bester Manier herausreden könnt. Denn wer einem Feinde im Rücken steht, kann eben so gut diesen anzugreifen beabsichtigen, als ungebetene Gäste ihm fern halten. Das ist eine prächtige Zwickmühle, in der ich selbst die Kniffe und Kreuz-und Querfragen des allerschlauesten Inquisitionsrichters allemal fangen und erdrücken will.«
»Daß nur kein Schwächling uns verräth!«
»Sorge nicht, Jan! Deine gesammten Stammesgenossen beseelt nur ein Gedanke: Bestrafung des Verbrechers und Losreißung von seiner Herrschaft. Seine letzten Schandthaten, die ihn aus dem Verbande der Menschheit ausstoßen, machen jeden Fürsprecher verstummen. Er ist reif zur Aerndte und so soll denn auch die Sichel, welche ihn mähet, mit aller Kraft an ihn gelegt werden. – Heute Nacht beginnt der persönliche Aufruf auf allen Haidedörfern. Ich selbst habe den Richtern beim Aufsetzen der Verordnung redlich geholfen. Es bedarf nun blos noch des von Haus zu Haus wandernden Krummholzes. Es wird diesmal auch an die Thür der niedrigsten [] und ärmsten Hütte nicht vergebens pochen.«
Während dieses Gesprächs hatte Sloboda sein Haus erreicht und nöthigte den für ihn so unermüdlich thätigen Freund einzutreten und ein frugales Abendbrod mit ihm zu genießen. Wir wissen, daß Heinrich ein solches Anerbieten nie von der Hand wies, wenn es ihm irgend die Zeit erlaubte, und so nahm er auch diesmal die Einladung des Wenden an. – –
Um dieselbe Zeit saß Haideröschen in der geräumigen Wohnstube Ehrholds auf der Bank am Fenster, ließ flink das Rädchen schnurren und zupfte mit ihren schlanken Fingern, die ungeachtet der harten Arbeit, der sie sich in der Wirthschaft unterziehen mußte, immer weiß und zart blieben, den silbernen Flachs vom Rocken, um das feinste Garn daraus zu spinnen. Es war dasselbe Rädchen, derselbe Rockenhalter, den sie am lustigen Abend der letzten Spinnte gebraucht hatte. Seitdem war blos ein halbes Jahr vergangen und ach, welche Tage des Kummers, welche schlaflos durchwachten, thränenreichen Nächte lagen dazwischen! – Sie war Frau, die geliebte Frau ihres Erwählten geworden, sie [] fühlte ein zum Leben erwachendes Leben unter ihrem Herzen sich regen, und sie schauderte vor diesem erwachenden Leben, und Gedanken trüben Wahnsinns ließen ihre Brandmale in der gepeinigten Seele zurück; denn sie konnte und durfte ja den geliebten Gatten nicht Vater nennen! Selbst der Name Mutter machte sie erbeben und häufig in Krämpfe und ohnmächtige Erstarrung fallen.
Seit der unseligen Hochzeitsnacht, die für sie die letzte Nacht irdischer Freuden gewesen war, trug sie die halbe Trauer. Ein schwarzer lündischer So genannt, weil das Zeuch früher aus Lund bezogen wurde. Faltenrock umhüllte ihre zarten Glieder. Das bunte Tuch von lebhaften Farben mußte einem schlichten weißen Linnentuch weichen, das sie um Hals und Busen legte. Eben so verhüllte sie sich den Kopf und die schönen seidenweichen goldblonden Haare, die in ein dickes Nestchen gewunden unter der Frauenhaube um verlorenes Glück und geraubte Unschuld trauerten. Die aufknospenden Lockenröschen, die ihrem Gesicht einen so eigenthümlichen Ausdruck schalkhaften Reizes [] gegeben hatten, waren verschwunden. Ging sie aus, so warf sie noch ein weißes Tuch über Kopf und Schulter, so daß nur das jetzt bleicher gewordene trauernde Gesicht und die schönen melancholisch tiefen Augen sichtbar blieben.
Mit immer gleicher Beharrlichkeit zupfte Haideröschen die zartesten Fäden aus dem schimmernden Flachse und drehte taktmäßig ihr schnurrendes Rädchen, ohne des Pochens und Schütterns an den Holzwänden zu achten, welche Clemens und sein Vater mit Laub und Stroh gegen die Winterkälte verwahrten. Der schnelle Tod des Grafen Erasmus beschäftigte auch sie und über dem Unglücke Herta's, das in wenigen Tagen zum lauten Geheimniß geworden war, vergaß sie ihr eigenes, der verehrten Herrin so ähnliches Leid. Nun begrisf sie auf einmal das tiefe Verstummen, das entsetzliche Hinstarren des Fräuleins nach jener räthselhaften Nacht, ja sie wunderte sich fast, daß ein so zartes, schönes und gebildetes Wesen, wie Herta es in ihren und Aller Augen war, das Gräßliche hatte überleben können, ohne den Verstand zu verlieren.
Es war bereits so dunkel im Zimmer, daß Haideröschen nicht mehr den Faden deutlich erkennen [] konnte, den sie zwischen den Fingern drehte, als die draußen schaffenden Männer von ihrem Thun abließen und in's Haus zurückkehrten. Jetzt hielt auch die Spinnerin ihr Rädchen an, schob es zurück und ging nach dem Kamin, um Holz aufzuschichten und das weithin leuchtende Abendfeuer anzuzünden. Während dieser Beschäftigung sagte sie zu Clemens:
»Hast Du Dich nun entschieden, ob wir zusammen auf's Schloß gehen werden, damit ich dem guten todten Herrn meine Hand zum ewigen Lebewohl reichen kann?«
»Es wird sich nicht thun lassen, liebes Röschen,« versetzte der Gefragte. »Sichern Nachrichten zufolge ist der böse Herr auf Boberstein und Du kannst wohl denken –«
»Ich verstehe, guter Clemens,« unterbrach ihn Haideröschen. »Wir bleiben daheim, ich bete für den geschiedenen Greis, für das arme Fräulein und singe an seinem Begräbnißtage ein Lied zu seinem Andenken. Er wird mir das im Himmel eben so hoch anrechnen, als hätte ich an seinem Sarge geweint. – Wenn soll er denn bestattet werden?«
[] »Uebermorgen.«
»Ist es wahr, daß er kein Testament hinterlassen hat?«
»Es geht allgemein die Rede davon.«
»Dann bedaure ich blos das gütige Fräulein! – Nicht wahr, Clemens, Du stehst ihr gern bei, wenn sie es je bedürfen sollte?«
»Ihr und Dir soll mein letzter Blutstropfen fließen! – Aber sie wird unserer Hilfe nicht bedürfen, glaube mir! Der Himmel läßt es gewiß nicht zu, daß ein böser Mensch in allen Genüssen irdischer Glücksgüter schwelgen darf, während eine Gerechte dem Mangel erliegen muß.«
Indem pochte es an die Hausthür und Ehrhold, der hinausging, um zu fragen, wer Einlaß begehre, begann ein kurzes Zwiegespräch mit demselben Nachbar, welcher am Abend, wo die Spinnte erstochen ward, das Gemeindeholz gebracht hatte. Auch kehrte Ehrhold erst nach einigen Minuten wieder zurück.
»Warst Du beim Nachbar, Vater?« fragte Haideröschen schüchtern, denn ihr Herz sagte ihr, daß eine Zusammenberufung der Wenden eingeleitet werde. Ehrhold läugnete es nicht, ja er fügte sogar offenherzig hinzu: »Es handelt sich [] um den bösen Grafen und ob man verpflichtet sein soll, einem so offenkundig schlechten Menschen fernerhin noch zu gehorchen. – Uns geht das im Grunde freilich nichts mehr an, denn wir sind ihm nicht mehr erbunterthänig, aber der Sache selbst wegen dürfen wir uns nicht ausschließen.«
»Sie wollen ihm doch nicht ans Leben?« fragte Haideröschen besorgt.
»Damit geschähe dem Schufte zu viel Ehre. Nein, blos das Vermögen soll ihm verschnitten werden, und dazu, scheint mir, haben Viele triftige Gründe, wenn alle rechtmäßige Erben von ihm, sowohl lebende wie solche, die noch auf den Eintritt ins Leben warten, zu gleichen Theilen befriedigt werden sollen.«
Bei der letzten Bemerkung seufzte Haideröschen und Clemens ging, um seine kochende Unruhe möglichst zu verbergen, summend in der Wohnstube auf und ab. Es trat eine Pause ein, die Niemand von den Dreien zu unterbrechen wagte, bis Ehrholds Gattin aus der Kammer kam und mit Schüsseln und Tassen im Topfbret zu klappern begann. Dabei redete sie mit allen Dreien zu gleicher Zeit nach Art alter [] Leute, ohne von irgend Jemand eine directe Antwort zu erwarten.
Zum zweiten Male klopfte es draußen, diesmal jedoch an einem der Fensterladen.
»Gott sei uns gnädig!« rief Haideröschen, ihr Rädchen anhaltend, an das sie sich wieder gesetzt hatte, und die Hände im Schooße faltend. »Das bedeutet sicher ein recht großes Unglück, denn grade so klopfte es am Abend der letzten Spinnte, seitdem das Elend unter uns anhob.«
Clemens hatte inzwischen das Schiebfenster aufgestoßen und gefragt, was man begehre?
Eine Stimme, die er nicht kannte, verlangte die »Jungefrau« zu sprechen. Haideröschen hörte dies und stand neugierig auf.
»Wer seid Ihr?« fragte Clemens ziemlich barsch.
»Ich darf's nicht sagen; es ist mir verboten,« antwortete die Stimme. »Ich soll 'was abgeben an die Jungefrau.«
»Von wem?« fragte Clemens schon ungeduldiger.
»Wenn mich die Jungefrau selbst anhören will, werd' ich's ihr nicht verschweigen.«
Clemens fühlte eine Hand auf seiner Schulter. [] Haideröschen stand neben ihm. »Laß mich mit dem Manne reden, guter Clemens,« sagte sie sanft und bittend. »Vielleicht kenne ich ihn und er hat mir etwas zu sagen, das uns zum Guten gereicht. Du kannst ja dableiben und mit anhören, was wir reden.«
Ungern und mit verdrießlichem Gesicht trat Clemens vom Fenster zurück. Haideröschen erblickte einen Mann in bäurischer Alltagskleidung.
»Was habt Ihr an mich zu bestellen?« fragte sie freundlich.
»Der Voigt vom Zeiselhofe schickt mich zu Euch, liebe Jungefrau,« erwiederte der draußen Stehende. »Ich bin der Großknecht vom Hofe und eigentlich nicht der beste Freund von unserm Voigt. Weil aber der Mann krank ist und mich schon seit ein paar Tagen anfleht, ich möchte ihm doch den Gefallen thun und zu Euch gehen, bin ich heut in der Dämmerung fortgelaufen. Er hat mir eine Rolle gegeben, vermuthlich mit Schriften oder Verschreibungen – von dem gnädigen Herrn, sagt er –«
»Hört auf, ich will nichts mehr hören!« rief Haideröschen. »Nicht eine Stecknadel rühre [] ich an, wenn ich weiß, daß der Graf sie zuvor in den Händen gehabt hat!«
»So ist's recht!« sagte Clemens. »Immer packe den Rackern auf, daß sie erfahren, wie hoch man ihren Herrn in Ehren hält!«
»Aber liebe Jungefrau, so nehmt doch Vernunft an!« fuhr der Großknecht fort. »Ich bin, weiß Gott, nicht für den gnädigen Herrn und wünschte lieber, der Teufel zerriß ihn heut als morgen und zerfetzte ihn dermaßen, daß nichts von ihm übrig bliebe, als eine Prise Schnupftabak für alle Herren, die just eben so denken wie er, aber den Auftrag des Voigtes muß ich vollziehen, sonst bringt er mich um. Werfts in's alte Gerülle das Ding, wenn Ihr's nicht ansehen wollt, nur nehmt's mir ab, daß ich als ehrlicher Kerl sagen kann: ich hab's richtig abgeliefert.«
»Du nimmst nichts!« befahl Clemens. »Hat der Herr Dir etwas zu übergeben, so kann er selber kommen. Dann will ich ihn schon empfangen.«
»Es ist sehr wichtig,« sagte der Voigt.
»Und wenn Tod und Leben daran hängt, Du nimmst es nicht!« rief Clemens wie besessen.
[] »Guter Freund,« fiel Ehrhold ein, »Ihr macht hier, wie Ihr seht, schlechte Geschäfte. Darum geht nur in Gottes Namen wieder auf den Zeiselhof, sagt dem Voigte einen guten Abend und für seine Geschenke im Namen des Herrn Grafen müsse die Jungefrau gar sehr danken.«
»Nun so erbarme sich Gott meiner und des Voigtes!« murmelte der Großknecht. »Seine Gnaden haben mit Galgen und Rad gedroht, wenn das Röllchen nicht vor Beerdigung des verstorbenen Herrn Grafen in der Jungefrau Hände gekommen sei, und wer ihn kennt, der weiß, daß er Wort zu halten pflegt. Wenn Ihr aber durchaus nicht wollt, nun gut, so weiß ich, was ich thun muß. Ich gebe das Ding zurück und flüchte mich noch in dieser Nacht in die Haide, um morgen nicht zu fehlen. Dann wär's möglich, daß weder Voigt noch Graf jemals ein Wort wieder von mir hörten.«
»Was soll das heißen?« fragte Haideröschen ihren Gatten. »Wäre wirklich etwas im Werke? Ein Angriff auf den Zeiselhof? – Vater, wie ist das?«
»Gedulde Dich bis morgen!« sagte Ehrhold [] bedeutungsvoll. »Von einer Sache, welche gelingen soll, darf man nicht sprechen.«
Haideröschen sah noch einmal zum Fenster hinaus, um durch neue Fragen dem Großknechte Näheres zu entlocken, der so schnöde Abgewiesene war aber inzwischen, ohne gute Nacht zu wünschen, seiner Wege gegangen.
Nun fühlte sich die junge Frau so beunruhigt, daß sie den Rest des Abends für nichts mehr Sinn hatte und die ganze Nacht theils schlaflos, theils von fürchterlichen Träumen geängstigt, zubrachte.
[] Drittes Kapitel.
Mutter, Sohn und Nichte.
Unsere Leser erinnern sich, daß in Haideröschens verhängnißvoller Hochzeitsnacht die zu feierlichem Schwure niederknieenden Wenden die weithin schallenden Hufschläge des davon jagenden Grafen hörten. Magnus trieb nicht das innere Entsetzen über die eigene Schandthat von dem Schauplatze des Verbrechens, nur die Furcht, im Augenblick der Entdeckung von den zu ausgelassener Lust wie zu rasender Wuth aufgereizten Leibeigenen zerrissen zu werden, veranlaßte ihn, in größter Eile zu fliehen. Die That selbst hatte er dem strengen Rechte nach nicht zu scheuen; denn als Herr und unumschränkter Gebieter stand ihm nach uraltem Herkommen das jus primae noctis zu, und wenn er es ausübte, durch List [] oder Gewalt, so konnte er sicher auf den jubelndsten Beifall all seiner Standesgenossen rechnen.
Später stiegen allerdings Zweifel in ihm auf, und als er durch genaue Erkundigungen erfahren hatte, daß Haideröschen Mutterfreuden entgegensehe, beschlich ihn ein großmüthiger Gedanke. Er dachte nicht daran, die Frucht wilder Sinnenlust und capriciöser Herrenlaune vor der Welt anzuerkennen, aber zu gleich lehnte sich der Stolz des Aristokraten gegen den Zufall auf, dem es in höhnischer Ironie einfallen konnte, den Sohn des reichen Grafen ein langes langes Leben als Bettler durch die erbarmungslose Welt zu hetzen. Schon diese Möglichkeit, die bei nur einigem Nachdenken, bei nur mittelmäßigem Combinationstalent sich in grauenvolle Wahrscheinlichkeit verwandelte, empörte ihn. Deshalb mußte einer so entwürdigenden Lage seines Sprößlings vorgebeugt werden.
Lange war Magnus unschlüssig, was er thun wollte. Er wartete von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Am liebsten hätte er eine so delicate Angelegenheit mit Röschen persönlich besprochen, allein er sah wohl ein, daß er von dem Versuch, mit ihr ungesehen zu verkehren, [] abstehen müsse. Es war unmöglich und noch weniger rathsam, sich ohne bedeutende Bedeckung unter die Wenden zu wagen. Die Hochzeitsnacht von Sloboda's Tochter hatte diese so harmlos heitern Menschen vollkommen umgewandelt. Sie waren still und ernst geworden. Ihre Lieder auf Feldern und Wiesen, ihre schreiende Lustigkeit in Schenke und Kretscham waren verstummt. Man hörte weder am Feierabende noch Sonntags den quäkenden Dudelsack und die schrillende Huslje.
Diese auffallenden Zeichen tiefen Grams und nach Innen sich einwühlenden Unmuthes entgingen Magnus nicht. Zugleich rief er sich die Aeußerungen des Maulwurffängers in Bezug auf das Vorhandensein einer Verschwörung unter den leibeigenen Wenden wieder ins Gedächtniß. Noch glaubte er zwar nicht daran, denn er kannte die Friedliebe und Muthlosigkeit dieses armen, unterdrückten, ungebildeten Völkchens, allein er konnte doch auch nicht umhin, rückwärts zu blicken auf Welt- und Sittengeschichte. So oft er dies that, überrieselten ihn eiskalte Schauer und eine nicht zu beseitigende Furcht vor der Zukunft bemächtigte sich seiner. Thaten, wie sie rohe Herrenwillkür [] ihn hatte begehen lassen, waren häusig grauenvoll bestraft worden, waren nicht selten das Zeichen gewesen zu völligem Umsturz alles Bestehenden, zu Zertrümmerung heiliger oder doch geheiligter Rechte, zu Vernichtung mächtiger Throne und Reiche. – Konnte ihm jetzt nicht etwas Aehnliches bevorstehen? – Die unheimliche Stille unter seinen Leibeigenen schien fast darauf hinzudeuten. Es war daher gevissermaßen Sache der Nothwehr, die nicht zu verkennende Gährung zu ersticken, das jetzt noch aus der Ferne drohende Unglück abzuleiten. Eine Großmuthshandlung, glaubte er, würde dazu hinreichend sein.
Aus diesen Gründen setzte er sich hin und entwarf eine Schenkungsurkunde, laut welcher Röschen Sloboda, im Falle sie lebendige Kinder zur Welt bringe, nach seinem Tode den fünften Theil seiner sämmtlichen liegenden Gründe als Entschädigung für das ihr durch ihn zugefügte Unrecht als rechtmäßige Erbin erhalten sollte. Magnus war schlau genug, die Formel dieser Urkunde so allgemein wie immer möglich zu halten, denn im Ernst dachte er gar nicht daran, sein zukünftiges Besitzthum auf solche Weise zu zerstückeln. Eben deshalb war auch des Ablebens [] seines Vaters gar nicht gedacht, so daß die Urkunde ohne Kraft gewesen wäre, im Fall Magnus vor seinem Vater sterben sollte. Ferner stand in dieser Verschreibung keine Hindeutung auf des Grafen Testament, in welchem doch nothwendig von einer solchen Schenkung die Rede sein mußte. Alles dies hatte Magnus mit Vorbedacht weggelassen, um seinen gesetzlichen Erben möglichst viele Auswege zu geben, wenn die Wendin dereinst ihre Ansprüche auf die Schenkung geltend machen sollte. Daß er die Wenden selbst mit einem derartigen Papiere betrügen und ihre bösen Anschläge würde abhalten können, daran zweifelte er nicht; denn er kannte den leichten Sinn dieses Völkchens und ihre unzureichenden, fast an das Kindische streifenden Rechtskenntnisse.
Wie aber dieses Papier in Haideröschens Hände bringen? Anfangs wollte er selbst sein eigener Bote sein. Dies gab er jedoch bald auf, denn er sah ein, daß die jugendliche Frau des Freibauers Clemens wie eine Fürstin bewacht wurde und durchaus jeder noch so schlau angelegten List unzugänglich bleiben mußte. Gewaltsames Eindringen wäre allerdings noch möglich [] gewesen, dies konnte aber auch das Signal zu einem wüthenden Aufstande, vielleicht gar zu seiner Ermordung sein. Er hatte ein- für allemal das Vertrauen seiner Unterthanen verloren und dafür mußte er jetzt büßen. Wäre er als strahlender Engel der Liebe unter ihnen erschienen, sie würden ihn dennoch für einen verkappten Teufel gehalten und als solchen behandelt haben.–
Nach langem Hin und Hersinnen entschloß er sich endlich, den Voigt mit dieser Sendung zu belasten. Er war der einzige Mensch aus seiner näheren Umgebung, dem er noch vertrauen konnte, da die persönlichen Juteressen desselben an die seinigen geknüpft waren. Der Voigt wurde von dem Gesinde, das er beaufsichtigte und tyrannisirte, gehaßt als das blind gehorchende Werkzeug des gefürchteten Herren. Schon deshalb konnte dieser Mann nicht von ihm abfallen. Alle Uebrigen, sowohl Dienerschaft wie Knechte und Mägde, waren ihm feindlich gesinnt und zu offenem Aufstande geneigt, wenn das Zeichen dazu gegeben ward. Vor diesen also mußte er sich hüten. Erst, wenn Haideröschen das Papier empfangen und gelesen hatte, und der Inhalt desselben von ihren nächsten Verwandten den Bewohnern [] der Haidedörfer mitgetheilt ward, erst dann konnte er wieder furchtlos unter seine Leute treten und ausrufen: Seht, so verkennt Ihr mich, der ich doch immer nur für Euch denke und nur Euer Bestes will!
Zu diesem Behufe schlug nun Magnus die entworfene Schenkungsurkunde für Haideröschen und deren Nachkommenschaft in Wachsleinwand und übergab sie dem Voigte mit der Weisung, dieselbe in den nächsten Tagen an die verehelichte Clemens abzuliefern. Von dem Inhalt der Rolle ließ er nichts verlauten und der Voigt war nicht der Mann, aus Neugierde danach zu fragen. Er sagte zu und Magnus dachte nicht mehr daran.
Da starb Erasmus in Folge der Entdeckung, welche ihm seine unglückliche Nichte gemacht hatte. Die bestürzte Utta sendete sogleich einen Eilboten an ihren Sohn ab, damit er als Universalerbe persönlich Besitz von der Burg nehme. Ein Testament war nicht vorhanden, mithin über Erbschaft und Erbschaftsantritt gar kein Zweifel.
Magnus gehorchte auf der Stelle seiner Mutter, im Herzen froh, den Vater nicht mehr [] lebendig zu finden. Aeußerlich nahm er freilich die Haltung eines tief Betrübten, eines unaussprechlich Erschrockenen an. Er gab die nöthigen Befehle an den Voigt, schärfte ihm nochmals ein, die sehr wichtige Rolle nunmehr abzugeben und ja nicht länger damit anzustehen.
Der Voigt hatte auch den besten Willen, aber er er krankte plötzlich, wie wir wissen, und der nach Magnus Dafürhalten so überaus schlau angelegte Plan scheiterte gänzlich. Als der Großknecht an dem erwähnten Abende verdrießlich wieder zurückkam und dem im Bett liegenden Voigte die Rolle einhändigte, warf dieser sie ebenfalls ärgerlich in ein altes Pult, wo verschiedene Papiere und Briefschaften, die Niemand brauchte, aufbewahrt wurden, und sagte: »Nun so bleibt's, bis ich wieder gesund bin. Wir Beide können's nicht ändern. –«
An demselben Abend gegen Mitternacht wußte alles Gesinde auf dem Zeiselhofe, was die Wenden im Sinne hatten, und nicht ein Einziger, selbst nicht die Mägde, weigerten sich, ihre Theilnahme zuzusagen. Der kranke Voigt allein erfuhr nichts von der still fortglimmenden Verschwörung gegen seinen verachteten Herrn.
[] Magnus war seit dem Osterfeste nicht mehr auf Boberstein gewesen. Er hatte daher auch nichts Zuverlässiges von Herta und deren Zustande erfahren. Oft schmeichelte er sich mit der Hoffnung, durch einen Brief von seiner schönen Cousine überrascht und zu einem Besuche nach Boberstein eingeladen zu werden. Aber das stolze, tödtlich beleidigte Mädchen schwieg so hartnäckig, wie sein Vater. Außer dem, was hin und wieder gehende Boten Unklares mündlich erzählten, war die Kunde von dem Ableben des Greises die erste directe Nachricht von der Burg seiner Väter. Magnus verwünschte sein böses Geschick und sah mit bitterm Verdruß auch diesen seinen kühnsten Plan, seinen heißesten Wunsch an der Unlenksamkeit eines festen Charakters zu Grunde gehen.
Die trauernde Dienerschaft begrüßte den jungen Erben mit der ihm zukommenden Ehrerbietung, doch schweigend und düster gestimmt. Magnus achtete nicht darauf. Er eilte mit schnellen Schritten die Freitreppe hinan – denn in der Schloßhalle ruhte bereits die Leiche des Grafen – um am Busen seiner Mutter den zärtlichsten gerührtesten Sohn zu heucheln.
[] Utta war so vollendete Aristokratin und so ganz ein verbildetes Geschöpf ihrer Zeit, daß sie die Fehltritte ihres geliebten Sohnes als verzeihliche Amusements eines liebenswürdigen Cavaliers betrachtete. Diese Art kecker Donjuanerie verschaffre den Söhnen reicher Familien die besten Partien, da sie das unwiderleglichste Zeugniß von der Fähigkeit ablegten, ein altes Geschlecht frisch wieder aufblühen zu machen. Was daher immer von dem sittenlosen Wandel des Grafen Magnus ihr zu Ohren kam, sie ließ es unbeachtet verhallen und ging nur im Geiste recht fleißig die großen und reichen Grafen- und Fürstenfamilien des heiligen römischen Reichs durch, um aus ihnen die schönste und reichste Erbin als dereinstige Gattin für ihren geliebten und liebenswürdigen Sohn auszuwählen. An ein ernstliches Verhältniß des leichtfertigen jungen Mannes mit seiner schönen Cousine hatte sie nie gedacht und mochte es auch nicht. Herta war ihr zu neugeistig gesinnt, zu selbstständig, und außerdem arm und nicht makellos genug geboren, um dem einzigen Erben von Boberstein mit Fug und Recht ihre Hand reichen zu können.
Als sie nun das berechnete Bubenstück ihres [] Sohnes erfuhr, war sie vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben wahrhaft erzürnt auf Magnus. Zwar wollte sie nicht zugeben, daß er mittelbar der Mörder seines Vaters geworden sei, so wie sie auch in ihrer kühlen Ruhe den Tod des Gatten mit vornehmer Gefaßtheit ertrug und als ein Schicksal dahin nahm. Was sie aber mit der entehrten Herta beginnen, wie sie diese Schandthat des Sohnes verheimlichen und das gekränkte, herzlos hingeopferte Mädchen einigermaßen entschädigen sollte, darüber konnte sie mit sich selbst nicht einig werden.
Einen wahren Trost gewährte ihr in dieser Noth die Gewißheit, daß ihr Gemahl ohne testamentarische Verfügungen gestorben war. Als einziger Erbe, der keinerlei Legate zu zahlen hatte, war Magnus jetzt einer der reichsten Adligen in Deutschland, der nöthigen Falls auch einige Prozesse ohne merkliche Vermögensverluste durchfechten konnte. Entehrt, von der öffentlichen Meinung gebrandmarkt wollte sie ihren Sohn nicht sehen, und außerdem war sie doch so sehr Weib, daß ihr die verübte That Alles zu übertreffen schien, was ein gewissenloser Mann einem wehrlosen Mädchen zufügen kann, und so dachte sie [] entschieden daran, Herta ihrem Sohne zu vermählen. Sie setzte voraus, daß Magnus diesen Gedancken selbst hege und daß ihre Nichte, auch im Fall mangelnder Neigung, diesen Ausweg für klug und wohlwollend anerkennen und genehmigen werde.
Mit nicht erkünstelter Kälte empfing Utta den jungen Grafen, der sich anfangs sehr ergriffen zeigte und dem Todten alle möglichen Lobsprüche ertheilte. Seine Mutter hörte diesen Ergüssen eines nach dem Erbe gierenden Sohnes gelassen zu, dann aber erzählte sie ihm eben so ruhig wie ernst die Veranlassung zum Tode ihres Gatten und wie er, ihn verfluchend, seinen Geist aufgegeben habe. –
Das hatte Magnus doch nicht erwartet, und weil es ihn so ganz fremd, als grauenvolle Wahrheit überraschte, darum brach er fast vor den gräßlichen Folgen seiner That zusammen. Er war so ganz zerschmettert, daß er weder aufzusehen noch zu antworten wagte. Schweigend ließ er die gerechten Vorwürfe seiner zürnenden Mutter über sich ergehen, die, einmal in den Fluß gekommen, auch wirklich den Verbrecher nicht eben zart und rücksichtsvoll behandelte.
[] Nachdem sie sich hinlänglich über die Scheußlichkeit seiner That ausgesprochen und namentlich das gänzlich Unadlige derselben gebührend hervorgehoben hatte, ging sie sogleich grade auf das Ziel los.
»Es ist jetzt Deine Pflicht,« sagte sie, »Deiner Cousine die Ehre wiederzugeben. Noch weiß Niemand unserer hohen Verwandten das Vorgefallene, meine Nichte hat sich sehr klug, sehr edel, völlig unegoistisch benommen. Ihr Augenmerk war blos auf unser altes Geschlecht gerichtet; darum schwieg sie so hartnäckig still. Du wirst demnach noch heut um Herta werben und Dich vierzehn Tage nach dem Begräbnisse Deines Vaters mit ihr verbinden.«
»Theuerste Mutter,« erwiederte Magnus, Utta's Hand mit Küssen bedeckend, »Sie sprechen den tiefsten, den heiligsten Wunsch meines reuigen Herzens aus! Ich liebte Herta immer, ich habe sie geliebt vom ersten Augenblicke an, wo ich sie kennen lernte, bis auf die gegenwärtige Minute. Meine Cousine kannte meine Leidenschaft, aber sie gefiel sich darin, mir kalt, schneidend, abweisend zu begegnen. Sie ließ es mich so oft fühlen, daß ich nicht rein sei und [] edel, wie sie, daß mein heiß brausendes Blut mich zu mancher tadelnswürdigen Handlung hinreiße. Ja sie gestand mir sogar, daß sie mich deswegen hasse und verachte! Da verließ mich die ruhige Besinnung. Mit Herta's Abneigung wuchs meine Liebe zu ihr und von blinder Leidenschaft getrieben griff ich zu einem Mittel, das ich tausendmal selbst verflucht habe, das ich für schändlich, verbrecherisch anerkenne und willig mit jeder Strafe abbüßen will, die Herta über mich zu verhängen gesonnen sein sollte! Aus Schaam, Reue und Zerknirschung verbannte ich mich freiwillig von dem Angesicht der Geliebten, deren zürnendes Bild doch im wilden Schmerz der Einsamkeit mein alleiniger Trost war und blieb bis auf den heutigen Tag!«
Solche Zerknirschung versöhnte Utta schnell wieder mit ihrem Sohne. Sie hörte es gern, daß Magnus einer großen überwältigenden Liebe fähig und dieser erlegen war, und sie hielt es nach diesem reuigen Geständniß für Mutterpflicht, dem Gesunkenen die Hand zu reichen und ihn mit Milde wieder aufzuheben.
»Ich werde Dir Gelegenheit verschaffen, Herta ohne Zeugen zu sprechen,« sagte Utta schon [] viel sanfter, als vorher. »Sie wird Dich freilich nicht sehr freundlich begrüßen, denn sie zürnt Dir mit Recht. Aber sie ist ein Mädchen, ein gefühlvolles, mit großen Eigenschaften begabtes Mädchen, das Selbstüberwindung zu den ersten Tugenden rechnet. Ueberzeugt sie sich also von der Wahrhaftigkeit Deiner Reue, wie ich schon davon überzeugt bin, so wird sie nicht immer taub gegen Deine Bitten bleiben und Dir endlich sogar verzeihen.«
»Willig füge ich mich allen Bedingungen, meine gütige Mutter! Um den Besitz der geliebten Herta mir zu erringen, würde ich das Himmelreich opfern!«
»Es wird so großer Opfer nicht bedürfen,« sagte die Gräfin. »Ich werde Dich bei Herta selbst anmelden und sie auf Dich und Deinen Antrag vorbereiten.«
Magnus klopfte das Herz; denn obwohl er das von seiner Mutter angedeutete Ziel wünschte, schlug ihm doch auch das böse Gewissen und eine ernste Frage an sich selbst sagte ihm, daß er Herta nicht mehr liebe, sie vielleicht nie geliebt habe. Ihre Schönheit, ihre Jugend, ihr hoher Geist und der verführerische Trotz, den [] sie seinen Bewerbungen entgegengesetzt, hatten sie ihm begehrenswerth gemacht. Nur die Sinne, nicht sein Herz hatte geliebt. Dies war hohl, leer, nicht fähig einer großen reinen Leidenschaft. Tausend unerlaubte und unreine Genüsse hatten seine ursprüngliche Gluth vor der Zeit aufgezehrt. Magnus fürchtete ein Zusammentreffen mit Herta.
Indeß war Utta keine Frau, die einen einmal entworfenen Plan, wenn er größeren Zwecken zu entsprechen schien, sogleich wieder aufgab oder einen Entwurf nur zur Hälfte ausführte. Ihr langer Verkehr mit ihrem jesuitischen Onkel hatte sie die Wichtigkeit consequenten Handelns kennen gelehrt, und wie sie im Denken und Leben von der praktischen, ob auch unlautern Weltweisheit des feinen, vielerfahrnen Mannes den Schein als glänzenden Ersatz eines in der Wirklichkeit nicht vorhandenen Gutes kennen gelernt hatte, so hielt sie auch Alles für erlaubt, was nicht durch ausdrückliche Gesetze verboten war, oder was durch ein betrügliches Spiel des Geistes, gleichsam durch ein Volteschlagen aus Schwarz in Weiß, aus Böse in Gut, aus Verlust in Gewinn verwandelt werden konnte.
[] Sie ging deshalb unverweilt zu ihrer Nichte, und so vortrefflich hatte sich die kluge Frau mit zarter, theilnehmender Anmuth, mit mütterlicher Würde, mit christlich mildem Zuspruch, mit liberal tönenden ein lautes Echo in Herta's halbgebrochenem Herzen erweckenden Phrasen ausgerüstet, daß ihr das Unbegreifliche in kurzer Frist gelang, nämlich ihrer Nichte die Bewilligung zu entlocken, den reuigen Frevler ruhig anzuhören.
Eine Viertelstunde später meldete Emma ihrer traurigen Gebieterin den jungen Grafen. Herta winkte der Zofe, ihren Cousin einzulassen und sich zurückzuziehen.
In einfacher schwarzseidener Kleidung, ein Florband durch ihr schönes Haar gewunden, saß Herta in der Epheulaube ihres Fensters. Grüßend erhob sie sich beim Eintritt des Grafen, den sie mit anmuthiger Handbewegung aufforderte, niederzusitzen. Zum ersten Male in seinem Leben war Magnus verlegen und in Folge dessen etwas linkisch. Er rückte einen der altmodischen, aber kostbaren Stühle in Herta's Nähe und sich nach seiner Gewohnheit auf die Lehne stützend, überflog er die reizenden Züge seiner [] Cousine mit scheuem Aufblick, ohne sie anzureden. Statt seiner ergriff nun Herta das Wort.
»Auf Fürbitten meiner geliebten Tante, Ihrer verehrten Frau Mutter,« sprach sie vollkommen ruhig, »habe ich mich entschlossen, Sie zu sprechen, Herr Graf. Ich ersuche Sie daher, mir Ihr Anliegen in möglichster Kürze vorzutragen, da Sie hoffentlich einsehen werden, daß unsere Unterhaltung keine ausführliche sein kann.«
»Es scheint mein Schicksal zu sein, theure Cousine,« versetzte Magnus, »Ihnen stets widersprechen zu müssen, und weil dies denn einmal so ist, so stehe ich nicht an, auch jetzt eine andere Meinung zu verfechten. Mich dünkt, liebe Herta, nie hätten zwei Menschen mehr Ursache gehabt, sich recht viel zu sagen, als wir.«
Herta erröthete und der Zorn grub eine leichte Falte in ihre weißglänzende Stirn. Sie erwiederte:
»Da ich Ihnen nichts zu sagen habe, Herr Graf, so fahren Sie fort.«
»Lassen wir diese erkältenden Förmlichkeiten, theure Herta,« sagte Magnus wärmer und dringender, indem er den Stuhl einen halben Schritt näher an Herta's Sitz schob, »sprechen wir wie [] nahe, theure Verwandte zusammen und reichen wir uns die Hand zur Versöhnung.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Sie wollen mich nicht verstehen, Herta! – Ein Unglücklicher, ein von den grausamen Rachefurien eines schuldbeladenen Gewissens furchtbar Gepeinigter steht vor Ihnen. Bittere Reue nagt an seinem Herzen, der Fluch eines Vaters lastet auf seiner Seele und dennoch, dennoch wagt er zu hoffen, wagt er leben und wieder unter gesittete Menschen treten zu dürfen, ohne daß man ihm ausweicht, wie einem Scheusal! Er wagt dies, wenn Sie, Herta, Ihre Engelshand ausstrecken, sein schuldbeladenes Haupt damit berühren und ihm vergeben!«
Magnus schob den Stuhl zur Seite und ließ sich mit Heftigkeit vor der ernsten stillen Mädchengestalt auf ein Knie nieder.
»Stehen Sie auf, Herr Graf! Um Komödie zu spielen, wählen Sie den Ort schlecht.«
»Komödie spielen! Sie nennen Komödie spielen, was mein Herz zerreißt, was mit Höllenqualen meine Seele foltert!«
»Es gab eine Zeit, wo ich weit mehr litt, Graf! Damals ergetzten Sie sich an den Qualen [] eines armen schwachen Mädchens und lachten ihrer flehenden Bitten. War dies nicht auch Komödie gespielt?«
»Ich bekenne mich ja schuldig, theure, geliebte Herta –«
»Mißbrauchen Sie nicht ein so heiliges Wort, ich verbiete es Ihnen!« unterbrach Herta mit edlem Zorn die Rede des Grafen, »Sie kennen keine Liebe, Sie trachten nur nach Sinnenlust, nach betäubendem Rausch! Gehen Sie und befreien Sie mich von Ihrer verhaßten Gegenwart!«
Magnus hatte die Lehne des Stuhles wieder erfaßt. Seine Cousine, die ihm immer reizender erschien, schon mit zuversichtlicherem Auge betrachtend, versetzte er:
»Herta! Mein Vater ist aus dieser Welt geschieden, ohne mir die Hand gereicht zu haben. Wie die Sachen stehen, muß ich mich für seinen Mörder halten! Begreifst Du, welch entsetzliches Gewicht, welch gräßliche Anklage darin liegt? – Soll ich erdrückt werden von ihr trotz meiner Reue? – Ist es christlich, einen zerknirschten Sünder erbarmungslos zu verstoßen? –«
»Wer verstößt Sie denn?«
[] »Du, Du, mein heiliger Engel! Du, Herta, an der ich gefrevelt habe aus Uebermuth, von Wahnsinn erfaßt, im Augenblick gänzlicher Verwilderung. Du, Herta, um deretwillen ich jetzt gern all mein Gut, ja mein Leben dahin geben möchte, Du verstößt mich, und doch kann ein Wort von Dir mich glücklich machen, kann uns Beiden eine traurige öde Vergangenheit in ein blühendes Paradies verwandeln!«
»Ich bitte, mir diese Zauberformel zu sagen. Ich selbst kenne sie nicht!«
»Du willst sie nicht kennen, Herta!«
»Ich will Alles, was ich für recht und gut erkenne, Alles, was mein Verstand billigt, was mein Herz zuläßt. Der unaussprechliche Kummer, welchen Sie meinem Wesen eingeimpft haben, hat mich alle Täuschung ablegen lassen und meinen Gefühlen den schönen Reiz entwendet, der alle Glücklichen bezaubert.«
»Das ist sehr sehr traurig!« versetzte Magnus. »Wenn Ihre Gefühle erstorben sind, dann habe ich freilich nichts mehr zu hoffen, aber ich glaube, Sie täuschen sich selbst. Wollten Sie nur in die Tiefe Ihres Wesens schauen, so würden [] Sie daselbst den Kern aller göttlichen Gefühle, die Liebe zu dem Nächsten, wiederfinden.«
»Fände ich ihn wirklich noch, dann sein Sie überzeugt, Graf, daß ich ihn nur mit dem Würdigsten theilen würde!«
»Halten Sie einen bußfertigen Sünder solcher Gnade nicht werth?« fragte Magnus mit allem Zauber, der ihm zu Gebote stand.
»Darauf kann ich mir jede Antwort ersparen, Graf. Sie wissen, daß ich Sie nie geliebt habe, weil ich Sie wahrer Liebe nie fähig hielt. Vernehmen Sie jetzt zum letzten Male, daß Sie bei mir nie auf Erwiederung einer Neigung zu rechnen haben, die Sie nur heucheln. Ihr ganzes verdorbenes Wesen ist Lüge, schändliche, schwarze, geschmackvoll vergoldete Lüge! Ich hasse die Lüge und verachte die Jünger derselben. Und nun ich weiß, was Sie zu mir, der tief Gekränkten, der unversöhnlich Beleidigten, trieb, nun vernehmen Sie von mir mein letztes Wort. Ich will mit vergebender Milde die Sünde von Ihnen nehmen und Ihnen verzeihen, aber fortan meiden Sie, mich durch Ihre Gegenwart zu kränken, mich in meinem Kummer zu stören!«
[] Noch gab Magnus nicht Alles verloren. Er entschloß sich, das Aeußerste zu versuchen.
»Theure Herta,« sagte er mit niedergeschlagener, schwankender Stimme. »Du scheinst zu vergessen, daß die Mutter für ihre Kinder eines Vaters bedarf.«
»Gott ist aller braven Mütter gemeinsamer Vater.«
»Und die Welt? Die scheelen Blicke der verleumdungssüchtigen Welt?«
»Wünschen Sie, daß Ihre Schande weltkundig werden soll?«
»Die Deinige, meine schöne Cousine, wird durch meinen Namen zugedeckt. Einer Gräfin von Boberstein begegnet Jedermann mit höchster Achtung.«
Herta stand auf. Sie legte das Buch, in welchem sie während dieses peinlichen Gespräches geblättert hatte, auf den Tisch und trat dem Grafen entgegen. Ihr zürnendes Auge sprühte Funken, ihr Gesicht war mit zarter Röthe überhaucht, der Busen hob sich in heftigster Aufregung.
»Endigen Sie, Herr Graf,« erwiederte sie mit bebender Stimme, »Sie nöthigen mich sonst, [] meine Dienerschaft zu rufen! Ein Reuiger wurde mir angemeldet, und einen Niederträchtigen sehe ich vor mir.«
Da Magnus jetzt alle seine Berechnungen zu Schanden werden sah, kehrte ihm schnell die geistige Keckheit wieder, die er bisher nur mühsam niedergehalten hatte. Selbst gekränkt wollte er noch empfindlicher kränken; denn er erkannte in Herta seine unversöhnlichste Feindin. Mit vornehmer Verbeugung zurücktretend sagte er:
»Ich muß wirklich um Entschuldigung bitten, schöne Heilige, daß Dein Anblick so mächtig auf mich wirkt und mein ganzes Wesen zu einem Spiegel macht, aus dem Du in mich verwandelt Dir selbst vor die Augen trittst.«
»Das überschreitet alle Grenzen,« stotterte Herta für sich. »Herr Graf, ich befehle Ihnen, mein Zimmer zu verlassen!«
»Widerspänstige Zauberin, bedenken Sie wohl, daß zum Befehlen Macht und Recht gehört! Sie besitzen weder das Eine noch das Andere.«
»Ich wünsche noch einmal allein zu sein.«
»Und ich werde mir erlauben, Ihnen noch einige Minuten Gesellschaft zu leisten. Ich bin Erbe und Herr dieses Schlosses, mein holdes [] Mühmchen, und wenn ich befehle, die unanständige Dirne hinauszuwerfen in den Wald, so hoffe ich noch genug willige Hände zu finden, die meinen Befehl ausführen. Mein sehr kluger Herr Vater, der sanft und selig in Gott ruhen möge, war doch nicht klug genug, sein verzogenes Püppchen bei Zeiten mit Geld und Gut zu bedenken. Er starb ohne Testament und das schöne vornehme Burgfräulein wird künftighin in seidenen Kleidern Brod und Leinwandfetzen unter ihren Freunden, den armen Wenden, zusammenbetteln müssen, damit sie leben und ihren muthmaßlichen Erben standesmäßig erziehen kann.«
Höhnisch lag sein satanisch blitzendes Auge auf der üppigen Gestalt der über solche Bosheit entsetzten Herta, die sich kaum aufrecht erhalten konnte. Als er sie zittern und zusammenbrechen sah, umfaßte er sie trotz ihrer abwehrenden Gebehrden.
»Es bedarf jedoch blos eines Wortes,« fuhr er gleißnerisch fort, »und die Bettlerin trägt eine schimmernde Grafenkrone auf ihren stolzen Flechten. Ich bin billig, meine Geliebte. Als Vater werde ich auch zärtlich, freigebig und großmüthig sein. Wenn Du mir aber untreu wirst, dann [] fürchte meine Rache! Dem Erben von Boberstein Reichthum und Ehre, dem Bastard der leichtgläubigen Cousine Armuth, Schande und Elend! Wähle jetzt, meine stolze Geliebte!«
Herta saß erblassend, tief und schwer athmend in ihrer Epheulaube. Emma trat ein und überreichte ihr auf silbernem Teller einen Brief. Sie kannte die Hand nicht.
»Von wem?« sagte sie kaum hörbar.
»Ein Köhlerbube brachte ihn,« versetzte die Zofe und verließ wieder das Zimmer. Herta drehte den Brief nachdenkend in den Händen.
»Darf ich gefälligst um Antwort bitten?« sagte Magnus äußerst freundlich.
»Ja das dürfen Sie,« erwiederte die Gekränkte. »Ich flüchte mich an den Busen meiner Tante und wähle Armuth, Schande und Elend!«
»Nehmen Sie meinen aufrichtigsten Glückwunsch zu dieser Wahl und zu dem neuen Lebenslaufe, der drei Tage nach der Bestattung meines hochseligen Herrn Vaters seinen Anfang nehmen wird. Ich empfehle mich der verehrten Cousine auf's Angelegentlichste!«
Magnus verbeugte sich und ließ die unglückliche[] Herta allein mit ihrem Schmerz, ihrem Haß, ihrer Verachtung.
»Hat denn der Himmel keine Blitze mehr,« seufzte sie, »um solche Frevler zu strafen und die von ihnen Verfolgten zu erretten?«
Dabei ballte das arme Mädchen ihre kleine Hand und zerbröckelte das Siegel auf dem erhaltenen Briefe.
[] Viertes Kapitel.
Der Besuch.
Als Herta den Brief erbrach, gewahrte sie mit Verwunderung, daß sich der Verfasser desselben nicht genannt hatte. Mit gesteigerter Neugier durchflog sie das Schreiben, dessen geheimnißvoller, auf eine schreckenreiche Vergangenheit hindeutender Inhalt ihre Unruhe und Aufregung noch mehr steigerte. Der Brief lautete:
»Ein Ihnen völlig unbekannter Mann, verehrtes gnädiges Fräulein, bittet um die Vergünstigung, Sie am Tage nach Empfang dieser Zeilen besuchen zu dürfen. Die Umstände und sein eigenthümliches Verhältniß zu den Besitzern des Schlosses Boberstein nöthigen ihn, diesen Besuch einen durchaus geheimen sein zu lassen. [] Aus diesem Grunde wird Schreiber dieses erst mit Einbruch der Nacht bei Ihnen erscheinen und zwar auf einem Wege, der Sie vielleicht mit schauderndem Entsetzen erfüllt. Kein Mensch im Schlosse außer Ihnen und, wenn Sie es wünschen, Ihre vertraute Dienerin, darf von dem nächtlichen Wanderer Kunde erhalten. Ihre Zukunft, Ihre Ruhe, Ihre Sicherheit, ja Ihr Leben hängt von Genehmigung dieser Bedingungen ab. Alles Unrecht, das man Ihnen zugefügt hat, wird durch denselben bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen werden. – Wappnen Sie sich also mit Muth und Entschlossenheit und vertrauen Sie einem Manne vollkommen, der Ihrem zeitlichen Wohlergehen sein ewiges Heil zu opfern gern und stündlich bereit ist. Leben Sie wohl und ruhig, bis die verschwiegene Stunde der Nacht uns zusammenführt.«
Die Bestürzung Herta's über diesen Brief war groß und bei dem Mißtrauen gegen Jedermann, das ihr durch Magnus' unverzeihliches Betragen eingeflößt worden, hatte sie wenig Neigung, den Unbekannten zu empfangen. Bei ruhiger Ueberlegung jedoch und bei wiederholter [] aufmerksamer Durchlesung des Schreibens mußte sie die gute, wohlwollende Absicht des Verfassers erkennen. Ueberdies gestattete er ja das Zugegensein einer Zofe, was ihre Sicherheit um Vieles steigerte, und so beschloß Herta, unverbrüchlich zu schweigen und das angekündigte Abenteuer abzuwarten.
Emma, die ihrer Gebieterin mit unbegrenzter Liebe ergeben war, wurde erst am nächsten Abend in das Geheimniß gezogen, worauf beide Mädchen in ungewöhnlicher Schweigsamkeit die Erscheinung des Unbekannten in Herta's Zimmer erwarteten.
Die Nacht war ruhig, der Himmel leicht bewölkt. Das melancholische Rauschen der Haide drang herauf bis in das erstorbene alte Schloß. In langen Pausen schlug die schrillende Schelle die zehnte Stunde. Gespannter und immer ängstlicher werdend, harrten die Mädchen des Unbekannten. Eng verschlungen saßen sie lautlos auf der dunkelsammtenen Ottomane. Da knackte es in Herta's Schlafzimmer, als ob eine scharfe Feder einschnappe. Die Mädchen sahen einander an, sie hörten den beflügelten Schlag ihrer Herzen.[] Gleich darauf klopfte es vernehmlich an die innere Kammerthür.
»O Gott!« flüsterte Herta und schlang beide Arme fest um den Nacken Emma's, ihr bleiches Antlitz in neugierigem Entsetzen starren Auges halb abgewandt auf die Thür richtend. »Emma, es ist der Graf, es ist Magnus! Niemand als er kennt diesen fürchterlichen Weg!«
Indem wiederholte sich das Klopfen um ein weniges lauter und da auch darauf von Seiten der erschrockenen Mädchen kein »Herein« erfolgte, ward die Thür behutsam geöffnet und ein stattlicher Mann in voller Lebensgröße erschien auf der Schwelle.
Regungslos betrachteten die scheuen Mädchen, ihre furchtsame Stellung beibehaltend, den Fremdling. Dieser blieb ebenfalls ruhig stehen, ließ sein scharfes Auge über beide in schwarze Trauerkleider gehüllte Gestalten gleiten und sagte dann mit wohltönender, kräftiger Männerstimme: »Guten Abend, liebe Kinder!«
Es lag so viel Zutrauliches, Weiches und Väterliches im Ausdruck der Stimme dieses Mannes, daß die Mädchen nach diesem Gruße froh aufathmeten und aufstehend sich gegen den [] Fremden höflich, aber noch immer schweigend, verneigten. Dieser trat jetzt in's Zimmer und ein voller Strahl des Lichtes fiel auf ihn. Es war ein starker, großer, sehniger Mann mit interessanten Zügen, welche der sorgfältig gepflegte, sehr dichte und lange Schnurrbart noch ausdrucksvoller machte. Sein ergrauendes Haupthaar zeigte, daß er die Höhe des Lebens bereits überschritten hatte, es müßten denn Kummer, Gram und tiefe Seelenleiden ihn vor der Zeit gealtert haben. Der Fremde trug die gewöhnliche Kleidung eines Försters und war, wie ein solcher, mit schönem Hirschfänger bawaffnet.
»Empfangen Sie zuvörderst,« hob er mit zitternder Stimme an, »meinen aufrichtigen, herzinnigen Dank für das Vertrauen, welches Sie mir durch Ihre Gegenwart schenken, verehrtes Fräulein!« – Dabei richtete er seine Worte entschieden an Herta, als kenne er sie schon längst. – »Ja,« fuhr er fort, »ich täusche mich nicht. Sie sind Herta, die arme, schöne, fromme Tochter der nicht minder armen Schwester Grafen Erasmus von Boberstein! Ist es mir doch, als wäre sie, die längst Dahingeschiedene, wieder zurückgekehrt in's Leben und sähe mich mit ihren [] dunklen Wunderaugen erstaunt an über die Veränderung, die mit mir vorgegangen! Denn nur sie, die Verewigte, und ihre einzige, ihr in allen Tugenden und Eigenschaften so ganz gleiche Tochter, besitzen diesen Zauber des Blickes, dies seelentiefe, herzdurchforschende Engelsauge! – Gestatten Sie, Tochter Eugeniens von Boberstein, daß der einzige Freund Ihrer Mutter die Hand küßt, die seit zwanzig Jahren nicht mehr in der seinigen geruht hat!«
Damit ergriff der Fremde Herta's schlanke feine Hand und führte die bebenden Finger an seine Lippen.
»Gütiger Himmel,« stammelte das erstaunte Mädchen, »Sie haben meine Mutter gekannt, räthselhafter Mann! Wer sind Sie? Was haben Sie mir zu eröffnen, daß Sie auf so ungewöhnliche versteckte Weise zu mir dringen?«
Mit schmerzlichem Lächeln ruhte das glühende Auge des Fremden auf Herta. Seine wetterbraunen Züge wurden weich und sanft und seine Stimme zitterte, als er antwortete:
»Sie dürfen und müssen so fragen, theures Mädchen, und ich bin gekommen, Ihnen Rede zu stehen, Sie zu Fragen und Forschungen aufzumuntern. [] – Haben Sie von Ihren Pflegeältern nie eines Mannes erwähnen hören, den man Johannes nannte?«
»Nie!« betheuerte Herta kopfschüttelnd.
»Nie!« wiederholte der Fremde und seufzte. »Also so ganz hatte man ihn vergessen, oder so geflissentlich schwieg man von ihm, daß nicht einmal in Beisein seines – – Doch bevor ich fortfahre,« unterbrach er sich selbst, »bitte ich inständigst: lassen Sie Ihre Gefährtin in ein Nebenzimmer treten! Ich weiß nicht, ob Sie selbst es billigen würden, wenn ich Ihnen vor Zeugen meine Geheimnisse mittheilte.«
Der gerührte, väterliche Blick des Fremden und sein ergrauendes Haar machten, daß Herta diese Bitte gewährte. »Verlaß uns, Emma,« sagte sie, »und gib Acht, daß wir nicht gestört werden.«
Die Zofe entfernte sich. Lebhafter wendete sich Herta zu dem Fremden, ergriff mit beiden Händen seine Rechte und sagte innig: »Nun, edler Mann, nun reden Sie! Wer war jener Johannes?«
»Ein armer, ein unglücklicher Mann!« erwiederte der Fremde. »Vor mehr als zwanzig Jahren [] glaubte dieser Johannes unter die glücklichsten Sterblichen zu gehören. Er war jung, hübsch, aufgeweckten, lebhaften Geistes, empfänglich für alles Schöne, ein Liebling und Verehrer Ihres Geschlechtes. Wo Heiterkeit und Frohsinn scherzten, da war er gern gesehen; wo Anmuth und Liebe duftende Blüthenkränze wanden, da versäumte er nie zu erscheinen, um ein feuriges Lied ertönen zu lassen. Johannes war kein Pedant, ob wohl er sich von Geburt an als Hofmeister auf Edelhöfen seinen Unterhalt erwerben mußte. Geübt in jeder Kunst, gewandt in ritterlichem Spiel, ein eben so geschickter Fechter, Tänzer und Reiter, als ein scharfsinniger und sieghafter Kämpfer im Wortgefechte, errang er sich manchen schönen Preis, um den vornehme, reiche Grafen ihn beneideten. Er siegte auf der Rennbahn und im Gesellschaftszimmer. Frauen und Mädchen ehrten ihn mit ihrem Vertrauen, ihrer Gunst!«
»Aber Johannes war kein leichtfertiger, gewissenloser Mann. Er unterschied streng holdes Spiel von gewichtigem Ernst. Er reizte nicht, wo er zu verlocken glauben konnte. Anstand und Sitte waren die beiden Genien, denen er auch im Rausch lebenstrunkener Stunden nie entsagte. [] So begünstigt, so von Glück und Liebe vereint in blendende Lebenskreise emporgehoben, kam Johannes in diese Burg. Graf Erasmus wünschte einen Hofmeister für seinen wilden Knaben Magnus, einen Mann, der Strenge mit Milde, der französischen Weltton mit deutschem Ernst, deutscher Gründlichkeit anmuthig zu verknüpfen wisse. Solcher Aufgabe war Johannes vollkommen gewachsen. Er kam nach Boberstein und nie schien Graf Erasmus mit der Wahl eines Erziehers zufriedener gewesen zu sein. Magnus ward ihm übergeben und gewöhnte sich bald an die Vorschriften seines Lehrers, der bei vor kommender Widerspänstigkeit unerbittlich streng sein konnte.«
»Johannes hatte im Spätherbst seine ehrenvolle und verantwortungsreiche Stellung angetreten, und binnen einigen Monaten die wilden Auswüchse an den Launen und Einfällen seines Zöglings mit Glück verschnitten. Da kam die junge, schöne Schwester des Grafen Erasmus aus der Residenz, wo sie den Winter in der großen Welt gelebt hatte, zurück auf ihres Bruders alte Haideburg. Eugenie war ein bezauberndes Wesen. Ihre Mutter, theure Herta, läßt sich nur mit der Tochter vergleichen.«
[] »Meine arme Mutter! Ich kannte sie nie, ich konnte sie nur im kalten, todten Bilde lieben und küssen!«
»Beklagen Sie Ihre Mutter nicht, edles Fräulein, Eugenie war glücklich, und als das Unglück über sie herein brach, nahm der erlösende Tod sie sanft in seine Vaterarme.«
Herta stürzten die Thränen in die Augen, während der Fremde ruhig fortfuhr:
»Johannes und Eugenie sahen einander, lernten sich kennen und liebten sich. – Es gibt Wesen, die beim ersten Zusammentreffen sich in der Tiefe ihres erbebenden Herzens gestehen müssen, daß sie von Ewigkeit her für einander bestimmt sind. Ein paar solche ursprüngliche Naturen waren Johannes und Gräfin Eugenie. Ein Strahl aus ihren Augen reichte hin, in Beide den heiligen Gluthstrom der Liebe zu gießen, der in den Pulsadern der Welt schlägt und das Reich der Geister beherrscht. Ueber der Ursprünglichkeit ihrer reinen Neigung, über der geistig schönen Tiefe ihrer Leidenschaft und der sittlichen Höhe ihres Standpunktes vergaßen sie, daß es bevorzugte und verachtete Kasten gab; wollten sie nichts wissen von einem Unterschiede zwischen [] gräflichem und bürgerlichem Blut. Eugenie liebte den reinen, tiefen, edlen Menschen in Johannes, und dieser fühlte an Eugeniens Busen nur das Herz eines Mädchens schlagen, das von Lüge und Verstellung nichts wußte.«
Vor dieser Gluthfülle ihrer Neigung sah Johannes alle Hindernisse stürzen, ja er dachte nicht einmal daran, daß es deren überhaupt geben könne. Er wollte Eugenie besitzen, bald besitzen und hielt um dieselbe an bei – ihrem Bruder! – Graf Erasmus lachte dem Hofmeister in's Gesicht und nannte ihn einen Narren. Er glaubte anfangs wirklich, Johannes erlaube sich in übermüthiger Stimmung einen Scherz. Als er aber sah, daß der Hofmeister im glühendsten Redestrome nur seinem überschäumenden Glück Worte gegeben und als er von Eugeniens blühenden Lippen die Bestätigung vernommen, da trat er stolz an Johannes heran, maß den jungen Mann von Kopf zu Fuß und sagte verächtlich: »Der Wein von meinem Tisch ist Ihm zu Gesicht gestiegen. Trinke Er künftighin wie der Wasser, wie sich's gehört, und esse Er mit meinen Bedienten, damit Er Mores lernt! Und jetzt packe er sich und verlaufe sich die verrückten [] Gedanken auf einem Spatziergange durch die Haide! – Darauf kehrte er dem Hofmeister den Rücken, nahm die Hand der Schwester und zog sie in's Nebenzimmer, das er hinter sich verriegelte.«
»Johannes blieb wie vom Schlage getroffen stehen. Er glaubte, ein wirrer Traum habe sich festgesetzt in seiner Seele. Er konnte lange Zeit weder Sprache noch gesundes Gefühl wieder erhalten. Als er endlich des ganzen entsetzlichen Unglücks sich bewußt ward, schüttelte ein förmliches Wuthfieber geraume Zeit seinen sehnigen Körper. Damit fand er sich selbst und seine Thatkraft wieder. Er schrieb in den gemäßigsten Ausdrücken an den Grafen. Der Brief kam uneröffnet zurück, mit ihm eine Rolle Gold als Reisegeld, begleitet von dem mündlichen Befehl des Grafen an den Ueberbringer, binnen zwei Tagen das Schloß zu verlassen. – Johannes tobte aufs Neue, er suchte die Diener zu bestechen, um mit Eugenie sprechen zu können, aber alle seine Bemühungen scheiterten an dem hündischen Gehorsam dieser Leibeigenen.«
»Verzweiflung im Herzen ward Johannes am dritten Tage nach der Unterredung mit Erasmus [] gewaltsam aus dem Schlosse gebracht! Als er um die letzte Felsenecke bog, die unter den Fenstern dieses Zimmers steil abfällt, glitt ein Stück Schiefer daran nieder mitten auf den Fußsteig. Etwas Weißes schimmerte darunter, was ihn aufmerksam machte. Er hob den Schiefer auf und fand daran gebunden zwei Schlüssel mit einem Zettel, der in wenigen Worten die Weisung enthielt, daß er in finstern Nächten vermittelst dieser Schlüssel unbemerkt zu Eugenien gelangen könne, wenn er am südlichen Thurme den Felsengang erklimme und über den Balkon, wo er ihr Unterricht in der Sternkunde ertheilt habe, nach der dritten Luckenthür schreite, die er stets offen finden werde! – Johannes kannte diesen Pfad, wie die heimlichen Gänge des Schlosses und ruderte, den Busen von neuen Hoffnungsträumen geschwellt, wohlgemuth über den See.«
»Schon die dritte Nacht sah den kühnen Mann die finstern Steige hinauf, die ächzenden Treppen, die feuchten gespenstischen Gänge treppauf treppab an den jauchzenden Mund der Geliebten fliegen, – und von Stund' an begann für die grausam Geschiedenen beim Lallen des [] See's, das wie Gebet flehender Engel zu ihnen herauf erklang, ein stilles hohes Liebesleben, das häufig erst mit dem Rufe des Morgenhahnes endigte, wenn auf Fels und See und Haide das Perlennetz des Frühthaus blitzend niedersank.«
»Ueber fünf Monate dauerte dieses hohe Liebesglück, um so zauberischer und reicher an Genuß, als es mit Gefahr und mannichfachen Entbehrungen verknüpft war. Johannes hatte nichts unterlassen, um Eugenien eine heitere Zukunft zu sichern. Diese war bereit, dem Geliebten zu folgen, und ein kleines, stilles, dauerndes Glück einem von Glanz und Goldschmuck schimniernden Elend von vielleicht langer Dauer vorzuziehen. Der Tag oder vielmehr die Nacht zur Flucht ward festgesetzt, und als am Vorabend derselben Johannes von ihr schied, gestand ihm Eugenie mit seligem Lächeln, daß ihre Einsamkeit nur kurz sein werde. Ein langer Kuß belohnte dies süße Geständniß.«
»Zum ersten Male seit seiner Verbannung aus dem Schlosse hatte sich Johannes bis zur Morgendämmerung aufgehalten. Ein ungewöhnlich starker Thau war gefallen, der in Millionen zarten Perlen auf Gräsern, Stegen und Steinen [] lag. Ein Knecht des Grafen, diesem vorzugsweise ergeben, entdeckte die Fußspuren des nächtlichen Gastes und zeigte sie seinem Gebieter. Erasmus verfolgte sie und fand einen Verdacht, den er zuweilen still gehegt, doch nie zu äußern gewagt hatte, bestätigt. Er befahl dem Knechte unverbrüchliches Stillschweigen und traf heimlich seine Anstalten.«
»Voll froher Erwartungen, sich dem Ziele so nahe zu sehen, ersteigt Johannes um Mitternacht auf bekanntem Felsenpfade das Schloß. Niemand sieht, Niemand stört ihn. Er erreicht die Zinne, die innern finstern Gänge. Bis dicht an das Gemach der Geliebten dringt er vor, da fällt plötzlich verrätherisch blendendes Licht auf ihn und auf beiden Seiten in engen Nischen, die er nie gewahrt hatte, zeigen sich Bewaffnete, Erasmus an ihrer Spitze. – Zwar wehrte sich Johannes, allein Augenblicke reichten hin, ihn zu überwältigen. Während der schadenfroh lachende Graf den Ueberrumpelten mit Schimpf- und Schmähworten überhäufte, erschien die entsetzte Gestalt Eugeniens in Reisekleidung. Die Liebe siegte über Schreck und Schaam. Sie warf sich über Johannes mit aller Gluth und Seelenwärme [] eines Herzens, dem man sein Theuerstes rauben, das man vielleicht entehren und tödten will. Ihr grausamer Bruder ließ die reizende Gestalt durch die Knechte den umschlingenden Armen des Geliebten entreißen. Selbst ihr lauter Verzweiflungsruf: Ich bin sein Weib! Vor Gott gehöre ich ihm an! konnte den blind Wüthenden nicht erweichen. Sie wurden getrennt, Eugenie, um in ihre Zimmer zurückgebracht zu werden, Johannes, um am nächsten Morgen, wie ihm Erasmus ankündigte, seine Strafe zu empfangen.«
»Dieser Morgen kam. Johannes ward gebunden in die Schloßhalle geführt. Dort waren bereits der Graf und seine ganze Dienerschaft nebst zahlreichen Knechten versammelt. Eugenie wurde mit Gewalt auf die Gallerie geschleppt und dort festgehalten. Hierauf verurtheilte Erasmus den ehemaligen Hofmeister seines Sohnes zu der für einen Freien entehrenden Strafe des Blockes, die er sogleich erlitt. Während derselben ward Eugenie als todt fortgetragen. Nachdem Johannes in ohnmächtiger Wuth diese Strafe überstanden hatte, befahl der Graf –«
[] »Sie stocken? O ich bitte Sie,« rief Herta, »beendigen Sie diese fürchterliche Geschichte!«
»Verzeihen Sie meine Schwäche,« nahm der Fremde nach kurzer Pause abermals das Wort. »Es gibt Erlebnisse, die schon in der Erinnerung auf einen Mann wie tödtendes Gift wirken. – Nun,« sagte er, »der Graf befahl, den Geliebten seiner Schwester draußen im Schloßhofe an den Pfahl zu binden, der für die Leibeigenen als Pranger dient, ihm den Rücken zu entblößen und für seine Frevelthat mit Ruthen zu hauen. Er nannte das, den Lohn für die im Dienste seines Hauses geopferten Nächte auszahlen!«
Dem Fremden versagte die Sprache. Er hatte diese letzten Eröffnungen kaum verständlich geflüstert.
»Und Graf Erasmus,« fiel Herta ein, »nicht wahr, er ließ es bei der schrecklichen Drohung bewenden?«
»Nein,« versetzte mit eisiger Kälte und furchtbarem Aufflammen seiner tief liegenden Augen der Fremde, er sah der Vollziehung der grausamen Strafe mit Wohlgefallen zu! Als der Unglückliche sie überstanden hatte, ohne vor Schaam [] zu sterben oder vor Wuth den Verstand zu verlieren, sagte er zu Johannes: »Jetzt hab' ich Ihn ganz in Gold fassen lassen. Er kann nun gehen, wohin Er will, und von der Münze des Grafen Boberstein leben oder damit Handel treiben. Jagt den Schurken hinaus, und wenn er sich noch einmal im Bereich meines Schlosses blicken läßt, so erhält er dieselbe Belohnung wie heut!«
Johannes ward losgebunden. Mit todtenbleichem Gesicht und fast brechendem Auge kehrte er sich zu seinem Henker und sprach:
»Ich werde Ihr Gold auf Zinsen legen, Herr Graf, und Ihre Güter damit aufkaufen!«
»Am Ufer des See's in der Haide setzte man den todtwunden Mann nieder. Mühselig schleppte er sich fort bis in eine Köhlerhütte. Dort fand er Hilfe und den Trost guter Menschen, denn sie waren arm und hatten noch ein Herz. Acht Tage raste Johannes im Fieber. Als er wieder zur Besinnung kam und langsam genas, war sein pechschwarzes Haupthaar grau geworden. Kummer und Schande hatten einen Greis aus ihm gemacht. Aber die Rache erhielt ihn jung, stärkte seine Muskeln, stählte seine [] Nerven wieder und ließ ihn der Geliebten gedenken –«
»Es vergingen Wochen, ehe Johannes von Eugenien hörte. Das arme Mädchen hatte die gewaltige Seelenerschütterung überstanden. Sie war gesund geblieben, vielleicht nur, weil sie ein Pfand der Liebe mit ihrem Herzblut nährte. Erasmus ließ die Unglückliche in ein entferntes Haidedorf schaffen. Dort entdeckten sie Johannes' Pfleger, die Köhler, und brachten ihm Nachricht. Er sah sie wieder, als sie eben eines zarten Mädchens, ihres schönsten Ebenbildes, genesen war. Sie nannte das Kind Herta und starb am Tauftage desselben. Von neuem Schmerz ergriffen rannte Johannes in den dichtesten Wald. Als er zurückkam, war Herta verschwunden. Er sah sie nie wieder, obwohl er ahnen konnte, daß Graf Erasmus die Neugeborene entführt haben würde –«
Herta drückte schluchzend ihr Gesicht in die Sammetkissen der Ottomane. Der Fremdling betrachtete mitleidig die Weinende. Als sie ruhiger ward, rief er sie bei Namen; sie richtete sich wieder auf und sah ihn groß und theilnehmend mit ihren glänzenden Rehaugen an.
[] »Johannes begrub Eugenien,« fuhr er fort, »und nichts blieb ihm übrig von der Unvergeßlichen, als ihr Bild, das sie ihm in der ersten glücklichen Nacht geschenkt hatte.«
»Mein armer, armer unglücklicher Vater!« rief Herta. »O sagen Sie, bester Mann, sagen Sie, wenn Sie's wissen: welch Schicksal ist ihm gefallen nach so viel Schmerz und Erdenjammer?«
»Er verscholl in dem Andenken der Menschen,« sagte der Fremde mit feierlichem Ernst, »und hat dem Grafen Wort gehalten!«
Wieder blickte das Mädchen verwundert zu ihm auf. »Er hielt Wort!« wiederholte sie. »Und kennen Sie ihn? Hat er Sie gekannt?«
»In seinem Namen bin ich hier.«
»Gott, Gott, mein Vater lebt!« rief Herta und erhob mit entzücktem Blick die Hände zum Himmel.
»Durch mich läßt er seine Tochter grüßen,« fuhr der Fremde fort, immer feierlicher sprechend, »und ihr sagen, daß die Stunde gekommen sei, wo der Schutzengel von dem Hause der Grafen Boberstein weichen, wo die Rache für die Härte des Grafen Erasmus und für die noch schmählichere [] Schandthat seines Sohnes beginnen werde.«
»Himmlischer Vater, Sie wissen!« stammelte Herta.
»Ich weiß Alles, Herta, aber ich zürne Dir nicht, noch verdamme ich Dich. Ich komme nur, um Dich zu retten!«
»Und wer sind Sie?« fragte ahnungsvoll das zitternde Mädchen.
Der Fremde griff in seinen Busen und hielt ihr das Bild Eugeniens entgegen.
»Meine Mutter!« lallte sie sanft und durch Thränen lächelnd, indem sie die zarten Hände nach dem theuren Medaillon ausstreckte. »Mein Vater schickt es mir, daß ich Ihnen vertrauen soll! – O, wie gut, wie lieb –«
»Herta!« rief mit von Thränen unterdrückter Stimme der Fremde und breitete seine Arme gegen sie aus, »Herta, ich bin Dein Vater, bin der unglückliche Johannes!«
Von dem lauteren Gespräch geängstigt, trat jetzt Emma in's Zimmer. Sie fand Herta in den Armen des Fremden, an seinem Halse, seinen Lippen hangend. Sie trat näher zu der Gruppe [] und berührte mit leisem Finger die Schulter ihrer Gebieterin.
»Es regt sich im Schloß,« flüsterte sie ängstlich. »Irgend ein Diener muß noch wach sein.«
»Ich danke Dir, gutes Mädchen, für Deine Warnung,« versetzte Johannes eben so leise, noch immer seinen nervigen Arm um die wiedergefundene Tochter schlingend. »Begleite mich,« fuhr er dann fort, »denn nicht lange mehr wirst Du hier geborgen sein! Die Leibeigenen haben sich erhoben und vielleicht schon in wenigen Stunden beginnt ihr Rachewerk. Von ihnen erfuhr ich Dein Schicksal und beschloß, Dich zu retten, Dir Deinen Vater wieder zu geben. – Du zitterst? Herta, Du schwankst? Solltest Du Magnus –«
»O still, still! Ich hasse, ich verachte ihn!«
»Er wird Dich zur Gemahlin begehren!«
Herta nickte matt mit dem müden Haupt.
»Er fällt von meiner Hand, wenn er es wagt, noch mals um Dich zu werben!«
»Er thut es nicht mehr,« sagte Herta sanft.
»Du darfst ihn nicht sehen, nicht mehr sprechen. Komm! Es ist die höchste Zeit. Schon naht die Mitternachtsstunde!«
Leise entwand sich Herta den Armen ihres [] Vaters. »Laß mich hier,« bat sie mit dem rührenden, alle Herzen bewältigenden Ton ihrer Silberstimme. »Erasmus, mein Onkel, der so hart an Dir gehandelt und der mich dafür so innig geliebt hat und über mein Unglück gestorben ist, Erasmus ist noch nicht bestattet. Laß mich an seinem Sarge für ihn und für uns Alle beten, dann komme wieder und fordere mich von Utta.«
»Es geht nicht,« sagte Johannes mit steigender Unruhe. »Ich kann nicht wieder kommen. Wer weiß – –«
»Wo wohnst Du?« fragte kindlich fromm die Tochter, dem Vater die starken grauen Haare aus der finstern Stirn streichend.
»Tief, tief in der Haide!«
»Nun, so komme ich selbst zu Dir. Die Haide liebe ich; ich bin bekannt bei Köhlern und Bauern. Ich frage mich durch sie hindurch bis zu Dir!«
»Aber Herta!«
»Vater, es muß so sein. Mein Herz gebietet es und das wirst Du nicht kränken wollen.«
»Nun so bleib,« erwiederte Johannes entschlossen. »Aber hab' Acht! Sollte sich etwas [] Außerordentliches ereignen, dann halte Dich bereit! Flüchte durch diesen Gang, der uns Allen verhängnißvoll war, bis an das Ufer des See's und Dein Vater wird Dich erretten! – Jetzt, gute Nacht, liebe, holde, süße Tochter!«
»Gute Nacht, mein armer Vater!« hauchte Herta, umschlang nochmals den starken Mann und ließ erst von ihm, als er mit einem Fuße auf der Schwelle des geheimen Ganges stand. Als die Thür zufiel, sank sie Enma still weinend in die Arme.
[] Fünftes Kapitel.
Der Aufstand.
Der auf diese Nacht folgende Tag war ein Hofetag. Alle wendischen Bauern und Gärtner mußten mit ihrem Gespann in die Haide, um Holz auf den Zeiselhof zu schaffen. Obwohl der Befehl dazu erst am letzten Abend an sie ergangen war, gehorchten sie ihm doch Alle, wie gut geschulte Hunde dem Wink ihres Herren. Sie waren so an blinden Gehorsam gewöhnt, daß der Begriff eines freien Willens gar nicht in ihnen aufkommen konnte. Und solch blindes Gehorchen war noch möglich in demselben Augenblicke, wo der ganze Stamm gegen den grausamen Herrn sich zu erheben fest entschlossen war! Wie tief gewurzelt, wie mit dem ganzen Dasein, mit allen Gewohnheiten fest verwachsen mußte dieser knechtische [] Sinn der Wenden sein! Welch entsetzliches Licht fiel gerade dadurch auf die entsittlichende Leibeigenschaft!
Im tiefsten Walde trafen die Wagenzüge der einzelnen Dorfschaften mit den verschiedenen Vögten der Herrschaft zusammen. Auch die Förster waren versammelt, um den Frohnbauern die Holzschläge anzuweisen. Dies waren ungeheure Lichtungen oder Waldblößen im dichtesten Gebüsch. Klaftern trockenen, starken, harztriefenden Holzes reihten sich an Klaftern von hohen in die lockere Erde getriebenen Pfählen gehalten. Dazwischen lagen ausgerodete Stöcke, die mit ihren gewundenen Wurzeln gleich sich bäumenden Riesenschlangen in die Luft griffen. Baumstümpfe, vor Alter verwittert und mit röthlichem Moos überwachsen, hockten in den abenteuerlichsten Gestalten wie unheimliche Geister oder greise Wächter des Waldes zwischen den leuchtenden Scheiten. Der Boden, voll tiefer Aushöhlungen und brüchiger Stellen, war mit moderduftigen grauweißen Schwämmen oder mit riesigen Fächern großer Tüpfelfarren bedeckt, deren zarte, durchsichtige, in brennendem Roth glimmernde Fasern rastlos im Morgenwinde auf- und niederwogten. Rothbraune und [] schwarze Schnecken, die weißen, zierlich gewundenen Häuser auf ihren klebrigen Rücken, kletterten langsam auf die breiten Mooshäupter der erstorbenen Baumstümpfe und legten silberglänzende Streifen um die finstern krausen Stirnen, daß sie in dämmerndem Lichtschein mit blitzenden Diademen gekrönt schienen. Schwärme munterer Goldammern mit gelblich schimmernden Brustfedern flogen zwitschernd auf und sanken in kleineren Geschwadern wieder nieder, um hüpfend und flatternd die gefällten Tannen zu beschauen und aus Baumerde und Pflanzenleichen ihre Nahrung zu picken.
Es war ein heiterer, stiller Herbsttag. Die Waldung rauschte harmonisch in mildem Luftzuge, ähnlich dem Meere, wenn es bei ruhigem Wetter nur säuselnde Schaumbrandungen an den Strandwänden hinaufrollt, als tauchten gaukelnde Wassergeister aus der Tiefe auf und mühten sich in ergetzendem Spiele ab, die harte, starre Erde zu erklimmen. Manchmal rauschte in sausendem pfeifendem Fluge ein Schwarm wilder Gänse oder in ägyptischer Hieroglyphengestalt die Pfeilwolke eines Storchgeschwaders über die Lichtung.
Ohne diesen alltäglichen Erscheinungen die [] geringste Aufmerksamkeit zu widmen, begaben sich die Wenden an ihre Arbeit. In Gesellschaft verrichtet dies sinnlich heitere Völkchen auch die schwerste Arbeit stets unter Gespräch, Gesang, Gelärm. Auch an kräftigen Flüchen gebricht es ihrer Sprache nicht, wenn das Zugvieh nicht gehorchen will oder wenn irgend etwas am Wagen zerbricht. Ohne derartiges Unglück sind Holzfuhren nicht wohl denkbar. Bald bricht eine Achse, bald ein Ortscheit, bald stürzt der ganze Wagen in eine verdeckte Grube und Stunden mühsamer Arbeit reichen oft nicht hin, die schwere Last abermals aufzuladen, die scheu werdenden Thiere zu bändigen und vor Schaden zu behüten. Förstern und Vögten fiel es daher auf, daß alle Bauern an diesem so schönen und für einen Herbsttag in der Haide milden Morgen überaus wortkarg, ja völlig stumm waren. Alle sahen finster und mürrisch aus und verrichteten die Arbeit mit einem gewissen Verdruß, mit einem Widerwillen, den sie noch niemals gezeigt hatten. Die Aufseher schrieben diese ungewohnte Niedergeschlagenheit auf Rechnung des unerwarteten Todesfalles, denn es war bekannt, daß die meisten Haidebauern den alten Grafen wahrhaft geliebt hatten, da sie von [] ihm nicht in dem Sinne bedrückt worden waren, wie sie den Begriff der Bedrückung überhaupt faßten.
Bis an den Hals in ihre groben, meistentheils schmierigen Schaafpelze gehüllt, eine blau und roth geränderte Zipfelmütze auf dem langen Haar, welche die Meisten noch über die Ohren herabzogen, wodurch der Ausdruck ihrer Gesichter etwas Stupides bekam; so räumten sie die aufgeschichteten Klaftern ab und beluden damit ihre nicht immer sehr standhaften Wagen. Nicht einmal die Branntweinflasche, die der Wende doch sonst immer in der Sacktasche seines Pelzes führt, machte heut die Runde.
War es nun, daß in Folge der Nüchternheit Aller durch nutzloses Lärmen und Reden keine Zeit verloren wurde, oder weil die größere Anzahl derselben am Abend dieses Tages nach Boberstein zu wandern beabsichtigte, um die Leiche ihres bisherigen Herrn auf dem Paradebett zu sehen und nach Sitte und Herkommen durch stilles Umwandeln des Sarges von ihm Abschied zu nehmen; genug sämmtliche Frohnbauern verließen in verhältnißmäßig kurzer Frist den Holzschlag. Auch auf den schlechten, hundertfach durchkreuzten [] Wurzelwegen und in rollenden Sandtiefen geschah wider Aller Erwarten kein Unfall. Die zuerst im Walde erschienenen Bauern langten schon in der Mittagsstunde auf dem Zeiselhofe an und um zwei Uhr des Nachmittags war auch der letzte Wagen abgeladen. Für das Unterbringen und Aufschichten des eingebrachten Winterholzes hatten die Hofeknechte zu sorgen. Auch diese waren rasch zur Hand und betrieben das wenig schwierige Geschäft mit liederlicher Eile, da der Voigt noch immer krankte und der erste Knecht, welcher an des Voigtes Statt die Aufsicht führte, kein strenger Herr war. –
Um die siebente Abendstunde, wo in der erwähnten Jahreszeit aus allen Haidedörfern, die von Wenden bewohnt werden, die freundliche Flamme der Heerdfeuer über das Blachfeld leuchtet, sah man an diesem Tage die flackernden Kienlohen erlöschen. Dann traten die Männer in Pelzen, mit Hacken, Heugabeln oder Knütteln bewaffnet, aus ihren niedrigen Häusern, Viele begleitet von Frauen und Mädchen, die in ihre weißleinenen Regentücher gehüllt, gleich wandelnden Gespenstern schweigsam durch Nacht und Dunkel schwebten.
[] Auf verschiedenen Wegen, wie sie jeden Hausbesitzer in unmittelbare Verbindung mit seinen Saatfeldern setzen, verloren sich die stummen Wanderer in die Haide, deren schwarze Wand, von flackernden Sternen matt beglänzt, sämmtliche Dörfer umschloß.
Erst unter den rauschenden Stämmen fanden sich Bekannte und Freunde zusammen und schritten nun truppweise immer tiefer in die Haide hinein. Unter einer dieser kleinen Abtheilungen begegnen wir Sloboda und Ehrhold, Clemens und dem Maulwurffänger, denen sich einige verhüllte Frauengestalten anschlossen.
»Es bleibt doch immer ein Wagstück, Freund,« sagte Jan, zwischen Heinrich und Ehrhold auf unsichtbaren Pfaden grad nach Norden rüstig fortschreitend. »Läßt uns jetzt Dein Lips im Stiche, so sind wir ohne Gnade und Barmherzigkeit verloren und unsere Rücken werden es dann vier Wochen lang spüren.«
»Ich tausche mit Dir, wenn's dahin kommt,« erwiederte der Maulwurffänger. »Zweifle doch nicht an dem einmal gegebenen Wort eines solchen Räubers, wenn er nun doch so heißen soll. [] Will er nicht Alles auf sich allein nehmen und sollt Ihr ihn nicht blos schützen?«
»So sagt er, und weil Du für ihn bürgst gehen wir jetzt auf Wegen der Finsterniß.«
»Sie werden zeitig genug licht werden. Aber wo sind wir?«
»Zwischen den Torfteichen,« sagte Ehrhold. »Der große Holzschlag, wo vor zehn Jahren der schreckliche Windbruch war, liegt noch eine halbe Stunde seitwärts. Wir müssen die Sandhöhe hinauf und mitten durchs Dickicht, wenn wir zur rechten Zeit eintreffen wollen.«
»Nur vorwärts!« drängte der Maulwurffänger. »Was uns hinderlich ist, wird niedergesäbelt. Ohne Stich und Hieb geht es ja doch nicht ab.«
Der Trupp zog weiter. Einzeln, stets Einer hinter dem Andern, mußten sie sich durch die verwilderte Haide winden. Oft war der Wald so dicht, daß Keiner den Andern erkannte. Stamm rieb sich an Stamm und bei der Umschlingung dieser Riesenbäume fuhren Töne durch die Luft wie Seufzer, daß auf den wankenden Aesten, deren Nadelbehänge in der Luft raschelten, das zur Nachtruhe niedergefallene Geflügel[] kreischend und purrend wieder auffuhr. Zuweilen liefen an zerborstenen Fichten ein paar blitzende Funken bis in die schwarzen Kronen hinauf und sahen glänzend hinab auf die späten Wanderer. Es waren Eichhörnchen, deren muntere Aeuglein so seltsam leuchteten. Dann riß wieder plötzlich der schwarze Nadelvorhang über ihren Häuptern und ein Stück blauschwarzen Himmels, mit Sternen umsäumt und ausgeschlagen, lauschte herein, bis ein weißer glänzender Streif mit nickender Krone und abwärts wehenden Dunsthänden in ungeheuerlicher Bildung sich über die ruhige Klarheit des Sternenhimmels schob. Wo aber die Bäume weit auseinander traten an Moorbrüchen, sumpfigen Waldbächen und kleinen Wiesen, da hingen graue Schleier um ihre Hüften, die sich bald verlängerten, bald verkürzten, bald über die finstere Erde rollten, bald zu einem Dome sich ausbreitend, eine feuchte flatternde Dunstwölbung über die Haide bauten. Füchse, Wiesel und anderes Gethier schoß raschelnd über den Weg, buntgefleckte Schlangen glotzten mit stechenden Augen aus feuchten Laubschobern, die von dem vielen Unterholz sich angehäuft hatten, und Molche und Eidechsen hingen in zahlloser [] Menge an bemoosten Marksteinen und auf großen gelben Pilzen.
Dies ungewohnte Leben der Haide bei Nachtzeit machte nicht selten die Wenden stutzig, denn obschon Alle vertraut waren mit der Natur der Haide und ihren Schauern, gebrach es ihnen im Allgemeinen doch zu sehr an Bildung, um natürliche Erscheinungen sich natürlich zu erklären. Deshalb schritten auch die Weiber ununterbrochen betend den Männern nach. Denn wenn die seltsam geformten Nebel mit den mattleuchtenden Säumen plötzlich vor ihnen auftauchten wie aus tiefem Schlunde, oder in eilender Schnelle gegen sie heranzogen und dann wie erschrocken zurückweichend in hundert Schlangenwindungen zur Seite rollten, glaubten sie sich umlauert von bösen Geistern, bedroht von Gewalten finsterer Dämonen.
Nach mühsamer Wanderung erreichten unsere Freunde in der neunten Stunde den Windbruch. Dies war ein waldfreier Platz in der Haide von einer halben Stunde im Durchmesser. Er bot jetzt einen seltsamen Anblick in der kühlen Herbstnacht, die kein Mond erhellte. Spärliche Sternenfunken [] flimmerten nur stellenweise mit mattem Glanze aus phantastischen Wolkenpalästen.
Von allen Seiten der ringsum schließenden Haide wankten schwarze Gestalten und grauweiße Schatten, die in unklarer Ferne zu riesiger Größe anwuchsen, gegen die Mitte der Lichtung. Hier drängte sich ein schwarzer Knäuel verworrener Menschen, umgeben von einem Halbkreise weißer Statuen, die auf Blöcken, vermoderten Wurzelstöcken und halb zerbrochenen Stämmen regungslos dasaßen, von dem rothen Schein eines knisternden Feuers, das pechschwarze Rauchwolken gen Himmel wirbelte, grell beleuchtet. Diese Gestalten waren die wendischen Frauen und Töchter der Leibeigenen in ihren schimmernden Regenmänteln. Ein monotones Gesurr vieler Stimmen trug der Lufthauch unsern Wanderern entgegen. Weithin über die Lichtung glühten zahllose dunkle Flammen, als ob unterirdische Erdgeister riesige Leuchten aus ihren Höhlen emporhielten. Hie und da wälzte sich auch in gleich düsterer Brandfarbe eine endlose Schlange am Boden, deren Kopf in vielen gleichfalls leuchtenden Hörnern endigte. Diesen Spuk verursachten die vielen verfaulten Baumstümpfe und vermoderten [] Bäume mit ihren Wurzeln, deren feuchtes Holz jetzt in der Finsterniß phosphorescirte.
Nach dem Feuer inmitten des Windbruches führte der Maulwurffänger seine Freunde. Sie wurden mit dumpfem Zuruf begrüßt, von diesem und jenem Bekannten mit einem treuherzigen Handschlage. Nach und nach wuchs die Schaar der Wenden auf einige tausend an, die sie begleitenden Frauen mitgerechnet. In der Mitte dieses Menschenhaufens saß der Fürst des Waldes, vom Volke der braune Lips genannt, mit seinem eigentlichen Namen, wie wir wissen, Johannes, Herta's unglücklicher Vater.
Er trug die Kleidung eines vornehmen Oberförsters, war aber außer seinem Hirschfänger noch mit doppelläufiger Büchse und mehrern Pistolen bewaffnet. Ihm zunächst kauerte auf einem Steine der schlanke Jüngling mit dem abscheulichen Spitzbubengesicht. Hinter ihm lehnte der hübsche stille Mann, der bei Heinrich's Besuche im Raubhause Knebel geschnitzt hatte. Alle diese, so wie die meisten übrigen Männer, die zu des Haidefürsten Hofstaate gehörten und seinem Wink ohne Säumen gehorchten, trugen [] Jägerkleidung. Es war eine Schaar von wenigstens hundert der verwegensten Männer, tollkühn, beutegierig, lechzend nach Brand und Plünderung – das gefürchtete wilde Heer der Haide, das ungeahnt, ungesehn in trüber Nacht die Mauern der Edelhöfe überstieg, in die Schlösser eindrang und die kostbarsten Kleinodien entführte. Nie hatte diese Schreckensschaar einen Mord begangen, dafür aber wurden die Ueberfallenen, wenn sie als harte Gebieter verschrien waren, auf grausame Weise geknebelt, nicht selten mit Peitschenhieben zerfleischt und jede bald erscheinende Hilfe mit berechnender Schlauheit fern gehalten. Dies war die Rache Johannes für die ihm zugefügte Beleidigung.
Keiner dieser Männer war verheirathet. Jeder stand ganz allein, hatte nur für sich zu sorgen und gehorchte dem Fürsten, wie Lips von seinen Genossen ohne Ausnahme genannt ward. Da sie zum größten Theil der Meinung waren, daß ihr Gewerbe kein unehrliches, schändliches und verbrecherisches, obwohl ein verbotenes, sei, so brüsteten sie sich gern mit ihren Thaten und lebten, wie dies bereits angedeutet worden ist, mit dem armen Volk auf vertrautem Fuß. Ihr sie[] beherrschender und mit entschiedener Geistesüberlegenheit leitender Anführer hatte ihnen, ob aus Ueberlegung oder weil er sich größeren Erfolg davon versprach, mit leichter Mühe eingeredet, daß sie weiter nichts wollten, als das entsetzliche Unrecht der herrschenden Besitzer ausgleichen. Deshalb ward nach jeder glücklich vollführten Beraubung eines Reichen der zehnte Theil des geraubten Gutes in irgend einem Gotteskasten niedergelegt, wo es der Armuth wenigstens zu Gute kommen konnte. Der Rest ward unter sämmtliche Räuber gleich vertheilt. Johannes selbst duldete nicht einmal, daß ihm ein Mehr von der Beute zufiel. Dagegen gestattete er den Vorschlag eines willkürlichen Geschenkes von Seiten der Bande, das ihm zu Anfange jeden Vierteljahres überreicht ward. So bestand unter dieser Gesellschaft eine Verfassung, die in freilich sehr roher Gestaltung und vielleicht ohne daß irgend einer derselben darüber nachgedacht hatte, die Idee einer möglich gleichen Vertheiluug des Vermögens wie der Arbeit zu verwirklichen suchte.
Als man annehmen durfte, daß die unter dem Grafen stehenden Leibeigenen zum größten [] Theile auf der Waldblöße versammelt waren, erhob sich der Fürst der Haide und winkte den Maulwurffänger nebst seinen Gefährten zu sich.
»Euch bin ich Dank schuldig, wackerer Mann,« sagte der Räuber, dem schlichten Manne aus dem Volke die Hand schüttelnd. »Ihr seid nicht müßig gewesen, wie mich diese zahlreiche Versammlung lehrt, und so wäre es nun wohl an der Zeit, vom Warten zum Handeln überzugehen. – Wo ist Jan Sloboda?«
»Hier ist der unglückliche Vater,« versetzte der Wende vortretend und seinen Hut lüftend.
Johannes sah den riesenstarken Mann eine geraume Zeit mit seltsamen Blicken an, dann sagte er mit einer Stimme, in der schmerzliche Wehmuth nachzitterte: »Ihr kennt Fräulein Herta?«
»Sie war die Wohlthäterin meiner Tochter! Möchte sie noch recht viele sonnige Tage erleben recht glücklich werden, wie sie's verdient! Ja, Herr, meine armen Augen tragen ihr Bild immer mit sich herum.«
»Wollt Ihr mir zur Seite bleiben, um im Fall der Noth das Fäulein aus Magnus' Händen zu befreien?«
[] »Ich werde Euch nicht verlassen, bis der Engel der Armen in Sicherheit ist.«
»Und ich trenne mich nicht von Euch!« rief Clemens. »Auf diesen meinen Armen will ich sie trockenen Fadens über den See in die Haide tragen!«
»Dann gehe auch ich mit,« sagte Ehrhold. »Haideröschen bedarf heut keines männlichen Schutzes.«
»Und was gedenkt unser wackerer Freund zu thun?« wandte sich der Räuber an Heinrich.
»Gebt mir keinen Auftrag, wenn Ihr mich lieb habt,« versetzte der Maulwurffänger. »Mit dem Pariren hab' ich mein Lebtage nichts anzufangen gewußt. Wenn Ihr mir aber erlauben wollt, nach meinem Gusto unter Euch allen herumzufahren, wie das Gewürm, dem ich nachspüre, so kann ich manchen Nutzen stiften. Ein Raufbold oder Kriegsheld bin ich meines Wissens nicht. Die Courage sitzt bei mir mehr in den Augen als in den Händen, obwohl ich als junger Bursche meine Tachteln Ohrfeigen. zuweilen mit gutem [] Erfolge ausgetheilt habe. – Besser jedoch ist es, Ihr überlaßt mir in dieser Nacht die Wahl meiner Thätigkeit selbst. Faullenzen werd' ich meiner Seele nicht, sonst wär' ich lieber gleich hinter'm Ofen sitzen geblieben!«
Johannes fügte sich ohne Weiteres in Heinrichs Bedingungen und kehrte sich nunmehr zu seinen Vasallen.
»Waldbrüder,« redete er sie an. »Heut bei Sonnenuntergang erfuhrt Ihr von mir, welche Verbrechen der Graf Magnus von Boberstein an der wehrlosen Unschuld verübt hat. Ihr wißt, wen zu rächen ich Euch versammelt habe, weshalb diese Schaar rechtlos unterdrückter Männer zu uns gestoßen ist! Es soll heut Nacht ein Anfang gemacht werden mit Bestrafung herrischer Bosheit, und schützt uns der Vater der Nacht und der Geist gerechter Vergeltung, dessen Stimme an mich ergangen ist, so wird unsere Rache eine segenreiche sein. Nur keine Frevelthat! Keinen Mord! An unsern Händen darf kein Tropfen Menschenblut kleben. Wir sind die Schergen der Nemesis, die unsichtbar über uns waltet. Wo wir in ihrem Namen auftreten, da geschieht es zur Herbeiführung eines besseren [] Zustandes auf Erden. Schwört, daß sich Keiner frevelnd vergehen, Keiner etwas Anderes thun will, als was ich ihm befehle!«
Die Räuber schworen ohne Zaudern.
»Zwanzig von Euch, die zuletzt in unsern Bund getreten sind, bleiben zurück, um die Frauen zu schützen,« fuhr Johannes fort. »Ihr erwartet uns, was auch geschehen mag, an der Streu, wo wir jüngst übernachteten, bis ich das Zeichen gebe.«
Ohne Murren traten zwanzig der Räuber zurück, die Uebrigen warfen ihre Büchsen über die Schultern und ordneten sich in Reihe und Glied.
»Zündet einige Kienfackeln an!« befahl der Räuber, »und haltet die Wergballen bereit.«
Blitzschnell lohten die harzigen Brände in dem niedergebrannten Kohlenstoße auf.
»Folgt mir in tiefstem Schweigen!« rief Johannes und schritt, umgeben von den drei Wenden und Heinrich, über die Lichtung dem Walde zu, in dem nach einer Viertelstunde die Kienfackeln wie funkelnde Leuchtkäfer verschwanden. [] Hinter den Räubern in dicht gedrängten Schaaren folgten die Leibeigenen, ihre Angehörigen dem Schutz der vereideten Söhne der Haide überlassend.
[] Sechstes Kapitel.
Der Haidebrand.
Auf Boberstein trafen an diesem Tage zahlreiche Verwandte des verstorbenen Grafen ein, um am nächsten Morgen dessen feierlicher Beisetzung in der Familiengruft des Schlosses beizuwohnen. In der uns bekannten Schloßhalle ruhten auf schwarzem Katafalk die sterblichen Ueberreste des Todten. Die Halle war mit schwarzem Tuch ausgeschlagen, schwarze Gardinen verhüllten die Fenster, den Fußboden bedeckten schwarze Teppiche. Auf prächtigen Kandelabern von gediegenem Silber, ein Familienerbstück des Hauses Boberstein, brannten flimmernde Wachskerzen und verbreiteten Tageshelle in der sonst so düstern Halle. Die Dienerschaft ging in tiefer Trauer mit langen wehenden Flören um Arm und Hut.
[] Es war festgesetzt worden, daß von Anfang der Ausstellung bis zum Augenblick der Beisetzung eine Ehrenwache von sechs Männern in der Tracht trauernder Knappen den Sarg umgeben sollte. Diese Männer waren der Dienerschaft entnommen und unterzogen sich dem traurigen Loose von Abends sieben Uhr an. Um diese Zeit nahten sich auch die Verwandten des hohen Verstorbenen in ernster Haltung, um durch Auflegung ihrer Hände ihm die letzte Ehre zu erweisen. Diesen langen Zug tief trauernder Gestalten eröffnete Graf Magnus mit seiner Mutter Utta. Gebückt, einsam, in düstere Gedanken versenkt, folgte Herta. Sie begnügte sich nicht mit bloßer Berührung der Hand des Todten. Sie warf sich nieder auf die Stufen des Katafalkes und betete innig und heiß für die Ruhe des Grafen, für Vergebung seiner frühern Vergehen, für das Wohl ihres wiedergefundenen, ihr noch so unbekannten Vaters und für Bekehrung ihres wüsten, boshaften Vetters. Nachdem sie so ganz ihr Herz vor Gott ausgeschüttet hatte, kehrte sie mit den übrigen Leidtragenden wieder zurück in die oberen Gemächer, ohne jedoch in deren Gesellschaft die Abendstunden zuzubringen. [] Sie zog es vor, auf ihrem Zimmer, nur von Emma umgeben, die Mitternacht heranzuwachen.
Es befremdete die verwittwete Gräfin, daß von den Unterthanen eine verhältnißmäßig nur sehr geringe Anzahl im Schlosse erschien, um ihrem verblichenen Gebieter die letzte Ehre zu erweisen. Die Leibeigenen waren eigentlich dazu verpflichtet, indem es die Sitte im Hause Boberstein erheischte, daß der jedesmalige Erbe der Herrschaft den durch das Ableben ihres bisherigen Gebieters gleichsam Verwaisten mittelst Darreichung seiner Hand zum Kusse von Neuem Schutz verhieß und sie als rechtmäßig ererbte Unterthanen anerkannte. Am Katafalk seines Vaters war die Aufrechthaltung dieser Sitte für Magnus eine Unmöglichkeit; denn außer einigen zitternden Greisen, die längst keine Dienste mehr thun konnten und unter Seufzen und Beten dem Grabe zuwankten, befanden sich unter den Leibeigenen, die zur Leichenschau kamen, blos heulende Weiber und neugierig gaffende, in zerlumpten Kutten und Pelzen steckende Kinder.
Ueber solche Nichtachtung alter Gebräuche der jetzt ihm zugefallenen Leibeigenen war Magnus höchlichst empört. Er konnte nicht zwifeln, [] daß ihm allein diese Opposition gelte, daß die ehemaligen Unterthanen des Vaters seinen Schutz gar nicht begehren wollten. Deshalb beschloß er in stillem Grimme, der oft seine stechenden Augen unheimlich machte, unmittelbar nach der Bestattung sämmtliche Unterthanen auf das Schloß zu rufen und daselbst ein allgemeines Strafgericht über sie ergehen zu lassen. Worin dies bestehen sollte, darüber war er mit sich selbst noch nicht einig.
Noch vor neun Uhr waren Halle und Schloßhof von Zuschauern leer. Nur die wachehaltenden Diener standen am Sarge, in welchem Graf Erasmus der Ewigkeit entgegenschlief.
Da stieg Herta nochmals die geschnitzte Wendeltreppe hinab, beugte sich noch einmal über den Todten und küßte die kalten bläulichen Lippen. Am Sarge kniend und wieder heiße Gebete lallend, ließ sie ihren Thränen freien Lauf. Keiner von den Dienern störte die Trauernde in ihrem Schmerz. Sie traten schweigend zurück, selbst gerührt von der Andacht des schönen Mädchens, das mit wahrhafter Kindesliebe an dem Greise gehangen hatte. Wohl eine Viertelstunde mochte Herta geweint und gebetet haben, als [] sich über der Halle ein lebhaftes Hin- und Widergehen bemerklich machte. Dies weckte sie aus ihrer Versunkenheit. Die Thränen sich von den seidenen Wimpern trocknend, verließ sie den Katafalk und ging nach der Treppe. Hier kam ihr Emma eiligen Laufes entgegen, bleichen Schreck auf ihrem hübschen Gesichtchen.
»Was ist Dir, meine Liebe?« sagte Herta weich, die treue Dienerin umfassend.
»Ach gnädiges Fräulein,« versetzte die Zofe athemlos, »die Herrschaften sind recht bestürzt! Denken Sie, es ist ein großes Feuer in der Haide! Es muß ein ganzes Dorf brennen.«
»Beruhige Dich, mein Kind,« gab Herta zur Antwort, »ist es, wie Du sagst, so werden die Nachbarn gewiß herbeieilen und den Bedrängten beistehen. Auf welcher Seite ist der Brand?«
»Gegen Süden. Graf Magnus besorgt, es möge der Zeiselhof sein. Die gnädige Frau Gräfin kann ihn kaum zurückhalten! Sie will Boten absenden, um sichere Nachricht zu erhalten.«
»Laß uns sehen,« sagte Herta. »Von meinem Zim mer aus muß die Feuerstätte grade zu überschauen sein.«
[] Als die beiden Mädchen dieses erreichten, erlosch fast der Schein der Kerzen in der lichten Gluth, die durch die hohen schmalen Bogenfenster hereinschlug. Herta öffnete das Fenster und betrachtete Feuerschein und Zug des Rauches, der von ihm aufstieg. Der Anblick war eigenthümlich, voll schauerlichen Reizes. Ueber der schwarzen Linie der Haide hoben und senkten sich Wogen glänzender Flammen, die oft wie Riesenhände in den dunkeln Nachthimmel hineingriffen oder in zerstäubenden Garben, in brennenden Fontänen aufsprühten. Woge verdrängte Woge; es war, als bräche aus den fernen Bergen ein Meer von Gluth über die Ebene und wolle nun in bäumenden Sturzfluthen Feld und Haide vernichten. Ueber dem Flammenheerde aber lag eine blutrothe schwere Rauchwolke, die in wunderliche, phantastische Gestalten zerfahrend, langsam höher und immer höher in den Himmel hinaufwuchs und wie ein glühender Helmbusch sich über die Haide gegen das Schloß neigte. Der schwarze See in der Tiefe strahlte dies ergreifende Bild aus seinem stillen, leis rauschenden Spiegel drohend zurück. –
Geraume Zeit betrachtete Herta mit ruhigem [] Auge den furchtbaren Brand. Niemals hatte sie noch ein solches Schauspiel gesehen. Sie bebte vor der Majestät des entfesselten Elementes zurück und fühlte sich doch auch wieder von der Erhabenheit desselben angezogen und an's Fenster gefesselt.
Der Brand wuchs mit überraschender Schnelligkeit nach allen Seiten hin. Immer gewaltiger, immer wilder und lodernder sich überstürzend rang Woge mit Woge. Thurmhoch spritzten einzelne Feuerstrahlen aus der allgemeinen Fluth und schleuderten Millionen Leuchtkugeln in den blutigen Gischt, der sie auf seinen raschen Schwingen weit in die Ferne trug.
Herta bemerkte jetzt mit Entsetzen, daß solch ungeheurer Brand nicht durch ein in Flammen gerathenes Dorf entstanden sein könne. Auch war es nicht der Zeiselhof mit der umliegenden Ortschaft. Weit näher wütheten die Flammen und griffen mit Riesenarmen um sich. Das Prasseln, Knattern, Sausen und Donnern, das immer deutlicher hörbar ward, ließ sie erbleichend die Wahrheit erkennen. Sie wendete sich zu der zitternden Emma und sich auf deren Arm stützend, sagte sie:
[] »Gutes Kind, führe mich zu Tante Utta, damit ich mit ihr rede. Wir werden eine traurige, unruhige Nacht verleben, denn – die Haide brennt.«
»Die Haide!« schrie Emma entsetzt und entriß Herta den stützenden Arm. »Die Haide!« wiederholte sie matter, tonloser. »O Gott, und der Wind treibt Rauch und Flamme gerade auf's Schloß! – Wir wer den verbrennen müssen, wenn Gott nicht ein Wunder geschehen läßt!«
»Gott wird uns retten,« entgegnete vertrauensvoll das hart geprüfte Mädchen, indem sie ihres unglücklichen Vaters gedachte. Zugleich aber fühlte sie einen Stich in ihrem Herzen, als durchbohre es ein kaltes Eisen. Sie mußte sich gegen die rothflammende Wand lehnen, um neue Kraft zu schöpfen. »Mein Vater!« flüsterte sie vor sich hin. »Sollte dies das Zeichen sein, dessen er gedachte? Es wäre entsetzlich! – Mein Vater ein verbrecherischer Mordbrenner!–«
Indeß gab die herannahende Gefahr ihr schnell die nöthige Besonnenheit wieder. Sie ermannte sich und trat in die Zimmer der verwittweten Gräfin, um welche die trauernden Gäste sich mit den seltsamsten Gefühlen drängten.
[] Die Versammlung dieser reich geschmückten, in Sammet und Seide von tiefstem Schwarz gehüllten vornehmen Herren und Damen bot jetzt einen eigenthümlichen, fast Entsetzen einflößenden Anblick. Die schwarzen Gewänder, vom Schein der Flammen in blutiges Roth getaucht – Dieser in vollem Feuerstrom gebadet, Jener nur zur Hälfte von leuchtendem Strahl getroffen – dort eine ältliche Dame, deren abenteuerlicher Haarputz und Gesicht glühte, während der übrige Körper, von Vorstehenden gedeckt, schwarz und dunkel erschien – hier eine feurige Hand, die schlotternd von verkohltem Arme herabhing – und überall Gesichter voll Erwartung, Furcht, Entsetzen, mit der Ohnmacht eines schwachen Körpers ringend oder Flüche zwischen trotzigen Lippen zermalmend – die Augen vorspringend aus ihren Höhlen, glänzend von innerm Grauen und wie glühende Kugeln rollend im Dunst der rothen Lohe! – Der Vergleich mit einer Rathsversammlung höllischer Fürsten in den Prunkhallen ihres Meisters und Herrn lag so nahe, daß Herta bei ihrem Eintritt dieses schauerlichen Gedankens sich nicht erwehren konnte.
Am grellsten lag die Flamme auf Magnus [] der mit gekreuzten Armen neben seiner Mutter am Bogenfenster stand und mit unbeschreiblichem Ausdruck in die wirbelnde Gluth starrte. Das Auf- und Zugehen seiner Nasenflügel zeugte von der stürmischen Aufregung seines Innern.
Alle Leidtragenden machten ehrerbietig dem schönen Mädchen Platz, das so fest und würdig auf Utta zuschritt. Herta legte ihre Hand auf die Schulter der Tante. Diese wendete sich bei der Berührung um und begegnete mit Verwunderung dem braunen Auge ihrer Nichte. Mechanisch die Hand gegen das Fenster ausstreckend sagte sie:
»Das ist entsetzlich!«
»Der Anblick ist furchtbar, meine gütige Tante,« versetzte Herta sanft, »wenn jedoch schnell Anstalten zur Bewältigung des Feuers getroffen werden, dürfen wir nichts fürchten.«
»Thörichtes Mädchen,« warf Magnus ein, »was verstehst Du von Gefahr! Ich sage Dir, die Haide ist in Brand gerathen, ein lebhafter Südwind facht die Gluth an und binnen wenigen Stunden werden Hunderte Morgen Waldes in Asche sinken. Gegen Waldbrände vermögen Menschenhände nichts, da kann nur Gott helfen!«
[] »Gott!« wiederholte Herta dumpf und mit innerlichem Schauder. »Du wagst von Gott zu sprechen, auf Gott zu hoffen, und hast doch nie an ihn geglaubt, nie seine Gebote erfüllt! – Gott wird Dich in Deiner Noth verlassen!«
Magnus kehrte sein zürnendes und von innerer Wuth zuckendes Antlitz wieder dem Fenster zu. Das Feuer wuchs von Minute zu Minute. Schon sah man es durch die schwarze Wand der Haide wie goldene Früchte, die zur Erde fallen, schimmern. Als Schlangen von blendender Helle, bald roth glühend, bald weißlich wie glühender Stahl, bald blau, wie der zündende Funke des Blitzes; jetzt langsam am Boden fortkriechend, dann in kühnen wilden Sprüngen von Wipfel zu Wipfel hüpfend und nun in goldenen Ballen sich mitten durch das Gezweig fortwälzend: so zeigte sich der verzehrende Brand, der bereits eine Viertelstunde breit, in Form eines an der Spitze sich ausbreitenden Keiles grade gegen das Schloß vorrückte.
»Ha die Elenden!« fuhr Magnus auf und knirschte mit den Zähnen. »Jetzt weiß ich es, weshalb sie unterlassen haben, zur Leichenschau [] zu kommen. Die vermaledeiten Schurken haben mir die Haide angezündet, um mich zu ruiniren!«
An die Möglichkeit einer solchen That hatte bis jetzt von allen Versammelten noch nicht Einer gedacht. Jeder wähnte, ein unglücklicher Zufall habe den schrecklichen Brand entstehen lassen, die Flamme sei von Ungefähr durch Köhler in die Haide gekommen oder sonst auf andere Art. Deshalb entsetzten sich Alle vor dem Ausrufe des jungen Mannes und starrten einander noch verwunderter in die bestürzten Gesichter.
»Das wäre ja offener Aufstand,« sagte ein alter kontrakter Herr, der an zwei Krückenstöcken durch das Zimmer humpelte. »Wie mögen Sie an so etwas glauben, mein werther Herrr Vetter! Leibeigene sind zu dumm und zu feig, um so krasse Mittel anzuwenden, wenn ihnen der neue Gebieter nicht gefällt.«
»Meine theuern Anverwandten,« entgegnete Magnus, »geben wir uns allesammt keiner Täuschung hin. Wir sehen mit offenen Augen, mit Entsetzen im Herzen, daß die Haide in Flammen steht. Bleiben wir unthätig hier sitzen, so wird die Gluth auch uns erreichen. Selbst der See [] wird uns nicht schützen. Der Wind jagt die Flammen über die Thürme, er wird sie entzünden und über uns zusammenstürzen.«
»Quel horreur!« rief eine vornehme Gräfin, die so viel Ahnen zählte, als Deutschland Staaten, und drei und sechzig Jahre lang ein jungfräuliches Leben geführt hatte, »quel horreur, das wäre ja gegen allen Anstand!«
»Eben deshalb, meine Gnädige,« fiel ihr Magnus in die Rede, »lassen Sie uns keinen Anstand nehmen, auf unsere Sicherheit zu denken. Folgen Sie mir, meine Herren! Vereint mit unserer Dienerschaft werfen wir jenseits des See's einen Damm auf, damit die Flammen sich nicht am Boden weiter verbreiten können, und reichen Zeit und Kräfte aus, so schlagen wir auch Bäume nieder, so viel wir vermögen. Hundert Hände, und wir gebieten über mehr, können in der Stunde der Noth viel leisten. Die Damen werden sich inzwischen bemühen, unter Anleitung meiner würdigen Mutter die werthvollsten Familienpapiere und die Kostbarkeiten des Hauses Boberstein für den Fall einer unausbleiblichen Flucht bereit zu halten.«
Bei allen großen Fehlern und Lastern, die [] Magnus anklebten und ihm den tödtlichen Haß aller rechtlichen Unterthanen zugezogen hatten, besaß er doch Energie und jenen gebietenden Ernst, der allem Widerspruch mit einem Worte ein Ende macht. Die Noth drängte, die Wahrscheinlichkeit, daß Boberstein ein Raub dieser grauenvollen Feuersbrunst werden könne, lag vor Augen, und so entschloß sich denn der größere Theil der hochgeborenen ahnenreichen Trauergesellschaft, zu Hacke und Spaten zu greifen und gegen das verderbliche Element zu Felde zu ziehen.
Noch war der laut geäußerte Gedanke des jungen Grafen bloße Vermuthung, denn sichere Anzeigen von einer planmäßigen und voraus berechneten Ansteckung der Haide waren nicht vorhanden. Deshalb glaubten auch nur Wenige an einen Aufstand der Leibeigenen, die Meisten hofften am jenseitigen Ufer Köhler und Haidebauern zu treffen, die mit ihnen vereint das um sich greifende Feuer bekämpfen würden.
Zum namenlosen Entsetzen dieser Sorglosen loderte während ihrer Ueberfahrt auf ganz entgegengesetzter Seite eine neue gräßliche Feuersäule unfern des See's aus der dichtesten Haide auf. Zugleich vernahmen die erbleichenden Herren ein [] Geschrei, so wild, so anhaltend, so rachlustig, daß sie nicht länger an einem Aufstande zweifeln konnten. Den Dienern entsanken die Ruder und auch Magnus vergaß das Steuer zu lenken. Willenlos trieb die Barke auf dem leicht bewegten, wie schäumendes Blut dahin rollenden See.
Es war ein Augenblick, dessen Grausen sich nicht schildern läßt. – Von allen Seiten drohte Verderben, Tod, denn auch auf einem dritten Orte züngelten neue gräßliche Flammenbüschel empor, ergriffen die hin und her schwankenden harzgetränkten Wipfel der Tannen und setzten sie in helle Gluth. Die boshaften Feinde des Grafen, ihres Anschlages sicher, hatten den See umgangen und schürten das wilde Element mit wahnsinnigem Behagen, um das Grafengeschlecht mit allen Seitenverwandten auf einmal zu vertilgen. Denn wer mochte noch zweifeln, daß die Entmenschten den Tod ihrer Gebieter beabsichtigten, daß sie den qualvollen Flammentod über sie verhangen hatten!
Unter diesen Umständen wäre es Thorheit gewesen, erfolglos gegen ein Unabwendbares ankämpfen zu wollen. Sobald Magnus die neue Gefahr vollkommen bei sich erwogen hatte und [] nur in klug veranstalteter Flucht Rettung des Lebens erkannte, ließ er Barke und Fähre, die beide mit schwarz gekleideten Männern überfüllt waren, zurück an die Insel rudern. Der Haidebrand, der jetzt in ungeheurem Halbkreise wie eine weit geöffnete, sich mit grausamer Sicherheit langsam verengernde Zange um Haide, See und Burg legte, war schon so nahe gekommen, daß man die Hitze deutlich selbst in dieser Tiefe empfand. Die rothen Flammen bildeten eine blendende mehr als thurmhohe Mauer und ihre zuckenden Spitzen verschlangen sich in tausend und abertausend kühnen Ribben und bauten eine Flammenkuppel über Boberstein, durch deren dunstige Wölbung Millionen feuriger Sterne schossen. Zahllose dieser flackernden Brände fielen zischend nieder in den See oder stürzten prasselnd und wie Pulver knisternd und puffend auf die bemooste Schieferbedachung der alten Burg.
Als die erschrockenen Männer, von denen die Meisten völlig rathlos waren, wieder in die Gemächer der händeringenden und zu keinem Entschluß, zu keinem Geschäft fähigen Frauen traten, hatte sich die Scene völlig geändert. Die Haide brannte so weit, daß man den unermeßlichen [] Heerd der Flammen aus den Fenstern des Schlosses nicht mehr übersehen konnte. Die vermehrte Gluth und der heftig wehende Wind, der hartnäckig steif aus Süden blies, riß von den höchsten Bäumen ganze Wipfel ab und trug die furchtbar lodernden Kronen als schreckenerregende Christbäume weit durch die Luft. Ein einziger dieser von Rache und gerechter Nemesis angezündeter Leuchter auf die im heißen Athem der Haide bereits glühenden Zinnen der Burg geschleudert, mußte den Stammsitz der Boberstein rettungslos zerstören!
Von der nie gesehenen Großartigkeit dieses entsetzlichen Brandes gefesselt, starrten Alle wie verzaubert in den tosenden Flammenocean. Wind und Feuer heulten, als zöge das wilde Heer mit seiner höllischen Meute durch die erhitzte Luft. Das Krachen der niederstürzenden Bäume, das seltsame diamantenähnliche Glimmern riesenhoher alter Stämme mitten in der dunkelrothen, wirbelnden und zischenden Gluth, das Auffliegen der abgeschlagenen nadelbehangenen Aeste, die, vom Winde erfaßt, wie rothglühende Reiherfedern oft in ungeheuren Bogen fortgeführt wurden; dann wieder das Kämpfen und Auf- und Niedersteigen [] ganzer Schwärme in Brand gerathener Waldkräuter und dürren Reisigs, die Wind und Flamme zugleich aufjagten und die nun einem Heere purpurbeschwingter Vögel glichen, welche in wunderbaren Flugfiguren sich haschen und ergetzen, und endlich das ununterbrochene Zusammenbrechen lodernder Stämme, das zahllose Aufwirbeln breiter leuchtender Funkensäulen, die einige Zeit lang in furchtbarer Pracht höher und immer höher wuchsen, zu Kapitälen von wunderbarer Arbeit sich erweiterten und nun das glühende Himmelsgewölbe mit seiner irrenden, jetzt entstehenden, jetzt wieder verlöschenden Sternensaat zu tragen schienen: dies Alles war wohl geeignet, selbst die größte Todesgefahr auf Secunden vergessen zu machen und die unglücklichen Bewohner des dem Untergange geweihten Schlosses in die dämonischen Kreise seiner Zauber fest zu bannen.
Vergeblich strengte Herta ihre Augen an, um einen nahenden Retter auf dem blutigen Spiegel des See's zu entdecken. Minute verging nach Minute und Niemand erschien, keines Menschen Stimme ließ sich hören. Es war, als sei alles Leben erstorben und nur die blinde Macht des wilden entfesselten Elementes herrsche und drohe [] rund umher Alles in die wüste Nacht des Chaos zurückzustürzen! –
Aus dieser allgemeinen an Bezauberung grenzenden Lethargie erweckte die entsetzten Gefangenen der Ruf eines hereinstürzenden Dieners, welcher händeringend verkündigte, daß die Burg in Brand gerathen sei! Dies gab Allen Leben und Besonnenheit einigermaßen wieder. Die Meisten stürzten nach dem Vorgemach, aus dessen in den Schloßhof gehenden Fenstern sie von dem linken äußersten Eckthurme das rothe Brandbanner flattern sahen. Das Feuer griff schnell um sich. Das Dach der ganzen einen Flanke stand binnen wenigen Minuten in vollen Flammen. –
Nun dachte Jeder nur auf seine Rettung. Alles rannte schreiend und fluchend durcheinander und stürzte dem Schloßthore zu, um den See zu erreichen. Noch war die Möglichkeit der Rettung vorhanden, denn im Nordost bildete die Haide eine schmale sumpfige Wiese, die ziemlich tief in den Wald hineinlief und von einem wasserreichen Bache durchströmt ward. Auf dieser Seite war die Haide bis jetzt noch unversehrt, nur erstickender Rauch hüllte sie in glühenden Dunst. Es galt über den See zu setzen, ohne [] von den Flammen lebensgefährlich beschädigt zu werden, und dann in schnellstem Laufe den Schutz der Wiese und durch sie die Freiheit zu gewinnen.
Auch Magnus entschloß sich, obschon mit Widerstreben, zu diesem Aeußersten. Ehe er jedoch Anstalt zur Flucht machte, ließ er einen Blick auf Herta fallen, der eine Welt von Fragen enthielt. Er erfaßte die Hand seiner zitternden Cousine und flüsterte ihr zu:
»Herta, der Himmel selbst und sein Zorn will uns vereinigen. Siehst Du nicht ein, daß ich es bin, den er auserwählt hat zu Deinem Retter? Auf meinen Armen werde ich Dich durch die Flammen tragen und mir Dich gewinnen. Dem kannst Du nicht mehr zürnen, der Dich aus der Hölle erlöste, der mit seinem Munde die Feuerfluthen von Deinem erbleichenden Wangen abhielt!«
Doch Herta schüttelte nur traurig ihr schönes Haupt und kehrte sich von dem unermüdlichen Verführer.
»Gott wird mich schirmen,« versetzte sie, »wenn es sein Wille ist, daß ich dieser Gefahr entrinnen soll. Retten Sie Ihre Mutter, ich bedarf Ihrer Hilfe nicht.«
[] Sie verließ mit Emma das Zimmer, um nochmals ihre stille, so heimliche durch Freud' und Schmerz ihr unvergeßliche Wohnung zu betreten. Da hörte sie das Klirren der Messingkette am Fenster und sah das kluge zierliche Köpfchen des muntern Eichhörnchens unruhig daran hin und wieder fahren.
»Armes, kleines Ding,« sagte sie, »Du sollst gleiches Schicksal mit mir theilen.«
Darauf öffnete sie den Schieber, nestelte die Kette los und ließ es geschehen, daß das niedliche Thier schnuppernd und sein Köpfchen furchtsam in den weiten Bauschen ihres Trauerkleides verbergend, auf ihre Schulter hüpfte.
»Emma,« sagte sie mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Trauer und Niedergeschlagenheit, »der Fremde von gestern hat nicht Wort gehalten und doch nannte er sich meinen Vater! Ich unglückliches, verlassenes, von Allen verstoßenes Kind!«
»Kommt!« schrie Magnus mit Donnerstimme durch die sich weit öffnende Thür. »Schon brennt mehr als die Hälfte des Schlosses, die geringste Verzögerung muß uns unfehlbar einen grauenvollen Tod bringen!«
[] Entschlossen, wie er es im Augenblick der Entscheidung stets war, schritt er auf Herta zu, umschlang sie trotz ihrer Versuche, sich ihm zu entwinden, mit beiden Armen, hob sie empor und trug sie wie ein Kind fast laufend die Wendeltreppe hinab, durch die schwarz ausgeschlagene Halle in den feuererfüllten Schloßhof. Die Leiche des Grafen auf dem stolzen Paradebett, die matt brennenden Kerzen auf den hohen silbernen Kandelabern und der rothe Glanz des Feuers, der auf den schwarzen Wänden lag und auf dem regungslosen Antlitz des Todten glitzernd spielte, machte einen unaussprechlichen Eindruck selbst auf den verhärteten Magnus. Allein es war nicht an der Zeit, jetzt Betrachtungen anzustellen. Die mit jeder Secunde sich verdoppelnde Gefahr drängte zu schnellster Eile.
Schon hatten alle Bewohner das Schloß verlassen, selbst der alte Kastellan war geflohen. Der Letzte schritt Magnus mit der schönen Last auf seinen Armen, vor ihm her die schlanke Emma, über den von lodernden Bränden dicht besäten Schloßhof. Die Luft war erstickend heiß, von Millionen Atomen glimmender Tannennadeln erfüllt, die wie ein dichter Regen niederfielen. [] Dazu qualmte und wirbelte der Rauch aus der Haide in undurchdringlichen Wolken über Schloß und See und verhüllte alle Gegenstände mit demselben schmutzig rothen Gewande.
Unter der Thorwölbung erwarteten ihn Utta mit einigen Dienern und Frauen. Schweigend stiegen Alle den Felsenpfad hinab zum See, aus dessen brodelndem Feuernebel verworrene Stimmen erklangen, verbunden mit dem Rauschen der Ruder, die mit gewaltigen Schlägen die Wogen theilten. Dann hörte man wieder ein entsetzliches Aufkreischen, ein sprühendes Zischen, sah die Welle in blutigem Strahle aufspritzen und den Qualm der brennenden Haide Alles wieder verhüllen. Ganz fern, weit im Walde stieg manchmal ein brüllendes Geschrei auf, als ob Tausende auf einmal zu gemeinsamem Ruf sich vereinigten. Vor diesem Geschrei erbebte Magnus; er glaubte den Jubelruf der Wenden darin zu erkennen, die sein Geschlecht auszurotten gedachten. –
Ohne bedeutende Beschädigung setzten die letzten Flüchtlinge über den See. Mit Schaudern nur stießen sie zuweilen beim Rudern an schwimmende Leichen, die in ihrer schwarzen Tracht mit den bleichen verzerrten Gesichtern [] einen entsetzlichen Anblick darboten. Ein glühender Ast, deren viele in den See niederstürzten, mußte einen der Kähne zerschmettert haben, auf welchen die Trauergäste flohen. –
Als Magnus mit seiner Umgebung das feste Haideland betrat, stand Boberstein in vollem Brande. Die stolzen vier Eckthürme schossen ihre gelben Flammen wie Riesenschwerter weit über die dunklere Gluth der übrigen Häusermasse empor und verscheuchten die Rauchwirbel, welche von der Haide in immer sich erneuernden Wogen darüber zogen. – Die Lichtung, welche die Wiese bildete, war noch dunkel, aber schnell rückten von beiden Seiten die Flammen heran. Muthig betrat Magnus den Rettungspfad, die Frauen vorsichtig über die sumpfigen Stellen leitend. Man konnte immer nur wenige Schritte weit sehen, auch mußte man häufig rasten, theils um den Frauen Zeit zu gönnen, theils, weil ein Brand mit wildem Getöse in unmittelbarer Nähe niederstürzte und weithin Funken und Splitter verstreute.
Glücklicherweise war auf dieser Seite das Feuer noch nicht weit vorgeschritten. Auch jagte der Wind die Flammen mehr seitwärts oder ließ [] solche Stellen, wo die Waldung dünn war, fast ganz unversehrt. Dies gestattete den Flüchtlingen schnelles Vorwärtsdringen. Und war nur erst der todtdrohende Flammengürtel überschritten, so durfte man auf Rettung hoffen. Nur das fortwährende und jetzt immer näher kommende Gebrüll ängstigte den Grafen, da er kein Mittel sah, dem Racheschwarm der Wenden auszuweichen. Er mußte dem Zufall und dem Schutz des dichten Rauches vertrauen, der Erd' und Himmel gleichmäßig bedeckte.
Herta's körperlicher Zustand gestattete ihr keine große Anstrengung. Sie ermattete bald und sank kraftlos zusammen. Magnus hob sie wieder auf seine Arme und das hilflose Mädchen mußte es geschehen lassen. So gewannen denn die Flüchtlinge ohne Hinderniß das von den Flammen noch unberührte, hier nur dürftig bewachsene Haideland. Schon glaubte Magnus das Schwerste überstanden zu haben und bald eine sichere Zuflucht zu finden, als er plötzlich aus dem finster strudelnden Qualme dunkle Gestalten auftauchen, ihn umstellen und mit dem Jubelrufe: »der Graf! Graf Blauhut!« auf sich eindringen sah.
[] Anfangs glaubte Magnus mit den Seinigen entschlüpfen zu können, da aber die kühnen Wegelagerer mehr als er an jede Unbill des Wetters, an Kälte, Gluth und Dampf gewöhnt waren und ihre Zahl mit jedem Augenblicke sich mehrte, sah er bald die Unmöglichkeit glücklicher Flucht ein. Er wollte eben Vergleichsvorschläge machen, als aus der sich verdichtenden Schaar der gebräunten, trotzig blickenden Männer eine stolze Gestalt auf ihn zuschritt.
»Vater, mein Vater, errette mich!« rief Herta und streckte dem als Förster gekleideten Fremden beide Arme flehend entgegen.
Es war Johanes, der Fürst der Haide, der inmitten seiner Genossen und umgeben von einem Heer Leibeigener diese einzige freie und noch zugängliche Stelle des Waldes besetzt hielt. Das überaus schnelle Umsichgreifen der Flammen hatte ihn verhindert, die Tochter persönlich von Boberstein abzuholen. Seine Gegenwart, seine Umsicht, seine Anordnungen waren nöthig, um nicht die ganze Haide ein Raub der wild verzehrenden Gluthen werden zu lassen. Da er den Muth seines Feindes kannte, durfte er erwarten, daß der Graf im Drange des Augenblickes [] sein Schloß verlassen und diejenigen um sich versammeln werde, an die ihn Neigung und Verwandtschaft fesselten.
Bei Herta's Ausrufe erbleichte Magnus vor Zorn, da er jetzt einsah, daß seine trotzige Cousine in naher Verbindung und unmittelbarem Verkehr mit diesen Waldbrüdern gestanden haben müsse.
»Vater?« wiederholte er verächtlich. »Seit wann sucht meine schöne Cousine ihre Aeltern unter Verbrechern?«
»Seit dem Tage,« erwiederte Johannes stolz, »wo Ihr würdiger Herr Vater den Geliebten seiner edlen Schwester von Knechtshänden aus Boberstein werfen ließ.«
Magnus starrte den Räuber mit wahnsinnigem Auge an. »Johannes,« stammelte er, »Johannes am Leben und ein Sohn des Waldes? Das wäre entsetzlich!«
»Nicht entsetzlicher, als wenn ein Graf schuldlose Jungfrauen überfällt und sich und die Menschheit entehrt! – Blicken Sie hinter sich, Herr Graf! Die Gerechtigkeit des ewigen Gottes ist es, die Ihrem Vater diese Leichenfackel angezündet hat. – Es sind lange lange Jahre [] vergangen und nie schlug die Stunde würdiger Vergeltung, heut endlich, wo das Maß Ihrer Sünden überschäumte, heut ist sie gekommen, und nicht ich allein, dem Sie wie ein verworfener Bube das Kind innigster Seelenverwandtschaft entehrt haben, nein, die Gesammtheit Ihrer Unterthanen, die Sie zu schützen von der Vorsehung berufen waren, und die Sie mit Füßen traten, sie Alle haben sich gemeinsam wie ein einziger Mann erhoben. Dies arme gemißhandelte und verachtete Volk ist aber mild auch in seinem Richteramt. Es will Sie nicht vernichten, nicht langsam zu Tode quälen, sondern blos an Ihr eingeschläfertes Gewissen klopfen und in die dunkeln Falten Ihrer Seele mit der entflammten Fackel der Vergeltung hineinleuchten! – Mir und der milden Gesinnung Ihrer Unterthanen haben Sie es zu verdanken, daß nichts Härteres über Sie verhängt worden ist. Gehen Sie jetzt, wohin Sie wollen, es wird Sie Niemand hindern. Nur mein Kind fordere ich von Ihnen zurück.«
Während Johannes sprach, hatte Magnus sich vollkommen gesammelt.
»Zurück, Elender!« rief er jetzt dem Räuber [] zu. »Danke Gott und meiner Gnade, wenn ich Dich nicht kennen will, Du würdest sonst dem wohlverdienten Tode am Galgen nicht entgehen!«
Er wollte vorwärts eilen, denn noch immer griff das Feuer um sich und glühende Funken fielen in großer Menge zu Boden. Da riß Johannes seinen Hirschfänger aus der Scheide und die ihm zunächst Stehenden schlugen die Büchsen auf Magnus an.
»Mein Kind!« sagte der Räuber barsch und doch mit einem Tone, in dem unwillkürlich eine flehende Bitte weich verhallte. »Mein Kind oder Du und die Deinen fallen durch meine Hand und die Gluth der Haide verzehrt Eure Gebeine!«
Magnus' Trotz war noch nicht gebrochen. Von Neuem umschlang er Herta, die sich vergebens sträubte. Wie zum Hohne griff er mit roher Faust in ihr wallendes Lockenhaar, um sie hinter sich her zu schleifen und der Macht die auftobende Brutalität der Leidenschaft entgegenzusetzen. Allein eben so rasch war er umringt und die Hand eines Mannes, dessen Gegenwart er vor Allem fürchtete, lag, wie die Tatze eines Tigers, an seiner Kehle.
[] »Blauhut,« raunte ihm der Mann zu, »kennst Du den Maulwurffänger und das Erlengebüsch, wo Dich ein junges Weib um Erbarmen flehte? Du hattest kein Mitleid mit der Armen, Du wußtest nur Mittel zu finden, die Bittende zum Schweigen zu bringen. Erinnere Dich dessen und wisse, daß der Maulwurffänger Zeuge Deiner Thaten war!«
Der Graf keuchte unter den eisernen Fingern des wüthenden Landmannes. Herta entwand sich ihm und eilte in die offenen Arme ihres Vaters.
»Nehmt sie hin,« stotterte er, »und seid verflucht!«
»Sei Du verflucht, schamloser Ehrenschänder!« klang eine andere nicht minder furchtbare Stimme in das Ohr des Grafen. Er schlug die vom beizenden Rauch wunden Augen auf und erkannte die riesige Gestalt Sloboda's. »Ja, sei verflucht,« wiederholte der Wende, »sei verflucht, bis Du in Dich gehst und Reue, qualvolle Reue jede Secunde Deines Lebens vergiftet! Sei verflucht, bis die Geister derer, die Du in Elend, Schande, Wahnsinn und Tod gejagt, vor Dir aufsteigen und durch gemeinsames Gebet die [] zahllosen Verbrechen, die Du begangen hast, von Deinem Haupte nehmen.«
»Sei ewig verflucht!« hallte es tausendstimmig von dem tobenden Schwarm der Leibeigenen wieder, die mit Knütteln, Sensen und andern Werkzeugen im sausend niederprasselnden Feuerregen diesem entsetzlichen Auftritt beiwohnten und ihm zur wahrhaft höllischen Staffage dienten.
Da sank Magnus doch der Muth! Er fühlte schaudernd, wenigstens auf Minuten, daß ein Gottesgericht über ihn hereingebrochen sei, und wie ein Verbrecher, der es nicht wagt, den sündigen Blick zum reinen Himmel aufschlagen zu dürfen, winkte er mit der Hand und schlich, wie bei den Römern die besiegten Feinde durchs Joch, gebückten Hauptes durch die Schaar seiner Leibeigenen, die eine schmale Gasse öffneten und den Gerichteten unangetastet, nur Verwünschungen über ihn ausstoßend, in die freie Haide entließen. Erst einige hundert Schritt hinter dem zürnenden Volk traf er mit den Seinigen wieder zusammen, von denen es Keiner, Utta nicht ausgenommen, für rathsam erachtet hatte, in der drohendsten Gefahr dem allgemein Verhaßten beizustehen oder mit ihm zu unterliegen. In ihrer Mitte verschwand [] der Geächtete im rollenden Dampf der Flammen. –
Johannes hatte seinen Zweck erreicht. Magnus war bestraft, vertrieben, die Burg seiner Väter sank in Staub und Asche, und Herta, sein geliebtes Kind, das Vermächtniß der unglücklichen Eugenie, war ihm wiedergegeben! – Es blieb jetzt nichts mehr zu thun übrig, als dem noch verderblicheren Umsichgreifen der Flammen zu steuern. Auf sein Geheiß war man schon beim Entzünden der Haide darauf bedacht gewesen. Bei weitem der größte Theil der Wenden hatte ringsum in ziemlicher Entfernung vom See an Stellen, wo die Waldung nicht durch Holzschläge oder unbebaute Stellen begrenzt war, Erdwälle aufwerfen und Bäume niederschlagen müssen, und so bedurfte es jetzt nur noch gehöriger Aufsicht, um die Flammen an weiterem Vordringen zu hindern. Eine Anzahl seiner eigenen Leute nebst einigen Wenden wurden überall hin vertheilt, so weit die Gluth sich erstreckte, die Uebrigen nebst Sloboda und dem Maulwurffänger brachen nach der Waldblöße auf, wo sie die wendischen Frauen und Mädchen ihrer harrend wußten.
Zwei Stunden nach Mitternacht erreichten [] sie die »Streu«, wie diese Blöße genannt wurde, schauerlich von den Flammen der Haide und der Gluth des in den Himmel hinaufwallenden Rauches erleuchtet. Wie Geister auf Grabmälern saßen die erschrockenen Wendinnen in weitem Kreise, bewacht von den Vertrauten des Räubers, die ebenfalls ihre Blicke in stillem Entsetzen auf den gräßlichen Brand hefteten, dessen breite Schwertlohen häufig aus der blutigen Woge, die über dem Saum der Bäume lag aufblitzten und dann eine furchtbare Helle weithin verbreiteten.
Hier sah Herta ihr geliebtes Haideröschen wieder und beide gleich Unglückliche sanken einander schluchzend in die Arme. Sie hatten keine Worte für ihr unendliches Weh, nur ihre Thränen, ihre Blicke, ihre Küsse und Händedrücke sprachen. –
Johannes gönnte den Ermatteten ein paar Ruhestunden. Erst gegen Morgen, nachdem ein die Erde weithin erschütternder Donner durch die Haide gerollt und eine breite Feuersäule zu unermeßlicher Höhe emporgestiegen war, Zeichen, welche den gänzlichen Einsturz des Schlosses Boberstein verkündigten, gab er Befehl zum Aufbruch. [] Die Leiche des Grafen Erasmus fand ihre Grabstätte unter den glühenden Trümmern der zerstörten Burg und nie, auch nicht bei dem spätern Aufbaue, ward eine Spur von dem Verschütteten wieder gefunden. Grade die Schloßhalle mit den darunter befindlichen Gewölben war von den Flammen bis zur Unkenntlichkeit zerstört worden. –
Noch war es Nacht, als Sloboda von Johannes und dessen Tochter, von Clemens, Ehrhold, dem Maulwurffänger, Röschen und einigen andern Wenden begleitet, seinen Wohnort erreichte. Am Horizont rollten gleich einem blutigen See die Wogen der Flammen und erleuchteten viele Meilen weit die gleichförmigen Haidestrecken und die in denselben zerstreut liegen den Dörfer und Höfe. Durch Zufall betraten die vom Rachewerk Zurückkehrenden den stillen Ort auf der Stelle, wo das Gemeindehaus lag. Sloboda gedachte seines armen Sohnes und blickte auf die baufällige Hütte. Da sah er – und eisiges Frösteln durchrieselte seine Gebeine – in der fehlenden Fensterlücke das bleiche, immer lächelnde Antlitz Nathanaels mit den blödsinnig stieren Glasaugen! Der Wahnsinnige starrte [] unverwandt in die fürchterliche Gluth und schien sich an dem Wogen und Wallen der Flammen, an dem Auflodern und Zusammenstürzen der unermeßlichen Rauchwolken ungemein zu ergetzen.
Sloboda blieb stehen und deutete auf das niedrige Fenster mit der stieren lächelnden Gesichtslarve.
»Das ist mein Sohn,« sagte er vor Schmerz und Schaudern bebend, indem er die Hand des Räubers faßte. »Auch die Seele dieses Armen liegt vor Gottes heiligem Throne und verklagt den Grafen!«
»Ha, ha, ha!« lachte Nathanael, der jetzt durch seines Vaters Stimme aus seinem Geistesschlummer erweckt, die Vorübergehenden gewahrte. »Ihr kommt wohl vom Leichenbegängniß? Das war ein prächtiger Fackelzug, wie ich ihn mein Lebtage nie gesehen habe! Jetzt sind die Todtengräber dabei. Seht nur, wie lustig sie das Grab über ihn thürmen!«
Und wieder preßte er das Gesicht fest in die Lücke und starrte lautlos in die dunkler werdende Lohe. –
Erschüttert zogen die Wenden vorüber. – – –
Die Schreckenskunde von diesem beispiellosen[] Haidebrande, der erst nach vierzehn Tagen in sich selbst erlosch, und von dem Schicksale, welches dabei die Familie Boberstein betroffen hatte, verbreitete sich schnell in die Nähe und Ferne. Graf Magnus mit den Seinigen war entflohen. Er kehrte lange Zeit nicht zurück, da er einen neuen Angriff auf sein Leben fürchtete. Man wußte jedoch, daß er durch geschickte Spione die Stimmung der Wenden erforschen ließ und außerdem entschiedene Maßregeln zu Verwaltung seiner unverwüsteten Besitzungen getroffen hatte. Die ihm zugehenden Berichte lauteten besser, als er hoffen durfte. Die Wenden waren still und friedlich zu ihren täglichen Beschäftigungen zurückgekehrt, bis auf Wenige, die es für ihre Sicherheit nöthig erachteten, die Heimath gänzlich zu verlassen. Zu diesen gehörte Sloboda mit Clemens und Haideröschen. Sie verschwanden eines Tages, ohne daß Jemand mit Bestimmtheit sagen konnte, wohin sie sich gewendet hatten. Nur der blödsinnige Nathanael blieb zurück und sah vor wie nach durch die Fensterscheibe viele, viele Jahre lang, ohne Wunsch, ohne Hoffnung, ohne Gedanken! –
Mit diesen drei Wenden verscholl auch Herta. [] Sie war mit ihrem Vater in die tiefste Haideeinsamkeit gezogen und später, als Johannes sein räuberisches Handwerk aufgab, gleich diesem dem Gedächtniß der Menschen entschwunden. Von Haideröschen wollte man wissen, daß sie unterwegs auf ihrer Flucht von einem Mädchen entbunden worden sei, das jedoch bald nach der Geburt gestorben sein sollte. Wie Alles, was nicht immer durch frische Farben neu belebt wild, vergaß das Volk in Kurzem die Ausgewanderten sammt ihrem Schicksale. Magnus kehrte inzwischen zurück, nachdem er sich im Auslande mit einer reichen Erbin verheirathet hatte, und lebte abwechselnd auf seinen Gütern und auf größeren Reisen. Dadurch kamen seine Vermögensumstände immer tiefer in Verfall, so daß er nur durch Aufnahme großer Kapitalien und durch Veräußerung einzelner Besitzungen standesmäßig leben konnte. Seine Gattin, mit der er in sehr unglücklicher Ehe lebte, gebar ihm drei Söhne, denen nach seinem Tode das, was von der großen Herrschaft Boberstein übrig geblieben war als Erbe zu gleichen Theilen zufiel. – –
[] Hier endigten Sloboda und Heinrich ihre Mittheilungen an den Grafen Adrian. Dieser hatte anscheinend mit großer Aufmerksamkeit, aber nicht mit dem geringsten Zeichen von Ausregung den Erzählungen beider Männer zugehört. Jetzt stand er mit feinem Lächeln auf, dankte den Greisen für ihre Mühe und wünschte ihnen glückliche Reise.
Beide stutzten und maßen den ironisch- höflichen Grafen mit großen Blicken.
»In der That, meine Lieben, ich danke Ihnen recht sehr,« wiederholte Adrian. Sie haben sich angestrengt, um mir Aufschlüsse über meine Familie zu geben, wie ich dies von Fremden nicht erwarten durfte. »Leben Sie wohl!«
»Aber mein Herr Graf,« unterbrach ihn Sloboda, »Sie scheinen ganz zu vergessen, daß wir die Vergangenheit lebendig vor Ihnen werden ließen, um Sie zu überzeugen –«
»Wovon, mein guter Alter?«
»Von der Rechtmäßigkeit meiner Ansprüche auf den fünften Theil der ehemaligen Besitzungen des Grafen Magnus.«
»Sagten Sie nicht, daß Haideröschens Kind gestorben sei?«
[] »Die Bäuerin, der es meine Tochter übergab, während ich nach Polen vorauseilte, behauptete es und ließ es, da Haideröschen in Folge der vielen Strapazen und heftigen Gemüthsaufregungen in eine schwere Krankheit verfallen war, in der Stille beerdigen.«
»Es sind also keine Erben da?«
»Doch, mein Herr Graf,« fiel der Maulwurffänger ein. »Ein Sohn Haideröschens lebt.«
»Ein Sohn von Clemens?«
»Von dem Gatten meiner Tochter,« sagte Sloboda.
»Lieber Alter,« versetzte Adrian, »dann gebe ich Euch den guten Rath, vererbt ihm das Besitzthum seiner leichtfertigen Mutter und gebt ihm meinetwegen noch das Stückchen Papier mit in den Kauf, mit dem ihr armen Schwachsinnigen so große Wunder bewirken zu können glaubt. Dieser alte Fetzen ist keinen Heller werth. Jeder Advocat wird Euch das sagen.«
»Sie scherzen, Herr Graf!«
»Ich scherze nie! Nochmals, glückliche Reise!«
»Graf Adrian,« nahm der Maulwurffänger abermals das Wort, »halten Sie unsere Erzählung für ein Mährchen?«
[] »Bittet, daß ich dies thue,« erwiederte ernst und düster der Graf und sein Gesicht glich auffallend dem seines Vaters, »sonst dürftet Ihr entweder in die Irrenanstalt oder in das Zuchthaus wandern!«
»Herr Graf!« rief Heinrich und stützte sich trotzig auf seinen Stab.
»Es ist, wie ich sage,« fuhr Adrian fort. »Ihr seid Betrüger oder Verbrecher. Vor Beiden schützen mich die Gesetze des Staates. Aber ich will annehmen, daß Ihr mich mit lustigen Geschichten habt unterhalten wollen.«
»Bedenken Sie, was Sie thun!«
»Bedenket Ihr, was Ihr wagt!«
»Wir klagen, Herr Graf,« sagte Sloboda.
»Wie es Euch beliebt.«
»Wir ziehen die Schandthaten Ihrer Ahnherrn an's Licht,« drohte Heinrich.
»Dabei kann die Particulargeschichte nur gewinnen, wenn ich es nicht vorziehe, Euch zuvor als freche Betrüger einsperren zu lassen!«
»Dann zittern Sie vor den Geistern, die diesen Felsen umschweben!« rief der Maulwurffänger. »Zittern Sie, wenn ich sie anrufe und Todte erwecke, damit sie Zeugniß ablegen; zittern [] Sie, rufe ich Ihnen zu, oder reichen Sie uns die Hand zum friedlichen Vergleiche!«
Adrian öffnete die Thür und rief einige Diener herbei.
»Begleitet diese Herren bis auf die Fähre,« befahl er trocken, »sorgt, daß sie unter Bedeckung durch den Wald gebracht werden und benachrichtigt mich davon, sobald es geschehen ist.«
Diese Befehle des reichen Mannes wurden pünktlich vollzogen. Die beiden Greise mußten mit stillem Ingrimme die Insel verlassen. Adrian aber setzte sich unmittelbar nach der Entfernung so unwillkommener Gäste hin und theilte das Vorgefallene seinen beiden Brüdern mit.
»Man muß sich vorsehen,« sagte er, als er die Briefe siegelte. »Leute, die solche Drohungen wagen, haben in der Regel heimliche Hinterhalte, die sie erst später benutzen. Schützen wir uns, ehe der Kampf beginnt.«
Ende des zweiten Theils.
Dritter Teil
Fünftes Buch
Erstes Kapitel.
Aurel.
Die Versammlung der Kaufleute an der Hamburger Börse war ungemein zahlreich. Kopf an Kopf gedrängt bildeten die verschiedenen Bestandtheile der Börsenmänner eine feste auf- und niederwogende Masse. Als sich die Welthandelsherren endlich trennten, ergoß sich ein breiter, lebhaft sprechender Menschenstrom in die nächsten Straßen. Besonders laut waren die Schiffskapitäne, die außerhalb der Schranken der eigentlichen Börse, auf dem Platze vor dem Rathhause, zu vielen Hunderten sich drängten. Sie waren leicht von Kaufleuten und Mäklern zu unterscheiden durch ihre fast ganz gleiche Tracht die aus kurzen, um die Hüften eng anschließenden Jacken von feinem blauen Tuch und Beinkleidern [] von demselben Stoffe bestand. Aus der linken Seitentasche der Jacke hing bei den meisten der Zipfel eines feinen buntseidenen Foulards.
Beide Hände in den Taschen seiner Jacke schlenderte getrennt von der auseinanderstäubenden Menge ein schlanker junger Mann über den Neeß, durch die kleine Johannisgasse nach der Straße, die damals noch den Namen »hinter dem breiten Giebel« führte. Das lebhafte, scharfe Auge, der wiegende Gang, der muntere, ja leichtfertige Ausdruck seines Gesichtes verriethen den genußsüchtigen Weltmann, der es versteht, die Sorgen des Lebens mit keckem Ruck von sich zu schütteln. An den Häuserreihen angekommen, die nach dem alten Jungfernstiege führten, ward er durch einige junge Mädchen aufgehalten, die ihm mit zierlich gebundenen Sträußchen den Weg vertraten und mit lieblichen klaren Stimmen um Kauf derselben baten. Die niedrigen breitrandigen Strohhüte mit den abwärts gebogenen Krempen ließen in den hübschen schlanken Kindern die Vierländerinnen nicht verkennen. –
Der junge Kapitän, keineswegs gleichgiltig gegen Jugend, Schönheit und flehende Mädchenstimmen,[] blieb stehen und überlief mit blitzendem Auge die vier Mädchen, die alle mit lächelnden Gesichtern ihre auf lange Holzstiele gebundenen Sträußer ihm vorhielten. Auf der schönsten der Vierländerinnen ließ er wohlgefällig seine Blicke ruhen. Die Schöne lachte ihn mit ihren großen dunkelblauen Augen noch freundlicher an als zuvor und wiederholte ihre Bitte, den schönsten ihrer Sträuße nach allen Seiten wendend, um seine Vorzüge ins beste Licht zu stellen.
»Wie heißt Du, mein Kind?« fragte der Kapitän.
»Dörte,« erwiederte das Mädchen, ein paar Reihen der prächtigsten Zähne unter den kurzen vollen Lippen zeigend, auf denen die Sonnenfunken eines immerwährenden Lächelns flimmerten.
»Was verdienst Du mit dem Blumenhandel?« fragte der Kapitän weiter, während er auch den andern drei Mädchen, die sich wieder zurückgezogen hatten und traulich neben einander an der Häuserreihe standen, um neue Käufer abzuwarten und vorübergehende junge Herren anzurufen, seine prüfende Aufmerksamkeit zu Theil werden ließ.
»Gnädiger Herr,« versetzte die schöne Vierländerin, [] »ich brauche nicht viel und da bin ich immer zufrieden mit dem, was ich einnehme. Die jungen Herren sind immer gütig gegen mich.«
»Das heißt, mein Kind?« fragte der Kapitän und faßte das Mädchen sanft am Kinn, ihr recht warm und tief in die dunkelblauflammenden Augen sehend. Dörte schlug ihn leicht auf die Hand und trat einen Schritt zurück.
»Ei, sie sind artiger, wie Sie! Sie fragen nicht, sondern nehmen ein Sträußchen und geben mir dafür, was ihnen in die Hände kommt. Wem ich gefalle, der beschenkt mich reichlich.«
Die beredte Blumenverkäuferin gefiel dem Kapitän. Er hatte es gern, wenn junge Mädchen recht ungenirt scherzten, und zog solche den schüchternen prüden Gänschen jederzeit vor, wie sie leider nur zu häufig auf den Divans der Gesellschaftssäle angetroffen wer den.
»Bist Du täglich hier, Dörte?« fragte er weiter, das dargebotene Sträußchen aus ihrer Hand nehmend und einen Vierschilling dafür hineinschiebend. Dörte machte einen Knicks und sagte schelmisch:
[] »Alle Tage, wenn der gnädige Herr befehlen.«
»Und wo wohnst Du?«
»Wo es mir gefällt.«
»Für gewöhnlich, kleiner Schelm?«
»Nun hier!« erwiederte Dörte, als wundere sie sich über so curiose Fragen. »Sie sehen ja, daß die Sonne ganz prächtig auf diese Bank hier scheint und daß die Ladendächer ein Schutz gegen Wind und Regen sind.«
»Und des Nachts, lustige Finke?«
»Da bin ich mit meinen Gefährtinnen zusammen.«
»Ich verspreche Dir täglich eine Mark, wenn Du mir, so oft Du kannst, einen recht ausgesuchten Blumenstrauß in mein Logis bringen willst,« sagte der Kapitän.
»Das würde mir schaden, gnädiger Herr,« entgegnete Dörte. »Ich darf meinen Platz nicht verlassen, sonst verliere ich meine Kunden. Wollen aber der gnädige Herr alltäglich hier vorüber spatzieren, so soll es Ihnen nie an einem annehmbaren Sträußchen gebrechen.«
Ein abermaliger Knicks begleitete diese mit scherzhafter Grazie gesprochenen Worte, worauf [] Dörte auf einige andere Vorübergehende zutrat und mit gleicher Bitte und Zumuthung ihre Sträußchen ihnen entgegenhielt.
»Nun also auf Wiedersehen, schön Dörtchen!« sagte der Kapitän, indem er der Vierländerin verstohlen eine Kußhand zuwarf. Den süßen Duft des Straußes in langen Zügen einschlürfend, ging er dann weiter nach dem Jungfernstiege. »Das Mädchen muß ich genauer kennen lernen,« sprach er zu sich selbst. »Ich muß erfahren, wo sie wohnt, wer ihre Aeltern sind, ob sie Geschwister hat und was sie in Zukunft zu machen gedenkt? Es sind doch reizende Geschöpfe diese Vierländerinnen – schlank, voll, zart und feurig, aber zurückhaltend wie der Teufel. Für ein einziges solches Naturkind lass' ich Hundert unserer kokettirenden Gesellschaftsdamen sitzen. Und kurz und gut, die Dörte muß zu mir kommen oder –«
»Sie entschuldigen, Herr am Stein,« unterbrach eine rauhe Stimme den Gang seiner Gedanken, »ich habe Ihnen einen Brief zu überreichen. Da Sie mir grade begegnen, erlaube ich mir, Sie einen Augenblick aufzuhalten. Sie bemerken, das Schreiben ist empfohlen!«
[] Es war der Briefträger, der den in seinen schönsten Gedanken schwelgenden Kapitän auf so prosaische Weise störte. »Schon gut,« sagte dieser, den Brief annehmend. »Zahlung erfolgt, wenn Sie wiederkommen.«
Der Briefträger ging ärgerlich grüßend vorüber, der Kapitän aber steckte den Brief gelassen in die Brusttasche seiner Jacke und trat, immer den duftenden Strauß an Lippe und Nase drückend, in den Alsterpavillon. Hier wimmelte es von Gästen, die an kleinen Tischen sitzend Zeitungen lasen, Kaffee, Thee oder Wein tranken, und Cigarren rauchten. Eine Menge junger Leute standen in der Mitte des Pavillons um das Billard und spielten mit großer Beharrlichkeit Poule.
Der Kapitän setzte sich in eine Ecke des geräumigen Locals, bestellte ein Glas Portwein, ließ sich vom Kellner Feuer bringen und brannte sich eine köstlich duftende Havannaheigarre an. Erst als er Wein und Cigarre geprüft hatte und Beide vortrefflich fand, holte er den Brief aus der Tasche und erbrach ihn.
Unsere Leser lernen in diesem Kapitän einen jüngeren Bruder des Grafen Adrian von Boberstein [] kennen, und es wird jetzt nöthig sein, über diesen in unserer Geschichte neu auftretenden Charakter, der später eine wichtige Rolle darin übernimmt, einige Nachrichten einfließen zu lassen.
Von den drei Söhnen, welche Graf Magnus bei seinem Tode hinterließ, war Aurel in körperlicher Bildung seinem Vater am ähnlichsten. In allen körperlichen Uebungen zeichnete er sich sehr frühzeitig aus und brachte es darin zu bedeutender Vollkommenheit. Dagegen hatte er von seiner leidenden, durch Magnus häufig lieblos behandelten Mutter ein gutes Herz geerbt, das beim Anblick fremden Kummers leicht überschwoll und gern jedem Nothleidenden beisprang. Ein wunderliches Gemisch von den stillen, edlen Eigenschaften der Mutter und den ungestümen Gelüsten des Vaters, hatte die Natur in Aurel einen höchst glücklichen Menschen gebildet, der mit genialem Leichtsinn die ganze Welt an sein Herz drückte. Durch seine Verheirathung war Magnus mit mehreren sehr wohlhabenden englischen Adelsfamilien in verwandtschaftliche Verhältnisse gekommen. Einer von diesen alten derben Northumberländern hatte bei Aurels Taufe Pathenstelle vertreten, und als der junge Graf[] von Boberstein sich dem Jünglingsalter näherte, ließ er ihn nach England kommen, um seinen Pathen auch persönlich kennen zu lernen. Aurel gewann sich sogleich das ganze Vertrauen, die vollste Liebe des alten Mannes. Er blieb gern bei dem Earl, der in früherer Zeit zur See gedient und sich viel in der Welt umgesehen hatte. Aufgereizt durch die abenteuerlichen Erzählungen des lebhaften Engländers erwachte eine unaussprechliche Lust zu gleichen Abenteuern in der Seele Aurels. Er machte kein Hehl aus seinen Neigungen und Wünschen und hocherfreut versprach der Engländer, diese Wünsche des Pathen begünstigen zu helfen. Er that die erforderlichen Schritte und binnen zwei Monaten war Aurel als Seekadet in englische Dienste getreten.
Der junge Deutsche zeichnete sich bald aus, machte verschiedene große Seereisen nach Südamerika, Ostindien und China und als er nach mehreren Jahren zurückkehrte nach Europa, bekleidete er bereits die Stelle eines ersten Schiffslieutenants. Ohne Zweifel hätte Aurel, an die großartigen und gefahrvollen Reize eines fortwährenden Lebens zur See gewöhnt, seinem Geburtslande für immer den Rücken gekehrt, wären[] ihm nicht Briefe seiner Brüder eingehändigt worden, die in höchstem Grade seine Theilnahme erweckten. Die Brüder zeigten ihm nämlich an daß sie entschlossen seien, die Trümmer des väterlichen Vermögens in nutzbarer Weise anzulegen, und daß sie hofften, Aurel würde ihre Pläne nicht nur nicht kreuzen, sondern dieselben durch persönliche Betheiligung wesentlich mit fördern helfen. Nach dieser Einleitung entwickelten sie dem Seemanne, wie sie auf den Trümmern ihrer Stammburg eine Baumwollenspinnerei anlegen und in Hamburg ein Handlungshaus gründen wollten, das unmittelbar mit Amerika in Verbindung treten und von den dortigen anerkannt besten Pflanzungen die rohe Baumwolle beziehen, an die Spinnerei weiter befördern und die verarbeitete wieder an Manufactoreien absetzen solle. Um möglichst größten Gewinn von ihren Speculationen zu ziehen, die ohne Aufnahme bedeutender Capitalien nicht auszuführen waren, schlugen die kaufmännisch klugen Brüder vor, Aurel solle eine Brigg ausrüsten und diese mit Linnenwaaren befrachtet, nach irgend einem Hafen Nordamerika's steuern. Nach glücklichem Absatz der deutschen Linnen in der transatlantischen[] Welt solle er wo möglich mit Pflanzern in Louisiana dauernde Verbindungen anknüpfen, sein Schiff mit Baumwolle belasten, und alsdann mit diesem rohen Naturproducte nach Hamburg zurückkehren. Im Falle bei dieser ersten Expedition etwas gewonnen werde, könne man in spätern Jahren die Schiffsladungen verdoppeln und verdreifachen, doch immer vorausgesetzt, daß Aurel entschieden und für immer die Leitung des ersten Schiffes übernehme. Der Gewinn dieses großartigen kaufmännischen Geschäftes falle zu gleichen Theilen den Gebrüdern Boberstein zu. Sollte derselbe zu anderweiten Zwecken, etwa zur Wiedererlangung verkaufter Ländereien, verwendet werden, so sei die unbedingte Einwilligung aller Brüder dazu erforderlich. Ohne eine solche bleibe der baare Gewinn als Betriebscapital im Handelsgeschäft angelegt.
Aurel schwankte keinen Augenblick. Den weitaussehenden Plan seiner Brüder vollkommen billigend, ging er darauf ein. Auch der alte lustige Pathe konnte nicht umhin, den Gedanken seiner deutschen Verwandten höchst pfiffig und zeitgemäß zu finden. Er segnete seinen Pathen, übergab ihm zur Ausrüstung des ersten Schiffes [] eine ansehnliche Summe, Aurel reiste ab und binnen Jahresfrist war das Handelshaus in Hamburg bereits accreditirt und Aurel mit einem tüchtigen Dreimaster, »die gute Hoffnung« genannt, nach Philadelphia, New-Orleans und andern großen Stapelplätzen Nordamerika's unter Segel gegangen. Gleich seinen Brüdern in Deutschland nannte sich der kühne Seekapitän in seiner Eigenschaft als Handelsschiffsführer Aurel am Stein.
Aus früheren Mittheilungen wissen wir, daß Adrians Speculationen mit großem Erfolge gekrönt worden waren. Diese Erfolge erstreckten sich auf alle Zweige des Unternehmens. Nicht allein die Spinnerei auf den Ruinen der alten Burg gedieh und blühte nach Wunsch, auch das Haus in Hamburg »Stein und Compagnie« ließ sich in großartige Geschäfte ein, die über Erwartung rentirten, und die ursprüngliche Spedition der rohen und verarbeiteten Producte der Firma selbst bald nur als Nebensache besorgte. Schon nach drei Jahren kaufte die Firma ein Haus nebst geräumigen Speichern am Rödingsmarkt. Ein höchst zuverlässiger, erfahrener und geschickter Kaufmann von tüchtiger Gesinnung stand an der [] Spitze dieses neuen Etablissements, das von Zeit zu Zeit einer der drei Brüder besuchte, um sich persönlich über die Chancen des Geschäfts und etwa neu einzuschlagende Wege mit dem verständigen Geschäftsführer zu besprechen.
Man konnte annehmen, daß Aurel regelmäßig zweimal des Jahres in Hamburg eintraf und jedes Mal eine Schiffsladung der feinsten Baumwolle in die Speicher lieferte. Diese ward jetzt bereits auf der eigenen Pflanzung der Brüder am Red River in Arkansas gebaut, wodurch der Gevinn des Geschäftes sich unglaublich steigerte.
So oft nun der muntere, lebenslustige Kapitän die deutsche Welthandelsstadt an der Elbe betrat, wohnte er in seinem eigenen Hause, doch kümmerte er sich wenig um den Fortgang des eigentlichen Fabrikgeschäftes, da er davon nichts verstand und es ihm auch zu kleinlich erschien, Buch und Rechnung über Maß und Gewicht zu führen. Aurel war kein Handelsmann, in seinen Adern brauste noch unverfälschtes altritterliches Blut, immer bereit, auf Abenteuer auszugehen, Gefahren aufzusuchen und mit ihnen zu ringen wie ein Held. So sehr er sich über den [] Gewinn freute, den seine speculirenden Brüder aus dem Betrieb der verschiedenen Geschäfte zogen, so wenig gab er sich selbst mit dem eigentlich kaufmännischen Theile desselben ab. Aurel fühlte sich nur als Seemann. Als solcher wäre es ihm ganz recht gewesen, wenn er zuweilen mit irgend einem Caper auf offener See hätte anbinden und eine kleine Schlacht liefern können, wo persönliche Kraft, Muth, Gewandtheit und geschickte Manöver den Ausschlag geben mußten. Auch betrachtete er sich im Stillen und zu seinem eigenen Behagen als Führer eines Kriegsschiffes, obwohl ihm die beiden kleinen Karonaden, die er führte, um im Fall der Noth Signale damit geben zu können, täglich die Kühnheit einer solchen Idee gar sehr herabstimmten. Indeß etwas hatte er doch vor vielen Kapitänen voraus. Er war Eigenthümer des Schiffes, das seinem Commando gehorchte, Eigenthümer der Ladung und unumschränkter Gebieter über seine Leute. Dies entschädigte ihn einigermaßen und er unterließ denn auch nicht, ächt militärische Disciplin, wie er sie im englischen Seedienst erlernt hatte, auf der »guten Hoffnung« einzuführen. Den vornehmen Commis voyageur machte [] der jüngste Graf von Boberstein, Adalbert, ein schlauer Kopf und großer Rechnenmeister. Adalbert war deshalb auch fast ununterbrochen auf Reisen, bald in Deutschland, bald in Frankreich und England, wo er sich bei einer großen Kattundruckerei betheiligt hatte. Sein fester Wohnsitz war jedoch am Fuße des Riesengebirge, in dessen romantischen Thalgründen er ein freundliches Landgut besaß.
Aurel war durch sein bewegtes Leben mit außerordentlichen Vorfällen und Begebenheiten so vertraut geworden, daß ihn nichts, auch nicht das Entsetzlichste, aus der Fassung bringen konnte. Er las daher auch den empfangenen Brief, der von Adrian herrührte und der manchen Andern wahrscheinlich in große Besorgniß gestürzt haben würde, mit unerschütterlichem Gleichmuthe. Das Schreiben war lang, denn es enthielt einen gedrängten Auszug des Allerwichtigsten aus den Mittheilungen Sloboda's und des Maulwurffängers, die Adrian als freche Betrüger und speculirende Schurken hinzustellen nicht unterließ. Größeres Gewicht hatte der umsichtige Fabrikherr auf die Hindeutung gelegt, daß von ihrem verstorbenen Vater irgendwo in [] der Welt natürliche Kinder noch am Leben sein sollten, oder doch sein könnten, so wie auf die vorgebliche Schenkung, welche Magnus der schönen Wendin gemacht haben sollte, um die gereizten Gemüther zu beruhigen. Zwar fügte er mehrmals hinzu, daß er die ganze Geschichte für bloße Erdichtung halte, um Geld zu erpressen, doch fordere Pflicht und brüderliche Liebe, den fernen Bruder von dem Vorfalle in Kenntniß zu setzen. Auch liege er ihn dringend an, wenn er irgend etwas über Verhältnisse ihres Vaters und daraus entstandene Folgen in Erfahrung gebracht habe oder je bringen sollte, dies ihm schleunigst wissen zu lassen, damit er seine Maßregeln ergreifen und die unbequemen Dränger so schnell wie möglich beseitigen könne.
Aurel faltete den Brief wieder zusammen, ließ zwei breite Strahlen dunkelblauen Rauches durch seine Nasenlöcher strömen und schlürfte die zweite Hälfte des Glases Portwein. Dann streckte er beide Beine aus, legte die Füße über einander, rückte seinen runden Hut so nach vorn in die Stirn, daß er sich mit dem Hinterkopfe bequem an die Wand lehnen konnte, und nahm ein Blatt der Times, in dem er mit großer Aufmerksamkeit [] über eine Viertelstunde las. Dann warf er es weg, bestellte ein zweites Glas Portwein, setzte sich wieder wie andere gebildete Menschen und zog nochmals den Brief aus der Tasche.
»Bei Gott, ich glaube, die beiden alten Männer haben Recht!« sprach er nach einiger Zeit zu sich selbst, indem er zum zweiten Male den Brief in seine Tasche schob. »Papa war ein loser Finke, wie ich schon als Junge gehört zu haben mich erinnere, und so kann es mit dem Herumlaufen einiger natürlicher Kinder schon seine Richtigkeit haben. Pah, was thut das! Einen tüchtigen, geistreichen Kerl genirt das nicht. Verbotene Gedanken haben den meisten Reiz, zeugen von überwiegendem Geiste, warum sollte der Mann anstehen, wenn ihn die Lust dazu treibt, geschwind 'mal einen physischen Witz zu machen? Ich merke, daß ich der ächteste Sohn meines galanten Herrn Vaters bin. Alle Nationen können zur Noth auf Führung des gräflich Bobersteinischen Wappens Anspruch machen. Wer sich darum kümmern wollte! Aber freilich die Schenkungsurkunde –? sie wäre ein dummer Spaß! Sollte sie ächt sein, so könnte sie geniren. Aber [] ich glaube nicht daran, mein Vater war zu klug, um, wär's auch nur zum Scheine, so unvorsichtig zu handeln.«
Einige Minuten lehnte sich der Kapitän in der eben angedeuteten Weise wieder zurück, blies starke Rauchwolken aus den Nasenlöchern und fuhr dann fort:
»Wissen möcht' ich schon, ob ein ächter Boberstein, wie ich, sich vor einem natürlichen schämen müßte. Wo mögen diese älteren Geschwister von mir leben, wenn sie wirklich vorhanden sind, wirklich existirt haben? Ich bitte Dich, gutes Glück, führe mich mit einem derselben zusammen! Es soll auch, gefällt mir der illegitime Bruder oder die naseweis in die Welt gesprungene Schwester, gewiß und wahrhaftig nicht ihr Schade sein! Bei Gott, das soll es nicht!«
Aurel trank sein Glas aus, warf den Betrag in neuen Schillingen auf den Tisch und verließ den Alsterpavillon, um schief über den Jungfernstieg nach der alten Stadt London zu gehen und dort sein Mittagsmahl einzunehmen. Die wenigen Wochen, welche sich der Kapitän in Hamburg aufhielt, pflegte er jeden Tag in einem andern Hôtel zu speisen. Nicht selten trat er auch [] in eine gewöhnliche Restauration oder stieg gar in einen der vielen Speisekeller hinab, wo blos Hafenarbeiter, Packträger, Matrosen und anderes geringes Volk für gewöhnlich einzukehren pflegen. Diese Abwechselung gewährte ihm großes Vergnügen und machte ihn mit allen Klassen der Hamburger Bevölkerung, ja man kann sagen mit Menschen aus allen Enden der Welt, bekannt.
Eben so hielt es Kapitän Aurel des Abends. Nie brachte er den Rest des Tages in seiner Wohnung zu, selten nur in irgend einem Familienzirkel. Am liebsten schweifte er ungebunden in der weitläuftigen Stadt umher, dem Zufall und seinem guten Glück überlassend, ob es ihm heitere und vergnügliche oder trübe und schauerliche Wege führen werde. In solchen Hamburger Nächten – denn vor Tagesanbruch kehrte Aurel selten von seinen Nachtspatziergängen zurück – hatte er schon manche Greuelscene erlebt, schon manches ergreifende Genrebild, wie es Noth, Laster und Verbrechen täglich hervorbringen, mit angesehen. Häufig mochte er auch selbst nicht die reinsten und tugendhaftesten Pfade gewandelt sein. Sein leichtes Blut trieb ihn [] bald da bald dorthin, hob ihn jetzt auf die lichten Höhen des Lebens hinauf und schleuderte ihn dann wieder hinab in die finstern Schlünde, wo Satan in der schauerlichen Glorie seiner Allmacht auf Erden thront und die Kinder der Sünde in wilder Lust um ihn jauchzen, ihn verehren. –
Mit gesundem Appetit und unter zerstreuenden Gesprächen endigte Aurel sein Diner. Es war sechs Uhr Abends, als er die Stadt London verließ, um nach seinem Hause auf dem Rödingsmarkte zu gehen. Unterwegs sann er nach, wie er den Abend wohl zubringen könne? Er war in Verlegenheit, denn bereits seit drei Wochen lag er müßig vor Anker und in dieser Zeit hatte er die meisten Genüsse Hamburgs so ziemlich ausgekostet. Da fiel sein Blick auf einen Anschlag an der Straßenecke. Der Zettel kündigte öffentlichen Tanz an in der Bacchushalle.
»Da bin ich noch nicht gewesen,« murmelte der leichtfertige Kapitän und schritt weiter. Als er um die Ecke beim Graskeller bog, sah er mit leichtem tanzenden Gange einen schlanken Jungen in der Sonntagstracht eines gemeinen Matrosen etwa dreißig Schritte vor sich behend durch [] die belebte Straße hüpfen, die Stufen an seinem Hause hinanlaufen und in der engen Thür verschwinden. Aurel eilte ihm nach und überholte den Jüngling, als er eben pfeifend die Treppe zu den Zimmern des Kapitäns hinaufschritt.
[] Zweites Kapitel.
Ein Abenteuer.
»Gilbert!« rief Aurel dem jungen Matrosen nach. »Wohin so eilig?«
Der Jüngling kehrte sich um und zeigte dem Kapitän ein offenes, von Wetter, Sonne und Seesturm gebräuntes Gesicht. Höflich seinen bebänderten Hut lüftend und mitten auf der Treppe stehen bleibend, versetzte er:
»Ich wollte dem Herrn Kapitän Bericht abstatten.«
»Hast Du etwas ausgegattert?«
»Verschiedenes, Herr Kapitän,« entgegnete mit verschmitztem Ausdruck seiner lebhaften Augen der junge Matrose. »Es kommt nur auf Sie an, ob Sie sich herablassen wollen –«
[] »Marsch hinauf!« commandirte Aurel, die Antwort Gilberts unterbrechend. »Ist die freie Treppe ein Ort, um die Geheimnisse eines Seekapitäns darauf auszuplaudern?«
Gilbert sprang nun leichtfüßig die wenigen Stufen vollends hinan und folgte seinem Vorgesetzten in ein gut meublirtes, mit allem Comfort europäischen Lebens reich ausgestattetes Zimmer. Hier streckte sich Aurel nachlässig in einen weichen Lehnsessel und Gilbert setzte sich auf ein niedriges Bänkchen am Ofen, dessen weiß glänzende Kacheln eine angenehme Wärme im Zimmer verbreiteten.
»Nun rede!« befahl der Kapitän, warf seinen Hut auf das ihm gegenüber stehende Sopha und fuhr mit der linken Hand mehrmals durch sein braungelocktes Haar.
»Zu allererst,« sagte Gilbert, »kann ich Ihnen einen Trödler empfehlen. Der Kerl hockt den ganzen langen Tag auf den Stufen seiner Kellertreppe und schachert mit allem nur erdenklichen alten Unrath. Sein Aussehen ist nichts weniger als anziehend, allein man wird entschädigt, sobald man die Treppe hinunterkriecht. Denn in der engen dunstigen Kellerwohnung [] haust eine Fee von unbeschreiblicher Schönheit. Ich habe sie heut bei Sonnenlicht gesehen, wie sie über die Straße schwebte, um in irdenem Kruge Wasser zu holen. Verstohlen warf sie auch einen Blick auf mich, der wie unter Asche fortglühendes Feuer glänzte. Ich belohnte sie dafür durch höflichen Gruß und eine Kußhand, worauf sie mit köstlichem Purpur auf ihren schönen Wangen wieder in dem eklen Kellerloche untertauchte.«
»Hast Du mit dem Mädchen gesprochen?«
»Nein, Herr Kapitän.«
»Desto besser, so ist sie noch nicht eingeschüchtert! Wo machtest Du die anmuthige Entdeckung?«
»In einem der abscheulichen engen, krummen, von Armuth und Elend bevölkerten Gängen der Neustadt.«
»Du weißt ihn genau und kannst ihn zu jeder Zeit wiederfinden?«
»In jeder Minute, wenn Sie befehlen.«
»Das war eins, nun weiter!«
»Ohne Ihrem Geschmacke vorzugreifen, Herr Kapitän, würde ich meine zweite Entdeckung der [] ersten noch vorziehen. Sie kennen die niedlichen Blumenmädchen an der Alster –«
»Dummer Junge, ich will nicht hoffen –« Aurel stockte.
»Was wollen Sie nicht hoffen, Herr Kapitän? Daß ich so kühn gewesen bin, mir ein Sträußchen zu kaufen, die Mädchen am Kinn zu fassen und ihnen zu sagen, daß ich ein gutherziger, verliebter Kerl sei, der sich bereits zu Land und See etwas versucht habe? Doch, doch, Herr Kapitän, so dumm bin ich gewesen! Und können Sie's glauben, das eine Mädchen schrie nicht laut auf, als ich es küßte!«
»Du bist unverbesserlich, Gilbert, ich fürchte, ich fürchte!«
»So lange Sie mir zum Vorbilde dienen, haben Sie nichts zu fürchten,« sagte der junge Matrose schelmisch.
Aurel mußte lachen. »Erzähle nur immerhin weiter,« sprach er herablassend. »Leider bin ich selbst Schuld daran, wenn ein liebenswürdiger Taugenichts aus Dir wird!«
»Das Brauchbarste auf dieser lustigen Welt ist die Liebenswürdigkeit, Herr Kapitän,« versetzte Gilbert. »Dieser geistreiche Gedanke kam [] mir, als ich die Blumenmädchen gewahrte, und als ich den Versuch machte, meinen flüchtigen Gedanken zur That werden zu lassen, fand ich mich in keiner Hinsicht getäuscht. Die Mädchen wurden ebenfalls äußerst liebenswürdig.«
»Alle auf einmal?«
»Der Reihe nach, wenn Sie erlauben, Herr Kapitän! Es waren vier ganz frisch aus den Elbniederungen gekommene Huldinnen, weiß, schlank und munter, wie Tummler. Ich schenkte auf Ihre Rechnung jeder zwei Schillinge und erhielt von der Schönsten die Zusage, daß sie mich nächstens in meiner Wohnung besuchen wolle.«
»Teufelskerl, Du lügst!«
»Wenn die schlanke Elbnymphe nicht erscheint, macht sie mich zum Lügner, allein versprochen hat sie es mir. Das hübsche Kind nannte sich Dörte.«
»Aus den Vierlanden!«
»Zu Befehl, Herr Kapitän.«
»Du bist ein Schelm! – Also darum – darum! – O über diese Tugendheldinnen! Wann sprachst Du die Mädchen?«
»Vor kaum einer Stunde.«
[] Aurel sah den Jüngling groß an, dann fiel er in ein heiteres Lachen, stand auf und trat vor den Spiegel. »Ich muß doch sehen, ob ich schon anfange zu altern?« sagte er scherzhaft. »Wenn die Schönen einen glatten Milchbart mir vorziehen, dann ist's wirklich Zeit, daß ich anfange solid zu werden und an's Heirathen denke.«
»Haben Sie bereits über den heutigen Abend verfügt, Herr Kapitän?« fragte Gilbert. »Oder wünschen Sie allein zu bleiben und über die Verbesserung der neuen Ankerwinde nachzudenken?«
»Ich wünsche, daß Du mich begleitest, mein Junge,« fiel Aurel dem aufgeweckten Matrosen in's Wort. »Entschlossen, diese Nacht recht ausschweifend lustig zu verleben und Dich einen neuen Blick in diese verdorbene Welt thun zu lassen, wollen wir heut einen Ort besuchen, den Du noch nicht kennst. Du wirst Freude und Genuß davon haben. Zuvor aber will ich doch sehen, ob Deine Kellerfee mich eben so zu bezaubern vermag, wie Dich.«
Aurel band sich jetzt nach Art der Matrosen [] eine Schärpe um den Leib, vertauschte seinen feinen Kastorhut mit einem schlechten von Glanzpappe, steckte einen kleinen Dolch in die innere Tasche seiner Jacke und war so vollkommen gerüstet auf alle möglichen Abenteuer der Nacht. Der trübe Herbstabend trieb bereits von der Elbe einen dichten Nebel über die Stadt, welcher seine feuchten grauen Schleier in die zahllosen Straßen und Gassen derselben herabflattern ließ. Dies war die Zeit, wo der abenteuerlustige, zerstreuungssüchtige Aurel seine nächtlichen Wanderungen und Besuche antrat. Da Gilbert bereits auf dem Sprunge stand, zögerte der Kapitän nicht länger; doch schritt er behutsamer und leiser die Treppe hinab, als er sie vor kaum einer Stunde hinaufgegangen war. Denn er besorgte, der überaus pünktliche und in gewissem Sinne ächt philiströse Geschäftsführer, der immer eine bis zwei Stunden länger als Andere auf dem Comptoir zu arbeiten pflegte, möchte ihm begegnen und aus seiner etwas veränderten Kleidung nicht die günstigsten Schlüsse auf sein Vorhaben ziehen. Indeß erreichten die beiden Abenteurer unbemerkt die Straße, wo sie im Gewühl der Menschenmenge und in dem Dunst des [] immer dichter herabsinkenden Nebels bald jedem Späherauge verschwanden.
Den jungen, geistig aufgeweckten, stets heitern Gilbert hatte Aurel aus Neu-Orleans mitgebracht. Er war der Sohn eines Engländers mit einer Kreolin, die beide schnell hinter einander am gelben Fieber gestorben waren und den Knaben ziemlich mittellos hinterlassen hatten. Denn es ergab sich, daß das Vermögen des für wohlhabend gehaltenen Gilbert blos in seinem Credit bestand. Seine Bücher bewiesen auf unwiderlegliche Weise, daß er zwar keine Schulden hinterließ, aber auch keinen einzigen ihm zugehörenden Dollar. Da nun in Nordamerika der Besitz von Geld noch weit mehr wie in Europa dazu gehört, einem Menschen in den Augen seiner Mitbrüder Geltung zu verschaffen, und der junge hilflose Gilbert ohne alles Vermögen wahrscheinlich einer sehr trüben Zukunft entgegen gegangen wäre, so nahm sich Aurel des hübschen Knaben aus reiner Gutmüthigkeit an. Er hatte seine junge, eben so reizende als eigensinnige Mutter gekannt und den ihr vollkommen ähnlichen Knaben von Herzen lieb gewonnen, und so hielt er es fast für Freundespflicht, bei [] dem jetzt Verlassenen Vaterstelle zu vertreten.
Gilbert schloß sich gern dem jungen, fröhlichen Kapitän an, der sich freilich zu allem andern besser, als zu einem Gouverneur und Erzieher eignete. So kam der junge Gilbert auf Aurels Schiff. Hier mußte er von unten herauf dienen, um dereinst ein tüchtiger Seemann zu werden. Obwohl Aurel den Knaben wie sein eigenes Kind liebte, hatte er doch im Dienst durchaus keine Nachsicht mit ihm. Verstöße gegen die Disciplin, die sich Gilbert im Anfange häufig zu Schulden kommen ließ, bald aus Nachlässigkeit bald aus Eigensinn und Widerspänstigkeit, bestrafte Aurel mit derselben Härte, wie bei dem gemeinsten Matrosen. Mehrmals sah der verzogene Knabe der müßiggehenden Kreolin sein Blut fließen, bis sein Eigensinn vor der Unerbittlichkeit des strengen Kapitäns sich beugte. In allen übrigen Dingen war Aurel der nachsichtigste Pflegevater von der Welt. Lachenden Mundes vergab er seinem Lieblinge jede Dummheit, jede Ausgelassenheit, wenn sie nicht den Dienst betraf, ja er lobte sogar die tollsten Streiche, sobald sie nur mit Geschick ausgeführt wurden [] und von Scharfsinn, Willenskraft und persönlichem Muth zeugten.
Später, als Gilbert zum Jünglinge herangewachsen war, ließ ihm Aurel vollends gänzlich die Zügel schießen. Er verhehlte nicht nur nicht seine eigenen zahllosen Abenteuer dem kaum noch mannbaren Jünglinge, sondern er forderte ihn sogar auf, ihm dabei Gesellschaft zu leisten. Häufig gebrauchte er den schmucken Jungen auch als Lockvogel, wenn er selbst nicht Lust hatte, gewisse Wege, vor denen er sich scheute, zu betreten. Spielte ihm dabei Gilbert gelegentlich einen Possen und trieb er ein zärtliches Schäfchen in sein eigenes Gehege, so konnte der Kapitän wohl über solche Undankbarkeit in komischen Zorn gerathen, aber dem lebenslustigen Amerikaner ernstlich böse zu werden vermochte er nicht. Im Herzen freute er sich vielmehr des guten Glückes seines Zöglinges, da es bei ihm zur Ueberzeugung geworden war, daß es außer rüstiger geistiger Thatkraft auf Erden nichts Höheres gebe, als die Gunst schöner Frauen und Mädchen.
Bei solchen Grundsätzen mußte der kräftige Kapitän ein Don Juan werden und er ward es, [] ohne verbrecherische Handlungen zu begehen. Niemand konnte mit Grund behaupten, daß Aurel je in seinem Leben ein Mädchen verführt habe. Er warb um die Gunst jedes Mädchens, wenn es ihm gefiel, und genoß dieselbe in vollen Zügen, ward sie ihm freiwillig, aus Neigung, mochte letztere auch eine blos flüchtige sein, geschenkt, ging aber auch lachend und eben so zufrieden von dannen, wenn er zuweilen an eine vornehm Spröde, an eine kalte Schönheit gerieth, die statt heißer Küsse nur eisige Giftworte verschenkte. Die brutalen Neigungen des lasterhaften Vaters traten bei dem Sohne in milderer Gestalt, gleichsam gebildeter, auf. Wo Magnus sündigte, da pflegte Aurel blos anmuthig zu scherzen. Er war kein sittlich reiner, aber trotz seiner Schwächen ein tüchtiger, guter und zu großen Opfern fähiger Mensch. Er konnte sich für eine Idee begeistern und dann auch sein Leben für dieselbe einsetzen. Aurel würde unter den edelsten Rittern aus der besten Zeit des Mittelalters eine hervorragende Rolle gespielt haben. Weil sein Jahrhundert zu speculativ, zu sehr auf den bloßen Vortheil bedacht und zu wenig geneigt war, einzelnen Persönlichkeiten freien [] Spielraum zur Entfaltung ihrer Charakteranlagen zu gestatten, warf er sich dem Abenteuer in die Arme, das ihn reizte und seinen abnormen Launen und Einfällen häufig Befriedigung verschaffte. –
Als Aurel und Gilbert sich in dem fortwogenden Menschenstrome verloren hatten, führte der Letztere seinen Wohlthäter und Gebieter durch die Kammermannstwiete beim Küterhause vorüber nach der Ellernthorbrücke, von welcher sie rechtsab nach der Fuhlentwiete einbogen und sich von dieser in das Gewirr jener durcheinanderlaufenden engen, finstern und unheimlichen Gäßchen verloren, die in Hamburg Gänge genannt werden.
Der fallende Nebel erhöhte noch den trüben Eindruck, welchen diese ärmsten Quartiere der großen Handelsstadt selbst am Tage auf den Besucher machen. Es war, als stürze man aus dem sonnigsten heitersten Tage in die tiefste Nacht, wenn man von den breiten belebten, durch tausend Flammen erleuchteten Straßen, wo Reichthum, Luxus, Pracht und Vergnügen herrschten, in diese von erstickenden faulen Dünsten erfüllten schmalen finstern Gänge trat. Zwar an Leben [] fehlte es auch in diesen nicht, aber es war das Leben der Noth oder der Lasterhaftigkeit. Aus zahlreichen Kelleröffnungen qualmte dunstiger Lichtschein, der fahle röthliche Streifen auf das schlüpfrige unebene Pflaster warf. Die obere Luft erfüllte gänzlich dichter schwerer Wolkendunst. Auf und nieder in dieser widerlichen Atmosphäre wandelten einzeln und paarweise ärmlich gekleidete Mädchen, die ungeachtet der kältenden Luft auf Verhüllung ihrer Reize wenig bedacht waren. Sie stießen begegnende Männer leicht an, sahen ihnen frech in's Gesicht und nickten ihnen vertraulich zu. Manches von diesen wie Gespenster durch den Nebel schwebenden Mädchen faßte auch den ersten besten Mann am Arm und zog ihn unter Zuruf süßer Schmeichelworte oder roher Scherze gewaltsam mit sich fort. Noch häufiger sah man bleiche Kinder der Sünde in den Kellereingängen lehnen, die jedem Vorübergehenden zuwinkten und nicht selten recht flehentlich baten, sich doch ja ihrer zu erbarmen, damit sie nicht Hungers sterben dürften!
Wer sich des Nachts allein in diese schmutzigen Gänge wagte, die zum größten Theil von armen Schacherjuden, von Trödlern aller Art, [] von herabgekommenen Handwerkern, kurz von Leuten bewohnt werden, die zugleich mit Armuth, Elend und Schuld zu kämpfen haben, der war nicht immer sicher, mit heiler Haut sie wieder verlassen zu können. Das Verbrechen fand in diesen qualmigen Kellerhöhlen nicht nur Schutz und Obdach, es ward auch häufig darin geboren und groß gezogen.
Aurel hatte mit seinem Begleiter kaum funfzig Schritte in diesem Ganglabyrinth zurückgelegt, als er auch schon das Gebrüll trunkener Stimmen vernahm. Es scholl aus einem noch fernen Keller herauf und endigte nach einiger Zeit mit rohem Gelächter und dem Sturz eines Menschen, den mehrere aus dem Keller auf die Straße warfen. Der so brutal Behandelte rächte sich durch eine Fluth gräßlicher Flüche, die er mit heiserm Kehllaut in den Keller hinunterschrie, während er sich wieder aufraffte und mühsam bald rechts bald links taumelnd, den Gang fortwankte. Der lockenden Syrenenstimme eines jener harrenden Kellermädchen konnte der Trunkene nicht widerstehen. Er lavirte auf die bleiche Dirne zu und verschwand an ihrem Arm in dem finstern Schlunde, den sie bewachte.
[] Die Hand am Griffe seines Dolches schritt Aurel immer tiefer in den trüben Gang hinein. Er flüsterte nur leis mit Gilbert, dessen scharfe Blicke herüber hinüber flogen, um den Eingang des bei Tage entdeckten Kellers nicht zu verfehlen.
»Bist Du auch Deiner Sache gewiß?« fragte der Kapitän, indem er stehen blieb und dem Gesange einer weiblichen Stimme horchte, die wie vom Himmel herab durch den Nebel zitterte.
»Wir sind bald zur Stelle, Herr Kapitän. Sehen Sie dort das flackernde Lampenlicht in dem vorspringenden Thorwege? Drei Häuser weiter ist der Eingang zum Elysium.«
Mehrmals angerufen erreichten die beiden Männer den Thorweg. Hier vernahmen sie in größter Nähe den Hilferuf einer Frauenstimme, begleitet von einem Schalle, über dessen Entstehung kein Zweifel sein konnte.
»Bei Gott, Junge,« flüsterte Aurel seinem Begleiter zu, »das ist nicht viel besser wie in St. Giles! Ich glaube gar, irgend ein Wüthrich vergreift sich an einer spröden Dirne und will sie durch Schläge zwingen. – Höre nur diese Flüche, dies giftige Gekeif eines alten Weibes [] – und nun wieder das flehende Gewimmer! Bei Gott, dem armen Dinge müssen wir beispringen!«
»Herr Kapitän,« fiel Gilbert ein, »trügt mich nicht mein Ortssinn, der es, wie Sie wissen, mit jedem Indianer aufnimmt, so ist der abscheuliche Lärm in dem Keller –«
»Deiner niedlichen Fee? Ha, das trifft sich ja prächtig! Geschwind, Gilbert, laß uns als Schiedsrichter, Mittler und Versöhner auftreten, und alsdann sehen, was sich zu unserm eignen Besten etwa noch thun läßt.«
Inzwischen hatten Beide den Eingang zum Keller erreicht, aus dem jetzt von neuem tobendes Gezänk, Flüche, entsetzliche Schimpfworte und das Klatschen gewichtiger Peitschenhiebe erscholl. Der gellende Hilferuf eines Mädchens übertönte noch lauter den wüsten Lärm.
Behend lief Aurel, von Gilbert gefolgt, die schmale Kellertreppe hinab, stieß mit dem Fuße eine nur angelehnte zersprungene Thür auf und trat mit der Würde und der stolzen Miene eines geborenen Herrschers in eine Höhle, die sich kein Räuber zu dauerndem Aufenthalt besser hätte wünschen können.
[] Der Keller war gewölbt und ungeachtet eines stark glühenden Steinkohlenfeuers doch feucht und von übelriechendem Qualm erfüllt, der aus einer Menge in einen Winkel dieser widerlichen Behausung angehäufter Kraut- und Kohlköpfe und andern zum Theil faulenden Gemüses aufstieg. Zunächst dem eisernen Ofen, auf dessen Platte etwas Fettes in irdener Schüssel prägelte und die Atmosphäre noch mehr verpestete, waren an rohen in das Mauerwerk getriebenen Pflöcken eine große Menge alter abgetragener, größtentheils zerrissener Kleidungsstücke aufgehängt. Unter diesen am Boden auf etwas erhöhter Diele lag altes zerbrochenes Geschmeide von unedlem Metall, messingene Schnallen, Kettchen, Ringe, die ehedem vielleicht als goldene gekauft worden sein mochten. Auch lange Schnuren von schlechten Glasperlen glitzerten in dem trüben Lampenlicht, das in dem Kellerraume nicht eben überflüssige Helle verbreitete.
Bei Aurel's Eintritt in diese Wohnung des Elendes sah er niedergedrückt auf die feuchte Diele ein junges Mädchen von wunderbarer Lieblichkeit knieen. Ein wild blickender, offenbar berauschter Mann von athletischer Gestalt hatte sich [] die schönen braunen Flechten des wimmernden Mädchens um seine linke Hand geschlungen, und hielt sie mit Gewalt am Boden fest. Mit der Rechten schwang er eine kurze Lederpeitsche, die er dem Trödel entnommen haben mochte, und ließ schallende Schläge auf die nackten Schultern der Unglücklichen fallen, von denen ein häßliches altes Weib die dünne Kleidung noch tiefer herabzustreifen eifrigst bemüht war, indem sie neben der Gemißhandelten kniete und immerfort rief: »So ist's Recht, Papachen! Räumt dem Ungethüm den blanken Rücken tüchtig ab, bis es klein zugibt! – Brav zugehauen – da wird die Creatur acht Tage fühlen. Und hilft's noch nicht, so fangen wir wieder von Neuem an und verstärken die Arzenei. – Heidi, das zischte, daß gleich ein rothes Bändchen über den fetten weißen Rücken lief!«
Während die verwahrloste Alte so kreischte, rann in starken Tropfen das rothe Blut von dem schönen Rücken der armen Gemißhandelten, an deren Qualen sich das häßliche Weib mit ihren frechen grauen leuchtenden Augen innig zu erlaben schien. Auch hätte der tobende Wüthrich schwerlich seine Züchtigung so bald eingestellt, [] wäre ihm nicht Aurel mit der Riesenkraft eines heftig Erzürnten in den Arm gefallen. Gilbert ergriff die Alte und schleuderte sie verächtlich in den äußersten Winkel des Kellers. Dann kniete er neben dem gemißhandelten schönen Mädchen nieder, in dem er seine Fee vom Brunnen sogleich wieder erkannte, und umfaßte die Erschöpfte, von den harten Streichen schmählich Getroffene mit beiden Armen.
»Elender!« rief Aurel dem Berauschten zu, die Peitsche ihm entreißend und gegen ihn schwingend, indem er ihn vorn an der Brust packte. »Was hat Dir dies Mädchen gethan, daß Du es so unbarmherzig schlägst?«
Der Bewohner des Kellers – denn dieser war es – suchte sich von den eisernen Fingern des Schiffskapitäns frei zu machen, rollte wüthend die blutunterlaufenen Augen und ballte beide starkknochigen Fäuste gegen Aurel.
»Laßt los,« stotterte er, »oder – ich vergesse mich –!«
»Unvernünftiges Thier, Du hast Dich schon vergessen! Sprich, was that Dir dies arme schwache Mädchen?«
»Elwire ist widerspänstig. Aber was habt [] Ihr darnach zu fragen?« setzte er zuversichtlicher hinzu. »Ich kann meine Tochter prügeln, so lange es mir behagt; ich kann sie lebendig schinden, wenn es mir gefällt, und Niemand hat ein Wort drein zu reden! Habt Ihr mich verstanden, Ihr –« Und der Trödler hob aber mals seine Fäuste gegen den Kapitän, der ihn fest an der Jacke hielt.
In glücklichem Staunen hatte Aurel mit feurigen Blicken die wahrhaft reizende Gestalt Elwirens verschlungen, die noch immer ganz erschöpft mit blutendem Rücken am Boden saß und ihren schönen Kopf mit den aufgelösten langen glänzenden Haarflechten an Gilbert's Brust lehnte.
»Wie?« versetzte der Kapitän. »Diese unvergleichliche Schönheit ist Eure Tochter?«
»Ho, ho, ist das so verwunderlich?« fiel der Trödler ein. »Oder denkt Ihr wie das reiche Pack, das's Geld in Scheffeln mißt, blos in den Betten vornehmen Gesindels kämen schöne Kinder zur Welt? Fehl geschossen, sag' ich; die Dirne ist mein Kind und was hat der Teufel an ihr auszusetzen, he?«
»Ihr solltet Euch schämen, ein solches Meisterstück der Schöpfung so unbarmherzig zu mißhandeln,« [] sagte Aurel, indem er Elwiren, die sich jetzt etwas erholt hatte, die Hand reichte und ihr von der schmierigen Diele aufhalf.
»Es ist der Dirne Recht geschehen,« antwortete trotzig der barbarische Vater, sich auf einen wackligen Stuhl werfend und die Arme zusammenschlagend. »Sie sollte zeigen, daß sie schön sei, und das wollte sie nicht, will sie noch nicht. Darum hab' ich sie gehauen. Morgen des Tages, beharrt sie auf ihrer sinnlosen Weigerung, werde ich ganz allein einen Rundtanz bei verschlossenen Thüren mit ihr aufführen. Ich will doch sehen, wer Herr in meinem Keller ist!«
»O retten Sie mich, edelmüthige Herren!« schrie jetzt mit verstörtem Blick die arme Gemißhandelte. »Retten Sie mich oder ich lege selbst Hand an mich! Er will mich verkaufen – Er – mein Vater!«
Die letzten Worte stieß die Unglückliche langsam, vor Entsetzen zusammenschauernd, halblaut über die bebenden Lippen.
Aurel maß den Rabenvater mit dunklem Zornesauge. Da schlich die Alte wieder aus dem Winkel hervor, wohin Gilbert's kräftiger [] Arm sie geschleudert hatte, und erklärte keifend und unter heftigen Gesticulationen:
»Und ich bestehe darauf, daß unser Conract erfüllt wird! Handel ist Handel – da hilft kein Fluch noch Gebet davon – und das Mädchen gehört mir, denn ich habe Handgeld gegeben! Und geht sie nicht in Gutem mit mir, so laß ich sie von meinen Leuten holen. Hab' ich sie nur erst in meinem Hause, dann will ich schon mit ihr fertig werden! Es ist nicht die erste thörichte Dirne, die sich sträubt, und nachher, ei wie freundlich hat dann das feingekleidete Püppchen gelacht! Wie hat sie mir die Hand gedrückt, die sie anfangs züchtigte, und wie hat sie dem Leben seelenvergnügt zugejauchzt! Ja die Mädchen! – Man muß sie zur Erkenntniß dessen, was ihnen gut ist, zwingen, sonst lernten sie, glaub' ich, im Leben nicht, wozu sie Gott so hübsch geschaffen hat!«
Das gemeine, freche Weib, deren schamlose Worte ihr scheußliches Gewerbe nur zu deutlich verriethen, würde noch geraume Zeit die Weisheit ihres Lasterlebens ausgekramt haben, hätte ihr Aurel nicht mit so befehlshaberischem Tone zu schweigen geboten, daß sie erschrocken nur unverständliche [] Laute murmelte und sich wieder in ihrem dunkeln Winkel niederkauerte.
»Wie heißt Ihr?« fragte jetzt der Kapitän den Trödler.
»Klütken-Hannes,« sagte der rohe Kerl.
»Wißt Ihr, Klütken-Hannes, daß Ihr das Zuchthaus verwirkt habt, wenn ich dem hohen Senat Anzeige von Eurer Handlungsweise mache?«
Der wüste Trunkenbold brummte ärgerlich in den Bart und erhob nunmehr die wild geballte Faust gegen die Kupplerin, da er mit dem Fremden, der so herrisch und kraftvoll auftrat, nicht anzubinden wagte.
»So wie ich diesen Keller verlasse,« fuhr Aurel fort, »ohne daß Ihr genau thut, was ich von Euch verlange, so seid Ihr und Eure verruchte Helfershelferinn der Criminaljustiz überliefert. Denn ich kehre in Begleitung der Stadtwache zurück! Vollzieht Ihr aber meine Befehle pünktlich, ohne das Geringste daran zu mäkeln, so will ich vergessen, was ich gesehen und gehört habe, und ich gebe Euch mein Ehrenwort, daß von dem Vorgefallenen Niemand etwas erfahren [] soll. Wozu entschließt Ihr Euch, Klütken-Hannes?«
Ein abermaliges Brummen und unverständliches Gemurmel war die ganze Antwort darauf.
»Hör't mich an,« sagte Aurel, »und behagt Euch nicht, was ich verlange, so versucht einen Kampf mit dem Gesetz! – Ihr versprecht mir bei Allem, was Euch heilig ist, und ist Euch nichts heilig, meinethalben beim Teufel und seiner Großmutter, Eure Tochter Elwire mit keinem Finger unsanft anzurühren, noch ihr Dinge zuzumuthen, vor denen ein Vater zurückschaudern sollte! Morgen früh werde ich wiederkommen und dann für ein ehrliches Fortkommen Eurer Tochter Sorge tragen. Seid Ihr dies zufrieden?«
Klütken-Hannes stand auf und stellte sich breitbeinig vor den Kapitän hin. »Wenn Sie Mutter Lievers bezahlen wollen, bin ich's zufrieden,« sagte er. »Das Geld, was sie mir für Ablassung des Mädels gegeben hat, kann ich nicht entbehren – ich hab's nicht mehr – und wenn Sie also nicht zahlen, so wird die Elwire eine –«
»Scheusal, ich erwürge Dich, wo Du es [] wagst, Deine gottverhaßten Gedanken in Worte zu kleiden!« rief Aurel aus und konnte sich nicht versagen, den Rabenvater neuerdings wieder an der Gurgel zu packen und tüchtig zu schütteln. »Elender, schamloser Seelenverkäufer!« fuhr er fort, »um Deine gemeinen Lüste zu befriedigen, Dich zum vernunftlosen Thiere zu erniedrigen, gibst Du Dein reines Kind jedem Wüstlinge Preis? Pfui über Dich, vermaledeiter Säufer! Die Strafe des Himmels würde ich herabrufen auf Dein sündenbelastetes Haupt, wäre ich nicht von Gottes nie schlummernder Gerechtigkeit überzeugt, daß Deine Vergehungen mit unauslöschlicher Schrift für ewige Zeiten niedergeschrieben sind.«
»Lirum larum!« versetzte Klütken-Hannes, »um den Herrgott und sein Strafregiment kümmere ich mich nicht so viel, wie um ein Barthaar! Geld, Herr, Geld, ein Sack voll blanker Drittelstücke oder junger Goldfüchse, ist mein Gott! Für, mit und durch ihn kann ich haben was ich will, für Ihren Gott aber, mein guter Herr, gibt mir der Bäcker kein Halbschillingbrod.«
Entsetzt vor dieser bodenlosen Frivolität und [] gotteslästerlichen Versunkenheit verstummte Aurel auf einige Secunden. Dies machte dem Trödler Muth. Mit unsichern Schritten in dem dunstigen Kellerloche auf und nieder gehend, fuhr er fort:
»Zahlen, mein sehr moralischer Herr, zahlen ist bei allen Geschäften die Hauptsache! Zahle ich, so läßt mich das Gesetz in Ruhe und ich kann treiben, was mir beliebt. Da fragen Sie Mutter Lievers hier, die vordem, als ich noch jung und bei Kasse war, mit mir viele vergnügte Stunden zugebracht hat. Wenn sie pünktlich bezahlt, stört sie der hohe Senat nicht in ihrem Geschäft! Er besucht sie sogar, der hohe Senat, denn er sieht frische schlanke Mädels eben so gern wie andere Menschen von Fleisch und Bein. Und ein solides Geschäft treibt Mutter Lievers, solider ist nicht der größte Banquier in ganz Hamburg! Darum ist sie auch so erpicht auf solche geschmeidige weiße Kellerblumen, die, wie meine Elwire, noch kein heißer Sonnenstrahl versengt hat, und die in der neuen Lebensluft um so besser gedeihen, weil sie zuvor an schmale Kost gewöhnt waren.«
Während der Trunkenbold so die ganze Gemeinheit [] seiner Gesinnung verlautbaren ließ, wollte sich die Kupplerin heimlich davonschleichen. Allein Gilbert merkte ihre Absicht und hielt sie fest.
»Nicht von der Stelle, alte Hexe!« raunte er ihr zu. »Du bist überreif zum Staupenschlage!«
Aurel zog eine Börse und warf sie dem Menschenhändler vor die Füße. »Dies, Schurke, auf Abschlag! Kaufe Dir Opium dafür, damit Du den Weheruf des Gewissens für immer tödtest!«
Der Trödler hob die Börse auf, wog sie in der Hand und sah nach, ob auch Silbergeld darin sei. Dann nickte er zufrieden mit dem Kopfe und sagte:
»Ich bin's zufrieden! Bringen Sie morgen noch zweimal so viel, gehört das Mädel Ihnen und Sie können dann mit ihr anfangen, was Ihnen beliebt. Ich mische mich nicht drein. Die Umarmungen eines so vornehmen Herrn wird mein zimperliches Töchterlein wohl nicht so unausstehlich finden, wie die im Hause der Mutter Lievers.«
[] Mit rohem Lachen schloß Klütken-Hannes seine Bemerkungen.
Um dem demoralisirten Menschen nicht Gelegenheit zu neuen abscheulichen Expectorationen zu geben, würdigte ihn Aurel keiner Antwort. Er wendete sich vielmehr jetzt an das gemißhandelte schöne Mädchen, das mit verhülltem Gesicht zu Gilberts Füßen am Boden saß und den bisherigen Verhandlungen in tiefstem Schweigen zugehört hatte. Im Innersten erschüttert durch die schamlosen Bemerkungen des Mannes, den sie Vater nennen mußte, vermied sie aufzublicken.
»Liebe Elwire,« redete jetzt Aurel die Unglückliche mit sanfter Stimme an und legte seine Hand auf ihr gebeugtes Haupt, »liebe Elwire, können Sie Vertrauen zu mir fassen?«
Elwire ließ die Hände sinken und schlug die thränenfeuchten Augen schüchtern zu dem Kapitän auf.
»Wenn Sie mir gestatten, daß ich etwas für Sie thun darf, Elwire, so werde ich Sie einer achtbaren Familie empfehlen, in deren Schooße Sie Niemand verfolgen wird. Oder wollen Sie Ihren Vater nicht verlassen?«
Bei diesen Worten stand das Mädchen hastig [] vom Boden auf und warf sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit an Aurels Brust.
»O Gott, noch immer hier!« rief sie schaudernd. »Lassen Sie uns fortgehen, recht weit fort! Ich will gern Ihre Sclavin sein, nur retten Sie mich!«
Klütken-Hannes lachte. »Da hören Sie's ja,« sagte er. »Noch hat das Mordmädel Sie nicht ordentlich angeguckt und schon will sie Ihre Magd, Ihre Sclavin, Ihre Maitresse sein! Ich sag's ja, das ganze Weibervolk ist Teufelsgelichter!«
»Fassen Sie Muth, Elwire!« sprach Aurel der fieberhaft Zitternden zu. »Gern möchte ich Sie schon jetzt dieser Mördergrube entreißen, allein es ist mir nicht möglich. Noch eine Nacht müssen Sie hier ausharren in Geduld und Ergebung. Vertrauen Sie auf Gott und mein Wort, liebe Elwire! Niemand darf Ihnen ein Haar krümmen, ohne der härtesten Strafe gewiß zu sein.«
Das schöne Mädchen trat seufzend von Aurel zurück und legte stützend ihren Arm auf Gilbert's Schulter.
»Wir kommen wieder,« flüsterte ihr der Jüngling[] zu. »Ein gegebenes Wort hat mein Kapitän noch nie gebrochen.«
»Ich hoffe, daß Sie mir späterhin werden Gerechtigkeit wiederfahren lassen, Elwire,« sagte Aurel zu dem traurigen Mädchen. »Bis morgen muß ich Sie dem Schutz aller Hilflosen empfehlen, der Ihnen gewiß einen unsichtbaren Engel senden wird. Leben Sie wohl, Elwire, und geben Sie der festen Ueberzeugung Raum, daß Sie in mir einen zuverlässigen Freund gefunden haben!«
Er ergriff die Hand des Mädchens. Dieses erfaßte schnell mit beiden Händen die seinige und riß sie leidenschaftlich an ihre Lippen. Dann wendete sie sich eben so heftig ab und lief nach dem Hintergrunde des Kellergewölbes, wo sie hinter einem Verschlage verschwand.
»Jetzt vorwärts, verruchtes Weib!« rief Aurel der häßlichen Alten zu. »Wir wollen Dich ein paar Gassen weit vor uns hertreiben, und wenn Du Dich unterfängst, noch einmal in dieser Nacht hierher zurückzukehren, so drehe ich Dir den Hals um, ehe es der Teufel oder der Henker thut! Marsch, die Treppe hinan, und hüte Dich, um Hilfe zu rufen!«
[] Mutter Lievers, wie der Trödler sie nannte, mußte sich den Umständen fügen. Klütken-Hannes aber begann zu lachen, zu singen und zu springen über den guten Handel, den er gemacht hatte, und spielte mit der Börse, die ihm für längere Zeit ein ausschweifendes Leben sicherte.
[] Drittes Kapitel.
Der Bacchussaal.
Es war neun Uhr vorüber, als der Kapitän und Gilbert mit der Kupplerin aus Klütkens Keller traten. Das Glockenspiel von Sanct Nicolai erklang dumpf in der schweren, neblichen Luft. Es spielte Luthers ergreifenden Choral: »Gott in der Höh' sei Ehr,« denselben Choral, unter dessen Accorden es zehn Jahre später in den Flammen für ewig untergehen sollte! –
Von den scharfen Augen ihrer Begleiter bewacht, mußte sich Frau Lievers in das Unvermeidliche fügen und den beiden Männern in geringer Entfernung vorausschreiten. Erst als sie durch den kleinen Trampgang auf eine breite Straße traten, wies Aurel das freche Weib nach den Kohlhöfen, indem er ihr zuraunte:
[] »Das ist Dein Weg, vermaledeite Kupplerin! Wage nicht umzukehren, oder auf verborgenen Pfaden Hand an meine Schutzbefohlene zu legen, sonst sollst Du empfinden, daß ein Schiffskapitän keinen Scherz versteht!«
Frau Lievers machte einen Knicks vor dem strengen Herrn und schlug den vorgeschriebenen Weg ein, der sie in ziemlich gerader Richtung in dasjenige Stadtquartier führen mußte, wo Schönheit und Sünde ein unzertrennliches Bündniß geschlossen haben.
»Was beginnen wir nun?« fragte Gilbert, da Aurel in Gedanken versunken dem alten Weibe noch immer nachsah, obwohl Nebel und Entfernung es längst ihren Blicken entzogen hatten. »Sie waren so heiter vor einer Stunde und nun sind Sie verstört, wie ich Sie noch nie gesehen habe.«
»Bei Gott, Junge, Du hast Recht,« versetzte Aurel, sich ermunternd und wie ein Pudel schüttelnd, gleichsam als wolle er alle unheimlichen Eindrücke, welche die letzten Scenen auf ihn gemacht hatten, damit gänzlich beseitigen. »Ich ging aus, um Lust,« Scherz, süßes Vergnügen zu suchen, um zu küssen und mein heißes Blut abzukühlen, [] und ich habe statt dessen Noth, Jammer, Qual und den fürchterlichsten Ernst des Lebens gefunden! – Gilbert, Elwire ist bezaubernd! »Das Mädchen hat es mir völlig angethan! Bei Gott, ich würde sie unter allen Umständen höchst liebenswürdig gefunden haben, aber so, wie wir sie trafen, sich krümmend unter der Zuchtruthe eines unmenschlichen Vaters, so hat sie mich vollkommen behext. Ich glaubte einen Engel des Lichts in den Klauen eines haßerfüllten Teufels zu erblicken.«
»Sie müssen diesen allzu tiefen Eindruck durch neue zu schwächen suchen, Herr Kapitän! Haben Sie mir nicht selbst wiederholt die goldene Regel zugerufen, daß, wer das Leben verstehen und recht genießen wolle, es immer von der leichten, reizenden Seite erfassen müsse? – Und was ist's denn weiter um dieses Mädchen, dessen Augen mir allerdings auch noch wie ein Paar dunkle Sonnen durch den Himmel meines Gedächtnisses rollen! Elwire ist wunderbar schön, aber sicher noch lange nicht die Allerschönste in Hamburg! Es gibt hier Göttergestalten, in deren Armen man sterben möchte. Suchen wir irgendwo ein Paar solche Göttinnen auf!«
[] Unter diesem leichtsinnigen Geplauder hatte Gilbert seinen Vorgesetzten nach dem großen Neumarkt fortgezogen. Jetzt, als der junge Hans Liederlich seinen Sermon schloß, mußte Aurel hellauf lachen, daß ihm die Thränen aus den Augen liefen.
»Sind wir nicht ein Paar rechte Thoren, die schöne Zeit mit fruchtlosen Worten so unverzeihlich zu verderben!« rief er aus. »Im Handeln bethätigt sich der Mann! Wir haben selbander Elwiren vom Verderben gerettet, – das ist eine vortreffliche That, die uns ganz bestimmt hoch angerechnet wird im Himmel, wenn ›die Diener des göttlichen Wortes,‹ wie sich die närrischen Schwarzröcke nennen, uns keine Nase drehen. Es sind uns mithin so viel lustige Streiche gut geschrieben im großen Allerweltshauptbuche, daß wir füglich schon jetzt auf Rechnung unseres Guthabens frischweg in's Zeug hineinleben können! Es kann uns nur als pure Belohnung angerechnet werden. Also frisch auf, Kamerad, in den wildesten brausendsten Strudel des sinnlich entzügelten Lebens!«
Arm in Arm durchwanderten die Leichtfertigen mehrere Straßen, schritten quer über den [] Kirchhof der großen Michaeliskirche und folgten dem Zuge einer Menge Menschen, der sich in einer Seitengasse verlor. Da sie langsam gingen, wurden sie häufig von Nachfolgenden überholt. Es waren meist vornehm gekleidete Herren, die, an jedem Arm ein ballmäßig costümirtes Mädchen, ausgelassene Scherze trieben. Einige Male wurden sie von einem ganzen Schwarme junger, geputzter Mädchen überholt, die, soviel das dunkle Licht der Straßenlaternen erkennen ließ, alle sehr hübsch und musterhaft gewachsen waren. Diese Mädchentruppen unterließen nicht, die beiden allein gehenden Männer lachend anzurufen, sich ihnen höchst ungenirt zu Begleiterinnen anzubieten, sie zu fragen, ob sie schon mit flinken Tänzerinnen versehen seien, und wenn Aurel und Gilbert solche Fragen nicht beantworteten, sie mit einiger Zudringlichkeit zu umringen und sogleich wieder wie Spreu im Winde auseinander zu stauben.
»Wohin führen Sie mich?« fragte Gilbert halblaut den Kapitän, denn so leichtfertig und grundsatzlos der junge Matrose, theils von Natur, theils durch Aurels Umgang und Beispiel geworden war, konnte man ihn doch keinen raffinirten, verdorbenen Wüstling nen nen. Es war [] bei ihm, wie bei Aurel, mehr der unwiderstehliche Hang nach buntem, abenteuerlichem Leben, als die Lust an verbotenen Genüssen, die sie in bedenkliche Kreise führte und den Rigoristen ausreichenden Grund gab, den Stab über sie zu brechen.
»Bei Gott, Junge, ich weiß es selbst nicht bestimmt!« entgegnete Aurel in bester Laune. »Sie heißen's ›Salon,‹ was heute Nacht so viel junges Volk in diese Stadtgegend führt. Ob aber daselbst getanzt, gesungen oder gespielt wird, das müssen wir abwarten! Es soll lustig hergehen, hab' ich gehört, und die schönsten Mädchen Hamburgs, doch nicht immer die Tugendhaftesten, machen in diesen Salons die Honneurs. Das wollen wir uns denn ein Mal auf gut Glück mit ansehen.«
Gilbert war es zufrieden, eine neue Seite des Lebens kennen zu lernen, wenn es auch nur eine tief dunkele Schattenseite sein sollte. Ihre Schritte beschleunigend kamen sie an ein stattliches Haus, dessen Thorweg hell erleuchtet war und aus dessen Innerem verworrenes Geräusch vieler Stimmen und die dumpfen Töne rauschender Tanzmusik erklangen. Männer und Frauen [] oder Mädchen bald einzeln, bald paarweise, oder zu Dreien und Vieren, traten in den Thorweg und stiegen eine ziemlich breite Treppe im Hinterhause hinauf, die auf beiden Seiten mit grünen Tannenzweigen garnirt war. Eine hohe, ebenfalls mit frischem Laubwerk geschmückte Pforte, in der buntfarbige Lampen sich drehten, eröffnete den Eingang zu einem geräumigen Saale. Dieser endigte in einer Spiegelwand, wodurch er ungleich größer und gewühlvoller erschien, als er wirklich war. Auch an den Wänden waren zwischen weichen und breiten Polstern hohe Spiegel angebracht. Drei große Kronleuchter mit zahllosen Flammen schwebten gleichsam aus der geheimnißvollen Nacht des gestirnten Himmels herab, denn die in leichter Schwingung gewölbte Decke des Saals war mattblau, fast etwas in's Schwarze schillernd, gemalt und mit einer Unzahl glänzender silberner Sterne von allen Größen ausgeschlagen. Schien es doch, als bedürfe das Laster, das sich in blendendstem Schmuck, in verführerischstem Liebreiz, in kokettester Anmuth, in reizendster Schönheit in diesen Räumen tummelte und dem Götzen der Welt seine Huldigungen darbrachte, dieses künstlichen Deckmantels. [] Unter dem nachgeahmten Sternenzelt der keuschen heiligen Nacht fühlte die Sünde keine Reue, keine Scham. Das Gewissen schwieg bei den Orgien, zu denen die schönsten Töchter der Erde hier geschmückt erschienen! –
An der einen Seite des Saales kredenzte eine Statue des eppichumlaubten Gottes der Freude und des Weines in goldener Schaale sprudelnden Champagner. Diese Statue gab dem Saale seinen Namen. Links und rechts zu beiden Seiten führten breite Thüren auf hell schimmernde Corridore. Diese Thüren wurden häufig von erhitzten Tänzerinnen geöffnet, um sich in der weichen Kühle der Vorräume einsam oder in Gesellschaft zu erholen.
Die Musik war nicht vorzüglich, aber rauschend und wild. Sie harmonirte mit der Stimmung der meisten Tanzenden, die im raschesten Tempo, mehr fliegend und stürzend, als sanft schwebend, den Saal durchrasten.
Mit anderthalb Mark erkauften sich Aurel und Gilbert das Recht, an den wüsten Freuden des Bacchussaales bis nach Mitternacht Theil nehmen zu dürfen.
Gilbert war ein leidenschaftlicher Tänzer. Es [] währte daher nicht lange, so hatte er schon ein Mädchen gewählt und flog in ihren Armen die sich immer von Neuem ergänzende Reihe tanzender Paare hinab. Aurel tanzte weniger gern und nur dann, wenn ihm ein Mädchen als Tänzerin besonders gefiel. Das Rasen im Tanz war ihm zuwider. Er fand in diesem reizlosen, gegen alle Schönheit verstoßenden Toben Nichts, was Herz und Sinne berücken konnte, und doch hielt er künstlerisches Tanzen wesentlich dazu geeignet, die Schönheit in strahlendstem Glanze erscheinen zu lassen.
Die gepolsterten Sitze entlang schreitend, musterte er die geschmückten jungen Mädchen, die vom Tanz ausruhten oder auf neue Tänzer harrten. Viele von diesen Töchtern des Bacchussaales waren ihrer ungewöhnlichen Schönheit entsprechend gekleidet. Weiche Seiden umrauschten die vollen und doch zarten Glieder, falsche Brillanten waren in die Flechten ihrer reichen Haare gestreut, die natürliche und künstliche Blumenkränze geschmackvoll umwanden.
Aurel pflegte in der Regel nicht zu reflectiren. Als Mann der That auf das Practische gerichtet, von Jugend auf zu tüchtiger Regsamkeit [] angehalten, konnte sich eine ohnehin schwach vorhandene Anlage zur Philosophie in ihm nicht entwickeln. War er also nicht geradezu in seinem Fache, für das er mit ganzer Seele lebte, beschäftigt, so liebte er den ungebundenen, freien, grenzenlosen Genuß. Der Augenblick und seine Freuden waren alsdann die Götter, denen er opferte, die er allein anerkannte.
Seltsamerweise wollte sich dieser stürmische Drang zu freudiger Hingabe an den Genuß diesmal bei Aurel nicht einfinden. Er sehnte sich nach Freude, nach tosendem Jubel, nach völliger Vergessenheit, aber jener berauschende Taumel, der wie eine Sturzsee des Menschen ganzes Wesen ungerufen überströmen und in seine schäumenden Brandungen hineinreißen muß, soll er absichtslos und ohne Rückhalt genießen, dieser entfernte sich mehr und mehr von ihm. Der leichtsinnige, allen Freuden leidenschaftlich ergebene Kapitän mußte wider Willen denken. Die leidende, blutig geschlagene Gestalt der tugendhaften Elwire mit dem stummen Verzweiflungsschrei in dem großen nachtdunklen Auge drückte sich wie eine Geistererscheinung in den Spiegel seines Auges. Er konnte das ergreifende, zu tiefem Ernste [] stimmende Bild nicht verwischen. Selbst dem perlenden Feuer des Weines wich es nicht. Vor ihm, zur Seite, an seinen Fersen rauschte es mit ihm durch das Gewühl der hundert reizenden Evastöchter – der einzige unbefleckte Engel unter lauter Kindern und Zöglingen der Sünde! –
Aurel suchte an Vergnügungsorten ähnlicher Art immer die ausgelassensten Dirnen auf, um in munterer Weise mit ihnen zu scherzen. Zuweilen benutzte er solche Bekanntschaften wohl auch zu Anknüpfung eines nur Tage oder Wochen bestehenden zärtlichen Verhältnisses. Heut wollte ihm dies nicht gelingen, eine so brennende Sehnsucht, ein so verzehrendes Verlangen er auch nach solcher Zerstreuung hatte. Eine unsichtbare, geheimnißvolle Gewalt hielt ihn von all' den schönen lockenden, jubelnden Kindern der Freude zurück, in deren Blicken er den Wunsch lesen konnte, mit ihm bekannt zu werden.
Aergerlich über diese unwillkommene Stimmung, die ihn wider Willen kalt, spröde, theilnahmlos machte, wollte er sein Blut erhitzen, um neue Lust zu fröhlichem Leben in sich zu erwecken. Rasch trat er an eine hohe in perlfarbenen Seidenstoff gehüllte Mädchengestalt und forderte [] sie zum Tanz auf. Höflich reichte sie ihm die Hand und reihte sich mit ihm den tanzenden Paaren an. Sie tanzte leicht und mit Grazie. Ein tadelloser Wuchs, ein wunderschön geformter Arm und Nacken beschäftigten während des Tanzes den Kapitän. Das Auge des Mädchens hatte er noch nicht gesehen, denn sie schlug es hartnäckig zu Boden. Auch seine Fragen beantwortete sie ohne ihn anzublicken. Das fiel Aurel auf, sein Interesse war erregt, er mußte das schöne, wortkarge Mädchen näher kennen lernen. Auf seine Frage, ob sie den Tanz beendigen wollten, beugte sie bejahend den Kopf. Aurel führte sie in einen weniger von Menschen umschwärmten Theil des Saales und setzte sich neben sie.
»Warum so still unter lauter fröhlichen vergnügten Menschen?« fragte der Kapitän, die Hand des Mädchens sanft drückend.
»So bin ich immer,« versetzte dieses, kaum bemerkbar die langen Wimpern bewegend.
»Aus Grundsatz, schönes Geheimniß?«
»Aus Grundsatz!«
»Sollte dies Ihrem Fortkommen nicht hinderlich sein?«
Jetzt schlug das Mädchen ihre Augen auf [] und die Blicke Beider begegneten sich. Aurel fühlte die Hand seiner Tänzerin leise erbeben. Ein Auge von unergründlicher Tiefe sah ihn traurig und melancholisch groß und fragend an. Sie antwortete nicht.
»Ich scheine Sie beleidigt zu haben,« fuhr Aurel fort, »das war nicht meine Absicht.«
»Ich weiß es und verzeihe Ihnen gern.«
»Sind Sie allein hier?«
»Ganz allein.«
»Ohne Lust am Tanz, ohne Freude im Herzen? Das ist seltsam!«
»Sagen Sie lieber, es ist entsetzlich! Dann sprechen Sie die Wahrheit.«
»Weshalb besuchen Sie die Salons, wenn Ihnen vor den Freuden graut, die sie Ihnen bieten?«
»Es ist mein Fluch, mein Schicksal, nennen Sie es, wie Sie wollen! Die Ketten, mit denen das Laster bindet, sind unzerbrechlich!«
Diese Worte sprach das Mädchen mit einem solchen innern Entsetzen, daß Aurel davor fröstelte. Er überflog mit schnellem Blick die schöne, nachlässig im Divan ruhende Gestalt, bewunderte diese edlen, reinen Formen, den prächtigen Schnitt [] des Gesichts mit dem stolzen Munde und der fein gebogenen Nase, und der Gedanke, die Bedauernswürdige müsse aus guter Familie stammen und vielleicht durch außerordentliche Ereignisse in ihre jetzige Lage versetzt wor den sein, drängte sich ihm mit Gewalt auf.
»Wäre es Ihnen vielleicht angenehmer, in eins der Nebenzimmer zu treten und ein Glas Champagner mit mir zu trinken?« fragte Aurel die schöne Unbekannte. »Es ist unglaublich heiß hier und gar so tumultuös!«
»Wie Sie wünschen, mein Herr, doch meinetwegen bemühen Sie sich nicht. Ich trinke nie.«
»Das ist Unrecht, mein Fräulein! Sie sollten sich erheitern.«
»Ich will nicht erheitert sein.«
Aurel war aufgestanden und bot dem schönen Mädchen den Arm. Sie nahm ihn gleichgiltig, vornehm an und trat mit ihm in ein Nebenzimmer, wo einzelne Paare an runden Tischen saßen, flüsterten, lachten und tranken. Der Kapitän bestellte Champagner und zwei Gläser.
»Denken Sie nicht, mein Herr, daß Sie mich bereden können!« sagte das Mädchen mit [] großer Entschiedenheit. »Es soll mich freuen, wenn der Wein Sie belebt, was mich betrifft, so werde ich mein Wort halten.«
»Sind Sie in allen Dingen so gewissenhaft?«
»In allen.«
»Wenn Sie also einen Mann mit Ihrer Liebe beglückten, so würden Sie ihm umwandelbar treu bleiben?«
»Wenn ein Mann meine Liebe erwürbe und sie verdiente, gewiß!«
»Und einen solchen Mann fanden Sie noch nicht?«
»Ich werde ihn nie finden!« versetzte seufzend die Schöne.
»Vertrauen Sie Ihren Reizen so wenig, schönes Geheimniß? So jung, so blühend, so interessant – gewiß Hunderte werden sich um Ihr Herz bewerben, und unter diesen Hunderten wird doch wohl Einer Gnade finden vor Ihren tiefsinnigen Augen?«
»Wäre dies je der Fall, so würde ich nicht das Herz haben, ihn zu betrügen.«
»Betrügen! – Sie werden immer räthselhafter.«
[] Das Mädchen warf ihm einen flammenden Blick zu, der ihn wie ein schwerer Vorwurf traf, und zuckte dabei mitleidig die Achseln.
»Sie erlauben, mein Fräulein, daß ich mich ein Wenig in den Vorhof Ihres Geheimnisses zu stehlen wage. Werden diese stolzen Lippen es verschmähen, mir Ihren Namen zu nennen?«
»Bianca,« sagte das verschlossene, ernste Mädchen kühl. »Was wollen Sie nun damit?«
»Bianca,« erwiederte Aurel, »aus gutem Herzen und in bester Absicht, weil Sie mir eine Theilnahme für Sie eingeflößt haben, die nicht mehr verlöschen kann, frage ich Sie offen und ehrlich: Halten Sie mich für einen Mann, zu dem ein Mädchen Vertrauen fassen kann?«
»Ich kenne Sie noch zu kurze Zeit, um mir ein Urtheil über Sie und Ihren Character zu erlauben.«
»Ich bitte Sie darum, Bianca!«
»Zu welchem Zweck?«
»Damit Sie mir vertrauen, wenn ich es verdiene.«
Bianca ließ jetzt ihre traurigen Augen lange Zeit auf den bewegten Zügen des Kapitäns ruhen, dann sagte sie: »Ich glaube, mein Herr, [] daß Sie nicht besser und nicht schlechter sind, als Tausende Ihres Geschlechtes, doch scheinen Sie ein gutes Herz zu besitzen, und einem Solchen kann ein hilfloses Mädchen wohl vertrauen.«
»Nun denn, Bianca, so thun Sie es!« rief Aurel leidenschaftlich und küßte ihre Hand. »Gießen Sie den Kummer, die Schwermuth, die Trauer, die Sie mit sich tragen, in meine Seele! Beichten Sie die Schmerzenseindrücke des Lebens, als wäre ich Ihr Bruder, Ihr Vater, Ihr Geliebter, und empfangen Sie von mir das heilige Versprechen statt eines Eides, daß kein Sterblicher von Ihrer Beichte eine Sylbe erfahren soll!«
»Wer sind Sie und was veranlaßt Sie, diese unbegreifliche Theilnahme gerade mir zuzuwenden?«
»Wer ich bin! Was braucht das Sie zu kümmern! Es genüge Ihnen, zu wissen, daß ich ein freier, unabhängiger, vermögender Mann bin, der in beiden Hemisphären vor Kummer brechende Augen gesehen, der das Volk in seinen Freuden und Leiden kennen gelernt hat! Bianca, sein Sie offen! Sie gehören nicht in diese Gesellschaft! [] Ein entsetzliches Verhängniß muß Sie unter diese –«
»Warum stocken Sie? Sprechen Sie aus, was Sie denken! Nennen Sie diese armen, unglücklichen Geschöpfe, was sie sind – Verworfene! Sie bezeichnen damit blos den Rang, den ihnen die vornehme, so genannte ehrliche, bürgerliche Gesellschaft gibt, weiter Nichts. Ueber ihren wahren sittlichen Werth dieser Armen haben Sie eben so wenig ein Urtheil, wie alle Uebrigen, die sich mit verächtlichem Nasenrümpfen ein solches anmaßen.«
»O ich weiß, ich weiß!« sagte Aurel mit niedergeschlagenen Augen. »Wir sind vorschnell im Richten und verdienen doch so oft selbst gerichtet zu werden!«
»Nun, wenn Sie dies fühlen,« erwiederte Bianca, »dann können Sie noch helfen und retten! Ja, mein Herr, die Männer sind es mit ihrer Selbstsucht, ihrer kalten Grausamkeit, ihrer Genußsucht, ihrer Treulosigkeit, die aus so vielen leichtgläubigen und gutherzigen Geschöpfen das bejammernswerthe Heer derer vermehren helfen, die sie späterhin Verworfene nennen! O kennten Sie das Leben solcher Verworfenen, wüßten Sie, [] wie sie es werden, werden müssen und wie es aussieht unter der glänzenden Hülle, die sie prangend um ihre verlorene Ehre schlagen: Sie würden zittern, würden sich entsetzen vor Ihrem eigenen Geschlecht und der Verworfensten dieser Verworfenen mit demüthiger Bitte um Vergebung Ihrer Schuld die Hand küssen!«
»Bianca,« sagte Aurel erschüttert, »wer sind Sie? Wer waren Sie, ehe der böseste Dämon Ihres jungen Lebens Sie auf finstere Abwege fortriß?«
»Ich war, was ich noch bin, arm, schön und verlassen! Da hörte ich auf die schmeichelnde Stimme eines vornehm gekleideten Mannes – und nun bin ich hier,« setzte sie rasch mit plötzlich aufspringender Lustigkeit und einem unbeschreiblichen Feuerblick des tiefen, melancholischen Auges hinzu.
»Sie hätten den Bacchussaal nicht besuchen sollen, Bianca!«
»Ich hätte noch weit weniger den schön klingenden Worten eines Mannes Glauben schenken sollen.«
»Sie dürfen diesen Ort nicht mehr betreten, Sie müssen ein anderes Leben beginnen!«
[] »Wissen Sie auch, ob ich leben kann? Ob ich frei bin?«
»Wem können Sie unterthan sein?«
»Der Noth und dem Hunger!« sagte Bianca tonlos und senkte tief aufathmend den Kopf gegen die Brust.
In diesem Augenblicke ging die Thür auf und Gilbert's jugendliches, von Tanz und Wein glühendes Gesicht ward sichtbar.
»Ah, da sind Sie ja, Herr Kapitän,« sagte der junge Matrose, »und in schöner Gesellschaft, wie ich sehe,« indem er Bianca mit Aufmerksamkeit grüßte. »Ich bedauere, daß ich Sie einem so reizenden Umgange entführen muß. Hören Sie, die Musik verstummt! Alles verläßt den Saal. Es heißt, ein Schiff im Hafen sei in Brand gerathen.«
Aurel sprang auf. »Eile, Gilbert, so schnell Du kannst,« rief er dem Jünglinge zu, »ich folge sogleich!«
Gilbert warf noch einen spähenden Blick auf seinen Wohlthäter und verließ das Zimmer.
»Zu frühzeitig, Bianca, ruft mich die Pflicht [] von Ihrer Seite,« sprach er zu dem Mädchen, das seine Aufmerksamkeit in so hohem Grade erregt hatte. »Sie wissen jetzt, wer ich bin. Besitzer und Führer eines Kauffartheischiffes, das binnen wenigen Wochen in See gehen soll, um noch in diesem Jahre an den Küsten der neuen Welt Anker zu werfen, muß ich Sie in diesem Augenblicke verlassen. Ich thue es nicht, ohne Sie mit einer Bitte zu belästigen. Werden Sie dieselbe freundlich gewähren?«
»Ich möchte es gern, Herr Kapitän.«
»Nun denn – ich muß Sie wieder sehen, wieder sprechen! Wo und wie kann dies geschehen? In Ihrer Wohnung –«
»Nicht um die Welt!« fiel Bianca ein. »Aber hören Sie! Morgen zwischen vier und fünf Uhr ist Concert im Elbpavillon. Ich muß dort erscheinen, um – doch wozu davon sprechen! – Am dritten Fenster des Saales vom Millernthor her mit der Aussicht auf die Anlagen werden Sie mich finden. Ich trage ein schwarzes Kleid und ein Sträußchen vor der Brust mit einer dunkelrothen Nelke.«
»Adieu, Bianca, auf Wiedersehen!«
[] Aurel drängte sich durch die fortstürzende Menge hinaus auf die Straße. Der Nebel hing noch wie früher trüb und feucht über der menschenwimmelnden Stadt. Auf den Thürmen schlugen die Glocken an, und der Widerschein einer erst beginnenden Feuersbrunst schimmerte mattroth durch die dicke Luft. Auf den Wällen wurden die Lärmkanonen gelöst – nah und fern hörte man Feuerruf und das Getöse zu Hilfe eilender Menschen.
Als der Kapitän sich dem Hafen näherte, vernahm er, daß das Feuer gar nicht unter den vor Anker liegenden Schiffen ausgebrochen sei. Ein kleines schmales Haus auf dem Kajen, in dessen unterstem Geschoß sich eine gemeine Matrosenkneipe befand, war von der Küche aus in Brand gerathen und stand jetzt in vollen Flammen. Bei der stillen Luft und den in Uebermaß vorhandenen Lösch-Mannschaften war keine Gefahr vorhanden. Die meisten Herbeigeeilten hatte die Neugier hergelockt. Sie standen müßig in den anstoßenden Straßen und sahen ruhig dem still brennenden Feuer zu. Einen nicht geringen Theil dieser Zuschauer machten die geputzten Mädchen aus, die noch vor einer Viertelstunde [] im Freudentaumel des wildesten Tanzjubels geschwelgt hatten. –
So angenehm es dem Kapitän auch war, daß er sein Fahrzeug außer Gefahr wußte, so sehr verdroß es ihn, durch den unnützen Lärm in seinem so interessanten Gespräch mit der schönen Bianca gestört worden zu sein. Es war ihm lieb, daß das schöne Geschöpf seiner Bitte gewillfahrt hatte. Er konnte kaum den nächsten Tag erwarten.
Während er jedoch langsam und in Gedanken durch die noch sehr lebhaften Straßen nach Hause schlenderte, fiel ihm die Erinnerung an Elwire wieder schwer auf's Herz. Seine Sucht nach Abenteuern, verbunden mit Gutmüthigkeit, drohte ihn in Verlegenheit zu bringen. Aus purem Leichtsinn hatte er sich da in einem Athem zwei Mädchen aufgebürdet, von denen beiden er noch nicht wußte, ob sie es auch verdienten, daß sich ein rechtschaffener Mann für sie verwendete.
»Gleichviel,« rief er nach einigem Nachsinnen sich ermuthigend zu, »ich habe mich für Beide interessirt, mich gleichsam zum Ritter Beider erklärt, und ein ehrlicher Kerl hält sein Wort!«
[] Für Elwire mußte zuerst gesorgt werden. Das verlassene Mädchen harrte gewiß mit schmerzlichem Verlangen auf den neuen Morgen und zählte die verrinnenden Minuten. Aurel mußte ein Asyl für sie ermitteln. Das hatte er zwar von Anfang an beabsichtigt, allein nun die Zeit schnell heranrückte und rasches Handeln erheischte, sah der leichtblütige junge Mann ein, daß ihm der Verstand wieder einmal mit der Zunge davon gelaufen sei. Zum Glück kannte er eine würdige vermögende Familie, in deren Hause er häufig ein- und ausging. Dahin mußte er vorerst seine Schutzbefohlene bringen.
Zu diesem Entschlusse gekommen, erreichte er sein Haus. Er setzte sich sogleich hin und schrieb noch einige Zeilen an die Frau vom Hause, worin er ihr den Eintritt eines jungen Mädchens in ihre Familie ankündigte. Nähere Ausschlüsse über dasselbe zu geben, behielt er sich mündlich vor. Als Aurel das Billet couvertirte und mit seinem Wappenringe zusiegelte, kam auch Gilbert heim.
Der junge Mensch sah ziemlich wüst und beschmuzt aus.
[] »Du warst beim Feuer?« fragte Aurel.
»Ja, Herr Kapitän, ich bin ein solcher Narr gewesen. Hätte ich gewußt, daß weiter Nichts brennte, als eine Käsehütsche, zehn Teufel hätten mich nicht aus dem Bacchussaale gebracht! Ich war vergnügt, wie ein König. In meinem Leben habe ich mich so vor trefflich noch nicht amusirt! Gott, welche Gestalten! Welch süßes Fleisch! Welche Gluthaugen! Ich bin ganz toll geworden, Herr Kapitän!«
»Das hör' ich,« sagte Aurel, der inzwischen die Adresse auf den Brief geschrieben. »Damit Du nun recht bald wieder zu Dir kommst, geh' jetzt zu Bett und schlafe bis morgen früh sieben Uhr. Hörst Du? Nicht länger, sonst verfällst Du in Strafe! Denke, Du seist zur See und schliefst auf Commando. Halb acht Uhr muß dieses Billet an seine Adresse abgegeben sein. Gute Nacht, mein Junge!«
Gilbert empfing den auf duftendes Rosapapier geschriebenen Brief und stierte seinen Gebieter verdutzt an. Da Aurel unbekümmert darum [] in sein Schlafzimmer ging, warf der Jüngling das Briefchen verdrießlich auf den Tischriß sich die Jacke auf, um freier Athem zu schöpfen, und zog sich brummend ebenfalls in seine Kammer zurück.
[] Viertes Kapitel.
Ein Fund.
Vor dem Dammthore bewohnte die Wittwe Oehlers mit ihrer erwachsenen Tochter Clara ein heiter gelegenes, von wohlgepflegten Rasenplätzen und dichten Hecken umschlossenes einfaches Haus. Diese Lage unmittelbar vor der Stadt und doch in der kühlen grünen Umarmung eines kleinen Parles vereinigte auf's angenehmste die Vorzüge des Stadtlebens mit dem freien Genuß ländlicher Einsamkeit und gestattete der noch rüstigen Frau, Sommer und Winter in dem ihr lieb gewordenen Hause zuzubringen.
Madame Oehlers war die Wittwe eines reichen Hamburger Kaufherren, der ihr bei seinem Tode ein großes Vermögen nebst einem blühenden Handelsgeschäft hinterlassen hatte. Die [] Wittwe suchte nach dem Ableben ihres Mannes für die Fortführung dieses Geschäftes, das sie nicht selbst betreiben konnte, einen zuverlässigen Mann, der sich desselben annehmen sollte, und machte dies in mehreren weit verbreiteten Zeitungen bekannt. Dies geschah um jene Zeit, wo die Grafen von Boberstein und namentlich Adrian mit dem Plane umgingen, in Hamburg, als dem ersten Stapelplatz des norddeutschen Handels, ein eignes Handelshaus zu gründen, um mittelst desselben die Erzeugnisse ihrer Spinnerei mit größerem Gewinn wieder umsetzen zu können. Adrian zog genaue Erkundigungen über die Verhältnisse der Firma Oehlers ein, fand dieselben seinen Wünschen vollkommen entsprechend und machte der Wittwe den Vorschlag, das Geschäft käuflich an sich zu bringen. Man einigte sich in Kurzem über den Kaufpreis, über die Zahlungstermine und was sonst noch bei derartigen Veräußerungen festzustellen und zu berücksichtigen ist. Madame Oehlers war froh, eine große Sorge los zu sein, Adrian hatte unter verhältnißmäßig billigen Bedingungen ein in der großen Handelswelt accreditirtes Geschäft erhalten und konnte nunmehr mit bedeutendem Gewicht an der Börse [] erscheinen. Ein Geschäftsführer, wie er ihn wünschte, war ebenfalls bald gefunden und somit die Angelegenheiten zweier Familien zu beiderseitiger Zufriedenheit geregelt.
Durch das Hin und Wider während der Geschäftsunterhandlungen hatte sich im Verkehr zwischen den Gebrüdern Boberstein oder, wie sie als speculirende Handelsherren sich consequent nannten, am Stein und der Familie Oehlers ein freundschaftliches, auf gegenseitige Achtung gegründetes Verhältniß ausgebildet. Als späterhin Aurel von England herüber kam, um als Rheder festen Fuß in Hamburg zu fassen, öffnete Madame Oehlers dem lebenslustigen Manne ihr gastfreies Haus. Clara, hübsch, jung und aufgeweckten Geistes, eine Meisterin auf dem Fortepiano, das sie leidenschaftlich gern spielte, war für Aurel ein fesselnder Magnet, wenn er auch keine ernstlichen Absichten auf das junge Mädchen hatte, was die Mutter laut, die Tochter vielleicht im Stillen wünschte.
Die Flatterhaftigkeit des jungen Kapitäns und sein Hang zu sinnlichen Ausschweifungen konnte den Frauen zwar nicht gar lange verborgen bleiben, allein es störte derselbe doch in keiner Weise [] den freundschaftlichen Verkehr unter einander. Clara ärgerte sich freilich, so oft ihr wieder ein neuer toller Streich des in der Stadt umher schwärmenden Kapitäns zu Ohren kam, persönlich aber ward er ihr dadurch nur interessanter. Sie war nie freundlicher, zuvorkommender, liebenswürdiger, als wenn sie Aurel recht viele Jugendsünden zu vergeben hatte, und Aurel konnte wieder nie zarter dem jungen Mädchen begegnen, als nach wild durchtobten Nächten. An ein Verhältniß mit Clara oder gar an eine Heirath mit ihr dachte er nicht. Das hatte bei ihm noch lange Zeit; zuvor wollte er auf die lustigste und mannichfaltigste Weise sein Leben genießen. –
Clara hatte eben die singende Theemaschine auf den zierlichen Kohlenhalter gesetzt, um für sich und die Mutter das Frühstück zu bereiten, als der Bediente einen Brief überbrachte. Es war das Billet Aurels. Die Wittwe erbrach es und durchlas mit einigem Staunen die wenigen Zeilen. Sie las sie zwei- und dreimal und legte sie dann kopfschüttelnd neben sich auf's Sopha.
»Von Aurel?« fragte Clara neugierig, denn ihr scharfes Auge hatte das Wappen erkannt.
[] »Von unserm abenteuerlustigen Kapitän,« erwiederte die Mutter mit ironischem Lächeln. »Der muntere Herr, scheint es, wird mit jedem Tage ausgelassener, ja kennte ich nicht bereits zur Genüge seine excentrischen barocken Einfälle, so würde ich das, was er mir in diesen Zeilen meldet, gradezu für eine Mystification halten.«
»Ja was gibt es denn?« fragte mit schlechtverhehltem Aerger die Tochter, indem ihre vollen runden Wangen im Feuer der Eifersucht erglühten. »Hat Aurel einen dummen Streich gemacht?«
»Das wag' ich gegenwärtig noch nicht zu entscheiden, liebe Tochter. Höre, was mir der tolle Mensch schreibt.«
Madame Oehlers nahm den Brief wieder auf und las:
»Meine verehrteste Freundin!
Wenn Sie beim Lustwandeln irgendwo eine zarte Blume von wunderbarer Farbenpracht und süßem Duft gewahren, die eine frevelnde Hand absichtlich zerstören will, nicht wahr, dann schirmen Sie das bezaubernde Gewächs gegen boshafte Gewalt und bergen sie an Ihrem Busen? Ich habe durch Zufall heut [] Abend eine solche Blume gefunden, ein junges Mädchen, weiß, zart, schlank, wie die Lilien in Ihrem Garten, bescheiden, wie ein Veilchen, sanft, gut und schuldlos, wie jedes unverdorbene Frauenherz. Dieses schöne, verlassene Mädchen entriß ich den Händen eines Wüthrichs, der ihr Vater zu sein vorgibt. Sie warf sich mit Freudenthränen vor mir nieder und wollte gar nicht mehr von mir lassen. Was war da zu thun? Ich versprach dem lieblichen Kinde Schutz und Pflege, aber in meine Kammer kann ich sie doch nicht nehmen! – Da dachte ich an Sie, meine treffliche Freundin, an Ihre Güte, Ihre sinnige Tiefe, Ihren schönen wohlthuenden Gleichmuth! Ich dachte auch an die gute liebe Clara und ihre Engelsstimme. Nicht wahr, Sie Beide, Mutter und Tochter, Sie können mir nicht abschlagen, bei einem verlassenen Mädchen so lange Mutter- und Schwesterstelle zu vertreten, bis – ja wie lange denn! Gott mag es wissen! Genug, machen Sie sich morgen vor Mittag auf einen Besuch gefaßt, der Sie überraschen wird, und vergeben Sie im voraus für solche Ueberrumpelung [] und Erweiterung Ihres Familienkreises
Ihrem unermüdlichen Kreuzer
Aurel.«
»Was hältst Du davon, meine Tochter?«
Clara war noch weit ärgerlicher geworden. Sie kniff recht bitterböse den kleinen Mund zusammen und sagte, noch tiefer erröthend: »Ich finde das Verlangen des Herrn Kapitäns über Gebühr ungezogen. Uns ein stockfremdes, vielleicht gar gemeines Mädchen aus freien Stücken ins Haus zu schicken! Manchmal scheint es wirklich, als leide der gute Mann an Verstandesschwäche.«
»Verdamme ihn nicht, liebes Kind! Aus seinem Schreiben geht hervor, daß er eine gute That entweder gethan hat oder doch hat thun wollen. Dies müssen wir vor Allem ins Auge fassen und darüber das Ungewöhnliche seines Verlangens vergessen. Lassen wir uns immerhin das Mädchen vorstellen, dem unser wackerer Kapitän seinen Schutz zugesagt hat. Entspricht sie unsern Erwartungen, so kann sie bei uns bleiben und Dir eine liebe Gefährtin werden; sollte sie unsere gewohnte Ordnung stören, uns überhaupt [] nicht gefallen, so wird es ja doch Mittel und Wege geben, für ein verlassenes Geschöpf auf anständige Weise zu sorgen.«
»Ich wette, daß es eine von den saubern Liebschaften des Herrn Kapitäns ist!« versetzte Clara, ein Stückchen geröstetes Weißbrod mit ihren Perlenzähnen zermalmend, um den aufkochenden Aerger besser verschlucken zu können. »Man kennt den Herrn von dieser Seite, und es wundert mich wirklich, liebe Mutter, daß Sie ihm noch nicht einmal recht tüchtig den Text gelesen haben. Sie könnten es am ersten, vor Ihnen hat er Respekt, und es ist doch wirklich gradezu ein Unglück und eine Schmach, daß ein so gescheidter, tüchtiger, liebenswürdiger junger Mann aus einer so alten und ehrwürdigen Familie sich und seine Ehre so ganz vergißt und wohl auch noch Andere obendrein compromittirt!«
»Auch die Sonne hat ihre Flecken, liebe Tochter,« sagte die Mutter sanft und gelassen. »Kapitän Aurel ist gut, nur etwas flatterhaft; und das ist für einen Mann von Geist und Herz kein gar zu arger Fehler. Ueberdies sagt man ihm mehr Schlimmes nach, als er verdient. Weil [] er den Mädchen gefällt, verleumdet man ihn. Das ist so der Welt Lauf.«
»Er wird nie ein Mädchen glücklich machen! Welch Frauenherz soll auch einem solchen Wüstling vertrauen!«
»Jedes, mein Kind, glaube mir! Man hat zahllose Beispiele, daß solche überlustige Kumpane die besten, treuesten, zärtlichsten und aufmerksamsten Gatten geworden sind.«
»Es ist aber doch schlecht!«
»Man kann es nicht billigen, liebe Clara, allein man muß und darf es entschuldigen.«
»Ich sehe den Kapitän nicht mehr an, wenn er nicht ein ganz anderer Mensch wird.«
»Schwöre nicht darauf!« versetzte die Mutter lächelnd. »Man nennt uns nicht mit Unrecht das schwache Geschlecht. Ein Wort, ein Blick, eine Bitte versöhnt uns schneller, als wir glauben, und häufig sind grade die Fehler der Männer die scharfen Angelhaken, an denen wider Willen unsere Herzen hangen bleiben. Wir können wohl den Haß der Abwechselung wegen und um uns selbst zu genügen bisweilen versuchen, zur Meisterschaft bringen wir es in ihm nie. Auch aus dem geringsten unserer Blicke leuchtet [] ein Versöhnungsfunke der vergebenden Liebe, die Gott in unser Herz gelegt hat! – Und was, mein Kind, was hat Dir der Kapitän gethan, daß Du so gar böse auf ihn bist?«
Clara seufzte, bückte sich, als suche sie etwas am Boden, und trocknete sich verstohlen die Thränen ab. Es war keine Frage, sie liebte Aurel. Die scharfsichtige Mutter bemerkte wohl die heftige Bewegung ihrer Tochter, sie ignorirte sie aber, da sie eine Neigung weder nähren noch unterdrücken wollte, von deren Reife sie sich noch nicht überzeugt hatte. Eben wollte sie das abgebrochene Gespräch wieder anknüpfen, da trat der Bediente ein und meldete Aurel.
Clara stand schnell auf und ging in's Nebenzimmer. Madame Oehlers gab Erlaubniß, den ungewöhnlich frühen Morgenbesuch einzulassen. –
Aurel war an diesem Morgen zeitig aufgestanden, hatte in größter Eile gefrühstückt und sich dann unverweilt auf den Weg nach Klütken-Hannes Keller gemacht. Der Eingang zur Kellertreppe stand bereits offen und war jetzt mit einigen abgetragenen, stellenweise schadhaften Kleidungsstücken behangen, um Kauflustige anzulocken. [] Auf den obersten Stufen lagen Ringe, Schnallen, Ketten und andere Putzwaaren von unedlen Metallen in kleinen Körbchen zur Beschauung Vorübergehender bereit. Klütken-Hannes selbst saß am Fuß der Treppe auf einem wackeligen Rohrstuhle, rauchte aus kurzer Matrosenpfeife einen widerlich riechenden Tabak und schenkte sich aus einer schmutzigen Flasche in ein halbzerbrochenes Glas Genever, den er gierig hinunterstürzte. Sein freches, verthiertes Gesicht war aufgedunsen und verrieth an den röthlichblauen Flecken, die es schmückten, den Säufer von Profession. Eine ungeheure Warze auf dem linken Backen, zerrissen und in den weißlichgrauen Spalten mit starken Haaren bewachsen, vermehrte noch die thierische Rohheit, die sich in der ganzen Erscheinung des Trödlers aussprach.
Als sich der Raum unter der Treppe durch Aurels Eintritt verdunkelte, warf Klütken-Hannes einen schielenden Blick nach oben und goß sich dabei ein frisches Glas Genever in den breiten, von dem struppigen Bartwuchs einer Woche verunstalteten Mund.
»Aha, Sie sind's, Herr Kapitän,« redete er Aurel an, als er ihn erkannte, stand auf und [] bemühte sich, ihn mit einer Art Compliment zu begrüßen. »Kann ich dienen? Echter Genever, scharf und heiß wie Feuer aus der Hölle! Ist zu brauchen bei solchem verfluchten Hundewetter!«
»Ich danke, Klütken-Hannes. Wie geht's Eurer Tochter?«
»Verteufelt gut, Herr Kapitän, aber ich will froh sein, wenn ich sie los bin! Seit Sie ihr den Kopf verdreht haben und ein vornehmes Fräulein aus ihr machen wollen, hört sie nicht mehr auf mich, die Wetterdirne!«
Der Trödler hatte inzwischen die Thür zum eigentlichen Keller geöffnet und forderte den Kapitän auf einzutreten. Elwire saß im Hintergrunde unter einem schief abfallenden Fenster, das nach dem Hofe hinausging und der unterirdischen Wohnung das einzige Licht gab. Sie war beschäftigt, einige Putzsachen, die sich auch die ärmsten Mädchen zu verschaffen wissen, in ein Bündel zusammenzupacken. Sie erwiederte den freundlichen Morgengruß Aurels durch eine stumme Verbeugung und ein hohes Erröthen, das selbst Nacken und Brust mit flüchtigem Purpur übergoß. Ihre Tracht war ärmlich, aber rein und [] sauber. Ein Kleid von gestreiftem Kattun, hie und da schon geflickt, umhüllte Elwirens tadellose Glieder und trug durch seine Feinheit nur dazu bei, die herrlichen Formen des ungewöhnlich schönen Mädchens durchschimmern zu lassen. Ein kleiner Fuß, eine schmale schlanke Hand, obwohl von schwerer Arbeit gehärtet, zeichneten sie vor Hunderten ihrer Schwestern aus.
Aurel fand das Mädchen heut noch schöner, noch reizender, als am vergangenen Abend, und es reute ihn nicht, ein Wort gegeben zu haben, das ihm noch manche verdrießliche Stunde machen, zu mancher üblen Nachrede Anlaß werden konnte. Um Elwiren Muth einzuflößen, reichte er ihr brüderlich zutraulich die Hand und fragte sie, ob sie noch geneigt sei, heut wie gestern einen Freund und Beschützer in ihm erblicken zu wollen? Flüsternd bejahte Elwire diese Frage.
»Dann wollen wir uns einigen, Klütken-Hannes, und wo möglich im Guten. Was verlangt Ihr, wenn Ihr von Stund' an jeden Einfluß auf Elwire verlieren, wenn Ihr überhaupt Euch nicht im geringsten mehr um das Mädchen kümmern sollt?«
[] »Herr Kapitän,« erwiederte der Trödler, »Kind bleibt immer Kind und Vater bleibt Vater, und wenn wir uns zusammen auch nicht immer zum Besten vertragen haben, so waren wir einander doch so zu sagen in's Herz gewachsen Nicht wahr, Elwire?«
Elwire seufzte und legte ein paar verschossene Schürzen auf ihrem kleinen Arbeitstischchen zusammen.
»Hören Sie's?« fuhr der Trödler fort. »Sie seufzt, daß ihr's Mieder knackt, wie lange wird's dauern, so fängt sie gar an zu heulen! O die Mädel und zumal die hübschen, die hängen an ihren Vätern mit einer Liebe, o mit einer Liebe –«
Den Schluß des Satzes verschluckte Klütken-Hannes zugleich mit einem frisch eingegossenen Glas Genever.
»Und also, sehen Sie, Herr Kapitän, das müssen Sie Alles mit einander, ich meine unsere Liebe und unsern Schmerz, – ja, das müssen Sie bezahlen – baar bezahlen!«
Der schnell genossene schwere Branntwein äußerte bereits seine Wirkungen auf den Trödler, was Aurel möglichste Beschleunigung seines [] Geschäftes – denn ein solches war das zu treffende Abkommen – wünschenswerth machen mußte. Er hatte einen frechen, betrügerischen, herzlosen, jeder Schandthat fähigen Handelsmann vor sich, der nur auf seinen Nutzen bedacht war und jedes Mittel ergriff, wenn es nur zum Ziele führte.
»Klütken-Hannes,« versetzte Aurel, »erinnert Euch, daß Ihr gestern Abend bereits eine ansehnliche Summe von mir erhieltet. Diese will ich Euch schenken. Ihr könnt damit nach Belieben schalten und walten, könnt Euern Trödelkram vergrößern und besser ausstatten, könnt Euch einen wohnlicheren Keller miethen, oder die Summe, wenn Euch das mehr behagt, verjuxen –«
»Ja, verjuxen, mein' Seel', das ist's Beste! Verjuxen will ich tausend Mark, wenn ich sie erst habe! Nun, Herr Kapitän, wie ist's mit tausend Mark, he? Banko, versteht sich und in gutem alten Silber! Ist's nicht ein delikater Bissen für tausend Mark, wie? Noch keine achtzehn Jahr, weiß wie gefallener Schnee und schuldlos wie ein Gänschen! Mein' Seel', tausend Mark, 's ist ein Spottgeld!«
Aurels Blut kochte vor Wuth und Entrüstung, [] aber er mußte den alten Sünder im Guten zu erhalten suchen, wenn er leichten Kaufes davon kommen wollte.
»Ihr kommt wieder auf Eure verruchten Sprünge, Klütken-Hannes, die in's Zuchthaus führen,« sagte er in ernstem Tone. »Ich will aus Rücksicht für Euer Kind die gottlosen Worte nicht gehört haben, die Ihr so eben ausstießt, und warne Euch nur, in diesem Tone nicht etwa fortzufahren!«
»Was da, Herr Kapitän, Handel ist Handel, und ob alte Lumpen oder frische junge Mädels, das ist all eins. Der Türke –«
»Ich hoffe, Ihr seid ein Christ, Klütken-Hannes.«
»So wahr es einen Gott im Himmel und einen Satan in der Hölle gibt!«
»Laßt uns also unsere Angelegenheit wie Christen beendigen. Gestern erhieltet Ihr an funfzig Mark Courant. Ich habe Euch gesagt, daß Ihr dieselben als Euer Eigenthum betrachten könnt. Wenn ich jetzt noch zweihundert Mark zulege, so glaube ich, wird dies vollkommen hinreichend sein, um Eure Helfershelferin, das schlechte Weib, das ich gestern hier traf, befriedigen [] zu können und auch noch eine erkleckliche Summe übrig zu behalten.«
Der Trödler brummte mit unzufriedener Miene, goß sich abermals ein Glas Genever ein und stürzte es auf einen Schluck hinunter. Er taumelte vor Aurel hin und her, denn die ganze bisherige Unterredung war stehend geführt worden.
»Ist ein Preis für eine – puh, schämt Euch, Kapitän!«
»Zweihundert Mark, Klütken-Hannes! Bedenkt, daß Ihr für immer einer großen Sorge und Plage überhoben werdet und daß Euch Elwire keinen Stüber mehr kostet!«
»Oho, rechnen Sie die Thränen für nichts, Kapitän? Für nichts den Trennungsschmerz? Ich bin ein Vater, ich! Und ich habe auch ein Herz, ich, Herr Kapitän!«
Der halbtrunkene Trödelmann schwankte, die Flasche in der einen, das Glas in der andern Hand, während dieser großprahlerisch gesprochenen Worte von einem Bein auf's andere. Elwire faltete die Hände und sah mit stieren Augen, leichenblaß und vor Furcht und Scham zitternd, auf den entsetzlichen Vater.
[] »Hier sind zweihundert Mark, Klütken-Hannes,« sagte Aurel, indem er eine strotzende Geldbörse, mit Gold und Silber gefüllt, hervorlangte, dem Trödler die Flasche entriß und die klingenden Münzen ihm in die Hand drückte. »Dafür hört Ihr auf, dieses Mädchen für Eure Tochter anzusehen; versprecht, Euch nie mehr um sie zu bekümmern, noch nach ihr zu fragen. Seid Ihr das Willens?«
»Ist mir bei allen Branntweinteufeln nicht möglich!« betheuerte der Trödler, eine wichtige Miene annehmend und sich mit der dicken, rauhen und häßlich behaarten Hand wiederholt auf die breite Brust schlagend, daß es dröhnte. »Ein Trinkgeld muß ich noch haben, sonst schick' ich zu Mutter Lievers und mein Töchterchen kehrt unter meine Zuchtruthe zurück!«
»Um Gottes willen, edler, großmüthiger Mann,« flehte Elwire, »geben Sie das nicht zu! Lieber will ich unter freiem Himmel liegen, will hungern und dürsten, als mich dem Willen jenes Weibes unterwerfen!«
»Da hören Sie's, Kapitän! Das Blitzmädel singt, treff' mich der Schlag, wie eine Drossel! Noch fünf und zwanzig Mark, und [] das Vögelchen gehört Ihnen. Sie können's dann in einen silbernen oder goldenen Käfig stecken und ihm alle Federn einzeln ausrupfen, wird kein Hahn darüber krähen, sag' ich Ihnen!«
Aurel zog eine zweite Börse. Er fühlte, daß er seiner Entrüstung über die Scheußlichkeit dieses gänzlich verworfenen Menschen nicht mehr länger Meister werden könne, auch konnte er sich in die Lage des armen Mädchens versetzen, um das der eigene entmenschte Vater wie um ein Stück Schlachtvieh feilschte. Ruhig zählte er fünf und zwanzig Mark ab und warf sie dem Trödler verächtlich vor die Füße.
»Hier ist das Geld, mit dem Du Dir für immer den Eintritt zur ewigen Pein erkaufst, jetzt gib Raum, Klütken-Hannes, und sieh Dich vor, daß Du nie meine Wege kreuzest, sonst wehe Deinem Schädel!«
»Der Herr Kapitän haben nur zu befehlen,« erwiederte der Trödler mit grinsendem Lächeln, in dem sich die Freude über den abgeschlossenen Handel kund gab. Zugleich nahm er seine Kappe ab, kniete nach einigem Schwanken nieder und las die verstreuten Silberstücke zusammen, [] die er sorgfältig nachzuzählen ungeachtet seines Rausches nicht vergaß.
Aurel hatte Elwire in seine Arme geschlossen, und indem er einen Kuß auf die kalte Stirn der Schluchzenden hauchte, sagte er gerührt: »Jetzt komm, armes, geduldiges Opferlamm! Nach so schweren Leiden soll Dich eine heitere Zukunft liebend umfangen.«
Während der Kapitän seinen Findling die schlüpfrige Kellertreppe hinaufgeleitete, fiel der matte Wiederschein eines zurückgeworfenen Sonnenstrahles auf die in Körbchen ausgestellten Schmucksachen. Die abgeputzten unedlen Metalle glitzerten wie das reinste Gold und veranlaßten durch ihr trügerisches Glänzen, daß Aurel beim Vorübergehen einen Blick auf das flimmernde Durcheinander warf. Dabei gewahrte er einen kleinen Siegelring, der unter einer vergoldeten Kette hervorguckte und mehr als die übrigen Kostbarkeiten glänzte. Er bückte sich, um einen schärferen Blick darauf zu werfen, und da er glauben mußte, der Ring bestehe aus feinem Gold, so entließ er Elwire aus seinem Arm und hob den Ring auf. Ein Blick darauf machte ihn staunen, er vergaß, was ihn so eben noch ganz [] beschäftigt hatte, und während er vergebens den Ring an einen seiner starken Finger zu stecken versuchte, rief er mit überlauter Stimme in den Keller hinunter:
»Klütken-Hannes, komm sogleich herauf! Ich will etwas von Dir kaufen!«
Brummend, noch mit dem Sammeln des erhaltenen Geldes beschäftigt, wankte der Trödler die Treppe herauf.
»Von wem hast Du diesen Ring gekauft?« rief ihm Aurel zu, indem er ihm das Kleinod entgegen hielt.
»Welchen Ring, Herr Kapitän?«
»Hier, diesen Siegelring, trunkener Schelm!«
Klütken-Hannes schielte mit halbem Auge nach dem Schmuck und versetzte murrend: »Weiß ich nicht mehr! Irgend ein verkommenes Weibsbild hat ihn mir doch an den Hals geworfen.«
»Du lügst, Schurke! Heraus mit der Sprache, sag' ich, oder ich behandle Dich wie einen Dieb! Der Ring ist ächt und trägt das Wappen eines alten Adelsgeschlechtes.«
Jetzt ward auch Elwire aufmerksam und bat den Kapitän mit sanftem Blick um die Erlaubniß, den Fund ebenfalls betrachten zu dürfen. [] Der Trödler murmelte unverständliche Worte in den Bart.
»Vater,« sagte Elwire, erröthend, daß sie dem widerlichen, verworfenen Manne diesen Namen geben mußte, »erinnert Ihr Euch nicht mehr, wie Ihr zu diesem Ringe gekommen seid?«
»Wenn dem Herrn Kapitän an dem Goldreif so viel gelegen ist, was bietet er mir dafür?« fragte Klütken-Hannes ausweichend.
»Es sind vier Wochen her, daß Ihr ihn im Kartenspiel gewannt. So wenigstens sagtet Ihr, als ich das Kleinod am Morgen in Eurer Rocktasche fand.«
»Der Ring gehört mir,« versetzte der Trödler trotzig, »und wer mir ihn gut bezahlt, soll ihn haben.«
»Wer besaß ihn vor Euch?« fragte Aurel. »Ihr seht, der Ring ist auf den Finger einer Frau gemacht.«
Klütken-Hannes schlug ein rohes Gelächter auf. »Glauben Sie, ich sei allwissend?« sagte er. »Wahrhaftig, ich müßte ein Gedächtniß haben, wie der abgerichtete Elephant auf dem Berge, wenn ich all' das Lumpengesindel noch kennen sollte, von dem ich irgend einmal Sachen [] eingehandelt habe! Ich kaufe, was mir angeboten wird, im Fall ich es brauchen kann; wer es feil bietet, gilt mir gleich. Die Waare, nicht der Verkäufer ist es, mit der ich Handel treibe.«
»Besinnt Euch, Klütken-Hannes! Wenn Ihr mir einen sichern Fingerzeig über den frühern Besitzer dieses Ringes geben könnt, so zahle ich Euch einen hamburger Thaler mehr, als der Ring werth ist! Ihr habt nach Elwirens Behauptung den Schmuck im Spiele gewonnen – und noch dazu erst vor vier Wochen! Das ist eine kurze Zeit. Ueberdies sieht man einem Spieler scharf in's Auge, prägt sich seine Gesichtszüge fest in's Gedächtniß, damit man bei gelegener Zeit Revanche von ihm fordern kann. Alles das habt Ihr unzweifelhaft aus natürlichem Instinct gethan und mithin werdet Ihr, wenn Ihr nur wollt, mir Wohnort und Namen dessen nennen können, der über diesen Reif vor Euch als über sein rechtmäßiges Eigenthum verfügte.«
»Lassen Sie doch 'mal sehen,« sagte der Trödler, sieh an die Kellerwand lehnend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und streckte seine [] schmutzige Hand nach dem Ringe aus. »Wenn ich das Ding genau begucke, erinnere ich mich vielleicht. Ich habe viel solchen Quark erspielt und verwechsele oft eins mit dem andern.«
Aurel ließ den Ring in die Hand des Trödlers gleiten. Dieser besah ihn von allen Seiten, schüttelte den Kopf, kniff die feuchten, blutunterlaufenen Augen zu, als wolle er mit Gewalt aus dem Sumpfe seines Gedächtnisses etwas herauspressen, und schlug sich endlich mit geballter Faust vor die Stirn.
»Dummkopf!« rief er aus. »Warum konnte mir das nicht gleich einfallen!« – Und zu Aurel gewendet, fuhr er fort:
»Nun ja, Herr Kapitän, wenn Sie 'was dran wenden wollen als Trinkgeld, so denk' ich Ihnen die Wege zeigen zu können, auf welchen Sie den Bengel finden, der mir schon manchen Schilling abgenommen hat. Ist's auch Ihr Ernst?«
»Meine Hand darauf!«
»Am sichersten treffen Sie den Teufelskerl in der Mohrentaverne auf dem Berge,« sagte Klütken-Hannes. »Dort hockt er alle Nächte am Spieltisch oder auf dem Orchester, um durch [] Betrug und Geigenspiel sich die Mittel zu verschaffen, seinen Leib mit der erforderlichen Ladung Grog versehen zu können. 's Ist ein lustiger, wilder Teufel, hundertmal reif für Galgen und Rad, aber die Hölle hält ihn warm und so läßt sie ihn hier seine Wirthschaft treiben, bis die letzte Scherbe zerbrochen ist.«
»Sein Name?« fragte Aurel mit Heftigkeit.
»Im Kirchenbuche mag er wohl anders heißen, als in der Mohrentaverne,« antwortete immer lachend der Trödler, »kann's also nicht beschwören, ob ich Ihnen den rechten Namen des alten Fuchses nenne. So lange ich ihn kenne und dann und wann mit ihm zusammen trank oder ein Geschäft abmachte, rief ihn der ganze Troß Blutrüssel.«
»Das ist Alles, was Ihr von ihm wißt?«
»Wollen Sie mehr erfahren, Herr Kapitän, so gehen Sie in die Mohrentaverne und fragen die Matrosen. Antwort kriegen Sie mit Zunge oder Faust, darauf können Sie fluchen.«
Aurel senkte einige Augenblicke nachdenkend den Kopf.
[] »Wäre es möglich!« sagte er halblaut zu sich selbst. »Sollten aus längst vergangener Zeit, die mein Auge nie sah, Geheimnisse auftauchen und ein trübes Element in mein bis jetzt so heiteres Dasein bringen? – Oder wäre es Täuschung, Betrug? – Wohlan, wie dem auch sei, es steht ein neues, interessantes, vielversprechendes Abenteuer in Aussicht und ich stürze mich ihm unbedingt in die Arme.«
Der Kapitän fragte nach dem Preise des Ringes, bezahlte ohne Widerrede die Forderung des Trödlers, legte das versprochene Trinkgeld dazu und bot dann abermals Elwire höflich seinen Arm, sie mit schnellen Schritten aus dem feuchten, dumpfigen Gange nach der nächsten Straße geleitend. Hier wartete bereits ein Wagen. Der Kapitän nöthigte das schöne Mädchen, einzusteigen, und nahm neben ihr Platz. Als der Wagen in raschem Trabe über das Pflaster rollte, fragte Elwire bescheiden den nachdenklich neben ihr Sitzenden, ob sie es sei, die ihn so wehmüthig gestimmt habe?
»Sie, gute Elwire, machen mein Herz in frohen Pulsen schlagen,« gab Aurel zur Antwort. [] »Dieser Ring aber, den ich seltsamerweise bei Ihnen finden mußte, beunruhigt mich und jagt tausend Gedanken im Sturm durch mein Gehirn. Er trägt das Wappen meines Hauses!«
[] Fünftes Kapitel.
Bianca.
Gefesselt von Elwirens Schönheit und ungewöhnlich erregt von dem zufällig gemachten Funde, begrüßte der Kapitän Madame Oehlers, die ihn mit mütterlicher Freundlichkeit empfing. Seine Schutzbefohlene hatte Aurel einstweilen einer Dienerin übergeben, da er es doch für nöthig hielt, die ihm wohlwollende Dame vorher noch persönlich zu sprechen.
»Darf ich Verzeihung hoffen, gnädige Frau, Verzeihung für meinen Ungestüm?« sagte der junge Mann, sein feuriges Auge auf den immer sanften Blick der Wittwe richtend.
»Gewiß, mein Freund,« versetzte Madame Oehlers anmuthig lächelnd. »Aber Sie geben [] mir Räthsel auf, Graf, und Sie wissen doch, daß sich meine unzulängliche Bildung nie entschiedener geltend macht, als wenn es dergleichen Geistesknoten zu lösen gibt.«
»Haben Sie meine hastigen Zeilen erhalten?«
»Wie hätte ich Sie ohne dieselben so früh am Tage empfangen können!«
Aurel fühlte den zarten Verweis, der in dieser Antwort liegen konnte, erfaßte die Hand seiner Freundin und erwiederte, indem er sie an seine Lippen führte:
»Nochmals Verzeihung, meine Gnädige, Verzeihung wegen meines Verstoßes gegen alle Sitte! Ich konnte nicht anders – ein sonderbares Verhängniß zwang mich zu so ungewöhnlichem Schritte! O Gott, theure Freundin, Sie ahnen nicht, wie es in mir stürmt!«
Besorgt ließ die Matrone einen forschenden Blick über den Aufgeregten gleiten. »In der That, lieber Graf,« sagte sie, »es muß Ihnen etwas höchst Seltsames begegnet sein, denn so tief ergriffen sah ich Sie noch nie! Reden Sie, ich bitte, und wenn irgend meine Vermittelung Ihnen Beruhigung verschaffen kann, so sichere [] ich Ihnen diese auf das bestimmteste jetzt schon zu.«
Aurel drückte der menschenfreundlichen Frau dankend die Hand. »Von Ihrem Edelmuth durfte ich dies erwarten,« versetzte er etwas gefaßter. »Gestehe ich es Ihnen denn, daß ich seit zwölf Stunden ein anderer Mensch geworden bin. Könnte ich Ihnen mit zwei Worten sagen, was mich bewegt und erschüttert, Sie würden mich eben so wenig wieder erkennen, wie ich mich selbst in diesem Augenblicke nicht kenne. Ich glaube, es wäre mir ein Leichtes, Einsiedler, Trappist oder gar Herrnhuter zu werden. Bei Gott!«
Madame Oehlers konnte ein feines Lächeln nicht ganz unterdrücken. »Das sind Einfälle eines heftig bewegten Gemüthes, lieber Graf,« gab sie zur Antwort. »Werden Sie ruhig, überblicken, überlegen Sie das Vorgefallene, und was Sie jetzt so gewaltig beunruhigt, wird spurlos wieder verschwinden. Ich fürchte, mein Freund, Sie haben in vergangener Nacht zu sehr geschwärmt,« setzte sie leicht drohend hinzu.
»Soll ich läugnen, daß ich mit dieser Absicht mich in das Gewühl der Menschen stürzte?« [] entgegnete Aurel. »Wozu dies, da Sie mich, meine Natur, meine Neigungen kennen. Rascher, flüchtiger Genuß ist das heitere Element, in dem ich mich am liebsten bewege; mannichfachste Abwechselung verlangt mein schnell verzehrendes Temperament, und wenn ich ihm solchen verschaffe, so folge ich nur der Stimme der Natur, die laut fordernd stündlich an mich ergeht. Das Naserümpfen prüder Schönen und pedantischer Minutenmenschen kümmert mich nicht! Die See mit ihrem Wellengebrause und Sturmesdonner hat alle kleinliche Rücksichtnahme aus meinem Geiste weggefegt. Die Brust ist frei und stark, der Muth immer frisch und begehrend, warum also soll ich mich da nicht ganz so geben, wie ich nun eben bin und wie ich mich allein natürlich fühle? Aber diese Nacht hat mich so abgekühlt, als wäre ich ein halb Dutzend Mal gekielholt worden!«
»War das Mädchen, von dem Sie mir schrieben, eine so kühle Nymphe?« fragte Madame Oehlers.
»Foppen Sie mich immerhin, beste Freundin, Sie haben ein Recht dazu, wenn Sie nur gewähren, was ich fordere!«
[] »Lieber Graf,« entgegnete die Wittwe, »Sie haben in dem edelmüthigen Drange Gutes zu thun vielleicht eine Unbesonnenheit begangen, die ich, weil Sie so offen gegen mich sind, im Fall der Noth mit auf meine schwachen Schultern nehmen will. Das Mädchen, das Sie so außerordentlich aufgeregt hat, soll eine Mutter in mir finden.«
Aurel athmete freier und ein unaussprechlicher Blick innigsten Dankes brach aus seinem feurigen Auge. »Ich danke,« sagte er gerührt, »mögen Ihnen diese zwei dürren Worte genügen! In späteren Tagen finde ich wohl schönere, klingendere Redensarten. Aber, beste Freundin, Sie haben mich in einem falschen Verdacht, wenn Sie glauben, es sei dies verlassene, gemißhandelte schöne Kind die Ursache, welche mir die Gedanken wie ein Wirbelwind rastlos durch das Gehirn peitscht. Das arme Mädchen interessirte mich, forderte meine Menschlichkeit heraus, aber was mich so krampfhaft durchschüttert, das ist etwas viel Geringeres.«
»Vergeben Sie mir als Weib ein klein wenig Neugierde? Ich wage zu fragen.«
[] Aurel zeigte auf den kleinen Finger seiner linken Hand. »Wofür halten Sie dies?«
»Ich denke für einen Wappenring, wie ihn Frauen tragen.«
»Wie ihn Frauen tragen!« wiederholte der Kapitän und senkte nachdenkend das Haupt.
»Finden Sie dies so wunderbar? Oder führte Ihre verewigte Mutter bei Lebzeiten nicht einen ähnlichen Ring?«
»Eben das ist's, das ist's, was mich so tief bewegt!« rief Aurel aus. »Ich besitze den Ring meiner geliebten todten Mutter – er gleicht diesem nicht im geringsten, die Wappenzier ausgenommen – und nun muß ich solchen Fund bei solchem Manne thun! Das ist entsetzlich!«
Madame Oehlers, die immer verwirrter wurde durch Aurels unzusammenhängende Aeußerungen, bat um genauere Angabe und Aussprache, wozu sich denn der Kapitän nach einigen abermaligen Abschweifungen verstand. Er theilte der aufmerksamen Freundin mit, was wir bereits wissen, und verrieth ihr sogar den Ort, wo ihm weitere Auskunft von dem betrunkenen Trödler versprochen worden war.
»Und dies Alles muß Schlag auf Schlag [] schnell nach einander geschehen! Muß geschehen fast in dem Augenblicke, wo ich einen so beunruhigenden Brief von meinem Bruder aus der Lausitz erhalte!«
Da Madame Oehlers von diesem Briefe nichts wußte, fragte sie jetzt danach und Aurel theilte das Wesentliche seines Inhaltes ebenfalls der Freundin mit. »Muß dies ein einfaches Menschengehirn nicht verwirren?« sagte er, die Erzählung beendigend. »Bei Gott, ich bin rathlos, rathloser, als hätte die heftigste Sturzsee das Steuer meiner schönsten Brigg zerbrochen!«
Die Wittwe überlegte einige Minuten das Vernommene, dann sagte sie mit freundlicher Ruhe: »Halten Sie die beiden Greise, welche auf Boberstein bei Ihrem Bruder mit so wunderbaren Anforderungen erschienen sind, für Betrüger?«
»Anfangs lachte ich darüber, gnädige Frau, wie dies in meiner Natur liegt, seit heut Morgen aber, wo dieser räthselhafte Ring in meine Hände kam, nicht anders, als würfe ihn ein dunkles Verhängniß absichtsvoll vor mich hin, beunruhigt mich die Mittheilung meines Bruders. – Bedenken Sie selbst, wenn die tausend Schreckensahnungen [] auch nur in eine einzige entsetzliche Wirklichkeit zusammenliefen, wenn diese Wirklichkeit jetzt aus ihrem dunkeln so lange verborgenen Dasein auftauchte und als rächende Schreckensgestalt vor uns träte und von den Kindern Rechenschaft forderte für die Missethaten des Vaters! – O ich bitte, erwägen Sie diese Möglichkeit und sagen Sie, ob ich dann nicht Ursache habe, ernst zu werden, zu schaudern und zu zittern?«
»Wer gibt Ihnen ein Recht, lieber Graf, sich mit so düstern Phantasien nutzlos zu peinigen?«
»Wer? – Mein Gott, Adrians Brief und meine Ahnung, seit ich diesen Ring gefunden! – Ich kann das Wort der Schrift nicht mehr aus meinem Gedächtniß verjagen: die Sünden der Väter werden heimgesucht an den Kindern bis in's dritte und vierte Glied!«
»Nehmen wir die Drohung in diesem göttlichen Wort nicht so gar wörtlich, lieber Freund,« versetzte Madame Oehlers. »Wie vermöchten wir eine einzige Stunde ruhig zu leben, freudigen Herzens für der Welt Bestes zu wirken, wenn sich ein solch gräßliches Gespenst in unserm Geiste [] fest einnistete. Wir sind freilich alle schwache, sündige Menschen, aber uns ist auch Vergebung verheißen, wenn aufrichtige Reue uns die Augen zum letzten Schlummer verschließt.«
»Mein Vater kannte die Reue nicht,« sagte Aurel, sichtbar erschüttert. »Ich erinnere mich noch mit Entsetzen, obwohl ich damals noch ein leichtfertiger Knabe war, der letzten Tage seines Lebens. Er konnte nicht sterben, der Arme! Seine Todesangst stieg bis zu wilder Raserei. Man mußte ihn schließen, um ihn nur bändigen zu können. So lag er drei Tage. Wir Kinder schlichen wohl hundert Mal an der Thür vorüber, die ihn unsern Blicken entzog, und flohen entsetzt, wenn wir das Klirren der Ketten, das hohle, dumpfe Lachen, das Knirschen seiner Zähne vernahmen. Die letzten Stunden schlug er die Wände und die Luft mit seinen Ketten, indem er unbekannte Namen nannte, Geister Verstorbener, die ihm erschienen und mit denen er kämpfen mußte. Ihren grausamen Umarmungen erlag er stöhnend, und röchelnd, wüste Flüche lallend, hauchte er seine gemarterte Seele aus! Man zeigte uns die Leiche nicht. Sie soll grauenvoll ausgesehen haben. Ganz in der Stille, ohne [] Begleitung ward sie beigesetzt. So befahl es der Arzt und – die Unterthanen, sagte man! – Sind das nun wohl Erinnerungen, die mich beruhigen können?«
Obwohl Madame Oehlers von den Familienverhältnissen Aurels ziemlich genau unterrichtet war, hatte sie doch nicht über alle Epochen aus dem Leben des Grafen Magnus gleich ausführliche Nachrichten erhalten. Nach Aurels letzten Aeußerungen begann sie mit ihm besorgt zu werden, und konnte jetzt selbst nicht mehr das Bild eines langsam aus verschütteten Gräbern aufsteigenden Rachegeistes los werden. Um jedoch den heftig bewegten jungen Mann einigermaßen zu beruhigen, rieth sie ihm, vorläufig noch Alles für ein seltsames Zusammentreffen von Umständen anzusehen und ungesäumt dem Fingerzeige nachzugehen, den Klütken-Hannes ihm angedeutet hatte.
»Es ist höchst wahrscheinlich,« sprach sie, »daß der widerliche rohe Mensch sich aus Rache, weil Sie ihn in seiner eigenen Wohnung zum Sclaven Ihres Willens machten, einen so abscheulichen Scherz erlaubt hat. Dieser Ring kann Ihrer Familie gehört haben und verloren gegangen [] sein. Irgend ein Wanderer hat ihn gefunden und verkauft und so ist er von Hand zu Hand gegangen bis in den Keller dieses Trödlers. Dies Alles aber beweist noch nichts gegen Sie, gibt dem aus Polens Wäldern heimgekehrten alten Wenden, der mit einer Klage gegen das Haus Boberstein auftreten will, kein Fleckchen fester Erde, auf dem er fußen könnte. Forschen Sie also nach und Sie werden erheitert gestehen, daß Sie ein bloßer Popanz erschreckt hat.«
Dies leuchtete dem Kapitän ein. Er versprach der Freundin Rath zu befolgen, bat nochmals dringend, das aus den Händen des Wüthrichs befreite Mädchen mütterlich wohlwollend aufzunehmen, und begab sich, während die Wittwe in das Zimmer ihrer Dienerin trat, wo Elwire bisher gewartet hatte, sogleich auf den Weg.
Es blieb dem Kapitän hinlängliche Zeit, mit sich selbst zu Rathe zu gehen, da jene Tavernen, wo der gemeine Matrose in den Genüssen des Lebens auf dem festen Lande schwelgt, erst in den späteren Abendstunden besucht werden. Theils, weil Aurel wenig Geschäfte zu besorgen [] hatte, theils, weil sie ihm verhaßt waren, ging er gaßauf, gaßab, diesmal nicht der bittenden Mädchen achtend, die mit ihren Blumensträußern vor und neben ihm hertanzten. Er schlug den Weg nach dem Baumhause ein. Dort konnte er hoffen, zahlreiche Bekannte zu treffen, vielleicht auch waren neue Schiffe eingelaufen, deren Kapitäne interessante Nachrichten aus ferner Welt mitbrachten. Was draußen jenseit des Meeres, was im farbigen Süden Europa's oder unter der glühenden Sonne des Aequators vorging, das zog ihn mehr an, als die heimische nach kleinem oder großem Gewinn athemlos rennende Welt.
Das Baumhaus war sehr besucht. Schiffsmäkler und Kapitäne aller Länder saßen in Gruppen um kleine Tische, aßen frische Austern, Lachs oder Caviar und tranken dazu heiße spanische Weine. Die Conversation ward fast in allen Sprachen geführt, doch herrschte das Englische entschieden vor. Neben einigen Bekannten nahm Aurel Platz, bestellte ein Frühstück und las die neuesten Schiffsnachrichten im Correspondenten. Dabei horchte er zuweilen auf die Gespräche der zunächst Sitzenden, ohne selbst Theil daran zu [] nehmen, denn er fühlte sich durchaus verstimmt.
»Bei Gott, das hätt' ich über dem neuesten Wirrsal beinahe vergessen!« rief er halblaut aus, als sein Blick auf die großgedruckte Anzeige eines Concertes fiel, das Nachmittags im Elbpavillon gehalten werden sollte.
»Arme Verirrte,« fuhr er fort, »mit welcher Verachtung würdest Du Dein eiskaltes Auge über das Gewühl der Männer haben gleiten lassen, wenn Du Dich von mir getäuscht gesehen hättest! – Aber mein Gott, was ficht mich denn eigentlich an, daß ich jetzt auf einmal allen Schutzlosen Schirm und Schild sein muß? Es ist komisch, bei Gott, und wenn ich noch ein paar Tage mit gleichem Glück so fortfahre, habe ich am Ende der Woche einen ganz hübschen Harem beisammen. Ich will vier und zwanzig Stunden im Mastkorbe sitzen, wenn ich weiß, was ich mit der blassen Brünette anfangen soll! Habe ich doch sogar ihren Namen vergessen! – Und zu welchem Zwecke will ich sie aufsuchen? Weil sie mir gefiel, mich reizte? Oder aus kindischer Neugier, um rührende Scenen aus ihrem Leben zu erfahren? – Pfui, Aurel! Streife [] diese ekle Hülle schändender Selbstsucht von Dir und lebe für gemeinnützige Zwecke! Das Mädchen hat meine Zusage, ich muß sie halten. Mag dann geschehen, was immer will, es kann doch unmöglich meine Unruhe noch vermehren.«
Nachdem unser Freund einen so edelmüthigen Entschluß gefaßt hatte, verließ er das Baumhaus, da er die gewünschte Zerstreuung nicht fand. Mittlerweile war die Zeit der Börse beinahe herangekommen, die er mehr aus Gewohnheit als aus wirklichem Bedürfniß zu besuchen pflegte. Er ging daher nicht erst in seine nahe Wohnung, sondern verfügte sich zuvörderst auf die Börsenhalle, wo sich um diese Zeit die Hamburger Kaufmannswelt versammelt. Hier und später an der Börse selbst fand Aurel so viel Unterhaltung, daß er momentan vergaß, was ihn quälte und, weil er nicht daran gewöhnt war, ihm das Leben verbitterte. Auf dem Platze zwischen Rathhaus und Bank mit einigen lustigen Freunden auf und abwandelnd, verging die Zeit in gewünschter Schnelligkeit, und als auch die Börse vorüber war und nun jeder seiner Wege ging, nahm Aurel die Freunde am Arm und zog sie mit sich fort, bis sie seinem Drängen nachgaben[] und ihm bei Tafel Gesellschaft zu leisten versprachen. Nun ward er wieder heiter, denn er wußte, daß ihm bei Gespräch und Wortwechsel keine Zeit übrig bleiben konnte, an die ärgerliche Angelegenheit früher zu denken, als es nöthig sein würde. So zeigte der körperlich robuste, an die größten Anstrengungen gewöhnte Kapitän, daß die geistige Lebenskraft von seinem sinnlichen, dem Genuß ergebenen Temperament weit überwogen wurde, und daß er bei all seiner Rüstigkeit doch eigentlich das verwöhnte Kind einer siechenden, matten und schlaffen Zeit war.
Das Diner verlängerte sich bis gegen Sonnenuntergang, so daß Aurel, der sich absichtlich nicht übereilte, erst bei grauer Abenddämmerung den Elbpavillon erreichte. Er wußte aus Erfahrung, daß um diese Zeit der Andrang Vergnügungslustiger am stärksten, das Gewühl in dem geräumigen Saale des Etablissements so lebhaft sei, daß Keiner den Andern beachtete. Und unbeachtet wünschte er zu sein, wenn er mit Bianca zusammentraf.
Die rauschende Concertmusik hatte verhältnißmäßig wenig Damen angelockt. Die Anwesenden verloren sich fast gänzlich unter den Hunderten [] von Männern, die in modernster Kleidung rauchend und sprechend den Saal und die Nebenzimmer anfüllten. Dieser Umstand erleichterte Aurel das Auffinden Bianca's. Er traf sie wirklich an dem angegebenen Orte, ein Sträußchen mit dunkelrother Nelke am Busen. An ihr vorübergehend winkte er ihr mit den Augen nach einem weniger menschenerfüllten Nebenzimmer. Bianca folgte und bald saßen der Kapitän und das Mädchen plaudernd wie alte Bekannte einander gegenüber. Aurel fand sie noch anziehender als in der vergangenen Nacht, und gefesselt von ihrem feinen Benehmen, das fern von aller Frechheit war, die so oft Geschöpfen dieser Art unwillkürlich anklebt, vergaß er bald alle Sorgen, die ihn wiederholt den Tag über gequält hatten.
»Sie haben länger auf sich warten lassen, als ich von einem Schiffskapitän besorgen konnte,« sagte Bianca mit einem reizenden Lächeln. »Ich hatte nicht übel Lust, Sie den zahllosen vornehmen Lügnern beizuzählen, die uns armen, unerfahrnen Kindern so gefährlich werden.«
»Daß Sie es dennoch nicht gethan haben, spricht für die Reinheit Ihres Herzens.«
[] Bianca schüttelte recht melancholisch ihr schönes Haupt. »Spotten Sie nicht, Herr Kapitän,« versetzte sie wehmüthig, »ich weiß ja doch, daß solche Worte mit Ihrer Ueberzeugung nichts zu thun haben.«
»Würde ich Ihnen gegenüber sitzen, wenn ich spotten wollte? Und trauen Sie mir zu, daß ich überhaupt fähig sein könnte, Scherz zu treiben mit dem Unglück? O nein, Bianca, so herzlos hat mich die Welt noch nicht gemacht! Reine Theilnahme, vielleicht auch ein wenig Ihre Schönheit fesseln mich an Sie, und ich bitte jetzt, wo sich Niemand um unser Geplauder bekümmert, lösen Sie nunmehr Ihr verpfändetes Wort! Haben Sie dann nur Zutrauen zu mir und meiner Redlichkeit, so darf ich Ihnen wohl jetzt schon die Versicherung geben, daß Ihre Lage eine andere, bessere werden wird, wenn anders Sie selbst nur Muth und Entschlossenheit genug besitzen, unwürdige Fesseln rücksichtslos abzuschütteln.«
Den schönen, von schwarzen glänzenden Locken umflatterten Kopf gesenkt, schwieg Bianca geraume Zeit. Dann erwiederte sie mit niedergeschlagenen Blicken:
[] »Vielleicht finden Sie mich weniger verdammenswerth, wenn ich Ihnen, so weit ich mich noch auf Thatsachen besinnen kann, meine Jugendgeschichte mittheile. Hören Sie denn und brechen Sie, bin ich zu Ende, den Stab über mich, wenn Sie sich dazu für berechtigt halten sollten!«
Es trat abermals eine Pause ein, während der Aurel nur mit Blicken das schöne, so tief betrübte und unglückliche Mädchen zu bitten wagte. Bianca begann:
»Meine Heimath ist das herrliche sagen- und poesiereiche Bergland Thüringen. Dort ward ich von sehr armen Aeltern geboren, deren einziges und dabei größtes Gut ihre beispiellose Genügsamkeit war. Mit einer dürren Brodrinde und einigen wäßrigen Kartoffeln waren sie zufrieden, wenn der schmale saure Verdienst ihnen nichts Besseres gewährte. Ich habe, so lange ich die väterliche Hütte bewohnte, meine Aeltern über das jammervolle Lebensloos, das ihnen zugefallen war, niemals murren, Andere, die reich gesegnet waren mit Glücksgütern, nie beneiden hören. Immer fand ich sie fleißig vom ersten Morgensonnenstrahl bis tief in die Nacht hinein, [] immer fromm und dankbar gegen Gott für Gutes und Böses, das sie betraf. Mein Vater tagelöhnerte, als er noch kräftig war, später mußte er diesen Erwerbszweig aufgeben, da ein unglücklicher Sturz vom Firsten eines Bauernhauses ihn schwer beschädigt hatte. Er suchte sich nun kümmerlich durch Schachtelmachen zu nähren, eine Kunst, mit der er sich in früher Jugend bekannt gemacht und einige Zeit abgegeben hatte. Das war aber ein so wenig einträgliches Geschäft, daß wir allesammt auch bei größter Einschränkung kaum ein kummervolles Leben elend hinfristen konnten. Der Vater sah dies wohl ein, allein es zu ändern stand nicht in seiner Macht, und so half er sich selbst über die trübsten und schwersten Stunden mit Beten und Singen hinweg.«
»Sie lächeln vielleicht, Herr Kapitän, über die kindische Thorheit eines alten simplen Mannes,« fuhr Bianca fort, indem sie einen forschenden dunkeln Blick auf ihren Zuhörer fallen ließ, »und doch ist dies treue Festhalten an Glaube, an Sitte und Religion das einzige unentreißbare Gut des Armen. Unsere Zeit spottet freilich darüber und möchte gern allen Glauben aus dem [] Herzen des Volkes reißen. Unsere Jugend höhnt und lästert Gott aus Ueberzeugung und brüstet sich mit Verachtung aller Religion, ja sie behauptet wohl gar, wie ich oft genug zu hören Gelegenheit hatte, so lange man Glaube, Religion und Gott nicht abschaffe, könne es auf Erden nicht besser, könne das Volk nicht frei, nicht glücklich werden! Manche habe ich sogar behaupten hören, unter allen Sclavenketten, welche die gedrückte und mißhandelte Menschheit mit sich herumschleppe, sei die furchtbarste jene unsichtbare und grauenvolle, die vom sogenannten Himmel stamme und den demüthig Gläubigen zum willenlosen Werkzeuge eines hohlen Wahnes mache! – Möge mir der Ewige verzeihen, daß ich bei Anhörung solcher Worte und Gespräche selbst häufig Stunden hatte, wo ich mich zu diesem fürchterlichsten aller Glauben hinneigte! Sie gingen vorüber und mild, wie duftiger Abendwind von den Bergen meiner Heimath, berührte wieder der schlichte altväterische Glaube meiner armen Aeltern mein angstvoll schlagendes Herz. Ich armes Mädchen will Niemand richten, da ich selbst der Schonung und Nachsicht so sehr bedarf, aber aussprechen muß ich es, Herr Kapitän,[] daß der Arme, der Darbende, der Unterdrückte ohne sein Festhalten an den Ueberlieferungen der Religion entweder wahnsinnig oder zum wüthenden Thiere werden müßte! Nur der Glaube und die Verheißungen des Glaubens lassen ihn den Jammer eines langen Lebens standhaft ertragen! Nur aus ihnen schöpft er die kargen, minutenlangen Freuden, mit denen er wie mit dem Schein einer geheiligten Lampe sein in ewige Finsterniß gehülltes Leben auf Augenblicke erleuchtet! Nur der Kraft dieses Glaubens verdankt er selbst sein sittliches Dasein, verdankt die Welt ihr geordnetes Fortbestehen! Könnten jene Verhöhner aller Religion, die schreiend ihre Fahnen entfalten über den Häuptern der Armen und die flatternden Fetzen Paniere der Freiheit nennen, könnten diese das darbende Volk zu ihrem Unglauben bekehren, dann würde man rettungslos den Untergang der Welt hereinbrechen sehen! Es ist wohl gut und wünschenswerth, daß man das Volk der alten Fesseln entledige, daß man es aufkläre, nur den Glauben an Gott und sein religiöses Bewußtsein nehme man ihm nicht!«
Bianca schwieg sinnend. Sie hatte sich so [] ereifert, daß ihr Busen heftig wogte. Aurel betrachtete sie verwundert. Welche Wege mußte dies Mädchen gegangen sein, daß es solche Ansichten gewonnen, über so wichtige, die Zeit bewegende Fragen nachgedacht hatte? Nur großem, außerordentlichem Unglück oder dem Umgange mit gebildeten Männern konnte sie diese Aufklärung verdanken. Seine Neugier steigerte sich.
»Und Ihre Aeltern, Bianca?« fragte er sanft, um die in sich Versunkene wieder zum Reden zu bringen.
»Meine Aeltern!« seufzte die Verirrte und schlug die großen melancholischen Augen wie fragend zum Himmel auf. Dann begann sie wieder:
»Mein Vater betete also und suchte die Arbeit seiner Hände durch Absingen frommer Lieder zu fördern. Halbe Nächte hörte ich seine wohllautende, nur häufig von Thränen halb erstickte Stimme, wenn ich frierend mit meiner älteren Schwester auf gemeinsamem Lager den Schlaf nicht finden konnte. Was ich von guten Liedern noch weiß – so nennt das ehrliche Volk die Kirchengesänge – das habe ich in jenen Nächten gelernt, wo der arme Vater auf Gott [] vertrauend für uns arbeitete. Leider blieben mir nur die Worte im Gedächtniß, Sinn und Bedeutung derselben gingen mir verloren!«
»Meine um einige Jahre ältere Schwester hatte um diese Zeit ihr sechzehntes Jahr erreicht, war hübsch, von gutem Wuchs und freundlichem Betragen. Jedermann fand an ihr Gefallen und hatte sie gern, und da unsere höchst mißliche Lage kein Geheimniß war, so würde es Niemand den Aeltern verdacht haben, wenn sie die Schwester in die Dienste Fremder hätten treten lassen. Der Vater wollte dies aber nicht, einmal, weil die Schwester der schon hinfälligen Mutter zur Hand gehen und mich gelegentlich auch beaufsichtigen konnte, und sodann, weil das hübsche Kind für Bauernarbeit zu schwächlich war. So blieben wir denn beisammen, bis ein eigener Zufall uns trennte und unser Aller Unglück herbeiführte. Dieser Zufall war ein Gespräch meiner Mutter mit einer Frau von einem nahen Gebirgsdorfe, die als Botenweib häufig in die belebten Städte, namentlich nach Erfurt und Weimar ging und von dort nebst allerhand Neuigkeiten auch sehr freie Ansichten mit in unsere stille Waldeinsamkeit zurückbrachte. Ein Ungefähr machte mich [] zum Zeugen dieses charakteristischen Gesprächs, das ich damals leider nicht verstand! Vielleicht wäre sonst Alles anders und besser gekommen.«
»Die Mutter kehrte aus dem Walde zurück mit einem Bund Schachtelholz, das sie vom Förster auf Credit für den fleißigen Vater geholt hatte. Müde vom scharfen Gehen setzte sie sich vor der Thür auf die Bank, legte das Holzbündel an die Erde und sah den goldenen Wolken, die von Abend her gleich beschwingten Engeln langsam über die blauen Berge schwebten, mit gefalteten Händen nach. Da ging die Botenfrau vorüber und grüßte die Mutter.«
»Guten Abend, Käthe! So andächtig? Und seht doch aus, als hättet Ihr in acht Tagen kein warmes Gericht mehr nur von weitem gerochen? Wie möchte ich mich nur so placken für nichts und wieder nichts!«
Dabei blieb sie wenige Schritte von der Mutter stehen, stemmte sich mit beiden Händen auf ihren langen Stock und heftete ihre falschen grünlich-grauen Augen fest auf meine betende Mutter. Ich fürchtete mich immer vor diesem langen, hagern Weibe mit dem braunen, von zahllosen Runzeln bedeckten Gesicht, in dem die [] falschen Augen wie grüne Flammen brannten. Im Allgemeinen war das Weib beim Volke seiner Klugheit und seines körnigen Witzes wegen beliebt, auch konnte ihr Niemand offenbare Schlechtigkeiten nachsagen.
»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!« entgegnete meine Mutter. »Ihr kennt ja den Spruch, Korbmartha!« So hieß man nämlich ihres übergroßen Tragkorbes wegen die Botenfrau. Indem hüpfte meine Schwester aus der Hütte, um Wasser im vorüberrauschenden Bache zu schöpfen. Korbmartha sah ihr nach und blickte dann noch lebhafter auf meine Mutter.
»Ist das Euere Tochter?« fragte sie, den Stecken aufhebend und nach der Schwester zeigend.
»Ihr wißt es ja,« sagte die Mutter. »Gott erhalte sie mir nur gesund! Das liebe Kind ist meines Mannes Augapfel.«
Die Botenfrau schüttelte den Kopf, und als meine Schwester im Hause wieder verschwunden war, sagte sie:
»Käthe, Ihr verdientet gradezu Hungers zu sterben für Eure Unvernunft! Warum füttert Ihr das Mädel wie ein Wickelkind? Sie [] könnte ja, weiß der Herr, von der Mutter weg flugs heirathen, wenn sie Groschen hätte! Wäre die mein, die müßte dienen, und Ihr werdet recht wohl thun, Käthe, wenn Ihr die hübsche Blitzkröte lieber heut als morgen fortschafft und ein Maul weniger zu füttern habt.«
»Lieber Gott,« versetzte meine Mutter traurig, die Hände immer wie zum Gebet verschlungen, »wohin soll ich sie denn bringen? Sie ist schwach und zart, und die Bauern mögen sie nicht.«
»Wer spricht denn von groben Bauern,« fiel die Botenfrau ein. »Ein Mädel, so nett und flink und schelmisch, wie Eure Rese, muß in die Stadt. Solche Waldforellen hat man da gern. Die werden Euch dreimal so theuer bezahlt, wie das plumpe Volk, und hat sie erst ein halbes Jahr gedient, dann sollt Ihr Eure Freude an dem Mädel sehen, wenn sie Euch 'mal besucht. Wie eine Bürgermeisters-Tochter wird sie einhergehen und Kleider haben von halbseidenem Zeuge.«
»Ach Martha, das wäre schon Alles recht gut, aber bedenkt nur die Verführung in den Städten! Die jungen Herren laufen da jedem [] frischen Dinge nach, das ein paar rothe Bäckchen und muntere Augen aufzuweisen hat, und wie bald läßt sich da solch ein unerfahrenes Kind durch schöne Worte bethören! Nein, nein, Martha, da will ich mir lieber den Bissen vom Munde abdarben, ja, wenn es sein muß, hungern, bis mich Gott in seiner Barmherzigkeit ausspannt! Nur mein Kind nicht dem Bösen Preis geben!«
Die Botenfrau lachte hellauf, trat meiner Mutter ein paar Schritte näher und sagte verächtlich:
»Käthe, Ihr seid eine Närrin! – Teufel noch 'mal, in welcher Zeit denkt Ihr denn, daß wir leben? Wir sind heutigen Tages aufgeklärter, wie vor vierzig Jahren; wir haben begreifen gelernt, daß man dem Glück die Hand reichen muß, will man es auf dieser Welt zu etwas bringen! Thörin, die ich war! Hätte ich's Zugreifen verstanden, wer weiß, ob ich nicht jetzt Frau Soundso wäre! O, ich wüßte zu erzählen, wenn ich nur wollte, aber das ist vorüber und darum mag ich nicht weiter daran denken. – Dagegen, was Eure Rese anlangt so rathe ich Euch nochmals, thut sie fort und zwar in [] die Stadt. Sie kann erst als Kindermädchen ziehen, damit sie sich benehmen lernt. Da hat sie nicht viel zu thun und doch Gelegenheit, sich bekannt zu machen. Nun, und begegnet ihr, was Ihr alte Närrin ein Unglück nennt, so bringt sie das erst recht unter die Leute und macht ihr Glück. Sie entwöhnt ihr Würmchen und zieht als Amme. Da hat sie's besser, wie ich und Ihr zusammen, kriegt Bier, so viel sie trinken will, und zu essen vollauf, und spielt die Herrschaft, so oft sie Lust hat; denn um dem Kinde nicht zu schaden, thut man ihr schon allen Willen. Ich kenne das!«
»Pfui, schämt Euch, Martha!« entgegnete entrüstet meine Mutter. »Das sind ja, verzeih' mir's Gott, Vorschläge, als hätte sie der leibhaftige Satan erfunden und Euch auf die Zunge gelegt! Nicht zufrieden gäb' ich mich, brächte eine meiner Töchter solche Unehre auf unsern unbescholtenen Namen!«
»Nun dann betet und hungert oder geht zu guter Letzt betteln!« sagte mit recht höhnischem Tone die Botenfrau, »denn daß es über kurz oder lang kein anderes Ende mit Euch nehmen kann, das sieht doch Jeder ein. Und dann werdet [] Ihr Eure glatten Püppchen noch selbst feilbieten wie frischgebackene Pfannkuchen. Gute Nacht und 'was Warmes zum Abendessen, wenn Ihr ein Stöckchen Holz im Hause habt!«
»Damit setzte die Korbmartha ihren Stecken fürbaß und wackelte langsamen Schrittes nach dem rauschenden Buchenwalde, der in geringer Entfernung die Hütte meiner Aeltern umschloß.«
»Ich hatte aus dem Fenster meiner Dachkammer diese ganze Unterredung mit angehört und konnte mich nicht genug wundern, daß meine so treffliche Mutter den Rathschlägen Marthas nicht folgen wollte, die mir eben so annehmbar und klug erschienen, als die Frau selbst mir zuwider war. In meinem kindischen Unverstande zürnte ich der Mutter, die regungslos vor dem Häuschen sitzen blieb und still bittend Gott um Rath und Rettung flehte. Das leise Zittern der festgefalteten Hände sagte mir dies, so wie die einzelnen Thränen, die in großen Tropfen über die eingefallenen, vom Kummer durchfurchten Wangen liefen. Mich hatte das Wort Stadt bezaubert und ich gelobte mir in kindischer Einfalt, sobald es meine Kräfte erlauben würden, [] als dienende Magd vom einsamen Walddorfe in die lustige, unterhaltende Stadt zu ziehen.
Ehe ich allen Ernstes an Ausführung dieses flüchtigen Einfalles denken konnte, schritt der fürchterlichste Feind des Volks, der ausgelassenste Lästerer aller Tugend und Sitte, die Noth der Armuth, eigenmächtig ein und zwang die bekümmerten Aeltern, ihre Kinder mit eigener Hand aus dem Hause zu stoßen. Es war eingetroffen, was die Korbmartha vorausgesagt hatte. Mir mußten langsam Hungers sterben, trennten wir uns nicht freiwillig. Dem unerbittlichen Geschick gaben die Aeltern nach. Meine Schwester Therese mußte ziehen, und weil die harte Arbeit bei den Bauern von ihr nicht hätte verrichtet werden können, brachte sie die Mutter selbst nach Erfurt. Sie fand bei sehr braven Leuten ein anständiges Unterkommen und gefiel sich wohl. Ich blieb einstweilen noch bei den Aeltern, da ich noch zu unselbstständig war, um mir durch Dienen mein Brod verdienen zu können.
Von Zeit zu Zeit, vierteljährig wenigstens einmal, besuchte uns Therese und an ihrem Benehmen, an ihrer Kleidung und heiterm unbefangenen Wesen erkannte ich mit inniger Freude, [] daß die Botenfrau die Wahrheit gesagt habe. Seitdem faßte ich eine Art Zuneigung zu dem häßlichen Weibe, die ich ihr durch freundliches Grüßen oder Darreichung eines frischen Trunkes zu erkennen gab, wenn sie vorüber ging oder auf der Bank vor unserm Häuschen kurze Zeit ausruhte.
Nach drei Jahren vertauschte Therese Erfurt mit Weimar. Zugleich kam ich als Laufmädchen in ein Haus nach Jena. Lieber wäre ich ebenfalls nach Weimar gezogen, um die Schwester stets um mich zu haben und von ihr manchen Wink in den neuen ungewohnten Verhältnissen zu erhalten. Es fand sich jedoch keine passende Gelegenheit, und so war ich denn auch mit Jena zufrieden. Das Leben in dem kleinen Orte machte mir großes Vergnügen. Besonders war ich den Studenten sehr hold, die mir wie ein ganz aparter Menschenschlag erschienen. Wenn sie Arm in Arm über den Marktplatz zogen oder gar daselbst schlugen und zuletzt an langen Tafeln commerschirten, staunte ich sie und ihr wundersames Treiben wie Meerwunder an. Niemand hätte mich bewegen können, einen dieser jungen meist bärtigen und dazu abenteuerlich gekleideten [] Männer anzureden. Ich verehrte sie viel zu sehr, als daß ich hätte glauben mögen, so gewaltig einherschreitende Männer würden die Frage eines so unscheinbaren armen Mädchens, wie ich damals wirklich war, beantworten.
Wochen und Monate blieb es auch in der That bei bloßem vergnüglichen Anstaunen. Nach Jahresfrist war ich aber bedeutend größer und voller geworden und nun richteten die jungen Leute ihre Blicke auf mich. Es dauerte gar nicht lange, so redete mich Einer und der Andere an, scherzte mit mir und lachte über mein Stammeln und Erröthen. Betrat ich Abends den Markt, so begleiteten sie mich in Masse unter dem Vorgeben, mich zu beschützen, und mehrmals, wenn ich mich dankend an der Thür meiner Herrschaft gegen sie verbeugte, ließen sie mich hoch leben. Obwohl solche Aufmerksamkeit meiner erwachenden Eitelkeit schmeichelte, erschreckte sie mich doch auch, um so mehr, als meine Herrschaft mich ernstlich bat, der wilden zügellosen Jugend keinerlei Anlaß zu fortgesetzter Huldigung zu geben. Dies fiel mir nun zwar nicht ein, so wenig, als ich mir in meiner Unschuld irgend etwas dabei dachte, nur fand ich bei häufigerem Beschauen [] meiner Person im Spiegel, daß ich nicht garstig sei, und seit dieser unglücklichen Entdeckung verwandte ich weit mehr Sorgfalt auf meinen Anzug, als bisher. Fast alle meine kleinen Ersparnisse, von denen ich bereits Einiges nach dem Vorbilde meiner älteren Schwester den Aeltern hatte zufließen lassen, zehrte der Ankauf neuer und modischer Kleidungsstücke auf.
Ein in dem muntersten Tone geschriebener Brief Theresens meldete mir bald darauf, daß sie ebenfalls nach Jena kommen würde und wir fortan ein recht geschwisterliches Leben zusammen führen wollten. Meine Freude war sehr groß. Ich konnte Theresens Ankunft kaum erwarten und wußte mich nicht zu fassen vor innerlicher Glückseligkeit, als ich die geliebte Schwester nun wirklich in meine Arme schloß.
Therese war in den letzten beiden Jahren sehr schön geworden. Sie konnte mit ihrem tadellosen Wuchse, dem schönen Blond ihrer weichen Haare und dem feurigen Ultramarinblau ihrer länglichen Augen unter so vielen jungen Männern nicht unbemerkt bleiben. Schon nach Verlauf einiger Tage sprach man nur von dem schönen Dienstmädchen, hatte ermittelt, daß es [] meine ältere Schwester war, und begann nunmehr in galantester Weise vollkommen Jagd auf sie zu machen. Ich erschrak bei dieser unerwarteten Wendung der Dinge, nicht weil ich mich im Augenblick vernachlässigt sah, sondern weil ich für meine Schwester fürchtete. Diese hatte aber während ihrer mehr als vierjährigen Dienstzeit die Welt und das Gebahren der jungen Männer hinlänglich kennen gelernt und wußte die Zudringlichsten und Kecksten mit erstaunlichem Tacte in gehöriger Entfernung zu halten. Es fehlte ihr nie an den schärfsten und treffendsten Entgegnungen auf kecke oder gar zweideutige Anfragen, und so wußte sie sich denn inmitten einer Unzahl von Anbetern vollkommen sicher.
So verstrich wieder mehr als ein halbes Jahr. Wir Schwestern lebten in freien Stunden viel zusammen, sendeten so oft wie möglich Botschaft an unsere Aeltern und erhielten dergleichen wieder zurück. Es hatte ganz den Anschein, als sei uns das Glück nicht abhold. Da bemerkte ich, daß Therese, die von Natur lebhafter und gesprächiger war, als ich, immer stiller wurde und oft sinnend vor sich hinstarrte. Ich beobachtete sie wochenlang, ohne nach dem [] Grunde zu fragen, schlich ihr unbemerkt nach, wenn sie am dunklen Abend zu mir kam und wieder nach Hause ging, und entdeckte einen ihrer harrenden Begleiter. Es war ein hoher, schöner Mann, wie ich späterhin hörte, ein Lievländer, von adliger Geburt und sehr reich. Bei dieser Entdeckung fielen mir zum ersten Male wieder die Worte der häßlichen Korbmartha ein und eine peinigende, nicht mehr von mir zu wälzende Angst schnürte mir das Herz zusammen. Ich entschloß mich, meine Schwester in theilnehmendstem Tone auszuhorchen, zur Rede zu setzen und sie zu warnen.
Die Gelegenheit fand sich schon am nächsten Abend, wo ich Therese mit ihrem Galan auf der Hausflur in zärtlichster Umarmung überraschte. Der Lievländer verließ die Erschrockene mit einem Scherze, wobei ich selbst auch etwas abbekam, und wir hatten nun Muße, uns nach Herzenslust gegenseitig auszusprechen. Meine sehr eindringliche Rede hörte Therese mit tiefem Schweigen an. Sie rechtfertigte sich nicht, sie versuchte es auch später nie; sie hörte mir gesenkten Kopfes zu und seufzte nur. Als ich endlich ausrief: Bedenke, gute Schwester, daß ein [] reicher Baron so weit her Dich, ein armes Dienstmädchen, nie heirathen wird, da fiel sie mir laut schluchzend um den Hals, küßte mich inbrünstig und drängte mich dann aus der Thür, die sie rasch hinter sich verriegelte.
Nachdenklich ging ich heim. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zuthun. Sollte ich die Aeltern von der Neigung Theresens benachrichtigen oder dieselbe verschweigen? Darüber zerbrach ich mir den Kopf, bis ein wüster Schmerz mich befiel. Um die Schwester nicht gar zu sehr zu betrüben, schwieg ich und beschloß, ferner nur im Stillen aufzupassen. Dies fruchtete jedoch nichts. Therese ließ sich nicht mehr überraschen, blieb aber still und sinnend, wie zuvor. Ob sie noch mit dem Lievländer umging oder um ihn trauerte, konnte ich damals durchaus nicht errathen. Mit schwesterlichem Bedauern bemerkte ich nur, daß die Liebende bleicher und immer bleicher ward, und schrieb dies auf Rechnung ihres Grames. Nur einmal fragte ich noch theilnehmend, was ihr fehle und warum sie so ganz eine Andere geworden sei? Da warf sie mir einen so entsetzlichen Blick zu, daß ich zurückschauderte [] und mich fortan zuweilen vor der Schwester sogar fürchten konnte.
Sechs Wochen später weckte mich früh am Morgen ein entsetzlicher Tumult. Ich eile an's Fenster, reiße es auf und sehe mitten auf dem Markte eine Menge sich drängender Menschen. Nun stürze ich die Treppe hinunter, frage, was es gibt? und dringe, da mir Jeder schüchtern ausweicht, immer weiter vor, bis ich vor meinen Füßen den bleichen, schönen Körper meiner armen Schwester liegen sehe. Fest umschlungen und zum Schutz noch mit Stricken an die Brust gebunden hielt sie ein neugebornes Kind. Die Unglückliche hatte sich unmittelbar nach erfolgter Entbindung in die Saale gestürzt. Zwei Tage vorher war der Lievländer, ihr Verführer, in seine Heimath abgereist. Ein Brief von ihm, den ich unter den Sachen meiner Schwester fand, verrieth mir dies. Er war sehr lakonisch und scherzhaft beleidigend. Der reiche Herr bedauerte, daß seine Zärtlichkeiten so unangenehme Folgen haben sollten und meinte, daß für diese nicht er, sondern das ›schöne, gefällige Kind‹ einzustehen habe. Schlüßlich wünschte er ihr alles Gute recht bald einen neuen Freund, den das tückische [] Schicksal nicht von ihr reiße, und damit sie sähe, daß er ihr noch immer gewogen sei und für sie sorge, erlaube er sich die Kosten der Taufe in einigen Goldstücken beizuschließen. – –«
Ein Strom von Thränen erstickte Bianca's Stimme. Aurel ließ die Bedauernswürdige gewähren und benutzte die eingetretene Pause, um einen Blick in den großen Saal zu werfen, wo seit Kurzem lebhafter Wortwechsel sich erhoben hatte. Er bemerkte, daß eine Menge junger elegant gekleideter Herren ein hübsches weinendes Mädchen zu beruhigen suchten, während andere tobten, fluchten und bei Allem, was Ihnen heilig sei, den Unverschämten zu züchtigen schworen. »Ein gewöhnlicher Wirthshausstreit,« dachte der Kapitän und nahm seiner Schönen gegenüber wieder Platz. Er fand sie gefaßt und bereit, den abgerissenen Faden ihrer Erzählung wieder anzuknüpfen. Aurel bat darum und Bianca fuhr sort:
»Sie kennen unstreitig die Einrichtung auf Universitäten, nach welcher die Leichname der Selbstmörder auf die Anatomie abgeliefert werden müssen. Ich hatte mehrmals davon gehört und würde jedenfalls selbst in meinem unaussprechlichen [] Schmerze daran gedacht haben, wäre ich nicht durch die frohlockende Bemerkung eines vorübergehenden Studenten auf der Stelle in furchtbarer Weise daran erinnert worden. Ich hörte nämlich dicht hinter mir rufen, indem sich ein bärtiges Gesicht über meine Schulter schob:
Donnerwetter, das ist ein Bissen für uns! Eine von den drei Grazien ohne Widerrede! Wo das die Theologen spitz kriegen, muß der Profector das Auditorium schließen lassen, sonst erdrücken uns die Jünger des heiligen Geistes, um den Genuß zu haben, ein junges schönes Mädchen im Naturzustande, so lange es ihnen beliebt, mit lüsternen Blicken betrachten zu können.«
»Mich überlief es eiskalt. Meine arme unglückliche, gemißhandelte Schwester noch im Tode entehrt, den Blicken neugieriger Spötter ausgesetzt zu wissen – dieser Gedanke empörte mich! Ohne Zaudern that ich Schritte, um meine todte Schwester loszukaufen. Daß dies häufig geschah, wußte ich. Selbst während meiner Anwesenheit in der Universitätsstadt war es schon einige Male vorgekommen. Namentlich erinnerte ich mich eines Falles, wo die Tochter einer angesehenen [] Familie, die selbst Hand an sich gelegt hatte, gegen Erlegung der festgesetzten Summe sogleich von der Universität frei gegeben wurde. Darauf fußte ich. An Geld fehlte es mir auch nicht, wenn ich zu dem vorgefundenen Golde meine eigenen Ersparnisse legte. Es hatte nichts mehr Werth für mich, als der Körper der entseelten Therese.
Mit dem nöthigen Gelde versehen, von Schmerz und Scham tief gebeugt, brachte ich mein Anliegen vor und – ward kühl abgewiesen. Schönes Kind, sagte man zu mir, es thut uns leid, Deine Bitte nicht erfüllen zu können. Deine Schwester ist Mörderin und Selbstmörderin zugleich und überdies als liederliche Dirne aus der Welt gegangen. Solche Personen sind unrettbar dem Messer des Anatomen verfallen. Wäre Therese häßlich, nun, dann könnten wir allenfalls ein Auge zudrücken, so aber ist die Entleibte ein Meisterwerk der Schöpfung, und je seltener so tadellose Cadaver zu bekommen sind, desto mehr müssen wir danach angeln. Gib Dich also nur zufrieden, liebes Kind, behalte Dein Geld und mache Dir einen guten Tag!
Ich glaubte vor Entsetzen in die Erde sinken [] zu müssen. Ich warf mich dem strengen Herrn zu Füßen, ich bat mit flehendster Schmerzensstimme, ich bot den doppelten Preis – Alles umsonst! Zuletzt ward ich hart angelassen und mit der Bemerkung aus dem Zimmer geführt: Bei armen Mädchen könne man durchaus keine Rücksichten nehmen; man habe genug mit den Reichen zu thun, die auf ihr Vorrecht pochend bei unangenehmen Ereignissen ähnlicher Art nie unterließen, an dasselbe zu appelliren. Ihnen müsse man aus Klugheit willfahren, bei armen Dienstboten aber fiele jeder haltbare Grund weg.
So ungefähr, wenn auch in andern Worten, lautete der mir gegebene Bescheid. Ich wußte mir nicht mehr zu rathen, zu helfen. Theresens Leichnam war bereits auf die Anatomie gebracht worden, und, wie die Sachen standen, keinerlei Aussicht vorhanden, irgendwie meinen Zweck zu erreichen. Indeß wollte ich doch nichts unversucht lassen und so lief ich denn durch die halbe Stadt, um Erkundigungen einzuziehen und mit den zur Zeit geltenden Verordnungen und Gesetzen mich bekannt zu machen. Was ich auf diesen schweren Gängen ermittelte, war freilich [] für mich nicht sehr tröstlich. Damals ward mein geängstetes Herz zum ersten Male von der entsetzlichen Wahrheit zerfleischt, daß in unsern civilisirten Staaten die Armuth sogar vom Gesetz wie ein Laster behandelt wird!«
»Sollten Sie, armes Mädchen,« fiel Aurel ein, »unserer Gesetzgebung nicht einen zu harten Vorwurf mit dieser Behauptung machen?«
»Nein, Herr Kapitän. Hören Sie, nach welchen Grundsätzen auf jener Universität zu meiner Zeit die Anatomie mit Leichnamen versorgt ward. Zuerst erfuhr ich, was ich bereits wußte, daß nur reiche Verwandte Selbstmörder von der Anatomie loskaufen können. Ferner war es damals noch Sitte – ob inzwischen eine Aenderung stattgefunden hat, weiß ich nicht – daß nur bei der Section im Hospital verstorbener armer Mädchen, die gesetzlich auf die Anatomie geliefert werden mußten, das Hospitiren der Nichtmediciner gestattet ward. Jedermann weiß, daß diese nicht wissenschaftliches Interesse, sondern einzig und allein Neugier und wollüstiger Kitzel an den Secirtisch treibt. Man ergetzt sich in Gemeinschaft an schönen Formen und unzarten, wo nicht sittenlosen Witzen, die man auf [] Kosten des vorliegenden Leichnams oder des ganzen wehrlosen Geschlechtes macht.
Nach einer andern gesetzlichen Bestimmung mußten alle unehelichen Kinder, wenn sie vor dem zurückgelegten vierzehnten Jahre starben, unausbleiblich auf die Anatomie geliefert werden! Wahrscheinlich sind die Gesetzgeber bei dieser höchst moralischen Bestimmung der Ansicht gewesen, die bis heut noch leider allgemein verbreitet ist, daß jede vom Priester nicht eingesegnete Verbindung eine sündhafte sei und der erkauften Liebe gleichkomme! Eine entsetzliche, verdammenswürdige Annahme, die jede reine Neigung tödtet, die alle wahre Sittlichkeit gänzlich untergräbt! Weit entfernt, die Ehe herabsetzen zu wollen, bin ich doch fest übezeugt, daß mehr ehelich geborene Kinder unkeuschen Umarmungen ihre Entstehung verdanken, als unehelich geborene, und doch entblödet man sich nicht, diesen Schuldlosen einen Fehl, einen Flecken anzudichten, der sie in den Augen der vorurtheilsvollen Menge der übrigen Menschheit gegenüber herabsetzt.
Am schrecklichsten aber und gradezu unmenschlich erschien mir die grausame, aller christlichen [] Liebe hohnsprechende Verordnung, nach welcher alle Leichname gefallener Dienstmädchen, wenn auch seit ihrem Falle ein Zeitraum von vierzig Jahren vergangen sein sollte, der Anatomie anheimfallen. Merken Sie wohl, nur der Dienstmädchen, gefallene Töchter der Bürger und des Adels unterliegen dieser Strafe, die mithin nur für die Armuth erfunden worden ist, nicht. Diese abscheulichen Verordnungen hinsichtlich der an die Anatomie abzuliefernden Leichname bestehen noch heutigen Tages in Jena.
Schon wollte ich mich in mein Schicksal fügen, als ich aufmerksam gemacht wurde, daß vielleicht durch persönliche Rücksprache mit einem hochgestellten Manne ein Tausch bewerkstelligt werden könne. Man lobte die Höflichkeit und Zuvorkommenheit dieses Mannes und ich ging der todten Schwester zu Liebe zu ihm. In der That fand ich einen der einnehmendsten Männer in ihm, die mir je vorgekommen sind. Jung, interessant, sehr lebhaft und überaus galant, behandelte er mich wie eine Dame. Dies gewann ihm sogleich mein Vertrauen, denn ich war bisher [] immer nur an unfreundliche Befehle gewöhnt. Meinen inständigen Bitten schien er nicht abgeneigt. Er versprach mir, sich zu erkundigen, ob eine Vertauschung, ohne Verdacht zu erwecken, möglich sei, und bat mich, ihn Abends nach Sonnenuntergang nochmals mit meinem Besuche zu beehren.
Beruhigter kehrte ich zu meiner Herrschaft zurück, die mich sehr ungnädig aufnahm. Unverdiente Vorwürfe und bittere Schmähungen mußte ich ohnehin so tief Gebeugte über mich ergehen lassen. Sie kündigte mir den Dienst, da sie ein Mädchen, auf welches die ganze Stadt mit Fingern deutete, nicht um sich haben möge. – Ich ertrug Alles schweigend und konnte den Abend kaum erwarten, der mir Gewißheit bringen sollte. Er kam, ich besuchte den Mann, der mir allein noch helfen konnte, abermals. Noch höflicher, als am Tage, empfing er mich. Es wird sich thun lassen, mein schönes Kind, sagte er. Noch in dieser Nacht soll ein anderer weiblicher Körper abgeliefert werden. Niemand weiß davon und so kann ich Dir gegen Morgen Deine arme Schwester wieder geben.
Ich war gerührt, entzückt, drückte dem gütigen[] Manne im heißen Dankgefühl die Hand und bot ihm all mein baares Geld für seine Großmuth an. Lächelnd schlug er es aus. Das behalte für Dich, Du wirst es schon brauchen, sagte er. Weit lieber wäre mir ein Kuß von den schönen Lippen, die so anmuthig danken können. Werd' ich vergeblich darum flehen? – Er sah mir so freundlich, so mild und gutherzig in die Augen, und ich fand den Gefälligen in jenem Augenblick so schön und wahrhaft liebenswürdig, daß ich mich nicht lange besann. Weinend sank ich an seine Brust, schlang meine Arme um seinen Nacken und preßte meine Lippen fest an seinen Mund. Lange hielten wir uns umschlungen, wir fühlten den beschleunigten Schlag unserer Herzen. Als ich mich endlich aus den Armen des vortrefflichen Mannes wieder losmachen wollte, fühlte ich mich in der heftigsten Aufregung. Der gütige Vermittler entließ mich nicht. Von Neuem umschlang, drückte er mich an sich. Es ist um Deine Schwester! flüsterte er mir zu, und dies Zauberwort hätte mich damals selbst in der Hölle fest gehalten. Seinen Bitten konnte ich nicht widerstehen. Ich blieb, blieb lange, lange, und als ich von ihm [] ging, hingen Thränen an meinen Wimpern, Thränen, die nicht meiner Schwester, die mir selbst galten! Jetzt hätte ich neben der Todten niederknien und auf ihren kalten Mund einen Kuß der Vergebung drücken mögen. Was war ich mehr, als sie? Konnte ich nicht gleich ihr endigen, nun ich gefallen war, wie sie? –«
Verstohlen, dem Monde ausweichend, um den Schatten meiner Gestalt nicht zu sehen, schlich ich nach Hause. Schlaflos brachte ich die Nacht unter Thränen, unter Gebet, unter entsetzlichen Vorwürfen hin. Als der Morgen graute, verließ ich mein ärmliches Lager, das mir zur Folterbank geworden war. Ueber die öden Gassen eilte ich schnellen Laufes nach der Anatomie. Da schmetterte mich die trockene Antwort nieder, daß der versprochene Leichnam untauglich sei und mir demnach die Schwester nicht verabfolgt werden könne! – –
Dabei blieb es. Therese verfiel dem Messer des Anatomen und ich hatte meine Jugend, meine Unschuld, meine Ehre einem Phantom geopfert!
Von meiner Dienstherrschaft entlassen, das Augenmerk der ganzen Stadt, für die ich nur [] die Schwester der schönen Selbstmörderin war, blieb mir nichts übrig als schleunigste Flucht. Vielleicht wäre ich Therese in den Tod gefolgt, hätte mich nicht das Schicksal, welches meiner dann harrte, abgehalten. Der fürchterliche Secirtisch der Anatomie und die lüsternen Blicke der jungen Männer, die sich lachend an meinen erkalteten Gliedern dann weideten, schreckten mich zurück. Flucht! Flucht! rief ich mir wohl tausendmal zu, packte meine wenigen Habseligkeiten zusammen und brach auf.
Erst als die kleine Stadt mit ihren kahlen Bergen hinter mir lag, fragte ich mich: wohin? Die Entscheidung war nicht schwer. Meine unglücklichen, frommen, genügsamen Aeltern lebten noch in ihrer rauschenden Bergeinsamkeit. Noch ahnten sie nichts von dem grauenvollen Unglück, das sie am Spätabend ihres Lebens ereilt hatte. Sie beteten in gottgefälliger Einfalt für ihre fernen Kinder, davon eins schon nicht mehr unter den Lebenden wandelte. Zu ihnen! rief es in der Tiefe meines Herzens, und ich schlug den Weg nach der Heimath ein.
Vor der Thür ihrer Hütte sitzend fand ich die Aeltern. Sie erkannten mich nicht in der [] modernen städtischen Kleidung, die ich seit meinem Dienstantritt trug. Als ich sie bei Namen rief, umarmten sie mich unter Freudenthränen. Sie fragten nach Theresen, nach ihrem Wohlbefinden. Ich senkte den Kopf und schwieg. Als sie nun eine unerfreuliche Nachricht erwarteten und heftig in mich drangen, erzählte ich mit schonendster Milde den Hergang und das traurige Ende der Schwester. Meine Mutter sank besinnungslos in die zitternden Arme des alten schwachen Vaters. Ich kniete vor beiden nieder und benetzte mit reuigen Thränen ihr Gesicht, ihre Hände.
»Dummes Ding!« hörte ich hinter mir eine nur zu bekannte krächzende Stimme höhnisch rufen. »Wie abgeschmackt für ein hübsches Mädchen von zwei und zwanzig Jahren, sich eines Kindes wegen in's Wasser zu stürzen! Die hat ihren Vortheil schlecht verstanden, und da ist denn freilich weder zu rathen noch zu helfen. Sei Du klüger, hübscher Schwarzkopf, wenn Dir's ähnlich ergehen sollte! Zu einem kalten Bade hat man alle Tage noch überflüssige Zeit!«
Es war die Korbmarthe, die aus dem [] Walde ihres Weges ziehend den traurigen Schluß meiner Erzählung mit angehört hatte und sich zu dieser gemeinen Bemerkung gedrungen fühlte.
»Dumme Dirne! Dumme Dirne! Sich zu ersäufen in der Blüthe ihrer Schönheit!« murmelte sie vor sich hin, indem sie an uns vorüber schritt. Die Erscheinung dieses häßlichen alten Weibes erfüllte mich mit wahrhaftem Entsetzen, reizte aber auch zugleich meinen Zorn dergestalt, daß ich mir Gewalt anthun mußte, um nicht mit Tigerwuth mich auf sie zu stürzen und ihr das Genick zu brechen. Sie schien mir eine Abgesandte der Hölle, die sich ihres Triumphs über uns freute.
»Ohne ihre tiefe unerschütterliche Gottgläubigkeit würden meine Aeltern diesem Schlage sogleich erlegen sein. Die Religion, die längst einen wahrhaften Bestandtheil ihres Wesens ausmachte und in ihnen lebendig geworden war, hielt sie aufrecht, das Gebet gab ihnen Kraft und Stärke, das Entsetzliche zu ertragen. Sie flehten Gott allabendlich um Gnade für ihr verirrtes, als zwiefache Verbrecherin aus der Welt geschiedenes Kind, und wenn je das Gebet frommer Aeltern Erhörung findet bei Gott, so muß [] Therese durch das gläubige Bitten ihrer Aeltern begnadigt worden sein.
So innig ich an meinen braven Aeltern hing, so unheimlich ward mir doch in ihrer Nähe. Ich taugte ja nicht mehr in so heilige Kreise, ich war eine Sünderin, deren Herz vor Groll und Ingrimm brechen wollte. Eine unsichtbare Gewalt zog mich hinaus in die Welt, um in ihrem Geräusch Vergessenheit und ein neues Glück zu suchen. Mich drückte, mich beleidigte die Armuth, seitdem ich wußte, wie man mit ihr verfährt, wie man sie gleich einem räudigen Hunde von sich stößt oder sie mit herzloser Gleichgiltigkeit behandelt! Obwohl fromm und schlicht und zu genügsamem Leben erzogen, vermochte ich doch nicht mehr andachtsvoll zu einem Gott zu beten, der Tausende seiner Geschöpfe so unwürdig behandeln läßt, und das Wort Christi: Selig sind die Armen, denn das Himmelreich ist ihr! konnte mich zu verzweifeltem Lachen reizen. Ich konnte nicht an eine Seligkeit jenseits glauben, die ich mit völliger Vernichtung meiner angeborenen Menschenwürde diesseits erkaufen sollte! Werde reich! schrie es Tag und Nacht in mir mit gellender Stimme, [] werde reich um jeden Preis und Du bist glücklich, angesehen, geehrt!
Daheim konnte ich nicht bleiben. Meine Aeltern wünschten dies eben so wenig, als ich selbst, ich war daher Willens, wieder einen Dienst, wo möglich in einer großen Stadt zu suchen. Dort hoffte ich, sollte sich Gelegenheit finden, die mir von der Natur geschenkten Gaben zu meinem Vortheil zu benutzen. Ich war ja schön, und Schönheit mit Jugend gepaart wirft man so leicht nicht vor die Thür, wenn sie den zarten Panzer des Weibes, die verlockende List, anlegen.
Ich wandte mich nun zuerst nach Hannover, da ich aber bei meiner schnellen Dienstentlassung und der Verwirrung, in die mich der unerwartete Tod meiner Schwester versetzt, ein Zeugniß meines Wohlverhaltens mir ausstellen zu lassen vergessen hatte, fand ich nicht sogleich einen Dienst, wie ich ihn wünschte. Es schien mir sogar, als zweifle man an meiner Unbescholtenheit, wozu ich vermuthlich selbst Anlaß gab durch freundliches, einschmeichelndes Betragen, das mehr von forcirter Koketterie als von [] reizender Natürlichkeit an sich haben mochte. Es vergingen ein paar Wochen und meine Baarschaft schmolz zusammen. Da machte ich an einem öffentlichen Orte die Bekanntschaft eines nicht mehr jungen, aber, wie ich auf den ersten Blick bemerkte, sehr wohlhabenden Mannes. Mein forschend auf ihn gerichtetes Auge mochte ihm Verheißungen vorgespiegelt haben, an die ich selbst nicht dachte. Er knüpfte ein Gespräch mit mir an, schenkte mir Blumen und schlug mir vor, als er meine nicht eben beneidenswerthe Lage erfuhr, die Stelle einer Haushälterin bei ihm anzunehmen. Er bedürfe grade einer solchen und sei in Verlegenheit, eine Person zu finden, der er vertrauen könne. Ich gefiele ihm, und hätte ich Lust, es mit ihm und seinen kleinen Launen zu versuchen, so könnte ich gleich morgen in seinem eigenen Wagen mit ihm abreisen.
Herr M* war aus Hamburg, Kaufmann und Hagestolz. Seine Bedingungen dünkten mir sehr annehmbar, und da ich durchaus nichts zu verlieren hatte und dieser Anfang mir den vielversprechenden Eingang zu den schimmernden Palästen des Reichthums öffnen zu wollen schien, [] so nahm ich sie an. Drei Tage später war ich in Hamburg.
Sie können errathen, Herr Kapitän, welch ein Leben ich hier führte. Eine Zeit lang war Herr M* sehr zufrieden mit mir. Er überhäufte mich sogar mit nicht ausbedungenen kostbaren Geschenken, die ich aus den angedeuteten Gründen annahm. Später mußte ich mich dafür erkenntlich zeigen, wozu ich mich nach einigen heftigen innern Kämpfen denn auch entschloß. Ich hoffte Madame M* zu werden und gab dies sehr unverhohlen zu erkennen. Dies war nicht politisch; mein Gebieter ward von Stund' an kälter gegen mich; ich begann ihn zu tyrannisiren, auf meine Ansprüche pochend. Dies verdroß Herrn M* und eines schönen Morgens lohnte er mich ganz ruhig ab und händigte mir außerdem eine ansehnliche Summe als Abfindungsquantum ein. Obwohl ich es jetzt mit Bitten versuchte und keine kleine List unterließ, den Beleidigten mir wieder zu versöhnen, konnte ich ihn doch nicht erweichen. Ich mußte sein Haus verlassen –
In diesem Verhältniß hatte ich so viel erworben, um nöthigen Falles allein anständig leben zu können. Dies zog ich einer neuen dienstlichen [] Stellung vor. Ich miethete mir ein elegantes Logis, gab mich für eine junge Wittwe aus und spielte nicht ohne äußerliches Glück die gebildete Dame. So hoffte ich am leichtesten ein Ehebündniß mit irgend einem wohlhabenden Manne, der mir gefiel, herbeiführen zu können. Allein auch diese Speculation schlug mir nicht zum Glück aus. Ich fand viele Liebhaber, keinen Geliebten, und da ich schon längst den festen moralischen Halt verloren hatte, sank ich von Monat zu Monat tiefer, bis ich mich selbst verachten mußte. Ich ging von einer Hand zur andern, lebte äußerlich gut, befand mich scheinbar wohl und trug tief verborgen die Hölle in meinem Herzen. Nach und nach wich die erkünstelte Heiterkeit von mir, die so leicht alle Männer bestach und sie mir zuführte. Ich ward traurig, kalt, abstoßend, melancholisch. Da flohen mich die Männer, die immer nur Lust und Scherz beim Weibe suchen. Ich kam, möchte ich sagen, klänge es nicht zu fürchterlich, aus der Mode, und um doch ein anständiges Leben dem Scheine nach fortsetzen zu können und der verhaßten Armuth nicht gänzlich zu verfallen, ward ich genöthigt, die Salons zu besuchen.«
[] »Dies ist mein äußerst beneidenswerther Lebenslauf,« schloß Bianca mit bitterm Lächeln ihre Erzählung, »und finden Sie jetzt noch, daß ein ehrlicher Mann seine Hand rettend nach mir ausstrecken darf, ohne sich für immer zu besudeln, dann, Herr Kapitän, will ich es wagen, Ihrer Großmuth mich anzuvertrauen!«
»Aber Ihre Aeltern, Bianca? Wissen sie, auf welchen Wegen ihre geliebte Tochter wandelte?«
»Gott Lob, Sie wissen es nicht, wenn sie nicht gleich Gott allwissend sind! Der Tod hat sie längst erlöst.«
Es war stiller und immer stiller geworden im Pavillon. Nur wenige Gruppen saßen noch verstreut im großen Saale. Da ward die Thür des kleinen Gemaches, wo Aurel sich mit Bianca unterhielt, behutsam geöffnet und Gilberts lebhaftes Gesicht lauschte her ein. Gleich darauf stand er vor dem Kapitän.
»Endlich ist das Fahrwasser sicher,« sagte er mit leichtfertigem Lächeln. »Ich habe verteufelt warten und mich verkriechen müssen wie eine Schiffsratte, und hatte es doch so eilig!«
[] »Was gab es?« fragte Aurel.
»Zum Teufel, Herr Kapitän, wird man denn taub, wenn man einem so reizenden Mädchen, wie Ihre Gesellschafterin es ist, in die geheimnißvollen feuchten Sterne schaut?« Gilbert begleitete diese galanten Worte mit anmuthvoller Verbeugung gegen Bianca. »Als ich vor beinahe zwei Stunden Sie hier aufsuchte, lief mir draußen im Saale ein solcher Himmel mit zwei blauen Sonnen in die Arme, ich fing ihn auf und weil es ja doch eine große Seltenheit zu sein pflegt, den Himmel warm und weich an sein Herz zu schließen, so nahm ich mir geschwind diese Freiheit und berührte die beiden funkelnden Sonnen mit meinen Lippen. Und um solcher himmlischen Neigung wegen wollten mich die glanzfilzigen Bengel todtschlagen! Darum mußte ich ausreißen und bis jetzt warten. Ich habe mich aber doch amusirt! Oben auf dem Stintfange traf ich ein freundliches Kind, frisch und munter wie ein Lachs. Mit ihm habe ich Sternenkunde getrieben bis jetzt und alle sieben Himmel Muhameds durchstreift. Es war prächtig, auf Matrosenehre!«
[] Aurel schüttelte lächelnd den Kopf. »Schon gut, mein Junge, ich kenne Dich! Behalte jetzt Deine himmlischen Erkenntnisse für Dich und sage, was Deine Eile zu bedeuten hat?«
»Nichts weiter als einen Brief. Da ist er! Schleunigst zu besorgen, steht darauf gekritzelt, irre ich nicht, von der Hand Ihres sehr ehrenwerthen Herrn Bruders.«
Gilbert überreichte Aurel das Schreiben, der mit einiger Hast danach griff.
»Sie erlauben, mein Fräulein?«
»Bitte!«
Aurel riß das Couvert auf, ein langer Brief blieb in seinen Händen. »Das geht nicht,« sagte er, das Schreiben zu sich steckend. »Ich brauche mindestens eine Stunde, um diese Buchstaben zu entziffern.«
»Lassen Sie sich durchaus nicht stören, Herr Kapitän!«
»Es hat Zeit,« fiel Aurel Bianca ins Wort. »Geh, Gilbert, und besorge eine Droschke!«
Gilbert entfernte sich.
»Bianca,« rief nun der junge Kapitän gerüht, [] indem er beide Hände des schönen Mädchens erfaßte, »Ihre Offenheit hat mich eben so tief erschüttert, wie die betrübenden Erfahrungen, die Sie, noch so jung, bereits gemacht haben. Ich nehme wahrhaften Antheil an Ihnen, und ich wünsche, daß bessere, heiterere, schuldlosere Tage die Vergangenheit mit all ihren Schrecknissen Sie werden vergessen machen. Nehmen Sie es für ein Schicksal, daß ich, selbst ein vielfach gefallener Mann, Ihnen gerade jetzt begegnet bin, und geben Sie mir das Versprechen, Hamburg zu verlassen, sobald ich es fordere. Es wird sich ein passenderer Aufenthaltsort für Sie finden, ich weiß es, und was an mir liegt, einen solchen recht bald zu ermitteln, soll geschehen. Können Sie sich dazu entschließen?«
Bianca's Blick ruhte geraume Zeit auf den freundlichen, treuherzigen Augen des Kapitäns. Sie drückte ihm dankend die Hand und sagte: »Ich folge Ihnen, denn ich erblicke in Ihnen den rettenden Engel, den meine fürbittenden Aeltern mir senden.«
Aurel stand auf, drückte die schöne Sünderin [] an sich und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn.
Ein Wagen fuhr vor. Gilbert meldete, daß Alles bereit sei. Ein paar Secunden später rollte die Droschke mit Aurel, Bianca und Gilbert nach der Stadt.
[] Sechstes Kapitel.
Die Mohrentaverne.
Aurel begleitete Bianca bis an ihre Wohnung. Hier empfahl er sich nochmals mit herzlichem Händedruck, bat sie wiederholt, daß sie ihm blindlings vertrauen möge, und eilte alsdann mit Gilbert nach Hause.
Es war bereits zehn Uhr vorüber und noch stand ihm für die Dauer der Nacht ein neues Abenteuer bevor. Wollte er dies nicht auf einen andern Abend verschieben, so war es die höchste Zeit, sich darauf vorzubereiten.
»Gilbert,« sagte der Kapitän, »suche aus meiner Garderobe die schlechteste Matrosenkleidung zusammen und lege meine Pistolen und meinen indischen Dolch bereit. Ich will unterdessen [] sehen, was mir der Bruder so eilig zu melden hat.«
Adrian schrieb:
»Kaum habe ich Dir den wunderlichen Besuch mit seinem noch wunderlicheren Anliegen gemeldet, der mich vor einigen Tagen überraschte, und schon bin ich genöthigt, jetzt abermals in dieser mehr als räthselhaften Angelegenheit an Dich zu schreiben. Wir haben es mit ein paar alten Füchsen zu thun, die ihrer Sache ziemlich gewiß zu sein scheinen. Acht Tage haben diesen beiden Greisen genügt, mich und mittelbar also auch Dich wie Adalbert in die Enge zu treiben. Auf welche Weise ihnen dies möglich geworden ist, weiß ich noch nicht, daß sie es vermocht haben, ist leider nur zu gewiß! – Sie haben uns verklagt, haben, wie ich höre, Zeugen aufgetrieben, welche das Vorhandensein verstoßener Kinder unseres verewigten Vaters eidlich erhärten wollen. Daran würde ich mich wenig kehren, denn ehe ein so schwieriger Beweis rechtskräftig geführt werden könnte, würden Jahre vergehen, und in so langer Zeit läßt sich viel ersinnen, um ein drohendes Uebel [] still zu beseitigen. Weit ärgerlicher ist es mir, daß diese mit dem Teufel verbündeten alten Bauern, auf welche Weise, mag Gott wissen, meine sämmtlichen Arbeiter und Unterthanen gegen mich aufgehetzt haben. Sie betrachten mich für den unrechtmäßigen Besitzer der Güter des Grafen Magnus und drohen mit gewaltsamen, unsern Namen entehrenden Maßregeln, wenn ich nicht die Forderungen dieses weißlockigen Wenden auf der Stelle befriedige.
Wohin solche Widersetzlichkeit arbeitender, an mich und mein Interesse gefesselter Menschen führen kann und muß, ist gar nicht abzusehen. Ich brauche diese zerlumpten Tausende, brauche sie unter den Bedingungen, die ich ihnen bisher kaltblütig und in ruhiger Consequenz auferlegt habe, sonst gehen alle meine großartigen Speculationen in Rauch auf. Es gilt daher, den ausgestreuten Saamen des Mißtrauens um jeden Preis zu entfernen, die Murrenden zu beschwichtigen. Dies kann nur geschehen, wenn wir die Quellen verstopfen, aus denen sie ihren Argwohn schöpfen, kann nur von Dauer sein, wenn Sloboda und der [] alte verschlagene Maulwurffänger mit seinem ganzen Anhange schnellstens entfernt wird.
Ich unterfange mich nicht, eigenmächtig einen Weg anzudeuten, der sofort eingeschlagen werden müßte, um dieses nicht blos wünschenswerthe, sondern durchaus nothwendige Ziel zu erreichen. Einige Pläne kreuzen sich wohl in meinem Kopfe, aber sie bedürfen der sorgfältigsten Ueberlegung. Es wäre deshalb am besten, wir drei Brüder kämen persönlich zusammen, beriethen uns mündlich, tauschten unsere Ansichten offen gegen einander aus und faßten einen gemeinsamen Entschluß. Coalisation ist in unsern Tagen das allersicherste Mittel, rasch und entschieden zum Ziele zu kommen. Bei persönlicher Zusammenkunft ließen sich auch die etwaigen Rollen, die Jeder von uns zu übernehmen haben dürfte, am leichtesten vertheilen.
Du siehst, lieber Bruder, daß ich einen Feldzugsplan im Großen beabsichtige und diesen gegen einen Feind angewendet wünsche, der uns fürchterlicher werden kann, als es gegenwärtig noch den Anschein hat. Soll ich wahr sein, so gestehe ich gern, daß mir die [] plumpe Forderung dieser Fremdlinge recht zu gelegener Zeit kommt. Sie hilft mir eine Idee verwirklichen, die ich lange Jahre still mit mir herumgetragen habe. Das Nähere, sobald wir uns sprechen! Ich wünsche nur, daß Du meine Ansichten und Entwürfe theilen magst! Einigen wir Brüder uns, so ist die Ausführung leicht, und stände ein ganzes Volk uns feindlich gegenüber. Es gilt nur Einsicht und kraftvolles Handeln.
Nach den Erkundigungen, die ich seit zwei Tagen unter der Hand eingezogen habe, ist es nicht so gar unwahrscheinlich, daß wirklich hier oder da ein illegitimes Kind unseres galanten Herrn Vaters unbekannt in der Welt herumläuft. Es wäre zu viel verlangt, wenn irgend Jemand von uns forderte, daß wir solch wilden Sprößling und Ableger aufsuchen und an unsere Bruderherzen drücken sollten. Ich meines Theils spüre wenigstens ganz und gar keine Lust dazu. Allein gut wäre es doch, wenn man mit Bestimmtheit wüßte, wo sich diese Pseudo-Bobersteine umtreiben, die wohl schwerlich auf gräflichen Burgen Hof halten werden. Es wäre wichtig der Zukunft und [] unserer eigenen etwaigen Nachkommenschaft wegen. Auch könnte man mildthätig sein und das großmüthige Schicksal spielen, indem man solch unbekannten Bruder unterstützte, falls er sich in Noth befinden sollte. Aber nur spärlich, damit er stets abhängig bliebe und sich nie überheben könnte! Ist eigener Besitz Macht, so wird er durch Gegenbesitz in gewisser Hinsicht Ohnmacht und das muß ein berechnender Kopf vermeiden.
Unterlasse daher nicht, ganz in der Stille herumzuhorchen und nach Spuren Boberstein'scher Lebensthätigkeit zu suchen! Nur schweige, schweige unverbrüchlich, ich bitte Dich!
Da die Jahreszeit noch nicht zu sehr vorgerückt und das Wetter mild ist, wird es hoffentlich nichts zu bedeuten haben, wenn Du auch vier Wochen später unter Segel gehen solltest. Es wäre mir ohnehin des Geschäftes wegen solche Verzögerung lieb, denn um diese Zeit kann ich Dir die prächtigsten Proben neuer Druckmuster mitgeben, für die sich in Ostindien, sollte ich meinen, ein großer Absatz finden wird. Doch darum kümmerst Du [] Dich nicht, wie ich weiß, deshalb nur diese oberflächliche Andeutung. –
So eben erhalte ich Antwort von Adalbert aus Schlesien. Er kommt nach Boberstein und ist ganz meiner Ansicht. Ich bitte Dich, eile ebenfalls zu mir, damit wir schleunigst einen gefährlichen Feind vernichten können, ehe er noch Zeit und Macht gewinnt, sich gegen uns zu erheben. Es grüßt Dich liebevoll Dein Bruder
Adrian.«
»Das wird lustig,« sagte Aurel, indem er den Brief verschloß und schnell nach den Kleidern grift, die Gilbert inzwischen herbeigeholt hatte. »Mein Bruder glaubt seiner Sache sehr gewiß zu sein,« fuhr er im stillen Selbstgespräche fort, während er sich ankleidete. »Vielleicht änderte sich diese Ansicht, hätte er Kenntniß von meinem Funde. – Arme, unschuldige Opfer eines leichtsinnigen Mannes! Verbergen, nicht kennen, in Dürftigkeit will man Euch schmachten, vielleicht auch verkümmern lassen, wenn man Euch wirklich auffindet! – Das läuft schnurstracks Sturm auf mein Gewissen, Bruder Adrian, [] und darum besorge ich, daß es in Bezug auf diesen Punct zwischen uns zu einem Kreuzfeuer kommen wird. – Vergrößerung des Elendes der Armen, herzloses, vorausberechnetes Verstoßen eigener Blutsverwandten? – Nein, Bruder, das ist ein Weg, den ich nicht betrete! – Ich habe des Elendes auf Erden schon zu viel gesehen, als daß ich aus eigensüchtigen Absichten noch beitragen sollte zu dessen Vermehrung. Lieber etwas weniger besitzen und Andere auch glücklich wissen, als im Ueberflusse schwelgen beim Gewimmer Verhungernder! – Gehe ich nach Boberstein? Warte ich unbestimmte Zeit auf die Gefahr hin, bei späterem Absegeln mit Mann und Maus unterzugehen? – Hm, das Ungefähr, das Schicksal, mein Spiritus familiaris mag entscheiden! Erfahre ich, wessen Finger dieser Ring ehedem zierte, so will ich die Heimath meines Geschlechtes besuchen. – Heda, Gilbert, bist Du fertig?«
»Immer, wenn mein Kapitän befiehlt.«
»Wie viel Uhr haben wir?«
»Ein Viertel nach eilf.«
»Vorwärts denn nach der Mohrentaverne! – – –«
[] Jene hoch liegende Fläche, die zwischen Hamburg und Altona in beträchtlicher Ausdehnung sich hinzieht und nach der Elbe zu in ziemlicher Hügelsteile abfällt, heißt wie bekannt der Hamburger Berg. Ein Theil desselben ist den Spiel-, Gaukler- und Thierbuden eingeräumt, die Jahr aus Jahr ein in abwechselnder Mannigfaltigkeit dem Publicum daselbst offen stehen. An diese Buden lehnen sich Schenken und Tanzplätze für die niedrigsten Volksklassen in reicher Auswahl. Hier tummelt sich der Matrose Nacht für Nacht in ausgelassenster Lust und verpraßt, was er zur See sich erspart hat. Ein eigenthümliches, wüstes, tolles, oft wahrhaft satanisches Leben entfaltet sich gegen Mitternacht in diesen geräumigen Höhlen, ein Leben, wie es in solcher charakteristischen Buntheit, in solcher Raserei der Lust kaum eine zweite Stadt des europäischen Festlandes kennt. Wer den Menschen herabgewürdigt bis zum vernunftlosen Thiere, als willenlosen Knecht der entfesselten Sinnenlust sehen will, der trete in eine dieser Matrosenkneipen, und er wird seine kühnsten Erwartungen noch übertroffen finden. Scenen, wie sie unter dem Deckmantel der Nacht sich hier fast täglich [] wiederholen, vermag die ausschweifendste Phantasie des Dichters nicht zu erfinden.
Zu den besuchtesten Orten des Hamburger Berges gehörte zur Zeit unserer Geschichte die Mohrentaverne. Man hatte ihr diesen Namen gegeben, weil durch Zufall die meisten nicht europäischen Matrosen sich hier zusammenfanden. Immer konnte man sicher sein, gegen Mitternacht in der Höllengluth dieser Taverne an dreißig Mohren, Mulatten, Indier und Malayen anzutreffen. Der farbige Mensch herrschte hier, der weiße ward nur geduldet und mußte sich ohne Weigerung den Gesetzen fügen, die zu eigener Belustigung die Fremdlinge jeden Abend auf's Neue entwarfen und mit unerbittlicher Strenge handhabten.
Die Mohrentaverne zeichnete sich schon äußerlich durch ihre Gestalt aus. Sie stellte nämlich eine colossale schwarz getheerte Tonne vor, deren hoher Zapfen auf dem Spunde zum Schornstein diente. Ihr Inneres war sehr geräumig, bestand aus Vorraum, Küche, dem großen Gesellschaftslocal und mehreren cabinenartigen Nebenzellell, die man durch Riegelthüren beliebig verschließen konnte. Im Hintergrunde, ebenfalls [] auf Tonnen ruhend, war das Orchester angebracht; denn ohne Musik kann der Matrose auf dem festen Lande nicht leben. Schlecht gepolsterte Bänke liefen zwischen den Zellen an den Wänden hin. Hier standen auch Tische und Sessel für die Zechlustigen, obwohl selten in dem bacchantischen Getümmel des Tanzes ein paar Menschen ruhig neben einander sitzen konnten.
Kurz vor Mitternacht traten zwei junge Männer von fast gleicher Größe in die Thür dieser berüchtigten Taverne. Sie glichen gemeinen Matrosen. Eine kurze Jacke von verschossenem ziegelrothen Tuch, weite schlotternde Beinkleider von blau und weißgestreiftem Wollenzeuge, grobe plumpe Schuhe von Rindsleder und ein gewöhnlicher mit schwarzer Glanzfarbe bestrichener niedriger Strohhut bildete ihre einfache Tracht. Diese späten Gäste waren Aurel und Gilbert.
Wohl bekannt mit dem Tone, der in diesen Spelunken herrscht, wo der rohe Matrose nur Leute seines Gleichen duldet und jeden auf höherer Stufe der Bildung und des Umgangs stehenden Gast sogleich zu entfernen pflegt, umfaßte Aurel gleich beim Eintreten eine stämmige Dirne mit hochrothem Gesicht und Busen, die [] unfern der Thür an der Wand lehnte, und erlaubte sich enige nicht eben zarte Scherze, die von dem Mädchen mit heiserm Lachen und frechem Aufblick des unruhig umherflatternden Auges erwiedert wurden. Der Anblick der Mohrentaverne in diesem Augenblick war ein Bild für Höllenbreughel. Umdrängt von einer dreifachen Reihe rauchender, siedend heißen Grog oder blau brennenden Punsch trinkender Matrosen aus aller Herren Ländern, von denen Mancher ein, wohl auch zwei Mädchen im Arme hielt, führten drei Mohren und zwei Mulatten einen der wildesten und die Sinne erhitzendsten Tänze ihres Vaterlandes auf. Das unheimliche Rollen ihrer weißen glänzenden Augäpfel in den dunkeln Gesichtern, das tigerartige Zähnefletschen und das convulsivische Zucken ihrer sehnigen Arme, wenn sie die blendend weißen Körper ihrer Tänzerinnen wollüstig umschlangen, konnte einem mit solchen Scenen nicht Vertrauten glauben machen, er sei plötzlich in die Hölle unter Verdammte und Teufel versetzt worden, die sich eben in dämonischer Weise vergnügten. Die Mädchen waren groß, schlank und von schönem Wuchse, nur Blick und Gesichtsausdruck verriethen ihre moralische Verwilderung. [] Mit fast ganz nacktem Oberkörper, mit fliegenden Locken und gelöstem Haupthaar ras'ten sie im Arm ihrer farbigen Tänzer, die vor Lust jauchzten und häufig fast thierische Töne ausstießen, in beschränktem Raume keuchend auf und nieder. Dazu schrien ein paar verstimmte Geigen und schrillte das Tamtam. Hinter Tänzern und Zuschauern hockte auf einigen umgestürzten Fässern eine Gruppe von Negern und olivenbraunen Indiern. Einer dieser Neger hatte ein scharlachrothes Tuch, das einem der anwesenden Mädchen gehören mochte, um sich geschlagen, was dem glänzenden nachtschwarzen Gesicht mit dem dichten wolligen Haar ein majestätisches Ansehen verlieh. Die Indier trugen weiße Turbane oder doch turbanähnliche Kopfbedeckungen. Alle rauchten aus langen Pfeifen und weideten sich mit Behagen an dem Tumult des Tanzes. Der Lärm war so arg, daß kaum die nächsten Nachbarn einander verstehen konnten. Dolche und Messer von den verschiedensten Formen trugen die Meisten in ihren Schärpen und Leibbinden. Sie mochten häufig gebraucht werden, denn sämmtliche Besucher der Taverne schienen wenig Spaß zu verstehen. In jeder Viertelstunde faßte irgend [] eine Hand den Griff seiner Waffe und nicht selten funkelten blaue Klingen über den Köpfen der Ausgelassenen.
Dies chaotische Getümmel halb und ganz trunkener Menschen, die gewohnt waren, allen Leidenschaften ungehindert den Zügel schießen zu lassen, heiler Haut zu durchschreiten, schien unmöglich. Aurel zog es daher vor, im Hintergrunde eine Zeit lang den Beobachter zu spielen, und bestellte für sich und Gilbert steifen Grog. Sie nahmen Platz an einem der zur Seite stehenden Tische und unterhielten sich mit den hübschen Dirnen, die auf der Bank dem Tanze zusahen oder ab und zu gingen und bisweilen die schmucken Matrosen neckten.
Aurel's Aufmerksamkeit richtete sich nunmehr auf das Orchester und die Musiker. Es war jedoch unmöglich, die Spielenden durch die feuchte und schwere Rauchwolke zu erkennen, die auf das wogende Menschenmeer in grauer Trübe niederhing. Er wandte sich daher an das hübscheste und, von ihrem Gesicht auf ihr Herz zu schließen, an das mindest verdorbene Mädchen mit der Frage: ob sie einen Mann kenne, welcher den Namen Blutrüssel führe? Das Mädchen[] bejahte und fügte hinzu, daß er so eben das Tamtam spiele.
»Kannst Du es nicht veranstalten, hübsches Kind, daß er einmal herabsteigt von seinem Throne?«
»Das thut er schon von selbst nach jedem Tanze,« versetzte das Mädchen. »Länger als eine halbe Stunde kann er ohne heißes Getränk nicht leben, und damit er es recht frisch aus der Quelle bekomme, holt er sich's allemal selbst. Sehen Sie, da ist der alberne Tanz zu Ende! Einer von den Schwarzen ist gefallen vor Erschöpfung. Eher hört man nicht auf.«
Die Musik schwieg sogleich, das Lärmen, Schreien, Kreischen und Wiehern ward dagegen eher noch ärger. Der bis zur Ohnmacht erschöpfte Neger ward aufgehoben, auf einen Tisch gelegt und mit Branntwein übergossen. Er zuckte kein Glied. Die dicke aufgeworfene Unterlippe hing schlaff herab und enthüllte ein tadelloses elfenbeinweißes Gebiß. Die Augen standen halb offen und glotzten abschreckend in stierem Glanz durch die schwarzen Lider.
»Gießt ihm Grog in die Kehle oder scharf gewürzten Glühwein!« rief Einer aus der Menge.
[] »Ich weiß ein besseres Mittel, den tollen Schelm wieder auf die Beine zu bringen,« versetzte ein Mulatte. »Gebt mir Raum und laßt mich gewähren. Bei uns erweckt man damit Todte, wenn noch ein Fünkchen Leben in ihnen brennt.«
So sprechend träufelte er Branntwein auf die Stirn des Ohnmächtigen, ergriff ein Licht und zündete die Flüssigkeit an. Blaue Flammenbäche liefen kreuzweis über Schläfen und Wangen. Mit gellendem Schrei fuhr der Gemißhandelte auf und schüttelte die Flammen von sich, die glücklicherweise sogleich erloschen. Rasendes Bravoschreien und unbändiges Gelächter belohnten den tollen Einfall des Mulatten.
»Das war ein guter Witz, Nero,« sagte eine bellende, vom vielen Trinken gleichsam verbrannt klingende Stimme. »Den hätte ich Dir abkaufen mögen, wär's möglich gewesen. Darauf bin ich in meiner besten Zeit nicht gekommen und ich war doch berühmt im Fache witziger Erfindungen! Noch einen Tropfen Höllenwasser, Mutterchen, aber warm und steif! Ich fühle ein ganzes Eismeer in mir.«
Es war ein ältlicher Mann in struppig [] grauen Haaren, der sich so vernehmen ließ, hager, knochig und von sehnigem Körperbau. Sein Gesicht verdiente ein Ideal von Häßlichkeit genannt zu werden. Roth, aufgedunsen, von bläulichen Flecken bedeckt, ward es von einer langen blutrothen Nase beherrscht, die wahrhaft fürchterlich aussah und ihm den Ekelnamen zugezogen hatte. Die großen vorstehenden Augen mit kohlschwarzer Pupille und der gespaltene Mund mit großen und spitzen die Lippen überragenden Vorderzähnen vollendeten das Bild eines Mannes, der mit Fug und Recht bei den Bällen des Satans als Musikdirector hätte fungiren können.
»Blutrüssel, der Nimmersatt!« schrien lachend ein Dutzend. »Mögest Du noch eine Million Pinten vertilgen!«
Der Musiker dankte durch ein entsetzenerregendes Grinsen und empfing das dampfende Glas mit dem glühendheißen Getränk.
»Auf meine Rechnung, wackrer Bursche! Die drei nächsten hast Du noch gut bei mir! So ungewöhnliche Geistesgaben müssen belohnt werden!«
So rief Aurel, überlustig seinen Hut schwenkend[] und sich mit kräftigen Rippenstößen Bahn zu dem Musiker brechend.
Dieser vergaß über der Seltsamkeit solch großmüthigen Anerbietens das Trinken und die übrigen Gäste der Taverne wurden von der Keckheit Aurels so verblüfft, daß sie die erhaltenen Stöße und Tritte ungestraft hinnahmen.
»Wer bist Du?« sagte Blutrüssel, mit gewaltigem Schlingen das große Glas zur Hälfte leerend und die dargehaltene Hand des Kapitäns annehmend. »Hier werden blos ausgepichte, tausend Millionenmal durchwerterte und mit Teufelsspeck gemästete Kerle geduldet. Man wird eingeführt in so ehrenwerthe Gesellschaft oder 'nausgeschmissen, Bursche! Man hat Dich nicht eingeführt, dünkt mich, und dazu riechst Du noch genau wie eine frisirte Landratte. Hut ab, Kerl, und Reverenz gemacht!«
Aurel zog den Hut und blickte mit mächtigem Auge rundum.
»Wohl bin ich eingeführt, alter Seehund, und wenn ein Kerl, der sechsmal die Linie passierte, keine Landratte ist, bin ich's nicht!«
»Dann trink 'mal auf meine Gesundheit!« sagte Blutrüssel und reichte ihm das halbvolle [] Glas mit dem heißen Grog. Aurel zog es aus bis auf die Nagelprobe.
»Pfui!« rief er. »Lauwarmes Wasser schmeckt besser. Ein anderes, Mutterchen, und dreimal gesteift!«
»Du gefällst mir, Junge,« sagte Blutrüssel mit Grandezza. »Ich erkläre Dich hiermit für eingeführt sammt Deinem blassen Gesellen, der sich dort so angelegentlich mit der Erforschung von Mäuseöhrchens Montblanc zu schaffen macht. Wie heißt Du?«
»Klütken-Hannes!«
»Teufel auch!«
»Oder wenn Du willst, Steinherz.«
»Ich grüße Dich, Steinherz, und nenne Dich Bruder von ganzer Seele! Umarme mich!«
Aurel mußte sich dazu entschließen, wenn er seinen Zweck erreichen wollte, und that es demnach mit vieler Rührung und komischem Ernste. Inzwischen ward der bestellte Grog von einer Dirne gebracht und angenommen.
»Laß uns zusammen trinken, sechsmal linirtes Steinherz,« sagte Blutrüssel lachend. »Wir müssen nothwendig eins plaudern mit Erlaubniß [] meiner werthen Herren Gönner. Ich bitte auf eine halbe Stunde um Urlaub.«
»Gewährt! Angenommen! Musik! Negermusik!« scholl es wüst durch einander.
Nun begann abermals ein Toben und Lärmen, als wolle man alle Lustigkeit auf einmal erschöpfen. Die beliebte Negermusik, die nur aus dem unharmonischen Schrillen aller Instrumente und dem donnernden Gestampf einiger dreißig Füße bestand, begleitete die Tänze der Halbwilden. Unbekümmert um dies Getümmel und seltsamerweise auch unangefochten saß Aurel neben Blutrüssel, stieß mit ihm an und that ihm Bescheid.
»Jetzt sag 'mal, junger Haifisch, wie Du auf den Einfall gekommen bist, Dich Klütken-Hannes zu nennen? Dahinter steckt etwas!«
»Weil der Kerl mein Freund ist.«
»Du hast Dich vermuthlich versprochen und meinst das Mädel,« versetzte Blutrüssel mit widerlichem Grinsen. »Soll ein hübsches Forellchen sein, wie geschaffen für den Gaumen eines Haifisches.«
Aurel fühlte, daß ihm das Blut nach dem Kopfe schoß, doch ließ er sich nichts von dieser [] unwillkommenen Bewegung merken. Statt aller Antwort erhob er seine linke Hand und hielt sie dem verthierten Kumpan dicht vor die stieren rothgelben Augen.
»Kennst Du das?« fragte er den Musikanten und deutete auf den feinen Goldreif am kleinen Finger.
»Sieh 'mal!« rief dieser aus. »Du bist ein glattköpfiger Seehund! Was hast Du bezahlt dafür?«
»Mehr als er werth ist. Aber was kümmert das Dich! Viel lieber wäre es mir, zu hören, wie Du zu dem Frauenschmuck gekommen bist? Ich denke auf dem Wege der Geschwindigkeit, wie?«
Blutrüssel runzelte fürchterlich die Stirn und schüttelte ungeduldig seinen grauen borstigen Kopf. »Das vergißt sich mit der Zeit,« sagte er, »nur in der Jugend, wo die Glieder flink und geschmeidig sind, ist das, was Du meinst, ein einträgliches Gewerbe. Den Reif habe ich mit gutem Gelde erkauft.«
»Darf man fragen, von wem?« warf Aurel mit größter Gleichgiltigkeit hin, indem er sich seine kurze Thonpfeife anzündete und das leere [] Glas seines Gastes zum dritten Male füllen ließ.
»Von wem anders, als von einem Weibsbilde,« grinste der Musikant. »Ich that's aus purem Mitleid, denn die Creatur war von lieblicher Gestalt und feinen Manieren.«
»Das wird ja ganz interessant,« sagte der Kapitän. »Wenn Du mich nur so brockenweise füttern willst mit Deinen Teufelsgeschichten, werd' ich vor Neugier das Trinken vergessen.«
»Sollst leben, nett aufgetakelte Brigg! Beim schlimmsten Fluche, ich möchte noch in Deinen Jahren sein! Dann wollten wir zusammen 'was anstellen, daß sich die alte Jungfer Europa vor Aerger darüber die eigene Nase abfräße!«
»Kann noch kommen, doch Tolleres glaub' ich, als Deine Geschichte mit dem Weibsbilde, würden wir kaum zu Stande bringen.«
»Hoch, drei Mal hoch denn die Vergangenheit!« rief Blutrüssel und zertrümmerte im Stoße das volle Glas. Er schleuderte die Scherben nach dem Schenktische und schrie: »Mutterchen, eine frische Galleone, die alte hat ein Leck in Grund gebohrt! – Ja, Bruder Steinherz, damals, damals gab's noch ein Leben!« fuhr er [] fort. »Du hättest dabei sein sollen, wie wir dem reichen Knauser das Federbett unterm Leibe anzündeten und ihn über Hals über Kopf aus dem Neste jagten! Solch lustiges Feuer hab' ich nie wieder gesehen! Damals erbeuteten wir das feine Püppchen, in dem unser Hauptmann sein entführtes Töchterlein wieder erkennen wollte. Es ward da viel geweint und gelacht und ein paar Monate später gab's sogar ein Kindtaufessen. Das Töchterchen war in die Wochen gekommen, just durch ein Wunder, wie vor Zeiten die Gebenedeite unter den Weibern. Der Herr Hauptmann aber duldete durchaus kein Glossiren über diesen Punnct und so verschwanden denn Mutter und Kind, ohne daß wir Vielbeschäftigten etwas davon erfuhren. Ich hatte längst die ganze Geschichte vergessen, war in Folge eines Umschwunges unseres Geschäftes, das seinen Werkführer durch den Tod unseres Hauptmanns verlor, in einem Anfall von Reue wieder unter die Ehrlichen gegangen und nährte mich durch einen Trödelkram, den ich von einem Orte zum andern schleppte. Nach langem Herumziehen kam ich endlich auch zur Meßzeit damit nach Leipzig. Hier lachte mir das Glück; einige gelungene [] Speculationen verschafften mir Geld, das ich höchst nutzbar und zum Besten der darbenden Menscheit in einem kleinen Leihgeschäft sicher anlegte. Ich borgte gegen billige Procente auf Pfänder und handelte auch altes Gold und Silber ein, wenn ich's so billig bekommen konnte, daß mir der Jude den doppelten Preis dafür bezahlte. Meinen Namen hatte ich natürlich schon längst abgelegt und einen recht gewöhnlichen, hinter dem die Polizei nichts Verdächtiges witterte, angenommen. Ueberhaupt habe ich im Taufen eine große Gewandtheit, und hätte ich zur Zeit des berühmten Schneidermeisters von Leyden gelebt, der sterblich ins Taufen vernarrt war, so würde ich unter den Wiedertäufern als einer der Ersten geglänzt haben. – Mein damaliger Name verschaffte mir recht viele Kunden. Unter diesen stellte sich denn eines Tages auch eine schlanke oder vielmehr etwas klapperdürre in verschossene Seiden gekleidete Dame ein und bot mir das Ringlein zum Verkauf an. Trotz der Jahre und der großen Veränderung, die mit der Tochter meines ehemaligen Hauptmannes, der wunderschönen Herta vorgegangen war, erkannte ich sie doch auf den ersten Blick. Auch sie erinnerte sich [] meiner. Wir wurden bald Handels einig, denn sie brauchte Geld; ich zahlte, und sie ging schweigend, wie sie gekommen, wieder von dannen. Gern hätte ich sie ein wenig über ihr Schicksal examinirt, allein es ist von jeher mein Grundsatz gewesen, mit Armen und Unglücklichen mich nicht sehr gemein zu machen. Man wird leicht von der nämlichen Krankheit ergriffen und vor dieser Art Ansteckung habe ich eben so großen Abscheu, wie mich die Ansteckung der Haide und Schlösser ergetzte. Ich ließ sie also laufen, und Gott, der die Lilien auf dem Felde kleidet und die weißen Mäuse nicht verhungern läßt, damit sie die Jungen auf Messen und Märkten mit Tanzen quälen können, der wird sich wohl auch der heruntergekommenen Tochter meines ehemaligen Hauptmannes angenommen haben. – Nun, Du seehaltiges Linienschiff, was ist Dir denn? Bist' die Hitze nicht gewohnt? Oder incommodirt Dich das Höllenwasser? Siehst aus, soll mir der Teufel die Nase krauen, als wärst Du seit ein paar Stunden seekrank! – Gieß neue Gluth auf, das hilft! – Mutterchen, – eine volle Galleasse, aber doppelt geheizt oder ich küsse Dich!«
[] Aurel saß bleich wie ein Grabmonument dem ehemaligen Räuber gegenüber. Kalter Schweiß rann von seiner Stirn, die Hände zitterten ihm, daß er kaum das Glas noch zum Munde führen konnte.
»Es geht vorüber,« sagte er matt und sich gewaltsam zusammenraffend, »die entsetzliche Hitze machte mich schwindlig.«
»Beim zweiten Besuch spürst Du nichts mehr davon. Komm nur bald wieder! Aber so kratzt doch auf, was die Saiten halten! Es ist ja, weiß Gott, still wie in einer Todtengruft! Hört man sich doch selber schon sprechen!«
Die Musik, welche eine kurze Pause gemacht hatte, da die Tanzenden abgetreten waren, stimmte abermals ihre ohrzerreißenden Töne an, die alsbald auch neue Tänzer auf den Plan lockten. Aurel starrte noch immer in halber Betäubung vor sich hin. Die Erzählung Blutrüssels hatte ihn mit furchtbarer Gewalt getroffen. – Die Fremden, welche auf Boberstein erschienen waren, hatten ein Recht zu ihren Forderungen, denn Alles, Alles, was Adrian's erster Brief ihm gemeldet, fand eine grauenvolle Bestätigung in der spöttischen Erzählung des ergrauten [] Sünders. Der Brand des alten Schlosses – die Flucht seines Vaters mit Herta, die Rache Johannes – es war nichts erlogen! Und diese Herta, das unglückliche Opfer seines wilden Vaters, diese liebliche, gänzlich verschollene Verwandte von ihm hatte vor Kurzem noch gelebt, im Elend gelebt! – Aurel fühlte sich vernichtet, niedergeschmettert von der Macht des Geschickes, das seinen strafenden Arm nach ihm und Allen, welche den Namen Boberstein führten, austreckte.
»Ist's lange her, alte Seele, daß Du mit der Besitzerin dieses Ringes zusammentrafst?« fragte er aufstehend und Gilbert zuwinkend.
»Knappe drei Jahre, mein Herr Stehnichtfest. Es war just Michaelismesse in Leipzig.«
»Wohnte die Arme in jener Stadt?«
»Weiß nicht – doch ja, ja, ich besinne mich. In der Vorstadt, wo die Armuth haust, hatte sie ihr Zelt aufgeschlagen. Die Leute, die sie kannten, erzählten sich, sie lebe vom Wahrsagen. Ha, ha, ha, ha, die heruntergekommene Tochter einer sehr mächtigen Gräfin, vom Unglück gehetzt, hat den drolligen Gedanken, von andern Menschen das Unglück mitleidig ablenken [] zu wollen! Beim Schädel meines Vaters, 's ist zu komisch! – Komm, lustiger Tummler, laß uns anstoßen auf die Prophetengabe der verblühten Rose. Möge sie ihr die Tasche brav füllen!«
Instinktmäßig hob Aurel sein Glas, stieß an, leerte es und ließ es dann klirrend zu Boden fallen. Es litt ihn nicht mehr unter diesen gleich Besessenen tobenden Menschen. Hinaus in die freie kühle Luft trieb es ihn, damit er Athem schöpfen könne und sein glühender Kopf, in dem er jede Ader schlagen fühlte, sich abkühle.
Gilbert hatte sich an seine Seite gedrängt. »Brechen wir auf, Kapitän?« fragte der junge Matrose. »Und haben Sie erfahren, was Sie zu wissen begehrten? Sie scheinen angegriffen.«
»Mehr! Mehr als ich wünschte!« seufzte Aurel und legte seinen Arm in den seines treuen Begleiters. Dann zog er den Hut, schwenkte ihn gegen das Orchester, auf dem Blutrüssel wieder das Tamtam zu spielen begann, und schrie mit erhobener Stimme:
»Gute Nacht, brennende Grogseele! Gute Nacht, meine Jungen! Lange blühe die Lust in der unvergleichlichen Mohrentaverne!«
Ein wüthendes Hurrah, das gar kein Ende [] nehmen wollte und in welches auch die dünnen Stimmen der Mädchen einfielen, begleitet von dem gräßlichen Lärm aller Instrumente, antwortete diesem gentilen Toaste. Unter dem Getöse dieses Hurrahs erreichten die Freunde das Freie. Sie entfernten sich schnell von der colossalen Tonne, über deren bacchantisches Toben in ihrem Innern Beide ein wahrhaftes Grauen empfanden. Als sie den Weg nach der Stadt etwa zur Hälfte zulückgelegt hatten, drückte Aurel heftig Gilberts Arm, indem er sagte:
»Wir gehen nicht in See, mein Junge, wir setzen uns in eine Postkalesche und reisen zusammen nach Boberstein. Die Zeit des lustigen Schwärmens ist vorüber, von morgen an werden wir ernste Leute!«
Gilbert sah den Kapitän mit großen Augen an, da er aber einem festen traurigen Blicke und einem erdfahlen Gesicht begegnete, drückte er ihm die Hand und erwiederte:
»Ich begleite Sie, Herr Kapitän.«
Es schlug drei, als sie das Haus am Rödingsmarkte erreichten. Zwölf Stunden später hatten sie Hamburg verlassen und fuhren mit Extrapost der Lüneburger Haide entgegen.
[]Sechstes Buch
Erstes Kapitel.
Eine Offenbarung.
Vier Tage nach dem Besuche Sloboda's und Heinrichs auf dem ehemaligen Schlosse Boberstein begegnen wir den beiden Alten nebst Paul in dem gebirgigen Schlesien. Hier lebten in arbeitsamer Zurückgezogenheit alte Bekannte des Maulwurffängers. Seine rastlosen Wanderungen führten den originellen Mann zuweilen auch in diese fern gelegenen Gegenden, wo er dann nie vergaß, die alten Freunde zu begrüßen. Seit einigen Jahren war dies unterblieben, und da Landleute nur im äußersten Nothfalle zur Feder greifen, so wußte Heinrich nicht einmal, ob die fernen Freunde noch alle am Leben sein würden. Dennoch zog er eine beschwerliche Fußreise [] von mehreren Tagen der unbequemen Schreiberei vor.
An waldigen Hügellehnen in der breiten und fruchtbaren Thalsenkung des Queis lag ein großes freundliches Kirchdorf. Hier besaß Leberecht, der ehemalige Großknecht auf dem Zeiselhofe, ein bescheidenes Häuschen mit geringem Ackerlande. Bei angestrengter Thätigkeit und großer Sparsamkeit konnte eine genügsame Familie von dem Ertrage dieses Ackers und fleißiger Handarbeit grade leben. Kleine Besitzungen dieser Art gibt es in Schlesien die Menge, da das Parcellirungsystem den großen Grundbesitz mannichfach zerstückelt hat. Man findet Dörfer, wo beinahe jedes Haus seinen eigenen Acker besitzt, welchen die Inhaber mittelst einer einzigen Kuh bebauen. Den flüchtig Reisenden kann der Anblick solcher Dörfer, wo alle Welt für sich selbst pflügt und ärndtet, den Eindruck von allgemein verbreiteter Wohlhabenheit machen, wer jedoch die Sachen genauer betrachtet und sich bei den so fleißig arbeitenden Leuten selbst erkundigt, erfährt zu nicht geringer Bestürzung, daß im Allgemeinen große Noth in solchen Ortschaften herrscht, und daß die meisten dieser kleinen [] Grundbesitzer lieber den Besitz los zu sein wünschen. So sonderbar dies klingen mag, so erklärlich und folgerichtig ist es. Alle diese Leute müssen nämlich, um das wenige Ackerland, das ihnen Kartoffeln, etwas Korn und Klee trägt, bearbeiten zu können, Zugvieh halten, da aber der Ertrag selbst verhältnißmäßig nur gering ist, so bringt es Keiner zu mehr als einer einzigen Kuh. Diese zehrt fast die Hälfte allen Ertrages auf. Um den Acker nicht zu sehr auszusaugen, muß häufig die mangelnde Düngung für schweres Geld angekauft werden, und da man dies selten oder nie besitzt, so wird die Aufnahme eines Kapitals auf das Haus unabweisbare Nothwendigkeit. Gewöhnlich aber lastet auf jedem solchen kleinen Hause ein Kapital, so daß bei Verdoppelung desselben die Möglichkeit, je einmal ganz schuldenfrei zu werden, dem Besitzer für immer benommen ist. Nehmen wir noch dazu, daß ohne anderweiten Verdienst ein Familienvarter von dem, was Feld und Wiesenplan ihm bringen, unmöglich leben kann und daß ihn die Bebauung des Ackers doch häufig an regelmäßigem anderweitigem Erwerbe verhindert, so wird es unsern Lesern einleuchten, daß[] Grund- und Ackerbesitz unter solchen Umständen eher ein Unglück als ein Glück zu nennen ist.
Genau in dieser Lage befand sich Leberecht. Er hatte zwei Jahre nach der Katastrophe, die Boberstein in einen Schutthaufen verwandelte und dem im Auslande lebenden Magnus zur Freigebung seiner Leibeigenen Anlaß gab, die Haide verlassen, um in fruchtbareren Gefilden Arbeit und Nahrung zu suchen. Das grüne Schlesien mit seinem ehrlichen, derben, gutmüthigen Volke behagte ihm vorzugsweise, da er sich hier wie daheim befand. Er war sehr fleißig und sehr sparsam, und als er nach seinem Dafürhalten genug besaß, um Frau und Kind ernähren zu können, dachte er an's Heirathen. Nie hatte ihm ein Mädchen besser gefallen, als die hübsche Marie, die auf dem Zeiselhofe so oft seinetwegen hungrig vom Tische gehen mußte. Marie diente noch in der Haide, war ebenfalls sparsam und in jeder Hinsicht wirtschaftlich. Leberecht machte sich also auf, putzte sich recht stattlich heraus, kaufte ein paar silberne Ohrringe und besuchte das Mädchen. Umschweife machte er nicht, vielmehr sagte er grade heraus, was er wollte, bot Marie Herz und Hand an und [] hatte die Freude, sechs Wochen später ein allerliebstes Weibchen sein nennen zu können. Von den Ersparnissen beider jungen Ehegatten ward ein eben feilgebotenes Haus nebst Ackerland gekauft, und seitdem bewirthschaftete Leberecht sein kleines Besitzthum redlich und unverdrossen.
Es wollte aber nicht vorwärts gehen. Freilich lag die Schuld nicht an ihm, sondern an der Unzulänglichkeit des Besitzes, der viel Zeit raubte und wenig eintrug, und dennoch konnte sich Leberecht nicht entschließen, Haus und Land zu veräußern, da er mit Leib und Seele Landmann war. Marie mußte auf einen Nebenerwerb denken. Dieser fand sich auch, indem sie, zwar etwas spät, die Weberei erlernte. Oft ward sie freilich in ihrer Thätigkeit gestört, denn ihre Ehe mit Leberecht war sehr fruchtbar. Zur Bekümmerniß beider Aeltern blieb aber von allen Kindern blos ein einziger Sohn am Leben, der weil die Weberei damals grade in Schwung kam, sich derselben ebenfalls widmete.
Geraume Zeit verdiente er mehr als hinreichendes Geld, das er vorsichtig zusammenhielt, um die auf Haus und Feld der Eltern noch immer lastenden Schulden nach und nach damit [] zu tilgen. Es gelang ihm auch beinahe, da trat eine Stockung in den Geschäften ein! Die Linnenweberei sank mehr und mehr, der Verdienst verminderte sich von Monat zu Monat, das Ersparte mußte angegriffen werden und das Haus blieb verschuldet, wie bisher. Um nur bestehen zu können, gab Eduard – so wollen wir den Sohn der hübschen Marie, das Ebenbild seiner Mutter, nennen – die Leinweberei ganz auf und warf sich, wie tausende und abertausende seiner Brüder, auf die leichtere und doch etwas besser bezahlte Baumwollenweberei.
So standen die Sachen in Leberechts kleinem Hauswesen bei dem Besuche, welchen Heinrich dem seit Jahren nicht mehr gesehenen Freunde zudachte. Die Veranlassung zu diesem Besuche werden wir sogleich mittheilen.
Die drei Wanderer erreichten den Ort gegen Abend und gingen zuerst ins Wirthshaus oder den Kretscham, um sich zu erfrischen und Erkundigungen einzuziehen. Diese fielen nach Wunsch aus. Leberecht war noch munter, wie vor Jahren, Marie fleißig wie immer, und der Sohn hatte den Ruf eines der tüchtigsten und accuratesten Weber. Heinrich besprach sich mit seinen [] Begleitern und ging dann allein nach der Behausung des Freundes.
Schon von weitem vernahm er das taktmäßige Klappern zweier Webstühle, das ihm von dem Fleiße der Mutter und des Sohnes Zeugniß gab. Trotz der schnell hereinbrechenden Dämmerung fand er wirklich Beide in emsiger Thätigkeit. Erst bei seinem zutraulichen guten Abend hielten die Webeden an und blickten halb neugierig halb verwundert nach dem späten Besuche.
»Kennst Du mich nicht mehr, Marie?« sagte Heinrich, nahe an den Stuhl tretend, dessen Werfte vom letzten Schlag der Lade noch zitterte. »Freilich, die letzten drei Jahre haben mir hart zugesetzt! Ich sehe fast so weiß aus wie ein Stück gut gebleichte Leinwand.«
»Mein Gott, der Maulwurffänger!« rief Marie freudig aus, stand auf und reichte dem Alten die Hand. »Tausendmal willkommen, wackrer Freund! Nehmt Platz, nehmt Platz! Dort hinterm Ofen steht ein Polsterstuhl. Ich bitt' Euch, schiebt Euch den zu mir heran, denn – nichts für ungut, lieber Alter – ich muß noch ein halb Stündchen schaffen, sonst krieg' ich nicht [] meinen Ziel. Und die Zeiten sind jetzt schlecht, man muß sich tüchtig rühren, will man sich ehrlich durchschlagen.«
Eduard reichte nun dem Freunde seiner Aeltern ebenfalls die Hand zum Gruße und hieß ihn willkommen. Heinrich schüttelte sie derb und setzte sich dann zwischen beide Stühle, wo das Spulrad stand, auf's Treibebänkchen.
»Laß gut sein, Marie, ich kümmere mich schon! Ein Oertel, wie ich's brauchen kann, find' ich immer. Laßt nur den Schützen schnellen, was er laufen mag, ich will mir gleich 'was zu thun machen – Geht's auch langsam, so dreh' ich Euch doch noch ein paar Spulen ab, als hätt' ich erst gestern das Geschäft aufgegeben.«
Damit setzte der Maulwurffänger das Rad in Bewegung, steckte ein »Ledgen« Eine leere Spule von Schilfrehr. auf die Spille und drehte schnurrend seine Spule, das Garn accurat auf dem Rohr vor- und rückwärts leitend. Marie lächelte, ließ den Schützen wieder klirren und arbeitete mit sammt dem Sohne, [] bis das Tageslicht gänzlich erloschen war. In dieser Zeit konnte des heftigen Geräusches wegen das Gespräch natürlich nur in kurzen Pausen unterhalten werden. Als nun aber Marie den Webstuhl verließ, Feuer anschlug und die entzündete Lampe auf den Tisch stellte, ward die Unterhaltung lebhafter. Heinrich fragte nach Leberecht und wie es ihm gehe?
»Ich weiß nicht, wo er sich herumtreiben mag,« versetzte Marie. »Er hat heut die paar Körnchen Winterkorn gesät und nachher ist er fortgegangen, ohne zu sagen, wohin.«
»Es wäre mir schon lieb, wenn er bald wieder käme,« meinte der Maulwurffänger, »denn ich habe ihm heut gar Mancherlei zu erzählen. Auch alte Freunde habe ich mitgebracht, die er schwerlich noch kennt.«
»Ei wer könnte denn das sein!« sagte Marie und sah mit ihren freundlichen Augen den Maulwurffänger fragend an.
»Ja, das mußt Du errathen, Marie,« versetzte Heinrich mit verschmitztem Blinzeln – »Du hattest ja immer ein offenes Köpfchen, das die verfänglichsten Fragen zu beantworten wußte.«
Eduard hatte indessen draußen Holz gespalten, [] um Feuer im Ofen anzuzünden. Er brachte jetzt die dünnen Scheite nebst einem halben Bündel Reissig herein und legte Beides vor den Ofen auf die rothen, reinlich gehaltenen Ziegel.
»Der Vater wird gleich kommen,« sagte er. »Er steht unten am Wasser und discurirt mit dem Nachbar. Ich glaube, sie wollen heut' Nacht noch ein paar Reußen stellen.«
»Heut' Nacht?« fiel der Maulwurffänger ein. »Das soll ihm schon vergehen, wenn er mir zuhören will und meine Reisegefährten sieht! Ja, ja, Marie, ich sage die reine Wahrheit! Nicht umsonst bin ich in meinen alten Tagen die zwölf Meilen weit gelaufen, es hat' was zu bedeuten! Und wenn Du fein warten und hinterdrein schweigen kannst, so verheimliche ich Dir kein Wörtchen.«
Indem trat Leberecht ein, die Jacke über der Schulter und eine Rodehacke in der Hand.
»Guten Abend,« sagte er, ohne den Gast zu bemerken, der während seiner Abwesenheit angekommen war.
Frau und Sohn erwiederten den Gruß, der Maulwurffänger aber schlug ihn mit flacher [] Hand auf die Schulter und sagte: »Alter, wollen wir zusammen noch einmal Sprenkel stellen? Es ist mehr dabei zu gewinnen, als beim Fischfange.«
Leberecht sah den Fremden ein paar Secunden ernsthaft an, dann schüttelte er ihm tüchtig die Hand und versetzte: »Weiß Gott, er ist's, der Schelm von Maulwurffänger! Nun grüß' Dich Gott, Bruderherz, und sei bedankt, daß Du wieder einmal an uns gedacht hast! Nichts Neues draußen im Flachlande? In der Haide?«
»Will ich meinen,« sagte der Maulwurffänger. »Just deswegen komme ich her, und wenn Du Willens bist, eine Liebe der andern werth zu halten, sollst Du genug erfahren, um ein paar Jahre lang keine Zeitung mehr in die Hände nehmen zu dürfen.«
»Das wäre! Was gibt's denn so Großes?«
»Leberecht,« versetzte Heinrich sehr ernst »wenn Deine Frau nichts dawider hat, und ich nehme das an, so würdest Du mir einen grausam großen Gefallen thun, wenn Du mich in die Schenke begleitetest. Dein Eduard kann auch mitkommen – wir werden ihn brauchen. [] Kosten soll Dich's übrigens nichts. – Unterwegs erzähle ich Dir, was Du wissen mußt, um eine Neuigkeiten zu verstehen, in der Schenke aber wirst Du mir Gleiches mit Gleichem vergelten!«
»Du hast Dich so lange nicht blicken lassen,« erwiederte Leberecht nach kurzem Schweigen, »daß ich Deinen jetzigen Besuch nur etwas Ungewöhnlichem zuschreiben muß. Ich bin nun zwar auch nicht mehr der Mann von früher, den kein Ungemach lange anfechten konnte, allein für einen Freund habe ich doch noch immer Zeit und Ohr. Wir sind bereit, Dich zu begleiten.«
»Habe Dank für Dein freundliches Entgegenkommen,« sagte der Maulwurffänger, »es wird Dich nicht gereuen! Und Du, Marie, zerbrich Dir nicht unnützerweise den Kopf! Mit Leberechts Zurückkunft wirst Du so gescheid wie er selbst.«
Unverweilt brachen nun die drei Männer nach dem Kretscham auf. Es war eine gute Strecke Weges bis dahin, welche Heinrich durch Erzählung dessen verkürzte, was sich in den letzten fünf Wochen zugetragen hatte. So erfuhr denn Leberecht die wunderliche Auffindung der [] Schenkung des Grafen Magnus an Haideröschen, die Rückkehr Sloboda's mit seinem Enkel aus Polen, ihren Besuch auf Boberstein und die beleidigenden und herabwürdigenden Drohungen, womit Adrian die beiden Greise abgewiesen hatte.
»Nicht wahr,« schloß der Maulwurffänger seinen Bericht, »das ist ein Bündel Neuigkeiten für den plauderhaftesten Landkrämer? Wenn Du darüber nicht wieder jung wirst, streiche ich Dich aus der Zahl der Lebendigen.«
»Ich bin erstaunt,« erwiederte Leberecht, »erstaunt, daß so etwas in unseren nüchternen Tagen möglich ist; noch mehr aber muß ich mich wundern, daß Du auf Deinen alten Füßen so weit hergelaufen kommst, um mir diese wunderliche Geschichte zu erzählen. Ich freue mich Deiner alten Anhänglichkeit, aber ich hätte Dir's auch nicht nachgetragen, wenn Du mich blos gelegentlich davon unterrichtet hättest.«
»Wirklich? Das höre ich nicht gern, Leberecht! Ich habe schon gesagt, daß ich Tausch gegen Tausch verlange, was in diesem Falle Erzählung gegen Erzählung bedeutet.«
»Noch begreife ich Dich nicht, Pink-Heinrich.[] Sprich rund heraus: was soll's? Was begehrst Du zu hören?«
»Du kanntest den Voigt Ephraim vom Zeiselhofe,« erwiederte der Maulwurffänger, »Du warst sein Stellvertreter während seiner Krankheit, und daß er Dir auf dem Sterbelager Geständnisse eigenthümlicher Art gemacht hat, äußertest Du schon damals mit Entsetzen! In jenen unruhigen Tagen konnte Niemand daraus Nutzen schöpfen; jetzt aber müssen sie dem Enkel Sloboda's von größter Bedeutung sein. Darum, mein Freund, bist Du dringend gebeten, im Beisein des steinalten Wenden, seines Enkels und Deines Sohnes die Beichte des Sterbenden getreu zu wiederholen!«
Sie hatten den Kretscham erreicht, ein langes, nur einstöckiges Gebäude, ganz aus Holz aufgeführt. Eine Schmiede war damit verbunden, in welcher noch zwei riesige Gebirgssöhne auf sprühendes Eisen hämmerten. Aus den kleinen und niedrigen Fenstern der Wohnstube schimmerte Licht.
»Das ist ein Verlangen, welches, fürcht' ich, über meine Kräfte gehen wird,« gab Leberecht zur Antwort. »Bedenke, daß fast über [] vierzig Jahre inzwischen abgelaufen sind und daß mein Leben nicht geeignet war, Thatsachen von so langer Zeit her treu im Gedächtniß zu halten.«
»Entschuldigungen werden nicht angenommen,« sagte der Maulwurffänger lachend. »Komm nur herein, sprich mit dem Alten und mit Paul, dem einzigen Nachkommen des frommen, lieblichen Haiderbschens, und Dein Gedächtniß wird sich von selbst erfrischen. Kannst Du uns keine Winke geben, wie wir sie brauchen, so muß ich den guten Alten mit sammt dem frischen Enkel wieder zurück nach Polen schicken, denn wir kommen dann nicht auf gegen die Grafen.«
Zögernd senkte Leberecht das Haupt. Die Runzeln auf seiner Stirn deuteten auf einen heftigen innern Kampf. Er holte einigemale tief Athem, dann legte er seine schwere Hand auf Heinrichs Schulter und sagte entschlossen: »Ich will mich besinnen.«
Sie traten in die große vom Ofenrauch geschwärzte Schenkstube, die zwei dünne Talglichter nur dämmernd erleuchteten. Blos zwei der täglichen, rothbraun angestrichenen Tische [] waren mit Gästen besetzt, übrigens war das weite Zimmer leer. Zunächst dem Ofen trafen sie den Wenden mit seinem Enkel, beschäftigt, einen Abendimbiß einzunehmen. Sloboda erkannte Leberecht sogleich und auch dieser konnte nicht zweifeln, den Vater des unglücklichen Haideröschens vor sich zu sehen. Nach ländlicher Sitte, treuherzig und derb schüttelten sich die gealterten Männer zum herzlichen Gruße die Hände.
»Ulrich,« sagte Leberecht zum Wirth, nachdem er den Wenden durch Zutrinken des dargereichten Glases Bescheid gethan hatte, »wenn Ihr heut Abend keine Gäste im Cabinet erwartet, könntet Ihr uns dasselbe auf eine Stunde abtreten. Wir haben 'was Wichtiges unter einander zu besprechen.«
Zuvorkommend gestattete der Kretschamhalter diese Vergünstigung und alsbald saßen die fünf Freunde ungestört im engen Cabinet nebeneinander. Der Maulwurffänger ließ Speise und Trank auftragen und forderte Leberecht nochmals auf, seine Erzählung zu beginnen. Nach einigem Nachdenken machte die ser den staunenden Zuhörern folgende Mittheilungen.
[] »Es ist Euch bekannt, daß der Voigt Ephraim wenige Tage vor der Einäscherung Bobersteins erkrankt war. Der Schreck über den furchtbaren Haidebrand, über die Erhebung der Leibeigenen und die Flucht des Grafen ins Ausland verschimmerten den Zustand des Kranken von Tage zu Tage. Er siechte langsam hin und ward zusehends elender. Wer ihn sah, konnte nicht mehr an seiner baldigen Auflösung zweifeln. Er selbst ahnte das Herannahen des Todes und verfiel in eine Unruhe und Herzenasngst, die seine körperlichen Schmerzen zur unerträglichen Qual steigerten. Die Lage des Unglücklichen war in der That bedauernswürdig, da Graf Magnus die Verwaltung des Zeiselhofes ganz in seine Hände niedergelegt hatte und von ihm allein Rechenschaft forderte.«
»Obgleich ich dem Voigte nie sehr freundlich begegnet war, hatte er zu mir doch ein auffallendes Zutrauen. Freiwillig und in ziemlicher Ausdehnung trug er seine Macht auf mich über, so daß ich wider Willen statt seiner gebietender Voigt wurde. So ungern ich mich ihm unentbehrlich machte, so gewissenhaft erfüllte ich doch meine Pflicht, und weil ich wochenlang alle Geschäfte [] des Voigtes verrichten mußte, schenkte mir Ephraim dafür eine fast brüderliche Zuneigung. Am Abend jedes Tages, wenn ich ihm Rechenschaft von meinem Thun ablegte, drückte er mir die Hand und häufig gesellten sich zu seinen Seufzern und Stöhnen sogar Thränen.«
»Dieser Zustand währte mehrere Wochen. Die entsetzlichen Ereignisse waren beinahe vergessen, die eine Zeit lang verlassenen Hütten der Unterthanen füllten sich wieder mit ihren heimkehrenden Bewohnern. Die wenigen, welche ganz auswanderten, verschollen, Niemand dachte mehr an sie, Niemand kümmerte sich mehr um das Vergangene. Die Leibeigenen wurden für frei erklärt und dadurch ihr Aufstand gewissermaßen gebilligt. Da nahte Ephraims Ende heran; der Sterbende begehrte mich noch einmal ganz allein zu sprechen. Ungern gewährte ich die Bitte, doch lehrte mich die Menschlichkeit den angeborenen Widerwillen besiegen, den ich stets gegen den hartherzigen Voigt empfunden hatte.«
Ephraim ließ seine gläsernen Blicke lange Zeit auf mir ruhen, als ich einsam neben seinem Sterbelager Platz genommen hatte. Er schien in meinen Zügen forschen zu wollen, ob ich das, [] was er mir mittheilen wollte, auch als das Geheimniß eines Sterbenden betrachten werde. Nachdem er die Ueberzeugung davon gewonnen zu haben schien, sagte er röchelnd:
»Leberecht, ich will Dir ein Geheimniß beichten.«
»Mir?« unterbrach ich den Sterbenden. »Verschont mich damit, wenn Ihr mich lieb habt. Ich bin kein Pfarrer, ich möchte mich nicht damit vertragen können.«
»Doch, doch, Leberecht, Du mußt! – Sieh, ich leide namenlose Schmerzen – mein Gewissen foltert mich – ich kann nicht sterben, bevor ich bekannt –«
»Was, um Gottes Barmherzigkeit willen wollt Ihr bekennen!« rief ich entsetzt aus, denn, ich glaubte gewiß und wahrhaftig, der Unglückliche habe ein todeswürdiges Verbrechen begangen. »Kann ich Euch vergeben, wenn Ihr gesündigt gegen die Gebote des Herrn?«
»Ja, ja, Du kannst es,« röchelte der Voigt. »Setze Dich, beuge Dein Ohr zu meinem Munde – behalte wohl, was ich Dir sage – Ich werde ruhiger aus dem Leben scheiden!«
Der unglückliche Mann sprach so flehentlich, [] seine Stimme, obwohl heiser und fieberhaft zitternd, klang doch so vertrauensvoll, und seine Zuversicht auf mich erschien mir so rührend, daß ich ihm die Hand ließ, die er krampfhaft ergriffen hatte, und seinen Willen that.
»Wie lebt Nathanael?« stotterte Ephraim.
»Nathanael?«
»Jan Slobodas unglücklicher Sohn! O wie, wie lebt er?«
»In stummer undurchdringlicher Geistesnacht.«
»O wohl ihm – wohl ihm!« stammelte der Voigt; »besser, nichts von sich wissen, als von zu vielen Erinnerungen in die finstere Zukunft hinübergejagt zu werden! Vergib mir, armer Betrogener! Fluche mir nicht, Nathanael!«
Schaudernd sah ich den Sterbenden in die gelben verzerrten Züge, suchte in den eingesunkenen wild flackernden Augen zu lesen. Ephraim raffte seine schwindenden Kräfte zusammen, erhob sich mit Gewalt aus den Kissen und schrie mir zu:
»Nathanael ist Vater – sein Sohn lebt!«
»Heiliger Gott,« unterbrach Sloboda den [] Erzählenden. »Also doch! doch! O meine Ahnung!«
»Sein Sohn?« wiederholte ich, fuhr Leberecht fort.
»Nein, nein!« schrie der Sterbende, wie ein Rasender das vom Todesschweiß triefende Haupt gespenstisch gegen mich schüttelnd. »Nicht Nathanael's Sohn, der Sohn des Grafen – Er stockte.«
»Des Grafen?«
»Des Grafen – Magnus!« lallte der Sterbende. –
Ich stand wie vom Donner gerührt und starrte den Unglücklichen an, der matt röchelnd mit gebrochenen Augen in die Kissen zurückgesunken war. Meine Neugier wuchs; kaum vermochte ich den Augenblick zu erwarten, wo der Entkräftete sich zu weiterer Mittheilung gesammelt haben würde. Es vergingen fünf peinvolle Minuten. Dann schlug der Voigt seine Augen wieder auf und fuhr fort:
»Ich bestach die Hebamme – auf Magnus Befehl, das Kind der armen Leibeigenen für todt, für zerstückt auszugeben, was leicht war, da die Gebärende ihre Besinnung verlor. Der Graf [] besorgte Unannehmlichkeiten, wenn das Kind bei der Mutter bleiben sollte, die er verführt hatte. Auf sein Geheiß entfernte ich es – brachte es zu Verwandten, wo es in größter Dürftigkeit erzogen ward. – Durch einen Zufall hörte die Mutter von dem ihr gespielten Betruge, wagte dem Grafen zu drohen und ihn bei seinem Vater verklagen zu wollen. – Dies geschah im Walde beim Holzfällen – Magnus tobte innerlich – beherrschte sich aber und gab mir durch Winke zu verstehen, was er wünschte. – Auch ich verstand ihn – der nächste Baum stürzte und erschlug die Frau Nathanaels!«
»Das ist entsetzlich!« sagte Sloboda.
»Mir schlugen die Zähne zusammen,« versetzte Leberecht, »bei diesen Bekenntnissen des Voigts, der sich wie ein Wurm auf seinem Lager krümmte und wiederholt durch wimmernde Schmerzenstöne seine Mittheilungen unterbrach.«
»Kümmert sich der Graf um das verstoßene Kind?« fragte ich instinktmäßig, um nur das Nöthigste dem Sterbenden zu entreißen, dessen Ende sichtlich herrannahte.
»Er erhält seinen Sohn – nothdürftig,« stammelte der Voigt.
[] »Und wo lebt der Unglückliche?«
»Ephraim nannte mir den Ort, den Namen seiner Pflegeältern, nahm mir aber zugleich auch das Versprechen ab, das Geheimniß Niemand mitzutheilen, da nach Slobodas Auswanderung und bei der Geistesverwirrung Nathanaels eine Aufdeckung des Frevels nutzlos sein müsse. Statt dessen übergab er mir die schriftlichen Documente über die Geburt des Knaben und beschwor mich, dieselben an einem Orte auf dem Zeiselhofe zu verbergen, wo sie unversehrt und unentdeckt sehr lange Zeit erhalten werden konnten. Auch jene Rolle, die ich am Vorabend des Haidebrandes Eurer Tochter durchaus aufdringen wollte, befand sich mit bei diesen Papieren. Ephraim drang heftig auf Vernichtung derselben. Ich versprach auch dies dem Sterbenden, und war in der That entschlossen, mein Versprechen zu halten, hätte ich nicht später, trotz alles Suchens, die geheimnißvolle Rolle vermißt. Ich mußte sie verloren haben, in irgend einem der weitläufigen Wirthschaftsgebäude des Zeiselhofes, was das spätere Auffinden derselben von Dir, Heinrich, erklärlich macht. Die Hand des Allmächtigen, die sie auf diese Weise dem Untergange entzog, ist auch in[] diesem scheinbaren Zufalle ersichtlich, denn ohne jenes Verschwinden würde es gegenwärtig keine Schenkungsurkunde mehr geben.«
Hier ließ Leberecht in seinen Mittheilungen eine Pause eintreten. Fragend glitten seine betrübten Augen über die kaum athmenden Zuhörer.
»Endige,« sagte der Maulwurffänger.
»Ich bin zu Ende,« erwiederte Leberecht. »Der Voigt starb noch in derselben Stunde, und ich habe mein ihm gegebenes Versprechen gehalten bis auf den heutigen Tag. Ohne Dein dringendes Zureden, Heinrich, würde es mit mir ins Grab gestiegen sein.«
Sloboda starrte, in tiefe Gedanken versunken, vor sich hin. Paul und Eduard wagten nicht zu sprechen, da das vielverflochtene Gewirr längst begangener Verbrechen sie mit magischer Gewalt umstrickte.
Von Heinrich sanft angestoßen, ermunterte sich der Wende.
»Hast Du vernommen, Jan?« rief er dem Greise zu. »Und siehst Du jetzt ein, daß ich genügenden Grund hatte, Dich aus der Vergessenheit der polnischen Wildnisse zurückzurufen? Nicht umsonst hat uns Gott so lange das Leben gefristet. [] Er will, daß wir, obschon spät, verjährte Frevel ans Licht ziehen und auf gerechtem Wege Vergeltung üben sollen an den Missethätern.«
»Armer unglücklicher Nathanael!« rief Sloboda, ein paar Thränen in seinen hellblauen Augen zerdrückend. »Der Himmel meinte es gut mit Dir, als er ewige Finsterniß in Deine Seele goß. Ruhe in Frieden und träume den Traum des Gerechten!«
»Freund Leberecht,« nahm jetzt der Maulwurffänger das Wort, »ich und diese guten braven Leute sind Dir absonderlich zu Dank verpflichtet für die gegebenen Ausschlüsse, zufriedengestellt bin ich aber noch immer nicht. Du wirst also aus purer Freundschaft noch einige Punkte erläutern und uns jetzt zuvörderst den Namen sagen, welchen der verstoßene Sohn des wüsten Grafen führt und wo er sich aufhält.«
»Ich weiß in der That nicht, ob ich dazu befugt bin,« erwiederte Leberecht.
»Für alle Folgen stehe ich ein.«
»Und wenn der in tiefster Niedrigkeit Erzogene seinen Ursprung erfährt, wird er nicht schäumen vor gerechter Wuth und nach Rache schreien?«
[] »Er wird Gerechtigkeit wollen, und nach Gerechtigkeit streben wir. – Wir bitten Dich um den Namen des Grafensohnes.«
»Du kennst ihn schon.«
»Ich?«
»Du selbst. Seit Jahren sprachst Du bisweilen unbewußt mit ihm. Es ist der Feinspinner Martell in Adrians Fabrik auf Boberstein.«
»Martell, mein Gevatter?« fiel Eduard ein. »Martell, der unlängst vor Schmerz über die Verstümmelung seines jüngsten Sohnes beinahe den Verstand verloren hat und seitdem in stillem Ingrimm sich verzehrt? Martell, der mir das Garn liefert für meinen Webstuhl?«
»Derselbe Martell!«
»Wie ist das?« sagte Sloboda zerstreut. »Versteh' ich Euch recht, Leberecht? Der Sohn meiner erschlagenen Schwiegertochter ist ein Sprößling des Grafen Magnus und dient jetzt als Spinner in der Fabrik seines – seines Bruders?«
»Seines Bruders, des Grafen Adrian,« ergänzte kaltblütig der Maulwurffänger.
»Aber himmlischer Gott, das ist ja entsetzlich, unnatürlich!« rief Sloboda.
[] »Es ist die bittre Frucht einer gottlosen Versündigung,« sagte Heinrich.
»Die Kinder, die armen, unschuldigen Kinder des verstoßenen Sohnes, jetzt die bettelnden, verachteten Sclaven des reichen herzlosen Oheims! – Wo soll das enden!«
»Vor den Schranken des Gerichts,« sprach der Maulwurffänger.
»Ihr seid erschüttert, alter Vater,« fiel Leberecht wieder ein. »Das stand zu erwarten. Nach Allem, was vorausgegangen, wünschte es wohl gar unser gemeinsamer Freund. Beruhigt Euch indeß wieder, damit wir, einmal auf so guter Fährte, jetzt auch rasch dem Feinde zu Leibe gehen und ihn sieghaft angreifen können. Ich bin der Eure mit Leib und Seele, denn ich hasse den selbstsüchtigen Grafen vom Grund des Herzens, weil er vielleicht mit mehr Bewußtsein und süßerem Behagen noch als sein Vater uns arme Feigelassenen wieder zu elenden Sclaven macht, die blindlings, willenlos seinem Wink gehorchen müssen, wenn sie nicht in namenloses Elend versinken sollen!«
Heinrich reichte dem neuen Bundesgenossen die Hand und schüttelte sie.
[] »Du bist hiermit angeworben,« sagte er lächelnd, »und wollt Ihr noch einmal einem alten Schlaukopf Gehör schenken, so möchte ich Euch sogleich einen rasch entworfenen Plan mittheilen, der Herrn Adrian am Stein in die Enge treiben kann. – Nach meiner Meinung müssen wir den Feind von vorn und im Rücken zugleich angreifen, daß ihm zur Flucht oder Gegenwehr gar nicht viel Zeit übrig bleibt. Es geschieht ihm noch Ehre genug, wenn er sich auf Gnade oder Ungnade ergeben muß. Theilen wir uns demnach in die Rollen und handeln wir besonnen und ohne Verzug. – Ich und Leberecht, wir wandern morgenden Tages nach dem Zeiselhofe, um die Dokumente aufzusuchen, die noch unangetastet dort zu finden sein müssen. Mit diesen und der bewußten Schenkungsurkunde treten wir mit offner Klage gegen die Gebrüder Boberstein auf und der Prozeß nimmt seinen Gang. Während dies in der Stille von uns eingeleitet wird, geht Paul mit Eduard in die Haide, besucht Martell und theilt ihm mit, welche Gerüchte von dem hartherzigen Gebieter im Volke umgehen. Martell kann Alles von Euch erfahren, nur nicht, daß er selbst jener verstoßene Sohn des Grafen [] Magnus ist. Bei seiner ungestümen Wildheit könnte eine solche Nachricht zu entsetzlichen Auftritten führen. Diese müssen wir um unsrer selbstwillen vermeiden. Ist es Euch gelungen, überall unter dem arbeitenden Volke diese Gerüchte möglichst in Umlauf zu setzen, so kehrt Ihr zurück in meine Heimath, wo wir uns treffen und das Nächste dann weiter besprechen wollen.«
Schweigend reichten die Freunde einander die Hände und legten dadurch das Gelöbniß ab, sich in Verfolgung ihrer Zwecke mit Rath und That ohne Wanken beizustehen.
Zu ungewöhnlich später Stunde verließ Leberecht mit seinem Sohne den Kretscham und ging durch das längst in tiefem Schlaf versunkene Dorf nach seinem kleinen, verschuldeten Häuschen zurück.
[] Zweites Kapitel.
Martell, der Spinner.
Am dritten Tage nach dieser Unterredung erreichten spät Abends Paul und Eduard ein kleines Haidedorf, das kaum eine Stunde von der ehemaligen Burg Boberstein entfernt war. Sie beschlossen die Nacht hier zuzubringen und am nächsten Morgen sehr früh nach dem Dorf am See aufzubrechen. Damit ihr Kommen möglichst absichtslos erscheinen möge, hatte Eduard seinen Garnsack mitgenommen, um ihn von Neuem zu füllen.
Der Morgen war hell und kalt. Starker Reif lag weißglänzend auf Feld und Wald. Die langsam rieselnden Bäche setzten Eis an und über der rauschenden Haide lagerte in weiter Ausdehnung eine breite und hohe Schicht blaugrauen [] Dunstes. Ueber dieser schimmerte blauer Himmel und an diesem empor flatterten hart neben einander zwei dunkele sich ewig bewegende Rauchsäulen. Sie verkündeten die ununterbrochene Thätigkeit der Fabrik.
Umschlossen von neuem Baumwuchs und von kleinen mit Dornen eingehegten Feldern, auf denen jetzt das Kartoffelkraut braun, welk und vom Nachtfrost erstarrt sich zur bereiften Erde herabbeugte, lag das zu Boberstein gehörige Dorf. Hier wohnten blos Fabrikarbeiter mit ihren meist zahlreichen Familien. Der Ort war gassenartig gebaut und schmiegte sich halbkreisförmig um die Ufer des Sees. Alle Häuser in dem Dorfe waren klein, niedrig und von armseligem Aussehen. Ordnung und Reinlichkeit vermißte man vor den Thüren und auf den Gassen. Die Zäune, welche jedes Haus umzirkte, waren schlecht gehalten, selbst die wenigen kleinen Gärtchen, die sich hin und wieder zeigten, ließen die pflanzende Hand eines Gärtners schmerzlich vermissen.
In diesem Wohnort der Fabrikarbeiter, der das traurige Bild einer völlig verarmten Gemeinde, einer Bevölkerung, wenn nicht von Bettlern, [] doch gewiß von Menschen darbot, die kümmerlich nur von einem Tage zum andern ihr sorgenschweres Leben hinfristen, traten mit Aufgang der Sonne unsere beiden jungen Freunde. Der gelbe beizende Rauch, der aus den Hütten aufstieg, wirbelte in dicken Wolken über die Strohdächer, und wälzte sich, nidergedrückt von der kalten Morgenluft, an der Erde fort. An dem eigenthümlichen Geruch desselben war das Feuerungsmaterial – halbtrockenes Kartoffelkraut – nicht zu verkennen. Obgleich mitten im Walde wohnend, konnten die Spinner doch kein Holz kaufen, weil ihr Verdienst zu solchen ungewöhnlichen Ausgaben nicht hinreichte. Nur die sogenannte Streu, der Abfall von Tannicht, das verdorrte Waldkraut und abgestorbenes Gestrüpp, das alte Mütterchen und Greise oder kleine Kinder zusammenlasen, diente den Meisten zur Feuerung.
Auf der Fabrik läutete eben die Glocke zum Arbeitswechsel und die beiden Wanderer erblickten durch den über dem See schwimmenden Nebel die Fähren und Kähne, welche die ab- und antretenden Arbeiter herüber und hinüber beförderten. Fast zugleich mit ihnen landeten die abgelösten [] Spinner und zerstreuten sich nach verschiedenen Richtungen in ihre Häuser.
Eduard, schon bekannt mit dem Leben und Treiben, achtete wenig darauf, Paul dagegen war ganz Auge und verschlang See, Fabrik und sonstige Umgebung mit gierigen Blicken. Er sprach kein Wort, allein das tiefe Athemholen und das hastige Umsichblicken verrieth seine heftige Aufregung. Der Geist seiner verstorbenen Mutter, die hier so viel gelitten hatte, umschwebte ihn.
»Dort ist unser Quartier für heute,« sagte Eduard, mit seinem Wanderstecken auf ein niedriges Häuschen zeigend, das gleich den übrigen mit Stroh gedeckt und von einem schadhaften Zaune eingehegt war. »Dort wohnt der arme Martell mit seiner Familie.«
»Martell, der rechtmäßige Mitbesitzer dieser Wälder mit ihren zahlreichen Dörfern und Höfen, in solche Hütte verbannt!« versetzte Paul. »Das ist mehr als hart, das ist grausam, das ist teuflisch!«
»Bedenke, daß wir die ersten Schritte thun, um diese Härte eines ungerechten Verhängnisses in Milde zu verwandeln.«
Eduard legte seine Hand auf die hölzerne [] Thürklinke. Sie gab nach und Beide traten in einen mit Rauch erfüllten Vorraum, dessen Fußboden aus brüchigem, schlüpfrigem Estrich bestand. Die Stubenthür, nur in einer Angel noch hängend, stand halb offen und ließ dem beizenden Rauch freien Eingang.
Da es nicht Sitte ist unter armen Leuten, vor dem Eintritt ins Zimmer anzuklopfen, so stieß Eduard unangemeldet die Thür auf und trat mit seinem Begleiter ein.
»Guten Morgen Alle mit einander!« sprach er, die versammelte Familie des Spinners grüßend. »Ein frischer Morgen heut; ich besorge, es wird bald einwintern. Doch Alles gesund und frisch auf, Martell? Gesundheit ist das halbe Leben für arme Leute.«
Eine einzige mürrische Stimme antwortete auf diese Begrüßung und hieß die frühen Gäste willkommen. Diese Stimme gehörte dem Familienvater an, der eben von der nächtlichen Arbeit aus der Fabrik zurückgekehrt war und mit den Seinigen das Frühstück verzehrte.
Die Familie bestand aus sechs Köpfen, aus Mann und Frau, drei Kindern und einem alten Großvater, der beim Schwiegersohn wohnte, sich [] aber selbst ernähren mußte. Die älteste Tochter, ein Mädchen von funfzehn Jahren, war so eben zur Arbeit in die Fabrik gegangen und hatte den ermüdeten heimkehrenden Vater nur im Vorüberstreifen einen Gruß zurufen können. Es kam vor, daß sich Vater und Tochter nur Sonntags die Hand reichen, einander ins Auge blicken und sich sprechen konnten, wenn sie gemeinschaftlich zur Kirche gingen, um im Gebet auf wenige Minuten das ihnen zugefallene schwere Erdenloos zu vergessen. Die sieben langen Tage der Woche begegneten sich Vater und Tochter nur auf der schaukelnden Barke. Sie waren schon glücklich, wenn die Nachen sich streiften, wenn sie im Fluge einander sehen und sich zuwinken konnten.
Das Frühstück dieser armen Spinnerfamilie bestand wie das aller ihrer Mitbrüder aus Kartoffeln mit der Schale, die trocken, mit wenig Salz gegessen oder in Cichorienkaffee gebrockt wurden. Diese Kost wiederholte sich früh, Mittags und Abends alle Tage im Jahre, mit Ausschluß der hohen Festtage, wo an die Stelle der Kartoffeln wenigstens Waizenklöse und in sehr glücklichem Falle ein Stückchen Schweinefleisch [] trat. Erschöpfte sich der Kartoffelvorrath vor der Zeit, so mußte der Familienvater für Anschaffung von Roggenmehl Sorge tragen. Da aber dieses zu theuer war, so begnügte man sich gern mit einem Gemisch aus Kleie, Roggen und wohl auch Baumrinde. Noth kennt kein Gebot und der Arme hilft sich, wie er kann und muß.
Martell, ein breitschultriger, starker Mann über Mittelgröße mit schwarzem lockigem Haar, das ihm in malerischer Wildheit um die hohe bleiche Stirn hing, lud die frühen Ankömmlinge gastfreundlich ein, das karge Mahl mit ihm und den Seinigen zu theilen, was jedoch Eduard und Paul ausschlugen, da sie bereits vor ihrem Aufbruche gefrühstückt hatten. Wer den Grafen Magnus genau gekannt hatte, mußte unwillkürlich beim Anblick des armen Spinners an ihn denken. Martell war durchaus sein Ebenbild, aber ein Ebenbild, vor dem man erschrecken konnte, denn in dem von Kummer, Sorge, Elend und Hunger abgemagerten Gesicht lag ein Stolz der Verachtung, der mit Entsetzen erfüllte; dies dunkle brennende Auge, von der nächtlichen Arbeit entzündet, sprühte Haß, Haß Allen denen, die im Glück geboren, achtlos dem Darbenden [] vorübergingen. In jeder Miene sprach sich ein trotziger Ingrimm aus, der nur der Gelegenheit harrte, um sich Luft zu machen und auszutoben.
Martell hatte Ursache mit Gott und Menschen zu grollen. Werfen wir einen Blick auf seinen Haushalt, auf seine Lage.
Er war zweiundvierzig Jahr alt, seit achtzehn Jahren verheirathet und seit der Errichtung der Fabrik in Adrians Diensten. Das Häuschen, in dem er mit den Seinigen lebte, hatte er kaufweise von seinem noch lebenden Schwiegervater mit allen darauf lastenden Schulden übernommen. Seine Frau webte, ihr alter Vater fristete sich durch Handgespinnst. Die Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, arbeiteten gleich dem Vater in Adrians Fabrik.
Vor drei Wochen war dem zehnjährigen Sohne, Martells jüngstem Kinde, der linke Fuß von der Maschine halb abgerissen worden. Das arme verstümmelte Kind litt die entsetzlichsten Schmerzen. Die Wunde hatte sich, aus Mangel an nöthiger Pflege und passender Kost sehr verschlimmert. Man fürchtete, daß der Brand dazuschlagen und eine Ablösung des Beines nöthig machen werde. Auch litt der verunglückte [] Knabe seit jenem Unfall an einem Lungenübel. Nothgedrungen hatten nun zwar die Aeltern ärztliche Hilfe gesucht, weil aber der Arzt über eine Stunde entfernt war und die Umstände der armen Leute auf keine Vergütung seiner Mühwaltung schließen ließen, trat er nur selten in die elende Hütte, um sich persönlich von dem Befinden seines Patienten zu überzeugen.
Dies Alles bemerkte Martell sehr wohl, da er, obwohl ohne besondere Schulbildung, doch aufgeweckten Geistes und außerdem noch mit dem Scharfblick des Mißtrauens begabt war. Er schäumte vor Wuth, als er die sichtliche Vernächlässigung seines Kindes sah und sein Zorn ward um so anhaltender, weil er Nichts sagen durfte, weil er aus Liebe zu seinem Knaben schweigen mußte.
Gerade um diese Zeit hatte Adrian den Anfang gemacht, die Arbeitszeit zu verlängern und die ersten Lohnverkürzungen anzuordnen, obwohl schon Jahrelang das Verdienst eben nur zum mäßigen Auskommen hinreichte.
Lore, die Frau des Fabrikarbeiters war hektisch. Das ewige Sitzen hinter dem Webstuhle, Kummer und schlechte Kost mochten ein Uebel [] vergrößert haben, wozu sie die Anlage mit auf die Welt brachte. Das arme Weib gehörte jedoch zu den genügsamen, unter jede Gewalt demüthig und ergeben sich beugenden Geschöpfen, die nie murren, die Alles für eine Schickung Gottes halten und mit diesem beneidenswerthen Glauben, ohne Schiffbruch an Leib und Seele zu leiden, durch das klippenreiche Meer des Lebens schiffen. Als Martell längst schon an seiner verhaltenen Wuth fast erstickte, hatte Lore kaum noch einen Seufzer ausgestoßen. Sie pflegte mit der mütterlichsten Liebe und Ausdauer den verstümmelten Knaben, der in Lumpen und wärmende Pelzstücke gehüllt, wimmernd hinter dem Ofen lag, und darbte sich die Zeit, welche sie damit an der Arbeit versäumte, vom Schlafe ab, um ja nicht etwa einen Tag später, als es bedungen, die Webe dem Brodherrn abzuliefern.
Als Muster in so beispielloser Ergebung und gläubigem Hoffen ging dem treuen Weibe ihr Vater voran. Traugott war ein Siebziger, hatte nie die Fülle irdischen Glücks kennen gelernt, hatte kaum Tage gehabt, in die ein hellerer Sonnenstrahl des göttlichen Segens fiel, und war dennoch nie von zweifelnden Gedanken heimgesucht [] worden. Er gehörte zu den in unsern Tagen immer seltener werdenden Menschen, die sich mit eiserner Kraft an das Wort klammern, wie es ihnen in frühester Jugend von gutmüthigen und gedankenarmen Lehrern eingeprägt wird. Dies Wort besitzt die wunderbare Kraft für Alle, welche daran glauben, daß es sie über jegliches Fährniß leicht hinweg geleitet und sie mit unerklärbarer Geistesheiterkeit begabt bis an den Rand des Grabes führt.
Traugott war noch zur Stunde ein solcher beneidenswerther Greis, der in seiner Armuth lächeln, beten und Gott danken konnte, und der nie eine Secunde lang über das glücklichere Loos Anderer nur den leisesten Reiz zum Neide empfunden hatte. Was hätte er auch die Reichen, die Besitzenden beneiden sollen? Was er beurfte, das hatte ihm im strengsten Sinne des Worts noch niemals gemangelt. Eine Rinde Brot, ein paar aufspringende Kartoffeln, eine Tasse dünnen Kaffees, mit so Wenigem war sein nicht leckerer Gaumen vollkommen zufrieden gestellt. Und außerdem hatte ihm der gütige Gott ein Kleidungsstück am Tage, ein Lager des Nachts bescheert. Dafür war er dankbar, wenn er bedachte, [] daß ja auch ihm, wie so vielen Andern, das weit traurigere Loos hätte zufallen können, vor den Hausthüren bettelnd und singend sein Brod suchen zu müssen.
Nachdem wir so die Silhouetten der drei Hauptpersonen in dieser Familie entworfen haben, kehren wir zu unserer Erzählung zurück. –
Auf Martells Gruß und Einladung zum Frühstück schob Eduard Garnsack und Stock unter die Bank, welche die Holzwand umgab, und setzte sich dem Freunde gegenüber. Paul nahm neben ihm Platz und ließ seine großen glänzenden in Form und Farbe Haideröschen so überaus ähnlichen Augen mit einer gewissen Aengstlichkeit durch das Zimmer laufen. Martell, von der nächtlichen Arbeit ermüdet und sichtlich aufgebracht, schlug sein Messer zu und legte die letzte, schon halb geschälte Kartoffel wieder in die Schüssel.
»Verzeih mir's Gott,« sagte er zu Lore, seiner Frau, »ist mir's doch, als hätte ich Kieselsteine und Schwefel verschluckt. Der Aerger bringt mich um. Wahrlich, lange halte ich solch Leben nicht mehr aus!«
Lore schwieg, nur ein langer Blick aus ihrem [] weichen, milden Auge traf den zürnenden Gatten. Doch legte auch sie das Messer weg, fragte den Vater, ob er gesättigt sei und trug, da dieser bejahend nickte, den Rest der Mahlzeit in den Vorraum, um sie im Brodschrank für Mittag oder Abend aufzubewahren.
»Ich habe von dem Unglücke gehört, das Dich betroffen hat,« sprach Eduard; »Du bist von Herzen zu beklagen, aber trag's mit Geduld, wie's einem Christen ziemt.«
»Würden wir armen Arbeiter nur erst wie Christen behandelt, an meiner Geduld sollt's nicht fehlen. So aber sind wir Hunde, die kurz geschlossen an ihrer Kette liegen, und die nicht 'mal heulen, viel weniger um sich beißen sollen, wenn ihnen verfaulte Knochen als Kost vorgesetzt werden! Ist das Gerechtigkeit? frag' ich.«
Martell hatte sich vor Eduard gestellt, und maß jetzt, die nervigen Arme über einandergeschlagen, um die ein zerfetztes, vom Oeldunst der Maschine beschmutztes, Hemd flatterte, bald diesen, bald Paul mit seinen flammenden Blicken.
»Ist der Bursche ein Verwandter?« setzte er gleichgiltig fragend hinzu, den Enkel Slobodas schärfer anblickend.
[] »Von mir und Dir,« versetzte Eduard.
»Von uns? – Seit wann bin ich mit Dir Freundschaft?«
»Er besitzt nichts.«
»Ha, ha, ha, ha!« lachte Martell wild auf und schüttelte sich, daß seine lockigen Haare wie eine schwarze Mähne um die blassen eingefallenen Wangen flogen. »O, Du hast Recht! Die Freundschaft ist groß, groß wie die Welt, wäre sie nur auch so mächtig, so treu, wie Gold! Grüß Dich Gott, armer Junge!« Und Martell drückte seinem Verwandten die Hand, daß sie ihm schmerzte.
»Woran liegt es, daß die Armen so unmächtig sind?« entgegnete Eduard. »An uns selbst, an uns ganz allein!«
Martell sah ihn düster an, dann senkte er den Blick und schüttelte traurig das Haupt.
»Nein, o nein,« erwiederte er, »das liegt nicht an uns Armen. Wir vermögen nichts, weil wir nichts haben. Das Geld ist das Mark des Lebens, der Hebel zur That! Wo dieses fehlt, da gibt es nicht Kraft, nicht Ausdauer, nicht Zusammenhalten! – O ich weiß es, ich kenne diese entsetzliche Schwäche, an der Millionen [] hinsiechen und die, Gott mag es wissen, vielleicht in wenigen Jahrzehnten die ganze Menschheit einigen Tausenden zinnsbar macht, die durch Glück und Schlechtigkeit diesen allmächtigen Gott der Welt in ihre Hände gebracht haben.«
»Dahin soll es nicht kommen. Wir wollen es verhindern! Ich und Paul, – so heißt unser junger Freund und Bruder, – haben schon viel darüber nachgedacht und willst Du uns hören, so theilen wir Dir gern unsere Ansichten mit. Dies ist eigentlich der Zweck unseres heutigen Kommens.«
»Ihr thut ja äußerst geheimnißvoll? Hat Euer Herr 'was Ungebührliches gethan?«
»Bedarf es dessen, um das Unrecht einzusehen?«
Martell zuckte die Achseln. »Hm,« sagte er, »manchmal hilft es einem doch schneller die Augen öffnen. Ich habe das erfahren bei unserm duftenden Tyrannen da drüben und bin ebenfalls erbötig, Euch Mittheilungen zu machen, über die Ihr erstaunen sollt.«
»Um so besser, so berühren sich vielleicht unsere Pläne,« sagte Paul, der erst jetzt, als [] Martell ruhiger geworden war, ein Wort mit drein zu reden wagte.
Lore hatte inzwischen den Tisch abgeräumt, dem Kranken hinter dem Ofen einige sanfte Trostesworte zugeflüstert und sich wieder an den Webstuhl gesetzt. Auch Traugott, der die Unzufriedenheit seines Schwiegersohnes weder theilte noch billigte, begann sein Spinnrad emsig zu drehen und mischte sich nicht in das Gespräch.
Martell ergriff einen Schemel, setzte sich so darauf, daß er seine Arme auf die Lehne übereinanderschlagen und das Kinn darauf stützen konnte, und knüpfte die Unterhaltung wieder an.
»Da hat vor drei Wochen die verfluchte Maschine meinem Hans beim Auflesen der Wollflocken den linken Fuß abgequetscht, ich sage Euch, so glatt abgequetscht, als hätte einer Lineal und Winkelmaß darauf gelegt! Der Fuß ist fort, mein armer Junge ein Krüppel! Nun das kann vorkommen, das ist ein Unglück, wie es jede Beschäftigung mit sich bringt! Der Junge hätte nicht Wollleser unter der Maschine werden sollen, wollte er gesunde Glieder behalten! – Nicht wahr, ich räsonnire ziemlich vernünftig und nehme durchaus keine Partei? – Ungefähr dasselbe [] sagte ich mir schon am ersten Tage, wo das Unglück geschah. Ich leg' es Niemand zur Last, als dem Zufall, und da ich dem nicht an die Kehle kann, so fasse ich mich, so gut es gehen mag, fresse Kummer und Verdruß hinunter und erspare mir damit manch theures Stück Brod. – Ha, ha, ha, Ihr seht, daß Unglücksfälle, wenn sie auch Hals und Beine kosten, doch die Sparsamkeit befördern helfen! – Also ich beklage mich gar nicht, ich nehme blos meinen zerquetschten Knaben auf diese meine Arme, schließe mit zitternden Lippen seinen schreienden Mund und trage ihn nach Hause, um ihn hier, hier in dieser elenden, dunstigen Hütte seiner schluchzenden Mutter in den Schoos zu legen und einen Blick des Jammers mit ihr auszutauschen. – Das that ich, wie es, denk' ich, meine Pflicht war, ich that's mit brechendem Herzen. Eh' ich den Wundarzt herbeischaffte und für meine paar Groschen Arzenei, Salben und Kräuter kaufte, vergingen freilich ein paar Stunden, die ich bei der Arbeit versäumte. Endlich, todmüde, gehe ich wieder in die Fabrik, wo inzwischen meine Nachbarn, gute gefällige Menschen, meine Stelle so versehen hatten, daß der Maschine und dem Gespinnst [] kein Nachtheil erwachsen konnte. Dennoch, könnt Ihr's glauben, ließ mich der Herr am Stein hart an, zog mir den halben Arbeitstag am Lohne ab, strich den kleinen Verdienst des armen Jungen ganz und drohte, mich zu entlassen! – Aber Herr, mein Kind, sag' ich, mein Bube, mein Herzblatt ist zum Krüppel gequetscht worden – Gott weiß, ob er je wieder genest, und ob ich die Kosten seiner Heilung werde bestreiten können! Sein Sie billig und barmherzig, Herr!«
»Billig!« fuhr er mich an. »Was nennt Ihr billig? Wenn ich mich ruinire eines verkrüppelten Kindes wegen? Gott hättet Ihr bitten sollen, er möge den Fresser je eher, je lieber sterben lassen, so hättet Ihr seinetwegen keine Sorge mehr! Die Maschine verbessert zuweilen, was die Menschen schlecht machen in ihrem Unverstande! Es war ein Wink vom Himmel, warum achtetet Ihr nicht darauf? Und genug, ungethane Arbeit kann ich nicht bezahlen.«
»Das hat Herr am Stein gesagt und er lebt noch?« sprach Eduard, während Paul vor Entsetzen die Hände faltete.
»O, er lebt vortrefflich, der kluge Herr!« [] versetzte unter krampfhaftem Lachen der Fabrikarbeiter. »Der Armen Schweiß verwandelt sich in den Truhen der Reichen in Gold. – Mein Gott, was blieb mir übrig! Freilich krampfte es mich in den Händen, die Finger bogen sich von selbst zusammen wie Krallen, und gern, gern hätte ich dem Ungeheuer die schamlose Kehle damit zugeschnürt. Aber mein Weib, meine Kinder! – Ich mußte mich beherrschen und mein vergiftetes Herz zwingen, still, sanft, demüthig, ergeben zu bleiben! – So bat ich also den gnädigen Herrn, Gnade vor Recht ergehen zu lassen und mich zu behalten.«
»Weil Ihr Euer Unrecht einseht,« versetzte der Gnädige, »will ich einmal gegen meine Grundsätze handeln. Ihr mögt bleiben, doch nur unter der Bedingung, daß Ihr Euch mit Hätscheln des kleinen Bengels, der aus Unvorsichtigkeit in die Kämme gefallen ist, nicht die Zeit versäumt! Verstanden, Martell?«
»Verstanden, gnädiger Herr.«
»Dann geht an Eure Arbeit. Acht Tage lang will ich die Kurkosten für den einfältigen Jungen hezahlen. Ich werde dem Chirurgen einschärfen, daß er sich dazu halten soll, damit [] der Fuß in dieser Zeit heilt. Spricht man nicht ernstlich mit diesen gelehrten Herren, so sind sie im Stande an einem Beinbruche monatelang herum zu kuriren.«
»Die Fabrik hat ihren eignen Chirurgen,« erzählte Martell weiter, »da Verwundungen, Bein- und Armbrüche häufig vorkommen. Wir zählen deren in manchem Jahre an funfzig. – Ob nun der Chirurg Befehle vom Herrn erhalten und dieselben befolgt hat oder nicht, ist mir zur Stunde noch unklar; daß aber mein armer Hans nach Ablauf der verstatteten acht Tage eine zugeheilte Wunde besaß, die wenige Tage später sich heftig entzündete und wieder aufbrach und seitdem den ganzen kleinen Körper in Fieberhitze versetzt hat, das weiß ich. Jetzt besucht der Chirurg mein Kind kaum zweimal in der Woche, pflastert und bindet an dem jammernden Krüppel herum, als wolle er ihm die Seele einwickeln, und schweigt auf alle meine bekümmerten Fragen. Für die Gänge muß ich ihn bezahlen und habe doch nicht satt zu leben.«
»Du hättest in früheren Jahren den Verdienst mehr zusammenhalten sollen, mein Sohn,« warf hier Traugott warnend ein. »Da warst [] Du noch unverdrossen, Dir und der Lore ging es von Händen und die Kinder kosteten noch nichts, als das liebe Stückchen Brod.«
»Zusammenhalten!« rief Martell unwirsch. »Ich bitt' Euch, Vater, werft mir die paar Groschen nicht vor, die ich an Sonn- und Festtagen auf einem Spaziergange für mich, mein Weib und Euch ausgab! Es waren, weiß Gott, die einzigen vergnügten Stunden, deren ich mich erinnern kann! Kein halbes Jahr Schulgeld könnte ich davon bezahlen.«
»Freilich, freilich!« entgegnete wieder begütigend der greise Spinner. »Aber die Zeiten sind schwer, Martell, und wir sollen uns doch einmal in die Zeit schicken. Das verlangt ja ausdrücklich die heilige Schrift!«
»Es ist eine Lüge, sag' ich,« fuhr Martell auf. »Die Zeiten sind nicht schwer, man macht sie mit Absicht schwer, um recht viel zu gewinnen. Das ist's, was mich empört und was mich rasend, ja zum wüthenden Thiere machen könnte, sähe ich nur Rettung in Wuth und Tobsucht. Habt Ihr denn schon vergessen, Vater, was vor zehn Tagen geschehen ist?«
»Was geschah da?« fragte Paul neugierig. [] »Bin ich doch kaum viel länger in diese Gegend gekommen.«
»Eine Spitzbüberei ohne Gleichen,« versetzte Martell. »Auf Grund absichtlich ausgestreuter Gerüchte von schlechtem Absatz baumwollener Waaren, wozu vorgeblich die englische Concurenz und die beliebteren englischen Fabrikate beigetragen haben sollten, setzt Herr am Stein den Arbeitslohn in allen Branchen herab. Wir hatten schon vorher nicht satt zu essen, jetzt ist vollends gar nicht mehr daran zu denken. Darauf aber speculirt der reiche Mann. Er weiß genau, daß er uns, die wir ihm alle verschuldet sind, mit Haut und Haar besitzt, daß uns entlassen, uns und unsere Kinder für immer ruiniren heißt. Kein Stecken blieb uns übrig, nackt und bloß müßten wir in die Wälder laufen, und von Wurzeln und Baumsamen leben! – So sind wir denn gezwungen zu arbeiten, sind gezwungen, die Geißel zu küssen, die uns wund schlägt, und unter den qualvollsten Seelenschmerzen dankbar zu lächeln. Herr am Stein wird aber inzwischen ein Millionär, denn der Ueberschuß an Geld, den ihm der verminderte Lohn abwirft, mehrt sich zu einem bedeutenden Kapital, das er [] mit großem Gewinn zur Erweiterung seiner Fabrik anlegen kann.«
Paul erinnerte sich von dem Maulwurffänger ähnliche Aeußerungen nach seiner Rückkehr von Boberstein gehört zu haben und erhielt durch die Auseinandersetzung des eingeweihten Fabrikarbeiters tiefere Einsicht in die geheimnißvolle, sicher angelegte und so furchtbare Intrigue der Reichen gegen die Armen, die für sie arbeiten. Sein unverdorbenes, kindlich reines Herz empörte sich und zum ersten Male in seinem Leben sagte er mit aufflammendem Feuerblick:
»Ihr müßt Euch wehren, wehren wie hungrige Wölfe!«
»Das Gefäß ist gefüllt bis an den Rand,« sagte Eduard, »wenige Tropfen werden es überfließen machen und dann wird kein noch so künstlich angelegter Damm eine Ueberschwemmung zerstörendster Art verhindern können!«
»Mein Kopf glüht, mein Gehirn siedet und das Herz steht mir still, wenn ich an die Zukunft denke,« fuhr Martell fort. »Wohin ich blicke, nichts als Mangel, nichts als Vermehrung der Armuth! – Arbeiten, Darben, Hungern, nichts will diesen fürchterlichen Zustand [] aufheben! – Wir sind immer im Vorschuß, wir leben immer von der Zukunft und verlieren so allen Boden unter unsern Füßen! Das ist entsetzlich, wenn es einzelne Familien trifft, es ist aber der Anfang einer Weltempörung, wenn Millionen von diesem Gespenst Tag und Nacht geängstigt werden! Als Junge las ich 'mal in einem Fabelbuche. Darin fand ich eine Geschichte von einem Manne, den man an einen Felsen geschlossen hatte, und der nun so wehrlos zusehen und es dulden mußte, wie ein gefräßiger Geier mit scharfem Schnabel ihm die Leber langsam aushackte! Ich fühlte damals den Schmerz des Unglücklichen in der Einbildung und konnte das Bild nicht mehr aus meinem geängsteten Gemüth verjagen. Nun, ich schwöre es Euch bei alle Qualen und Schrecknissen der Hölle zu, wir armen gefesselten Arbeiter, welchen Namen wir auch führen mögen, wir sind gegenwärtig jener an den Felsen geschmiedete, von tausend Geiern zerfleischte Mann! Und wir dürfen nicht seufzen nicht klagen, nein, nein, wir müssen lächeln, müssen den Geiern Schnabel und Fänge küssen und streicheln! – Wäre es ein Wunder, wenn die Menschheit in Masse sich selbst ermordete [] oder als wahnsinnig gewordene Rächerhorde wuthentbrannt die Welt zerstörte, die so unaussprechliche Leiden und Lasten auf sie häuft?«
»Damit dies nicht erfolge, müssen wir uns berathen, vereinigen und in Einem Sinne handeln,« sagte Eduard.
»Es handelt sich gut in Einem Sinne, wenn es an allen Sinnen gebricht!« erwiederte Martell verächtlich. »Man hat nicht Muth, wenn man keine Zeit hat, keinen Erfolg voraus sieht. Durch den Druck sind wir so klein und kleinlich geworden, daß uns der Gedanke an jegliches Große, Gemeinsame gar nicht mehr beschleicht! – Und wie ist es anders möglich! Um die Krume Brod verlegen, die ich heut Abend mit meinen Kindern theilen soll, matt, gebrochen von der Arbeit, die meine Kräfte verzehrt, wo soll mir die Lust herkommen, das allgemeine Leid zu überschauen und auf Mittel zu denken, diesem abzuhelfen? – Ich muß ja auf dem Nächsten, Kleinlichsten haften bleiben, auf dem elenden Kummer, der mich zur Stunde über wältigen will, weil dieser im Augenblick der quälendste ist, derjenige, um welchen sich meine fluchwürdige Existenz dreht. Dieser Augenblick [] dauert aber Monate, Jahre, ein Menschenleben! Dieser Augenblick, bei Millionen immerwährend vorhanden, ist eine Ewigkeit! Dieser Augenblick ist die Hölle und wir, wir sind die Verdammten!«
»Vergib ihm Vater, denn er lästert!« betete mit leisem Lispeln der spinnende Traugott.
»Vergib Ihnen nicht, denn sie wissen, was sie thun!« rief in furchtbarer Aufregung Martell, indem er beide nackte Arme gen Himmel streckte. »Wer ihnen vergibt, der lästert Gott, der schändet den heiligen Geist in des Menschen Brust!«
»Und ich sage Dir, Martell,« fiel Eduard ein, »es soll ihnen auch nicht vergeben werden! Ein Rächer, ein Retter wird aufstehen unter Euch und gegen die Unbarmherzigen furchtbares Zeugniß ablegen! – Wundere Dich immerhin, dennoch ist es so und es wird geschehen, was ich sage! Noch triumphiren die Unmenschlichen ihr Triumph wird ihr Grabgeläut sein; denn was sie besitzen, gehört ihnen nicht allein. Es ist unrechtmäßig zugeeignetes Gut, das man öffentlich von ihnen zurückfordern wird. Diese Herren am Stein haben Verwandte, haben Brüder, die lange verschollen waren, und die [] jetzt mit den gerechtesten Ansprüchen versehen, mit den giltigsten Zeugnissen plötzlich wieder aus ihrem Dunkel hervortreten und gegen sie klagen! – Hier, Martell, in diesem Jünglinge stelle ich Dir den ersten Kläger vor. Andere werden ihm bald folgen.«
Diese Eröffnung machte einen so gewaltigen Eindruck auf Martell, daß er mehrere Minuten die Sprache nicht wieder finden konnte. Selbst Lore, die fleißige Weberin, vergaß das Schifflein durch die Werfte zu schnellen und Traugott hielt sein Spinnrad an. Eine ganz neue, eine unerhörte Welt drängte sich in den eng begrenzten Horizont ihres Lebens.
»Die Herren am Stein hätten Verwandte, um die sie sich nicht kümmern sollten?« sagte Traugott. »Das wird vermuthlich ein Irrthum sein, weil der Brüder Boberstein drei am Leben und in der Welt zerstreut sind. Sie haben ja genug, um die Ihrigen anständig zu verköstigen.«
»Ihr Herr Vater, der verstorbene Graf Magnus war kein Joseph,« erwiederte Eduard. »Mein Vater weiß davon zu erzählen und gewiß [] habt Ihr von seinem heidnischen Sündenleben seiner Zeit auch reden hören.«
»Wenn es wahr wäre,« sagte Martell nachdenkend, »so ließe sich darauf eine leichte Hoffnung bauen. Ein Prozeß, – große Geldverluste – Uneinigkeit unter den Brüdern, – ja, das wäre ein Ausweg zur Rettung. Aber ich kann trotz Deiner Versicherung noch nicht daran glauben. Und dein Gefährte sieht auch nicht in das Grafengeschlecht mit seinen blauen Marien-Augen.«
»Der Morgen ist schön, die Luft rein,« sagte Eduard, »ein Gang in den duftenden Wald kann Dir nur gesund sein. Er wird Deinen Kopf frei machen, Deine gelähmte Kraft stählen! Begleite uns! Unterwegs theile ich Dir das Nähere mit, das vorerst nur noch für Dich allein bestimmt ist.«
Diese mit leiser Stimme gesprochenen Worte hatten die beabsichtigte Wirkung. Martell zog schnell seine zerrissene Kattunjacke an, drückte eine fettige Tuchmütze schief auf sein üppiges schwarzes Haar und erklärte sich bereit die jungen Freunde sogleich zu begleiten.
[] »Ihr kehrt doch wieder mit mir zurück?« fragte er.
»Im Fall wir Dich überzeugen.«
»Lore, hab' ein Auge auf den armen Hans und Ihr, Vater, verzeiht, wenn ich nicht immer Eurer Meinung sein kann! Ich will das Gute wie Ihr, Ihr wißt es, aber unsere Wege gehen auseinander.«
Traugott murmelte ein Gebet und drehte eifriger denn je sein Rad, aber ein mild versöhnender Blick seines Auges sagte dem ungestümen Martell, daß ihm der Greis längst seine heftigen Worte vergeben habe.
Arm in Arm durch das junge Holz wandelnd, erzählten Eduard und Paul abwechselnd dem Fabrikarbeiter, was wir in dem Vorhergehenden unsern Lesern bereits mitgetheilt haben nur, daß er selbst jener verschollene illegitime Sohn des Grafen Magnus sein solle, verschwiegen sie ihm noch. Das Geheimniß mußte ihm Geheimniß bleiben bis zu dem günstigsten Augenblick.
Martell faßte schnell den angedeuteten Plan und war mit Herz und Seele dabei. Er hoffte, er sah treue Verbündete und Beides entflammte [] seinen persönlichen Muth. Er war im ersten Moment der Aufregung kaum zu halten.
»Wenn es nur nicht lange währt! Wenn wir nur rasch zu Ende kommen könnten!« rief er wiederholt mit aufgeblähten Nüstern aus.
»Wir dürfen es hoffen, Martell, wenn Du von heute an vorsichtig unsere wichtigen Neuigkeiten unter allen Arbeitern ausstreust,« versetzte Eduard. »Es muß dies schnell geschehen, damit ein jäher Geist der Unruhe, der freudigen Erwartung sie ergreift. Dann haben sie Muth den Herrn zu bestürmen. Von zwei Seiten in die Enge getrieben, wird er nachgeben und Eure Lage verbessern. Inzwischen beginnt der Prozeß, dessen Ausgang nicht zweifelhaft sein kann. Die Kläger müssen gewinnen!«
Martell erklärte sich zu Allem bereit. Mit erheiterter Stirn, fast lustig und seit Monaten wieder einmal scherzend, führte er die Verbündeten nach ein paar Stunden wieder in seine Hütte wo sie bis zum folgenden Tage ungeachtet ihres Sträubens bleiben mußten.
[] Drittes Kapitel.
Dokumente.
Früher noch als unsere jungen Freunde das Ziel ihrer Wanderung erreichten, erschien Leberecht, Sloboda und der Maulwurffänger auf dem Zeiselhofe. Diese alte Besitzung der Familie Boberstein war jetzt verpachtet, sollte aber im nächsten Jahre einen andern Bewirthschafter erhalten, da der gegenwärtige Pachter zurücktreten wollte. Die Familie hatte es öffentlich bekannt machen lassen und einsichtsvolle Oeconomen zur Besichtigung des Grundstücks aufgefordert. Dadurch war Jedermann Gelegenheit zu leichtem Zutritt gegeben, und der listige Maulwurffänger, der jeden Zufall zu seinem Gunsten zu nutzen verstand, hatte seinen Plan darauf gebaut.
Unter den drei hochbejahrten Männern war [] die ganze Vergangenheit während der dreitägigen Reise nochmals übersichtlich zur Sprache gekommen. Dabei ergab sich, daß ungeachtet der völligen Umgestaltung aller Verhältnisse in einem Zeitraume von über vierzig Jahren doch ein allgemeiner Fortschritt zum Bessern von der Masse des Volkes nicht anerkannt ward. Ließen sich doch sogar laute Stimmen Unzufriedener hören, welche eine Wiederkehr und Wiederbelebung alter zerstörter und abgeschaffter Institutionen wünschten und für bei weitem ersprießlicher hielten. Leberecht gehörte zu diesen und leider vermochten seine Freunde ihn nicht immer durch haltbare Gründe zu widerleben und eines Bessern zu belehren.
In welcher Lage sich Leberecht befand, haben wir zu Anfang dieses Buches angedeutet. Diese Lage war niederdrückend und mußte einen Mann von Leberechts Fleiß und Redlichkeit mit Unwillen erfüllen. Als Leibeigener geboren, an Druck und Gehorsam gewöhnt und später durch unerwartetes Zusammentreffen günstiger Ereignisse unabhängig und frei geworden, hatte er in der Freiheit ein Glück höherer Art zu finden gedacht. Daß er sich schwer getäuscht, dies lähmte [] seit Jahren seine Energie und machte ihn häufig wahrhaft unglücklich. Da seine Freunde nicht recht daran glauben wollten, suchte er sich durch eine offene Darlegung seiner Verhältnisse, die genau jene von tausend und abertausend ihm Gleichgestellter waren, zu überzeugen.
»Was versteht Ihr denn eigentlich unter Volksfreiheit und Volksselbstständigkeit,« sagte er, »worin Ihr ein Universalheilmittel aller nur denkbaren Uebelstände erblickt? Ich begreife Euch nicht und muß mich deshalb gegen Euch erklären. Gott bewahre mich, daß ich das veraltete Schlechte, das Unnatürliche und Entehrende vertheidigen oder gar zurückwünschen sollte! Nur loben, billigen, preisen kann ich das Neue nicht, das menschenfreundliche Gesinnung als unreife Frucht an dessen Stelle gesetzt hat. Geht doch herum unter dem Volke, fragt den Weber, den Kleinbauer, den Tagelöhner, ob er zufrieden sei? und Alle werden mit trauriger Miene ein wehklagendes Nein antworten.«
»Weil sie den Augenblick nicht benutzen und Alles nach dem alten Schlendrian forttreiben,« unterbrach ihn der Maulwurffänger.
»Das ist die gewöhnliche Redensart Aller, [] denen es an gründlicher Einsicht gebricht,« versetzte Leberecht. »Nein, nein, Freund Heinrich, nicht der Schlendrian, nicht Mangel an Scharfblick ist Schuld an diesem unter sich fressenden Volksunglück, sondern die ungleiche Belastung und die Unmöglichkeit bei einmal vorhandener Schuld je im Leben schuldenfrei zu werden! – Der Gerechtigkeitssinn einer aufgeklärten Zeit hat den Hörigen zum freien Bürger seines Geburtslandes gemacht. Gut, dies soll man loben. Aber warum, frag' ich, hat man ihm die persönliche Freiheit gegeben und doch die Kette an seinem Fuß gelassen, die ihn an freier Bewegung hindert, deren dumpfes Klirren ihn stündlich an seinen frühern Sclavenstand erinnert?«
»Was nennst Du Kette?« fragte der Maulwurffänger.
»Die Lasten, die man nicht von uns genommen hat,« entgegnete Leberecht. – »Ihr wißt, ich habe ein kleines Häuschen mit nur wenigem Ackerland. Es ernährt mich nicht in guten Jahren, es stürzt mich immer tiefer in Schulden, tritt Mißwachs ein. Ich würde es verkaufen, wäre es nicht schon über den eigentlichen Werth verschuldet. Um also nicht zum Bettler zu werden, [] muß ich den Haus- und Ackerbesitzer fortspielen und unverhältnißmäßige Gaben an Staat, Herrschaft und Kirche zahlen. Ich muß, wie ehedem der leibeigene Bauer, dem Herrn frohnen, ich muß ihm die Wege ausbessern, muß ihm Hand und Spanndienste leisten oder – Geld dafür zahlen! Was bringt mir Geld? Der Verkauf von Naturalien, die ich erbaue. Was aber erbaue ich? Kaum so viel, als ich mit größter Noth zum spärlichen Durchkommen brauche! – Dennoch fordert man Geld von mir und ich muß es schaffen oder werde erst mit Execution, zuletzt mit unbarmherziger Pfändung bestraft. Lasse ich es so weit kommen, so mag ich mich nur nach einem Strick umsehen, denn verloren bin ich doch einmal! So ergreife ich denn das letzte Mittel, nehme ein kleines Capital zu hohen Zinsen auf, das ich nie zurückbezahlen kann, und entrichte meine ordentlichen und unordentlichen Steuern.«
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Alter,« sagte Sloboda. »Das sind die Leiden des freien Bauers ohne Vermögen! Sie schmerzen oft mehr als die Ruthe des Herrn! Es ist traurig, sehr traurig!«
[] »Ich will nicht weiter von mir sprechen,« fuhr Leberecht fort, »ich will nur an einem Beispiele nachweisen, daß ich meine Klagen nicht aus der blauen Luft greife. Mein Nachbar schief über hat ein Häuschen mit Gartenland. Er ist Weber, verheirathet, Vater von drei Kindern, – und in ganz gleichen Verhältnissen sind an unserm Ort allein über hundert Familien, in zwanzig, dreißig Ortschaften zusammen einige Tausende, – und verdient bei größtem Fleiße, angenommen, daß keine Krankheit vorkommt und die Arbeit nie fehlt, im ganzen Jahre fünf und funfzig bis höchstens sechzig Thaler! Was ist davon sein Eigenthum? – Ich will es Euch sagen. Auf Haus und Gartenland, das ihm seinen Kartoffelbedarf bringt, lastet ein Kapital von vierhundert Thalern, das zu fünf Prozent Zinsen die Jahreseinnahme um zwanzig Thaler vermindert. Er muß außerdem an Grundsteuer dem Staate jährlich einen Thaler funfzehn Silbergroschen zahlen, Classensteuer, zwei Thaler, Grundzins an die Herrschaft, drei Thaler und drüber, Jagd- und Spinngeld funfzehn Groschen, Gemeindeabgaben gegen anderthalb Thaler; das Schulgeld [] für seine Kinder beläuft sich auf vier Thaler und endlich kommen an Feuerassecuranz, an Abkauf der Handdienste auch noch gegen zwei Thaler zusammen, so daß ihm zur Ernährung seiner Familie, zur Instandhaltung seines Hauses und zur Bestreitung etwaiger nicht zu berechnender Ausgaben nicht mehr als zwanzig Thaler übrig bleiben. Diese Angaben beruhen auf Thatsachen. Ist solch ein Loos beneidenswerth, und ist derjenige, dem es gefallen, ein freier Mensch zu nennen, zu beneiden von dem Neger, der in heißen Ländern die Pflanzung seines Herrn bebaut und dafür sorglos seinen Reis essen kann?«
»Wenn das keine Ausnahmen sind, dann wehe uns! Wehe unsern geordneten Saaten! Wehe der Zukunft unseres Volkes!« sagte der Maulwurffänger.
»Du sprichst es aus. Wehe der Zukunft unseres Volkes, wenn gleichsam auf gesetzmäßigem Wege die Verarmung mit Riesenschritten um sich greifen darf! Weil es so ist – und es ist leider fast überall so – darum vermaledeie ich die uns gewordene Freiheit, die uns zur verabscheuungswürdigsten [] Sclaverei verurtheilt, zur Sclaverei des freien Willens! Tausende möchten vor Ekel sich von sich selbst abwenden, aber sie dürfen nicht ihrer Weiber und Kinder wegen. Sie müssen das Joch der Sclaverei der Freiheit von einem Jahre zum andern fortschleppen, bis es sie erdrückt! Frei macht sie nur der Tod! Das aber ist ein namenloses Elend, ein Jammer, vor dessen Größe und Unendlichkeit man vor Entsetzen versteinert!«
»Um so entsetzlicher, als Niemand ihm steuern kann!« bemerkte Sloboda.
»Dann stehen wir am Vorabende des Weltunterganges,« fiel der Maulwurffänger ein. »Doch noch haben wir keinen Anlaß zu solcher Verzweiflung, die sich selbst und die Zukunft aufgibt. Noch sind Auswege vorhanden, auf denen das fortwuchernde Elend des Volkes verjagt werden kann. Der Staat muß sich des Volkes annehmen, muß ihm, dem darbenden, die Lasten abnehmen und sie auf die Schultern der Verzehrenden, der Reichen legen.«
»Träume, schöne, bunte ergetzliche Träume!« sagte Leberecht wehmüthig lächelnd. »Ich glaube an keine Träume!«
[] »Du hast Recht, Freund, noch sind es Träume! Diese Träume aber werden Wahrheit werden, ist sich alles Volk erst der Mittel bewußt, die es der überhand nehmenden Verarmung entreißen können. Nur Massen bewirken etwas Großes in unsern Tagen, nur gemeinsamer Hilfeschrei wird beachtet. Darum trachte der Einzelne dahin, daß die Armen sich einigen und durch ihre Masse und Anhänglichkeit eine unzerreißbare Kette bilden! Mit geschlossenen Gliedern können sie den Reichen trotzen und durchsetzen, daß man ihre volle Freiheit anerkenne und sie menschlich behandle.«
Zweifelnd schüttelte Leberecht den Kopf, ohne das Gespräch weiter zu führen. Die nahen Gebäude des Zeiselhofes, die über die kahlen Felder emporstiegen, gaben seinen Gedanken eine andere Richtung. Sie bogen in einen flachen Hohlweg ein und sahen sich nach wenig Minuten dem offenstehenden Thorwege des Edelhofes gegenüber.
»Dort drüben,« sagte der Maulwurffänger, indem er mit der Hand nach dem Herrenhause deutete, »dort drüben begann vor mehr als vierzig Jahren das große Unglück, dessen Folgen uns [] drei greise Männer an diesem verhängnißvollen Orte wieder zusammenführt. Möge Gott unsern Eingang segnen, wie er ihn damals segnete, als ich Dein liebliches Töchterlein den Händen Blauhuts entriß!«
»Amen! Amen!« versetzten Leberecht und Sloboda, indem sie ihre Hüte abnahmen und die Hände bittend falteten. –
Eine genaue Besichtigung des Zeifelhofes war leicht zu erlangen, da, wie bemerkt, ein neuer Pachter gesucht ward. Um nicht aufzufallen und Verdacht zu erwecken, gingen die drei Freunde alle Gebäude der Reihe nach durch, indem sie bei dem herumführenden Verwalter sich genau nach dem Ertrage des Rittergutes mit Sachkenntniß erkundigten. Das Herrenhaus betraten sie zuletzt. Es war nicht mehr in gutem Stand erhalten, denn seit der Catastrophe, welche Magnus auf längere Zeit ins Ausland trieb, hatte es keinen bleibenden Bewohner gehabt. Die späteren Pachter nahmen blos zeitweise davon Besitz, gefielen sich aber in der Verwalterwohnung besser, da sie ihren Neigungen und Bedürfnissen mehr entsprach.
Als sie die breite, ehemals mit kostbaren [] erotischen Pflanzen reich geschmückte Treppe hinaufstiegen, flüsterte Leberecht dem Maulwurffänger leise zu:
»An der dritten Thür rechts lenke die Aufmerksamkeit unseres Begleiters ab und richte es so ein, daß ich ein paar Minuten allein im Zimmer bleiben kann.«
Mit schnellem Augenwink gab Heinrich seine Zustimmung zu erkennen.
»Hier sieht's nicht mehr sehr gräflich aus,« bemerkte Sloboda. »Zeit, Holzwurm und Motte haben arg gewirthschaftet. Man müßte alle Gemächer durchaus neu meubliren und herrichten lassen, wollte man sie mit Vergnügen bewohnen.«
»Es fehlte seither eben ein Herr,« sagte achselzuckend der Begleiter.
»Ah,« unterbrach ihn der Maulwurffänger, »da sind wir ja im Balconzimmer! Wir doch die alten Zeiten wieder lebendig werden! Wie oft bin ich in diesem Garten gelustwandelt! Wie viele tausend Maulwürfe habe ich auf jenen Feldern gefangen! Laßt mich doch nach so langen Jahren wieder einmal einen Blick auf all' die verwilderten Herrlichkeiten thun! Denn dem [] Gärtner, scheint mir, haben der jetzige Herr Pachter und seine Vorgänger nicht viel zugewendet!«
»Von Herzen gern,« versetzte der sie herumführende Begleiter. »Beliebt es auf den Balcon zu treten? Die Herren folgen uns wohl nach?«
Heinrich nahm den Arm des Begleiters, zog ihn mit sich und verstrickte ihn in ein lebhäftes Gespräch. Leberecht und Sloboda blieben allein im Zimmer zurück. Es war dasselbe, in welchem Haideröschen den ersten Ueberfall ihres Gebieters so kräftig abwehrte. Noch war es ganz so meublirt, wie damals. Dieselben Tapeten, jetzt nur geschwärzt und mit Spinnengeweben überzogen, bedeckten noch immer die Wände.
»Hier ist es,« sagte Leberecht, indem er gegen einen verborgenen Knopf in der Tapete heftig drückte. Die Wand wich kreischend zurück und öffnete den Eingang zum anstoßenden Zimmer. Ein kaum handbreiter Raum, mit Getäfel verkleidet, schied beide Zimmer von einander. Dies Getäfel öffnete ein Druck nach innen, worauf mehrere Fächer sichtbar wurden, die offenbar [] zur Aufbewahrung von Kostbarkeiten den ehemaligen Besitzern gedient hatten. Aus einem der Fächer, in denen jetzt nur Spinnen hausten, langte Leberecht ein ansehnliches Volumen sorgfältig eingepackter Schriften heraus, die mit dem wohlbekannten Wappenringe der Boberstein fünffach versiegelt waren. Sloboda sah ihn fragend an.
»Das sind die Documente?«
»Sie sind es.«
»Gott gebe, wohlerhalten!«
»Ja, das gebe Gott!«
Leberecht schob das Packet in die Brusttasche seines weiten Rockes, ließ das Getäfel wieder in seinen Falz, die verborgene Tapetenthür in ihre Fugen gleiten und folgte dem Maulwurffänger auf den Balcon. Dieser hielt den Begleiter noch fest mit Fragen, welche Adrian und seine Brüder betrafen, um dem Freunde möglichst viel Zeit zu ungestörtem Suchen zu verschaffen.
»Nun seid Ihr fertig mit Eurer Musterung?« sagte er jetzt kurz abbrechend. »Dann könnten wir allenfalls unsern Auftrag für erledigt betrachten; denn was mich betrifft, so erspare ich mir ein nochmaliges Beschauen dieser [] Zimmer. Ich war ehedem darin wie zu Hause.«
Als er in den Blicken Leberechts gelesen hatte, daß er glücklich gewesen sei, übermannte den so gemessenen alten Mann eine unglaubliche Unruhe. Er mußte gewaltsam an sich halten, um den Begleiter nicht zu enttäuschen über den wahren Zweck ihres Besuches. Indeß wußte er doch ihren Aufenthalt möglichst abzukürzen. Noch vor Abend verließen die Greise den Zeiselhof und schlugen den Weg nach Königshain ein.
»Was soll jetzt geschehen?« fragte Sloboda, als er die belebten, von freudiger Erwartung strahlenden Züge seines alten Freundes gewahrte: »Gehen wir zu den Freunden in Deine Heimath?«
»Vor Gericht! Vor Gericht!« rief der Maulwurffänger. »Jetzt sind wir die Herren und sie die Knechte!«
Am nächsten Tage früh gegen eilf Uhr sahen mehre Bewohner der Stadt Görlitz drei Männer in weißen Haaren die gewundene Steintreppe am stattlichen Rathhause hinaufsteigen. Man wunderte sich über diese Alten in ihrer wunderlichen, nirgend mehr üblichen Tracht, und [] als sie spät am Tage mit feierlicher Miene das Rathhaus wieder verließen, wollte man wissen, daß sie den Hochweisen ein höchst wichtiges Staatsgeheimniß, wo nicht gar eine Verschwörung entdeckt hätten.
[] Viertes Kapitel.
Die Wahrsagerin.
Wind und Regen peitschten die Fenster. Ein Posthorn schallte durch die kalte stürmische Octobernacht und rasselnd fuhr die schlecht verwahrte Kalesche über das holprige, stoßende Pflaster Leipzigs. Die Extrapost hielt vor dem Hotel de Pologne. Diensteifrig stürzte der Oberkellner an den Wagenschlag, um ihn zu öffnen, wäre aber beinahe von einem behend herausspringenden Manne kräftiger Statur umgerannt worden, dem ein zweiter, jüngerer wo möglich noch ungestümer folgte. Die Fremden begehrten zwei Zimmer, befahlen das Gepäck ihnen nachzubringen und dem Postillon ein tüchtiges Trinkgeld zu geben. Dann schritten sie Arm in Arm dem vorleuchtenden Kellner nach, zwei Treppen hinauf [] und bezeigten sich mit dem angewiesenen Logis zufrieden. Auf die Frage des Kellners, ob die Herren sonst noch etwas zu befehlen hätten, bestellte der Aeltere Thee und später ein Abendbrod, wie es zu haben sei.
»Wie erfahren wir nun die Wohnung unserer Sibylle?« sagte Aurel zu seinem jungen Begleiter. »Auf gut Glück und so geradezu Wirth oder Kellner nach einer Kartenschlängerin fragen kann man doch nicht, ohne sich lächerlich zu machen oder für einen Narren gehalten zu werden.«
»Ueberlassen Sie das mir, Herr Kapitän,« erwiederte Gilbert. »Ein bis zwei Tage müssen wir uns doch hier verweilen. Das ist Zeit genug, um die Geheimnisse dieser Universitäts- und Handelsstadt auszukundschaften.«
»Ich werde mich langweilen zum Sterben, guter Junge. Ich kenne Leipzig und weiß, was es dem Fremden für interessante Seiten zu bieten hat, wenn er nicht Handlungsreisender oder Weinbeflissener ist. Und nun gar dieses Wetter! Man kann keinen Fuß aus dem Hause setzen.«
»Es ist ja die Saison, Herr Kapitän! Da [] gibt es Concerte alle Abende. Am Tage laufen wir die Kaffeehäuser und Weinkeller durch oder grüßen die hübschen Mädchen, die in Leipzig alle so verliebte Augen haben.«
»Gilbert!«
»Verzeihung, Kapitän! Man sagt so und mich dünkt eine Nachrede solcher Art bringt dem schönen Geschlecht der Stadt keine Schande. Mädchen ohne Liebesblicke, ich bitte Sie, Kapitän, wie soll es ein vernünftiger Mann mit solchen Geschöpfen aushalten? Uns schräg gegenüber im Erker wohnt ein neugieriges Lockenköpfchen – ich hab' es gleich bemerkt. Morgen früh bei Zeiten werd' ich der schönen Nachbarin mit Ihrer gütigen Erlaubniß auf Matrosenart meine Reverenz machen.«
Der Kellner erschien wieder und legte dem Kapitän das Fremdenbuch zur Einzeichnung seines Namens vor. Aurel machte die Förmlichkeit kurz ab und verlangte nochmals den Thee.
»Kapitän am Stein nebst Pflegesohn!« las der Kellner mit einiger Verwunderung. »Vermuthlich ein schiffbrüchiger Kapitän, der sich auf's Festland geflüchtet hat, um daselbst auszuruhen und bessere Zeiten abzuwarten.«
[] Eine Stunde später wußte die gesammte Dienerschaft im Hotel, daß ein Seekapitän aus Hamburg angekommen sei und auf seinem Zimmer Thee trinke, stark wie Braunbier. Da er auch das Abendessen auf dem Zimmer zu servieren befahl und mit den Kellnern gar nicht sprach, wurde er stillschweigend entnationalsiirt und zu einem Engländer verwandelt.
Am andern Morgen war das Wetter etwas erträglicher. Die Sonne schien ab und zu durch fliegende Wolken und gestattete wenigstens einige Spaziergänge. Aurel verbrachte den Tag ziemlich nach Gilberts Vorschlag und dieser knüpfte nicht blos mit seinem hübschen Gegenüber durch Gruß und Blick eine oberflächliche Bekanntschaft an, die zwar nicht geradezu erwiedert aber doch bemerkt und nicht unfreundlich aufgenommen wurde, sondern wußte auch so ge schickt zu manövriren, daß er bereits um die Mittagsstunde sich für wohlunterrichtet halten durfte. Aurel schloß von der Heiterkeit des Jünglings auf die guten Nachrichten desselben und eilte davon Kenntniß zu erlangen.
»Bist Du im Klaren?« fragte er nach Tische bei Kaffee und Cigarre.
[] »Ich kenne das Fahrwasser, aber nicht den Curs.«
»Wie das?«
»Weil sich drei ehemalige Grazien damit abgeben, dem Neugierigen aus Hand und Karte die Zukunft zu enthüllen.«
»Verdammt! Und wer steuert uns?«
»Ich habe schon einen Lootsen gefunden, der mir zuverlässig scheint. Es ist ein alter ve rschmitzter, kupfriger Lohnbedienter, eingeweiht in alle Heimlichkeiten und heimisch auf jedem verbotenen Wege. Dieser Mentor hat mir versprochen, uns gegen doppelte Bezahlung zu der jetzt berühmtesten und namentlich bei den Damen in größtem Ansehen stehenden Sibylle zu geleiten. Bei nur einigermaßen glücklichem Winde müssen wir in den rechten Port kommen, wenn der Musiker in der Mohrentaverne uns nichts aufgeheftet hat.«
Aurel lobte die Vorkehrung Gilberts und schrieb während des Nachmittags, um nur die Zeit hinzubringen, mehrere Briefe. So kam der Abend heran, der minder regnerisch zu werden versprach. Um sieben Uhr meldete Gilbert, daß der Geleitsmann ihrer harre. Aurel schob sogleich Alles bei Seite, warf seinen Mantel um [] und verließ, von Gilbert und dem Lohndiener begleitet, das Hotel.
Dieser führte die Fremden zum Petersthore hinaus, über den Roßplatz nach der Johanisvorstadt, dem Stadttheil, wo der ärmere Theil der Bevölkerung Leipzigs wohnt. Durch schmuzzige finstere Gassen, von kleinen, schlecht gebauten Häusern gebildet, schritten Aurel und Gilbert dem Führer nach bis an das äußerste Ende der Stadt. Ein paar zweistockige Häuser schlossen hier die schmale Gasse, die ungeachtet des scharf wehenden Windes von übelriechender Luft erfüllt war, welche selbst bis in das Innerste der Häuser drang. In einem dieser Häuser war eine Schenkwirthschaft. Man hörte es an dem Durcheinander der vielen laut sprechenden Männerstimmen. Das zweite etwas sauberer aussehende Haus schien unbewohnt zu sein. Die Thür war verschlossen, an keinem der kleinen Fenster schimmerte Licht. Der Lohndiener wußte jedoch Bescheid. Er bat die Fremden etwas zurückzutreten und sich ruhig zu verhalten. Dann hustete er leise und schnalzte dreimal mit der Zunge, indem er zugleich an der Thür klinkte. Bald darauf erschien hinter schneeweißen Vorhängen [] ein wanderndes Licht im ersten Stock. Man hörte klappernde Pantoffeln, ein Schlüssel klirrte im Schloß und die Thür ward geöffnet.
»Ein gutes Zeichen,« flüsterte Gilbert dem Kapitän zu, als er das rosige Gesicht eines jungen Mädchens an dem Spalt der behutsam geöffneten Thür gewahrte. »Die Weiber haben uns bisher immer Glück gebracht, es wird uns auch heute nicht fehlen, mögen sie uns nun Gutes oder Böses prophezeihen! Ha, der alte Schelm unterhandelt mit der niedlichen Kleinen! Wär' ich doch an seiner Stelle! Ich wollte das plappernde Mündchen so geschickt küssen, wie Thysbe ihren Pyramus durch den Spalt in der Mauer!«
Aurel stand auf Kohlen, denn die Unterhandlung dauerte etwas lange und ward äußerst bedächtig und förmlich geführt.
»Es sind Fremde, zuverlässsge und vornehme Leute,« sagte der Lohnbediente. »Ein Kapitän aus Hamburg, wie ich im Fremdenbuch gelesen habe.«
»Und sein Begleiter?« fragte blinzelnd das Mädchen, mit gebogener Hand das flackernde Licht gegen den Luftzug schützend. »Sie wissen, [] daß meine Herrschaft immer nur eine Person auf einmal vorläßt.«
»Die beiden Herrn sind so gut, wie nur eine Person – der Vater mit seinem Pflegesohn.«
»Wollen Beide ihre Zukunft wissen?«
»Was kümmert das Dich, kleiner Schabernack? Mach auf, die Herren haben Eile. Morgen bei Zeiten wollen Sie abreisen.«
»Sie werden schon warten, wenn ihnen an der Klugheit meiner Herrschaft so viel gelegen ist. Noch zwei Minuten Geduld!«
Rasch klirrte ein Kettchen hinter der Thür, das Mädchen verschwand, klapperte die Treppe hinauf und ging denselben Weg, den sie gekommen war, wieder zurück.
Aurel ward ungeduldig. »Ihre Prophetin scheint sehr launenhafter Natur zu sein,« sagte er zu dem Lohndiener. »Wenn die Verhandlungen in gleicher Weise fortgesetzt werden, kommt Mitternacht heran, ehe wir die Orakelsprüche der klugen Frau vernommen haben.«
Der Lohndiener zuckte die Achseln. »Wunderliche Leute wollen apart behandelt sein,« versetzte er trocken. »Man muß sich ihrem Willen [] unbedingt unterwerfen, oder erfährt gar nichts. Alles Bitten und Drängen bleibt fruchtlos. Doch da kommt die klappernde Vermittlerin ja schon wieder zurück. Jetzt, meine Herren, dürfen Sie sich gratuliren; Sie werden beide angenommen und können, wenn Sie es wünschen, die Enthüllungen Ihrer Zukunft gemeinschaftlich vernehmen.«
Das Kettchen ward jetzt abgenommen und die Thür weit geöffnet. Aurel und Gilbert nebst dem Lohndiener traten ein, worauf das Mädchen die Thür wieder fest verschloß und verriegelte. Gilbert konnte sich nicht versagen, die hübsche Pförtnerin, deren Füßchen in plumpen Holzpantoffeln steckten, zu mustern. Sie war in der That frisch wie eine Pfirsiche, vollbusig und von starken Hüften. Dies reizte den kecken Matrosen und eh' es sich die niedliche Dienerin versah, hatte er sie umschlungen und ihr einen Kuß geraubt. Eben so schnell fühlte er aber auch ihr nichts weniger als sanftes Händchen auf seiner Backe.
»Dank, mein süßes Schäfchen!« lachte Gilbert der erröthenden Pförtnerin in die muntern braunen Augen. »Mit dem Anfange wäre ich zufrieden. Treffen mich nicht härtere Schläge in [] meinem Leben, so will ich es ein von seltenem Glück getragenes nennen! Pflegst Du für so vortrefflich gerathene Maulschellen Bezahlung anzunehmen?«
Aurel gebot dem Schwätzer mit zornigem Blick Schweigen. Der Lohndiener, schon bekannt mit der Einrichtung in diesem Hause, war zur Seite in ein Nebenstübchen getreten, um die Rückkehr der Fremden abzuwarten. Das Mädchen ging schmollend vorauf, unterließ aber trotz dem nicht, verstohlene funkelnde Blicke auf den dreisten Burschen mit dem gebräunten Gesicht und den nachtschwarzen Augen zu werfen.
Ueber einen gewundenen Gang, der unter ihren Tritten knisterte und schwankte, kamen sie in ein freundliches Hintergebäude, das neuern Ursprungs zu sein schien. Die saubere Einrichtung und die glänzende Reinlichkeit zeigte, daß es Frauen bewohnten. Die kleinen Zimmer dufteten von mildem Arom und deuteten nichts weniger als eine dürftige oder unbehagliche Existenz an.
»Belieben die Herren einen Augenblick zu verziehen,« sagte die hübsche Pförtnerin in Holzpantoffeln. »Madame wird sogleich erscheinen.«
[] Sie zündete drei Lichter auf blank gescheuerten zinnernen Leuchtern an und ließ die Fremden allein.
»Mäßige Dich, Gilbert!« ermahnte Aurel den Jüngling. »Du kannst mit Deinem verliebten Ungestüm das Ziel meiner ganzen Reise verrücken.«
»Warum stellt mir der Versucher so apetitliche Mädchen in den Weg! Aufbrechende Rosenknospen muß ich brechen; es juckt mich in den Fingern, und auf Matrosenehre, Kapitän, Sie würden mir treulich Gesellschaft leisten, wenn Ihre Gedanken nicht gerade so angestrengt auf Ueber- oder Unterirdisches gerichtet wären.«
»Mag sein, mag sein!« versetzte Aurel zerstreut und seufzend. »Wenigstens liegt mir die Erforschung der Vergangenheit mehr am Herzen, die unklare, jedem Sterblichen verhüllte Zukunft.«
Es rauschte hinter der Thür des Nebenzimmers, sie drehte sich klanglos in den Angeln und eine mittelgroße Frauengestalt, von Kopf zu Fuß in aschgraue Zeuge gehüllt, stand auf der Schwelle. Die Matrone hielt in der linken Hand eine kleine silberne Lampe von feiner Arbeit, aus deren [] flacher Höhlung ein spitzes blaues Flämmchen brannte. Die Rechte umschloß ein vollzähliges Spiel deutscher Karten.
Den Gruß der Fremden erwiederte sie durch mehrere tiefe Verbeugungen, die wunderlich und fast gespenstisch anzusehen waren. Noch immer, ohne zu sprechen, schritt sie dann fest und mit gezwungener Feierlichkeit auf den Tisch zu, winkte den Fremden nieder zu sitzen und nahm selbst Platz auf einfachem Sessel. Die Lampe vor sich hinstellend und das Spiel Karten daneben legend, erhob sie den Blick, um die Fremden genau zu betrachten.
Auf diesen Moment hatte Aurel mit Ungeduld gewartet. Seine scharfen Blicke begegneten denen der Wahrsagerin und rangen gleichsam sekundenlang mit einander. Aurel kannte die Matrone so wenig, wie diese ihn. Seine Hoffnung schwand sogar sehr bedeutend, als er in ein kleines abgemagertes, faltenreiches Gesicht sah, das nicht gerade häßlich war und in frühern Jahren wohl auch einmal hübsch gewesen sein mochte, das aber unmöglich jener Herta angehören konnte, die er suchte und hier zu finden wünschte. Graue Haare legten sich in dünnen Scheiteln um die[] kleine zusammengefaßte Stirn der Wahrsagerin.
»Sie wünschen die Zukunft zu befragen?« sagte das Mütterchen zu den Fremden. »Wenn Sie nicht aus bloßer Neugierde, sondern aus innerstem Drange des Herzens und mit gläubigem Gemüth zu mir kommen, dürfen Sie hoffen, die reine Wahrheit zu hören.«
Aurel bat durch eine Handbewegung, daß sie fortfahren möge.
»Ziehen Sie es vor, daß ich die Flamme oder die Karte befrage?«
»Ganz nach Belieben, Madame!« entgegnete Aurel. »Ich bin nicht bewandert in den Geheimnissen Ihrer Kunst oder Wissenschaft.«
»Die Flamme erheischt lange Zeit und große Geduld. Sie scheinen mir lebhaften Temperaments und da ich eine Unterbrechung meiner Fragen befürchten muß, was traurige Folgen für Sie haben könnte, so erlaube ich mir mit Ihrer Zustimmung die Karte vorzuziehen.«
Aurel neigte billigend den Kopf und die Wahrsagerin ließ die Lampe sogleich verlöschen, was so schnell und geheimnißvoll geschah, daß Gilbert darüber erstaunte und den Kapitän verwundert [] ansah. Sie mischte hierauf das Spiel Karten, richtete verschiedene Fragen an Aurel – in welchem Monat er geboren sei? Ob verheirathet oder ledig? An welchem Tage er seine letzte Reise angetreten habe? u.s.w. Gleichgiltig, doch wahrheitgetreu gab Aurel darauf Antwort. Die Wahrsagerin legte nun die Karten in Form einer strahlenden Sonne vor sich hin, anfangs der Reihe nach die einzelnen Blätter abhebend. Später gab sie manchem eine andere Stelle, so daß die Form der Sonne oder des Sterns sich vielfach veränderte und bald einen Strahlenkreis ohne Kern, bald einen festen Körper in fast eirunder Form ohne Strahlen bildete. Während dieses Hin- und Wiederschiebens der Kartenblätter sprach sie immerfort, lächelte jetzt, und schüttelte dann wieder mürrisch den Kopf. Zuweilen tupfte sie auch mit ihrem dürren weißen Zeigefinger auf eines der Blätter oder drohte ihm mit freundlicher Miene. Endlich entglitt das letzte Blatt ihrer Hand! Sie erhob sich vom Sessel und schob die drei Lichter näher an einander. Aurel stand ebenfalls auf und beugte sich, beide Hände auf den Tisch stützend, über das wunderlich gestaltete Kartenbild, das seines Lebens Zukunft [] enthalten sollte. Obwohl er nicht im Geringsten an Wahrsagerei glaubte, ward ihm doch ganz eigen zu Muthe. Mit gespanntester Aufmerksamkeit folgte er dem lesenden Auge der Wahrsagerin, lauschte er den seltsamen Orakelsprüchen, die in lauter zusammenhangslosen Satzfragmenten ihrem Munde entglitten.
Unser Freund würde sehr unbefriedigt davon gegangen sein, hätte nicht seltsamerweise die Sibylle durch einen unerklärlichen Zufall Alles, was ihm in jüngster Zeit Auffallendes begegnet war, aus den Karten gelesen und mit unerschütterlicher Seelenruhe ihm mitgetheilt. Dies machte ihn stutzig, er glaubte sich erkannt, verrathen, und ohne das Ende der Prophezeiung abzuwarten, rief er mit lauter Stimme der Wahrsagerin zu:
»Weib, wer bist Du, daß Du mein vergangenes Denken weißt?«
In seiner Aufregung rüttelte er so heftig am Tische, daß die Karten ordnungslos durch einanderfielen und die ganze, so künstlich zusammengefügte Figur zerstört ward.
Die Wahrsagerin richtete sich auf und ließ prüfender als im Anfange ihre Blicke über den [] Kapitän gleiten. Sie bemerkte den goldenen Reif am kleinen Finger seiner linken Hand, den Aurel jetzt völlig vergessen hatte. Zitternd, mit offenem Munde starrte sie den Fremden an und sank dann laut aufschreiend in den Lehnsessel.
»Jesus, er ist es!« rief sie aus. »Nur er allein konnt' ihn haben!«
»Herta!« lispelte im tiefsten Innern erschüttert und von geheimnißvollen Schauern erfaßt der Kapitän. »Herta, so sind Sie es wirklich? Man hat mich nicht hintergangen?«
»Herta?« erwiederte die Wahrsagerin. »Nein nein, ich bin nicht Herta!«
Und sie machte eine Bewegung des En tsetzens, als wolle sie Aurel mit Gewalt von sich abwehren.
»Nicht Herta? Und Sie glauben mich doch zu kennen?«
»Wer ruft den Namen einer längst verschollenen Unglücklichen?« ließ sich jetzt aus der Tiefe des Zimmers eine sanfte Frauenstimme vernehmen. »Es muß etwas Ungewöhnliches vorgehen, wo dieser traurige Name unter Lebenden genannt wird.«
Aurel wandte sich um. Eine Frau in [] schwarzer Tracht, ohne Prunk, aber rein und geschmackvoll gekleidet, stand auf der Schwelle derselben Thür, durch welche die Wahrsagerin eingetreten war. Ein brennendes Licht schwankte in ihrer zitternden Hand, die blüthenweiße Spizzenmanschetten zur Hälfte überdeckten. Weder Jahre, noch Trübsal, noch Kummer und Elend hatten die ursprüngliche Schönheit dieser erhabenen Züge gänzlich verwischen können. Der Adel einer reinen großen Seele verklärte noch immer diese schön geformte Stirn und glänzte in dem milden versöhnenden Licht des braunen Auges. Ein schmerzliches Lächeln auf den bleichen Lippen schritt sie fest auf die seltsame Gruppe zu, die von der magischen Gewalt eines Zaubers erfaßt zu sein schien. Indem sie das Licht ein wenig erhob, so daß der volle Schein der Flamme auf die beiden Fremden fiel, wiederholte sie nochmals mit eigenthümlicher Weichheit des Tones die Frage:
»Wer nannte Herta? Wer sucht sie? Hier ist, was von ihr übrig geblieben!«
Aurel kehrte ihr das Gesicht zu. Das Unerwartete des vorhergegangenen Auftritts, die neue Unterbrechung, die gewaltige Spannung [] seines ganzen Wesens, die ihn gefangen hielt, gaben seinen Zügen einen so fest ausgeprägten Charakter, daß die Aehnlichkeit mit seinem Vater schärfer hervortrat, als in der gleichmäßigen Ruhe des alltäglichen Lebens. So traf ihn Hertas Auge. – Das Licht entfiel ihrer Hand, sie selbst drohte umzusinken. Mit kräftigen Arm umfing Gilbert die bebende Frau.
»Es ist sein Sohn!« lallte sie ohnmächtig. »Wie er ihm gleicht, dem Entsetzlichen! – –«
Wir vermessen uns nicht, die Empfindungen beschreiben zu wollen, die nach dieser Erkennungsscene die Herzen der Betheiligten bestürmten. Herta bedurfte einer geraumen Zeit, ehe sie vollkommen ihre Fassung wieder erlangte. Emma, sonst ihre Zofe, jetzt Wahrsagerin aus Noth, um den mehr als kargen Verdienst, welchen beide gerettete Frauen durch den Fleiß ihrer Hände sich erschwangen, zu mehren, überfiel dem Fremden gegenüber ein Gefühl der Scham, das sie beängstigte. Aurel war glücklich und betrübt zugleich, glücklich, weil er eine ihm theure Verwandte wiedergefunden hatte und sie einer Lage entziehen konnte, die ihrer Geburt, ihrer geistigen und gesellschaftlichen Bildung unwürdig war; [] betrübt, weil es ihn schmerzte, dem eignen Vater grollen zu müssen, der so viele und schwere Vergehungen auf sich geladen und seinen Nachkommen einen befleckten mit Verachtung oder Ingrimm genannten Namen hinterlassen hatte.
Diese Entdeckung, dies Wiederfinden hatte der kleine goldene Siegelring bewirkt. Aurel konnte nicht mehr von ihm lassen. Er war ihm ein Talisman, ein wunderkräftiges Amulet geworden.
Mit dieser Ueberzeugung saß er jetzt neben Herta und führte wiederholt die zwar magere, aber noch immer schöne Hand seiner Tante an die Lippen.
»O könnte ich es ungeschehen machen all' das Unglück, das man Ihnen zugefügt hat!« rief er bewegt aus. »Könnte ich diesen gebleichten Locken den Glanz der Jugend, diesem schmerz- und ergebungsvoll blickenden Auge den freudigen Strahl wiedergeben, der aus der Tiefe einer ungetrübten Seele blitzt! Daß ich es nicht vermag, theure Tante, das macht mich unglücklich! O mein Vater! Mein Vater!«
Herta war in Gesinnung und Wesen fast unverändert geblieben. Milde, Versöhnung, den [] Glauben an Verallgemeinerung eines sittlichen Fortschrittes im Volk hatte sie festgehalten, selbst in tiefster Erniedrigung. Die Armuth hatte ihr zartfühlendes Herz wohl durch die Qual der Noth zerfleischen können, die sie begleitete, ihre schmutzigen Schlacken, die sich schuppenartig fest zu setzen pflegen an den ihr verfallenen Öpfern und es durch einen Panzer von Gemeinheit abschließen von der übrigen Welt, diese hatten sie nie berührt. Was sie erduldet, das sah sie für eine Schickung an, für ein zur Fortentwickelung des Weltbildungsgangs Nothwendiges, zu dessen Werkzeuge sie Gott ausersehen hatte. Diese allerdings mehr fatalistische als christliche Weltansicht trug Herta stets über alle unreinen Tiefen und wüsten Abgründe des Lebens hinweg und ließ sie mit den Jahren eine Ruhe und geistige Besonnenheit gewinnen, die für sie ein hoher Ersatz des jubelnden phantastischen Glücks war, in dem als Mädchen ihre Seele aufjauchzte. Herta war nicht glücklich aber zufrieden geworden. Sie hatte ihr Herz eben so gut zu beschränken gewußt, wie ihre Bedürfnisse und dies allein rettete sie vor geistigem und leiblichem Untergange.
[] Aurel bestand in seiner Aufregung eine Zeit lang darauf, daß Herta sogleich ihren Versteck verlassen und ihm ins Hotel folgen sollte. Es kostete Mühe, dem hartnäckigen Mann das Unpassende dieses Vorschlages begreiflich zu machen. Endlich aber sah er es doch ein und gab ihn auf.
»Nun gut denn, so bleiben Sie!« sagte er lebhaft. »Nur verbieten Sie dieser dämonischen Sibylle ferner hin ihre Orakelsprüche! Ich könnte mich sonst in die unangenehme Nothwendigkeit versetzt sehen, ihre von äußerer Noth dictirten Betrügereien aufdecken zu müssen! Wer gläubigen Herzens ihren Aussagen lauscht, dem können sie verhängnißvoll werden fürs ganze Leben! Es ist Sünde, Frevel, mit dem Geheimniß zu spielen. Oft rächt es sich fürchterlich!«
»Ich verspreche Ihnen, Herr Kapitän, daß Emma ihre Kunst zu unserm Glück an Ihnen zum letzten Male erprobt haben soll.«
»Versprechen Sie mir auch, theure Tante, daß Sie mich nicht mehr verlassen, daß Sie zurückkehren wollen in die Welt, in den Schoos der Familie, deren edelstes Glied Sie sind?«
[] »Darüber will ich mit Gott, der mein Schicksal bisher gelenkt hat, zu Rathe gehen.«
»O Gott ist barmherzig und gerecht! Sie werden mir folgen!«
»Ich möchte es gern, weil Sie so gut, so großmüthig sind!«
»Werden Sie auch dann noch mich für großmüthig halten, wenn ich Sie bitte, mich einen Blick in Ihr Leben thun zu lassen? Dieser Zauberring fordert dazu auf.«
»Um ihn einzulösen, will ich der Zeit gedenken, wo ich ihn von mir gab.«
»Dann gute Nacht, theure Herta!«
Aurel küßte der Wiedergefundenen nochmals die Hand und winkte Emma, die nicht zu reden vermochte, einen Gruß zu. Gilbert verbeugte sich mit tiefer Ehrfurcht vor der würdevollen, vornehmen Matrone.
Das Mädchen, das sie mit ihren klappernden Holzpantoffeln wieder bis an die Hausthür geleitete, sah schelmisch lächelnd in das sehr ernsthafte Gesicht Gilberts.
»Ist die Liebste untreu geworden?« flüsterte [] sie ihm zu. »Das hat man davon, wenn man ehrbare Mädchen zur Unzeit küßt.«
Sie blies das Licht aus und schob die Fremden mit sammt dem murrenden Lohndiener hastig aus der Thür, die hinter ihnen sogleich wieder fest verriegelt ward.
[] Fünftes Kapitel.
Weiße Sclaven.
Zu ungewöhnlich früher Stunde wurde Graf Adrian von seinem Kammerdiener aus dem Schlafe geweckt. Der arme Mensch sah bleich und verstört aus. Der doppelarmige Leuchter mit den Wachskerzen schwankte in seiner Hand.
Adrian erhob sich langsam aus den weichen üppigen Pfühlen und warf ihm einen funkelnden Zornesblick zu.
»Gnädigster Herr, Verzeihung!« stotterte der Kammerdiener. »Herr Vollbrecht sendet mich.«
»Um mir sagen zu lassen, daß er den Verstand verloren hat? Daran habe ich schon lange nicht mehr gezweifelt.«
»Um Vergebung, gnädigster Herr –«
»Ich will nichts hören! Zur Geschäftsstunde [] bin ich Jedermann, der sich mit Anstand naht, zugänglich.«
Adrian hüllte sich wieder in die seidene Decke und kehrte dem bestürzten Kammerdiener den Rücken zu.
»Mein Gott, was nun anfangen!« murmelte dieser ganz verzweifelt. »Erfährt er das Unglück erst später, so jagt er uns Alle aus dem Hause!«
»Du sprichst von Unglück?« rief Adrian, indem er jäh auffuhr von seinem Lager. »Wo und wem ist ein Unglück widerfahren?«
»Eben deshalb schickt mich Herr Vollbrecht vor Tagesanbruch zu Ew. Gnaden,« entgegnete der Kammerdiener mit geläufiger Zunge. »Die Spinner in der Fabrik haben die Arbeit eingestellt und sich auf dem großen Hofe in Rotten geordnet. Alles Zureden des Herrn Vollbrecht konnte sie nicht andern Sinnes machen.«
Diese Nachricht kam Adrian so unerwartet, daß er auf der Stelle sein Lager verließ und das Morgenkleid überwarf.
»Wann hat diese Unordnung begonnen?« fragte er ruhig.
»Darüber wird Herr Vollbrecht Ew. Gnaden die erwünschte Auskunft geben können,« sagte [] der Kammerdiener, indem er sich zurückzog und dem ersten Buchhalter den Vortritt gestattete.
»Sie sind von dem Vorgefallenen unterrichtet, Herr am Stein?« fragte Vollbrecht.
»Was fällt den Unsinnigen ein?« fuhr der Graf auf. »Wollten sie aus meinen Diensten gehen, so konnten sie dies in aller Ruhe thun, mir gesetzlich aufkündigen und anderwärts ein Unterkommen suchen. Dieses Einstellen der Arbeit aber nimmt die Miene eines Aufstandes an. Man wird sie zwingen und züchtigen müssen!«
»Diese Widersetzlichkeit, Herr am Stein, kann Sie nicht überraschen,« versetzte Vollbrecht. »Ich habe Sie, wie es meine Pflicht war, genau von der überhand nehmenden unzufriedenen Stimmung unterrichtet, die seit Ihrer letzten Lohnherabsetzung den Aeltesten wie den Jüngsten Ihrer Arbeiter ergriffen hat. Sie lachten meiner Warnungen, erklärten die getroffenen Maßregeln für unumgänglich nöthig und verboten mir sogar diese Angelegenheit je wieder in Ihrer Gegenwart zu berühren. – Ich erlaubte mir, Ihren Befehlen entgegen zu handeln, Ihren Zorn auf mich zu laden. Sie lachten mich aus, Herr am [] Stein! Ich flehe Sie inständigst an, wenigstens jetzt nicht mehr jene Verfahrungsart beizubehalten, die nothwendig Ihre persönliche Sicherheit gefährden muß!«
»Nun, ich will mich einmal tüchtig von Ihnen schulmeistern lassen, lieber Vollbrecht,« erwiederte mit spöttischer Miene Adrian. »Reden Sie, was beabsichtigt dies hungrige Lumpengesindel?«
Der Graf warf sich in einen mit violettem Sammet ausgeschlagenen großen Fauteuil, der neben seinem Bett stand und lehnte den Kopf mit geschlossenen Augen aus das warme nachgebende Polster.
»Wenn dies Lumpengesindel, wie Sie Ihre Arbeiter zu nennen belieben, wirklich hungrig ist,« entgegnete Vollbrecht, »so vermuthe ich, daß es Brod von Ihnen verlangen wird. Es wäre dies wenigstens sehr folgerecht. Indeß weiß ich nicht, wohin Ihr Streben geht. Meine Beobachtungen haben mir nur gesagt, daß seit der großen Lohnverkürzung sämmtliche Arbeiter eine trostlose herzzerreißende Niedergeschlagenheit ergriffen hat, der sich bei Einzelnen ein tiefer Unmuth beigesellte. Mir schien es, als habe der [] letztere zum Theil einen andern Grund. Die Arbeiter sprechen zuweilen, wenn sie sich unbeobachtet glauben, von unbekannten Verwandten des gnädigen Herrn, die – Ansprüche auf den Mitbesitz des gräflich Magnus'schen Nachlasses haben sollen!«
Adrian riß die Augen weit auf, ohne seine halbliegende bequeme Stellung zu verändern.
»Davon sprechen meine Arbeiter?« sagte er mit bittersüßem Lächeln. »Hm, daraus sehe ich, daß meine bäurischen Freunde, die ich vor ein paar Wochen etwas kühl entließ, ihre Drohungen wahr zu machen suchen. Was weiter, Herr Vollbrecht?«
»Ich muß im Voraus Ihre Verzeihung beanspruchen,« nahm der erste Buchhalter abermals das Wort, »wenn ich mit einer zweiten Mittheilung, die ich Ihnen nicht verheimlichen darf, Ihr Ehrgefühl beleidigen sollte.«
»Mein Ehrgefühl? Ich wüßte nicht, wie Sie dazu kommen sollten, Herr Vollbrecht, das Ehrgefühl des ältesten Grafen von Boberstein beleidigen zu können!«
»Verzeihung, Herr Graf! Gerüchte sind tausendzüngig und meine Kraft ist zu schwach, [] um müssigen Schwätzern die Zunge zu binden.«
»Man spricht also? – Bitte vollenden Sie! Ihre Geschichten unterhalten mich.«
»Man spricht von einem verstoßenen Bruder, Herr am Stein, von einem älteren natürlichen Sohne des hochseligen Grafen Magnus –«
»Man ist ein Schurke, wenn man so spricht!« rief Adrian mit bebenden Lippen. »Ich will den nichtswürdigen Buben wissen, der solche Schmach auf meinen Namen zu häufen sich erdreistet! Wer ist es?«
Vollbrecht schwieg einige Augenblicke. Ein summendes, dumpfes Geräusch, als ob ferner Donner in Gebirgsschluchten verhallte, ward hörbar. Graf Adrian erhob sich und trat ans Fenster. Grauer Nebel lag auf den Wellen des Sees, der vom Winde bewegt, in gleichmäßigen Pausen gegen das Ufer brandete. Das summende Geräusch wiederholte sich lauter, anhaltender, näher.
»Was bedeutet das, Vollbrecht?«
»Es ist die Stimme des nichtswürdigen Buben, der an das erwähnte Gerücht glaubt! Es sind Ihre Arbeiter, Herr am Stein!«
[] »Und was wollen sie, diese Elenden?« zürnte in ohnmächtiger Wuth der stolze Graf und Fabrikherr.
»Von ihrem Willen bin ich nicht genau unterrichtet, Herr am Stein. Ich komme nicht als ihr Abgesandter, sondern als ein Vorbote, um Sie pflichtschuldigst auf das Nächstfolgende aufmerksam zu machen. Ohne Zweifel haben die armen Menschen, die wirklich von ihrem Verdienst nicht mehr leben können, einen Entschluß gefaßt und bereiten sich jetzt vor, Sie, Herr am Stein, persönlich mit demselben bekannt zu machen.«
Adrian biß sich die Lippen blutig vor Grimm, aber er schwieg. Unverwandt starrte sein Auge auf den mit schweren Nebelwolken bedeckten See, während sein Herz vor einer Wiederholung des wüsten Geschreis zitterte, das aus den heisern Kehlen eines von ihm wahrhaft verachteten Menschenhaufens kam. Dies Geschrei wiederholte sich in der That und jetzt zwar so nahe, daß an der Ankunft der aufsätzigen Arbeiter nicht mehr zu zweifeln war. Erbleichend sah Adrian gleich darauf mehrere dunkle Gestalten wie Schatten durch den Nebel wanken und von allen Seiten das Haus umringen. Ehe er sich besinnen [] konnte, war er der Gefangene seiner mißachteten, gedrückten, mit Füßen getretenen Spinner. Es geschahen unter lebhaftem Murren heftige Schläge an die Thür.
»Wünschen Sie die Abgesandten der Arbeiter in Ihrem Schlafzimmer zu empfangen,« fragte Vollbrecht, »oder befehlen Sie, daß man sie abweisen soll? Ich bin bereit, Ihre Befehle zu überbringen.«
»Vollbrecht, Vollbrecht, wo Sie mich hintergehen!« rief Adrian drohend. »Wo Sie mit diesem Gesindel gegen mich conspiriren! – Meine Rache würde fürchterlich sein!«
»Gnädiger Herr,« entgegnete der Buchhalter, »ich bin durchaus nicht Partei in dieser unerfreulichen Angelegenheit. In Ihren Diensten habe ich nur Ihre Befehle zu vollziehen. Dieser Pflicht glaube ich bisher zu Ihrer Zufriedenheit genügt zu haben. Als Arbeiter obschon in anderem Fache und unter andern Verhältnissen, betrachte ich mich gleichermaßen als ein Bruder und Gefährte Ihrer Spinner, und war als solcher immerdar bemüht, das nicht sehr beneidenswerthe Loos dieser Unglücklichen möglichst erträglich zu machen. Nur aus diesem Grunde sprach [] ich zuweilen für sie und widerrieth Anordnungen, welche Sie, Herr am Stein, im Interesse Ihres persönlichen Vortheils für nöthig hielten. – Von dieser meiner Gesinnung sind die Arbeiter unterrichtet, denn ich machte nie ein Hehl daraus, um ihretwillen bin ich von ihnen geachtet, vielleicht geliebt, und weil ich als parteiloser, aber milder Vermittler zwischen inne stehe, nicht rechts nicht links sehend, sondern den graden Weg meiner Ueberzeugung gehend, darum glaube ich Ihnen, Herr am Stein, in diesem wichtigen Augenblicke sogar von Nutzen sein zu können. Was Sie auch befehlen mögen, aus meinem Munde werden die Arbeiter Ihren Entschluß ruhiger aufnehmen, als wenn Sie selbst ein hartes Wort zu ihnen sagten.«
Es ward von Neuem lauter und ungestümer an die Thür gepocht. Hin und wieder aus dem schmutzigen Nebel gellte ein grelles Pfeifen oder ward unter Schimpfen eine wilde Drohung laut.
»Ich muß um schleunigste Entscheidung bitten, gnädiger Herr,« sagte Vollbrecht mit Nachdruck. »Die Leute werden ungeduldig.«
»Nun gut, ich will die Rädelsführer sprechen,« [] versetzte Adrian düster. »Gehen Sie, Vollbrecht, führen Sie die Lautesten ins Speisezimmer und bedeuten den Troß, daß er sich ruhig verhalten soll! Ich will mir mit ihren Beschwerden die Ohren vollschreien lassen, um zu hören, wie der Pöbel die Worte setzt, wenn er Bittschriften überreicht.«
Während Vollbrecht den erwählten Sprechern der Spinner die Thür öffnete, kleidete sich Adrian mit Hilfe seines Kammerdieners an und ging in den Speisesaal. Dieser Saal lag zu ebener Erde und war nicht sehr groß, aber mit fürstlichem Luxus möblirt. Seidene Tapeten aus Lyon, kunstvoll gewebt und von einem prächtigen Carmoisin, bekleideten die Wände. Lehnstühle und Sopha's in verschiedenen Formen, mit entsprechendem Sammet überzogen, standen in reicher Auswahl um den länglich runden Speisetisch von massivem Mahagony. Hohe breite Spiegel, in Mahagonyrahmen, mit Rosenholz ausgelegt, waren zwischen den Fenstern angebracht. Ein erst kürzlich fertig gewordener Kamin von reinstem Alabaster, auf dessen Sims marmorne Statuen und große antike Vasen mit duftendem Blumenstaub gestellt waren, schmückte die südliche [] Ecke dieses luxuriösen Zimmers. Ein dicker, echt persischer Teppich, den Adrians jüngster Bruder vor einigen Monaten in England gekauft hatte, bedeckte den kunstreich getäfelten Fußboden.
Adrian hatte am Ahend des vergangenen Tages einige Gäste bewirthet. Es war sein Geburtstag gewesen und diesen pflegte er in Gesellschaft Gleichdenkender festlich zu begehen. Er hatte deshalb auch ein lucullisches Mahl bereiten lassen. Ueberreste desselben standen durch Nachlässigkeit der Dienerschaft, die an solchem Freudentage unbeaufsichtigt geblieben und hinsichtlich des Genusses dem guten Beispiel des Gebieters schuldigst nachgefolgt war, noch jetzt im grauen Schein des kalten Novembermorgens auf der Tafel. Halbgeleerte Champagnergläser, kastanienlaubgrüne große Römer, breite Tummler von Purpurglas und kleine goldgelbe Henkelkrüge zum Genuß heißer Getränke bestimmt, gaben einen ungefähren Begriff von der schwelgerischen Mahlzeit, die man hier eingenommen hatte. Dazwischen blinkten die hohen, prächtigen Tafelaufsätze von gediegenem Silber, zum Theil noch Familienerbstücke des alten Grafengeschlechtes, die modernen geschmackvollen Karaffen aus Kristallglas [] und die hunderterlei brillanten Kleinigkeiten, mit denen man in neuester Zeit eine festliche Tafel recht glänzend auszuschmücken pflegt.
In dieses von Wein und Speisen noch duftende Zimmer begab sich Adrian, um in dem prächtigsten der rothsammtenen Sessel seine Sclaven zu erwarten. Hierher führte Vollbrecht die darbenden, vor Frost und Hunger klappernden Spinner. Der Zufall oder die göttliche Vorsehung hätte keinen passenderen Ort für die folgende Unterredung wählen können.
Adrian hatte kaum mit einem mißbilligenden Blicke auf die noch herrschende Unordnung im Zimmer seinen Platz eingenommen, als Vollbrecht die Flügelthüren des Saales öffnete und vier bis fünf Männer einließ.
»Herr am Stein will Euch anhören,« sprach er zu den frühen Gästen mit seiner milden, herzgewinnenden Freundlichkeit. »Klagt ihm Euer Leid, entwerft ein Bild Eurer Noth und gewiß, Eure Worte werden nicht unbeachtet verklingen!«
Vollbrecht betrat zugleich mit den Arbeitern das Speisezimmer, dessen schimmernde Pracht jetzt nur von einigen wenigen tief herabgebrannten Wachslichtern, welche ein Bedienter in größter [] Eile angezündet hatte, undeutlich, aber desto bezaubernder, erleuchtet wurde.
Diese fünf Männer waren Spinner aus der Fabrik. Sie gingen in groben geflickten Beinkleidern von weißgrauer Leinwand, trugen Holz- oder Lederschuhe und hatten über das bloße zerrissene Hemd zum Schutz gegen den rauhen feuchten Novembermorgen eine tuchene Jacke gezogen, die über der Brust zugeknöpft war bis an den Hals und die heraushängenden Zipfel eines baumwollenen rothen oder blauen Tuches sehen ließ. Ihre Pelzkappen hielten sie in den Händen oder unter den linken Arm geklemmt.
Anführer dieser verzweifelten Abgesandten einer aufs Aeußerste getriebenen Arbeiterschaar war Martell, der Feinspinner.
Eine unwillkürliche Bewegung des Erstaunens ließ die Eintretenden ein paar Augenblicke stutzen. Die ungeahnte Pracht des Zimmers blendete sie, verwirrt schlugen sie die Augen zu Boden. Nur Martell ließ seine finstern blitzenden Augen über Wand und Boden laufen, um all' den stolzen Luxus, der höhnend ihrer Noth in's bleiche Antlitz lachte, mit einem Blick aufzufassen. Sein eingefallenes erdfahles Gesicht[] färbte sich während dieser Musterung allmälig immer dunkler, bis es in der unsichern Helle dunckelbraun erschien. Verworren, wild, in lockigem Geringel hing ihm das rabenschwarze glänzende Haar in Stirn und Nacken. Mit einem tiefen Seufzer, der wie ein Todesröcheln klang schlug er beide Arme über seine breite Brust und trat dem Grafen um einige Schritte näher.
»Herr am Stein!« sagte er sanft und fast traurig.
Adrian, der bisher gethan hatte, als sei außer ihm Niemand im Zimmer, warf stolz den Kopf zurück und erwiederte:
»Blos weil Ihr Euch erfrecht habt, mich wie Räuber zu überfallen, gebe ich Euch Gehör, Macht es kurz, Aufrührer, damit ich die Schuldigen später zur Strafe ziehen kann!«
»Wir sind keine Aufrührer, Herr am Stein, wir sind blos arme unglückliche Menschen, die vom Elend müde gehetzt ihre letzten Kräfte zusammennehmen, um dem Manne, in dessen Hand allein unser kleines irdisches Glück liegt, eine Bitte an's Herz zu legen.«
»Ihr habt eigenmächtig die Arbeit eingestellt, habt die Maschinen verlassen und stundenlang [] gefaullenzt. Ich werde dafür Schadenersatz von Euch fordern, vor Gericht!«
»Fordern dürfen Sie, was Ihnen beliebt,« entgegnete, die Augenbrauen zusammenziehend, Martell, »das Geben wird von uns abhängen. Wir haben kein Geld, kein Gut, wir haben nur Thränen und verzweiflungsvolle Blicke! Herr am Stein, im Namen aller Fabrikarbeiter trete ich in Gesellschaft dieser rechtlichen Männer am frühen Morgen zu Ihnen und flehe, flehe Sie aus tiefstem Herzensgrunde an: haben Sie Erbarmen mit Ihren Knechten! Wir arbeiten mit unsern Weibern und Kindern zu Ihrem Wohle und Ruhme Tag und Nacht, wir arbeiten gern und willig, aber unser Fleiß, unsere Arbeitslust muß erschlaffen, wenn es uns aus Mangel an Nahrung an der erforderlichen Kraft gebricht! – Ihr Lohn, Herr am Stein, wie er uns seit drei Wochen ausgezahlt wird, ist zu gering! Wir können dabei nicht mehr bestehen, wir müssen langsam verhungern! Darum bitten wir Sie im Namen Tausender: erhöhen Sie ihn wieder und wir Alle werden Sie preisen und auf Händen tragen!«
Adrian schlug die Beine über einander, zog [] einen der schweren eiselirten silbernen Armleuchter zu sich heran, gab dem Rollstuhle einen Stoß, daß er die Mitte der Tafel erreichte, und griff nach einem goldenen Cigarrenetui. Dies öffnend nahm er eine der feinsten Havannacigarren heraus und zündete sie an. Nun erst erwiederte er:
»Es thut mir leid – allein, wenn Ihr mir weiter nichts mitzutheilen hattet, bedaure ich, daß Ihr Zeit und mithin Geld verloren habt! Wer sich bei mir zurückgesetzt glaubt, kann gehen! Ich halte ja Niemand, zwinge Niemand, mir zu dienen! Lieber Gott, was will man denn noch? Freier bewegt sich auf Gottes weiter Erde kein König und kein Kaiser, wie meine Arbeiter!«
»Dieser Scherz, Herr am Stein, ist sehr bitter,« entgegnete Martell. »Obwohl arm, haben wir doch ein Herz, das eben so gut und tief fühlt, wie das Ihrige. Was Sie Freiheit nennen, ist unser aller Joch, unter dessen entsetzlicher Last wir sterben.«
»Das scheint mindestens sehr langsam zu gehen, Martell; denn an Deinen und Deiner Genossen Gliedmaßen sehe ich noch keine Todtenflecke.«
[] Wieder trat die dunkle Röthe des schwer verhaltenen Zornes auf Martells Wangen.
»Ja,« sagte er, mit Mühe seine Entrüstung bekämpfend, »es geht freilich recht langsam, so fürchterlich langsam, daß man es mit Fug und Recht eine ausgesuchte Folterqual nennen kann. Wir sterben hundertmal halb, ehe sich der Tod unseres Elendes ganz erbarmt! Und, Herr am Stein, wir haben auch Weiber, haben Kinder! Wissen Sie, wie diese Schwachen leiden? Wie sie die Ohnmacht der Natur durch Ueberspannung reizen, um für Sie, hören Sie, für Sie zu arbeiten? Es ist das ein Anblick zum Erbarmen, der jedem rechtlichen Vater gar sehr, sehr wehe thut!«
»Gott Lob,« entgegnete Adrian, der Himmel hat mich mit dem Amt eines Armenpflegers verschont! Wenn ich mich nicht speciell um das Lamento jedes quakelnden Kindes oder hüstelnden Weibes kümmere, so handle ich nur christlich; denn es heißt, wie Euch bekannt ist, »was Deines Amtes nicht ist, da laß Deinen Fürwitz.« Ich will mich solchen Fürwitzes nicht theilhaftig machen, sag' ich Euch.
Martell warf seine abgetragene Mütze auf [] den kostbaren Teppich und stampfte wüthend mit seinen groben nägelbeschlagenen Schuhen darauf.
»Herr am Stein,« rief er aus und packte die Platte des mit den Ueberresten des schwelgerischen Nachtmahls noch schwer beladenen Tisches, »Herr am Stein, Sie verdienten, daß man Sie just so behandelte, wie ich hier meine elende Kappe!«
Die schwarzen Augen des Spinners rollten wie glühende Kohlen in ihren Höhlen, jede Muskel seines Körpers bebte, jeder Nerv zitterte. Er fühlte tausend Pulse in sich klopfen.
»Es freut mich, Martell, daß Du so viel Lebensart besitzest, Deinen lächerlichen Verdruß in meiner Gegenwart an einem Kleidungsstück auszulassen, das jedenfalls an solche Behandlung längst gewöhnt ist. Komm, trink ein Glas Wasser, um Dich abzukühlen. Die ungewohnte Unthätigkeit macht Dich üppig! Hier, auf Dein Wohl, auf Deine Rückkehr zur Besonnenheit! Ich kredenze es Dir mit eigener Hand.«
Wirklich füllte Adrian eins der prächtigen Mundgläser von blauem Glas und reicher Vergoldung, auf denen das stolze Wappen der Boberstein prangte, mit abgestandenem Wasser [] und reichte es lächelnd dem Unglücklichen.
Bei diesem neuen entsetzlichen Hohne ver mochte Martell sich nicht mehr zu bändigen. Ein Faustschlag schleuderte das Glas aus Adrians Hand und warf es in hundert Stücken auf den Teppich.
»Meine Brüder!« rief er, sich zu seinen Gefährten wendend, »Gott will es, daß wir Hand an ihn legen sollen! Er spottet unser Noth, spotten wir denn seines Ranges! Die Zeit des Bittens ist vorüber, erzwingen wir, was der Unmensch uns nicht freiwillig gewährt!«
Martell trat beherzt auf Adrian zu, zögernder schlossen sich die vier andern Spinner ihm an. Ehe jedoch Martell den Grafen erreicht hatte, war dieser kaltblütig aufgestanden, um den Erbitterten, Gereizten zu empfangen. Zugleich trat Vollbrecht zwischen ihn und seine Gefährten.
»Keine Gewaltthat, meine Lieben, ich bitt' Euch!« sagte der gutmüthige Buchhalter.
»Ich danke Ihnen, lieber Vollbrecht,« fiel Adrian ein, »indeß bedarf ich nicht Ihrer Dazwischenkunft. Auf dergleichen Komödienspiel ist man vorbereitet, wenn man mit ungehorsamem [] Pöbel zu thun hat. Sie sehen, ich kann diese remarkable Scene mit einem vortreflichen Knalleffect endigen.«
Eine doppelläufige Pistole blitzte in der Hand des Grafen. Die Hähne knackten und beide Läufe richteten sich auf die unbeschützte Brust Martells. Gelassen setzte sich der Graf wieder und rauchte ungestört seine Cigarre.
»Wenn es beliebt, können wir jetzt die Unterhandlungen mit einiger Bequemlichkeit fortsezzen,« sagte er zu dem wehrlosen Spinner. »Wir kennen uns jetzt und wissen, was Jeder von dem Andern zu erwarten hat. Sprechen wir uns also ohne allen Rückhalt offen gegen einander aus. Du hast das Wort, Martell.«
Diese unerwartete Ruhe und überlegene Kälte verfehlte nicht ihren Eindruck. Martell mäßigte sich ebenfalls, ohne seinen Zweck aufzugeben.
»Ich bitt' um Vergebung,« erwiederte er mit gebrochener Stimme. »Ich übereilte mich, die Angst meines Herzens, die Noth meiner Mitbrüder und Freunde riß mich hin. Erlauben Sie nur, Herr am Stein, daß ich die Frage an Sie [] richten darf: wie sollen wir leben, wenn Sie auf Ihrer Weigerung beharren?«
»In fremde Angelegenheiten mische ich mich nicht; das ist Eure Sache.«
»Es ist auch die Ihrige, gnädiger Herr! Ihre Fabrik leidet, wenn die Arbeiter leiden.«
Adrian zuckte die Achseln. »Eine Zeitlang, vielleicht! Sehe ich, daß die alten Kräfte verbraucht sind, so muß ich für neue sorgen.«
»Und was soll aus den alten verbrauchten werden?«
»Man dankt sie ab.«
»Wie nennen Sie das?« fragte Martel eiskalt und seine Blicke lagen wie Dolchspitzen auf dem Gesicht Adrians.
»Lebensklugheit, auch Speculation, wenn Du willst. – Das Alte, Abgenutzte wird überall bei Seite geworfen, um dem Neuen und Kräftigen Platz zu machen. Es ist der Lauf der Welt, nichts weiter!«
»Gott und wir Armen, die wir Gottes sein sollen nach der Schrift, eben weil wir nichts haben,« versetzte Martell mit entsetzlichem Lächeln, »wir nennen das unmenschlich, ohne alle Nebenbedeutung, Herr am Stein, wenn Sie wollen.«
[] Adrian zuckte abermals die Achseln und rauchte mit noch größerem Behagen seine Cigarre.
»Wir sollen also wirklich verhungern, wenn Ihr jetziger Lohn uns nicht mehr ernähren kann?« fragte Martell noch einmal.
»Ich muß Euch wirklich das ganz allein überlassen,« antwortete Adrian. »Lebt wie Ihr könnt, ich thue dasselbe.«
»Ha, ha, ha, ha!« lachte Martell laut auf. »Er lebt wie er kann! – O himmelschreiende Gotteslästerung! – Er lebt wie er kann! Mensch, Unmensch, heißt dies leben, wie ein vernünftiges Geschöpf Gottes?« Martell ging mit großen Schritten um den gedeckten Tisch und deutete auf die übrig gebliebenen Leckerbissen. – »Nur vornehme Sünder wagen es, so zu schwelgen, während tausend Arme, die für sie arbeiten, hungrig zu Bett und hungrig wieder an die Arbeit des nächsten Tages gehen müssen! Gott hat es gehört, das Stöhnen meines hungernden Weibes in vergangener Nacht, er hat Wimmern meiner Kinder vernommen, die ihre Hände nach mir, ihrem Ernährer, ausstreckten und um Brod, nur um eine kleine Krume[] Brot baten! – Ich konnte ihnen nichts, gar nichts geben. Ein kalter Blick der Verzweiflung war meine Antwort. Aber tief im Herzen und bei dem ewigen Heil, an das ich glaube, gelobte ich mir, mit Dir ein ernstes Wort zu sprechen. Wie ich, dachten alle meine leidenden Brüder. Sie jauchzten mir zu und von ihnen bevollmächtigt kamen wir fünf Männer hierher. Und wen haben wir getroffen!«
»Einen consequenten Mann, will ich hoffen,« sagte Adrian.
»Einen Mann ohne menschliche Regung! Einen Mann, dessen Herz von Granit ist, wie die Felsen, auf denen sein Sclavenzwinger ruht! Einen Mann, der Unglückliche verhöhnen kann, während ihm noch die sardanapalische Mast des vorigen Abends aufstößt! O einen Mann, dem alle Guten fluchen und dessen Untergang ein Segen sein würde für Millionen!«
»Du hättest studiren sollen, Martell. Zu einem Stegreifredner scheinst Du Anlage zu haben. Indeß der Tag bricht an, wie ich sehe, und da denn doch einmal Alles ein Ende nehmen muß, so bitte ich, falls mein Bescheid Dir und Deinem liederlichen Anhange genügt, diese [] Unterredung zu schließen. Ich erlaube Dir auch für die gehabte Mühe Deinen Gaumen durch ein Glas Wein aufzufrischen und ein Frühstück einzunehmen von den Leckerbissen, die, wie es scheint, Deinen Appetit so ungewöhnlich erregen, daß Du auf der Stelle die Beschreibung einer leibhaften Hungersnoth improvisirst.«
Martell wandte sich mit Abschen ab. Seinen schwarzen Lockenkopf schüttelnd sagte er verächtlich:
»Behüte mich Gott vor solchem Frevel, Herr am Stein! Der Bissen, den ich aus diesen silbernen Schalen zum Munde führte, würde sich auf meiner Zunge in Gift verwandeln! Ein Vater kann so hart sein, daß er thränenlos sein Weib, seine Kinder vor Hunger hinsterben sieht, so grausam, so cannibalisch aber ist er nicht, daß er von dem Herzblut dieses geliebten theuren Weibes, dieser ihm von Gott geschenkten Kleinen seinen Hunger stillen könnte! – Das, Herr am Stein, können nur die Reichen, denen das Gespenst der Armuth nicht allnächtlich als Gardine das Lager umfängt!«
Martells Begleiter sahen einander an und traten dem unerbittlichen Fabrikherrn näher.
[] »Haben Sie Erbarmen mit uns,« sagte der Eine.
»Gott der Herr wird's Ihnen vergelten immer und ewiglich!« rief ein Anderer.
»Wir müssen sonst schlecht, wir müssen Diebe und Räuber werden!« grollten die übrigen.
Vollbrecht trat ebenfalls hinzu. Mit gefaleten Händen, mit einem Blick des tiefsten Bedauerns und mit flehentlich bewegter Stimme sprach er:
»Herr am Stein, ich vereinige meine Bitten mit denen dieser Männer. Es ist unmöglich, daß sie bei ihrem jetzigen Lohne leben und ehrlich fortkommen können; es ist aber auch gewissenlos und unverantwortlich, fleißige Menschen nur deshalb zur Verzweiflung zu treiben, weil mit Durchführung eines geschickt ausgedachten Systems ein Mehrgewinn erzielt wird, der zu späterer Vergrößerung des Geschäftes wesentlich beiträgt.« – Ich bitte, hören Sie mich aus, Herr am Stein! – Die Erfindung der Maschinen, welche dem menschlichen Scharfsinn Ehre macht, wird nur dann eine Wohlthat für Volk und [] Staat, wenn sie dem Arbeiter die Last der Arbeit erleichtert. Die Maschine ist nicht dazu da ihren Besitzer zu bereichern, sondern dem Arbeiter leichter als durch seine Hand ein sicheres und gutes Auskommen zu gewähren. Die Maschine kann das, wenn ihr Besitzer es will. Es gibt aber leider der Maschineninhaber nur wenige die sich zu dieser einfachen Ansicht erheben. Sie betrachten ihre Riesenkraft als ein unverwüstliches Kapital, das zu mehren ihnen zusteht, in welcher Weise es ihnen beliebt, und weil sie die Macht besitzen und die dämonische Kraft dieser Macht kennen, werden sie grausam und verwandeln die Wohlthat dieser segensreichen Erfindung in einen Fluch, der unaussprechliches Elend über die Welt verhängt. – »Herr am Stein, Sie bekennen sich zu diesen unbarmherzigen Egoisten, ich sage es offen, und Sie entehren sich selbst in den Augen jedes Biedermannes, wenn Sie länger das gerechte Anliegen dieser Armen von sich weisen!«
Mittlerweile war es Tag geworden. Die Morgenröthe durchbrach den Nebel und warf matte Lichter in den Saal und auf die von [] Kummer und Leidenschaft durchfurchten Gesichter der Arbeiter. Adrian nahm die Cigarre aus dem Munde und spielte mit der Pistole.
»Auf Ihre meisterhafte Rede, lieber Vollbrecht, werde ich späterhin antworten,« sagte er mit vornehmem, glattem Lächeln. »Vor der Hand ein letztes Wort mit diesen zudringlichen Menschen.«
Er kehrte sich nachlässig zu Martell, der seitwärts stand mit verschränkten Armen und unheimlich gerunzelter Stirn.
»Ihr seid also unzufrieden in meinen Diensten?« sagte er. »Ja oder nein!«
»Weil wir so nicht bestehen können.«
»Ja oder nein!«
»Ja!«
»Was gedenkt Ihr zu thun, wenn ich dennoch aus höchst wichtigen Gründen Eure Klagen unberücksichtigt lasse?«
»Von Gott kommen gute Gedanken. Gott allein weiß es!« rief Martell.
»So vertrauet auf Gott; er wird Euch helfen,« sagte Adrian und stand auf. »Und nun [] habt Acht auf das, was ich Euch sage! – Ihr habt durch Euer unbesonnenes, thörichtes und strafbares Betragen fast eine halbe Arbeitsfrist versäumt und mir dadurch sehr beträchtlichen Schaden zugefügt. Aus besonderer Rücksicht und Menschenfreundlichkeit will ich das vergessen und Euch verzeihen, wenn Ihr ohne Murren sofort in alter Ordnung und Pünktlichkeit die Arbeiten wieder aufnehmt. Martell allein wird mir Rechenschaft ablegen. Seid Ihr damit zufrieden?«
Die Spinner murmelten unverständliche Worte.
»Ja oder nein!« rief Adrian herrisch. »Weigert Ihr Euch nur noch minutenlang, so entlasse ich Euch in Masse und suche mir andere Arbeiter. Die Fabrik gehört mir, das Geld ist mein, ich kann Arbeit geben, wem ich will, und diese Arbeit bezahlen, wie ich will. Wem das nicht ansteht, der gehe in Gottes Namen seiner Wege. Ich halte Keinen. – Trotzen aber lasse ich mir nicht, am wenigsten von Leuten, die ich erhalte. Und ehe ich nur um eines Haares Breite von meinem Vorsatze abweiche, soll meinenthalb das Werk vierzehn Tage still stehn! Gehorsam will [] und befehle ich! Dem blind Gehorchenden werd' ich ein gütiger Herr sein! – Jetzt geht!«
Diese Antwort war ein Donnerschlag für die armen Spinner. Mit gesenktem Haupt standen sie vor dem allgewaltigen Herrn, nicht wissend, was sie ihm antworten, wozu sie sich entschließen sollten. Da erhob. sich von außen ein lautes Geschrei, das immer heftiger wurde und schnell dem Hause näher kam. Adrian verfärbte sich und ließ einen langen Blick durchs Fenster fallen. Ueber den See der jetzt vom Nebel frei war, kam die Fähre, mit Menschen und Waarenballen belastet. Einige Kähne mit Frauen und Mädchen hatten theils grade angelegt, theils waren sie im Landen begriffen. Aus dem mehrmals sich wiederholenden Geschrei konnte man deutlich eine klagende Frauenstimme unterscheiden. Sie kam näher und näher. Ein Rudel Menschen drängten zur Thür, die Stimme erklang im Hause selbst.
Vollbrecht öffnete die Saalthür. Ein bleiches Weib, kümmerlich in leichte Kleidung gehüllt, mit verworrenem, flatterndem Haar, ohne Kopf- und Brusttuch, nacktarmig und mit einem [] Wahnsinnsblick im Auge, stürzte schreiend und händeringend in das goldstrahlende Prunkgemach und warf sich vor Adrian auf die Knie.
»Herr am Stein, Sie müssen es wieder lebendig machen,« rief sie hohl und dumpf, »oder ich verfluche Sie mit den gräßlichsten Flüchen!«
Es war Lore, Martells Weib. In ihrer Verzweiflung hatte sie ihren Mann nicht bemerkt. Stier und gläsern das weit aufgerissene Auge, über dessen Lider dicke Thränen auf die erdfahlen Wangen herabrieselten, auf Adrian geheftet, lag sie zitternd auf dem Teppich. Man hörte das Zusammenschlagen ihrer Zähne.
»Lore, mein Weib!« rief Martell und streckte beide Hände nach der Armen aus.
Die Unglückliche wendete sich um. Ein mildes Lächeln lief über ihr schmerzzerrissenes Antlitz, wie ein goldener Sonnenblick über eine verwüstete Landschaft. »Martell,« sagte sie gerührt, die rechte Hand dem Gatten entgegenstreckend, »er ist todt unser Hans! Hier an dieser verwelkten Brust ist er gestorben! Er wimmerte der gute, liebe Knabe, wimmerte immer leiser, [] bis ein Lächeln seine bleiche Lippe krümmte. Und in diesem Lächeln küßte ihn der Engel des Todes. – O mein Kind, mein armes Kind!«
Martell hatte mit entsetzlicher Ruhe diesen Bericht angehört. Jetzt wendete er Blick und Antlitz wieder dem Grafen zu.
»Mörder!« sprach er düster, »Mörder meines Kindes! Vor Gottes Throne werde ich Dich anklagen! Jetzt sollst Du frei ausgehen.«
Er hob Lore mit sanfter Gewalt auf und wollte sie fortführen.
»Geht an die Arbeit!« sprach er barsch zu seinen Begleitern. »Spinnt, bis Euch die Finger verkrummen und Gott ein Wunder thut.
Und er wird es thun, ich weiß es; es müßte denn in seinem Rathschlusse beschlossen worden sein, daß die Welt untergehen solle!«
Neues Klopfen und ein Zurückweichen der Menge vor der äußern Thür machte die im Zimmer Versammelten aufmerksam. Durch die weit aufgehenden Flügelthüren traten einige Gerichtsdiener ein. Alle erstaunten und sahen einander an.
»Treffen wir hier den hochwohlgeborenen Herrn Grafen Adrian von Boberstein, genannt [] Herr am Stein?« fragte der Stattlichste dieser unheimlichen Ankömmlinge.
Adrian verneigte sich. Der Gerichtsdiener griff in seine Rocktasche und langte ein großes, versiegeltes Schreiben hervor, das er mit kalter Verbeugung dem Grafen überreichte, indem er sprach:
»Vom Landesgericht zu Görlitz.«
Adrian sah ihn erstaunt an, riß das Sigel auf und warf einen Blick in das Schreiben. Die Umstehenden bemerkten, daß seine Hand zitterte.
»O Sloboda! Sloboda!« murmelte er zwischen den Zähnen. »Er hat's erreicht, ein falscher Boberstein ist aufgefunden!«
Erschöpft sank er in seinen prachtvollen Fauteuil und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.
»Das ist Gottes Hand!« rief Martell. »Er ist mit den Gerechten! Geht, Brüder, an Euer Tagewerk, ich aber, ich will mein gemordetes Kind begraben.«
Schluchzen erstickte seine Stimme. Er schloß Lore in seine Arme, küßte das arme Weib auf Stirn und Mund und führte sie aus dem glänzenden Saale. Die Uebrigen folgten dem trauernden [] Paare schweigend. Auch Vollbrecht schloß sich den Spinnern an. Allein, von tausend Zweifeln gepeinigt, von innerm Frost geschüttelt, blieb Adrian zurück in der kalten Pracht seines modernen Palastes.
[] Sechstes Kapitel.
Die Zusammenkunft.
Wohl eine Stunde verharrte Graf Adrian in dieser Stellung. Niemand störte seinen Gedankengang. In und außer dem Haufe, überall war Todtenstille. Der schreiende Haufe seiner Spinner war auseinandergestoben, Vollbrecht und die Diener waren verschwunden. Er hatte vollkommen Zeit, über sich und seine Lage nach zudenken.
Als er die Augen wieder aufschlug, fielen sie auf die gerichtliche Vorladung. Von Neuem erwachte sein Grimm und machte sich in Worten Luft.
»Fluch diesem Sloboda, diesem grauhaarigen Schuft von Maulwurffänger!« rief er aus. »Gewiß, es ist blos eine freche Erfindung, mit [] der sie mich schrecken und einschüchtern wollen, denn wo ist gleich ein Boberstein vorhanden mit allen erforderlichen, unwiderleglichen Papieren? – Irgend ein Landläufer muß sich dazu hergegeben haben, diesen elenden Plebejern für ein Stück Geld zu willfahren. Aber ich werde ihre Schliche aufdecken, ich werde die Lügner entlarven und dann, wehe Euch, schamlose Buben! Erbarmungsloser als mein von Euch so hart geschmähter Vater werd' ich dann mit Euch verfahren!«
Ein Bedienter trat ein.
»Was gibt es?«
»Der Briefbote ist angekommen, gnädiger Herr. Wenn Sie ihn etwa persönlich sprechen wollen – im Comptoirzimmer wartet er Ihrer Befehle.«
Adrian war sehr erfreut von dieser Botschaft. Er verließ die kalten prunkvollen Räume des Speisesaales, steckte die Citation zu sich und ging nach dem Comptoir. Unterwegs warf er einen Blick auf die weißen Gebäude, auf die thurmhohen rothbraunen Schornsteine der Fabrik. Sie rauchten und das surrende Getön, das aus der Luft herabklang, sagte ihm, daß die Spinner [] wieder an ihre Arbeit gegangen waren. Diese Entdeckung machte ihn um Vieles zuversichtlicher und gab ihm die angeborene feste Zähigkeit des Willens wieder, die eine Zeit lang ihn verlassen hatte.
Unter den vielen Geschäftsbriefen befand sich auch ein Schreiben Aurels. Es war kurz und derb, wie der Kapitän es liebte, und verkündigte dem älteren Bruder seine nahe Ankunft. Adrians Züge nahmen einen spöttischen Ausdruck vornehmen Uebermuthes an, der in glücklicher Gefühlsstimmung wie eingemeißelt auf ihnen lag. Adalbert konnte jede Minute eintreffen, Aurel näherte sich mit Sturmeseile – was sollte er, von seinen geliebten Brüdern umgeben, noch für das Haus Boberstein fürchten, das von Allen mit gleicher Liebe umfaßt ward, für das Jeder sein Leben in die Schanze geschlagen hätte?
»Alle diese Stürme werden vorübergehen,« rief er sich voll Selbstvertrauen zu, »und sich in der Stille beruhigen, wie diese gewagte und so drohend aussehende Demonstration meiner Spinner. Hatte ich nicht vorausgesehen, daß es dahin kommen mußte, und wird nicht gerade dieser erfolglos gebliebene Aufstand sie mir rückhaltlos [] in die Hände liefern? – Diese elenden Creaturen müssen mir dienen, weil sie ohne mich keinen Tag leben können. Ich bin ihr Herr, ihr Gott! Nicht blos ihre Hütten, auch ihre Leiber und Seelen gehören mir! Es bedurfte nicht dieses unheimlichen Martell, um mir eine Wahrheit in's Gesicht zu geifern, über die ich längst reifliche Betrachtungen angestellt habe. Der Mensch ist mir verhaßt, ich fürchte seine entsetzlichen Blicke. Am besten, er wird mit Weib und Kind entfernt. Ich muß das Wie in Ueberlegung ziehen. – Ein fataler Zufall, daß sein Bube an der Verwundung gestorben ist! Diese Brust verträgt nichts mehr, wie ich sehe. Ehedem, etwa zu meines Vaters unverweichlichten Zeiten, hätte Niemand eine Miene deshalb verzogen, und noch weniger über die versuchsweise Behandlung meines Chirurgen. – Allerdings gestand mir der Mann zu, daß es ein Versuch auf Tod und Leben sei den abgequetschten Fuß so rasch zuheilen zu lassen, doch was thut's? sagte er lachend. Wie soll die Wissenschaft Fortschritte machen, wenn es ihr nicht erlaubt wäre, neue Mittel zu erproben, an einzelnen Patienten zu experimentiren? Die Armen, [] welche nur um Gotteswillen behandelt werden müssen, sind die wahre Goldsaat der Aerzte und Wundärzte. An ihnen rankt sich die Wissenschaft empor, wie die Rebe am Stock. Gehen sie dabei zu Grunde, so ist der Gewinn auf beiden Seiten. Der Leidende wird seiner Qual enthoben, und der Experimentator geht klüger von dem Sterbebett des Geopferten, ohne die geringste Verantwortung befürchten zu dürfen. Ueber den Tod eines Armen, wäre er auch noch so auffallend, kräht kein Hahn. Gott erhalte die Armuth!«
Während Adrian diesen Sermon seines gewissenlosen Fabrikchirurgen zu seinem eigenen Ergetzen sich wiederholte, hatte er sämmtliche mit dem Postboten empfangene Briefe durchlesen und sich einzelne Notizen an den Rand derselben gemacht. Ein neuer Transport Waaren war inzwischen über den See geschafft worden, ohne daß Adrian darauf achtete. Es war ihm daher ein vornehm gekleideter Herr entgangen, der eine junge schöne Dame am Arm auf der Fähre auf-und nieder schritt. Daher überraschte ihn die frohe Meldung des Bedienten, daß Graf Adalbert von Boberstein so eben mit seiner Gemahlin [] auf der Insel gelandet sei und den gnädigen Herrn zu begrüßen wünsche.
Adrian kleidete sich zum Empfange seiner Schwägerin mit größter Eleganz schleunigst an und eilte nach dem Salon, wo er die heiß Ersehnten seiner bereits warten fand. Die Begrüßung beider Brüder war warm und herzlich, und trug den Charakter wirklicher Aufrichtigkeit und verwandtschaftlicher Zuneigung.
Von den drei Gebrüdern Boberstein war Adalbert der vornehmste. Aus Ueberzeugung und Neigung Aristokrat achtete er gleich seinem Vater Magnus das Volk nicht. Er vermied mit ihm zusammenzukommen, hatte aber nichts dawider, daß man es klug und mit Vorsicht benutze, um sich zu bereichern und das in größter Fülle zu verschaffen, was neuerdings dem Adel allein noch Glanz und Nachdruck verleihen kann, nämlich Geld! Deshalb willigte er auch in die speculativen Pläne seines älteren Bruders, doch nur unter der Bedingung, daß er selbst mit Arbeitern und ähnlichem Volk nicht das Mindeste zu schaffen habe. Weil es ihm nicht an Kenntniß und Scharfsinn gebrach, ja eine gewisse vornehme List ihm zu Gebote stand, die fast den Namen [] Instinct verdiente wegen der eigenthümlichen Weise, in der sie sich geltend machte, so übernahm er gern das erheiternde Geschäft eines im Interesse ihrer großartigen Speculation reisenden Kaufherrn. Reisen war Adalberts Leidenschaft und dieser konnte er auf bequemere Weise nicht fröhnen. Was ihn persönlich anekelte, wußte er stets mit unnachahmlicher Gewandtheit brieflich oder durch Unterhändler abzumachen, die seinen aristokratischen Launen nicht anstößig erschienen.
Adalbert war seit zwei Jahren mit Beatrice, einer sehr schönen jungen Dame aus fürstlichem Geblüt, vermählt, und hatte aus dieser Ehe ein blühendes Töchterlein, der einzige legitime Sprößling, dessen sich zur Zeit das Haus Boberstein rühmen konnte. Beatrice, nicht weniger vornehm und adelstolz, dabei anmuthig und in hohem Grade liebenswürdig, beglückte ihren Gatten wahrhaft. Dieses Paar lebte, wie bereits andeutet wurde, für gewöhnlich auf seinem Edelsitz in Schlesien, einer einträglichen Herrschaft, zu welcher auch das Dorf gehörte, wo Leberecht mit Frau und Sohn unter Sorge und Kummer sein sauer erworbenes Brod aß.
Wer diese drei Brüder neben einander sah, [] würde Adalbert für keinen Boberstein gehalten haben. Er ähnelte weder Adrian noch Aurel, noch erinnerte irgend ein Zug an Magnus. Nur wenn er sich mit einer Dame unterhielt, die seine Phantasie beschäftigte, zeigte sich ein flüchtiges Zucken um seinen Mund, das eben so seinem ausschweifenden Vater eigenthümlich gewesen war und das in Aurels Gesicht bei jedem Lächeln zum Vorschein kam.
Graf Adalbert war groß und schlank, hatte durch aus die Tournüre eines vornehmen Mannes und trug sich stets nach der neuesten Mode, ohne sich ängstlich an ihre Gesetze zu binden. Auch der Schnitt seiner Kleidung war aristokratisch zu nennen, zugleich elegant und graziös ungenirt.
Diesen Mann mit den großen hellgrauen Augen drückte Adrian wiederholt an sein Herz, nachdem er zuvor seine Schwägerin ehrfurchtsvoll begrüßt hatte. Adalbert erwiederte Handschlag und Umarmung mit gleicher Herzlichkeit und zeigte sich hoch erfreut, endlich nach sehr langer Zeit wieder einmal den Stammboden ihrer Familie betreten zu können.
»Ich habe mich eingerichtet, lieber Bruder, nöthigenfalls ein paar Wochen bei Dir zu bleiben,« [] sagte Adalbert, »leider unter der traurigen Bedingung, den beglückenden Umgang meiner Beatrice alsdann längere Zeit entbehren zu müssen. Sie reist zu ihren Aeltern und wird sich demnach blos zwei bis drei Tage hier verweilen können.«
»Vielleicht gelingt es mir oder unserm vielgereisten Bruder Aurel, der stündlich eintreffen kann, diesen Entschluß der gnädigen Frau wankend zu machen,« versetzte Adrian, indem er Beatrice die Hand küßte. »Ich habe hier freilich nicht die rauschenden Zerstreuungen der Residenz, dafür aber ein lustiges und unterhaltendes Waldleben. Und die Eigenthümlichkeiten eines Fabrikvölkchens, die Gräfin Beatrice noch gar nicht kennt, werden kleine Reize genug darbieten, um einige Zeit meiner schönen Schwägerin eine angenehme Unterhaltung zu gewähren.«
»Ich verstehe nur so wenig von Industrie und was mit ihr zusammenhängt,« fiel Beatrice ein, »daß ich zu viel Zeit brauchen würde, um nur einen Begriff davon und mit dem Begriffe den Sinn dafür zu erhalten.«
»Ueberlassen Sie mir das ganz allein, gnädige[] Frau. Ich schmeichle mir, von Ihnen das Zeugniß eines geschickten Lehrers zu erhalten.«
»Nun denn,« erwiederte Beatrice, »auf diese Bedingungen hin will ich über meine Zeit noch nicht verfügen. Es wird von Ihrem Erfindungsgeist, von Ihrer geselligen Gewandtheit, von Ihrem Lehrertalent abhängen, ob ich gern Ihre Schülerin bleiben werde oder mich ganz heimlich auf und davon schleiche.«
Beatrice reichte Adrian freimüthig ihre unvergleichlich schöne Hand und Adrian versäumte nicht, während er sie sanft in der seinigen drückte, einen tiefen Blick in die blauschwarzen Augen der Schwägerin zu thun, dessen Feuer sie nicht ertragen konnte.
»Diese erste Conspiration wäre sonach vortrefflich eingeleitet,« sagte Adalbert lachend. »Haben die übrigen Verschwörungen, die uns ja doch hier zusammenführen, gleich raschen Fortgang, so dürfen wir um ein erwünschtes Endresultat nicht besorgt sein.«
Adrian hatte inzwischen in dem luxuriösen Speisesaale ein Frühstück auftragen lassen, das er jetzt mit seinen lieben Gästen unter den heitersten Gesprächen verzehrte. Niemand konnte [] dem geistreich Scherzenden die Erschütterungen ansehen, die vor wenigen Stunden seine Seele durchstürmt hatten.
Nach so fröhlich eingenommenem Frühstück beurlaubte sich Beatrice, um mit Hilfe ihrer Kammerjungfer Toilette zu machen. Adalbert blieb mit Adrian allein und dieser benutzte sogleich die günstige Stunde, um den Bruder von den allerneuesten Vorgängen zu unterrichten und seine Ansichten, seinen Rath darüber zu hören.
Adalbert nahm alle diese Mittheilungen außerordentlich ruhig auf. Zu der gerichtlichen Vorladung lächelte er sogar.
»Du ignorirst diese einfältige Citation,« sagte er, »bis sie wiederholt wird. Dann läßt Du dem Gericht vornehm einen höflichen Gruß entbieten und ladest dasselbe, Krankheit vorschützend, ein, sich zu Dir zu bemühen. Erscheinen die gelehrten Herren, was nicht fehlen kann, so forderst Du ganz ruhig, sie möchten Dir den fraglichen Bruder und Miterben persönlich vorstellen. Man wird ja sehen, aus welchem Kehrichthaufen sie ihren Prätendenten herbeiholen werden.«
»Ich theile vollkommen Deine Meinung, lieber Bruder,« erwiederte Adrian, »und bin keineswegs [] in Angst wegen dieses fern drohenden brüderlichen Gespenstes. Nur den Eindruck, den es auf meine Arbeiter macht, fürchte ich. Es liegt ein Zauber in dem dumpf erklingenden Gerücht, der bei Ungebildeten selbst die sonnenhellste Wahrheit nicht mehr entkräften kann. Meine Arbeiter wissen um den mir bevorstehenden Kampf und benutzen die Enge, in welche ich scheinbar dadurch getrieben werde, auf ihre Weise. Daß sie aus freiem Antriebe so handeln, ist nicht wahrscheinlich. Es leben geheime Agenten unter ihnen, die sie aufreizen, stacheln und drängen und deren moralischer Einfluß nicht unbedeutend sein kann. Ließe sich ein Mittel auffinden, diese unschädlich zu machen, so hätten wir jedenfalls leichteres Spiel und brauchten uns die Widerspänstigkeit der Unzufriedenen nicht weiter anfechten zu lassen.«
»Der alte Wende mit seinem deutschen Beistande, dem Maulwurffänger, dessen ich mich noch dunkel erinnere, scheinen demnach großen Anhang zu haben,« sagte Adalbert.
»Dieser Maulwurffänger ist ein Teufel!« rief Adrian aus. »Für einen Mann aus dem Volke besitzt er einen so durchdringenden Scharfsinn, [] eine Ruhe, List und Ausdauer, daß der gewandteste Diplomat, ist er nicht beständig auf seiner Huth, von ihm hinter's Licht geführt werden kann.«
»Seine Geschichten sind gut erfunden,« lächelte Adalbert vornehm.
»Verzweifelt gut, Bruder! Diese beiden steinalten Greise haben aus ihren Erinnerungen und ein paar moderfleckigen Papierfetzen eine Geschichte zusammengewoben, die sich an all' ihren Theilen fest wie die Glieder einer Kette verschlingt. Unser gemeinschaftliches Streben wird es sein müssen, die falschen Glieder in dieser Kelte aufzusuchen und zu zerbrechen.«
»Ich stelle mir dies leicht vor, sobald das Kapitel von den Beweisen ausgeschlagen wird.«
»Und, wenn sie auch diese beibringen?«
»Thun wir die Unächtheit derselben dar.«
Adrian zuckte die Achseln. »Das scheint mir gefährlich,« sagte er. »Ohne Zeugen werden wir den Gegenbeweis nicht führen können. Und dann – unser seliger Herr Vater ging nicht unbescholten aus der Welt!«
»Das eben ist der Punkt, den wir ins Auge fassen müssen! Der etwas zweideutige Ruf des [] Vaters ist unbedingt unsere Rettung, wenn es zum Aeußersten kommt. Die Gegner bauen einzig und allein auf ihn ihr glänzendes Luftgebäude, meinend, das sei der untrüglichste Boden. Sie sollen sich irren! Wir beweisen ihnen klar und bündig, daß nur Rache und kleinlicher Neid zu solchen Mitteln seine Zuflucht nimmt. Mein Wort darauf, Bruder, diese armen Schlucker werden mit Schimpf und Schande abgewiesen und sollen uns noch demüthig die Spitzen unserer Stiefeln küssen, wenn wir sie großmüthig frei von dannen ziehen lassen. – Wie stehst Du mit Deinen Unterthanen?«
»Mein seit Jahren befolgter Plan nähert sich immer mehr der Reife,« entgegnete Adrian, mit Vergnügen diese Wendung des Gespräches erfassend. »Von dieser Seite, glaube ich, sind wir nunmehr so gut wie unangreifbar. Darum beharre ich auch mit eiserner Festigkeit dabei und lasse mich weder durch Bitten noch Drohungen in meinem Verfahren stören. Findest Du nicht auch, daß es das alleinige Mittel ist, dem in der Meinung des sogenannten Volksbewußtseins gesunkenen Adel den alten Glanz, die alte Obmacht wieder zu verschaffen?«
[] »Ich bin davon überzeugt, obwohl in meiner Stellung die Ausführung schwieriger ist und längere Zeit erfordert.«
»Desto größer ist der Ruhm nach gewonnenem Kampfe! – Es sind jetzt etwas über fünf Jahre, daß ich, von meinen Reisen zurückkehrend, den Entschluß faßte, unser altes Geschlecht wieder zu Ehren zu bringen. Der Zeitgeist, dies tausendköpfige Phantom des modernen Lebens, sollte mir dazu verhelfen. Ich hatte die Schwächen unseres Jahrhunderts wohl erlauscht und wußte, wie man ihm schmeicheln muß, um es sich dienstbar zu machen. Der Materialismus fing eben an, von Hoch und Niedrig verehrt zu werden. Das Geld ward die Alles bewegende Kraft, der Besitz desselben gab Ansehen und Macht. – Du weißt, lieber Bruder, daß wir grade nur so viel besaßen, um als alte Edelleute anständig und mit dem nothdürftigsten Aufwande leben zu können. Das konnte nicht besser werden, wenn man nicht die Zeit benutzte und sich ihrer Schwächen bediente – mißbrauchte, wenn Du willst. Ich entschloß mich dazu, erbaute mit geborgtem Gelde die Fabrik und begann meine modernen Speculationen. Das Glück lächelte [] mir, weil ich den rechten Zeitpunkt getroffen hatte. Binnen Jahresfrist war unser gemeinsames Vermögen verdoppelt und ich konnte jetzt einen Schritt weiter gehen!«
»Das Umsichgreifen der sogenannten Volksfreiheit verbunden mit dem offen ausgesprochenen Haß gegen den Adel war mir von jeher ein Dorn im Auge und empörte mich wie Dich. Wir haben in frühern Jahren häufig unsere Meinungen darüber gegen einander ausgesprochen. Betrachtete ich nun dieses gerühmte Volk, diesen Klumpen anstandsloser, wenig gebildeter Menschen, die in ermattender Arbeit Zweck und Lust des Lebens finden und jedem höhern geistigen wie sinnlichen Genusse fremd bleiben, so bemächtigte sich meiner ein unaussprechlicher Ekel, der jedoch bald einem stillen Jubel der Seele weichen mußte. Ich glaubte nämlich das Mittel gefunden zu haben, dies freche, plumpe, auf seine junge Freiheit überstolze dumme Volk demüthigen und es uns, seinen angestammten rechtmäßigen Herren, wieder unbedingt unterwürfig machen zu können. Seine Lust, sein Vermögen, dacht' ich, soll seine Geißel werden. Nicht mit Skorpionen, nein, mit freundlichen Worten will [] ich es peitschen, mit der Freiheit, auf die es so stolz ist, werde ihm sein aufgespreizter Dünkel gewürzt. Ich beschloß, die Freiheit zum Büttel zu machen! Höre, wie ich dies anfing.«
»Kaum ward es ruchbar, daß Herr am Stein eine große Spinnfabrik anlegen wolle, als sich eine große Menge Arbeiter meldeten. Viele, ja die Meisten kamen von fern her, nur der kleinere Theil waren meine Unterthanen. Ich nahm Jedermann freundlich auf und warb so viele, als ich beschäftigen konnte. Nur bedang ich mir aus, daß, wer bei mir Arbeit finden und behalten wollte, sich auf meinem eigenen Grund und Boden ansässig machen müsse. Anfangs stutzte Mancher bei diesem Verlangen, als ich ihnen aber vorschlug, unentgeltlich ein Stück Land zu geben und für Bau eines kleinen Hauses Geld zu niedrigem Zins vorzuschießen, schlug Jeder ein. Ich fing die Freiheitshelden wie genäschige Mäuschen. Schaarenweise sprangen sie in meine Falle, und so entstand das Spinnerdorf drüben am See.«
»Als meine Schuldner waren diese Thoren von Anfang an in meiner Gewalt, die ich sogleich hätte gebrauchen können, wenn ich nicht [] ein größeres Ziel im Auge gehabt hätte. Mein Streben ging, wie Du weißt, auf Wiedererwerbung aller durch die Verschwendung unseres Vaters verloren gegangenen Ländereien. Ich erreichte mein Ziel und gewann dadurch um ein Drittheil Unterthanen mehr als unser Vater je besessen hat. Es waren dies freilich keine Leibeigenen, sondern freie Menschen, die thun und lassen konnten, was sie wollten, die mir blos einige geringfügige Steuern und andere unbedeutende Dienste zu leisten hatten. Sollte nun mein Plan einen dauernden Zweck haben, so mußten diese Freien, die ich als Volk so gern über uns erheben und uns Gesetze vorschreiben möchten, durch sich selbst zu Knechten gemacht werden und zwar zu freien Knechten, d.h. zu solchen, deren Joch die Freiheit, deren Galeere der Feiertag ist.«
»Arbeit! Arbeit! Dieser Ruf hallt wieder in aller Welt! Jeder will Arbeit, Jeder preist die Arbeit, Jeder sieht in der Arbeit Gewinn, Ueberfluß, ein schönes, glückliches, sorgenfreies Leben in der Zukunft blühen!«
»Euch soll dies ersehnte Paradies baldigst lachen! dachte ich bei mir und gab dem freien [] Volke, was es wünschte, suchte, liebte – Arbeit! Glücklichere Menschen habe ich nie gesehen. Von früh bis Abends scholl lustiger Gesang durch die Säle meiner Fabrik. Sie nannten mich ihren Wohlthäter, ihren Vater und ich ließ es mir gefallen. Um sie noch fester an mich zu ketten, bezahlte ich meine Arbeiter einige Jahre gut, besser, als ich es eigentlich durfte, ohne Großes zu riskiren. Indeß auch hier blieb mir das Glück treu und ich gewann doch noch. Meine Freigebigkeit hatte den gewünschten Erfolg. Die Arbeiter wurden luxuriös, weil sie leicht verdienten und ihrer Einnahme gewiß waren. Sie sparten durchaus nicht. An Sonn- und Feiertagen lebten sie lustig und froh.«
»Dahin wollte ich die glückseligen Freien haben. Plötzlich, wie der Wind umschlug, trete ich eines Tages unter sie mit betrübter Miene und verkündige ihnen, daß ich den bisherigen Arbeitslohn eingetretener Conjuncturen wegen nicht mehr zahlen könne, daß ich große Verluste gehabt und meinen Ruin befürchten müsse, wenn ich dieselben Summen, wie bisher zahlen sollte. Ich stellte es ihnen daher frei, ob sie mir für geringeren Lohn dienen wollten und könnten.[] Wer darauf nicht eingehen könne, dem stünde es frei, anderwärts ein besseres Unterkommen zu suchen.«
»Nicht ein Einziger verließ mich. Die Dankbarkeit, wie ich erwartet hatte, kettete sie an mich. So wenigstens sagten Alle, wenn auch die wahre Veranlassung zu ihrem Bleiben in den Verbindlichkeiten zu suchen war, die sie gegen mich hatten. Das gute freie Volk arbeitete von Stund' an noch emsiger für geringeres Geld, lebte etwas sparsamer, weil es nichts besaß und noch weniger erübrigen konnte, und war zufrieden!« –
»Später wiederholte ich meine Lohnverkürzungen, aber immer bei schicklichen Gelegenheiten, ich verlängerte zugleich die Arbeitszeit – weil die lieben Leute Genuß im Arbeiten finden – und erreichte mehr und mehr meinen Zweck. Das alte Haus Boberstein erhielt wieder den Besitz, verdrängte später aufgeschossene Glückspilze, brachte alle baare Capitale an sich und entwand das Geld vollständig dem arbeitenden Volke. Ich ließ ihm lebensgern das Bewußtsein, sich als freie Männer zu fühlen, ich rief es ihnen, wo ich nur konnte, ins Gedächtniß, doch je mehr ich die Freiheit pries, desto enger [] umschnürte ich sie mit unzerreißbaren Ketten. Ehe sie es ahnten, waren sie meine Sclaven geworden, deren Leben an einem Zucken meines Auges hing.«
»Ich blieb nicht auf halbem Wege stehen, mein biederer Bruder. – Da ich weiß, was Bildung, was sogenannter Fortschritt der Zeit und Volksaufklärung vermag, und wie grade ihre größere, immer zunehmende Verbreitung unser allergefährlichster Feind ist, so gab ich mir Mühe, dieselbe zu beschränken. Bei meinem System war dies eine leichte Aufgabe. Die Arbeiter konnten bald nur zur höchsten Noth auskommen, sie mußten dabei Vermehrung des Verdienstes wünschen und erstreben, aber sie durften von mir nicht verlangen, daß ich sie auf meine Kosten bereichern sollte. Meine Vorkehrungen waren so getroffen, daß kein Verdacht in ihnen aufsteigen konnte. So geschah, was ich voraus berechnet hatte. Diese armen Teufel kamen bittweise bei mir um Verkürzung der Schulstunden ein, damit ihre Kinder ihnen zur Hand sein und auch etwas erwerben möchten! – Sollte ich den Tyrannen spielen? Ich hätte mich nicht beruhigen können! – Ich beschränkte [] also die Schulstunden, gab auch den Kindern Arbeit und bereite nunmehr eine consequente Verwilderung der Nachkommenschaft vor, die man am besten durch Furcht und Strenge wird erziehen können. Dieses Geschlecht wird in doppelter Hinsicht Sclav sein, Sclav der Freiheit, die es nicht wünschen darf, und Sclav der eigenen Lasterhaftigkeit, in die es rettungslos versinken muß ohne Bildung, ohne Besitz und ohne Hoffnung auf solchen.«
»Noch bin ich nicht am Ziele, aber ich nähere mich ihm. Der heutige Morgen hat mir gezeigt, daß ich diese freie Arbeiterschaar nicht mehr zu fürchten habe. Ungeachtet des Lärms, den sie machten, und trotz der heftigen Drohungen Einzelner bin ich doch überzeugt, daß sie eher neben meinen Maschinen den Geist aufgeben, als mir die Arbeit aufkündigen. Nur die fatale Geschichte mit dem Wenden und die schmählichen Gerüchte, die unsere Ehre compromittiren, macht mir einiges Bedenken und hat auch diesen schon halb bewußtlosen Maschinenmenschen eine Art Selbstthätigkeit eingeimpft, die ich ihnen kaum zugetraut hätte. Auf welche Weise wir auch diese unterdrücken und das von uns abhängige [] Volk für immer uns wieder unterthänig, ja vollkommen leib- und seeleneigen machen können, das wollen wir Brüder, sobald Aurel angekommen sein wird, reiflich überlegen.«
»Herr Aurel am Stein,« meldete der Bediente. Im Feuer des Gesprächs hatte Adrian nicht auf die Fähre geachtet, die einigemale von der Insel ans Land und von diesem wieder nach der Insel gekommen war.
»Sehr willkommen!« rief Adrian, indem er lebhaft aufsprang, um den theuern Bruder zu empfangen.
Aurel stand schon auf der Schwelle. Adrian ging ihm mit offenen Armen entgegen, drückte ihn jubelnd an sich und küßte ihn wiederholt. Auch Adalbert gab seine Freude in gleicher Weise, nur weniger stürmisch zu erkennen.
»Was hast Du denn für wunderliche Begleiter?« fragte Adrian, da er im Vorzimmer einige verhüllte Gestalten bemerkte, die einzutreten zögerten.
»Sehr liebe, werthe Gäste, theure Brüder,« versetzte Aurel mit strahlendem Auge und bat die Harrenden durch leisen Wink, näher zu treten. Ein paar Frauen, von Kopf zu Fuß in [] feine schwarzseidene Kleider gehüllt und dicht verschleiert, verbeugten sich tief und schweigend vor den beiden erstaunten Brüdern. Hinter ihnen zeigte sich Gilbert.
Aurel ergriff die größere der Frauen bei der Hand, schlug den Schleier zurück und sagte mit bewegter Stimme:
»Deinem wiederholten Drängen, lieber Adrian, unsern Verwandten nachzuspüren, verdanke ich die unaussprechliche Freude, Dir in dieser würdigen Dame eine schwer Verfolgte vorstellen zu können, an der wir Vieles gut zu machen haben. Es ist Herta, Gräfin von Boberstein, unsere Tante!«
»Herta?« schrie Adrian laut auf und klammerte sich zitternd an Adalbert. »Herta lebt?«
»Fassung!« flüsterte der kältere Adalbert dem Entsetzten zu. »Der Boden weicht unter unsern Füßen. Aurel steht bei unsern Feinden!«
»Herta!« wiederholte Adrian tonlos, dann sank er zusammen. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, die Augen brachen ihm. Bewußtlos fiel der Ueberraschte in die Arme seiner zu seinem Verderben wieder erschienenen Tante.
Ende des dritten Theils.
Vierter Theil
Siebentes Buch
Erstes Kapitel.
Des Armen Weihnachten.
Sechs heisere Glockenschläge verhallen langsam in der eiskalten Luft. Auf den wundervoll zarten Gebilden des Frostes, auf Palmzweigen, Orchideen und Lotosblumen an den Fensterscheiben der Hütten und Paläste flimmert das Silberlicht des Mondes. Der frisch gefallene Schnee knirscht unter den Fußtritten Vorüberwandelnder, schreit und wehklagt unter dem Räderdruck beschwerter Lastwagen.
Es ist Weihnachten, Weihnachten, das Freudenfest für Kinder und Erwachsene, der gemeinsame Jubeltag im Jahre für Reiche und Arme! In Städten und Dörfern entzünden sich die geschmückten Christbäume, um die erwartungsvoll harrenden Kinder zu begrüßen. Fern [] und nah, auf allen Seiten, bald laut bald leise erklingen die Glocken, welche zur Christmesse rufen, und wo auf kahler Höhe im blendend weißen, mit Millionen Eisdiamanten geschmückten Flachfelde ein Kirchlein sich erhebt, da ist es jetzt erleuchtet von tausend Kerzen, um die Geburt des Heilandes, des Welterlösers, zu feiern.
Wie begeht Martell, der tiefgebeugte arme Arbeiter diesen glückverheißenden Jubeltag der gesammten gläubigen Christenheit? Sehen wir uns um nach ihm und den Seinen, betreten wir nochmals die Wohnung des Mittellosen, um zu erfahren, ob er den Schmerz überwunden hat, der sein geängstigtes Vaterherz zerriß über den unverschuldeten Tod seines lieben Knaben.
Martell's Hütte liegt still und finster, von dem gastlichen Fuße keines Freundes betreten, im funkelnden Schnee. Die Hausthür ist verschneit, kein Weg gebahnt zur Verbindungsstraße des Arbeiterdorfes. In der Wohnstube brennt kein geschmückter Tannenbaum, um auf den fröhlichen Jubel der beschenkten Kinder herabzulächeln mit seinen Flammenaugen, ein spärliches Reißigfeuer nur knistert im Ofen, das [] nicht hinreicht, um die luftige, schlecht verwahrte Stube zu durchwärmen. Dem Verlöschen nahe glimmt die Lampe über Lore's Webstuhle und wirft mit ihren gaukelnden blauen Flämmchen ein unsicheres Licht auf Todtes und Lebendes. Heller noch scheint der Mond durch die kleinen gefrorenen Fenster, an denen sich die Schatten eines entlaubten Ahornbaumes, vom Nordwinde geschüttelt, rastlos bewegen.
Die Familie des Arbeiters ist vollzählig versammelt, da wegen des morgenden Festes die Arbeit eingestellt worden ist. Auch der Arme soll ruhen von seiner Arbeit an diesem hohen segensreichen Freudenfeste; auch er soll Zeit und Muße haben, Theil zu neh men an dem allgemeinen Jubel, der die halbe Welt zu Brüdern und Schwestern macht. Darum feiern seit Mittag schon die Maschinen. Darum sieht man nicht die ewigen Rauchsäulen aus den Riesenschornsteinen aufwirbeln; darum liegen die hochstockigen, fensterreichen Gebäude auf den Granitfelsen der Insel heut finster und verlassen.
Warum mag es so still, so freudlos sein in Martells Hütte? Warum rinnen einzelne große Thränenperlen über die zarten, von kränklichem [] Roth angehauchten Wangen Dorels, der funfzehnzährigen hübschen Tochter des Spinners? Warum hält Lore, die Mutter Dorels, ihre magern Hände über dem Knie gefaltet, und sieht so stier und geisterhaft auf das Schattenspiel der Aeste am Fenster, dessen blinde Scheiben der hämische Winter hohneckend mit dem Pflanzenwuchs heißer Länder so üppig verziert hat? – Sollte sie an ihren verstorbenen Knaben denken, der draußen in der Haide schlummert, dessen Grabstätte sie kaum finden wird unter den hochaufgewehten Schneehügeln? Und gilt diesem entrissenen Kinde etwa auch das dumpfe Stöhnen Martells, der am leeren Tische sitzt und seinen wüsten Kopf unbeweglich in beide Hände stützt?
Horch! Traugott, der alte gottgläubige Vater spricht. Neben seinem Spinnrade ist er niedergesunken auf die unebene, schmutzige Diele. Der Wiederschein des Mondes und ein zitternder Strahl des flimmernden Lämpchens liegt auf seinem runzelvollen, eingefallenen Gesicht. Mit einem Seufzer erhebt der Greis die Hände und spricht:
»Sechs Uhr! Das ist die Stunde, wo sie [] allerorten in Haide und auf Fluren die Christnacht einläuten mit denselben Glocken, die mein kindliches Ohr von nunmehr sieben und siebenzig Jahren zum ersten Male vernahm. Gnädiger, gütiger, allbarmherziger Gott, sieben und siebenzig Jahre. Wird es der letzte Geburtstag sein, den ich begehe? An dem ich dankend im Gebet meine Hand zu Dir erhebe, mein Vater und Heiland? O Du hast es gewiß gut mit mir vorgehabt, daß Du mich ließest geboren werden am Tage, wo Dein eingeborener Sohn zum Wohl und Heil der Menschheit auf Erden erschien! Nimm dafür meinen Dank, Allbarmherziger, und wenn es Dir gefällt und zu meinem Frieden dient, so laß mich bald eingehen in die Wohnungen der Gerechten, die bei Dir sind und bleiben ewiglich! – Des Menschen Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen!«
Während Traugott so im Gebet sein Herz beruhigte, erhob Martell langsam seinen Kopf, heftete seine düstern brennenden Augen fest auf den alten Mann und horchte genau auf dessen Worte.
[] »Mühe und Arbeit,« wiederholte der unglückliche Spinner, »Mühe und Arbeit und Verzweiflung in jeder Minute! Ja, ja, die Bibel hat Recht, aus Mühe und Arbeit besteht unser Leben und köstlich ist's, wenn es immer blos daraus besteht, kommt noch etwas mehr dazu, so wird es sehr häßlich und widerwärtig, und es ist dann schon vom Uebel, wenn es vierzig Jahre dauert! Meinst Du nicht auch, Lore?«
Die arme Frau antwortete nur durch einen unsäglich wehmüthigen Blick, der sanft bittend auf dem convulsivisch zuckenden Antlitze Martells haftete. Dieser jedoch achtete nicht darauf, sondern fuhr fort, indem er seinen Platz verließ und die enge Stube kreuz und quer nach allen Richtungen durchschritt:
»Es leuchtet mir stündlich mehr ein, daß die Armuth den Menschen schlecht, grausam, ja zum Cannibalen machen kann, wenn er nicht immer an das Wort des Heilandes denkt: Selig sind die Armen, denn das Himmelreich ist ihr. – Ach das Himmelreich!« fuhr der [] Spinner mit bebender Stimme fort. »Wer von uns wünscht nicht je eher je lieber unter seiner Sonnendecke auszuruhen, ohne Schuld auszuruhen vom Jammer dieser Welt? Aber wie hinüberschlummern ohne Fehl? Wie aus dem Leben scheiden, ohne zuvor mit einem einzigen sündhaften Wort oder Gedanken das ewige Heil verscherzt zu haben? – Das ist das Loos des Armen, das sind seine Freuden am heiligen Weihnachtsabend!«
»Ja, Lore,« rief er mit grimmiger Miene seinem Weibe zu, indem er vor ihr stehen blieb. »Du kannst es glauben, daß mich, den Hungernden, heut ein Gedanke nicht rasten und nicht ruhen läßt, vor dem ich selbst mich entsetze!«
»Geduld, Geduld, Armer, es wird besser werden,« tröstete Lore. »Besser? Vielleicht. Bewahre mich nur Gott vor den bösen Träumen, in denen ich mich immer und immer als – Menschenfresser sehe! – Nun, 's ist ein krankhafter Gedanke.«
[] »Ein Gedanke, der mich frieren macht,« flüsterte Lore dem Gatten zu. »Ein entsetzlicher Scherz!«
»So scherzt die Verzweiflung,« sagte Martell trocken und setzte seine Wanderung durch die kälter werdende Stube fort, denn das Reisigfeuer war längst niedergebrannt und die letzte Kohle davon dem Erlöschen nahe.
»Morgen ist Christtag,« fuhr der unglückliche Arbeiter fort, und dem Anscheine nach gibt es starken Frost. Unser Holzvorrath ist zu Ende, unser Beutel so leer wie unsere Magen. Erst in acht Tagen haben wir auf einige Pfennige zu hoffen. Bis dahin müssen wir hungern und frieren, wenn wir's aushalten und nicht etwa darüber sterben, was beiläufig sehr gescheidt von uns wäre. – Was mich nun betrifft, so bekenne ich unverholen, das ich für diesmal gar keine Stimmung habe, dies hochheilige Fest, das der Welt einen Heiland und Erlöser schenkte, wie die Bibel sagt, hungernd und frierend zu verleben. Mich sehnt wieder einmal nach menschlicher Existenz oder nach schleuniger gänzlicher [] Auflösung und darum spreche ich mit Festigkeit: Brod oder Tod! Weißt Du Rath, Lore?
»Vertraue auf ihn, Martell!«
»Auf ihn? Auf den, der oben über den Wolken die Welt beherrscht, lenkt und regiert? – Ich weiß nicht, Lore, ob er mich nicht verstoßen und versäumen wird, wenn ich selbst nicht Kraft genug habe, mich ihm zu nähern! Dazu braucht man Zeit und ich habe keine Zeit zu verlieren.«
»Wenn Du beten wolltest, Martell!«
»Seit uns der Hans gestorben ist, kann und will ich nicht mehr beten,« versetzte der Arbeiter mit trotzigem Stirnrunzeln. »Ich habe ein Gelübde gethan am Grabe unseres Kindes, das ich halten muß, und dies erfordert blos trotzige Kraft, kein Gebet. Meine Seele schwimmt in einem Meer von Haß, sie lechzt und schreit nach Rache. Habe ich mich gerächt und somit meinen Haß gesühnt, dann will ich Gott um Verzeihung bitten und wieder ein stiller, frommer, demüthiger Mensch zu werden versuchen. Früher aber nicht, bei allen Strafen der Verdammniß!«
»Gott hat ihn schon gestraft, überlaß ihm auch die Rache, ihm ganz allein!«
[] »Ich kann nicht!«
»So wir vergeben; wird auch uns vergeben werden!« sagte Traugott.
»Es mag edel und großmüthig sein, Vater, wenn's nur auch so recht einfach menschlich wäre!«
»Du hast Dein Herz verhärtet, darum fühlst Du nicht mehr rein und lauter. Bete, ach bete, mein Sohn, damit Du nicht in Anfechtung fällst und uns verlorengehst!«
»So Gott mir und den Meinigen Rettung sendet bis zum neuen Jahre, so will ich wieder beten, Vater; wenn nicht, dann fahre dahin, Menschlichkeit, und der Böse rüste mich aus mit der Kraft, die ich bedarf zu meinem Werke!«
Martell riß die Pelzmütze von der Wand und zog seine ärmliche, mit zahllosen Flicken besetzte Winterjacke an.
»Willst Du noch ausgehen so spät?« sagte Lore, indem sie mit einer Stecknadel den kaum noch glimmenden Docht der Lampe ein wenig ausspreitete und aus einem zerbrochenen Töpfchen die letzten paar Oeltropfen darauf träufeln ließ. Heller schoß das Flämchen empor und beleuchtete die bekümmerten, bestürzten und vergrämten [] Gesichter der unglücklichen Familie.
»Es wird mir zu eng und zu heiß in meinen vier Pfählen,« versetzte Martell mit der fürchterlichen Ironie, die ihm seit seines Knaben Tode zur andern Natur geworden war. »Ihr braucht nicht auf mich zu warten,« fügte er hinzu, »denn wenn mir der heilige Christ in den Weg läuft, wie ich vermuthe, so biet' ich mich ihm zum Begleiter an, wandere mit ihm von Haus zu Haus und ergetze mich an Anderer Freuden. Darum gute Nacht, ihr Lieben. Auf ein frohes Wiedersehen morgen früh!«
Ohne der bittenden Blicke und Worte zu achten, womit Frau und Kinder den verzweifelten Vater zu halten suchten, stürzte Martell aus seiner frostigen öden Behausung, setzte mit großen Schritten durch den hohen Schnee und verlor sich auf der etwas betreteneren Fahrstraße in's Dorf.
Wohin Martell auch seine Blicke richtete, nirgends gewahrte er ein Zeichen fröhlicher Weihnachtszeit. Still und traurig lagen die einzelnen Häuser im Schnee vergraben. Hie und da schimmerte Licht durch die geschlossenen [] Fensterladen, auch das Klappern einzelner Webstühle ließ sich da und dort vernehmen. Aus den Wohnungen alter Leute schollen dem haßerfüllten Martell Töne kirchlichen Gesanges entgegen. Die Armen in grauem Haar sangen Buß-, Bet- und Weihnachtslieder und vergaßen darüber ihren Kummer, ihre irdischen Leiden.
Diese unbedingte Ergebung in ein kaum zu ertragendes Schicksal erbitterte Martell noch mehr. Er fand es feig, unmännlich, charakterlos, ja gemein, für die Qualen des Lebens Dem Dank zu sagen, der anscheinend nichts zu Erleichterung Nothleidender thut. Verwünschungen zwischen den Zähnen murmelnd, schritt der arme Spinner über den knisternden Schnee bis an's Ende des Dorfes. Hier, wo es die Haide mit schattigem Arm umfing, lag ein Schenkhaus. Der Schein vieler Lichter glänzte Martell schon von weitem aus diesem entgegen, und als er näher kam, konnte er aus dem lebhaften Geräusch auf zahlreichen Besuch schließen.
Zaudernd blieb Martell einige Secunden unfern des Hauses stehen. Seine linke Hand vergrub sich unwillkürlich in die Tasche seiner Beinkleider und suchte mit krampfhaft gebogenem [] Finger nach Geld. Allein die Tasche war leer. Kalter Schweiß trat auf die Stirn des verarmten Arbeiters, er stöhnte unter unaussprechlichen Qualen. Kummer und Hunger schlugen gemeinschaftlich ihre zerfleischenden Krallen in sein gequältes Herz. Er schwang in ohnmächtigem Zorn den Stock, sein Auge rollte, seine grimme Seele lechzte nach einem Opfer, das sie zermalmen könnte! Hell glänzend, blauschwarz, unermeßlich sah der klare Winterhimmel auf ihn nieder mit seinen zahllosen funkelnden Sternen. Ihr Flimmern und Sprühen kam Martell vor, als wollten sie ihn verspotten, als lächelten sie schadenfroh über sein Elend, und ergrimmt wirbelte er den Knotenstock um sein Haupt und schleuderte ihn sausend in die Luft, während sich ein gräßlicher Fluch über seine bebenden Lippen drängte. Als der Stock klappernd wieder niederfiel und dabei seine aufwärts gekehrte Stirne hart streifte, kam er wieder zur Besinnung. Er schämte sich jetzt seiner sinnlosen Wuth, murmelte etwas von Verzeihung und trat in das Schenkhaus.
Trauriges, fast unvermeidliches Loos der Armuth, die aller Hilfe bar sich von Gott und [] Menschen verlassen glauben muß und Vergessenheit ihres Elendes in wüster Betäubung sucht! – Martell, einst so still, ordnungsliebend, häuslich, arbeitsam und zufrieden, war seit dem Tode seines einzigen Knaben ein anderer Mensch geworden. Es litt ihn nicht mehr im stillen Hause, unter den traurigen Gesichtern. So oft er konnte, floh er sein Haus, suchte Gesellschaft und ergab sich dem Trunke. Der letzte Pfennig wurde aufgespart, um das schleichende Gift des Branntweins in reichlichem Maße genießen, um sich in seinem narkotischen Dunst bis zur vollkommensten geistigen Dumpfheit betäuben zu können! Sein armes Weib, seine beklagenswerthen Kinder, sein frommer Schwiegervater wußten und sahen dies Versinken ihres geliebten Martell und konnten ihm doch nicht zürnen, noch weniger helfen. Bei seinem heftigen aufbrausenden Charakter mußte der unglückliche Spinner diesen traurigen Abweg betreten.
Die Gäste der Schenke, ebenfalls herabgekommene und verzweifelte Familienväter, begrüßten Martell mit heiterm Zutrunk.
»Auf gesunde Feiertage!« – »Auf fröhliches Weihnachten!« – »Auf bessere Tage im [] neuen Jahr!« – »Auf baldigen Untergang unserer Feinde!« – »Auf ewige Verdammniß des Herrn am Stein!« – »Verflucht sei er, verflucht tausend Jahre über die Ewigkeit hinaus!« Mit solchem Zuruf, Einer den Andern überschreiend, reichten die Gäste Martell ihre kleinen Spitzgläschen zum Willkommen. Hergebrachterweise that dieser Bescheid, warf sich ermattet auf einen Schemel und trank mit fieberhafter Hast zwei Gläschen aus dem zinnernen Viertelmaß, das ihm der gefällige Wirth unverweilt darreichte. Nun erst holte er beruhigter Athem und musterte die Gesichter seiner Umgebung. Es waren lauter Bekannte, Fabrikarbeiter wie er, verarmt wie er, auf dem Punkte, unrettbar unterzugehen in wüstem Trunk durch Adrians Unmenschlichkeit.
»Hast Du Nachricht?« fragte ihn sein Nachbar zur Rechten, ein langer schlanker Mensch mit schmaler Brust, dem die hellrothen Flecke auf seinen Wangen ein baldiges Ende prophezeiten. »Heut Morgen soll er dem Tode nahe gewesen sein.«
»Pah, er stirbt nicht!« entgegnete Martell. »Wäre auch ein Unglück, wenn er so plötzlich [] von hinnen ginge. Gott selber könnte das nicht verantworten vor seinem Gewissen! Nein, er muß und soll leben, soll leben so lange, bis er durch uns und seine Schuld verarmt ist, bis er vor uns liegt als ohnmächtig Flehender, und bis wir ihn wie einen Hund treten, stoßen, in's Angesicht speien können! Ha, wäre doch diese Zeit der süßesten Rache schon da! Schade nur, daß er keine Kinder hat!«
»Warum? Wolltest Du sie ihm tödten?«
»Tödten? – Nein,« sagte Martell mit entsetzlichem Lächeln. »Der Tod ist eine Wohlthat, keine Strafe; nur das Leben ist Strafe, wenn es recht tief in Elend eingewickelt wird. Und das, Freunde, glaubt mir, das wollte ich schon besorgen!«
»Wie denn?« fragte der Hektische, ein Gläschen des berauschenden Getränkes hinunterstürzend.
»Hätte der Adrian Jungen, so steckte ich sie unter die Maschinen, grade an Orten, wo die geringste unzeitige Bewegung unheilbringend ist. Dort müßten sie herumkrabbeln, bis ihnen nach und nach Hände und Füße zerquetscht würden, wie meinem Hans, Gott hab' ihn selig und [] wären sie so recht methodisch zu Krüppeln gesponnen und gehaspelt worden, dann müßten sie bettelnd am Wege sitzen, alle Tage harte Worte hören und in einer Stunde tausendmal sterben! Ueber solcher Rache könnte ich vielleicht all' das Elend vergessen, das ich mein Lebetag habe ertragen müssen.«
»Nicht doch,« fiel ein Anderer ein, »solche Rache wäre grausam und unmenschlich! Warum unschuldige Kinder muthwillig verstümmeln? Ihn selbst müßte man unter die Kämme stoßen, und die scharfen Kanten und Zangen ein paarmal über ihn hinrasseln lassen, daß sein Körper wie ein gepflügtes Ackerland aussähe. Das wäre ihm gesund und würde ihn von Grund aus heilen.«
»Du bist im Irrthum, Anton!« erwiederte Martell mit seinem unheimlichen kalten Lächeln. »Gesetzt, Adrian hätte Kinder, so müßte er seine Missethaten schlechterdings in der Qual seiner Kinder büßen. Nichts schmerzt heftiger, länger und tiefer, als die Leiden geliebter Kinder; nichts überwindet ein Vater schwerer, als die Qualen, die Zufall oder Menschen seinen Kindern zufügen. Folter ist Genuß gegen solche Pein, und [] eben weil ich das weiß aus eigener Erfahrung, müßten mir die Kinder, die Jungen daran! Das würde ihn schon weich machen!«
»Und die Mädchen?« fragte der Hektische. »Sollten die zarten kleinen Dinger auch so gequetscht und zerrissen werden?«
»Mit ihnen würde ich etwas glimpflicher verfahren,« versetzte Martell. »Damit sie einen Begriff bekämen von den Lasten und Mühen ihrer armen gedrückten Mitschwestern und in späteren Jahren, wenn sie nicht mehr Lust hätten, auf Liebschaften auszugehen, sich etwas erzählen könnten, würde ich sie in den Kattundruckereien Adalberts in England als Zieher anstellen.«
»Damit sie dicke Füße, dünne Beine und aufgetriebene Leiber kriegten?« rief ein roher, halbtrunkener Bursche mit struppigem Flachshaar. »Ha, ha, ha, das ist, mein Seel', ein teufelmäßig höllisch gescheidter Einfall! Das Ziehen machte sie häßlich vor der Zeit und ungesund obendrein, und dergleichen Weibsleute sollen auch unter den Vornehmen sehr schlechten Abgang finden! Heda, Mitgenossen, die Gläser gefüllt und angestoßen auf die Gesundheit [] Martells. Wo das Regiment einmal wechselt, soll er unser König sein! Meine Stimme hat er!«
Alle Umsitzenden stießen an auf das Wohl des zukünftigen Spinnerkönigs. Martell nahm diese Huldigung ruhig hin und fuhr dann fort:
»So scharfsinnig unser Freund und Bruder auch ist in seinen Voraussetzungen so hat er doch das Wahre nicht getroffen. Freilich werden die Zieher elend und häßlich in wenigen Jahren und manch Dutzend stirbt, ehe sie mannbar geworden sind, aber wäre das Strafe, wäre das Rache zu nennen, wie unsere Qualen sie verdient haben? Nein und abermals nein, sag' ich! Nur wenn augenblickliche Qual und späteres lebenslanges Hinsiechen sich vereinigen, nur dann könnten wir uns rühmen, hinreichende Rache geübt zu haben! Deshalb müßten Adrians Töchter – Gottes Fluch auf sein Haupt, weil er keine hat – gleich jenen unglücklichen Ziehern, vier und zwanzig Stunden ohne Unterbrechung arbeiten und, damit ihnen der Schlaf nicht die Kräfte lähmte, von Viertelstunde zu Viertelstunde Nießwurz schnupfen. Das erhält wach und peinigt grausam das ganze [] Nervensystem so armer Kinder. Oder man ließ ihnen eiskaltes Wasser tropfenweis in kurzen Zwischenräumen auf den Kopf fallen In den englischen Kattundruckereien wendet man wirklich diese grausamen Mittel an, um die ›Zieher,‹ wozu selbst die kleinsten Kinder benutzt werden, während ihrer vier und zwanzigstündigen Arbeit wach zu erhalten., theils zur Abwechselung, theils zur Erfrischung, und mein Wort darauf, binnen zwei Jahren hätte man die gräfliche Nachkommenschaft in Grund und Boden ungesund, siech und elend gemacht!«
»Die eigene Noth, Martell, und die bittern Erfahrungen, die Du vor Kurzem gemacht hast,« meinte der besonnene Anton, »führen Dich auf Abwege und lassen Gedanken in Dir entstehen, die nichts gemein haben mit christlicher Milde. Du frevelst, Du versündigst Dich, wenn Du im Ernst solche Wünsche äußern kannst!«
Martell schoß flammende Blicke auf den zurechtweisenden Tadler. Der schnell genossene Branntwein war ihm schon zu Kopfe gestiegen, sein eingefallenes, bleiches Gesicht begann sich zu röthen.
»Ein Hund, der vergibt, was mir geschehen [] ist!« rief er aus. »Er soll verfaulen auf dem Schindanger! Rache, sag' ich, Rache, für das Unrecht, das wir erlitten haben! Die Gläser voll, Elendsgenossen! Ein langes Leben für Adrian! Ein Leben voll Qual und Jammer und Armuth! Der Bettelstab sei der Freund seines Alters!«
Jauchzend stießen die Unglücklichen ihre kleinen Gläschen zusammen und stürzten sie mit wilden Blicken, mit wuthgeröthteten Gesichtern aus. Mitten in diesem Taumel wüster Lust hörte Martell sich mit Namen rufen.
»Wer fragt nach mir?« sagte er und wendete sich unwirsch um, denn er besorgte, seine Frau möchte ihm nachgeschlichen sein und ihn heim holen wollen. Statt dessen sah er in die offenen, ernsten und doch so schalkhaft funkelnden kleinen Augen des Maulwurffängers.
»Pink-Heinrich!« sagte er lächelnd und reichte dem Greise die Hand. »Was treibt Euch in die Haide bei solchem Frost- und Schneewetter?«
»Die Sorge um Dich und Deine Familie,« sagte der Maulwurffänger mit ernstem Tone.
[] Martell runzelte die Stirn und schlug die linke Hand in sein lockiges Haar.
»Ich hielt Dich für einen starken Mann, und sehe nun, daß Du schwach bist wie ein Weib. Schäme Dich, Martell!«
»Rechte nicht mit mir, Heinrich, rechte mit der Verzweiflung, die in meinen Adern rast, rechte mit Gott, der mich verlassen hat!«
»Er hat Dich nicht verlassen, er ist mit Dir!«
»Gott mit mir? Ha, ha, ha, ha! Wenn Gott mit mir sein soll, so muß der Teufel eine Betschwester geworden sein! – Heinrich, ich glaube, es gibt keinen Gott oder nur einen Gott für die Reichen!«
»Es gibt einen Gott für Arme und Reiche, für Gute und Böse, und dieser Gott ist mit Dir, Martell, mit Dir vor tausend Andern!«
Der Spinner sah den Maulwurffänger mit ungläubigem Auge an.
»Ah so,« sagte er, ironisch lächelnd, »ich erinnere mich, daß heut Weihnachten ist! Da willst Du vermuthlich den heiligen Christ spielen und mir 'was schenken. Knecht Ruprecht, lieber Alter, würde Dir aber jedenfalls besser zu Gesicht gestanden haben!«
[] »Bin ich auch nicht der heilige Christ, so betrachte ich mich doch als seinen auserwählten Boten. Ja, Martell, ich komme, Dir ein Weihnachtsgeschenk zu überreichen. Bist Du bereit, es in Empfang zu nehmen?«
»Ein armer Mann ist immer bereit zu nehmen. Pack' also getrost aus!«
»So lerne einsehen, daß Gott mit Dir ist, Martell!« erwiederte der Maulwurffänger feurig, »und daß er diejenigen züchtiget, die er lieb hat. Du weißt, daß Dein und jedes Rechtlichen Feind, Graf Adrian von Boberstein, krank darniederliegt ob des Schreckens, den der Abfall seines Bruders Aurel von ihm und seiner ungerechten Sache ihm verursacht hat; Du weißt ferner, daß der gegen ihn angehängte Prozeß schwerlich zu seinen Gunsten entschieden werden kann; Du weißt endlich, daß seine Besitzungen in andere Hände übergehen werden und ihm selbst vielleicht nur ein geringer Theil der großen Herrschaft zufällt! Oder wußtest Du dies nicht?«
»Ich weiß es,« sagte Martell.
»Und dennoch verzweifelst Du? Dennoch wirfst Du Dich dem Laster des Trunkes in die [] Arme? Dennoch sinnst Du auf kannibalische Rache?«
»Die Noth hat mein Herz verbrannt. Rache würde die Flammen kühlen, die ich in mir lohen fühle!«
»Ich bringe Dir Rache zum Weihnachtsgeschenk.«
»Rache? Ist Adrian todt oder wahnsinnig?«
»Adrian lebt und wird hoffentlich noch lange leben, Du aber Martell, Du bist –«
Der Maulwurffänger hielt inne und heftete fest sein klares Auge auf den aufgeregten Spinner.
»Ich bin ein armer Mann,« sagte Martell, »das weiß ich, das fühle ich in diesem Augenblick mehr als je; mit einem Reichen würdet Ihr Euch keinen solchen Scherz erlauben.«
Schwer fiel die Hand des Maulwurffängers auf Martells Schulter. Er schüttelte ihn heftig. »Ungestümer,« sprach er, »gleichst Du doch ihm, dem Du verwandt bist, in allen Dingen, nur nicht in der kalten Ruhe der Entschlossenheit! Martell, die Stimme des Gerichts nennt Dich einen nahen Verwandten Paul Sloboda's und Adrians am Stein! Zu Deinen Gunsten wird der Prozeß gewonnen!«
[] Bei diesen Worten fiel der bestürzte Arbeiter wie vom Schlage getroffen rückwärts auf seinen Schemel, sein Gesicht röthete sich, er röchelte krampfhaft und ein Strom schwarzen Blutes entströmte seinem Munde.
»Ich dachte es, daß es ihn fürchterlich erschüttern würde,« murmelte der Maulwurffänger für sich, »Gott Lob, daß ich ihn nicht die volle Wahrheit sagte! Sie hätte ihn getödtet.«
[] Zweites Kapitel.
Ein Genesender.
Adrian war schwer, doch nicht lebensgefährlich erkrankt. Er hatte sich von dem geistigen Schwindel, der ihn bei Herta's Ankunft befallen, nicht wieder vollständig erholt. Vermehrte Sorgen, gehäufte feindliche Bewegungen unter seinen nächsten Umgebungen, endlich ein heftiger erschütternder Zwist mit Aurel, dem ein vollkommener Bruch folgte, hatten seine an sich starke und elastische Natur doch untergraben. Ein Nervenfieber warf ihn nieder und hielt ihn noch jetzt ans Lager gefesselt.
In der Zwischenzeit hatte der Maulwurffänger all seine Schlauheit aufgeboten, um für die Sache seiner Freunde festen Boden zu gewinnen. Er machte riesige Fortschritte, da Adrian [] nicht Gegenminen graben und den gefährlichen Feind in die Luft sprengen konnte. Etwas hätte der Leidende wohl thun können durch geschickte Bevollmächtigte, allein er nahm Anstand, in so verwickelten und delikaten Angelegenheiten einen Dritten für sich und in seinem Namen handeln zu lassen. Lieber wollte er den nunmehr unvermeidlichen Prozeß auf ungewisse Zeit hinaus verlängert sehen, als Familiengeheimnisse, die er nicht einmal selbst klar durchschaute, Andern rücksichtslos Preis geben.
An dem schon in den ersten Tagen nach Herta's Ankunft auf Boberstein ausbrechenden Bruderzwiste war Aurels herbe Geradheit Schuld. Adrian, bekannt mit seines Bruders schroffem und leicht erregbaren Charakter, schlug von Anfang an die glatten Wege sanft streichelnder und freundlich lächelnder Politik ein. Er glaubte Aurel durch gleißnerische Ueberredungskünste für seine Pläne gewinnen zu können. Auch gab er nur Andeutungen, nichts Ausgeführtes. Allein bei Aurel verfing Alles nicht. Er blieb mit seemännischer Festigkeit bei seinem Ausspruche: da man vor langen langen Jahren verübtes Unrecht entdeckt habe, sei es ihre Pflicht, dasselbe möglichst [] wieder gut zu machen. Man müsse daher nicht allein Tante Herta einen anmuthigen Wittwensitz geben, sondern allen denen, die rechtmäßige Forderungen an ihre Familie zu machen hätten, nach Kräften genügen. Zum Glück sei dies jetzt möglich, ohne daß sie selbst im strengen Sinne des Wortes zu leiden hätten. Ehe man jedoch einen solchen Schritt thue, sei es nöthig, durch öffentlichen Aufruf jedes etwa zerstreut oder verschollen im In- oder Auslande lebende Glied der gräflichen Familie Boberstein zu schleunigster Rückkehr in seine ursprüngliche Heimath aufzufordern. Nur so würde man jedem Prozeß entgehen und die Achtung des gesammten deutschen Publicums sich für immer erwerben. –
Diese Vorschläge und Zumuthungen liefen nun freilich den eigennützigen Plänen Adrians schnurstracks entgegen. Ihm war daran gelegen, jede Spur seines Vaters, der ein Boberstein sich zu schämen oder richtiger die er zu fürchten hatte, für immer zu vertilgen, auf ewig in die Nacht der Vergessenheit zu stürzen. Er wollte die verstreuten Reste verhaßter Verwandten nur kennen lernen, um sie in der Stille,[] unvermerkt, ja, wenn es nöthig sein sollte, durch neue heimliche Verbrechen auszutilgen. In diesem Sinne hatte er den uns bekannten Brief an Aurel geschrieben; diesem Zwecke entsprechend, hatte er in jeder Hinsicht gehandelt; für die Nothwendigkeit dieses Verfahrens hatte er ohne Mühe seinen jüngsten Bruder Adalbert gewonnen. Seine Meinung aufgeben und Aurels rechtlichen Forderungen beitreten hieß den festen Unterbau seines kaum begründeten irdischen Glückes vernichten. Seiner Charakteranlage nach konnte er sich dazu nicht entschließen. Lieber würde er gestorben sein als Märtyrer des Gelderwerbes, der jedes andere Interesse bei ihm überwog, weil er im Besitz möglichst großen Reichthumes die mächtige gebietende Gewalt erkannte, welche die Welt beherrscht, leitet, regiert und knechtet.
Mehrere Tage lang fielen unter den drei Brüdern viele harte Kämpfe vor, ohne daß Einer den Andern zum Uebertritt auf seine Seite bewegen konnte. Es war an Einigung, an friedliche Ausgleichung nicht zu denken, da sich fester Gerechtigkeitssinn und christlicher Humanismus an jesuitischer Schlauheit und aller sittlichen [] Unterlage gänzlich entbehrendem einseitig modernen Speculationsgeiste rieben.
Unter keiner Bedingung wollte Adrian gestatten, daß Herta als Familienglied betrachtet werde. Er drang hartnäckig in Aurel, daß er die unheimliche Matrone mit einem tüchtigen Geldgeschenk, welches ihr ein sorgenfreies Leben gewähre, entlassen und ihr einen bestimmten Wohnort anweisen solle, mit der Bedingung, über ihre Vergangenheit gegen Jedermann unverbrüchlich zu schweigen. Diesem Verlangen trat Adalbert sehr energisch bei, indem er nachzuweisen suchte, daß die Ehre ihres Hauses ein solches an sich ganz ehrenwerthes und lobenswürdiges Verfahren erheische. Eine Menge Beispiele aus der Geschichte großer Fürstengeschlechter sollten dem Kapitän beweisen, wie rechtmäßig oder doch wenigstens erlaubt und weltklug solche Handlungsweise sei.
Aurel gab aber nur sarkastische und nichts weniger als beistimmende oder beruhigende Antworten. Je länger und lebhafter die Unterhandlungen gepflogen wurden, desto mehr überzeugte sich der schlichte Seemann von der tiefen Verderbtheit seiner Brüder. Gewohnt, seinen Gedanken [] Worte zu leihen, erklärte er sie für ehrlos, ihr Handeln für infam und kündigte ihnen Krieg auf Leben und Tod an. Der vornehme Adalbert wollte sich darauf mit dem rücksichtslosen Bruder schlagen, stand jedoch auf Adrians Zureden von seinem Vorhaben ab. Die Brüder trennten sich in größter Erbitterung und Aurel verließ sechs Tage nach seiner Heimkehr Boberstein, um sich unvermerkt mit Herta und Emma nebst Gilbert auf den Zeiselhof zu übersiedeln. Entschlossen, den feindlichen Brüdern die Spitze von jetzt an zu bieten, gab er seine Reise nach Amerika und Westindien auf, übertrug die Führung des bereits befrachteten Schiffes einem zuverlässigen ihm befreundeten Kapitän und suchte sich unverweilt mit denjenigen Personen in Verbindung zu setzen, die er von nun an als Freunde und Bundesgenossen begrüßen mußte.
Das konnte ihm bei seiner Umsicht und erlangten Vorkenntniß nicht schwer fallen. Gilberts Gewandtheit unterstützte ihn außerdem vortrefflich und in Zeit von kaum acht Tagen war er in das Gewebe, welches der Maulwurffänger zu Adrians Verderben angezettelt [] hatte, so tief eingeweiht, daß er rüstig mit daran arbeiten und in verwandtem Sinne fortwirken konnte.
So groß diese Störungen waren, einen sichtbaren Einfluß auf die Geschäftsthätigkeit in der Fabrik äußerten sie nicht. Hier blieben alle von Adrian getroffene Anordnungen in Kraft und erlitten während der ganzen Dauer seiner Krankheit nicht die geringste Abänderung. Ohne Vollbrechts milde Verwaltung und Oberaufsicht wäre diese kritische Zeit wohl kaum so gänlich ungestört vorübergegangen, doch diesem Manne gelang es durch väterliches Ermahnen und durch Hindeuten auf die nahe Zukunft die Murrenden immer wieder zu beschwichtigen. Aurel nebst seinen bäurischen Verbündeten mußte freilich an Aufrechthaltung der Ruhe und strengster Gesetzlichkeit jetzt Alles gelegen sein, wenn der Prozeß für alle daran Betheiligte einen glücklichen Ausgang haben sollte. Er fürchtete für seinen namenlos erbitterten, in allen Gefühlen tiefgekränkten natürlichen Bruder und doch wünschte er vor Allem gerade diesen gerettet, vor dem Gesetz gerechtfertigt zu sehen. Vollbrecht, auf dessen Verschwiegenheit man bauen konnte, ward in das Geheimniß gezogen und [] entledigte sich des schwierigen Auftrags zu Aller Zufriedenheit. Als er dennoch einen ungesetzlichen Schritt von Martell befürchtete und keinen Weg zur Beruhigung des bis zum Wahnwitz erbitterten Spinners mehr einzuschlagen wußte, meldete er diese bedenkliche Stimmung dem Kapitän, worauf dieser den vermittelnden und immer dienstbereiten Maulwurffänger abschickte, um durch Mittheilung des Geheimnisses, das man aus Vorsicht noch nicht laut aussprechen durfte, den unglücklichen Armen zu beruhigen und mit neuem Hoffnungsathem zu beleben. Wir haben gesehen, daß diese Vorsicht nicht unnöthig war, wenn Martell nicht geistig und körperlich untergehen, vielleicht gar in wilder Raserei, brennend und mordend, sterben sollte.
Am Weihnachtsabende verließ Adrian zum ersten Male wieder sein Bett. Er war äußerst schwach geworden und konnte nur mit Hilfe zweier Diener über das Zimmer gehen. Gebückt, mit zitternden Gliedmaßen, hustend, bleichen Angesichts und mit tiefen, noch krankhaft lodernden Augen ließ er sich von Sessel zu Sessel gängeln, bald ans Fenster tragen, um sein brennendes Auge an dem reinen silbergestickten Winterkleide [] zu laben, mit dem sich die Natur zum Feste geschmückt hatte, bald wieder zum Kamine geleiten, damit er die wohlthätige Wärme des stillglimmenden Kohlenfeuers einsaugen könne.
»Hat Vollbrecht die Arbeiten einstellen lassen?« fragte er matt. »Es ist mein Wille, daß alle Arbeiter die Feiertage über freie Zeit haben, damit sie sich erholen und Gott danken können für alles Gute, das er an ihnen gethan hat.«
Obwohl Adrian seine abgemagerten Finger dabei faltete, zuckte doch ein flüchtiger Zug grausamen Hohnes um den eingekniffenen Mund, der Zeugniß gab von des Kranken zur Gewohnheit gewordenen Heuchelei.
»Seit heut Morgen stehen die Maschinen still, gnädigster Herr,« versetzte der Kammerdiener.
»Das ist Recht, das freut mich! Wie zufrieden werden meine Arbeiter mit dieser Einrichtung sein!«
»Ew. Gnaden,« sagte der Bediente, unterbrach sich jedoch selbst, da ihn der Kammerdiener unsanft anstieß.
»Nun?« fragte Adrian, als er die Verlegenheit des jungen Menschen und sein Erröthen [] bemerkte. »Warum schweigst Du, wenn Du mir eine Mittheilung zu machen hast?«
»Es hat Zeit damit bis nach dem Feste,« bemerkte der Kammerdiener.
»Ich will es aber jetzt, will es sogleich wissen und ohne Vorbehalt!« fiel Adrian heftig ein, da ihn der, obwohl gutgemeinte, Widerspruch seines Kammerdieners ärgerte. »Rede oder ich jage Dich noch heute fort, ohne Lohn und Christbescheerung!«
Fragend sah der Diener seinen ältern Gefährten an und da ihm dieser achselzuckend zuwinkte, sagte er:
»Ich wollte blos bemerken, Ew. Gnaden, daß die Mehrzahl der Spinner sehr traurige Feiertage halten wird, da wie Sie wissen, das Fest in die Woche fällt und auf Ihren ausdrücklichen Befehl die Lohnauszahlung erst am Tage nach Neujahr erfolgen soll. Die Meisten sind nun ohne Brod, ohne Holz, ohne Winterkleider und die Kälte ist seit heute Morgen um viele Grade gestiegen!«
Adrian bewegte theilnehmend und bejahend den Kopf, ohne, wie der Kammerdiener gefürchtet [] hatte, im Geringsten deshalb aufzubrausen, was doch in gesunden Tagen seine Art war.
»Freilich,« sagte er, »das ist sehr schlimm für die guten Leute, allein es wird auch das Gute haben, sie in Zukunft vorsichtiger und sparsamer zu machen. Ich konnte es nicht wissen, daß sie die paar Groschen so gar nöthig brauchten, – ich phantasirte ja! Vielleicht habe ich gar diesen Befehl in der Fieberhitze gegeben, denn ich kann mich durchaus nicht mehr auf ihn besinnen.«
»Befehlen vielleicht Ew. Gnaden, daß Herr Vollbrecht jetzt noch – es ist sechs Uhr vorüber –«
»Nein, nein, nein, keine Störung, kein Widerruf! Ein Herrenwort muß heilig sein, sonst sinkt der Respect. Die guten Leute werden sich behelfen, wie sie können, werden einander borgen und recht sparsam leben. Sie verderben sich nicht die Magen im Christbrod, was sie gern thun, wenn sie's haben, und so stiftet mein Fieberbefehl noch eine gute That!«
Wieder flog jenes teuflische Hohnlächeln über die Züge des kraftlosen Kranken. Adrian wußte sehr wohl, was er gethan hatte. Er [] wollte keinen seiner Arbeiter entlassen, was nur möglich war, wenn er die Ablohnung verzögerte. Nach dem Neujahr waren sie abermals sein unter jeder Bedingung, denn bis dahin konnte das Ergebniß der Leipziger Messe ein Vorwand werden, den Lohn auf der bisher beliebten niedrigen Taxe zu erhalten. Und dies war Adrians Absicht.
»Geh,« sagte er nach einer langen Pause zu seinem Kammerdiener, »geh und bitte Herrn Vollbrecht, wenn es ihm gefällig sei, mich bald mit seinem Besuche zu beehren.«
Nach diesem Befehl legte sich der Kranke bequem in den Lehnstuhl zurück, schloß die Augen und schien zu schlafen. Der Bediente entfernte sich, um den Gebieter nicht zu stören, und so gewann dieser Zeit und Ruhe, im Stillen über die mancherlei wichtigen Angelegenheiten, die ihn beschäftigten, mit sich zu Rathe zu gehen.
Nach Verlauf einer Viertelstunde, während dem Adrian kein Zeichen des Lebens von sich gegeben hatte, ließ sich Vollbrecht melden und ward angenommen.
Nie hatte Herr am Stein seinen Buchhalter und Geschäftsführer mit größerer Innigkeit [] empfangen, als an diesem Abende. Von schnöder Entlassung, von rachsüchtigen Drohungen, wie Adrian sie vor wenig Wochen gegen den freimüthigen Mann ausgestoßen, war nicht mehr die Rede. Adrian hatte das entweder wirklich vergessen, oder ignorirte es aus geheimen Beweggründen geflissentlich. Daß er Vollbrecht fein volles Vertrauen noch immer schenken sollte, war bei seinem mißtrauischen und versteckten Charakter, der alles gerade Wesen haßte, nicht anzunehmen.
Der Buchhalter beglückwünschte den Grafen kühl zu seiner Besserung und überreichte ihm zwei Briefe von Adalbert und dessen Gattin. Ein paar Packete, die zugleich mit angekommen waren, legte er auf den Tisch.
»Mein lieber Herr Vollbrecht,« begann Adrian, mit den Briefen spielend, »ich habe Ihnen großes Unrecht abzubitten. Heut, wo ich mich zum ersten Male als einen zum Leben Erwachten ansehen darf, fühle ich mich unwiderstehlich zu solcher Abbitte gedrungen; denn ich sehe wohl ein, daß ich nur Ihrer Umsicht, Vorsorge, Treue und Anstrengung den gesegneten Fortgang meines umfangreichen und verwickelten Geschäftes [] zu verdanken habe, und ganz allein durch Ihr ernstes und zugleich mildes Wesen, durch Ihre Anhänglichkeit an mich und Ihre Herablasung gegen die unruhige Masse der Arbeiter großer Gefahr entgangen bin. Sie haben mich gerettet, mich mir selbst erhalten und feurige Kohlen auf mein Haupt gesammelt. Empfangen Sie für so uneigennützige Liebesdienste den aufrichtigen Dank eines kranken Mannes, der Sie beleidigte, als er schon nicht mehr bei voller Besinnung war.«
Vollbrecht konnte die dargebotene Hand nicht aus schlagen. Adrian drückte und schüttelte seine Rechte wie ein wahrer Freund.
»Mit diesem Händedruck lassen Sie das Vorgefallene vergessen, für immer aus unserm Gedächtniß verschwunden sein!« fuhr Adrian fort. »Gern möchte ich Ihnen meine Erkenntlichkeit an den Tag legen, allein ich weiß schon, daß Sie ein hartnäckig edelmüthiger Mann sind, dem schwer beizukommen ist. Sie nehmen keine Geschenke an, nicht einmal an Festen, wie das heutige, wo sich die halbe Welt beschenkt. Wie, Herr Vollbrecht, soll man es denn anfangen um es Ihnen zu beweisen, daß man Ihnen [] Dank schuldig ist? Darf ich Ihnen eine Gehaltszulage anbieten, ohne Sie zu beleidigen?«
»Ich würde mich wahrhaft freuen, ja im Innersten beglückt fühlen, Herr am Stein, wenn Sie das Wohlwollen, welches Sie unverdienterweise mir schenken, auf Diejenigen übertragen wollten, die es in weit höherem Grade verdienen und dessen weit mehr bedürftig sind, als ich.«
»Sie meinen die Arbeiter?«
»Ihre darbenden Arbeiter!«
Adrian schloß auf einige Secunden die Augen, dann sagte er: »Verurtheilen Sie mich nicht, lieber Herr Vollbrecht, der Schein trügt häufig und Handlungen, die ursprünglich von der edelsten Gesinnung dictirt werden, können sich, oberflächlich betrachtet, als verbrecherisch darstellen. Fast scheint es mir, als geschähe dies mit dem Verfahren, das ich seit längerer Zeit gegen meine Arbeiter beobachte. Läugnen will ich zwar nicht, daß ich von ihrer Aufsätzigkeit erbittert, einigemale härter mit ihnen umgegangen bin, als es vielleicht vom christlich-humanen Standpunkte aus erlaubt war, allein das muß man auf Rechnung der Gereiztheit setzen, wo auch der beste Mensch sich schlimmen [] Neigungen und bösen Einflüsterungen überläßt. Ich habe dies vielmals beklagt, um so mehr beklagt, als mich Klugheit und Selbsterhaltung nöthigen, mir keine Blöße zu geben. Das begreifen Sie so gut, wo nicht besser als ich, Sie wissen wie schwierig eine so große Menge immer zu übertriebenen Forderungen aufgelegter Arbeiter zu lenken und zu befriedigen ist. Die Güte des Arbeitgebers wird von solchen Leuten regelmäßig gemißbraucht, zuvorkommende Behandlung, freigebige Anerkennung ihrer Dienstleistungen nie dankbar aufgenommen. Das Herz des Arbeiters ist dem Arbeitgeber stets feindlich gesinnt, weil er sich immer bevortheilt und den Herrn im Vorzuge glaubt. Alle Fabrikbesitzer haben diese Erfahrungen gemacht und sind durch sie zur Erkenntniß sowohl ihres eignen wie des Vortheils ihrer Arbeiter gekommen. Hoher Lohn, mein lieber Herr Vollbrecht, verdirbt jeden, auch den allerbesten Arbeiter. Er macht ihn hochmüthig, üppig, verschwenderisch, ungehorsam und unverträglich. Statt zu sparen und auf die Zukunft zu denken, schwelgt, praßt, spielt und wettet er, und statt dem Herrn treu und ergeben zu bleiben, verleumdet er ihn und sinnt nur darauf, [] wie er sich in seinem Sinne noch verbessern kann. Nie, lieber Volbrecht, wird die Arbeit schlechter verrichtet, als wenn der Lohn ein verhältnißmäßig hoher, der Verdienst mithin ein leichter ist! Dies erkennend, schlug ich einen andern Weg ein und gedenke diesen, mit Gottes Hilfe, auch fernerhin beizubehalten. Ein gewisser Grad von Dürftigkeit ist ein wahres Glück für den Arbeiter, wie für die Arbeit! Jener wird williger, fleißiger und genügsamer, diese besser und mithin vom Käufer begehrter! Wenn der Arbeiter sich abhängig fühlt, begründet er von selbst sei Glück! Es ist also nicht Härte, nicht Grausamkeit und Eigennutz von mir, wenn ich die häufigen Klagen meiner Arbeiter nicht beachtete, vielmehr stellte ich mich hart und unerbittlich zu ihrem eignen Besten. Was ich ihnen an Ueberfluß abgehen ließ, behielt ich für sie und ihre Kinder zurück, damit ihnen im Fall der Noth, bei wirklich eintretendem Mangel und ausbrechender Theuerung ein Kapital gesichert bleiben möge. Freilich mußte das heimlich und ohne ihr Mitwissen geschehen, weil sie mich sonst auf der Stelle ermordet oder doch geplündert haben würden; aber mein Testament wird [] dereinst Zeugniß ablegen von meiner Rechtlichkeit und väterlichen Fürsorge für Diejenigen, die ihr Leben meinem Dienst geweiht haben. Ihre Kinder werden mein Grab noch mit Thränen benetzen und die unverdienten Flüche und Verwünschungen damit auszulöschen suchen, die ihre kurzsichtigen Aeltern auf meinen Namen gehäuft haben in blindem Wüthen!«
Adrian verstand es vortrefflich, eine Rührung zu heucheln, von der sein Herz nichts wußte. Dennoch ward Vollbrecht von diesem scheinbar ehrlichen und offenen Bekenntnisse doch überrascht. Genau mit den Neigungen der Fabrikarbeiter vertraut, mußte er Adrian in vielen Behauptungen Recht geben; tausend Beispiele bestätigten den Hang dieser Leute leicht und schnell Erworbenes eben so schnell wieder zu verwüsten! Ihre Neigung zu sinnlich verschwenderischem Leben, zu hochmüthiger und prunkvoller Tracht ließ sich nicht verleugnen, und daß sie die Herren gern tyrannisirten, wenn sie die Macht dazu besaßen, war einer der häßlichsten Züge in ihrem Charakter. Eine gewisse Beschränkung konnte daher wirklich nöthig und zu ihrer sittlichen Veredlung dienlich sein, nur durfte eine [] solche nicht die äußersten Grenzen des Erlaubten überschreiten und den freien Menschen zu einem nach Brod winselnden Hunde herabwürdigen! So weit aber hatte Adrian urkundlich sein sogenanntes Wohlwollen und seine väterliche Fürsorge getrieben. Vollbrecht selbst glaubte übrigens nicht an die Versicherungen des Grafen, er hielt sie nur für eine neue, zu völligem Verderben der Wehrlosen lockend ausgeworfene Schlinge.
»Wenn dies wirklich Ihre höchst ehrenwerthe Absicht ist, Herr am Stein,« versetzte der Buchhalter, »so würden Sie sich mit einemmale die Herzen aller Ihrer Arbeiter gewinnen durch ein Weihnachtsgeschenk, das Sie ihnen verabreichen ließen. Sie dürfen nicht besorgen, daß ein solches Ihre Untergebenen übermüthig machen würde! Dazu besitzen sie sammt und sonders zu wenig; wohl aber würde es viele Thränen trocknen, viele Gemüther beruhigen und einer Bevölkerung von einigen Tausenden den Uebergang aus einem alten Jahre in ein neues versüßen.«
»So glauben Sie in Ihrer Menschenfreundlichkeit, lieber Vollbrecht,« entgegnete Adrian, [] »ich aber weiß, daß der Eindruck einer solchen Handlung gerade jetzt ganz andere Folgen haben würde! Das Sprüchwort vom Löwen, der, wenn er Blut geleckt hat, lüstern wird nach dem Fleische, würde sich in erschreckende Wahrheit verwandeln! Ein solches Geschenk sagte diesen unersättlichen, mir feindlich gesinnten Menschen, daß meine Behauptung von geringer Einnahme nicht streng wahr gewesen sei, sie würden gierig mehr verlangen, und im Weigerungsfalle voll Wuth und Raserei mein Besitzthum überfallen. Damit dies unterbleibe, ich selbst aber die Feiertage ruhig verleben und mich etwas erholen kann, mögen sie noch bis Neujahr schmale Kost genießen. Sie sind daran gewöhnt und werden also nicht sehr davon belästigt werden, am wenigsten aber verhungern. Meinen Sie dies nicht auch, Herr Vollbrecht?«
»Ihre Maßregeln zu beurtheilen, gnädiger Herr, erlaube ich mir nicht, da ich Sie in Ihren Entschließungen so fest und unwandelbar finde.«
»Das heißt mit andern Worten: Sie mißbilligen mein Verfahren.«
»Ich billige es nicht, Herr am Stein!«
»Aus Philanthropismus?«
[] »Auch aus Klugheit.«
»Fürchten Sie neue Ausbrüche der Unzufriedenheit?«
»Das nicht, Herr am Stein. Es gibt keine Unzufriedenen mehr, es gibt blos noch Verzweifelnde und diese verlangen keine Unterredungen.«
»Sondern? Sie verheimlichen mir noch einen Gedanken!«
»Wenn ich es thue, so geschieht es aus Schonung und Rücksicht für Ihren Gesundheitszustand, Herr am Stein.«
»Dennoch bitte ich Sie, ehrlich mit mir zu verfahren, wie ich es mit Ihnen gethan habe! Was fürchten Sie?«
»Den Wahnsinn Martells!«
»Wahnsinn?« wiederholte Adrian und sein Auge loderte heftiger auf. »Martell ist wahnsinnig? Wahnsinnig über den Tod seines Kindes?«
»Man besorgt allgemein, daß seine Vernunft dem namenlosen Seelenschmerz und der grenzenlosen Noth, die in seiner Familie herrscht, ehestens unterliegen wird. Die Folgen eines solchen Unglücks wage ich nicht voraus zu bestimmen.«
[] »Hat Martell die Arbeit eingestellt?«
»Immer bis auf den heutigen Tag war er der Erste an der Maschine und der Letzte, welcher den Saal verließ. Er arbeitete stets unverdrossen, aber mit einem Blick, mit einem Lächeln, die das Entsetzliche, das in ihm vorgeht, oder sich vorbereitet, verrathen. Man sagt, er betäube seinen Gram durch Branntwein!«
»Ich begreife nicht, was mich an diesem wilden Menschen anzieht,« sagte Adrian nach kurzem Schweigen,»was mich wünschen läßt, daß er in eine bessere Lage versetzt werden möge, ohne daß ich selbst die Hand dazu reichen darf. Ein unerklärliches Etwas, eine dunkle Warnungsstimme hält mich ab, daß ich es nicht thue! Aber verderben, ganz elend, wohl gar wahnsinnig werden aus Mangel an dem Allernothwendigsten mag ich ihn doch nicht sehen! Geben Sie daher Befehl, lieber Herr Vollbrecht, daß morgen früh der rückständige Lohn nebst dem auf die erste Arbeitswoche im neuen Jahr fallenden Martell ins Haus geschickt werde! Sie werden mir morgen Bericht erstatten, wie der Spinner diese Aufmerksamkeit aufgenommen hat und wie sein geistiges Befinden ist. Gesunde Feiertage!«
[] Vollbrecht verabschiedete sich. »Also doch noch eine Regung von Menschlichkeit?« sagte er im Fortgehen. »Oder wäre es das unerklärliche, geheimnißvolle Band des Blutes, das den herzlosen Egoisten zu einem Schritte des Mitleids zwingt, den er aus freiem Willen niemals gethan hätte? – Wahrlich, mich verlangt zu wissen, mit welchem Blicke Martell das Geld empfangen wird! – «
Adrian öffnete jetzt die erhaltenen Briefe. Sie enthielten höflich gefaßte, glatte und süße Glückwünsche zum Fest und nahenden Jahreswechsel, und waren außerdem noch von sehr reichen und kostbaren Geschenken begleitet, die Adalbert nebst Gattin dem lieben, kranken Bruder zum Andenken überschickten. Der Kranke freute sich wirklich einen Augenblick darüber, ließ in einem Anfall kindischer Laune die Geschenke vor sich auf dem Tische ausbreiten, an Ermangelung eines Tannenbaums die goldnen Kronleuchter anzünden und weidete sich an dieser stillen kalten Christbescheerung in dem reich meublirten, von würzigem Duft und behaglicher Wärme erfüllten Zimmer.
Um dieselbe Zeit ruhten Martells Töchter, [] ihre Blöße kaum mit Lumpen bedeckt, Brust an Brust auf dem kalten Lager. Der Frost schüttelte sie, daß der Schlummer ihre verweinten brennenden Augenlider nicht schloß. Pfeifend fuhr der Wind durch die zerknickten Scheiben und trieb den Staub auf von dem rohen Estrich der unwirthlichen Kammer. Lore weinte die bittersten Thränen über ihr grenzenloses Elend, Traugott suchte, wie immer, Trost und Erhebung im Gebet. Ueber ihn breitete zuerst der Engel des Schlafes seine schirmenden Fittiche.
Gegen Mitternacht schwankte der halbtrunkene Martell am Arme des Maulwurffängers in seine Wohnung und bettete sich für diese verhängnißvolle Nacht auf der Bank hinter dem Ofen. Heinrich rückte die Pelzmütze in die Stirn, verschlang die Arme über die Brust und schlief fest und tief bis an den Morgen.
Nach Tische ließ Vollbrecht dem Herrn Adrian am Stein durch seinen Kammerdiener sagen, daß Martell jede Gabe des Grafen, die nicht zugleich auch seinen Mitarbeitern zu Theil werde, mit Stolz und Verachtung zurückweise!
Adrian zuckte die Achseln, strich das Geld wieder ein und sagte verächtlich: »So mag er [] verhungern, der Trotzkopf, oder wahnsinnig werden! Mir alleins, wenn er nur zu Grunde geht!«
Dabei flog der Glanz eines leuchtenden Gedankens über sein krankhaft bleiches Gesicht. Er griff nach Papier und Feder, blätterte in seinem Taschenbuche, um sich einige Notizen darin aufzusuchen, und schrieb dann eiligst einen Brief nach Hamburg, den er seinem Kammerdiener zu schneller Besorgung übergab.
[] Drittes Kapitel.
Rückblicke.
Lange Jahre hatte der Zeiselhof keine so heitern Tage gesehen, als das diesmalige Weihnachtsfest. Ein anderer, ein guter Geist, war mit Aurel und seinen Begleitern eingezogen und hatte bald wieder Leben und Frische in die bis dahin verödeten Gemächer gebracht. Der Kapitän, fest entschlossen, das Vaterland vor Ausgang des Prozesses nicht mehr zu verlassen, nahm sich der innern Verwaltung des bedeutenden Rittersitzes mit Eifer an, und obwohl er von Oeconomie wenig verstand, wußte er sich doch mit Hilfe des gegenwärtigen Verwalters schnell so weit zu orientiren, daß er Anordnungen treffen und in streitigen Punkten ein entscheidendes Wort sprechen konnte, ohne sich eine Blöße zu geben.
[] Gilbert mußte dem rüstigen Kapitän auch hier stets zur Hand sein und sich außerdem bald als munterer Erzähler, bald als schnellfüßiger Bote, bald als schlauer Unterhändler gebrauchen lassen, eine Verwendung, die dem lebensfrischen Jünglinge ihrer Mannigfaltigkeit wegen ganz wohl gefiel.
Herta lebte ebenfalls mehr und mehr wieder auf. Ihr durch die unwürdigsten Verhältnisse und beklagenswerthesten Schicksale so lange niedergedrückter Geist erwachte zu alter schöner Lebendigkeit in den Umgebungen, die ihren frühesten Gewohnheiten entsprachen. Sie hatte zwar nie den Zeiselhof in den Tagen ihres träumerisch-schönen Jugendglücks betreten, aber diese hohen Zimmer mit den veralteten Tapeten waren ihr lieb als Zeugen der Versuchungen, welchen Haideröschen hier so trotziglich widerstanden hatte. Das Andenken dieser unglücklichen, dieser unvergeßlichen Freundin und Lebensgefährtin ehrend, erwählte sie das schmale Balconzimmer, das mit dem ehemaligen Wohnzimmer des Grafen Magnus durch die verborgene Falzthüre in unmittelbarer Verbindung stand, zu ihrem Boudoir.
Später erschien auch Sloboda mit seinem [] Enkel auf dem Rittersitze und verkehrte tagelang mit dem redlichen Aurel, der das entsetzliche Unrecht seiner ganzen Familie durch seinen großsinnigen Edelmuth allein vergessen zu machen gesonnen schien. Auf sein Bitten ließ Sloboda seinen Enkel ganz auf dem Zeiselhofe, und der Kapitän behandelte den jungen Menschen sofort mit einer Art humoristischen Respectes als rechtmäßigen Besitzer desselben, obschon der Entscheid dieser Frage noch in weiter Ferne lag.
Zu den Feiertagen hatte Aurel die beiden Alten um einen Besuch auf längere Zeit gebeten. Sloboda und der Maulwurffänger trafen mehrere Tage vor dem Feste ein. Dadurch ward die Sendung des immer rüstigen Heinrich nach Boberstein möglich, die der alte Mann selbst übernehmen mußte, wenn sie glücklichen Erfolg haben sollte. Schon am Abend des Christtages kam der schlaue Greis mit sehr zufriedener Miene wieder zurück und meldete den erwartungsvoll Harrenden, daß Martell vorläufig gerettet und seiner Familie nothdürftig geholfen sei.
Man hatte bisher nicht hinlängliche Ruhe und geistige Sammlung gehabt, um von Herta die Erzählung ihrer Schicksale erbitten zu können. [] So nöthig Aurel und der Maulwurffänger ein solches Aufschließen der Vergangenheit auch hielten, immer gab es noch Dringenderes zu beschicken und zu ordnen. Erst zum Weihnachtsfeste trat ein erwünschter Ruhepunkt ein, und diesen bestimmte der Kapitän im Voraus zu einer Besprechung der Angelegenheiten seiner Tante, die ihm für den dereinstigen Ausgang des Prozesses sehr wichtig erschienen. Aus diesem Grunde wünschte er auch des Wenden und Heinrichs Anwesenheit.
Am Abende des zweiten Feiertages hatte sich dieser Zirkel so fremdartiger, verschiedenaltriger und doch so eng und nah verwandter Personen – die Repräsentanten dreier Generationen – in Hertas Zimmer am Theetische versammelt. Man zog es vor, die Diener gänzlich zu entfernen, um völlig ungestört sich der Vergangenheit und ihren Eindrücken überlassen zu können. Aurel schlug sogar vor, größerer Sicherheit wegen die Unterhaltung französisch oder englisch zu führen, man mußte indeß aus Rücksicht für Sloboda und Pink-Heinrich darauf verzichten. Letzterer konnte nicht umhin bei diesem echt aristokratischen Vorschlage eine seiner trocknen Bemerkungen zu machen, die hinter [] drolliger und neckisch klingender Einkleidung immer einen sehr ernsten Sinn versteckten.
»Schade, mein Herr Seemann,« sagte er, »daß ich dummer Dorfteufel in meinem langen müssiggängerischen Leben mein Tage nicht den gescheiten Einfall gehabt habe, das Parlez-vous zu traktiren! An Gelegenheit war kein Mangel dazumal, als der Bonaparte die Welt mit Schwert und Kanonen regierte; 's wurde mir salt zu jener Zeit. sogar von einem großbesternten Offizier, den ich als Ordonnanz ins Oberland begleiten mußte, angeboten, mir unentgeltlich in dem welterobernden Kauderwelsch Unterricht geben zu lassen, ich Narr bedankte mich aber gar schön bei selbigem Großen. Denn, mein Herr Seemann, ich schämte mich just in meine altdeutsche Seele hinein, daß ich die Sprache eines Volkes lernen sollte, deren vermaledeites Lallen die Tugend unsrer Weiber untergrub! Ich kriegte, so zu sagen, mit Verlaub den Bittern auf die Parlez-vous und ihr Genäsele, und so bin ich denn ein altdeutscher ehrlicher Dumrjan geblieben. Beliebt es demnach den ehrenwerthen Versammelten, so bitte [] ich und mein alter Freund um deutschen Discours. Es gilt ja dem unterdrückten Volke, und da mein' ich, ist es recht und billig, daß der Hochgeborene lieber ein paar Staffeln herabsteigt, als dem armen Volke die Zumuthung macht, sich mühsam mit seinem schweren Geschüht zu ihm herauf zu haspeln.«
Aurel nahm diese etwas derbe, aber mit listigem Augenblinzeln gehaltene Entschuldigungsrede seiner Unkenntniß mit Heiterkeit auf, scherzte selbst über sein undeutsches Ansinnen und wußte die Unterhaltung unmerklich so zu leiten, daß sich ein Gespräch über die Vergangenheit ungezwungen daran knüpfen ließ. Man war heiter, traulich und fühlte sich bei dem brausenden Schneesturme, der über die Haide herantobte und Wolken staubfeinen Eises gegen die Fenster jagte, heimlich in der friedlichen Umgebung. Mit komischem Behagen und etwas täppischer Unbeholfenheit genossen Paul, Sloboda und unser Maulwurffänger das aromatische Getränk, das Herta noch mit der ganzen Zierlichkeit und Anmuth ihrer Jugendjahre bereitete. Emma, die natürlich in diesem Kreise auch nicht fehlen durfte, versah das Amt einer Dienerin.
[] »Ich erinnere mich einer Nacht, wo es eben so stürmte,« sagte der Maulwurffänger, indem er mit den Lippen schnalzte und die geleerte Tasse der theebereitenden Herta ungenirt zuschob. »Das war dazumal, als ich die Bekanntschaft des Fürsten der Haide machte, eines in seiner Art braven Mannes, weshalb ich aufrichtig bedaure, daß ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist.«
»Ist es mir doch, als hätte ich kurz vor dem Tode meines Oheims zuweilen ebenfalls von diesem Manne sprechen hören,« bemerkte Herta. »Er mußte ein Mann von Gewicht sein.«
»Wie man's nimmt, meine gnädige Gräfin,« versetzte der Maulwurffänger, die neugefüllte Tasse dankend aus Herta's schmaler Hand empfangend. »Als ich jung war, fürchtete, haßte und liebte man ihn, je nachdem Einer oder der Andere ein gutes oder böses Gewissen sich zur Nachtruhe unter den Kopf schieben konnte, denn der Johannes der Haide, wie er mit seinem richtigen Tauf- und Familiennamen hieß, war seiner Zeit ein ganz scharfer Richter, bei dem zwei mal zwei vier, und krumm immer krumm blieb und wenn ihm einer versprochen hätte, das Oel [] aus den Lampen aller klugen Jungfrauen für seine Nachtleuchte ihm zu verschaffen!«
»Sonderbar!« fiel Herta ein. »Obwohl ich immer ein düsteres Vorgefühl und eine Scheu vor den Thaten meines Vaters gehabt habe, mit Bestimmtheit konnte ich doch nie erfahren, ob er und der berühmte oder berüchtigte Fürst der Haide ein und dieselbe Person seien! Denn Ihr wißt, braver Alter, daß sich Johannes nach der Zerstörung des Schlosses Boberstein in die abgeschlossenste Einsamkeit zurückzog. Die Streifzüge des Fürsten der Haide wurden aber noch geraume Zeit fortgesetzt – wie ich nunmehr vermuthe, von den Tapfersten seiner Gefährten. Und so erfahre ich mithin erst jetzt, daß Johannes, mein Retter und Rächer, wirklich jenen für alle vornehmen Verbrecher schreckenvollen Namen führte.«
»Es ist so, wie ich sage, meine gnädigste Gräfin,« betheuerte Pink-Heinrich. »Derselbige Johannes, der in seinen guten Tagen ein Hauptschütze war und ein wahrer Mordhahn im Fechten und Reiten, und dem just wegen so vortrefflicher Eigenschaften der gnädigen Gräfin in Gott ruhende liebe Mutter zu tief in Aug' und Herz [] geblickt hatte, derselbige Johannes legte sich später nach dem Unglück und Verdruß mit dem seligen Herrn Oheim auf das freie Kriegshandwerk. Nach Ihrer gnädigen Aeußerung hat er also ferner nicht mehr mit dem Stegreif gut' Freund sein mögen?«
Auf einen Wink Herta's trug Emma die Theemaschine nebst Tassen fort und Herta schickte sich an, in zusammenhängender Erzählung eine Skizze ihres Lebens seit ihrer gezwungenen Flucht von Boberstein den Freunden zu entwerfen.
»Ich beginne von dem Augenblicke an, wo wir von einander schieden,« sprach Herta, indem sie ihre abgemagerte Hand dem neben ihr sitzenden Maulwurffänger reichte, als wolle sie ihm nach so langen Jahren nochmals für den ihr geleisteten Beistand und für die vielen Dienste und Gefälligkeiten, die er ihrer Freundin erwiesen hatte, Dank sagen. »Umgeben von den vielen Bewaffneten in Jägerkleidung, immer begleitet von dem häufig erstickenden Brandgeruch der Haide und überwölbt von einem trübroth flammenden Himmel, rollten wir in schlechter, schütternder Kalesche auf bald holprigen, bald tief in [] weichem Sande sich verlierenden Wegen dem verstecktesten Dickicht der Haide zu. Mein Vater rastete nur bei zerstreut liegenden Köhlerhütten, deren Bewohner staunend neben ihren knisternden und qualmenden Meilern standen und dem gespenstischen Zuge der finstern Rauchwolke nachsahen, die uns wie der mahnende Geist einer entsetzlichen That verfolgte. Ueberall bei diesen schlichten, ungebildeten, rohen, aber ehrlichen Leuten fand mein Vater zuvorkommende Aufnahme, sogar eine gewisse Ehrfurcht ward ihm erwiesen, und als er einmal auf eine an ihn gerichtete Frage mich gar seine Tochter nannte, trugen die guten Menschen das Allerbeste auf, was Küche und Keller bargen, und riefen uns tausend Segenswünsche bei unserm Aufbruche nach. Wehe mir, möchte ich noch jetzt sagen, daß sie sich nicht erfüllten, müßte ich nicht glauben, daß Gott mich zum Werkzeug seiner höheren Zwecke be stimmt und deshalb durch so grausame und lange Läuterungen führend, tüchtig dazu hat machen wollen!«
»Nach dreitägigem allerdings meist langsamem Vordringen in dem unermeßlichen Waldesdickicht – des Nachts rasteten wir entweder bei Köhlern oder auf einer sogenannten Streu, wo sich [] dann immer einige kräftige Männer in grünen Jagdröcken und mit guten Büchsen bewaffnet einfanden – erreichten wir drei Häuser, die einsam auf einer unbedeutenden Waldblöße lagen und an der freien Seite noch durch einen tiefen schwarzen Sumpf gegen unwillkommene Gäste geschützt waren. Nur vom Walde her konnte man diese geräumigen, einstöckigen Bauernhäuser auf kaum sichtbaren Fußwegen betreten. Hier blieben wir, da mein Vater Geschäfte zu haben vorgab. Mir war Alles recht, wenn ich nur sicher sein konnte, das Angesicht dessen, den ich haßte, nicht mehr sehen zu dürfen. Die Bewohner der drei Häuser waren wendische Haidebauern, gutmüthig, lustig und überaus gefällig, wenigstens gegen mich. Was ich wünschte, ward mir gebracht, jeder meiner unbedeutendsten Winke war ihnen Befehl. Ich ward bedient, wie nie, besser selbst, als es Emmas Gewandheit und Haideröschens Anmuth je gelungen war. Man verwöhnte mich und nannte mich unverhohlen die Prinzessin der Haide, einen Titel, den ich herzlich belachte, den ich mir aber auch als höchst unschuldig gutmüthig gefallen ließ.
Bis zu diesem von allem Verkehr und jeder [] befahrenen Straße fern gelegenen Versteck hatten wohl gegen dreißig jener grün gekleideten Männer uns unverdrossen begleitet. Hier verabschiedeten sie sich bis auf drei, von denen mir einer seiner furchtbaren Häßlichkeit und seiner boshaften, scheußlich rollenden Augen wegen immer unvergeßlich bleiben wird. Diese drei noch sehr jungen Männer weigerten sich, den Uebrigen sich anzuschließen, bestanden vielmehr darauf, bei dem Vater zu bleiben und hefteten sich buchstäblich an seine Person. Johannes wollte dies nicht dulden, weil aber all' sein Zureden nichts half, ging er am Tage nach unsrer Ankunft in diesem verborgenen Haideorte mit ihnen in eines der Nachbarhäuser und blieb mehrere Stunden mit ihnen im vertrauten Gespräch beisammen.«
»Gegen Abend kamen Alle in großer Verstimmung wieder zurück, namentlich ließ jener mir Furcht und Entsetzen einflößende Häßliche mit dem Wolfsgebiß fortwährend fürchterliche, unverständliche Drohungen hören, auf die jedoch mein Vater nicht achtete. Die beiden Andern blieben mit düstern Blicken und gerunzelten Stirnen still neben einander sitzen.«
»Liebe Tante,« unterbrach hier Aurel die Erzählende, [] »können Sie sich nicht auf den Namen des er wähnten Häßlichen besinnen?«
»Keiner der Männer nannte ihn bei'm Namen,« erwiederte Herta, »abwechselnd hörte ich ihn nur bald Lugauge, bald Wolfszahn rufen.«
»Kein Zweifel, er ist es!« sagte Aurel und verdoppelte wo möglich noch seine Aufmerksamkeit.
»Wer?« fragte Herta. »Den Schrecklichen, in dessen Hand mein unglückliches Leben gerieth, können Sie nie erblickt haben!«
»Davon später, gnädige Tante. Bitte fahren Sie fort, wenn es Ihnen genehm ist.«
»Lugauge oder Wolfszahn, wie ich ihn nennen will, warf meinem Vater Treulosigkeit, Wortbruch und Egoismus vor und ließ nicht undeutlich merken, daß ich ihm verhaßt sei. Die kalte Ruhe Johannes erbitterte ihn immer mehr und verleitete ihn zuletzt Hand an ihn zu legen, indem er wüthend an seine geladene Büchse schlug. Verächtlich stieß Johannes den Rasenden von sich, rief ihm barsch zu, daß er sein Theil erhalten habe und ihn fortan ungestört lassen solle! Er sei Herr seines Willens und könne [] thun, was er wolle, nur auf seinen (Johannes) Wegen solle er sich nicht mehr blicken lassen!«
»Schon gut,« versetzte Wolfszahn nach dieser eben so kurzen als heftigen Scene, die ich, an Emmas Brust geschmiegt, zitternd und zagend mit angehört hatte, »es wird schon Tag und Stunde kommen, Herr Johannes, wo wir zusammen Abrechnung halten können. Hoffentlich sind wir dann ohne Zeugen und mithin ungestört und weigert sich der gewissenhafte Herr dann abermals, mir gerecht zu werden, so kenne ich ein untrügliches Mittel, mir auf eigne Faust Gerechtigkeit zu verschaffen!«
»Johannes lächelte blos zu dieser Drohung, Lugauge winkte den beiden Schweigsamen und verließ mit ihnen das Bauerhaus. Im Fortgehen schleuderte er mir noch unter grinsendem Lachen einen boshaften Blick zu, der mich lange im Traume noch erschreckte und mir ein namenloses Entsetzen einflößte.«
»Als diese drei Männer endlich im finstern Föhrenwalde verschwanden,« athmete mein Vater erst frei auf. »Gott Lob und Dank,« rief er mich zärtlich umarmend aus, »jetzt erst bist Du vollkommen mein, theures, heißgeliebtes Kind; [] von nun an kann ich wieder ganz Dein sorgender treuer Vater sein! Keine Gewalt auf Erden soll uns wieder scheiden, als der Tod!«
»In diesem Augenblick klirrte neben uns eine Scheibe, daß die Stücken zur Erde fielen und pfeifend schlug eine Büchsenkugel in den geschwärzten Tragbalken der Decke, daß einige braune Splitter umherflogen.« Ich schrie entsetzt laut auf und barg mein Gesicht an der Brust des Vaters. Dieser that, als sei nichts geschehen. »Unvorsichtigkeit eines Jägerburschen,« sagte er, »der mit Schießgewehr noch nicht umzugehen weiß!« – Ich ahnte aber wohl, aus wessen Büchse diese mahnende Kugel ausgesendet worden war.
»Ohne die traurigen Erinnerungen an grauenvolle hirnverrückende Momente der Vergangenheit hätte ich jetzt ein zufriedenes, ja glückliches Leben führen können. Die völlige Abgeschiedenheit, die rauschende Waldeinsamkeit, der Harzduft der Kiefern und Tannen, die zauberischen Sonnenuntergänge, welche die unabsehbare Waldung in goldenes, funkenflimmerndes Aetherlicht tauchten – das Brausen der nächtlichen Stürme, in [] denen die Geisterstimme der Haide erklang – dies Alles entsprach meinen Neigungen und sympathisirte mit meiner traurig-feierlichen Stimmung. Auch Altgewohntes fehlte nicht ganz, da ich außer dem kleinen Eichhörnchen, das mich immer mit seinen zierlichen Sprüngen erheiterte, auch einige meiner geliebten Bücher aus dem brennenden Schlosse gerettet hatte.«
»Von den Folgen dieses Brandes hörten wir nichts. Wir waren weit genug von dem Schauplatz des furchtbaren Ereignisses entfernt, um in größter Ruhe auch die außerordentlichsten Ereignisse abwarten zu können. Zeitungen und fliegende Blätter verirrten sich nicht zu uns, nur von ab- und zugehenden Köhlern oder Kienrußhändlern drang bisweilen eine Neuigkeit aus der bewegten Welt des bewohnten Landes in unsre Einsamkeit.«
»Johannestrieb mit einer gewissen Leidenschaft Vieh- und Bienenzucht. Er hatte, wie er mir später sagte, das von uns bewohnte und bequem mit städtischem Luxus eingerichtete Haidehaus käuflich an sich gebracht und lebte von dem nicht unbedeutenden Ertrage desselben. Ein ansehnlicher [] Strich Wald mit guter Torfgräberei gehörte dazu und gab ausreichenden Gewinn.«
»Sehr lebhaft interessirte mich die Bienenzucht, an der ich schon früher, durch die Bekanntschaft mit Gregor, dem drolligen Schulmeister, Gefallen gefunden hatte. Ich fürchtete mich zwar noch immer vor den schwärmenden kleinen Thieren, ließ mich aber doch von Johannes überreden, ihn einigemale in den Wald zu begleiten und der Pflege der wilden Bienen zuzusehen. Diese bauen in schlanke Baumstämme ihre durchsichtigen zarten Zellen und gewähren einen sonderbaren Anblick. Oft siedelten mehrere Schwärme in ein und demselben Stamme stockwerkartig über einander, oder es standen in weitem Halbkreise eine Menge hoher Föhren beisammen, die von Millionen Bienen bewohnt waren. In solche Hecken wilder Bienen einzudringen war nicht immer gefahrlos. Der Bienenvater, der Zeidler, wie man ihn hier nennt, mußte vertraut sein mit den Gewohnheiten dieser fleißigen und an sich harmlosen Thiere und die Zeit abpassen, wo die Sonne zu Rüste ging, oder ihre Strahlen doch nicht gerade den wimmelnden Zellenbau trafen. Denn im vollen Schein dieses Gestirns flogen die summenden Thiere sammelnd zu Tausenden [] ab und zu, und wer dann ihre Wege kreuzte, der konnte den empfindlichsten Stichen trotz aller Vorsicht nicht entgehen.«
»Mein Vater besaß auf seinem Heideantheil über hundert ›Beuten‹ wilder Bienen, die er mit großer Aufmerksamkeit pflegte und beim Schwärmen durch Anlegung neuer ›Beuten‹ zu mehren suchte. Der Ertrag an Honig war bedeutend und um so gewinnreicher, als er süßer und von Geschmack aromatischer vom Kenner gefunden wurde, als der der zahmen Bienen. Ich erwähne dieser Bienenzucht so ausführlich, weil das Schicksal meines Vaters durch sie eine tragische Wendung erlitt.«
»Zwischen Lectüre, Handarbeit und Erholung meine Zeit eintheilend, kam der Spätherbst heran und nöthigte mich, im Hause zu bleiben. Johannes ging fleißig auf die Jagd, meistentheils allein, nur zuweilen von einem stämmigen Burschen begleitet, der sich in Emmas rosiges Gesicht verliebt hatte und halbe Tage lang, die Pelzmütze in der Hand, neben dem Wandheerde stehen und stumm und stier die Flamme anglotzen konnte. Mit ihr gesprochen hat der Bursche meines Wissens niemals. Oder doch, Emma?«
[] Die gefragte, jetzt mit Runzeln bedeckte treue Dienerin bestätigte die Wahrheit des Gesagten durch ein freundliches Lächeln. Herta fuhr fort:
»Ungeachtet des Abscheues, den ich bei der bloßen Erinnerung an meinen Vetter Magnus empfand, drängte es mich doch, Johannes zu fragen: ob er nichts mehr von ihm und den Seinen gehört habe? Johannes behauptete ohne Nachricht zu sein, doch hatte ich Grund, die Wahrheit dieser Behauptung zu bezweifeln. Mein Vater schrieb und empfing Briefe, an wen und von wem? konnte ich nicht erfahren. Sie mußten aber nicht immer erfreulichen Inhaltes sein, denn oft ward Johannes so davon verstimmt oder gar erschüttert, daß er seine Bewegung mit aller Kraft des Willens nicht verbergen konnte und häufig noch des Nachts seufzend in seiner Kammer auf- und niederging. Ich vermuthe, daß Wolfszahn sich mit Magnus in Verbindung gesetzt und ihm Johannes in einem Licht dargestellt hatte, das ihm gefährlich werden, vielleicht gar seine persönliche Sicherheit gefährden konnte.«
»Es blieb indeß bei diesen momentanen Aufregungen. Johannes ging nach solchen beunruhigenden[] Briefen, wie ich bemerkte, jedesmal am nächsten Tage sehr frühzeitig aus, mochte das Wetter gut oder schlecht sein.« Selten kehrte er vor Abend zurück, dann aber erheitert, wo möglich mit vermehrter Zärtlichkeit und Vaterliebe gegen mich. Einmal hörte ich, daß er tief in der Nacht vor einem solchen frühen Morgenspaziergange Geld zählte und es dann in einen Beutel schüttete, wobei ich deutlich die Worte vernahm: »Endlich wird sein Gelddurst doch wohl gestillt sein! Es ist das Letzte, was ich Herta hinterlassen wollte!« – »Ich dankte Gott, daß ich den Vater für beruhigt halten durfte, dachte nicht an mich und meine unsichere Zukunft und entschlief mit einem Seufzer des aufrichtigsten, innigsten Dankes zu Gott.«
»Tief im Winter ward ich Mutter, Mutter eines muntern braunen Knaben, dessen kindliche Gesichtszüge mich schaudernd an seinen entsetzlichen Vater erinnerten. Nichts desto weniger liebte ich das Kind zärtlich, weidete mich an seinem Lächeln und küßte ihm die trotzigen kleinen Lippen mit namenloser Wonne. Ich gelobte an der Wiege des schlummernden Knaben durch seine Erziehung die Vergehungen des herzlosen [] Vaters zu sühnen. Nach meinem Vater nannte ich ihn Johannes.«
»Der Knabe gedieh sichtlich, entwickelte ungewöhnlich zeitig gelenke Körperkraft und geistige Schärfe, lernte sehr bald sprechen und war mit zwei Jahren ein prächtiger Junge. Mein Vater nannte ihn scherzweise den Haidekönig und war nahe daran, ihm zu Liebe dem grausamen Magnus zu verzeihen.«
»In dieser Zeit trug sich nichts Bemerkenswerthes zu. Unser Waldleben war einsam, eintönig, wie das eines Einsiedlers, und würde mir lästig geworden sein, hätten wir uns nicht auf mancherlei Weise nützlich und angenehm zu beschäftigen gewußt. Ueberdies unterhielt mich die eigenthümliche Poesie der Haide, auf deren Stimme zu lauschen ich nie müde ward. Kein Tag, ja keine Stunde verging, wo ich nicht ein neues Phänomen entdecken und bewundern konnte. Ich ward ein Kind der Natur und lebte mich so tief und innig ein in ihre wunderbaren Geheimnisse, daß mir Alles andere schaal dagegen erschien. Im nickenden Grase, im Spiel der Käfer und Insecten auf krauslockigen Moosen, in den phantastischen Schlachten der Wasserspinnen [] und Fliegen auf braunrothen Wassertümpeln in Moor und Sumpf; überall entdeckte ich ein Atom göttlichen Daseins ein heiliges Fortathmen der schaffenden und welterhaltenden Allmacht. Und Abends in herbstlicher Kühle, welch' bezauberndes Schauspiel gewährte dann die ruhende Haide! Oft blau und klar wie eine kristallene Kuppel stieg das Himmelsgewölbe über der Waldung empor. Anfangs blieb Alles still und öde, bis der Goldrauch der Sonne am Rande der Kuppel verdampfte und dunklere Tinten, wie Nachtgedanken des Weltgeistes, an ihren glänzenden Ribben heraufliefen. Nun bewegten sich in regellosem Spiele die heimkehrenden Waldvögel, bald zitternd schwebend, bald in welligem Fluge auf und abstürzend, bald im jähen Falle niedersinkend in die flüsternden Wipfel der zusammengeneigten Föhren, durch die dunkelnde, von blassem Sternenlicht neu sich entzündende Kuppel. Später glitten mit schwirrendem Echoschall breite Geschwader wandernder Staare über die Waldung, oder einzelne Störche ruderten schwerfällig mit lang gestrecktem Halse und klapperndem Schnabel durch die dunkle Luftfluth, oder ein Habicht kreiste wie ein von unsichtbarer Kraft bewegter [] Bohrer lange lange um sich selbst, bis er plötzlich gleich einer schwarzen Flamme niederschoß in den Wald – ein Schmerzensschrei hallte wieder in der Oede und die Stille des Todes breitete sich abermals über die schlummernde Waldung! Sie betete zu Nacht – dann rieselten silberne Lichtwellen über die nickenden schwarzen Föhrenhäupter, grauweiße Schleier sanken auf ihre Schultern und die ewige Lampe der Welt brannte still und mild im dunkeln Osten.«
»Ich fühlte mich glücklich in dieser hehren Abgeschiedenheit; ich vergaß mehr und mehr den erlittenen Kummer, das mir zugefügte Unrecht und ich zweifle nicht, daß mich ein fortgesetzter Aufenthalt in dieser waldigen Einöde mit der Zeit gänzlich den Menschen wieder versöhnt haben würde. Aber es scheint, als sei es Gottes Wille, die Kräfte seiner Geschöpfe und ihre Geduld bis zum äußersten Grad der Anspannung zu versuchen und in dieser Versuchung gleichsam die Probe auf sein Schöpfungsexempel zu machen. Wer in ihr erliegt, der ist vielleicht noch nicht würdig gewesen in wahrem Sinne sein Kind zu heißen, es sei denn, daß dem Schwachen [] die ewige Liebe ihre milde, versöhnende Hand reiche! –«
»Es war die Zeit, wo die Bienen zu schwärmen beginnen. Mein Knabe stand im vierten Jahre und konnte kaum den Tag erwarten, wo er den Großvater in den Wald begleiten sollte, um das unterhaltende Schauspiel mit anzusehen und die Behandlung dieser nützlichem Thiere zu erlernen. Johannes hatte ihm eine ›Beute‹ zu stellen versprochen, wenn sich ein gesunder, neuer Schwarm auf seinem Revier anlegte.«
»Um einer glücklichen Bienenärndte versichert zu sein, hatte Johannes schon vorsorglich die leeren ›Beuten‹ mit sogenannter Bienenschminke bestrichen, eine aus vielen wohlriechenden Kräutern unter mancherlei Heimlichkeiten zusammengesetzte Salbe. Diese dient den Spurbienen zum Köder, welche gleichsam als Herolde den Schwärmen vorausfliegen und sich auf den, ihnen am meisten zusagenden, Beutebäumen niederlassen.«
»Endlich erschienen die Bienen. Die ganze Haide summte von den schwärmenden Thieren und lockte überall die Zeidler auf ihre Standorte [] zu den ›Beuten‹. Auch Johannes, bewaffnet mit seiner Zeidelart, mei nen Sohn an der Hand brach zeitig auf. Der alberne Nachbarsbursche, der sich in Emma's Schelmenaugen vergafft hatte, wollte als Beistand mitgehen, allein Johannes gestattete dies nicht und wies den in seinem Vornehmen etwas Hartnäckigen barsch zurück. Der Zeidler duldet nie Uneingeweihte in seinem Revier, am wenigsten zur Zeit des Schwärmens, da ihre Gegenwart, dem Volksglauben zufolge, den neu eingefaßten Schwärmen Unglück bringen soll.«
»So ging mein Vater mit dem kleinen lachenden braunlockigen Johannes, der mir noch von weitem manches Kußhändchen zuwarf, allein in die Haide. Was bis zum späten Abend im öden Dickicht geschehen sein mag an jenem unheilvollen Tage, weiß nur Gott allein! Wir armen Zurückgebliebenen, die wir sorglos der Heimkehrenden warteten, wir haben über das Geschehene nur Vermuthungen zusammenstellen können. Wir ahnten nichts Böses, wir saßen arbeitend am blumengeschmückten Fenster und freuten uns der warmen hellen Luft, des sonnigen windstillen Tages. Bis in die sinkende Nacht beschlich uns [] kein ängstlicher Gedanke, da Johannes in der Haide eben so heimisch war, wie auf seinem Hofe. Erst als die Schatten erloschen waren und die Nacht ihre grauen Dämmerungen in trüben Nebeln über die Wälder breitete, begann mein Herz ängstlich zu schlagen, und unruhig nach Vater und Sohn zu verlangen.«
»Noch immer hoffte ich, daß die Zögernden unversehrt heimkehren würden, denn ich kannte die Gewohnheiten meines Vaters, in Folge deren er oft sogar ganze Nächte hindurch bei einem Köhler übernachtete, oder in warmen Sommernächten unter freiem Himmel den jungen Tag erwartete. Eine sonderbare Unruhe, die ihn nie ganz verließ, schien ihn von Zeit zu Zeit in solchen einsamen Nachtspaziergängen im finstern Walde zu nöthigen. Darum ließ ich auch diesmal Mitternacht herankommen, als aber immer noch kein Laut aus der Ferne hörbar ward, der Nebel immer dichter und feuchter wurde und ich für die Gesundheit meines Knaben fürchten mußte, brachen unaufgefordert die Nachbarn mit Laternen und Kienfackeln auf, um zuvörderst die Beutestände mit ihren Umgebungen zu durchsuchen und sodann bei den nächsten Köhlerwohnungen einzusprechen.«
[] »In der zweiten Nachtstunde kamen die Suchenden zurück. Ich hörte von weitem ihre Stimmen, die Angst der Mutter trieb mich ans Fenster. Der Nebel war dünner, durchsichtiger geworden und verschwebte um Moorsumpf und hohe Föhrenkronen, die mittlere Luftschicht frei lassend von jeglichem Dunst. Da sah ich die Männer mit ihren Laternen und Kienbränden über die Wiese schreiten nach der Waldbeschirmten Hinterseite des Hauses, ich sah, daß zwei von ihnen etwas Unbewegliches auf Tannenzweigen trugen! – Mein Herz stand still, ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Doch raffte ich mich zusammen. Die Angst gab mir Kräfte – auf Emma's Arm gestützt, eilte ich an die Thür und erwartete bleich, athemlos, einer Bildsäule ähnlich, die Ankunft der Männer.«
»Sie traten aus dem finstern Dickicht: das knisternde Licht der Kienfackeln fiel röthlich und fahl auf eine kunstlose Tragbahre, auf welcher der blutige Leichnam eines Mannes ausgestreckt lag. Ich erkannte schaudernd meinen Vater! – ›Und Johannes, Johannes, mein Sohn!‹ schrie ich, händeringendn an der Bahre niederstürzend. – ›Wir haben keine Spur von ihm gesehen!‹ [] lautete die dumpfe einstimmige Antwort der erschütterten Männer.«
»Johannes war unstreitig meuchelmörderisch erschlagen worden. Eine klaffende Wunde am Hinterkopfe deutete auf feigen, verruchten Ueberfall. Sie schien von einer Art herzurühren. Mehrere minder tiefe und kaum unmittelbar tödtliche Wunden im Gesicht und auf der Brust sprachen deutlich für den festen Entschluß des Thäters, den Unglücklichen tödten zu wollen.«
»Eine spätere genauere Besichtigung des Ortes, wo die That wahrscheinlich in den ersten Nachmittagsstunden geschehen war, führte zu mancherlei Vermuthungen, aber durchaus zu keiner Gewißheit. Man fand den Ermordeten kaum zwanzig Schritte von sei nem Beuteplatze. Weitere zwanzig Schritte jenseits des ihm zugehörenden Reviers steckte seine eigene Zeidelaxt fest in dem schlanken Stamme einer jungen Fichte auf der, wie man deutlich bemerken konnte, ein Bienenschwarm sich niedergelassen hatte. Unstreitig war dieser Schwarm durch Spurbienen verlockt auf nachbarliches Gebiet gerathen und Johannes hatte ihn nach den bestehenden Zeidler gesetzen [] für seine ›Beuten‹ einfangen wollen. Es geschah dies mittelst der Zeidelaxt, indem der Zeidler dieselbe, auf der Grenze seines Reviers stehend, rücklings unter dem linken Arme nach dem Baume schleudert, den sich der Schwarm zum Rastorte auserkoren hat. Die Zeidlergesetze erlaubten die Wegnahme des Schwarms, wenn der werfende Zeidler mit der Axt den Stamm traf, wogegen der Schwarm im entgegengesetzten Falle verloren ging und der Werfende auch noch in Strafe verfiel.«
»Bei diesem Wurf der Axt auf das Gebiet des Nachbars mochte sich ein Streit zwischen Johannes und seinem Gegner entsponnen haben. Wer dieser Gegner gewesen, – denn der Nachbar konnte sich von allem Verdachte aufs gnügendste reinigen – blieb unermittelt und wird wohl nie ans Tageslicht kommen. Noch an dem getroffenen Stamme hatte ein Faustkampf stattgefunden, wie das zerstampfte Moos am Boden bewies. Man gewahrte Blutspuren, die sich in das Gebiet des Nachbars verloren, woraus man schloß, daß Johannes seinen Gegner überwunden und mit einem tüchtigen Denkzettel heimgeschickt habe. Dafür sprach noch mehr die fast zur [] Gewißheit erhobene Annahme, daß Johannes den durch Axtwurf nach Zeidlerrecht erworbenen Schwarm eingefangen und in die bereitgehaltene ›Beute‹ gebracht hatte. Gerade bei Einbeutung des Schwarmes mußte ihm die Axt des Mörders den Schädel gespalten haben, denn der tödtlich Verwundete war mehrere Schritte rückwärts getaumelt und gegen einen Baumstamm niedergestürzt, wo dann der feige Mörder Zeit hatte, ihn vollends zu tödten. Die neu ausgehauene ›Beute‹ stand offen, der Schwarm war wieder entflohen – an dem starken Blutfleck dicht daneben war der Standort des Unglücklichen, als die Mordaxt ihn traf, zu erkennen.«
»Mein armer Kleiner blieb von Stund' an verschwunden! Kein noch so anhaltendes Rufen und aufmerksames Durchsuchen der Haide mit allen ihren Bächen, Teichen und Morästen zeigte die geringste Spur des Verlorenen. Niemand vermochte zu ermitteln, ob der arme schuldlose Knabe sich in der Haide verlaufen, oder ob der Mörder seines Großvaters ihn ebenfalls getödtet und in irgend einen versteckten Winkel des Waldes verscharrt hatte. Einzelne Stimmen behaupteten, der Knabe sei entführt worden, doch konnten [] sie für solche Annahme keine triftigen Gründe anführen.«
»Was ich in diesen Schreckenstagen litt darüber lassen Sie mich schweigen,« fuhr Herta mit thränenden Augen fort. »Ich hatte Alles verloren, was mich noch an die Erde kettete! Ich stand jetzt einsam, verlassen, eine trostlose Waise unter fremden Menschen. Oft wünschte ich in diesen fürchterlichen Schmerzenstagen unter den Trümmern Bobersteins, neben den Gebeinen meines Oheims begraben zu liegen. Aber ich erlag nicht dem Jammer, ich ward nicht einmal krank! Mein schwacher Körper schien unzerstörbar zu sein, meine Nerven empfanden nur den Schmerz, das namenlose Seelenweh, aber ihre Kraft und Elastizität spottete meiner Leiden.«
Tief erschüttert von der bloßen Rückerinnerung an so vernichtende Lebensstürme, unterbrach sich Herta, um ihre schmerzlichen Gefühle zu bemeistern. Aurel Benutzte diesen Augenblick um eine Frage an sie zu richten, zu der es ihn schon längst drängte.
»Glaubten Sie an den Tod Ihres Kindes, gnädigste Tante,« sprach er, »oder neigten Sie sich zu der Ansicht einiger Ihrer Freunde, daß [] es in den endlosen Wäldern in die Irre gerathen sein könne?«
»Mein Mutterherz wünschte das Letztere weil es dann hoffen durfte, den Verschwundenen doch einmal wiederzufinden.«
»Und ein anderer schrecklicher Gedanke beschlich Sie nicht?«
»Welcher andere Gedanke hätte mich ängstigen sollen?«
»Sie erwähnten einer Drohung des Menschen, den Sie Wolfszahn oder Lugauge nannten – Sie sprachen von Briefen, die Ihren Vater empörten, ihm die Ruhe raubten – Sie hörten ihn endlich eines Nachts Geld zählen und dabei Worte äußern, die auf einen theuer erkauften Frieden, auf einen unersättlichen Dränger schließen lassen! Wie, gnädigste Tante, wenn unter diesen uns und Ihnen unbekannten Vorfällen und dem Tode Ihres Vaters, wie dem Verschwinden Ihres Sohnes ein geheimnißvoller Zusammenhang stattgefunden hätte?«
»O mein Gott, Aurel, quälen Sie mich nicht!« bat Herta mit flehendem Blick und legte beide zarte Hände an ihre Stirn. »Mit Gewalt unterdrückte ich solche Vermuthungen, die ja [] doch zu keinem Ziele führen könnten – ich will ihnen jetzt nach fast einem halben Jahrhunderte nicht noch einmal frische Nahrung zufließen lassen!«
»Und dennoch, verehrte Gräfin,« fiel Sloboda ein, »dennoch wird es fast nöthig sein, daß wir Ihnen den Schmerz gewagter Vermuthungen zufügen.«
»Ein glückliches Ungefähr hat schon so Vieles enthüllt,« sagte Aurel, »daß wir uns selbst der Feigheit anklagen müßten, verabsäumten wir auf den aufgespürten Pfaden rüstig weiter zu schreiten. Adrians Aufforderungen an mich, mit Ernst zu forschen, ob ich Spuren entdecken könnte, die auf Bestätigung der Erzählung unserer wackern Freunde hinleiteten, machte mich achtsam und scharfblickend, und darf ich einer Ahnung des Herzens trauen, einer innern prophetischen Stimme des Geistes lauschen, so glaube ich fast behaupten zu können, daß jener Ihnen so furchtbare Mensch, jener Wolfszahn noch lebt.«
Herta ließ einen langen Blick voll Angst und Erwartung auf ihren Neffen fallen.
»Ich kenne ihn, wenn mich nicht Alles täuscht, theure Tante, und seiner Bekanntschaft [] allein habe ich es zu danken, daß ich Sie wiederfand und Sie den unwürdigen Verhältnissen glücklich entriß, in welche Sie langjähriges Unglück gebracht hatte. Man nannte ihn damals Blutrüssel, aber die Beschreibung seines Aussehens, sein Wolfsgebiß, sein glotzendes boshaftes Auge charakterisiren ihn zu deutlich, als daß ich Ihren Wolfszahn mit einem Andern verwechseln könnte.«
»Und gesetzt, dieser widerliche und vielleicht verbrecherische Mensch lebte wirklich noch,« entgegnete Herta, »was kann uns dies jetzt interessiren?«
»Sind Sie nie wieder mit ihm zusammengetroffen in Ihrem spätern Leben?« fragte Aurel sie unterbrechend.
»Nein,« sagte Herta, »ich selbst sah ihn niemals wieder, Emma aber behauptete, noch einmal mit ihm verkehrt zu haben.«
»Damals, als Sie aus Mangel diesen Siegelring an den Trödler verkauften oder verkaufen ließen!« rief Aurel lebhaft und zog eine Kapsel aus seiner Brusttasche, in der er das ihm so theure Kleinod jetzt aufbewahrte.
[] Herta empfing die Kapsel mit dem feingearbeiteten Ringe.
Sie betrachtete ihn lange mit bewegten Zügen und untersuchte genau, ob er echt sei. Als sie ihn dafür erkennen mußte, preßte sie die Hände an ihre Brust und sagte mit zitternder Stimme: »Gott im Himmel, es ist wirklich sein Ring!«
»Und Sie ließen ihn durch Emma an jenen betrügerischen Menschen verkaufen?« fragte Aurel abermals.
»Diesen Ring? o nie, nie! Diesen Ring, ein Geschenk meiner Mutter, schob ich an den Finger meines Kindes, als es das dritte Jahr zurückgelegt hatte!«
»Ha, so bin ich belogen worden!« rief Aurel aus. »Belogen um schlimmern Verdacht abzuleiten! – «
»Es will mir vorkommen,« sagte der Maulwurffänger in seiner trocknen Manier, »als wären wir auf die blutigen Fußstapfen eines Verbrechers gestoßen, der mir in einer verhängnißvollen Nacht einst das Licht gehalten hat, damit ich nicht Hals und Beine brechen sollte. Lassen [] Sie uns doch, wenn's gefällig ist, diese Fußstapfen etwas genauer betrachten.«
»Gnädige Tante,« nahm Aurel abermals das Wort, »es sind jetzt zwei Möglichkeiten vorhanden hinsichtlich des kleinen nach Auffindung seines ermordeten Großvaters verlorenen Johannes. Entweder hauchte auch er unter Mörder- und Räuberhand sein junges schuldloses Leben aus, oder –«
»– Oder?« fiel Herta erwartungsvoll ein.
»Oder man entführte ihn auf Anstiften und Befehl eines Dritten, eines Mächtigeren, der vielleicht – mein eigner Vater war!«
»Was veranlaßt Sie zu so gewagten Vermuthungen?«
»Gewagt, gnädige Tante? Im Gegentheil, ich finde, daß es kaum anders sein kann! Magnus vermählte sich ungefähr zwei Jahre nach der Zerstörung Bobersteins mit einer reichen stolzen Erbin. Es mußte ihm Alles daran gelegen sein, einen undurchdringlichen Schleier über die unheilvolle Vergangenheit, über sein ganzes beflecktes Leben zu werfen. Nichts war natürlicher, als daß er Ihre Ansprüche, wenn nicht an seine [] Person, doch an sein Vermögen fürchtete, vielleicht sogar erwartete. Diese konnten kaum unterbleiben, wenn Ihr Sohn am Leben blieb. Tod oder Entfernung desselben war mithin sein Wunsch, der nie in Magnus Seele erlöschen durfte.«
»Wir wissen bereits wie dieser unbändige Mann bei Sloboda's Schwiegertochter verfuhr, und wie nur durch die größere Weichherzigkeit seines Helfershelfers Martell einem qualvollen Leben erhalten ward. Verbindungen mit Personen anzuknüpfen, die früher Ihren Vater ergeben waren, die seine Verhältnisse, seine – ich muß es aussprechen, – Vergehungen gegen die sittliche Ordnung des Staates und gegen die menschliche Gesellschaft kannten, mußte ihm ebenfalls leicht fallen. Als Johannes seine Getreuen verabschiedete, und die Hartnäckigsten im Groll ihn verließen, konnten sie da nicht die Angeber spielen, um ihn stets zu quälen und in ihren Händen zu haben? Sie ahnten selbst etwas der Art! Mir wird dies mehr als wahrscheinlich, wenn ich der Briefe und des Geldes gedenke, womit Johannes sich das Schweigen Nichtswürdiger zu erkaufen glaubte. Gewiß kein Anderer als jener Wolfszahn oder Blutrüssel war der gefährlichste [] Feind Ihres unglücklichen Vaters, war später, als er kein Geld mehr von ihm erpressen konnte, sein Angeber bei Magnus, und entführte nachdem er ihn getödtet, den kleinen Johannes, um ihn, Gott mag wissen, wo und wie, unschädlich zu machen! So fiel der Ring, den der Knabe trug, von selbst in seine Hände und blieb es, bis er ihn im Spiel an – «
Plötzlich versagte dem lebhaft Sprechenden die Stimme und eine dunkle Röthe überflammte sein geistreiches Gesicht.
Ein furchtbarer Gedanke, der zündend mit blendender Helle, einem Blitze gleich in seine Seele schlug, machte ihn schwindeln. Er wagte nicht auszusprechen, was er dachte, was er schaudernd fürchtete.
»O nein doch, nein!« sagte er beschwichtigend zu sich selbst. »Dies kann nicht sein, dies wäre ein zu gräßliches Unglück!«
Und als wollte er um jeden Preis den ihn peinigenden Gedanken aus seiner Seele verscheuchen, bat er seine Tante freundlich um Beendigung ihrer Lebensskizze.
»Meine späteren Schicksale lassen sich in wenigen Worten charakterisiren,« sagte Herta. [] »Als sich mein Herz still in sich verblutet hatte, verließ ich mit meiner treuen Emma, die sich durchaus nicht von mir trennen wollte, die Haide, indem ich einem der freundlichen Nachbarn das Besitzthum meines Vaters in Pacht gab. Von dem Ertrage dieses Pachtes lebte ich zurückgezogen in einem kleinen Landstädtchen als Wittwe. Für die Welt war ich todt, wollte ich todt sein. Sie hatte mir, ich ihr nichts mehr zu bieten. Zehn Jahre und darüber traf mich kein neues Leid, erst die Unterjochung Deutschlands durch Napoleon, wobei mein Haidebauergut abbrannte und mir verloren ging, stürzte mich in ein Elend, das ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ich verarmte, verarmte so gänzlich, daß Emma mehrmals für mich bitten ging!«
»Nur die größte Sparsamkeit und unsäglicher Fleiß retteten uns Beide vom Hungertode. Um mehr zu verdienen, übersiedelte ich mich endlich nach Leipzig. Wie ich dort lebte, wie sich Emma entschloß, die Wahrsagerin zu spielen, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, mich an dem Nöthigsten Mangel leiden zu sehen, das habe ich Ihnen schon unterwegs mitgetheilt. Und so stünde ich denn nunmehr am Ende eines [] vielbewegten, traurigen und dennoch nicht ohne allen Segen gebliebenen Lebens. Wäre mir nur vor meinem Tode auch vergönnt, klar in all' die Dunkelheiten zu schauen, die es zum Theil noch erfüllen und meinen Geist nicht selten tief darnieder beugen!«
Unter lautem Schellengeläut fuhr jetzt ein Schlitten in den Hof, der Kutscher knallte heftig, die Hunde schlugen an.
»Es kommt noch Besuch,« sagte der Maulwurffänger. »Wäre doch ein hellsehender Geist mit darunter, der mit klarem Blick das lügenhafte Gewebe unserer Feinde durchschaute und sagen könnte: hier packt an und zerreißt es, so findet Ihr, was Ihr begehrt!«
»Klütken-Hannes!« murmelte Aurel dumpf vor sich hin. »Es wäre entsetzlich!«
Der Bediente meldete dem Grafen, daß so eben ein Herr und zwei Damen angekommen wären und ihn zu sprechen wünschten. Aurel beurlaubte sich, trat in's Nebenzimmer und – stand Elvire und Bianka gegenüber. Ihr Begleiter war der alte gutmüthige pedantische Schulmeister Gregor, der ehrliche Bruder des Maulwurffängers.
[] Viertes Kapitel.
Fingerzeige.
Wir haben die beiden eben genannten Ankömmlinge so lange aus dem Gesicht verloren, daß es jetzt höchste Zeit ist, die Aufmerksamkeit unserer Leser wieder auf sie zu lenken.
Die Ergebnisse, welche Aurels Besuch in der Mohrentaverne gehabt und seine unmittelbar darauf folgende eilige Abreise hatten ihm keine Zeit vergönnt, sich persönlich seiner Schützlinge anzunehmen. Er glaubte Beide für den Augenblick geborgen und gerettet. Auch bestätigte ein Brief von Madame Oehler, den er schon in Leipzig erhielt, die mütterliche Freundlichkeit dieser sanften, zartfühlenden Frau und erfreute ihn durch die Nachricht, daß Elwire bis auf Weiteres eine zweite Mutter an ihr finden solle. Bianca's [] minder gesicherten Lage suchte er durch Uebersendung einer ansehnlichen Geldsumme, der ein sehr freundschaftliches Schreiben beigefügt war, einen festen Halt zu geben, und so glaubte er unter den obwaltenden Umständen wenigstens seine Pflicht als redlicher Mann ehrlich gethan zu haben.
Später setzte er sich mit beiden jungen Mädchen wieder durch Briefe in Verbindung, die mit überströmendem Dank erwiedert wurden. Es tröstete den Kapitän in seiner vielfach zerrütteten Stimmung, daß zwei ihm vollkommen fremde junge und schöne Geschöpfe durch eine natürliche Handlung einfachster Menschlichkeit so fest und dauernd an ihn gekettet waren, daß sie mit unbedingtem Vertrauen sich ihm anschlossen und seinen Befehlen gern und willig gehorchten.
Herta's körperliche Hinfälligkeit bedurfte liebevoller, zarter Pflege, und obwohl Emma das Muster einer vollkommen treuen und aufopfernden Dienerin genannt werden konnte, so erlaubte ihr zunehmendes Alter ihr doch nicht mehr, die verehrte Gebieterin mit gebührender Aufmerksamkeit zu bedienen. Nun war aber Aurel der Ansicht, daß Herta von Elwire mit kindlicher Anhänglichkeit [] und Liebe behütet und gepflegt werden und Elwire in dieser hartgeprüften und aus so vielen schweren Versuchungen immer geläuterter hervorgegangenen sanften und hochgebildeten Matrone die mildeste Lehrerin und feinste Erzieherin finden dürfte. Dies bewog ihn, seinem schönen Findlinge vorzuschlagen, zum Neujahr auf den Zeiselhof zu kommen, um fortan in Herta's Umgebung zu bleiben. Daß eine geheime Sehnsucht seines Herzens bei diesem Vorschlage mit betheiligt war, gestand er sich selbst nicht zu, obwohl er ein freudiges Herzklopfen fühlte, als Elwire's Zusage einlief mit einem freundlichen Begleitschreiben von Madame Oehler, die seine Anordnungen wohlwollend billigte. Damit nun Bianca in ihrer Einsamkeit nicht aufs Neue gefahrvollen Versuchungen ausgesetzt werde und bei dem Mangel an wahrer Bildung und ächtem Charakter solchen nicht schimpflich unterliege, erwählte er diese arme Gerettete, der es übrigens an einer gewissen Entschlossenheit und männlicher Energie nicht fehlte, zu Elwiren's Begleiterin. Auch dieses gesunkene Mädchen, dieser schöne gefallene Engel mußte seiner Ueberzeugung nach durch Herta's Nähe und Umgang wieder aufgerichtet [] und gänzlich auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden. Die gute Wittwe in Hamburg mußte auch diesmal die Vermittlerin und Ordnerin der Vorschläge des wunderlichen Kapitäns sein und sie unterzog sich diesem Geschäft mit der ganzen Liebenswürdigkeit ihrer Natur. Clara erlaubte sich freilich deshalb mit der Mutter zu schmollen. Sie zürnte im Herzen dem flatterhaften Aurel, der so weit her an ein paar unbedeutende, wenn auch hübsche Mädchen schrieb und für ihre Zukunft besorgt war, ihrer aber, die sie ihn doch so häufig gesehen und immer mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt hatte, nicht einmal mit kühlem Gruß gedachte. Es schmerzte sie dies schnelle Vergessen und indem sie sich gestehen mußte, daß Aurel sie nicht liebe, sie nie geliebt habe, zerdrückte sie eine stille Thräne, die unwillkürlich ihr ins Auge trat.
Die unerwarteten Ankömmlinge fanden die herzlichste Aufnahme in dem versammelten Kreise; nur der Schulmeister, dessen Mitkommen man sich anfangs nicht erklären konnte, verursachte einige staunende Gesichter. Am längsten ward das seines Bruders. Dieser war auch der Einzige, der seine Verwunderung in Worte kleidete und [] kurzab fragte, wo Gregor ein paar so schöne wie aus dem Ei geschälte Mädchen im Schnee aufgelesen habe?
»Natürlich,« versetzte der Schulmeister, indem er seine steifen Gliedmaßen mit nicht geringer Gravität auf den weich gepolsterten Sessel niedersinken ließ, den Gilbert ihm mit komischer Ehrerbietung zutrug. »Natürlich! die gnädigen Fräuleins bedurften eines verläßlichen Wegweisers.«
Und nun erzählte der alte seelengute Mann in seiner barocken Manier, mit unzähliger Wiederholung seines Lieblingswortes, daß die einsamen Reisenden in der Nähe seiner Wohnung umgeworfen und die Deichsel zerbrochen hätten; daß er beispringend Hilfe geleistet und auf Anfrage des Kutschers, der nicht aus der Gegend gewesen, nach dem geradesten und sichersten Weg zum Zeiselhofe aus Menschenliebe und sonderbarer Zuneigung – Gregor liebte die alterthümlichen und veralteten Sprachwendungen über Alles – sich freiwillig zum Geleitsmann angeboten habe.
Die »Fräuleins« wären darüber sehr erfreut gewesen, was ihm »ganz Natur« scheine, und so befinde er sich denn unter so hochgeborenen Herren [] und Damen, wie ein Fink unter Paradiesvögeln, was jedoch seiner Meinung nach nichts Befremdliches haben könne, wenn man Veranlassung und Absicht näher betrachten wolle!
Der Maulwurffänger lachte herzinnig über den steifen Pedanten und unternahm es, ihn bei Aurel zu entschuldigen. Doch hätte es dessen nicht bedurft. Gregor ward als eine Art alter Vertrauter in dem kleinen Kreise aufgenommen und willkommen geheißen, und fühlte sich hoch beglückt, als ihm Herta die Hand reichte und sich dem jetzt alten Manne als das ehemalige Fräulein von Burg Boberstein vorstellte. Der gute Alte erschrak darüber dermaßen, daß ihm buchstäblich der Mund offen stehen blieb und keinerlei Antwort über seine Lippen kam. Er begnügte sich, ein paar tiefe Athemzüge stöhnend von sich zu blasen, schob dann seine Rockschöße zurück, legte beide Hände auf den Knopf seines langen Stockes und blieb kerzengerade, die lächelnden halbgeschlossenen Augen unverwandt auf die gealterte vornehme Dame gerichtet, vor ihr sitzen.
Zu sehr beschäftigt mit den Offenbarungen Herta's, wollte es Aurel nicht recht gelingen, [] den heitern, unbefangenen Umgangston wiederzufinden, der ihm doch von Natur so eigen war und ihn so liebenswürdig machte. Häufig vergaß er, auf die Antworten zu hören, die seine Fragen hervorriefen, und so kam eine Art Mißstimmung in die Gesellschaft, die sich Niemand recht erklären konnte und die doch Jedem schüchterne Zurückhaltung wider Willen zur Pflicht machte. Alle fühlten sich erst wieder frei und ungezwungen, als man sich trennte.
Aber auch auf seinem Zimmer fand Aurel keine Ruhe. Er mußte immer wieder an den ermordeten Vater Herta's, an den verschwundenen Johannes denken, und wie sehr sich sein Wille auch dagegen sträubte, in seinem ahnenden Herzen vernahm er Laute, die ihn erschütterten und an die er doch schaudernd glauben mußte. Nach einigem Schwanken entschloß er sich zu einem ungewöhnlichen Schritte, den er jedoch in seiner Lage rechtfertigen zu können glaubte. Er ergriff das Licht, schritt geräuschlos den Corridor entlang und klopfte an das Zimmer Elwirens. Ein sanftes »Herein« von den Lippen des achtlosen Mädchens, die eine Dienerin erwarten mochte, ermuthigte ihn und verhieß ihm Glück. Er fand [] beide Mädchen vor dem Trumeau, beschäftigt, sich die vollen Locken ihrer schönen Haare aufzuwickeln. Erröthend schraken sie auf beim Eintritt des Grafen.
»Tausend Pardons!« sagte Aurel mit seinem gewinnenden anmuthigen Lächeln. »Pflicht und Theilnahme veranlassen mich, so rücksichtslos gegen alle Sitte zu verstoßen und mich in Ihre Schlafzimmer zu drängen. Einem ausgewetterten Seemanne, schöne Kinder, müssen Sie dergleichen Extravaganzen schon zu Gute halten. Gewöhnt an das ungenirte Wesen und die oft allzu zutraulichen Gunstbezeigungen von Sturm und Wogen, kann ich der beliebten Kürze nicht entsagen, wo vielleicht weite Umwege und schmeichelnde Galanterien zu gleichem Ziele führen würden und den Beweis guter Erziehung abgäben. Mein Herz, mein Charakter wissen von diesen beengenden Formen nichts; und da Sie mir schon einmal vertraut haben, glaube ich auch jetzt noch derselben Gunst in Ihren Augen theilhaftig geblieben zu sein. Liebe Bianca, ich möchte Ihrer schönen Begleiterin ein kleines Geheimniß verrathen. Alle Mädchen sind wißbegierig; ich rechne Sie mit Ihren dunkeln Augen nicht zu den Ausnahmen, [] und da ich außerdem Beweise habe von Ihrem vortrefflichen Gehör, was schon die zierliche Form Ihrer zarten Ohren verrathen läßt, so fürchte ich sehr, Sie erlauschen mein Geheimniß, noch ehe es in klaren Worten von meinen Lippen schwebt. Darf ich also bitten –?«
Bianca lächelte, verbeugte sich gegen den Kapitän und verließ das Zimmer. Verschüchtert blieb Elwire allein mit Aurel. Sie schlug die Augen nieder und holte beklommen Athem aus klopfender Brust.
»Theure Elwire!« flüsterte Aurel, des Mädchens Hand ergreifend und die Zaghafte neben sich auf's Sopha niederziehend. »Als ich Sie kennen lernte in trostloser Verlassenheit und es meinen Bitten und Drohungen gelang, Sie für immer den Händen eines Nichtswürdigen, eines moralisch schon Halbuntergegangenen zu entreissen, da sanken Sie dankend an meine Brust und gelobten jeden meiner Wünsche mit der Bereitwilligkeit einer dienenden Magd zu erfüllen! Denken Sie jetzt noch so wie damals, Elwire, oder gereut Sie das im moderfeuchten Keller des Elends gegebene Versprechen?«
»Wie sollte ich anders denken!« erwiederte [] Elwire. »Haben Sie nicht mehr als ich je erwarten durfte, gethan, um mein Vertrauen zu Ihnen zu rechtfertigen?«
»Ich danke Ihnen, holdes Kind! Aber Ihr Vater? Lebt er noch? Sahen Sie ihn wieder?«
»Es war Ihr Wunsch, Herr Kapitän, die Wege sorgfältig zu vermeiden, die mich ihm wieder zuführen könnten. Ach und mein eignes Herz warnte mich vor ihm!«
Elwire schauderte, daß Aurel das Erbeben ihrer schönen Glieder durch die wallenden Falten ihres weißen Nachtgewandes bemerken konnte.
»Aber er lebt?«
»Er lebt!« hauchte das bewegte Mädchen und Thränen des bittersten Schmerzes perlten an ihren langen dunkeln Wimpern. »Er lebt – entsetzlich, entwürdigend, wie seit Jahren!« setzte sie schluchzend hinzu.
»Sie erhielten also Nachricht von ihm und seinem Thun?«
»O, ich sah ihn, ohne daß ich es wollte, ohne daß er selbst es ahnte! Inmitten eines Trosses trunkener Matrosen begegnete ich ihm auf einer Fahrt nach Altona. Ich vernahm sein trunkenes Geheul, womit er den Gesang seiner [] Genossen begleitete; ich sah das Drohen seiner geballten Fäuste, die er gen Himmel hob; ich erbebte vor seinem heisern Lachen, vor seinen Flüchen! O ich war sehr, unaussprechlich unglücklich!«
»Kannten Sie den Armen nie anders?«
»Doch, Herr Kapitän! Als kleines Mädchen, erinnere ich mich, schaukelte er mich kosend auf seinen Knieen. Damals lebte die Mutter noch, obwobl sie schon sehr krank und hinfällig war. Wir wohnten noch nicht in einem Keller, sondern in luftigen, kleinen, aber hübschen Zimmern. Aus den Fenstern konnten wir den breiten Strom mit den weißbeschwingten zahllosen Schiffen überblicken. Abends weidete ich mein Auge an dem Glänzen und Schimmern der Fluth und zählte die Sterne, die mit den schäumenden Wogen bald kamen, bald gingen. Der Vater war damals immer fleißig, fröhlich und guten Muths. Er ging früh aus und kam meist erst Nachmittags wieder. Dann klimperte er mit vielen blanken Silberstücken und ließ es geschehen, daß ich mit meinen kleinen Händen gierig darnach griff und sie lachend im Zimmer herumkollerte. Er trieb Mäklergeschäfte und nährte sich gut. [] Da starb die Mutter. Zur Erhaltung des Hausstandes bedurfte der Vater einer Wirthschafterin, die zugleich auch mich beaufsichtigte. Seine Wahl war keine glückliche. Die stämmige, eigennützige, herrschsüchtige und betrügerische Dirne behandelte mich hart und lieblos, wußte sich aber mit abgefeimter Schlauheit bei dem Vater einzuschmeicheln und mich, wenn ich über sie klagte, als ein kleines ungezogenes und höchst verläumderisches Wesen zu schildern. Anfangs strafte mich der Vater blos durch mißbilligende Blicke, später aber, als sich meine Klagen und mithin auch die Verläumdung unserer Haustyrannin wiederholten, erhielt ich viele und harte Schläge. Inzwischen hatte sich die betrügerische Person ganz des Vaters zu bemächtigen gewußt. Sie plünderte ihn methodisch, was zur Folge hatte, daß Klütken, als er den Krebsgang seines Geschäftes vor Augen sah, immer nachlässiger, liebloser und unordentlicher wurde, die Gesellschaft lustiger Brüder suchte und bald in wüstem Leben mehr und mehr unterging. Dadurch verlor er nicht nur seine früheren Gönner und Freunde, er gerieth auch in manche ärgerliche Händel, die seinen Credit gänzlich untergruben. Um nur leben zu können, [] legte er mit Hilfe eines Menschen, den ich zu allem Bösen fähig hielt, einen Trödelkram an, miethete den Keller, welchen Sie kennen, und es begann nun jenes Leben, aus dem mich Ihr menschenfreundlicher Sinn großmüthig rettete!«
Elwire drückte hier die Hand des Kapitäns leidenschaftlich und mußte offenbar mit sich kämpfen, um sie nicht in überwallendem Gefühl aufrichtigen Dankes an ihre feuchten Lippen zu führen.
»Erinnern Sie sich noch jenes Gefährten Ihres Vaters?« fragte Aurel.
»Leider werde ich ihn nie vergessen können! Zwar kam er nur selten zu uns und immer nur dann, wenn er dem Vater heimliche Mittheilungen zu machen hatte, die sich wohl meistentheils auf den Trödel und etwaige vortheilhafte Einkäufe beziehen mochten. Ich ging, wenn es irgend möglich war, dem Verhaßten stets aus dem Wege, denn ich ahnte und wußte, daß er Abscheuliches mit mir beabsichtigte und dem leicht zu überredenden Vater deshalb beständig in den Ohren lag. Seinen Namen kennen Sie.«
»Blutrüssel?« sagte Aurel.
Elwire bejahte durch stilles Kopfnicken.
[] »Lernte Klütken diesen Unhold erst nach dem Tode Ihrer Mutter kennen?«
»Gesehen und oberflächlich mit ihm verkehrt mußte er schon früher haben,« versetzte Elwire. »Manche Aeußerung in ihren Gesprächen ließ mich dies vermuthen; zu einem vertrauten und häufigen Umgange konnte es aber nicht kommen, da Blutrüssel zu jener Zeit nicht in Hamburg oder dessen Umgegend lebte.«
»Stammte Klütken aus Hamburg?« fiel Aurel rasch fragend ein.
»Nein, Herr Kapitän! Wie so viele, die später in der großen reichen Handelsstadt ihr Glück machten, war er als zwölfjähriger Knabe in zerrissenen Kleidern und halb verhungert nach Hamburg gekommen. Sein freundliches Wesen erweckte das Mitleid eines wohlhabenden Handelsherrn. Er nahm ihn als Laufburschen an und nannte ihn, da er blos seinen Taufnamen Johannes wußte, nach dem Besitzer des Hauses, vor dessen Schwelle er ihn in stürmischer Herbstnacht wimmernd und frierend fand. Seine Aeltern hatte Johannes nicht gekannt. Er schien überhaupt ein sehr ruheloses Herumstreicherleben geführt zu haben und bald von Diesem, bald von [] Jenem aus Barmherzigkeit eine Zeit lang mit durchgeschleppt worden zu sein. Ehe sein Hamburger Wohlthäter ihn fand, hatte er bei einer auf den Dörfern herumziehenden elenden Schauspielertruppe Knechts- und Statistendienste verrichten müssen. Eines schönen Morgens war der bankerotte Direktor dieser Truppe verschwunden, die Gesellschaft löste sich fluchend, Jeder den Andern seinem eigenen Schicksal überlassend, auf, und so befand sich auch Johannes ohne Herrn, ohne Brod, ohne Verdienst! Er bettelte sich von Dorf zu Dorf, suchte bei den Bauern ein Unterkommen, ward aber überall abgewiesen, da er keine Zeugnisse seines Wohlverhaltens, seiner Fähigkeiten aufweisen konnte, und sein eigenes naives Geständniß, er habe zuletzt bei Schauspielern gedient, in den Augen dieser Leute eine sehr schlechte Empfehlung war. – Sein großmüthiger Wohlthäter entdeckte bald bildungsfähige Anlagen in Johannes und beförderte ihn nach einigen Monaten, die er als Laufbursche in seinem Hause zubrachte, zum Comptoirdiener. Zugleich ließ er ihm Unterricht im Schreiben und Rechnen geben und freute sich der guten und schnellen Fortschritte seines Findlings. Später [] trat er als Commis in seine Dienste, so wie er auch nur den uneigennützigen Empfehlungen dieses redlichen Mannes es verdankte, daß er Mäkler werden und mit einem hübschen braven, aber armen Mädchen ziemlich früh ein glückliches Ehebündniß schließen konnte. Doch all dieses unerwartete Glück zerstörte der frühzeitige Tod meiner armen Mutter!«
»Also doch Johannes,« sprach Aurel in Nachdenken versunken. »Johannes Klütken – ein verlaufenes Kind, – ohne Vater und Mutter –«
»Wundert Sie das so?« unterbrach Elwire das Selbstgespräch des Kapitäns.
»Und so zu enden! So tief zu sinken! Im Augenblicke, wo –«
»Aber was ist Ihnen denn, Herr Kapitän!« rief Elwire erschrocken und ergriff die Hand des träumerisch mit irren Blicken vor sich Hinstarrenden. »Meinen Sie meinen armen, verlorenen Vater, dem Gott gnädig sein mag? Wissen Sie etwas von ihm, von seinen Aeltern?«
Aurel sah melancholisch in die großen schönen Augen des jungen Mädchens und ein Schauer beseligender Lust und grimmigen Schmerzes schüttelte [] alle Fibern seines Körpers. War es Einbildung oder sprach die Natur ihre unverkennbare Sprache? Er glaubte Herta in blühendster Jugendschöne, im verführerischen Gewande reiner Unschuld neben sich zu sehen.
»O Vergebung, theure Elwire!« rief er aus, nur mit Mühe Fassung erringend und den aufbrausenden Sturm seiner Gefühle besänftigend. – »Vergebung, edles, unschuldiges Mädchen! Nur eine, eine einzige Frage beantworten Sie mir noch der Wahrheit gemäß! Können Sie beschwören, daß jener Ring, den ich am Tage nach unserer Bekanntschaft am Eingange zur Kellertreppe Ihres Vaters fand und für meiner Familie zugehörig erkannte, können Sie es beschwören, daß jener Ring von Klütken-Hannes im Spiele gewonnen wurde?«
»Ich weiß es nicht anders,« versetzte Elwire verwundert.
»Gewonnen im Spiele mit Blutrüssel!« rief Aurel in leidenschaftlicher Aufregung.
»Klütken spielte nie mit einem Andern, so viel ich weiß.«
»So ist es denn gewiß, unumstößlich gewiß, daß sie seine Mutter!« murmelte er Elwiren [] unverständlich vor sich hin. »Gott der Barmherzigkeit, zeige mir Mittel und Wege, um die Arme, so endlose Jahre in Elend und Noth Umhergestoßene auf diese Entdeckung vorbereiten zu können! – Ach, Magnus – Magnus – zittere nicht, wenn das Gebet Deines eigenen Sohnes über Deinem Grabmale sich in wirre Verwünschungen verwandelt!«
Aurel ging heftig im Zimmer auf und nieder. Elwire, fest in ihr schimmerndes Nachtkleid gehüllt, zur Hälfte von einer glänzenden Wolke schwarzer Haare umschattet, mit Blicken, die sich bald furchtsam, bald liebevoll und sehnsuchtswarm auf den erschütterten Kapitän hefteten, schmiegte sich bewegungslos in die Ecke des weichen Divans. Jetzt trat Aurel nochmals zu dem schönen Mädchen und nahm ihre beiden Hände in die seinigen.
»Elwire,« sagte er so weich und flehend, wie sie den starken kühnen Mann noch nie hatte sprechen hören, »Elwire, daß ich Sie gefunden habe ist eine von den räthselhaften Schickungen Gottes, die starrgläubige Christen Wunder zu nennen pflegen. Ich meines Theils glaube an keine Wunder; ich glaube nur an die allwaltende [] Vorsehung Gottes und an eine heilige, unerbittlich strenge Gerechtigkeit, die Jeden straft oder belohnt, je nachdem er es verdient hat. Ich glaube an eine schon in diesem Leben ausgleichende Gerechtigkeit des Weltenschöpfers, selbst wenn Jahrzehnte und Jahrhunderte vergehen, ehe der letzte unwiderrufliche Richterspruch gefällt wird. Theilen Sie diesen Glauben mit mir theure Elwire, und Sie werden glücklich werden wie ich!«
Das überraschte Mädchen konnte es nicht hindern, daß sie Aurel mit einer raschen Bewegung an seine Brust zog und ein paar brennende Küsse auf ihre blühenden Lippen drückte.
Ohne ihr gute Nacht zu sagen, verließ er hastig das Zimmer.
»Was war das?« fragte sich Elwire ganz bestürzt, mit dem vorgehaltenen feinen Taschentuch die Röthe verbergend, die sich verrätherisch auf ihre zarten Wangen wie ein Teppich duftender Rosen ausbreitete.
Ein paar volle weiße Arme umschlossen sie, und lächelnd antwortete eine rührende Stimme auf diese Frage:
»Das war der erste Hauch glückbringender [] Leidenschaft, mein Herz! Das war die beredte Bitte eines liebesuchenden Mundes!«
Elwire neigte ihr schönes Haupt und lehnte es an den stürmisch klopfenden Busen der sündigen Bianca, die erschrocken über die Heftigkeit des Kapitäns unmittelbar nach seinen letzten Worten wieder ins Zimmer getreten war. –
Als Aurel über den dunkeln Corridor nach seinem Zimmer zurückging, stieß er an ein menschliches Wesen, das ihm entgegen kam. Er fuhr es barsch mit harter Frage an.
»Ein Kreuzer, wie Sie,« versetzte lächelnd der abenteuerlustige Gilbert. »Da es ganz den Anschein hat, als sollten wir hier noch lange vor Anker liegen, so wollte ich blos einen Versuch machen, um nicht ganz aus der Uebung zu kommen, Herr Kapitän. Die beiden schönen Prisen, die sich spät Abends am Horizont zeigten forderten mich dazu auf, und wie ich mit Vergnügen gewahre, sind Sie mir mit gutem Beispiele bereits vorangegangen.«
Der kecke Matrose wollte an seinem Gebieter vorüberschlüpfen, Aurel erfaßte aber sein Ohrläppchen, und indem er dies tüchtig schüttelte und so heftig preßte, daß der nächtliche [] Kreuzer einige sehr unharmonische Laute von sich gab, sagte er gelassen:
»In Hamburg oder London, mein Junge, würde ich Deinen Eroberungszug belachen, hier aber muß ich Dich ernstlich bedeuten, für künftig jeden Gedanken daran aufzugeben, wenn Du mich ferner noch zum Freunde haben willst. Die beiden Prisen habe ich in's Schlepptau genommen! – Gute Nacht!«
Gilbert rieb sich sein blau und braun gedrücktes Ohr und murmelte etwas von unglücklichem Philisterleben. Dann suchte er geräuschlos seine Kammer.
[] Fünftes Kapitel.
Zwei Kinder des Lasters.
Wir überspringen einige Tage, in denen nichts Merkwürdiges vorfiel, und bitten den Leser, uns auf kurze Zeit nach Hamburg zu begleiten.
Es ist Silvesterabend. Auf allen Straßen erschallt gedämpfte Musik. Die langen Reihen der reichen Kaufmannshäuser mit ihren glänzenden polirten Spiegelscheiben schimmern von tausend Lichtern und werfen ihren strahlenden Widerschein auf die weißgetünchten Wände oder die mit Schnee bedeckten Dächer der gegenüberstehenden Häuser. Die hüpfenden Schatten, die schnell vorüberschweben an den leisbewegten Gardinen, verrathen den jubelnden Frohsinn, das lachende Glück, den sichern Uebermuth der Versammelten, [] die kaum die Stunde erwarten können, deren dumpfe Glockentöne über das Grab eines versinkenden Jahres den Segen läuten und ein neues mit unverstandenem Gruß über die Schwelle der Zeit geleiten. Noch wimmeln die breiten Straßen von geschäftigen, schauenden oder auf verbotenen Erwerb ausgehenden Menschen; denn der Winter hat streng begonnen, das Leben ist theuer und der Verdienst karg! Und die Jugend will genießen, will fröhlich sein mit den Fröhlichen, ausschweifend mit den Ausschweifenden! – Seit langer Zeit hüpften nicht so viele geschmückte, lächelnde Kinder der Sünde durch Hamburgs Straßen, wie an diesem sternenhellen, eiskalten Sylvesterabende.
Die Glocken von den Hauptthürmen verkündeten die eilfte Stunde der Nacht. Die beiden Glockenspiele auf St. Nicolai und St. Petri sangen weitschallend über Stadt und Strom und Land ihre ernsten, mahnenden Choräle. Aber Niemand von den Bewohnern Hamburgs achtete auf die ehernen Stimmen, die wie ein Chor vorüberschwebender Geister aus dem Himmel herabklangen. Die Reichen tanzten, jubelten und schwelgten in den Prunkgemächern ihrer Paläste, [] die Armen hungerten, weinten, beteten oder fluchten in feuchten Spelunken tief unter der Erde oder in versteckten, von keinem reinigenden Lufthauch wohlthätig berührten Kammern. Sie konnten das Abschiedslied der dumpfen Glocken nicht hören. Sie vernahmen nur den Groll ihres gefolterten Herzens und den Verzweiflungsschrei, der wie Schakalsgeheul in der trostleeren Wüste ihrer ausgebrannten Seele verhallte.
Mit den letzten Accorden der schrillend auszitternden Töne des Glockenspiels trat Klütken Hannes aus seinem Keller, hob die trüb brennende Lampe von dem halbverfaulten Eichpfahle, auf dem sie befestigt war, um spät Vorübergehenden den Eingang in die dunstige Höhle zu zeigen, und schloß mit doppeltem Riegel die mit dem schlechten Pflaster in gleicher Höhe angebrachte, aus zwei gleichen Bretern von starkem Fichtenholz bestehende Thür. Dann löschte er die Lampe aus, stellte sie in eine Vertiefung der zerbröckelnden Ziegelwand und schlurrte mit schweren Schritten durch den engen Gang, der jetzt mit beinahe fußhohem Schnee und Eise bedeckt und hie und da von großen Löchern, die man durch Ausschütten von Spühlicht in den Schnee [] gegossen hatte, in eine halsbrecherische Straße verwandelt worden war.
Gewöhnt an solche Fährlichkeiten, hinderten sie Klütken-Hannes nicht im geringsten. Zwar stolperte der schon längst nicht mehr ganz nüchterne Trödler häufig, immer aber wußte er mit bewundernswürdiger Geschicklichkeit im Gleichgewicht zu bleiben. Um den fatalen kalten Wind, der mit schneidender Schärfe sein bläulich-rothes Gesicht traf, zu verscheuchen, stimmte er ein lustiges Lied an, das er überlaut vor sich hinkrähte. Das erwärmte ihn etwas und ernüchterte zugleich auch seine von häufigem Genuß des schlechtesten Branntweins befangenen Sinne.
Auf den gangbaren Straßen schritt Klütken-Hannes rascher aus. Er hatte noch einen weiten Weg zurückzulegen bis auf den Hamburger Berg. Dorthin hatte ihn ein Freund beschieden, um unter gemeinschaftlichem Gespräch bei voller Flasche das alte Jahr in glückseliger Vergessenheit zu beschließen, das neue in wüstem Taumel anzutreten. Solche Einladungen schlug der herabgekommene Trödler niemals aus, er wünschte vielmehr, daß sie sich alle Tage wiederholen möchten, denn ohne berauschenden Trunk, ohne[] Spiel und rohen Scherz beschlich ihn eine so unbehagliche Stimmung, daß er Furcht vor sich selbst empfand.
Heut jedoch war er überaus lustig und zu den tollsten Unternehmungen aufgeregt. Er hatte Geld, viel Geld, er konnte mithin spielen, im Spiele wagen und noch mehr gewinnen, und überdies schwindelten ihm die exaltirtesten Gedanken durch sein erhitztes Gehirn und ein Bild der glänzendsten Zukunft hob sich gleich einem Feenpalast aus dem brodelnden Sumpf seiner verpesteten Einbildungskraft.
Bald eine Strophe seines wüsten Liedes singend, bald hellauf lachend, hob er von Zeit zu Zeit den trüben Blick zu den glänzenden Häusern empor, aus deren geschmückten Sälen die sanften oder rauschenden Weisen heiterer Tänze erklangen.
»Ha, ha, ha!« rief Klütken-Hannes verächtlich lachend und drohte mit geballter Faust hinauf nach den verhüllten Spiegelfenstern. »Immer tanzt und schwelgt, ihr reiches Lumpengesindel – mich ficht das nicht an! In vier Wochen thu' ichs Euch Allen zuvor, bade mich in Burgunder, spüle mir den Mund mit Champagner [] aus und esse nie unter sechs Gerichten! Heidi, das soll ein Leben geben, wie ehedem zu Babel, als die Narren anfingen den großen Thurm zu bauen! – Sardanapal soll ein Hundejunge sein mit seinen Schwelgereien und verpraßten Nächten gegen das Leben, das ich führen werde! – Ho, ho! hab ich doch Geld, Geld die Hülle und Fülle!«
Und johlend schlug der Trödler an seine Tasche, daß die blanken Gold- und Silberstücken zusammenklirrten und sein gemeines Ohr mit dieser lieblichen Musik ergetzten – Dann sang er wieder:
»Ich hab' mein Sach' auf nichts gestellt,
Juchhe!«
»Ich bin liederlich, Du bist liederlich etc.«
den er auch glücklich zu Ende brachte.
Ohne Murren bezahlte Klütken-Hannes den theuern Thorschilling, was er für gewöhnlich nicht zu thun pflegte, und taumelte dann, des eisigen Nordostwindes nicht achtend, dem bekannten Tavernenlabyrinth zu. Schon aus ziemlicher Ferne vernahm man das lärmende Toben und [] dumpfe Brüllen der Tausende, die bei wüsten Gelagen und im Schlamm moralischer Verwilderung sich wälzend, das neue Jahr mit dem alten vermählten. Dem Trödler waren diese vertrauten Töne Genuß. Er mußte sich Gewalt anthun, um nicht von ihnen verführt, in eine jener besuchten Tanz- und Trunkhallen gelockt zu werden, mit denen wir früher unsere Leser bekannt zu machen suchten. Mit einiger Ueberwindung gelang es ihm, sie ungefährdet zu passiren. Er ging nun abwärts dem Strande der Elbe entgegen und erreichte unweit des Altonaer Hafens ein schlecht gebautes Häuschen. An die wackelige Thür desselben donnerte er mit seinen gewaltigen warzenbedeckten Händen, daß nicht blos die Fenster, sondern selbst das Balkenwerk zitterte. Sogleich ließ sich im Innern des Häuschens ein heiseres Grunzen hören mit einzelnen Flüchen und pfeifendem Lachen gemischt. Schlürfende Schritte näherten sich der Thür und eine tappende Hand schob den Riegel zurück. Im Scheine einer flackernd brennenden Lampe grinste dem Trödler das unbeschreiblich abschreckende, in teuflischem Lachen die spitzen langen Zähne fletschende Gaunergesicht Blutrüssels entgegen.
[] »Da bin ich,« sagte Klütken-Hannes. »Teufel noch 'mal, beißt heut die Luft! Ich glaube, Du hast gegen eine Bowle guten Punsch dem verfluchten Windmacher Deine Zähne versetzt, alte Seele!«
Blutrüssel belachte den rohen Scherz seines Freundes und führte ihn in ein geheiztes Zimmer. Vor dem rothglühenden eisernen Ofen stand ein Kohlenbecken und über diesem schwebte in gehöriger Entfernung ein kupfernes kesselartiges bauchiges Gefäß an einer eisernen Stange. Das Gefäß war bedeckt, aber der brodelnde Dampf, der zischend und singend aus dem schadhaften Deckel hervordrang, verrieth dem Trödler durch sein einladendes Duften, daß er hier finden sollte, was er suchte.
Blutrüssel schob sofort geschäftig zwei hohe Gläser auf den Tisch, der am Ofen gegenüber an der Ziegelwand stand, hob den Kessel herab und stellte ihn neben die Gläser. Dann langte er einen verzinnt gewesenen bleiernen Vorlegelöffel aus dem Tischkasten, hob den Deckel der heißen Terrine damit ab und schenkte die Gläser voll.
»Stoß' an, borstige Kellerratte!« rief er [] dem Trödler zu und hob das dampfende Glas. »Dem weißes Püppchen soll leben! Es ist, glaub' ich, heut ihr Geburtstag; mög' es auch der Entstehungstag oder vielmehr die Nacht eines Dinges sein, das ihr 'mal gleich wird, der blanken Hexe!«
Und der rüde Mensch belachte seinen unzarten Witz so anhaltend, daß er gar nicht mehr zu sich kommen konnte und das heiße scharfe Getränk ihn fast erstickt hätte. –
Klütken-Hannes stieß auf diesen Toast zwar an, mit großem Beifall nahm er ihn aber nicht auf. Er runzelte drohend die Stirn, drückte seine gerötheten stechenden Augen halb zu, daß nur die funkelnden Pupillen sichtbar blieben, und erwiederte:
»Eigentlich ist das eine beleidigende Gesundheit, mordverbrannte Seele; denn sie heißt mein schmuckes Mädel im Gedanken zur –«
»Still!« fiel Blutrüssel ein. »Was es heißt, wenn ich einen Witz mache, das brauchst Du mir nicht auf der Tafel zu erklären! Dem Scharfsinn wie Dein Gedächtniß haben gelitten im Zugwinde, sonst würdest Du Dich erinnern, daß es immer Dein Wunsch war, das schlanke [] Kind einem oder einigen Männern an den Hals zu werfen, wenn sich jeder Kuß, den sie ihm gäben, mit einen Goldfuchs bezahlt machte. Und ich fand, guter Junge, daß Du damals als ein vernünftiger Mann und ein weiser Vater dachtest. – Und hast Du etwa nicht genau nach meinen Anleitungen gehandelt, Griesgram? Oder meinst Du, solch ein großmäuliger Laffe, wie Jener es war, der Dir den schönen Nichtsnutz für ein hübsches Stück Geld abkaufte, hätte das gethan aus purer dummer Menschenliebe und werde sich das warme lebendige Püppchen blos so zum Augenverdrehen in einen Glasschrank setzen? Wär' er so dumm, bei meinen Sünden, dann wollt' ich, seine Mutter wär' als alte Jungfer gestorben!«
»Keinen Groll deswegen! Weiß ich doch, wie Du's meinst. Deine Kralle her, verwitterter Graukopf, und Freundschaft für heut' und immer!«
Blutrüssel schlug ein. Die Gläser wurden aufs neue gefüllt und fast eben so schnell wieder gelehrt.
»Weißt Du, daß ich noch nie ein Jahr so sorgenlos beschlossen habe?« sagte Klütken-Hannes mit einem Auflug von Sentimentalität in [] seiner Stimme. »Ich bin zu Weihnachten beschenkt worden wie ein Fürst! Man liebt mich, denke Dir, liebt mich, den armen heruntergekommenen Trödler, der ohne Genever und Grog nicht mehr leben kann! Und wir beklagen uns, daß Gott die Seinen verläßt!«
»Schon betrunken und hat erst den zweiten Zug gethan!« wieherte Blutrüssel, der in der That die ungewöhnliche Rührung und Weichheit seines Gastes dem Trunke und unzeitiger Betäubung zuschrieb. »Du bist wohl ein reicher Mann geworden im – Hinterstübchen?«
Blutrüssel zeigte dabei auf seinen Hinterkopf und verzog seine abscheuliche Fratze zu dem abschreckendsten Lächeln.
»Lache, lache immer hin, so viel Du willst,« entgegnete Klütken-Hannes, »ich sage doch: so ist es und es grenzt an's Wunderbare, daß es so ist! In der That ich bin reich, kann es wenigstens werden, wenn ich will und – mein Wort darauf – mir ist ganz so zu Muthe, als hätte ich den Willen dazu!«
Von Neuem fiel Blutrüssel in ein heiseres wieherndes Lachen. »Ich bitte Dich, blaugetüpfelter Glückspilz, theile mit mir, wenn Du [] reich sein wirst! Nimm mich altes Menschenwrack in's Schleptau und ziehe mich durch Wind und Fluth in den stillen Hafen Deines Weihnachtsglückes. Denn ich kann Dich auf Ehre versichern, daß ich des Spielens und Saufens unter dem Reger- und Mulattenpack längst überdrüssig bin! Ich wäre auf und davon gelaufen, wäre ich noch jung und rüstig, aber in meinen Jahren und bei meinen Gewohnheiten lebt sich's immer am besten da, wo man warm sitzt und wo sich das leere Glas immer wie von selbst wieder füllt.«
Blutrüssel hatte dies in einem spöttischen Tone gesprochen, der seinen Gast verhöhnen sollte. Allein Klütken-Hannes ließ sich nicht davon anfechten. Er schüttelte seinen borstigen Kopf, schlug mit flacher Hand auf den Tisch und rief aus:
»Es gilt, Blutseele! Nehm' ich's an, so sollst Du mein Gefährte, mein Bruder sein!«
»Befiehlst Du Wasser, Hänschen?« grinste der Gauner. »Dein Kellerloch ist feucht, Du bist daran gewöhnt, ich will Dir einen Kübel voll holen und Dir den Kopf damit waschen, bis Du wieder klar hörst und denkst!«
[] »Laß die Possen!« versetzte darauf der Trödler mit ärgerlichem Tone. »Ich war in meinem Leben niemals nüchterner, als eben jetzt. Was ich sage, ist wahrer als alle Evangelien zusammengenommen; wenn Du mir aber nicht glauben willst, so sieh!«
Klütken-Hannes fuhr in die Tasche seiner Jacke und warf eine Hand voll Ducaten auf den Tisch, stand dann auf und schüttete auch aus beiden Hosentaschen noch eine ansehnliche Summe in Gold- und Silbermünzen.
»Hast Du gestohlen?« fragte der Gauner, »oder einen Schatz gehoben?«
Klütken-Hannes fuhr auf. »Tausend Donner, wie oft soll ich's Dir Vieh denn in die Ohren schreien, daß es mir als Gottesgabe gradezu vom Himmel in den Schooß gefallen ist!«
»Das begreife ich nicht,« entgegnete Blutrüssel zum ersten Male ein ungeheucheltes Erstaunen zeigend.
»Ist auch nicht vonnöthen,« versetzte der Trödler. »Ich habe das Geld, ich kann alle Tage noch einmal so viel wo nicht das Drei- und [] Vierfache erhalten, wenn ich thue, was man verlangt.«
»Du bist wirklich ein Glückskind! Da sieht man, daß es doch etwas auf sich hat mit der Abstammung!«
»Was Abstammung!« lachte Klütken-Hannes. »Kommst Du wieder einmal auf dies abgeschmackte Kapitel, das Du mir so oft vorsangst in besseren Zeiten? Glück! Was will das sagen! Man wird meiner bedürfen, darum überschüttet man mich mit Gold.«
»Aber wer, goldenes Paradiesvögelchen?« schmeichelte Blutrüssel mit seiner süßesten Flüsterstimme, während er einige Goldstücke erwischt hatte und sie spielend durch seine Finger gleiten ließ. »Wer ist so unnatürlich dumm, einem Unbekannten solche Summen zuzuwerfen, ohne daß ein großer Zweck im Hintergrunde ruht!«
»So ist es unstreitig. Und man kennt mich, Glotzauge! Man hat Gutes von mir gehört und traut nur 'was zu! Mein Talent als Mäkler muß viel in der Welt von sich haben sprechen machen, denn ich merke schon, daß man ähnliche Dienste wieder von mir verlangt.«
»Du wirst immer räthselhafter, Hans! Bald [] werde ich Dich von einer Glorie umgeben erblicken, was Dir wundervoll zu Gesicht stehen muß!«
»Nun vielleicht bringt Dein Spitzbubenwitz mehr Zusammenhang in dies beantragte geheime Mäklergeschäft, als mir es zur Stunde hat gelingen wollen. Da lies den Brief! Vor drei Tagen erhielt ich ihn nebst einer Anweisung auf tausend Mark, die mir in rundem Gold und Silber heut baar ausgezahlt worden sind.«
Klütken-Hannes reichte dem grinzenden Gauner einen sehr zerknitterten und mit allerhand Schmutzflecken besudelten Brief.
»Du weißt ja, ich kann blos buchstabiren und noch dazu blos Gedrucktes. Lies mir den Umsinn vor!«
Der Trödler entfaltete nun das Schreiben und brachte mit vielen Unterbrechungen dessen mysteriösen Inhalt zusammen. Der Brief lautete:
»Werther Herr!
Es ist mir von einem schätzenswerthen Manne, der Sie genau zu kennen die Ehre hat – ›Ehre!‹ warf der Gauner ein. ›Teufel noch 'mal, den Lump möcht' ich kennen!‹ [] – ›Ergrimme Dich nicht, Bruder,‹ sagte der Trödler etwas hochmüthig, ›wollten wir unsere beiderseitigen Verdienste auf die Wage legen, so würdest Du im Betreff der Ehrenhaftigkeit mir gegenüber ein ausgeblasenes stinkigtes Ei bilden. Nur keine Complimente, ich bitte!‹ – Er las weiter: – ›der Sie genau zu kennen die Ehre hat, versichert worden, daß Sie ein eben so ausgezeichnetes Talent als die größte Willfährigkeit besitzen, ein Geschäft zu übernehmen, das neben großer Kühnheit und Entschlossenheit auch einen hohen Grad von Klugheit erheischt. Nach allen Erkundigungen, die ich unter der Hand durch beglaubigte und zuverlässige Personen über Sie eingezogen habe, fehlt es Ihnen an keiner dieser Eigenschaften. Leider sind seit einiger Zeit äußere Umstände der Ausübung und Ausbildung Ihrer höchst kostbaren Talente hindernd in den Weg getreten.‹ Hier lachte Blutrüssel, daß ihm die Thränen aus den Augen liefen. Er goß die Gläser von neuem voll und nöthigte seinen Gast, mit ihm anzustoßen. ›Auf Deine kostbaren Talente, die Du selbst nicht kennst!‹ Klütken-Hannes that Bescheid [] und fuhr fort: – ›Sie sind arm und stehen an einem Abgrunde, der schon manchen wackern Mann verschlungen hat.‹ Wollen Sie nur unbedingt und ohne zu fragen vertrauen, auch späterhin ohne das gering ste Widerstreben meine Befehle pünktlich und treu vollziehen, so werde ich Ihnen helfen. Zum Beweise, daß ich es redlich meine, lege ich diesen Zeilen eine Anweisung auf tausend Mark Banco bei, die Ihnen von der beigefügten Firma honorirt werden wird. Es soll dies nur ein geringer Zuschuß sein, damit Sie Ihre vielleicht in Unordnung gekommenen Angelegenheiten schleunigst ordnen und die Reise, die ich von Ihnen begehre, mit dem übrig bleibenden Rest bestreiten können. Jede Summe, die Sie später bedürfen, steht Ihnen zu Gebote, wenn Sie rasch und ver schwiegen handeln! Einer Antwort bedarf es durchaus nicht. Sie haben weiter nichts zu thun, als genau die unten angeführte Marschroute zu verfolgen. Man weiß, was Sie thun, wenn Sie nach raschem Entschlusse am Ort Ihrer künftigen Bestimmung eintreffen werden. Ihr Empfang [] wird Ihren Verdiensten, die Sie sich alsbald erwerben können, entsprechend sein. Leben Sie wohl und folgen Sie dem Wink, den ein mild gesinntes Schicksal Ihnen hierdurch gibt!
Gehorsamst
a. – n.«
Die angegebene Reiseroute endigte eine Stunde von Boberstein bei einer tief in der Haide gelegenen Torfgräberhütte, die allgemein unter dem Namen der »Wurzelhütte« bekannt war. Klütken-Hannes hatte den Brief Adrians erhalten, welchen dieser am Weihnachtsabende nach der Unterredung mit Vollbrecht schrieb. Seine früheren langen Gespräche mit Aurel hatten ihn hinlänglich eingeweiht in die Verhältnisse des heruntergekommenen Trödlers, und den Aeußerungen des Bruders zufolge glaubte Adrian in diesem verwilderten, geldgierigen Menschen ein willenloses Werkzeug für seine geheimen verbrecherischen Zwecke gefunden zu haben.
»Ist das Alles?« fragte Blutrüssel, als Klütken-Hannes das Schreiben zusammenfaltete und gelassen einsteckte.
[] »Es fehlt kein Wort außer denen, die ich nicht entziffern kann.«
»Aber daraus wird ja kein Teufel klug!«
»Warum denn nicht? Es gibt nichts Kläreres unter der Sonne, das ist plan. Man reist, man läßt sich bestimmen, man streicht Geld ein und lebt fidel und sorgenlos, bis es ein Ende hat!«
»Es kann eine Falle sein,« bemerkte Blutrüssel und rollte seine vorstehenden gelblich-trüben Augen unter furchtbarem Zähnefletschen. »Ich habe Erfahrung darin, Hans! Ehedem reiste ich auf kurze Zeit in ähnlichen Geschäften.«
»Pah! Was Falle! Tausend Mark wirft kein Mensch zum Fenster hinaus, um einem Andern damit bequem den Hals umdrehen zu können!«
»Darüber, siehst Du, blöde Kellerafsel, darüber ließ sich ein Langes und Breites reden. Weil Du aber für gewisse Feinheiten interessanter Lebensarten keinen Sinn hast, will ich es unterlassen. Du bist blos für die plumpen, großen Geschäfte – fürs bequeme Gelderpressen, wenn der Erwerb mit Schwierigkeiten verbunden [] ist. Nun, ich tadle dies auch nicht, denn es führt manchmal weiter, als studirte Handgriffe und raffinirte Pläne. Aber Eins wenigstens nimm nicht auf die leichte Achsel – ich meine die Reise! Wohin lockt Dich der splendide Zahler?«
Gleichgiltig zog Klütken-Hannes seinen Brief nochmals vor und nannte die einzelnen Orte, welche berührt werden sollten. Es waren dies mit Ausnahme von zwei bis drei unbedeutenden Landstädtchen immer nur Vorwerke oder einsam gelegene Schenkhäuser, die über wenig befahrene Communicationswege in bedeutender Entfernung von der großen Landstraße tief in die Haide führten. Ueber diese Reiseroute stutzte Blutrüssel mehr wie über Alles. Sein Gesicht würde, wäre dies möglich gewesen, bleifarbig geworden sein, so heftig erschrak er; denn er sah sich auf einmal wieder auf den Schauplatz seiner Jugendvergehungen versetzt. Waren diese auch längst in seinem Gewissen begraben, so traten sie doch als bleiche Geistererscheinungen jetzt unerwartet vor sein inneres Auge und ein Frösteln der Angst, ein Schauer der Verzweiflung rieselte ihm durch Mark und Bein.
[] »Hans,« sagte er nach einiger Zeit zu seinem Gaste, der inzwischen behaglich seinen Punsch trank, »Du wirst einen Begleiter brauchen in jenen Einöden. Die Wege sind dort nicht immer leicht zu finden, kaum im Sommer, wie viel weniger im Winter! Man muß lange vertraut sein mit jenen endlosen Haiden, um nicht umzukommen in Sumpf und Moorbruch. Nimmst Du mich an zum Führer?«
»Du kannst mir nichts nützen. Hast ja gehört, daß meine Reise ein Geheimniß bleiben soll! Dein Gesicht ist gar zu interessant. Wer's einmal gesehen hat, kann's nie mehr vergessen!«
»Ich bin bekannt in jenen Gegenden und mich sehnt's, sie wieder einmal zu betreten. Hier geht's ohnehin mit mir zu Ende. Also, Hans, sei klug –«
»Unter einer Bedingung.«
»Sprich!«
»Du wirst mein Knecht und trittst in meine Dienste.«
»Bin dabei, topp!«
»Die Kasse führ' ich ganz allein.«
»Wenn Du für mich zahlst, was ich brauche, mir gleich.«
[] »Alles was zum Leben gehört.«
»Grog so viel ich will – Abends Beefsteak – überhaupt gutes Essen. – und ein Taschengeld zu Geschenken für hübsche Dirnen – gelt?«
»Für den ersten Kuß, den ein Mädel Dir gibt, zahle ich hundert Mark, bei meinen Sünden!«
Klütken-Hannes reichte dem Gauner lachend die Hand über den Tisch und der Pact war geschlossen.
»Wenn brechen wir auf?« fragte Blutrüssel. »Ich gestehe Dir, daß ich aus verschiedenen Gründen Eile habe. Ich halte mich nicht mehr für ganz sicher, seit mir die Mohrentaverne den Schimpf angethan hat, mich eines unfreiwillig gemachten Darlehns wegen vor die Thür zu setzen.«
»In drei, vier Tagen. Bis dahin wird mein Trödel verkauft sein und dann bin ich ein freier Mann.«
»Das wäre demnach in Ordnung. Nun geht mir aber noch ein Gedanke im Kopfe herum, der uns Vorsicht empfiehlt.«
»Was Gedanke! Sind wir nicht unabhängige reiche Leute? Wer Geld hat, braucht nicht [] zu denken. Laß uns trinken und lustig sein! Auf das Wohl des unbekannten großmüthigen Wohlthäters und auf das Gelingen des Geschäftes, zu dessen Vollführung man mich hundert Meilen weit verschreibt!«
Blutrüssel trank sein Glas aus bis auf die Nagelprobe. Mit lallender Zunge knüpfte er das Gespräch wieder an.
»Alles vortrefflich,« sagte er, »aber meinen Gedanken lass' ich nur deßhalb nicht nehmen! Du hast den Herrn nicht gekannt, der Dir Dein Kind abkaufte. Wenn's nun ein Schuft war, ein Spion? He!«
»Hol' ihn der Teufel oder die Cholera!«
»An den Galgen kann er Dich bringen, ich kenne das!«
»Geld hilft von Galgen und Rad; und – ich glaube nicht dran.«
»Für Dolch und Pistolen, alter Molch, laß Dich's nicht gereuen, viel Geld auszugeben!«
»Du hast mehr Kenntniß davon, sorge Du also dafür. Hier ist Geld!«
Klütken-Hannes warf sechs Louisdor auf den Tisch, die Blutrüssel mit zufriedener Miene einsteckte.
[] »Und ist das Geschäft abgethan,« sagte der Trödler, »und es gefällt uns nicht mehr in der Haide, so kehren wir wieder hierher zurück oder gehen in die weite Welt oder –«
»Gründen eine famose Wirthschaft,« schloß Blutrüssel.
»Mit einem Schilde, drauf in ellenlangen Buchstaben geschrieben steht – na was denn?«
»Zum goldenen Wallfisch!« schrie der Gauner.
»Pfui! Verbrauchte Phrasen! – Nein, 'was ganz Neues, 'was Unerhörtes muß drauf gemalt sein, das zugleich verlockt und entsetzt und den Gästen die Haare zu Berge treibt.«
»Zum Höllenpfuhl!« grinste Blutrüssel schwankend.
»Zur Rache! klingt besser,« lachte Klütken-Hannes.
»Meinethalb auch. Aufs Gedeihen der neuen Sündenwirthschaft: Zur Rache!«
Die beiden verlorenen Söhne der Welt wiederholten, immerfort trinkend, wohl hundertmal diese Worte, bis sie in völlige Bewußtlosigkeit versanken. Als sie mit gläsernen stieren [] Blicken in dumpfen Schlaf fielen, rauschten wieder die Accorde des Glockenspieles über Stadt und Strom und verkündeten den noch wachen Bewohnern Hamburgs den Beginn des neuen Jahres.
[] Sechstes Kapitel.
Neujahrsgeschenke.
Auf den Fittichen des Windes, der die melancholischen Melodien der Glocken Hamburgs nach allen Himmelsgegenden verwehte, enteilen wir abermals in die Haide. Noch ist es tiefe finstere, kalte Nacht, aber der vor Mitternacht klar gestirnte Himmel hat sich über diesen unermeßlichen Wäldern jetzt mit schweren grauen Wolken bedeckt. Auf den fernen dunkleren Schichten der Haide liegt es wie Nebel, der rasch sich verdichtet und gleich einem weißgrauen Mantel von ungeheurer Ausdehnung über die Gegend fortrollt. Ein Schneesturm zieht herauf von Norden und durchrast mit namenloser Wuth die Haiden.
Im Spinnerdorfe am See hatten viele Bewohner [] das neue Jahr unter Seufzern und Thränen erwartet. Es erschien, die erste Stunde dieses Jahres verging, aber das Geschick der Armen blieb dasselbe trostlose, verzweiflungsvolle.
Wir wollen unsere Leser nicht in die Hütten dieser Unglücklichen führen, nur eine Scene wollen wir schildern, die in jener Nacht sich dort zutrug.
Bald nach Mitternacht waren die ersten Zeichen des nahenden Schneesturmes wahrgenommen worden. Dennoch sah man um diese Stunde mehrere Bewohner des Dorfes ihre baufälligen Hütten verlassen und dem See zueilen. Sie trugen alle etwas auf ihren Armen, das, in Lumpen gehüllt oder mit einem Mantelfetzen umwickelt, in den Wirbeln des rieselnden Schnees sich nicht erkennen ließ. Am Ufer des Sees, da, wo in der guten Jahreszeit die Fähre landete, sammelten sich die vereinzelt aus dem Dorfe hervorschreitenden Gestalten. Es waren fünf Männer und eine Frau. Vereint traten diese sechs schweigenden Menschen den Weg über den See an, der jetzt mit fußdickem Eise bedeckt war und eine gefahrlose Brücke bis zur Felseninsel bildete. Vor dem bald auf- bald abwärts [] treibenden sandfeinen Schnee konnte man die hohen Gebäude der Fabrik nicht erkennen, nur die zwei braunrothen Schornsteine schimmerten wie die hohen Masten eines Kriegsschiffes durch das niederfallende Gewölk. Zuweilen, wenn der Sturm über die Häupter der nächtlichen Wanderer dahin fuhr und fern am schwarzen Wall der Haide verbrauste, ließ die Glocke auf der Fabrik schrillende Töne hören, die wie das Wimmern Verunglückter in der Einsamkeit der Nacht erklangen.
Nach mehrmaligem Rasten mitten auf dem öden Schneefelde des See's erreichten die sechs Meister endlich sehr erschöpft und trotz der schneidenden Kälte erhitzt das schützende Ufer der Felseninsel. Sie gingen schnurstracks nach dem modernen Wohnhause des Herrn am Stein. Vor der Thür desselben bildeten sie einen Kreis, traten den angehäuften Schnee etwas nieder und legten dann, ohne ein Wort zu wechseln, die Lasten, welche sie trugen, behutsam so auf die Schwelle nieder, daß sie zur Hälfte sich gegen die Thür anlehnen mußten. Wäre die Nacht nicht so finster, der Schneesturm nicht so überaus heftig gewesen, so würde ein heimlicher Zuschauer die starren Leichen von fünf Kindern erkannt [] haben! – Sie hatten alle mit dem hinsterbenden Jahre ihre Augen für immer geschlossen; sie waren – arme, schuldlose Opfer der Speculation eines herzlosen Tyrannen – vor Hunger gestorben! Ihre bejammernswerthen Aeltern hatten den furchtbaren Entschluß gefaßt, ihrem gemeinsamen Peiniger mit den kleinen Leichen der Geopferten ein Neujahrsgeschenk zu machen. Die bleichen, kalten Lippen ihrer Kinder, aus denen noch jetzt die gelblichen Zähne wie um Brod bittend hervorsahen, sollten dem Manne des Goldes ein glückliches Neujahr wünschen.
Als die Leichen mit den Gesichtern nach Osten gewandt an die Thür des reichen Fabrikherrn niedergelegt waren, sprachen die Männer ein Vaterunser, wie über dem Grabe eben Beerdigter. Nur die Frau, die einzige, welche von allen Müttern der übrigen Verhungerten den Muth gehabt hatte, ihr Kind, ein Mädchen von sieben Jahren, auf diesem Schmerzenswege zu begleiten, brach jetzt in lautes Schluchzen aus. Der Kälte und des tiefen Schnees nicht achtend, stürzte sie nieder auf ihre Knie, umschloß nochmals mit mütterlichem Arm den entschlafenen [] Liebling und drückte Kuß auf Kuß auf seine kalten Lippen. Bald ging ihr Schluchzen in ein lautes Weinen und Stöhnen über. Ausrufe des Schmerzes, Worte des Zornes und der Verzweiflung, endlich ein erschütterndes Gebet um Erbarmen stieg von ihrem Munde zum stürmenden Himmel auf!
Die Männer schwiegen und ließen die Arme gewähren. Erst als der Schnee in dichteren Flocken niederfiel, und die Knieende schon mit weißem Todtenschleier zu bedecken begann, hoben sie die unglückliche Mutter auf und trugen die Widerstrebende fort. Der Schmerz erpreßte ihr einen gellenden, die Seele zerreißenden Schrei, der selbst im Walde noch einmal wiederhallte.
Diesen grellen, zitternden, langsam verklingenden Jammerruf hörte Adrian auf seinem prunkvollen üppigen Lager.
Der reiche Mann hatte geträumt, anfangs von hohem Glück und süßen Genuß, später von minder ergetzlichen Dingen. Die Wirren der letzten Monate sanken in Gestalt eines Knäuels giftiger Schlangen auf seine brennende Stirn und stachen mit tausend spitzen Zungen nach seinem krampfhaft zitternden blutenden Herzen. Zur [] Vermehrung seiner Qual hatten diese unerbittlichen hungrigen Schlangen menschliche Gesichter, die er alle kannte und die ihn alle mit versteinertem kalten wahnsinnerzeugenden Lächeln starr ansahen! Da war Martell mit dem dunkeln Zornesauge und den schwarzen, gegen ihn sich erhebenden Locken! – Da streckte sein verstorbener Sohn den bleichen kleinen Kopf hinter dem finstern Vater hervor, und bohrte mit fürchterlicher Ausdauer seine blutrothe Zungenspitze wie einen glühenden Dolch gerade in die empfindlichste Stelle seines Herzens! Dort schüttelte Lore mit irren Blicken ihr todtenbleiches Haupt und neben, unter, über ihr drängten sich noch hundert Köpfe, die alle näher kamen, alle ihn mit vernichtenden Blicken ansahen! Sie peinigten ihn mit unaussprechlichen Qualen, doch den höchsten Grad der entsetzlichen Folter erreichte sein Leiden, als fern aus dem finstern Hintergrunde in jähem Sprunge eine schillernde Schlange über all' das ihn umschlingende Gewürm gegen ihn heranschnellte. Sie wiegte auf schlankem Halse einen lieblichen Mädchenkopf mit langen blonden Haaren, die triefend niederhingen bis auf ihren schuppigen Schlangenleib. Statt [] der giftigen stechenden Zunge erblühten die zartesten, farbenduftigsten Blumen auf ihrem Munde. die ein Windhauch abbrach und auf das Herz, auf Stirn und Brust des Träumenden niederfallen ließ. Jedes Blatt brannte ihn wie ein Tropfen glühenden Schwefels, und je mehr Blumen dem lächelnden Munde entblühten und auf ihn niederfielen, desto unerträglicher ward seine Qual. Er stöhnte und wälzte sich convulsivisch auf seinem Lager; er wehrte sich mit beiden Händen gegen die niederflatternden Blumen, aber sie brannten in brillantenen Flammen durch sie hindurch und stürzten mit vergrößerter Intensität auf seinen gemarterten Körper. Da entrang sich ein Angstschrei der gefolterten Seele und Adrian erwachte! – Fiebernd, in kaltem Schweiß gebadet, erhob er sich auf dem Lager, dem wimmernd verhallenden Tone lauschend, der von der Haide herüberschallte und an den gefrorenen Fenstern auszitterte.
»Gott Lob,« sagte er tief aufathmend, »es war em Traum! – Aber ich werde nicht mehr schlafen dürfen, denn immer häufiger wiederholen sich diese gräßlichen Träume. Das macht mein krankes Blut, meine Aufregung bei Tage, die [] vielen Verdrießlichkeiten, die mich verstimmen! – Wäre nur dieser Prozeß zu Ende oder die Alten todt und – Martell! – Gewiß, dann würde ich schnell ganz wieder genesen, und Niemand könnte mich mehr anfeinden, denn Aurel fürchte ich nicht. – Und Herta ist ein armes, schwaches, hejahrtes Weib! Sie ist froh, wenn sie ungestört auf den Tod sich vorbereiten kann! – Segne meine Pläne. o Gott, und laß sie mich bald und vollkommen ausführen!«
So sprechend hüllte sich Adrian wieder fester in die weichen Decken und schloß die Augen. Ein zweiter Schrei gleich dem ersten, dessen Wiederhall er nur vernommen hatte, erreichte sein Ohr. Nochmals richtete er sich unter Herzklopfen auf und öffnete weit die matten Augen. Der Sturm peitschte den Schnee an die Fenster, die Fabrikuhr verkündigte die erste Morgenstunde.
»Es wird ein Betrunkener verunglückt sein im Sturmwetter,« sagte er sich beruhigend und legte sich zurück in die schwellenden Kissen.
Ein dumpfer unerquicklicher Schlaf fiel auf den armen Reichen. Wir entfernen uns von seinem Lager und begleiten die hungernden Arbeiter [] auf ihrem traurigen Rückwege in's Dorf.
Die unglückliche Mutter, die Muth genug besessen hatte, ihr verhungertes Kind auf den eigenen Händen bis vor die Thür des Mannes zu tragen, von dem allein so namenloses Elend über Tausende gekommen war, lag jetzt noch ohnmächtig in den Armen der Spinner. Es war ein schlankes, im Anfange der Vierzig stehendes Weib, dessen eingefallene, von Kummer und Nahrungssorgen scharf und eckig gewordenen Züge die Ueberreste ursprünglicher Schönheit doch nicht ganz verwischen konnten. Weiches blondes Haar war in sehr starken Flechten an ihrem Hinterkopfe in einen starken Knoten geschlungen und jetzt von dem grau gewordenen und hin und wieder zerrissenen Regentuche bedeckt. Nur ein paar feine Locken stahlen sich über der Stirn aus der nonnenartigen Umhüllung hervor und fielen, vom Winde bewegt, in verworrenem Gefaser über das marmorkalte Antlitz der Bewußtlosen.
Maja hatte in dieser Nacht ihr zweites Kind, ein Mädchen von sieben Jahren, begraben vor dem Palast des Tyrannen der Armen. Sie [] besaß jetzt nichts mehr, als die Liebe ihres Mannes, der arm wie sie, von der ewigen Arbeit gleich ihr niedergedrückt, weder Zeit uoch Lust hatte, die Gefühle, welche sie einst so ganz beglückten, gegen sie auszusprechen. Das Elend zerstört alles Heilige und Erhabene; es tödtet die Liebe zwar nicht, aber es zieht sie herab in den gemeinen Strudel des Lebens. Im Glück allein – mag diese Behauptung auch noch so oft und eifrig bestritten werden – im Glück allein entfaltet die Wunderblume der Liebe ihren duftenden Kelch, und gewährt denen, die sie finden, in beseligendem Rausch dauerndes Entzücken. Liebe in Noth und Mangel schrumpft ein zur dienenden Magd. Ihre Zauber schwinden, die verborgen wohnen im geheimnißvollen Bande; man sieht nur die Fesseln und empfindet ihren Druck. –
An der verschneiten Thür seiner Hütte nahm Simson das halb erstarrte kraftlose Weib auf seine Arme, um die Hilfe seiner Begleiter nicht länger anzusprechen.
»Habt Dank, Unglücksgenossen!« sagte er zu den gleich ihm Beraubten und gab Jedem der Reihe nach die Hand. »Unser gemeinsames [] Gebet in dieser unvergeßlichen Nacht wird nicht unerhört bleiben. Gott ist ein gerechter Gott und ein Vater der Armen, wenn es auch bisweilen scheinen will, als habe er uns verlassen. Hoffen wir auf ihn in unserem Drangsal, und der erste Morgensonnenstrahl in diesem schwer begonnenen neuen Jahre wird für uns zur Flamme werden, die aufsteigt vom Altar der Gerechtigkeit! Ein glückseliges neues Jahr!«
Mechanisch, wie es zur Gewohnheit gewordene Sitte mit sich bringt, erwiederten die betrübten, durch unablässige Stöße des Schicksals und die ausgesuchtesten Schmerzen stumpf und fast gleichgiltig gewordenen Arbeiter den angelernten Gruß und verloren sich in den verschneiten todtenstillen Häuserreihen des ärmlichen Dorfes. –
Am Neujahrsmorgen entdeckte einer von den Packknechten beim Wegfegen des Schnees die fünf aufrecht stehenden Kinderleichen. Sein Entsetzen wurde nur noch von dem der übrigen Hausgenossen und Knechte übertroffen, die der Erschrockene mit stammelnder Zunge davon benachrichtigte. Von diesen er fuhr es der Kammerdiener [] des Grafen, dem es überlassen blieb, seinen kränkelnden Herrn davon zu benachrichtigen.
Wie Alles, was ihn nicht persönlich betraf oder seine Stellung als Grund- und Fabrikherr gefährdete, nahm Adrian auch diese entsetzliche Botschaft mit unglaublicher Gelassenheit auf.
»Wirklich?« sagte er zu dem Kammerdiener, der es sich angelegen sein ließ, das Unerhörte möglichst schonend vorzubringen. »Fünf Kinder aufrecht stehend und bis an den Hals verweht hat man heut Morgen vor meiner Thür gefunden? Kennt man sie?«
Während dieser Gegenfrage tauchte er mit Aufmerksamkeit den feinsten weißen Stollen, in der Haide »Christbrod« genannt, in die lieblich duftende starke Chokolade, bis er von dem aromatischen Saft vollkommen durchzogen war.
»Herr Vollbrecht getraut sich, ihre unglücklichen Aeltern bezeichnen zu können.«
»Sehr wohl. Wo hat man die Leichen hingeschafft?«
»Sie liegen im Schuppen – eine ganze Hand voll Leichen! Befehlen Sie, daß man die armen Kinder Ihnen zeige?«
[] »Behüte!« sagte Adrian sehr fein lächelnd. »Ich bin nicht neugierig, und da ich vom Leichenbeschauen wenig verstehe, so überlasse ich die genauere Besichtigung dem Fabrikarzte. Es war unklug von den Aeltern, die Kinder in so stürmischer Nacht im Freien herumlaufen zu lassen. Wahrscheinlich sollten sie betteln oder stehlen und da hat sie der Finger Gottes berührt.«
»Sie scheinen nicht erfroren zu sein,« wagte der Kammerdiener schüchtern zu bemerken.
»Nicht? Dann ist wohl gar eine Gewaltthat, ein Verbrechen begangen worden?« versetzte mit erkünstelter Theilnahme der Herr am Stein. »Ich will, daß man die Verunglückten genau untersuche, und wenn sich nur die geringsten Spuren eines verübten Verbrechens zeigen, ihre Aeltern sogleich gefänglich einziehe!«
»Mit schuldigem Respect, gnädiger Herr, bringe ich Ihnen meinen Glückwunsch zum neuen Jahre,« sagte Vollbrecht, der während dem eingetreten war und die letzten Worte des Grafen noch gehört hatte. »Möge Gott ihre Gesundheit von neuem kräftigen und Ihnen in jeder Hinsicht gnädig sein!«
»Ich danke, mein Lieber! Doch lassen wir [] die Phrasen – ich gebe wenig darauf. Nun was sagen Sie zu der seltsamen Neujahrbescherung?«
»Sie hat mich nicht überrascht, Herr am Stein! Verwundert aber bin ich, daß sie so still, so ganz ohne ein Zeichen laut jammernder Verzweiflung vorübergegangen ist!«
Adrian gedachte des gellenden Nothschreis in der Nacht und konnte sich jetzt das Markerschütternde desselben erklären. Dennoch stellte er sich mit consequenter Frechheit unwissend, wie ein neugeborenes Kind.
»Mein lieber Vollbrecht,« versetzte er, seine stark vergoldete große Tasse von Meißner Porzellan aufs neue mit Chocolade füllend, »man erfriert meines Wissens ganz in der Stille. Die Aerzte behaupten, es sei ein angenehmer, schmerzloser Tod.«
»Die fünf Kinder, von denen hier die Rede ist, sind nicht erfroren,« sagte Vollbrecht finster.
»Also doch nicht erfroren? Also mit Gewalt, mit Willen getödtet?«
»So ist es, Herr am Stein.«
»Und wer sind die Thäter? Ohne Zweifel diese Feiglinge von Aeltern, denen es unmöglich [] dünkt, sich aus Rücksicht und Liebe für ihre Kinder ein wenig zu beschränken! Ich will sie kennen!«
»Davon nachher, Herr am Stein. Der Mörder dieser nunmehr in Frieden ruhenden Kleinen ist – der Hunger.«
Adrian behauptete auch jetzt noch seine unerschütterliche Ruhe.
»Wenn sich dies ärztlich beglaubigen läßt,« versetzte er, »so wundere ich mich nur, weshalb ich bis heut kein Wort von drohender Hungersnoth drüben im Dorfe vernommen habe. Ich bin nicht allwissend, ich kann auch bei meiner fortdauernden Kränklichkeit, die mir größte Schonung und Vermeidung jeglicher Aufregung streng zur Pflicht macht, nicht von Haus zu Haus gehen. Man hätte mir das Vorhandensein des allgemeinen oder theilweisen Nothstandes anzeigen sollen, dann würde man gesehen haben, daß ich, wo es nöthig ist, immer eine offene Hand in Bereitschaft habe. Ich werde sogleich Befehl ertheilen, Lebensmittel in das Dorf schaffen und die Dürftigsten reichlichst speisen zu lassen. Was aber soll zuletzt diese affreuse Farce?«
»Mich dünkt, Sie können aus ihr lernen, [] wie die Arbeiter von Ihnen denken, Herr am Stein, wen sie für den Mörder ihrer Kinder halten!«
»Es schmerzt mich,« erwiederte Adrian mit erheuchelter Rührung, eine kalte Thräne in sein funkelndes Auge pressend, »daß ich so arg verkannt werde. Diese Elenden sind wirklich zu verwildert, um mit ihnen wie mit vernünftigen Menschen zu reden! Sie wissen es ja, Vollbrecht, wie mein großmüthiges Anerbieten am Weihnachtstage schnöde zurückgewiesen wurde! Solche Beispiele boshafter Herzensverhärtung entmuthigen. Hätte Martell vor acht Tagen meine freiwillig dargebotene Unterstützung angenommen, ich würde unverweilt genaue Erkundigungen eingezogen haben über die Angelegenheiten auch anderer Familienväter. Seine lieblose Antwort aber verdroß mich und aus gerechtem Aerger darüber unterließ ich jede weitere Nachfrage. Die stolzen Thoren haben mithin nur sich, nicht aber mir das Elend zu danken, das nunmehr über sie hereingebrochen ist. Ich sehe darin sogar eine warnende Stimme des gerechten Gottes an die Uebermüthigen, gegen mich [] stets aufsätzig Gesinnten ergangen, damit sie zur Besinnung kommen und sich bessern!«
Vollbrecht hielt es für überflüssig, dieser Ansicht des Grafen, dessen innerste teuflische Gesinnung ihm längst kein Räthsel mehr war, zu opponiren. Er fragte kühl, was mit den fünf aufgefundenen Kinderleichen geschehen solle?
»Je nun,« versetzte Adrian mit dem eigenthümlichen um seinen stolzen Mund aufhüpfenden spöttischen Lächeln, »da wir hier kein so kühles Grabgewölbe besitzen, wie auf dem Sanct Gotthardt, so glaube ich mein Gewissen hinlänglich zu salviren, wenn ich die Scheuer auf einen Tag zur Morgue erhebe und das ganze Dorf aufrufe, die Leichen zu beschauen. Auf diese Weise kann jeder Vater, jede Mutter ihr Kind am leichtesten erkennen und wir unsererseits haben die Genugthuung, die maßlos Frechen ebenfalls kennen zu lernen, die unsere Thür ganz naiv zum Kirchhofe machen wollen. Uebrigens erlaube ich, daß man die so oder so Verstorbenen nach christlichem Gebrauche, doch ohne Leichenspectakel, auf meine Kosten beerdige.«
Vollbrecht machte Einwendungen gegen diesen Befehl. Es schien ihm nicht klug zu sein, [] das ganze Dorf öffentlich zur Todtenschau aufzurufen, er erblickte vielmehr darin von Seiten des Grafen eine versteckte schauerliche Verhöhnung des grenzenlosen Jammers der Armen. Adrian wollte aber dies gerade. Die Hungernden mußten sehen, daß er weder Ohr noch Auge habe für ihre Leiden, so lange sie ihn dazu nöthigen wollten. Gehorsam, Unterwerfung, Geduld, Geduld bis zum Hungertode mußte er sich bei den Arbeitern erzwingen, eher war sein Sieg kein vollständiger, kein dauernder.
»Sie verzeihen, gnädiger Herr, wenn ich mir noch einen Einwand erlaube,« sagte Vollbrecht. »Ich kenne die Aeltern der Aufgefundenen. Man kann ihnen also ihre Kinder ohne Aufsehen still ins Haus schicken.«
»Wenn auch, besser ist's immer, sie kommen selbst. Haben sie sich die strapaziöse Mühe gegeben, mitten in stürmischer Nacht mir die todten Würmer herzuschaffen, so mögen sie sich ihre Bälger jetzt am Tage, wo die Sonne recht hübsch warm scheint, auch wieder abholen. Sonst müßte ich sie ihnen am Ende noch in meine Staatskarosse heimfahren lassen!«
[] »Und wenn sie trotz des Aufrufes nicht erscheinen, Herr am Stein? Wenn der Aufruf das ganze Dorf in Gährung versetzt?«
»Ich lasse es darauf ankommen, lieber Vollbrecht. Im Winter geschehen keine gefährlichen Revolten. Kälte und Regen sind die besten Gemüthsbesänftiger. Erlassen Sie daher in Goltes Namen den Aufruf! Finden sich die betreffenden Aeltern wirklich nicht ein, so weiß ich schon, was ich zu thun babe. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß diese fünf todten Kinder Niemand als ihre leiblichen Väter oder Mütter auf ihren Armen heimtragen sollen!«
Adrians Befehl wurde vollzogen. Die Bekanntmachung lief schnell von Mund zu Mund, von Haus zu Haus, und schon gegen Mittag zogen Männer, Frauen und Kinder schaarenweise über den gefrorenen See, um die gefundenen fünf Kiuder zu betrachten. Diese hatte der Graf aus Vorsicht in eine Art vergitterten Käfig, der ursprünglich als Gänsestall diente, neben einander legen lassen, um alles Betasten und allzugroßen Andrang zu verhindern. In vollem Sonnenlicht mitten auf der Tenne stand diese wunderliche und erschütternde Morgue von vier [] Bedienten des Fabrikherrn bewacht, die auf Ordnung und Schicklichkeit zu sehen hatten.
Der martervolle Tod hatte die Unglücklichen nicht so sehr entstellt, daß sie für Bekannte und Freunde unkenntlich gewesen wären. Man hörte daher von fast jedem an den Gitterkasten Herantretenden bald laut bald leise ihre Namen nennen und ihre Aeltern beklagen. Mancher mochte sich wohl auch wundern, daß unter so vielen hundert Neugierigen nur allein die Betheiligten fehlten, denn von dem eigentlichen Hergang der Sache war noch Keiner unterrichtet. Wie es nun aber überall geschäftige Seelen gibt, die jedes Ereigniß, sei es erfreulich oder betrübend, sogleich weiter tragen müssen, so fanden sich auch unter den herbeieilenden Fabrikarbeitern sehr bald einige Händeringende, die jammernd rückwärts nach dem Dorfe stürzten, um den betreffenden Aeltern das entsetzliche Unglück ihrer Kinder zu melden. Bei dieser Botschaft mußte nun die eigentliche Todesart an den Tag kommen, die wo möglich von denselben Dienstbeflissenen noch schnellere Verbreitung fand.
Hatte man bisher blos die Verstorbenen und ihre armen Aeltern beklagt, so verwandelte [] sich nach Verbreitung dieses neuen Gerüchts, an dessen Wahrheit man nicht lange zweifeln konnte, das Bedauern in ein dumpfes Entsetzen. Der Plan vor der Tenne, so eben noch von Hunderten erfüllt, ward leerer und immer leerer. Viele wandten sich mit bestürzten Mienen, mit vor die Augen gehaltenen Händen von dem Gitter, und eilten, als wäre ihnen ein Geist erschienen, nach dem See, dessen Eisdecke sie in vollem Laufe überschritten. Das Entsetzen, der Abscheu, das innere moralische Grauen, welches man empfand, war so allgemein, daß Alle instinktmäßig einen Ort flohen, der von Gott als ein verfluchter bezeichnet zu sein schien. Man wollte der Nähe des Mannes entfliehen, der so fürchterliche Verantwortung auf sich geladen und trotzdem noch den wahrhaft dämonischen Muth besaß, das Ergebniß seiner Grausamkeit zu einem Schauspiel zu benutzen.
Mit eigenthümlichem Lächeln beobachtete Adrian von seinem Zimmer aus unbemerkt das Benehmen seiner Arbeiter bei diesem ihnen bereiteten Schauspiele. Nichts dabei schien ihn zu überraschen, denn er wiegte zufrieden das stolze Haupt, als sich die Zuschauer so plötzlich verloren [] und keine neuen vor dem Gitter mehr erscheinen wollten. Die Aeltern der Verhungerten hatten sich wirklich nicht blicken lassen. Unberührt blieben die Leichen der armen Kinder dem grausamen Gebieter als Neujahrsgeschenk der Verzweifelten. –
Vollbrecht erstattete, wie es von ihm verlangt ward, Bericht über den Hergang und erbat sich fernere Verhaltungsbefehle. Adrian hielt diese nicht für nöthig. Kalt und entschieden, wie immer, ließ er sich jetzt die Namen der Aeltern nennen, die ihrer Kinder auf so entsetzliche Weise beraubt worden waren. Er notirte sich dieselben in seine Schreibtafel. Dann erkundigte er sich nach den Arbeitsstellen der Väter und Mütter der Verstorbenen in der Fabrik, fragte, auf welche Weise diese selbst beschäftigt gewesen wären und wie man ihre Stellen werde besetzen können? Auf all' diese Fragen gab Vollbrecht genau Antwort, da sie das Geschäft und dessen ungestörten Fortgang betrafen. Es fiel ihm nicht auf, daß Adrian auch darüber einige Bemerkungen in seine Schreibtafel machte. Zuletzt, als der Geschäftsführer sich noch die Frage erlaubte, wohin man die fünf [] Leichname schaffen solle, versetzte Adrian, als verstünde sich dies von selbst, er werde die Aeltern derselben bedeuten lassen, daß sie im Lauf der Nacht, um alles unnöthige Aufsehn zu vermeiden, die Abholung der Leichen ohne Widerrede zu besorgen hätten. –
Diese Nacht kam heran, sternenklar, still und kalt. Ebenso still und kalt lag das Dorf jenseits des Sees, nur die leuchtenden Sterne des Glückes, der Liebe, der Hoffnung, des Glaubens waren über ihm und seinen trauernden Bewohnern erloschen. Von der Insel aus sah man kein Licht mehr in den Hütten der Arbeiter schimmern. Außer dem Bellen einiger Hunde lag das Schweigen einer kalten todten Winternacht rings auf der waldbedeckten Gegend.
Auch im Hause des Fabrikherrn war es ruhig geworden. Nur Adrian wachte noch in seinem Zimmer und durchschritt es wiederholt mit großen Schritten. Endlich zog er die Klingel. Der Kammerdiener erschien und rieb sich schlaftrunken die Augen.
»So müde, Jean?« fragte der Graf mit ungemeiner Freundlichkeit. »Das ist mir unlieb. [] Ich hatte Dir noch ein spätes Geschäft zugedacht.«
Jean war durch diese Anrede vollkommen munter geworden. Er verbeugte sich und antwortete:
»Der gnädigste Herr Graf dürfen nur befehlen.«
»Ich hätte eine Bitte an Dich, lieber Jean. Aber Du mußt verschwiegen sein!«
»Wie das Grab, gnädigster Herr Graf!«
»Auch gegen Vollbrecht!«
»Gegen mich selbst, wenn Ew. Gnaden befehlen!«
»Wenn Du mein Vertrauen, das ich Dir in diesem Augenblicke schenken will, rechtfertigst, werde ich Deinen Sohn – still, still, ich kenne Deine kleinen verliebten Abenteuer, ohne Dich deshalb zu schelten! – Deinen Sohn also werde ich erziehen lassen und Dir eine lebenslängliche Pension von dreihundert Thalern aussetzen. Was meinst Du?«
»Der gnädigste Herr Graf sind der großmüthigste Mann auf Erden!«
»Ich werde es sein, wenn Du schweigst!« sagte Adrian nochmals mit einem bedeutenden, [] eben so freundlichen als drohenden Blick. »Zünde jetzt die Blendlaterne an und hole die Schlüssel zur Fabrik.«
»Jetzt? Ew. Gnaden wollten –«
»Gehorche und schweige!« raunte ihm der Graf befehlshaberisch zu.
Jean verfärbte sich, schlich auf den Zehen ins Comptoir und überbrachte Adrian, der sinnend in das kleine Flämmchen der Blendlaterne sah, die Schlüssel mit zitternder Hand.
»Meinen Wolfspelz!«
Jean holte auch diesen und warf ihn seinem Gebieter um. »Es ist sehr kalt, gnädiger Herr,« sagte er, »der Doktor würde einen so späten Ausgang gewiß nicht gestatten.«
»Jetzt nimm den großen Henkelkorb, der die neuen Garnproben enthält. Leere ihn und bringe ihn an die Tenne.«
Adrian schritt schon die Treppe hinunter, entriegelte die Hausthür und ging auf die Tenne zu, wo die Leichen der Kinder, die in seinem Dienst umgekommen waren, den Schlummer des ewigen Friedens schliefen. Auf den bleichen Gesichtern der Kleinen spielte der Schimmer der [] silbernen Gestirne, die am dunkeln Nachthimmel flammten.
»Wollen Ew. Gnaden die armen Würmer begraben oder sie eigenhändig ihren Aeltern vor die Hausthüren legen?« stotterte der Kammerdiener, dem die Zähne vor Frost und Furcht klapperten und der seine Zusage längst schon bereute.
»Lege die Leichen in den Korb, Jean,« befahl der Graf, »und schlage dann die graue Deckleinwand sorgfältig über sie zusammen!«
Jean mußte trotz seines namenlosen Grauens das gräßliche Geschäft verrichten, dem Adrian mit verschränkten Armen, still und ernst wie ein Todtenrichter zusah. Dann nahmen Beide den Korb auf, Adrian stellte die kleine Blendlaterne auf die verhüllten Kinderleichen und schlug den Felsenpfad nach der Fabrik ein. Dem Kammerdiener rieselte kalter Schweiß in Bächen über sein Gesicht. Er sprach kein Wort. Keuchend half er dem marmorbleichen, wie eine lebendig gewordene Statue neben ihm fortwandelnden Grafen die schreckliche Last nach den hochgelegenen Fabrikgebäuden tragen.
Das Entsetzen des armen Kammerdieners erreichte seinen höchsten Grad, als sie die Maschinensäle [] betraten. Diese unermeßlichen Räume, sonst mit erstickendem Oeldunst und dem heißen Broden von mehr als hundert Arbeitern erfüllt, jetzt kalt und von einem seltsam pfeifenden Luftzug durchweht, der aus den geöffneten Wärmeröhren drang und an den blaugrauen oder schwarzen Stahlschenkeln und Armen der Maschinen wie der Athem eines hier festgebannten bösen Geistes flüsterte, säuselte, wimmerte und heulte – diese endlosen Räume hatten etwas unbeschreiblich Grauenvolles. Durch die hohen, tausendscheibigen Fenster, jetzt mit beinahe fingerdicken Eis- und Schneeblumen bedeckt, fiel kein Schimmer des bläulichen Sternendämmers, der die Nacht der Haide matt erleuchtete. Nur das einzige dünne und trübe Flämmchen der Blendlaterne in Adrians Hand sandte seinen gaukelnden Irrlichtglanz hüpfend über die hundert Werkstätten der modernen Industrie, durch die gräßliche mitleidslose Folterkammer der Civilisation des neunzehnten Jahrhunderts! –
»Oeffne den Korb, Jean,« befahl Adrian, »und folge mir mit dem kleinen todten Schlingel, der das Pfeilmaal auf der linken Wange hat!«
Mechanisch hob der Kammerdiener, jetzt in [] sein Schicksal still ergeben, die Leiche aus dem Korbe und trug sie dem vorausschreitenden Grafen nach. In der Mitte des Saales blieb er an einer der größten Spinnmaschinen stehen, deren nackte Spindeln im Schein der Leuchte mattroth erglühten.
»Das ist der Ort,« sagte Adrian spöttisch lächelnd. »Drücke dem kalten Schelm die steifen Glieder zusammen, daß er in eine sitzende Stellung kommt, und schiebe ihn unter die Kämme. Er hat da geschafft bei Lebzeiten, er mag sich noch einmal im Tode die ungelenken Finger von den stählernen Rechen krumm biegen lassen. Wenn ihn morgen früh der Herr Papa hier nicken sieht, wird er sich wohl nicht mehr weigern, ihn als redlicher Vater nach Hause zu tragen. Man muß diese pflichtvergessenen Menschen mit der Nase auf das stoßen, was sich schickt, und was sie zu thun haben.«
Jean starrte den Grafen mit offenem Munde, mit schlotternden Knieen und klappernden Zähnen an. Sein Auge schwamm in Thränen, er vermochte nicht zu reden. Nur stammelnd lallte er:
[] »Aber, gnädigster Herr Graf! – Gnade! Gnade!«
»Gehorsam verhilft zu Gnade!« versetzte Adrian schneidend. »Weil sie mir nicht gehorchen, bin ich ihnen ungnädig gesinnt und bestrafe sie jetzt. Thue also, was ich Dir heiße!«
Jean drückte die Leiche zaudernd in die klirrenden Stähle. Heiße Thränen fielen auf das Gesicht des Todten und blieben an seinen gesenkten Wimpern hängen.
Adrian schritt weiter, beim trüben Schein der Laterne mit Mühe die Notizen in seiner Schreibtafel durchfliegend. In mehrere Säle kehrten die schrecklichen Wanderer ein, überall ein Geschenk des Todes, bald sitzend, bald stehend, bald gegen die Erde gepreßt, bald über die Flucht der Spindeln gebeugt, zurücklassend. Erst nachdem dies nächtliche Geschäft zu Adriaus Zufriedenheit beendigt war, verließen sie schweigend, wie sie gekonnnen, die Fabrik und kehrten, von Niemand gesehen, von Niemand in ihrem grauenvollen Thun belauscht, als von Gott, in die Wohnung am Ufer des Sees zurück.
»Vergiß nicht zu schweigen!« ermahnte der [] Graf seinen Kammerdiener mit vertraulichem Lächeln, in dem eine satanische Genugthuung triumphirte, während dieser ihn entkleidete. »Es wird Dich nicht gereuen!«
Jean schwieg. Er wünschte dem Grafen schweigend gute Racht, suchte schweigend das Lager und stand am andern Morgen schweigend wieder auf. Er schwieg fortan immer, sein ganzes Leben hindurch. Das Entsetzen der Nacht hatte ihm die Zunge gelähmt und das Vermögen der Spräche genommen! – Die Vorsehung liebt es zuweilen, die größten Verbrechen am härtesten an denen zu strafen, die nur als blinde Werkzeuge zu deren Vollziehung dienen. –
[] Siebentes Kapitel.
Die Ablöhnung.
Noch am Neujahrstage war die Kunde von dem Hungertode der fünf Kinder bis auf den Zeiselhof gedrungen. Aurel hielt es für eine schamlose Uebertreibung, um ferne und nahe Unterthanen Adrians gegen diesen aufzuhetzen, und wollte durchaus nichts davon hören. Anders dachte der Maulwurffänger, der die gedrückte Lage der Fabrikarbeiter zu genau kannte, um nicht auch einen solchen Fall für möglich zu halten. Er erbot sich, unverweilt nach Boberstein aufzubrechen, um sich von den dortigen Verhältnissen zu unterrichten. Die an sich geringe Entfernung war zu Schlitten in sehr kurzer Zeit zurückzulegen, weshalb Heinrich ein derartiges Fuhrwerk begehrte. Da er selbst kein[] zuverlässiger Rosselenker war, ergriff Sloboda die Zügel. Diesen trieb es überhaupt wieder in die Haide, an den Ort, wo sein Kind so glückliche Stunden verlebt hatte. Ohnehin wollte es ja scheinen, als bleibe für ihn und seinen Enkelsohn wenig zu hoffen, denn während allerorten, wo Niemand es vermuthete, Blutsverwandte des gräflichen Geschlechtes von Boberstein plötzlich und unerwartet austauchten, wollte sich nirgends eine Spur des Kindes zeigen, das Haideröschen auf der Flucht geboren hatte, und um das sie gebracht worden war. Man wußte nur, daß es ein Mädchen gewesen, daß es gelebt hatte und während der tagelangen Ohnmacht der angegriffenen Mutter verschwunden war.
Frühzeitig brachen die Greise am Tage nach Neujahr auf, flogen in leichtem Schlitten über die spiegelnden Schneefelder der Haide entgegen und entdeckten bald in der durchsichtigen Luft die Schornsteine der Fabrik. Zu ihrem großen Befremden lagen keine Rauchwolken über denselben, obwohl neun Uhr Vormittags schon vorüber war. Der Maulwurffänger trieb Sloboda zu schnellerem Fahren an, da nur ein ungewöhnlicher [] Vorfall diesen Stillstand der Fabrik veranlaßt haben konnte. In gestrecktem Galopp jagten nun die beiden jungen feurigen Thiere mit ihrer leichten Last durch die gewundenen Haidewege, durch phantastisch gewölbte, mit krystallenen Schneebehängen drapirte Eishallen, wie sie der Winter in seiner wunderlichen Launenhaftigkeit in dichten Föhrenwäldern über Nacht voll zauberischer Pracht erbaut. Lange vor Mittag spiegelte ihnen durch den Unterbusch der See entgegen, von hin und wieder gehenden Menschentruppen reich belebt.
Wir haben früher bemerkt, daß Herr am Stein alls Rücksicht auf seine klug berechneten Speculationen die Lohnzahlung an seine Arbeiter bis auf den heutigen Tag verschoben hatte. Obwohl er sehr genau die verzweiflungsvolle Lage des größten Theils dieser armen, von einem Tage zum andern kümmerlich ihr Leben hinfristenden, Sclaven seines Willens kannte, glaubte er doch nicht an den Ausbruch einer wirklichen Hungersnoth. Er hoffte die Mehrzahl werde mit einigem Darben die wenigen Tage überstehen, werde dann hungrig nach Brod und gierig nach einigen Groschen schon vor Tage sein Haus umlagern und [] ohne Zögern unter den zuletzt aufgestellten Bedingungen lebensgern für ihn fortarbeiten, um nur wieder Geld in die Hände, Brod und Torf ins Haus zu bekommen. Wußte er doch aus Erfahrung, was man dem armen Volke zumuthen kann, wenn man die Macht besitzt, ihm zu helfen und zu schaden.
Diefe Lohnaustheilung erfolgte auf Adrians Hausflur durch ein Schiebfenster, das mit dem Comptoir in Verbindung stand. Vollbrecht hatte als vereideter Geschäftsführer die Vertheilung zu besorgen. Adrian selbst kümmerte sich nie darum, noch ließ er sich vor seinen Arbeitern blicken.
Martell hatte diesem Zahlungstage in einer kaum zu beschreibenden Gemüthsaufregung entgegengesehen. Das Wort des Maulwurffängers war wie eine Feuerflamme in seine Seele gefallen. Er, der arme, verachtete, mißhandelte Spinner ein Verwandter des reichen allmächtigen Herrn am Stein! Ein Mitglied der Familie, die über fürstliche Besitzungen gebot! Er ein Mann, dem vielleicht gleiche Rechte an diese unermeßlichen Ländereien zustanden, wie dem, unter dessen eiserner Zuchtruthe er grollend seinen Rücken beugte!
[] Martell bedurfte einiger Tage, um den gewaltigen Eindruck dieser Offenbarung zu überwinden und sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß ihm em besseres Loos gebühre, als das unter dem er gegenwärtig sich abmühe. Ein minder kräftiger Charakter wäre vielleicht still, demüthig, heiter und zufrieden geworden durch die erwähnte Entdeckung, hätte vielleicht alles ausgestandene Elend schnell vergessen und sich mit der Aussicht auf baldige bessere Tage getröstet. Bei Martell dagegen wuchs der Groll, der Ingrimm, die Lust nach Rache mit der Gewißheit, daß er von Kindes Beinen auf unwürdig ja niederträchtig behandelt worden sei. Die ausgestandene Noth, das erlittene Unrecht zu vergessen, war nicht seine Absicht. Er sann Tag und Nacht nur darüber nach, wie er sich recht empfindlich rächen, wie er Wiedervergeltung üben konne! – Traugotts Zuspruch machte ihn noch wilder, noch erbitterter. Der arme Spinner in seiner moralischen Entrüstung war furchtbar und erhaben zugleich. Er war ein zürnender Gott in Lumpen!
»Schweigt Vater!« rief er nach einer abermaligen frommen Ermahnung des gottvertrauenden [] Greises, die am Morgen des Neujahrstages vorfiel, als Martell sich weigerte, den schwächlichen Alten zur Kirche zu begleiten. »Mein Gebet wäre schlimmer als Fluch, denn es käme ja doch aus einem haßerfüllten Herzen! – Und wofür soll ich denn beten und danken? Dafür, daß ich vierzig Jahre am Elende mich sattgegessen, daß ich mir an der verschimmelten Brodrinde der Armuth das Herz zu Gott und Menschen abgekaut habe? Solch jammervolles Dasein ist keinen Dank werth; man bezahlt es schon viel zu theuer mit den hunderttausend Flüchen, die willenlos unserm Munde entgleiten! – Laßt mich also, Vater, und betet Ihr für mich, wenn Ihr könnt, ich will mich rüsten auf die Kämpfe der nächsten Tage.«
Betrübt über die Halsstarrigkeit seines Schwiegersohnes ging der alte Spinner von seiner Enkelin geführt zur Kirche. Lore blieb ebenfalls daheim, um das sehr zerrüttete Hauswesen einigermaßen in Ordnung zu bringen.
»Mich verlangt es zu erfahren,« sagte Martell zu seiner Frau, »was der verfluchte Sünder, mein sehr werther Herr Vetter, zu der Neujahrsbescheerung sagen wird! Ha, ich denke, [] sie soll ihm ein Zähneklappen verursachen, das er im ganzen Jahre nicht wieder los wird! – Freilich, da sind wir immer noch glücklich zu nennen gegen die armen Aeltern der Verhungerten! – Unser Hans starb, so zu sagen, wie ein Mensch, wenn auch elendiglich verstümmelt, aber diese Unglücklichen – o Gott, laß mich's nicht denken!«
»Wenn wir fortzögen von hier, was meinst Du? Wir haben jetzt Freunde, die uns gewiß unterstützen werden. Es gehen so Viele nach Amerika –«
»Nein, Lore, jetzt müssen wir bleiben, und wenn man uns die Glieder einzeln abriß!«
»Es thut nicht gut, Martell! Du vertiefst Dich zu sehr in Deine Gedanken und am Ende, wenn Du keinen vernünftigen Ausweg mehr siehst, begehst Du, was nicht recht ist!«
»Glaubst Du, ich werde ihn, den Herrn Vetter ermorden? Bei meiner unsterblichen Seele, das geschieht nicht!«
»Du bist so heftig, so ungestüm! Ach und den frommen Vater kränkst Du damit!«
»Er ist gut, aber er versteht mich nicht. Dächten wir alle, wie er in seiner Einfalt, so [] schindeten uns die Herren zuletzt lebendig. Ich weiß schon, was ich will!«
»Was, Martell? Sage mir's, ich bitte! Bin ich auch nur ein armes, von Kummer tief gebeugtes Weib, eine trauernde Mutter – was das Rechte ist, das sagt mir mein zitterndes Herz!«
Lore schlang ihre magern Arme um den stämmigen Nacken des zürnenden Mannes und strich ihm die verworrenen langen Locken aus der Stirn, die ihre bleichen Lippen in flüchtigem Kusse berührten. Martell sah ihr lange still und ernst in die liebreichen, von Thränen erfüllten blauen Augen.
»Bedanken will ich mich,« sagte er nach einer geraumen Pause und sein bisher kaltes Auge blitzte in dunkelm Feuer auf.
»Bedanken? Bei wem und für was?«
»Bei meinem Herrn Vetter für die ausgezeichnete Behandlung, die er mir hat zu Theil werden lassen,« erwiederte Martell höhnisch lächelnd.
»Das ist es gerade, was ich fürchte,« seufzte Lore und ließ ihren Arm langsam von der Schulter des geliebten Mannes gleiten. »Das, [] was Du Dank nennst, wird hart und bitter sein –«
»Ei, mein Schatz, die Wohlthaten, die er uns erzeigt hat, waren auch nicht süß, die Lasten, die wir für ihn trugen, nicht leicht! Ich will blos mit ihm sprechen, wie es ein Vetter darf und soll.«
»Und wenn hast Du die Absicht, eine solche Unterredung unt Herrn am Stein Dir zu erbitten?«
»Ich werde gar nicht darum bitten, arme Taube, ich werde warten, bis es Zeit ist und dann sprechen!«
»Wenn er Dich nur zu Worte kommen läßt!«
»Ich besitze, Gott Lob, eine kräftige Stimme, wahrscheinlich das Einzige, wofür ich ihm mittelbar Dank schuldig bin, da ich als Saalaufseher das Geräusch der Maschinen oft überschreien mußte. Andere freilich, deren Lungen nicht kräftig genug waren, bekamen die Schwindsucht und siechten hin. Grade, weil Gott mich erhalten hat, scheint mir, soll ich noch zu etwas Besserem berufen sein, als mein Lebelang blos an hundert und mehr Spindeln [] auf und abzulaufen, um die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen.«
Während dieses Zwiegespräch zwischen Martell und seiner Frau stattfand, war der Aufruf zur Todtenschau auf der Insel an vielen Orten erfolgt. Schaaren Neugieriger eilten nach dem See, denn nur Wenige kannten den Hergang der Sache und wußten um die letzten Augenblicke der Verstorbenen.
»Siehst Du?« sagte Martell lächelnd zu Lore und deutete auf die Reihen der schnell dahin eilenden Menschen. »Graf Adrian hat den Neujahrwunsch seiner getreuen Arbeiter empfangen. Er beeilt sich, ihnen pflichtschuldigst seinen gefühltesten Dank abzustatten – so ungefähr heißt ja die herzlose Redensart, die alle Vornehmen und Hochgeborenen den Armen und Niedrigen gegenüber süß lächelnd in den Mund zu nehmen pflegen.«
Bald nach erfolgtem Aufruf kam Traugott aus der Kirche, zu neuen Leiden ermuthigt, wie immer, wenn er das Haus des Herrn besucht hatte. Etwas später erscholl die lähmende Nachricht von dem Hungertodte der fünf Kinder, ihm folgte das Zurückstürzen der Arbeiter von der Insel und [] jenes furchtbare Schweigen des Entsetzens, das der beredteste Ausdruck tiefster Empörung und größter Seelenerschütterung ist.
»Nun freue ich mich auf morgen,« sagte Martell. »Morgen ist Zahltag für den reichen Herrn, da hat er allemal schlechte Laune. Wir merken das immer an den schlechten Geldsorten, die uns dann für vollgiltig zugeworfen werden. Diesmal jedoch soll das nicht wieder einreißen, das steht fest! Ich appellire.«
»Und erhältst den Abschied!« seufzte Traugott. »Ach wenn werde ich Dich demüthig, ergeben und in die Zeit Dich fügend sehen!«
»Sobald es besser geworden ist mit den Arbeitern, Vater, nicht eine einzige Stunde früher! –«
Gegen Abend sprach Simson bei Martell ein. Der unglückliche Mann wohnte nur wenige Häuser weit und war unserm heißblutigen Freunde immer ein treuer Helfer in der Noth gewesen, so weit dies unter so beschränkten Verhältnissen möglich und denkbar ist. Der Mann war völlig rathlos. Händeringend, den stieren Verzweiflungsblick bald an die schwarzen Dielen heftend, bald zur Decke aufschlagend, ging er in [] der kleinen Stube ruhelos auf und nieder.
»Beim ewigen allbarmherzigen Gott, Martell, ich weiß nicht mehr, was ich anfangen, wie ich die Jammernde besänftigen soll!« rief er aus. »Sie will durchaus ihr Kind wieder haben, um die Leiche noch herzen und küssen zu können, und wir haben uns doch hoch und theuer verschworen, nach Deinem Rath, es nicht eher von des Grafen Schwelle zu heben, als bis er unsere billigen Wünsche genehmigt und erfüllt hat! – Mein Jesus, ich glaube, sie stirbt vor Jammer und Angst noch diese Nacht!«
»Rede ihr zu, Simson, verständig und mild,« erwiederte Martell. »Sie wird sich schon wieder fassen und noch ein paar Stunden gedulden. Unser Aller Zukunft in diesem Jahr hängt ja davon ab.«
»Was gilt das Alles einer Mutter, die ihr Kind beweint!« entgegnete Simson. »Ein Kind das in ihren Armen vor Hunger gestorben ist! Da hat alle Vernunft ein Ende, Martell! Will es doch unser einem den wüsten Kopf auseinander sprengen!«
»Maja muß sich dennoch gedulden, Leidensgenosse! [] Es ist der einzige Weg, um dem Unbarmherzigen Zugeständnisse abzunöthigen. Wir wollen keinen Aufstand, damit wir in späteren Tagen mit Gottes Hilfe Recht erhalten.«
Simson schlich wieder heimwärts, um der klagenden Mutter Tröstungen zuzuflüstern, an die er selbst nicht glaubte, und eine endlose, von unermeßlichem Schmerz zur Ewigkeit sich ausdehnende Nacht schlaflos mit ihr zuzubringen. –
Hunderte von Arbeitern floh der Schlaf in dieser langen kalten Winternacht. Diese fanden die Ruhe nicht, weil sie von körperlichen Schmerzen – den Folgen des Hungers gepeinigt wurden, Jene rieb die Seelenqual auf um der Ihrigen Zukunft, wenn nicht binnen kürzester Frist ein totaler Umschwung der Verhältuisse, eine Revolution der Gesellschaft eintreten sollte!
Lange vor Tage und noch länger vor der bestimmten Arbeitszeit ward es lebhaft im Dorfe am See. Männer, Frauen und Kinder schaarten sich truppweise zusammen, um sich gegenseitig die allgemeine Noth zu klagen, die Jeder für sich zur Genüge kannte und doch von dem Dritten mit gespannter Aufmerksamkeit nochmals schildern hörte.
[] Bald nach fünf Uhr des Morgens setzten sich die Truppen der Arbeiter in Bewegung, still und ohne ein äußeres Zeichen der tiefen innern Aufregung, die in der Brust fast jedes Einzelnen tobte. Sie beabsichtigten durch diese frühere Ankunft an Adrians Behausung eine Beschleunigung der Lohnauszahlung zu bewirken und dadurch Zeit zur Auseinandersetzung ihrer Forderungen zu gewinnen. Martell war einstimmig zum Wortführer ernannt worden. Auf ihn gründete das ganze Arbeiterdorf seine Zukunft, denn man hielt ihn für besonders geeignet, dem grausamen Fabrikherrn zu imponiren, da man wußte, daß er ein Anverwandter dieses modernen Despoten war, oder doch sein sollte. Auch die Aeltern der verhungerten fünf Kinder zogen in mitten ihrer Kameraden der hohen Zwingburg auf den Granitfelsen Bobersteins entgegen.
Obwohl es noch tiefe Nacht war, zeigten sich doch in der weißlichen Atmosphäre über den Schornsteinen der Fabrik schon krause dunkle Wölkchen, die von der kalten Luft niedergedrückt wie schwarze Riesenschlangen mit abenteuerlich gehörnten Drachenköpfen an den hohen Schloten abwärts krochen und sich auf den weißen Abhängen [] der felsigen Insel convulsivisch krümmten und wanden. Die Thätigkeit der Oefen hatte begonnen, da eine Stunde später die ersten Arbeiter wieder antreten sollten.
Erwartungsvoll sammelten sich die Spinner vor dem Hause des Fabrikherrn. In diesem war noch kein Laut des Lebens zu hören, dennoch unterließen die schlecht gegen den scharfen Morgenwind Verwahrten jede tumultuarische Bewegung, um nicht zur Unzeit den Zorn Adrians zu reizen. Pünktlich in seinen Anordnungen und Versprechungen, ließ dieser die Thür mit dem ersten Glockenschlage sechs öffnen und gestattete je drei Arbeitern auf einmal den Eintritt in den Flur. Martell war der Erste, ihm schloß sich Simson und jener Anton an, der am Weihnachtsabende die Aufgeregten durch besonnenes Zureden zu beruhigen suchte.
Das freundliche Gesicht Vollbrechts lächelte ihnen durch das Schiebefenster entgegen, und ein freundlicher Morgengruß ward ihnen zu Theil. Als man diesen eben so herzlich erwiederte, sprach Vollbrecht:
»Es ist der ausdrückliche Wunsch und Befehl des Herrn am Stein, daß die Arbeit nach [] so langer Rast sogleich wieder ihren Anfang nehme. Die eigenthümlichen Handelsconjuncturen gebieten es, damit noch vor Mittag die vor dem Feste angelegte Wolle aufgesponnen, geweift und gekäutelt werde! Geschähe dies nicht, so würde durch die Concurrenz einer andern bedeutenden Spinnfabrik Sachsens der Markt früher mit dem nöthigen Bedarf überfüllt und dadurch der Firma am Stein und Compagnie nicht nur der diesmalige, sondern auch jeder ferner noch zu hoffende Gewinn verloren gehen. Haltet Euch also jetzt nicht auf, sondern begebt Euch sogleich an die Maschinen! Später, etwa um die zehnte Morgenstunde, will Euch Herr am Stein als zum ersten Tage im Jahre den Lohn selbst auszahlen.«
Viele murrten über diese Neuerung und machten Miene zu bleiben und durch Drohungen die ohnehin so lange verzögerte Auszahlung auf der Stelle zu erzwingen. Martell aber erkannte schnell den Vortheil, der ihnen aus geschäftiger Willfährigkeit grade in diesem Augenblicke erwachsen mußte, und forderte die vereinzelten Truppen gebieterisch auf, ihm zu folgen. Da Viele gar nicht die Veranlassung der sofortigen Ersteigung [] der Fabrik kannten, schloß sich die ganze sehr zahlreiche Masse aus reiner Neugier an. In zehn Minuten wimmelte der Fabrikbof, der ein großes Fünfeck bildete, von dem Summen der in die verschiedenen Säle und Stockwerke sich vertheilenden Arbeiter.
Das pfeifende Gezisch des gefesselten Dampfes, das bisweilen aus einem der Sicherheitsventile erklang, und eine schneeweiße wirbelnde Dunstsäule in die kalte Luft entsendete, zeigte an, daß Alles in Bereitschaft sei, um die Maschinen ohne Verzug in Gang zu setzen.
Vollbrecht öffnete die einzelnen Säle, bald entzündeten sich die Lampen an Wänden und Decken, die Arbeiter nahmen ihre Plätze ein und das Zeichen, die Maschinen wirken zu lassen, ward gegeben.
Martell und Simson arbeiteten in demselben Saale an den feinen Spinnmaschinen. Hier waren auch ihre nunmehr verstorbenen beiden Kinder Flockenzupfer unter den hin und wieder rollenden Spindelwagen gewesen.
In seinen Kummer vertieft, auf nichts um sich her achtend, trat der halbverhungerte Mann an seinen Ort, ergriff mechanisch die [] Feder, durch deren Druck sein Spindelwagen mit der allgemeinen Maschinerie in Verbindung gesetzt ward, und ließ, als das dumpfe Stampfen der eisernen Gestänge verkündigte, daß sich die Dampfmaschine in Bewegung setze, seinen klirrenden Stahlwagen in das rollende Kammrad greifen. In diesem Augenblick hörte er von wohl zehn seiner mitarbeitenden Nachbarn einen gräßlichen gemeinsamen Aufschrei, sah eben so rasch ein Aushängen ihrer Spindelfluchten und ein geisterartiges Hinstieren nach ihm und seiner Maschinenabtheilung. Bestürzt ließ auch Simson die Feder wieder einschnappen, folgte den Blicken seiner Mitspinner und sah – sah mit stockendem Herzen, mit blutleeren Wangen, mit fiebernder Lippe und verzerrten Zügen den Körper seiner verstorbenen Tochter unter den Kämmen am Boden sitzen, in einer Stellung, als wolle sie die abfallenden Wollflocken einsammeln! – Fast zu gleicher Zeit wiederhallten noch mehrere Säle von ähnlichen Entsetzenstönen. Ueberall wurden die Maschinen gehemmt, überall die Arbeit sofort eingestellt.
Adrians Wunsch ging wirklich in Erfüllung. Die unglücklichen Aeltern, die ihre verhungerten [] Kinder in der stürmischen Sylvesternacht dem Despoten als Neujahrsgabe vor die Thür gelegt hatten, trugen die Wiedergefundenen auf ihren Armen heim in ihre Hütten. Die Freude, die dem Gesammtwillen der Darbenden dahingegebenen Opfer jetzt wieder zu besitzen, unterdrückte jede andere Herzensregung bei sämmtlichen Aeltern, und ohne den boshaften Hohn zu empfinden oder zu ahnen, der sich in dieser Wiederbescheerung kund gab, verließen die Trauernden, die Kinderleichen im Arm, die Fabrik. Wie sie in die Maschinensäle gekommen und daß nur Adrian der Veranstalter dieser Ueberraschung sein konnte, darüber dachten die Betheiligten nicht nach.
Um desto größer und anhaltender war das Grauen aller Uebrigen. Die Hand jedes Einzelnen erlahmte, seine Pulse stockten, Schwindel erfaßte Alle, als stünden sie dicht an einem unergründlichen, höllentiefen Abgrunde, in den eine finstere Gewalt sie hohnlachend hinabstoßen wolle. Diesem allgemeinen Grauen und Entsetzen folgte ein Moment unbeschreiblicher Aufregung. Man dachte zwar nicht, was doch nahe gelegen und worin der rohe Sinn der Menge die sicherste Genugthuung für die ihr angethane Beleidigung [] ohne Zweifel gefunden hätte, an Zerstörung, Aufruhr, Brand und Mord, aber man fühlte das unabweisbare Bedürfniß, jetzt unmittelbar etwas Gemeinsames, etwas Wohlüberlegtes zu unternehmen.
Zuvörderst ward die Arbeit eingestellt. Vollbrecht selbst, der nicht weniger erschüttert und empört war, als die Arbeiter, ließ die Maschinen hemmen und befahl, den Dampf auszulassen. Als dies geschehen war, versammelte man sich im größten der Säle. Dieser faßte ungefähr die Zahl der anwesenden stimm- und berathungsfähigen Männer. Die Kinder und Frauen wurden heimzugehen bedeutet oder mußten sich ruhig verhalten. Sie zogen sammt und sonders das Letztere vor und blieben.
Diese über drei Stunden dauernde Arbeiterberathung hier zu schildern, kann nicht unsere Absicht sein. Sie würde den Gang der Begebenheiten nur unnöthig aufhalten und unsere Leser vielleicht langweilen. Auch würde sie ihres Zweckes in so fern verfehlen, als die während jener Versammlung gefaßten Beschlüsse an diesem Tage, wie auch später nicht sogleich zur Ausführung kamen, indem andere Ereignisse dazwischen [] traten und Allem eine andere Wendung gaben.
Tiefer in seinem Wesen als Martell konnte Niemand erschüttert sein. Dennoch wußte er sich zu mäßigen und erhielt, wie er wünschte, im Namen seiner Mitgenossen zum zweiten Male den Ehrenposten eines Sprechers.
In der zehnten Stunde endlich verließen sämmtliche Arbeiter die Fabrik, um von Adrian den Lohn in Empfang zu nehmen. Vollbrecht eilte ihnen der Abrede gemäß voraus, um die Ankommenden dem Herrn zu melden. Damit kein nutzloser, nur störender Zudrang entstehen möge, war beschlossen worden, daß bis auf die zehn Abgeordneten, die man erwählt hatte, Niemand an der Verhandlung mit Adrian Theil nehmen sollte. Es schieden sich daher die Nichtbetheiligten einstweilen in einzelne Gruppen, die müßig theils in der Nähe des Hauses, theils auf dem See hin und wieder gingen.
Martell war sehr bleich, als er an das Schiebefenster trat, aus welchem der Millionair an drei tausend seiner Sclaven mit zögernder Hand den kargen Zehrpfennig für wenige Tage mit verdrießlicher Miene und falschem Auge reichen [] wollte. Die scharfkantige, hohe Stirn, der feste Mund mit dem ironischen Schmerzenszuge, das düstere Auge und der starke schwarze Haarwuchs, dessen natürliches Gelock ihm finster und drohend in die Stirn hing, gaben Martell das Ansehen eines entschlossenen Richters, der im Begriff steht, ein unwiderrufliches Todesurtheil zu fällen.
Nach kurzem Zögern klang das Fenster und Adrian, in einem Morgenrocke von kostbarem Seidenstoff gekleidet, nahm Platz auf dem Lehnsessel, den ihm ein Bedienter an das Fenster schieben mußte. Auch Adrian war bleich und um seinen Mund spielte ebenfalls ein seltsames ironisches Lächeln. Sein kleines boshaftes Auge funkelte unter den stark hervorspringenden Stirnknochen wie das einer giftigen Schlange. Die Blicke Martells und Adrians berührten sich und Beide erbebten innerlich, Jeder vor dem Andern. Wer in diesem Augenblicke den beiden sich tödtlich hassenden Männern einen Spiegel hätte vorhalten können, würde wahrscheinlich ein noch größeres Wunder bewirkt haben, denn nie sahen sich zwei Menschen einander ähnlicher.
»Du bist pünktlich, Martell,« sagte Adrian [] mit erkünsteltem Lächeln, indem er sich von Vollbrecht eine Schwinge mit Silbergeld reichen ließ und diese vor sich hin stellte. »Das freut mich, denn ich liebe pünktliche Arbeiter.«
Martell schwieg, seine Brust hob sich in wildem Kampf. Er rang vergeblich nach der ihm so nöthigen Ruhe. Inzwischen suchte Adrian auf einer langen Tabelle den Namen Martells, um zu sehen, wie viel Lohn der Feinspinner zu fordern habe.
»Hier, Martell, nimm!« sagte er vornehm kalt. »Du verdienst es zwar nicht, daß ich so freundlich mit Dir verkehre, denn Du hast mich letzthin an den Feiertagen, wo ich Dein so väterlich gedachte, durch Deine harte und lieblose Antwort recht sehr beleidigt. Aber ich will Nachsicht haben und Dir Dein Unrecht nicht weiter nachtragen.«
Adrian hielt das Geld aus dem Fenster, doch Martell rührte keine Hand, um es in Empfang zu nehmen. Langsam erhob er seinen strafenden Blick zu dem Grafen, und indem ein schreckliches Lächeln seine todtenbleichen Züge überzitterte, versetzte er:
»Lassen Sie uns erst Ahrechnung halten [] mit einander, Herr am Stein, ehe Sie mich ablohnen. Sie wissen nicht, was ich zu fordern habe.«
»Das steht genau verzeichnet auf der Liste.«
»Mein Verdienst an der Maschine, ja, gnädiger Herr, was Sie mir aber außerdem noch schuldig sind, das weiß nur ich allein!«
Adrian warf einen sonderbar stechenden Blick auf den Spinner im zerrissenen Kittel, doch schwieg er.
»Zuvörderst,« fuhr Martell ruhig fort, »zuvörderst haben Sie mir das Entsetzen zu vergüten, das Ihr schreckliches Erfindungstalent nicht mir allein, sondern Ihren sämmtlichen Arbeitern bereitet hat.«
»Eine Liebe ist der andern werth,« sagte Adrian teuflisch lächelnd.
»Das meine ich auch,« entgegnete Martell. »Sie haben uns schon so viel ähnliche Liebe geschenkt, daß wir wirklich, ohne ungerecht zu sein, dies nicht mehr stillschweigend mit ansehen können. Darum werden Sie die Güte haben, nicht nur die in Ihrem Dienst verhungerten Kinder ehrlich und anständig auf Ihre Kosten [] begraben zu lassen, sondern uns auch eine Summe, die wir später näher bestimmen wollen, auszuzahlen, wenn Sie wünschen, daß diese Geschichte nicht mit zur Sprache kommen soll in dem Prozesse, der gegen Sie anhängig ist und der Ihnen vielleicht noch einige ruhelose Nächte verursacht! Ich fordere dies ganz ruhig von Ihnen, Herr am Stein, als Ihr Arbeiter; machen Sie aber Umstände, so werfe ich das Arbeiterkleid ab und trete als Verwandter vor Sie, und diese Verwandlung, denk' ich, wird Ihnen nicht ganz gleichgiltig sein; denn alsdann fordere ich noch besonders Abrechnung für mich!«
Bei dieser fast spöttisch gegebenen Antwort fühlte Adrian, wie sich sein Herz zusammenzog und erkaltete. Seine Abneigung, sein Haß und seine Furcht, die er immer gegen Martell empfunden hatte, fanden plötzlich die vollkommenste Erklärung. Er ward noch bleicher, seine Augen schienen den armen Spinner durchbohren zu wollen, und die Geldstücken in seiner zitternden Hand, die auf dem Rahmen des geöffneten Fensters ruhte, begannen zu klingen und entglitten eins nach dem andern.
Die Gruppen, welche sich unmittelbar vor [] dem Hause gebildet hatten, drängten jetzt herein, indem die Vordersten mit drohend ausgestreckten Armen schrien:
»So ist's, Herr am Stein! Er sagt die Wahrheit! Martell ist Ihr Vetter und könnte Graf sein, so gut wie Sie!«
»Das könnte er auch und das soll er!« rief lautschallend dazwischen die Stimme des Maulwurffängers, der in dem Augenblicke, als Martell dem Grafen mit der erwähnten Verwandlung drohte, die Insel erreicht hatte. Sich jetzt an das gaffende Volk der Arbeiter wendend, fuhr er fort, indem er Martells Hand erfaßte und ihn mitten in's volle Tageslicht führte, so daß von gleich hellem Sonnenschein der Kopf des Grafen und der des Spinners grell beleuchtet wurden:
»Seht her, Ihr Armen, Hungernden und Darbenden! Das ist Adrian, Graf von Boberstein, und hier steht Martell, Graf von Boberstein, sein älterer Bruder! Können zwei Brüder einander körperlich mehr gleichen?«
Die Aehnlichkeit war, wie wir bereits anduteten, auffallend an diesem Tage, wo alle Leidenschaften in Martell erregt waren, was bekanntlich [] die Familienähnlichkeit der Boberstein ungemein erhöhte. Das Volk zweifelte keinen Augenblick. Es stürzte in drängendem Knäuel auf den so unerwartet in den Grafenstand erhobenen Spinner und rief, daß es bis in die fernsten Gruppen auf den See wiederhallte:
»Martell ist des Grafen Bruder! Es lebe Graf Martell!«
Adrian ließ den Schieber sinken und stand auf. Man hörte, daß er röchelnd wiederholt »fort! Fort!« rief und schlürfend in seine Zimmer zurückkehrte.
Martell stand mehrere Minuten ohne Bewegung, nur an dem Zittern seiner Oberlippe und dem krampfhaften Zucken der Augenbrauen konnte man sehen, daß er lebte. Die Augen hielt er krampfhaft geschlossen. Als er sie wieder öffnete, fielen sie zuerst auf die stattliche Figur des greisen Wenden.
»Martell,« redete ihn dieser an, »Martell, Sohn meiner erschlagenen Schwiegertochter, Dein alter Großvater, der leibeigene Knecht Deines Vaters, reicht Dir die Hand zum Gruße. Komm an meine Brust, unglücklicher Sohn! [] Sie kennt den Schmerz und weiß ihn zu tragen mit Andern!«
Martell ließ dem Wenden seine kalte, zitternde Hand. Das jetzt wild aufflammende Auge suchte den Maulwurffänger.
»Ist es – wahr?« stammelte er und lehnte seine herkulische Gestalt auf die Schultern Sloboda's.
»Du bist Martell, Graf von Boberstein,« sagte dieser kurz und rund. »Taufschein und sonstiges Papier liegt schon lange auf dem Landesgericht, und geht der Teufel nicht ganz allein hier herum spazieren, so mußt Du binnen Jahr und Tag sein, was der Schalksknecht da drinnen jetzt ist. Straf' ihn Gott!«
»Rache! Rache! Rache!« flüsterte Martell und richtete sich in seiner ganzen wilden Größe auf.
Indem fiel abermals der Schieber am Fenster herab. Vollbrechts Gesicht grüßte die staunende Gruppe.
»Herr am Stein bietet Euch heut' doppelten Lohn,« sagte der Geschäftsführer. »Eine glückliche Chance, von der er so eben Kenntniß [] erlangt, hat diesen Umschwung des Geschäftes bewirkt.«
»Rache!« schrie Martell und schlug sich mit beiden Fäusten an seine mit Lumpen bedeckte Brust.
Ein Theil der lohnbegierigen Arbeiter war nahe daran, dem so plötzlich großmüthig geworden Grafen ein Lebehoch zuzuschreien, ein Wink Antons genügte jedoch, dies zu verhindern.
»Komm, fasse Dich, mein Sohn!« sagte Sloboda »Gott ist gerecht und mild; er wird Dich aus den Tagen der Angst und Noth in Jahre der Freude führen! Komm! Verkündigen wir die frohe Botschaft Deinem Weib und Deinen Kindern!«
Martell widerstrebte nicht, denn er war seiner selbst kaum mächtig. An Heinrich's und Sloboda's Arm verließ er das Haus des gräflichen Bruders.
»Rache! Rache! Rache!« waren die einzigen Worte, die er bald flüsternd, bald schreiend, bald laut auflachend, zahllose Male wiederholte.
[] Die Fabrikarbeiter aber drängten sich mit gierigen Blicken um das Glück spendende Fenster und gingen frohlockend von dannen, weil sie wider Erwarten und ohne lange Unterhandlung doppelten Lohn empfingen.
[]Achtes Buch
Erstes Kapitel.
Entdeckungen.
Im hohen Bogenfenster des Balconzimmers auf dem Zeiselhofe saßen Herta und Aurel einander einsam gegenüber. Das gedämpfte Licht einer Astrallampe mischte sich mit dem bleichen Silberglanz des Mondes, der draußen auf den dicht beschneiten Bäumen des Gartens flimmerte. Die zarten Hände Herta's ruhten leicht verschlungen auf ihrem Schooße. Ihre großen Augen waren unverwandt auf den Neffen gerichtet und drückten eben sowohl banges Staunen als freudige Ueberraschung aus. Thränen hingen an ihren Wimpern und fielen in großen Perlen langsam auf die gefalteten Hände.
»Vergeben Sie mir, theuerste Tante?« fragte Aurel mit bewegter Stimme, die Hände der [] Matrone ergreifend und sie rasch an seine Lippen führend. »Vergeben Sie mir den Schmerz, den ich Ihnen bereitet habe? Verzeihen Sie mir, daß ich Sie dem Frieden des Nichtwissens entriß, der Sie mit sanftem Fittich umfächelte und Ihnen ein stilles Glück gewährte?«
Herta bewegte die Lippen zu einer Antwort, allein sie vermochte nicht zu sprechen, so mächtig war sie erschüttert. Nur ein leiser Druck ihrer kalten Hände sagte dem Kapitän, daß ihm vergeben sei.
»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von ganzem Herzen, theure Tante!« rief Aurel heftig. »Sie sollen nunmehr auch erfahren, daß ich geschlagene Wunden zu heilen nicht säumig bin.«
»Es wird unmöglich sein, mein Freund!« erwiederte Herta bebend. »Ein so tief gesunkener Mensch läßt sich nicht mehr retten. Sein Wille ist gebrochen und mit dem gebrochenen Willen geht alle moralische Kraft, gehen Leib und Seele verloren! O das ist entsetzlich!«
Die arme greise Dame legte still schluchzend die Hände über ihre überströmenden Augen [] und überließ sich ganz ihren schmerzlichen Gefühlen.
»Ich wage noch zu hoffen,« versetzte Aurel. »Thun wir wenigstens ohne Säumen unsere Pflicht. Johannes muß vor Allem seinen demoralisirten Verhältnissen entrissen, seinem bisherigen Umgange entfremdet werden. Der Edelstein, den Gott jedem Menschen bei seiner Geburt in das Allerheiligste des Herzens legt, kann noch nicht gänzlich vom Schmutz der Lasterhaftigkeit zermalmt sein. Man muß den Beklagenswerthen auf diesen leuchtenden Schatz aufmerksam machen, muß ihn anhalten, daß er wieder danach grabe, ihn ans Licht hebe und an seinem magischen Gefunkel Herz und Seele erlabe! Man darf auch nicht unterlassen, auf seinen Ehrgeiz zu wirken! Ahnt er erst, daß er edlen Ursprungs ist, daß ihm noch eine verehrungswürdige, tief gebeugte Mutter lebt, die ihn mit bangem Zagen, mit schmerzlichem Sehnen erwartet, so wird er in sich gehen, den Schmutz mit Abscheu von sich werfen und als ein Wiedergeborener reuig zu den Füßen einer frommen Mutter, einer tugendhaften Tochter niedersinken!«
»Ihn wiedersehen!« rief Herta aus. »Meinen [] Johannes wiedersehen, der als braunlockiger, aufgeweckter, schöner und munterer Knabe vor meinen geistigen Augen steht, jetzt als verwilderten rohen Trunkenbold begrüßen müssen, dem selbst die Ehre seiner Tochter nicht zu heilig war, um sie seinen thierisch-brutalen Neigungen zu opfern? Ach, Aurel, ich fürchte, es wird mir nicht möglich sein, für ein so erniedrigtes Geschöpf noch Muttergefühle in meinem Herzen zu finden! – Ich werde sehr, sehr unglücklich sein!«
»Hören Sie mich an, theure Tante!« entgegnete Aurel, der mit überraschender Geistesgewandtheit einen Plan entworfen hatte. »Meine erprobte Freundin, die würdige Dame Oehler, bei der ihre gerettete Enkelin eine so traute Zufluchtsstätte fand, mag sich ins Mittel schlagen. Ihr theile ich mit, was uns das Zusammentreffen mannigfacher Zufälle entdeckt hat, und fordere sie auf, den Vater Elwirens zu retten. Sie ist befreundet und verwandt mit den einflußreichsten Männern Hamburgs, deren Einschreiten in dieser Angelegenheit nothwendig sein wird. Die unmittelbare Verwendung dieser Männer wird Klütken aus seiner Dumpfheit aufrütteln [] und ihn zur Erkenntniß bringen. Mir schien es, als sei er leicht zu rühren, als folge er mit ziemlicher Gelassenheit überlegener Kraft, gebietendem Worte und Blick. Die Reue über sein bisheriges unwürdiges Treiben und Leben muß ihn zu Boden werfen. Aus solcher Zerknirschung wird er als ein neuer Mensch wieder aufstehen und uns mit Thränen der Freude und des Dankes umarmen. – Ferner aber ist es nöthig, daß man sich seines Räubers und Verführers, jenes entsetzlichen Blutrüssels oder Lugauges, bemächtige, in dessen verderblichen Banden der Unglückliche zu schmachten scheint. Es ist Zeit, daß der Verbrecher endlich zur Verantwortung gezogen wird! Scheint dieser gräßliche Mensch doch der Letzte von Allen zu sein, welche Theil hatten an den verworrenen Begebenheiten, welche das Grab der Jugend, der Unschuld und des Glückes so vieler tugendhafter und braver Menschen wurden!«
Nach einem längern Zwiegespräch, worin es Aurel gelang, die zahlreichen Einwürfe und Bedenklichkeiten Herta's siegreich zu bekämpfen und der Zweifelnden größeres Vertrauen einzuflößen, trennten sich die beiden vortrefflichen Menschen [] mit dem Entschlusse, keinen Angenblick Zeit zu verlieren, um Klütken-Hannes – wie er bei uns nach wie vor heißen mag – dem Untergange zu entreißen. Herta bat mit kaum hörbarem Flüstern, daß Aurel ihr Elwiren senden möge. Es drängte die bekümmerte, von so widersprechenden Gefühlen und Eindrücken tief erschütterte Greisin, das Kind um sich zu sehen und an ihre Brust zu drücken, dessen Vater sie bebend für einen sittlich untergegangenen Menschen betrachten mußte. Auch sollte Elwire von ihrem Munde zuerst und allein das neue Geheimniß erfahren, das ihr jugendliches Dasein durch neue Freuden und Leiden verklären sollte.
Anfangs war Aurel gesonnen, den lebensfrohen Gilbert als Geschäftsträger nach Hamburg zu schicken, während er aber die erforderlichen Briefe an Madame Oehler und diesmal auch an deren Tochter schrieb, fiel es ihm ein, daß ein so kecker und rücksichtsloser Unterhändler nicht die geeignete Person zu glücklicher Lösung dieser mit großen Schwierigkeiten verknüpften Angelegenheit sei. Weit geeigneter schien ihm grade dazu der peinlich pünktliche und pedantische Dirigent des gemeinsamen Handelshauses am [] Stein und Compagnie, dem er im Uebrigen seiner allzustrengen Lebensansichten wegen nichts weniger als gewogen war. An diesen Mann schrieb er daher sehr ausführlich, sehr kühl und prosaisch, und trug ihm die ganze Sache, deren eigentlichen Kern er ihm jedoch nicht enthülste, blos als ein zu betreibendes Geschäft auf, wohl wissend, daß er es dann keinen treueren, zuverlässigeren und geschickteren Händen empfehlen könne.
Inzwischen war Elwire von Herta auf die nahe Verwandtschaft vorbereitet worden, die zwischen ihnen bestand. Diese Eröffnung machte das junge Mädchen erblassen. Sie begann krampfhaft zu zittern und es bedurfte der ganzen mütterlichen Zartheit und der sanften tröstenden Worte Herta's, um die Erschrockene nur einigermaßen wieder aufzurichten. Erst als ihre heftige Erregung sich in Thränen auflöste, ward sie wieder ruhiger und den Worten der Großmutter zugänglicher. An die Knie der Matrone geschmiegt und ihr in Thränen gebadetes zartes Gesicht in die seidenen Kleider der Vielgeprüften drückend, weinte sie leise und lange.
»Armes Kind,« sagte Herta, mit ihrer feinen [] Hand Elwiren die schönen weichen Haare, die in langen Locken bis in ihren Nacken herabfielen, streichelnd, »armes Kind, ich fühle mit Dir, was Dich bewegt, was Dich ergreift und erschüttert! Du weinst über Deinen Vater, wie ich über meinen Sohn!«
Elwire richtete sich auf und sah mit unbeschreiblicher Anmuth, die ein tiefer Zug des Schmerzes noch erhöhte, mit feuchten Augen die Großmutter an. »Man hätte es mir eher sagen sollen,« stammelte sie, am ganzen Körper erbebend. »Es ist hart, daß ich es erst jetzt erfahre, nun es mich unglücklich macht!«
Und heftiger, anhaltender, erschütternder, als voher, begann sie aufs Neue zu schluchzen.
Immer die glänzend braunen Haare der schönen wiedergefundenen Enkelin mit unverkennbarer Freude liebkosend, versetzte Herta:
»Es war uns ja selbst ein Geheimniß bis heut! Seit kaum einer Stunde verrieth es mir der gute Kapitän.«
»Er? Er?« rief Elwire lebhaft und stand auf, funkelnde Blicke durch den zitternden Thränenschleier auf Herta sendend. »Kapitän Aurel hat es Ihnen gesagt?«
[] »Wie kann Dir das wunderbar oder nur überraschend vorkommen?« erwiederte Herta. »Ein Zufall oder der Finger Gottes, die allwaltende Vorsehung ließ ihn Dich finden. Er wollte nur ein Werk der Humanität üben, nichts weiter. Er freute sich, ein leidendes hilfloses junges Mädchen den Mißhandlungen herzloser und tief in den Sumpf der Lasterhaftigkeit versunkener Menschen entreißen zu können. Ohne Absicht, ohne allen Plan handelte er fast nur instinktmäßig. Da erblickte er jenen Ring, von dem Du wissen wolltest, daß ihn Dein Vater einem wüsten Menschen im Spiele abgewonnen habe! Du erinnerst Dich, daß Aurel sogleich von diesem Funde bestürzt wurde, daß er Dir kein Geheimniß daraus machte. Er suchte den Mann auf, welcher diesen Ring früher besessen haben sollte. Was er in einer wüsten Nacht unter Menschen, die mehr der Hölle als der Erde anzugehören schienen, erfuhr, ließ ihn nicht länger zweifeln, daß ich noch am Leben sein müsse, die man allgemein für todt hielt oder todt wissen wollte! Aurel fand mich, zeigte mir den Ring und ich mußte ihn für Denjenigen erkennen, den mein verlorener Sohn vor seinem Verschwinden [] trug! Dein unglücklicher, tief gesunkener Vater – ich kann nicht länger daran zweifeln – ist mein verschollener Sohn Johannes, jener Schreckliche aber, mit dem Du ihn zuweilen verkehren sahst, der mit ihm spielte und trank, und Dich Deiner Schönheit wegen haßte, armes Kind, er ist der Mörder meines Vaters, der Räuber meines Sohnes! – Aurels Bemühungen, Nachfragen und Scharfsinn haben wir diese düstern und doch beglückenden Aufschlüsse zu danken und Gott sei Lob, Aurel ist der Mann dazu, durch seine Energie endlich ein finsteres Verhängniß von uns Allen abzuwenden! Schon jetzt handelt er, schnell, mit Umsicht und Kraft! Dein Vater, mein armer, elender Sohn, soll sich und uns wiedergegeben werden und der wackere Kapitän ist's, der dafür sorgt! Möge nur der Himmel seine Schritte segnen und unsre stillen Gebete erhören!«
Eine durchsichtige Röthe hatte während dieser letzten lobpreisenden Worte die Wangen Elwirens überzogen. Ihre Thränen hörten auf zu fließen, zärtlich, liebevoll, dankerglühend hingen die Augen der Enkelin an dem Munde der Großmutter, und als diese endigte, konnte sich [] Elwire nicht enthalten, sie zu umarmen und heiße Küsse auf ihre Lippen zu drücken. Stürmisch klopfte dabei ihr voller Busen und die glühenden Wangen, die sich immer höher rötheten, schmiegten sich fest und lange an die Stirn Herta's.
»Großmutter! Liebe, gute Großmutter!« flüsterte sie ihr zu. »Darf ich es denn glauben? Darf ich mich der Wonne hingeben, ein geliebtes Wesen an mich zu drücken, dem ich den süßen heiligen Namen Mutter geben darf? O ich verlor die Mutter fo früh! Ich kannte sie kaum anders als leidend! Und später war ich recht unglücklich! Immer einsam, immer im Wege, von Niemand mehr geliebt!«
Sie begann von Neuem heftig zu weinen und wollte sich weder durch Zureden noch durch die Liebkosungen Herta's beruhigen lassen.
»Du wirst desto inniger geliebt werden von jetzt an, mein Kind,« sagte Herta zutraulich. »Du bist keine Fremde mehr in diesem Hause, Du gehörst zu uns, Du hast Theil an unsern Leiden und Freuden, und der schwere Kampf, welchen Aurel mit seinen hartherzigen Brüdern begonnen hat, wird auch Dich erschüttern, entzücken, [] begeistern! Oder solltest Du nicht eben so lebhaft empfinden, wie ich, Deine alte Großmutter?«
Mit unbeschreiblichem Liebreiz sah Herta der über sie gebeugten schlanken Enkelin in die glänzenden Augen. In diesem tiefen, seligen Blick erkannten sich die Seelen Beider. Ein Wonneruf des Entzückens entglitt Elwirens Munde, dann brannte ihr Kuß auf den bleichen Lippen der theuern Großmutter und die wiederholt mit bebendem Munde und stürmisch klopfendem Herzen gethane Aeußerung: »Ja, Großmutter, ich bin glücklich, ich werde immer glücklich sein!« klang wie Sphärenmusik zu Herta's tiefbewegtem Herzen.
Lange hielten sich Großmutter und Enkelin umschlungen. Immer von Neuem suchten sich wieder ihre Augen, in deren feuchtem Glanz sie tausend Geheimnisse, tausend Einverständnisse lasen. Alles Elend, aller Druck, alle Schrecknisse der Vergangenheit waren vergessen in diesem höchsten Erdengenuß der Gegenwart. Sie bedurften keiner Worte, um sich zu verstehen, Blick, Händedruck, Kuß und Umarmung sagten tausend Mal mehr, als Worte! –
[] In diesem seligen Rausch des Entzückens störte sie die Rückkunft Aurels, der, ein paar gesiegelte Briefe in der Hand, unangemeldet ins Zimmer trat. Als er Elwire sah, grüßte er sie mit feurigem Blick, vor dem das junge Mädchen schüchtern die Augen niederschlug.
»Weiß sie es?« fragte er Herta. Diese hejahte mit leisem Kopfnicken.
Rasch trat nun Aurel auf Elwire zu und ergriff ihre Hand.
»Gestatten Sie mir, theure Cousine,« sagte er feurig, indem sein zärtlicher Blick das Auge des lieblich befangenen Mädchens suchte, »gestatten Sie mir, daß ich der Erste sein darf, der Sie als Verwandte willkommen heißt in diesem Hause! Als mich Gott zu Ihnen führte – und nur Gott, der Allsehende und Allgütige, hieß mich jene Wege gehen – damals glaubte ich blos ein armes verlassenes Mädchen der Schande und dem Verderben zu entreißen; daß ich meiner Verwandten diesen geringen Dienst der Menschlichkeit leisten würde, ahnte ich nicht! Elwire, finden Sie nicht auch eine Fügung Gottes in diesem Zusammentreffen?«
[] Langsam und nicht ohne Beben erhob das Mädchen ihre Blicke und ließ sie nur eine Secunde lang dem mildglänzenden, forschenden Auge des Kapitäns begegnen. Ein leiser Seufzer entrang sich ihrem Busen, aber sie schwieg und blickte rasch wieder zu Boden.
»Nun wenn Sie auch schweigen, schöne Cousine,« fuhr Aurel schon vertraulicher fort und drückte ihre Hand in der seinigen, »das glückliche Lächeln Ihres Auges, das frohe Beben Ihres Mundes und die stumme Sprache im verschlossenen Busen haben es mir doch verrathen, daß Sie meine Gefühle, meine Ueberzeugungen theilen. Dafür danke ich Ihnen, liebe Elwire! Und nun erlauben Sie, daß ich das Recht der Vetterschaft übe! Oder ziehen Sie es nach Mädchenart vor, nur im Traum einen jungen Mann zu küssen? Dann muß ich Sie von dieser eigennützigen Liebhaberei heilen!«
Und schnell und gewandt schlang Aurel seinen Arm um die Taille Elwirens und pflückte der zwar zart, aber im Grunde doch nur scheinbar Widerstrebenden ein paar frische Küsse von den rosigen Lippen.
Tief erröthend entwand sich das schöne [] Mädchen den Armen des Kapitäns und hüpfte leichten Schrittes der Thür zu, als habe sie sich der geschwisterlichen Vertraulichkeit, die sie widerstrebend dem Grafen gestattet, zu schämen. Bei dieser Flucht wäre es ihr beinahe noch übel gegangen. Es begegnete ihr nämlich Gilbert unter der Thür, der bekanntlich kein hübsches Mädchen ohne Lösegeld entschlüpfen ließ. Nur die Nähe Aurels und eine hohe Achtung vor Herta ließ ihn diesmal bescheiden zur Seite treten. Er begnügte sich, der schlanken Gestalt eine geraume Zeit nachzusehen, ehe er Herta's Zimmer betrat.
»Hast Du die Wache?« redete Aurel den Jüngling scharf an, denn der Kapitän liebte es mit seinem Pfleglinge im Commandoton zu sprechen, sobald er ihm zu ungelegener Zeit in den Weg trat.
»Nein Kapitän,« versetzte Gilbert, indem er so gleich kerzengrade stehen blieb.
»Weshalb störst Du dann meine gnädige Tante?«
»Weil ich Sie hier zu finden hoffte.«
»Warst Du auf meinem Arbeitszimmer?«
»Ja, Kapitän.«
[] »Was gibt es?«
»Ich suchte einen Narren.«
»Junge!«
»Verzeihen Sie, Kapitän! Ich habe mich etwas unklar ausgedrückt. Mein Narr ist der Maulwurffänger.«
»Der brave Mann!« sagte Herta. »Ging es nach Recht und Verdienst, so müßte die Brust dieses Mannes mit den höchsten Orden aller Fürsten geschmückt sein!«
»Er bedarf deren nicht, beste Tante! Der Orden, der ihn mehr ziert, als tausend goldne und silberne Sterne an purpurrothen Bändern, diesen trägt er in der Brust. Es ist sein edles, menschenfreundliches, von allem Arg freies und reines Herz! Was hast Du mit dem Manne? Du weißt doch von Paul, daß er seit heut Morgen einen seiner wichtigen Wege eingeschlagen hat, um zu hören, wie es dem Volk im Gebirge geht? Ich erwarte ihn erst spät in der Nacht zurück.«
»Um so lobenswerther ist es von mir, daß ich mich Ihnen aufdränge, Kapitän! Sie kennen mich als einen beherzten Burschen, Sie wissen aber auch, daß es mich juckt, ein mir anvertrautes [] versiegeltes Geheimniß je eher je lieber zu erforschen. Man sagt, meine zärtliche Mutter habe in hohem Grade an dieser eigenthümlichen krankhaften Wißbegierde gelitten und dieselbe mir vererbt.«
Lächelnd zog Gilbert bei diesen Worten einen Brief halb aus der Seitentasche seiner Matrosenjacke.
»Ein Brief für unsern alten Freund? Von wem?«
»Die Botenfrau vom nächsten Orte überreichte ihn mir, als ich in der Abenddämmerung unter dem Thorwege stand. Dabei erzählte sie mir unaufgefordert, daß der fromme Schlenker – ich bedaure sehr diesen frommen Mann nicht persönlich zu kennen – das Schreiben ihr eigenhändig mit der dringenden Bemerkung übergeben habe, es ja unverweilt an seine Adresse abzuliefern.« Diese Adresse lautet wunderlicher Weise: – »An den berühmten Maulwurffänger in B .... genannt Pink-Heinrich. Hochwohledelgeboren. Sonst auf dem Todten. In großer Eile!« – »Sie werden mir zugestehen, Herr Kapitän, daß solch eine pomphafte und mysteriöse Adresse wohl die Neugier eines wissensdurstigen [] jungen Mannes von Distinction zu einem gelinden Verstoß gegen die Regel verleiten kann!«
»Laß sehen,« sagte Aurel und betrachtete sehr aufmerksam die Schriftzüge.
»Es ist eine ungeübte Hand. Der Schreiber scheint bejahrt oder in großer Aufregung gewesen zu sein. Ich werde das Schreiben aufbewahren.«
»Sehr wohl, Herr Kapitän.«
»Was hast Du sonst noch auf dem Herzen?«
»Darf ich ganz frei sprechen?«
»Wie ich's immer von Dir verlangt habe.«
»Dann erlaube ich mir, Ihnen unumwunden das Geständniß abzulegen, daß ich mich unaussprechlich in dieser Unthätigkeit langweile! Ich bin durchaus kein Verächter des Nichtsthuns, wenn es mich zerstreut und vergnügt, allein in dieser Todtenstille, wo ich kein Abenteuer anknüpfen kann, wo die Mädchen alle so kalt oder grob sind, daß sie einem die schönste Artigkeit mit einer Ohrfeige bezahlen, und wo selbst die allerliebste Bianca, von der ich mir eine vortreffliche Unterhaltung versprach, matronenhaft [] ernst wird; hier werde ich entweder verrückt oder ich erschieße mich! Geben Sie mir 'was zu thun, Kapitän! Wo möglich 'was recht Tolles, Halsbrecherisches!«
Aurel lächelte über die trotzige Ungeduld seines Lieblings. »Gedulde Dich nur noch eine kurze Zeit, wackrer Ungestüm,« versetzte er, dem kräftigen Burschen auf die Schulter klopfend, »dann will ich Dir alle Hände voll zu thun geben.«
»Schicken Sie mich in's wildeste Wetter; jagen Sie mich wie ein Courierpferd durch dick und dünn, von Ort zu Ort, nur sperren Sie mich nicht länger in diese Zimmer und verlangen, daß ich fein sanft und gelassen sein soll wie ein duckmäusriger Seminarist von der altlutherischen Secte! Ich muß leben und handeln oder – ich mache die ärgsten Dummheiten!«
»Kannst Du Dich gar nicht mehr mäßigen, guter Junge, so gehe in den Garten und baue einen Rutschberg. Das unterhält und gibt späterhin Gelegenheit beim Rutschen Hals und Beine zu brechen, wenn man's recht toll und verkehrt anfängt.«
[] »Im Ernst?« fragte Gilbert und seine schwarzen Augen erglänzten lebhafter.
»Du hast meine Erlaubniß.«
»Danke, Kapitän! Sie sollen mit mir zufrieden sein, und Ihre verehrte Tante soll mir bezeugen, daß ich der geschickteste Mensch bin, der ihr noch je ein Compliment gemacht hat! Paul soll mir helfen. Gute Nacht, Gräfin! Gute Nacht, Kapitän!«
»Tollkopf! So warte doch, bis man Dir erlaubt, Dich zu heurlauben.«
»Zu Befehl, Herr Kapitän!«
»Ist Sloboda zurück aus dem Dorfe?«
»Er kauderwälschte seine Muttersprache schon vor einer halben Stunde mit dem Verwalter.«
In diesem Augenblicke hörte man das Zusammenschlagen von Stahl und Stein auf der Gartenseite, denn die Luft war ganz still und Herta hatte einen Fensterflügel geöffnet, um das unterhaltende Spiel der Sternschnuppen zu beobachten, die in großer Menge durch den glänzend gestirnten Himmel flogen.
»Da kommt Pink-Heinrich,« sagte sie, das Fenster wieder schließend. »Man erkennt ihn an seiner Gewohnheit, sich während des Gehens [] häufig Feuer anzuschlagen, heut noch eben so sicher, wie vor vierzig Jahren.«
»Eile ihm entgegen, Gilbert,« befahl Aurel, »und schicke ihn sogleich zu mir! Und damit Du für morgen eine Abwechselung hast, so trage diese Briefe nach Görlitz.«
Dankend nahm der abenteuerlustige Jüngling diesen Auftrag hin, empfahl sich nochmals und schickte den ihm an der großen Eingangsthüre zum Zeiselhofe begegnenden Maulwurffänger sogleich zu Aurel.
Heinrich empfing den wunderlich adressirten Brief mit gewohnter Gleichgiltigkeit. Er kannte weder Petschaft, noch Handschrift und konnte durchaus nicht errathen, woher er kommen, noch wer der Schreiber desselben sein könne. Daß er in seiner Heimath richtig abgegeben worden sei, ging aus der Nennung Schlenkers hervor, der in seiner gutmüthigen Gefälligkeit trotz Schnee und Kälte doch einen Weg von mehr als zwei Stunden zurückgelegt hatte, um das Eile heischende Schreiben sobald wie möglich in die Hände des Adressaten zu bringen.
Erst nach Durchlesung des Briefes sprang die Gleichgiltigkeit des Maulwurffängers in die [] lebhafteste Theilnahme über. Seine kleinen grauen Augen mit verschmitztem Blinzeln zu Aurel aufschlagend, sagte er:
»Herr Kapitän, ich wette so viel Thaler, als ich in meinem ruhelosen Leben Maulwürfe gefangen habe, daß dieser ungeleckte Brief eine Tonne Goldes werth ist! Halten Sie die Wette?«
»Ernsthaft, ernsthaft, alter Freund! Jetzt ist gar keine Zeit zu unnützen Scherzen!«
»Sie kennen den alten Pink-Heinrich noch lange nicht aus, gnädiger Herr! – Sonst ermahnten Sie ihn nicht zum Ernste, wo er es von Grund der Seele schon durch und durch ist!«
»Aber was steht denn in dem Briefe?« forschte der ungeduldige Aurel.
»Viel und nichts, wenn Sie wollen, Herr Kapitän! Es kommt Alles darauf an, ob Einer richtig lesen gelernt hat. Denn der Landmann ist just bei den wichtigsten Dingen am kürzesten. Und eigentlich geht mich der Brief auch gar nichts an, sondern Sie und Ihre Familie, oder, um auf ebener Straße zu bleiben, den alten Jan!«
[] »Ihr werdet mich noch ganz ärgerlich machen mit Euerm peinlichen Zögern.«
»Gut Ding will Weile haben, mein bester Herr Kapitän, und gut geschmierte Räder laufen am besten! Darum übereile ich mich nie und nirgend. Es ist das so Sitte bei uns Lausitzern von undenklichen Zeiten her. Aber wieder auf das Brieflein zu kommen, so schreibt der Haidekretschamwirth Jürge, daß es ihm ein grausam lieber Gefallen sein würde und eine särgliche särglich. Lausitzisch für: schrecklich. Ehre, wenn ich den Jan Sloboda mit seinem Enkel Paul zu ihm schicken könne! Der Friede, vielleicht die ewige Seligkeit seiner alten sterbenskranken Mutter hinge davon ab. Sie hätte dem alten Wenden eine Entdeckung von äußerster Wichtigkeit zu machen und seufze nach dem Augenblicke, wo Sloboda oder sein Enkelsohn an ihr Schmerzenslager treten und ihr die abgemagerte Hand zum letzten Lebewohl vergebend und vergessend drücken werde!«
»Was haltet Ihr davon? Glaubt Ihr, daß Sloboda der Aufforderung Folge zu leisten habe?«
[] »Solche Bitten eines schlichten Landmannes haben jederzeit Grund, Herr Kapitän! Und obschon ich nicht ahnen kann, was eine alte sterbende Mutter dem Wenden zu offenbaren hat, bleibe ich doch bei meinem Satze und bestehe, wenn Sie wollen, auf meiner Wette.«
»Ihr seid gewiß ein guter Freund des Haidekretschamwirthes?«
»Wird nicht gar arg sein, Herr Kapitän! Kennen mag ich ihn wohl, denn wen kennte ich nicht im Umkreise von zehn Meilen! Aber so recht besinnen kann ich mich zur Zeit noch nicht. Indeß wird sich das Gedächtniß schon wieder ermuntern, wenn ich ihn erst sehe, und ich rechne, das muß unverweilt geschehen. Begleiten Sie uns, Herr Kapitän?«
»Wenn Ihr glaubt, daß ich nicht störe, bin ich dabei.«
»Ein Wort ein Mann!« rief Heinrich, seine schwielige Rechte dem Grafen darhaltend. »Jetzt gehe ich zum Sloboda, und Morgen nach dem zweiten Hahnschrei sausen wir allesammt im Galopp durch die Haide!«
[] Aurel schlug ein, und am nächsten Tage verließen zwei sogenannte Rennschlitten den Zeiselhof. Der Kapitän und der Maulwurffänger saßen in dem ersten, den zweiten nahmen Sloboda und Paul ein.
[] Zweites Kapitel.
Ein Sterbebett.
Unsere Leser werden sich erinnern, daß Jan Sloboda und sein Enkelsohn bei ihrer Rückkehr aus Polen in einem einsam gelegenen Haidekretscham übernachteten und von dem Wirthe desselben die ersten Erkundigungen über den Maulwurffänger einzogen. Sie werden ferner noch der greisen blödsinnigen Spinnerin gedenken, die mehrmals das Gespräch der Männer durch Absingung von Volksliedern unterbrach, die keinerlei Zusammenhang unter einander hatten.
Diese hochbejahrte Frau, die Mutter des gegenwärtigen Kretschamhalters, war seit Wochen schon krank und bettlägrig. Wie es jedoch unter den Landleuten zu gehen pflegt, wenn nicht augenfällige Todesgefahr vorhanden ist, daß sich [] die Angehörigen wenig in ihren täglichen Geschäften dadurch stören lassen, so ging es auch hier. Man bebalf sich mit Hausmitteln oder bekümmerte sich auch zuweilen gar nicht um die Kranke. An übermäßige Pflege nicht gewöhnt, fühlte sich die alte Maja durch solche scheinbare Vernachlässigung keineswegs beleidigt. Sie vertrieb sich die langen endlosen Stunden mit Absingung ihrer Liederbruchstücke oder mit Hersagung von Volksmährchen, die sie sich unermüdlich selbst vorerzählte und sich dabei vortrefflich unterhielt. Da sie außerdem keine Schmerzen litt, sondern eigentlich blos in Folge langsam hinschwindender Körperkräfte nicht mehr aufdauern konnte, so war ihr Zustand weder für sie selbst, noch für die Hausgenossen störend.
Auf die wunderlichen Reden, auf das heimliche, nicht selten unheimliche Lachen und auf das heftige Gezänk, das sie mit Personen führte, die sie gegenwärtig glaubte, achtete Niemand, da man die Wunderlichkeiten der alten Mutter sattsam kannte und ihre Worte für eben so schuldlos als verworrenen Einbildungen entsprungen hielt, und so konnte denn Maja Tage und Nächte lang nach Herzenslust die tollsten Geschichten [] erzählen und die entsetzlichsten Schmäh-und Schimpfreden ausstoßen, ohne daß es Jemandem einfiel, sie mit Bitten zur Ruhe zu verweisen.
Jürge, Maja's Sohn, hatte die Mutter immer tiefsinnig, zu stiller Melancholie hinneigend, gekannt. Später nach seines Vaters Tode war sie geistesschwach, endlich vollkommen blödsinnig geworden, wenigstens nannte man sie so, da sie seitdem aus ihrer schauerlichen Schweigsamkeit erwachte und die erwähnten Lieder zu singen begann. Wir wissen, daß Jürge diesen betrübenden Zustand seiner Mutter dem Herzeleid zuschrieb, welches ihr eine unglückliche Tochter zugefügt hatte.
Landleute sind selten empfindsam, obwohl sie häufig mehr Herz besitzen, als die höchstgebildeten Bewohner der Städte. Fromm und strenggläubig wissen sie sich mit stiller Ergebenheit in alles Unabänderliche und Nothwendige zu fügen. Zu dem Unabwendbarsten aber rechnen sie den Tod bejahrter Personen. Wo dieser späte und ernste Gast an einem Hause anklopft, da empfängt man ihn eben so ernst und pflegt sich männlich zu fassen. Zuweilen kommt es wohl auch vor, daß man der Stunde des Abscheidens [] einer geliebten Person erwartungs-, ja sehnsuchtsvoll entgegen sieht und kein Hehl daraus macht, weil man sich in vollkommener Ruhe gestehen muß, daß der Tod eine Wohlthat für den Sterbenden wie für die Ueberlebenden sein würde.
In diesem Falle war Jürge. Maja's hohes Alter erlaubte nicht die Annahme, daß sie wieder genesen werde, und die Geistesnacht, in die versunken sie nur noch vegetirte, mußte eine baldige Auflösung wünschenswerth machen. Als ein umsichtiger, praktischer Hausvater von unverwüstlich derber, aber durchaus gutmüthiger Natur, sorgte er für Alles, was zu einer stattlichen Beerdigung nöthig war, im Voraus. Er bestellte nicht nur in Zeiten den Sarg, sondern er ging sogar so weit, zu den bereits vorräthigen zwei Schweinen, die in seinem Koben grunzten, noch ein fettes dickes, eine »Bachune« zu erhandeln, so genannt, weil sie von Viehhändlern aus dem Bakonyer Walde in Ungarn bis in diese Haidestrecken in kleinen Heerden herumgetrieben werden. Es wird Leute geben, die ein solches durchweg prosaisches Verfahren herzlos finden, diese werden aber ihr vorschnelles Urtheil zurücknehmen, [] wenn sie erwägen, daß dem Gebrauche, dem uralten Herkommen und der Sitte huldigen, dem biederben Landmanne ein eben so heiliges und unantastbares Gesetz ist, als dem gebildeten und ängstlichen Culturmenschen die strenge Beobachtung dessen, was er mit dem Namen Convenienz bezeichnet. Ueberdies wußte Jürge voraus, daß sich bei dem Leichenbegängniß seiner alten Mutter die Bevölkerung der halben Haide einfinden würde, und eine solche Anzahl Leidtragender war nicht leicht zufrieden zu stellen.
Man kann sich nun die Ueberraschung Jürge's denken, als er eines Morgens die greise Mutter aufrecht auf ihrem Lager sitzen fand und Worte von ihr vernahm, die klar und verständig lauteten und ihn anmutheten, als würden sie im Traume gesprochen! Maja's Geistesnacht war plötzlich gewichen, die volle Vernunft war ihr zurückgekehrt und sie kündigte dem Sohne ruhig an, daß sie ihr Ende nahen fühle und nicht mehr über vier Tage werde leben können. Jürge wollte ihr zureden und wagte es, ihre Behauptung zu bestreiten, die alte Mutter ward aber darüber aufgebracht, hieß ihn schweigen und befahl, daß er thun solle, was sie von [] ihm verlangen werde. Nach dieser wunderlichen Einleitung nannte die lebensmüde Greisin Namen, die Jürge nie von ihr vernommen hatte, und richtete Fragen an ihn, vor denen er erschrak. Sie wollte vor Allem wissen, ob Jan Sloboda noch am Leben sei oder Einer seiner vertrauten Freunde. Als Jürge dies bejahen mußte, trug sie ihm mit befehlshaberischem Tone und mit dem unheimlichen glänzenden Auge einer Sterbenden auf, daß er diesen Mann sogleich zu ihr rufen solle. Ehe dies nicht geschehe, ehe sie den alten Wenden nicht gesprochen habe, erklärte sie mit wahrhaft entsetzlichem Nachdruck nicht sterben zu können und zu wollen, da ihr Gott die große Gnade erwiesen und ihr den so lange Jahre umnachteten Verstand am Ende ihres sündigen Lebens wieder geschenkt habe. Sie wollte die Stimme des Weltenrichters laut in sich vernehmen, die sie aufrief zu einer Unterredung mit dem Wenden!
Anfangs glaubte Jürge in diesem wunderlichen Verlangen ein abermaliges Verlöschen der geistigen Kräfte zu erblicken, allein Maja sprach so zusammenhängend, so ruhig und besonnen auch von andern Dingen, daß diese Annahme an [] Wahrscheinlichkeit verlor, und gehorsam eilte er, ihrem Verlangen zu entsprechen. So schrieb denn der bestüzte Kretschamhalter jenen Brief an den Maulwurffänger, der unsere alten Freunde zu raschem Aufbruch in die abgelegene Haideschenke veranlaßte.
Drei Tage waren seitdem vergangen und die Kranke wurde sichtlich schwächer und unruhiger. Mit Einbruch der Nacht verwandelte sich ihr Gesicht und nahm jenen eigenthümlichen Ausdruck an, der ein sicheres Zeichen des nahenden Todes zu sein pflegt. Das unruhig flackernde Auge sank tief in die schwarzen Höhlen zurück und leuchtete wie ein Irrlicht auf finsterm Moor. Die Lippen verkürzten sich und entblösten die wenigen verbrochenen Zähne der Sterbenden. Matter und immer matter schlugen die Pulse, und in kurzen Pausen stellte sich ein lebhaftes, ja wildes Phantasiren ein.
Jürge und Lene, die rüstige Hausmagd, saßen wachend an dem Lager der Kranken, die in dunkle Gewänder gehüllt gleich einem Gespenst sich häufig krampfhaft aufrichtete, das Auge durch die kleine Kammer schweifen ließ, die Hände seltsam bewegte und wiederholt [] eine lauschende Stellung annahm, als horche sie auf ein fernes Geräusch. Entfesselt hingen ihr die langen weißen Haare um die fahlen Wangen, über die runzelvolle Stirn. So verging eine bange Stunde nach der andern. Mitternacht kam heran und noch immer vernahm man keinen andern Laut, als das monotone Rauschen der schneebelasteten Haide. Mit jedem Stundenschlag der alten schwarzwälder Uhr, die tickend an der braunen Holzwand hing, vermehrte sich die Unruhe der Alten. Sie wimmerte bald wie von körperlichem Schmerz gepeinigt, bald murmelte sie Gebete vor sich hin. Zuweilen fing sie auch wieder an, ihre melancholischen Liederweisen zu singen. Die Wachenden fürchteten sich vor der Greisin, aber sie wagten nicht, sie zu unterbrechen, noch beunruhigende Worte an sie zu richten.
So brach das fahle Dämmerlicht des Morgens an, das grau und kalt durch die Fensterladen schimmerte. Die Kienspäne brannten düster und krümmten ihre glimmenden Rispen niederwärts. Hoch auf lohte nur manchmal noch das Kienfeuer, dem Lene immer von Frischem neue Nahrung gab. Da klingelten endlich Schellen [] aus weiter, weiter Ferne! Peitschen klatschten, schnaubende Rosse jagten den Waldweg herein und kläffend schlugen die Hunde an.
»In einer Stunde drückst Du mir die Augen zu, mein Sohn,« sagte Maja, indem sie sich lebhaft aufrichtete und ihre kalte, zitternde Hand auf Jürge's Arm legte. »Geh, lasse die Freunden ein; denn sie sind es. Die Stimme hat aufgehört, in das Ohr meines Herzens zu schreien!«
Sie legte sich wieder zurück, strich sich die Haare aus dem Gesicht und faltete die abgemagerten Hände über die Brust. Ihr Blick war ruhig, sanft und matt geworden, die nervöse Spannung ihrer Gesichtsmuskeln wich einer demüthigen Ergebung.
Jürge ging bewegt und von eigenthümlicher Furcht geschüttelt den frühen Gästen entgegen, in denen er auch wirklich unsere Bekannten begrüßte. Ohne große Einleitung führte er sie alle gleich an das Lager seiner sterbenden Mutter.
Maja erkannte Sloboda auf den ersten Blick.
»Ihr seid der Vater Haideröschens,« sagte [] sie mit fester Stimme und streckte dem Wenden die Hand entgegen, während ein schmerzliches Lächeln über die bleichen Züge lief. »Setzt Euch zu mir – und auch Du, junger Bursche, der Du ihr so ähnlich siehst!«
Aurel und dem Maulwurffänger schien sie keine besondere Aufmerksamkeit schenken zu wollen, doch ließ sie es geschehen, daß auch sie zu Füßen ihres Sterbelagers Platz nehmen durften. Lene dagegen mußte das Zimmer verlassen und ihr Sohn darauf die Thür verriegeln.
Nachdem dies geschehen war, richtete Maja geraume Zeit ihre dunkeln Augen auf Sloboda, ohne das erwartungsvolle bange Schweigen der Anwesenden zu unterbrechen.
»Kennt Ihr mich denn, gute Mutter?« fragte Jan die Alte gerührt. »Ich kann mich Eures Gesichtes nicht entsinnen. Freilich, mit den Jahren wird das Gedächtniß schwach.«
Maja nickte düster mit dem Kopfe, ihre Züge wurden wieder finster, fast abschreckend und mit hohlem Brustton erwiederte sie:
»Wenn Ihr mich kenntet, Jan Sloboda, so würdet Ihr mich verfluchen! Ich habe Euch viel, viel Böses zugefügt!«
[] Sie begann zu röcheln und schloß auf einige Secunden die Augen.
»Ihr mögt Euch wohl irren, gute Mutter,« sagte begütigend der Wende. »Ein kranker Kopf spiegelt uns allerhand schlimme Dinge vor, die wie Nebel vor der Sonne schwinden, wenn die Gesundheit uns wiederkehrt.«
»Ich irre nicht, ich weiß, was ich spreche, und damit ich mit ruhigem Gewissen eine reuige Sünderin aus der Welt gehen kann, will ich mit Euch reden.«
Diese Worte sagte Maja eintönig, hohl, mit einer erschütternden Grabesstimme.
»Ihr hattet eine Tochter, Röschen?« begann sie nach einer Weile abermals. »Man nannte sie ihrer Lieblichkeit wegen Haideröschen. Sie ist todt, ich weiß es. Die Stimme, die mich so oft drohend rief, daß ich zusammenschauderte in mir selbst, hat es mir gesagt!«
»Möge der Friede Gottes auf ihrem Grabe weilen!« sagte Sloboda mit gen Himmel erhobenen thränenden Augen. »Sie schläft schon lange Monde in fremder Erde und ruht aus von den Qualen dieses Lebens.«
»O sie war immer fromm und gut, darum [] ging es ihr auch so schlecht! Aber ich war eine wilde, sinnliche Dirne, der Tanzboden war meine Kirche und lustige Lieder auf meiner losen Zunge spottete ich dem Himmel. Mir fehlte es an nichts, so lange ich nichts wissen mochte von Gott und seinen Geboten!«
»Versündigt Euch nicht, Mutter!« bat Jürge. »Der Tod sitzt Euch auf der Zunge und Ihr lästert!«
»Still, still mein Sohn! Ich muß beichten, wenn ich Gnade finden will vor dem Herrn. – Jan Sloboda, ich sprach Eure Tochter nach dem großen Haidebrande. – Als Ihr vorausgingt in das fremde Land mit Eurem Schwiegersohne, kam ich zu ihr, nannte mich ihre Freundin und wollte ihr beistehen in der schweren Stunde, der sie entgegensah.«
»Unglückliche!« rief Sloboda aus. Aurel und der Maulwurffänger beugten sich horchend über das Lager. Auf ihren bleichen Gesichtern spielten die Schatten des flackernden Heerdfeuers.
»Ha!« fuhr Maja auf und hielt die zitternden Hände schirmend über ihre Augen, die mit wahnsinnigem Ausdruck auf Aurels Antlitze ruhten. »Das ist sein Geist – der Geist des bösen [] Grafen – der mir Gold gab, so viel Gold als Tage im Jahre – der mich zu der Frevelthat verführte!«
»Sie hält mich für Magnus,« flüsterte Aurel dem Maulwurffänger zu. »So straft Gott die Sünden der Väter an ihren Kindern!«
»Geh! Geh! Ich komme schon – ich entfliehe Dir nicht!« fuhr Maja fort. Dann ergriff sie abermals die Hand des Wenden, sah ihn mit grausamen Lächeln an und sagte kalt: »Ich entband Haideröschen von einem Mädchen und raubte es ihr in der Stunde des bitteren Schmerzes. – Graf Magnus wollle es erziehen lassen – im Gemeindehause! Ha, ha, ha, war das nicht lustig von dem vornehmen Schalke?«
Die Kranke fiel jetzt in ein so krampfhaftes Gelächter, daß alle Umstehenden glaubten, ste würde daran ersticken. Aber sie erholte sich wieder und blickte ruhig um sich, als habe sie eine ganz alltägliche unschuldige Geschichte erzählt.
Sloboda klapperten die Zähne, er konnte nicht sprechen. Der Maulwurffänger, dessen scharfes Auge keine Secunde die Sterbende zu beobachten aufgehört hatte, ergriff anstatt des Wenden das Wort.
[] »In welches Gemeindehaus brachtet Ihr das Kind Haideröschens?« fragte Pink-Heinrich.
Maja nannte den Ort. Er gehörte noch zu den Besitzungen der Grafen Boberstein.
»Ward das Kind getauft, arme Mutter?«
»Es erhielt meinen Namen – die Zeugnisse liegen – dort in dem Kasten – unter – dem Ofen –«
Mit ungestümer Hast bemächtigte sich Paul des Kastens, dessen Deckel seinen Faustschlägen nicht lange widerstehen konnte. Er enthielt das Taufzeugniß von Haideröschens Tochter.
»Also doch eine Tochter!« sagte der Maulwurffänger. »Eine Tochter, wie die Sage ging unter dem Volke. Sie hat ein Mal?«
»Einen purpurnen Stern an der – linken Schläfe – von der Größe eines Hirsekorns!«
»Jan Sloboda, Deines Kindes Tochter ist gefunden!« rief der Maulwurffänger. »Sie lebt, in tiefem Weh, aber bald, bald soll sie jauchzen vor Freude, weil der Allmächtige Gericht zu halten beginnt über die Gottlosen!« –
»Und ich, ich soll meine Schwester finden!« lallte Paul schluchzend, während er [] das Taufzeugniß der Verstoßenen Aurel überreichte.
Maja schloß jetzt die Augen, ihr Athem ging langsamer, zuweilen röchelte und stöhnte sie und die Lippen bewegten sich wieder in leisem Gesange.
»Sie stirbt!« rief Jürge, dem salzige Thränen schon längst die Augen füllten. »Sie stirbt, ohne mir die Hand zu drücken, ohne mir Adje zu sagen! – Die gute, alte Mutter!«
»Horch, sie singt!« sagte der Maulwurffänger und bedeutete den Uebrigen, sich schweigend zu verhalten. Sloboda erhob wieder sein auf die Brust gesunkenes Haupt und wendete sich der Sterbenden zu. Diese hielt die Augen fortwährend geschlossen, bewegte wie im Tacte die mageren Hände und sang in langsamen melancholischen Weisen folgende Strophen:
»Helf Gott, altes Mütterlein!
Wo ist Euer Aennelein?
Didlomdajom didlomdai,
Wo ist Euer Aennelein?
Nicht zu Haus ist Aennelein,
Scharrten in das Grab sie ein.
Didlomdajom didlomdai,
Scharrten in das Grab sie ein.«
[] Nach diesem Verse riß die Sterbende nochmals die Augen weit auf und blickte sich wie erstaunt um. An dem Ausdruck ihres Gesichtes sah man, daß sie Niemand erkannte. Ihr Geist war wieder umnachtet, wie seit zehn Jahren.Sie lächelte blödsinnig, nickte Allen zu, schlug von Neuem den Tact auf der Decke ihres Lagers und sang abermals, nur matter und immer langsamer:
»Hanka sage, was das ist,
Daß Du mir gestorben bist?
Didlomdajom didlomdai,
Daß Du mir gestorben bist?
Was sollt' ich auf dieser Welt,
Wo mir Alles nachgestellt?
Didlomdajom didlomdai,
Wo mir Alles nachgestellt?
Immer dacht' ich dieses doch,
Würden uns bekommen noch,
Didlomdajom didlomdai,
Würden uns bekommen noch.
Jetzt nun weiß ich's ganz gewiß,
Nimmer kann geschehen dies,
Didlomdajom didlomdai,
Nimmer kann geschehen dies.«
[] Stärkeres Röcheln unterbrach den melancholischen Gesang. Die Hände fielen über einander und bewegten sich nur noch zuckend.
»Laßt uns beten!« sagte Sloboda und kniete nieder neben dem Bett der Greisin, die seiner Tochter um schnödes Gold und vielleicht aus Eitelkeit ihr Kind vorenthalten und in's Elend verwiesen hatte. »Laßt uns beten für das Heil ihrer armen Seele! So wie wir vergeben, wird auch uns vergeben werden!«
Alle folgten dem Beispiele des alten Wenden, der mit lauter Stimme aus vollem inbrünstigen Herzen ein Vaterunser betete, das die Uebrigen andächtig leise mitsprachen.
Während dieses Gebetes sang die Sterbende noch abgerissene Strophen ihrer Lieder, bald lustigen, bald traurigen Inhalts. Gegen den Schluß des Vaterunsers erhob sie noch einmal ihre Stimme, und die Betenden verstanden deutlich die Worte:
»Schlößlein dort schimmert im rothen Schein
Jedeweh!
Dort sind erzogen beide wir.
Tod ist der Vater, die Mutter mein,
Jedeweh!
Uns ist vergangen das Schmäuselein.«
[] »Amen!« sagten die Betenden und erhoben sich. Die Schwarzwälder Uhr hob auf acht Uhr aus. Maja's Hände waren kalt, aber sie holte in langen Pausen noch tief und röchelnd Athem und auf ihren Lippen schien immer noch Gesang zu schweben. Da schlug es acht, die Sterbende seufzte tief und laut:
»Ein Hemdelein nähe,
Jüdevoi!«
lispelte die Lippe und verstummte für immer. Mit dem letzten Schlage der Uhr war sie entschlafen.
Jürge, ihr Sohn, beugte sich über die Todte, drückte ihr die Augen zu und reichte dann den Umstehenden in stummem Schmerz die Hände. Sprechen und ihnen Dank sagen, daß sie der sündigen Mutter die letzte Stunde durch ihr Kommen erleichtert hatten, konnte er nicht.
Arm in Arm mit dem Maulwurffänger verließ Sloboda das Sterbezimmer. Ebenso folgten Aurel und Paul. Unter der Thüre drückte der Kapitän seinem jungen Freunde die Hand.
»Jetzt zu unsrer Schwester!« sprach er tief bewegt. »Möge der gütige Gott seine Hand [] schirmend über sie gehalten haben, daß wir uns ihres Wiederfindens freuen können!«
Schon nach einer Viertelstunde jagten die beiden Schlitten wieder der Haide entgegen auf einem Wege, der sich in der Richtung nach Boberstein im kristallbehangenen Dickicht verlor.
[] Drittes Kapitel.
Die Weberin.
An dem nämlichen Tage erhielt Graf Adalbert von seinem Bruder ein inhaltreiches Schreiben. Dieses Schreiben lautete wörtlich, wie folgt:
»Mein theurer Bruder.
Seit acht Tagen hat sich unsere Familie vermehrt. Wir sind nämlich jetzt der Brüder Boberstein vier und möglicherweise finden sich in Kurzem noch einige bisher unbekannte Geschwister zu uns, angelockt von dem reichen Erbe, das wir besitzen. Du wirst mich vollkommen verstehen, wenn ich Dir mittheile, daß in der That ein wilder Sprößling unsers hochseligen Herrn Vaters gerichtlich aufgefunden [] worden ist. Mem Sachwalter hehauptet, es fehle nicht ein Jota zur vollkommensten Beglaubigung der Aechtheit des neu entdeckten Boberstein, und zuckt bedenklich die Achseln, wenn ich ihn frage, wessen Wagschale steigen, wessen fallen werde? Ich gestehe, lieber Bruder, daß mich diese widerwärtige Angelegenheit, je länger sie sich hinzieht, desto gleichgiltiger macht. Der Besitzende bleibt doch immer im Recht, unser Grafenthum kann man uns nicht nehmen, wir sind außerdem legitim im Besitz der Güter unseres Vaters und wenn bei so bewandten Umständen überhaupt etwas für uns Nachtheiliges erzielt werden sollte, so kann es sich schließlich doch blos um eine Abfindungssumme handeln. Unter jetzigen prosperirenden Verhältnissen können wir uns gern dazu verstehen. Will außerdem die Gerechtigkeitsliebe des Staates noch ein Uebriges thun und unsern frisch ausgegrabenen Bruder in den Grafen- oder Freiherrnstand erheben, so können wir dabei ruhig zusehen. Es gibt eben eine neue Linie Boberstein, von der die ursprünglichen, von dem Glanze ihres erlauchten Namens durchdrungenen [] Erben des alten Geschlechtes schwerlich Notiz nehmen werden.
Aber nicht wahr, Du bist begierig zu hören, wer denn unser Bruder ist? Wo er lebt? Wie er sich im Leben nimmt? Was er treibt und besitzt? – Nun, das ist ein wahrhaft kostbarer Spaß, ein Spaß, wie ihn kein Hofnarr zur Zeit, wo diese göttlichen Witz- und Possenreisser an fürstlichen Hoflagern noch Sitte waren, besser hätte erfinden können! Du erinnerst Dich doch des Spectakels, von dem ich Dir bei Deinem letzten Besuche Einiges erzählte. Damals bezeichnete ich Dir den Fabrikarbeiter Martell als den gefährlichsten Menschen unter all' meinen Knechten. Und gerade dieser ungebildete, wüste, leidenschaftliche Bengel ist unser älterer Herr Bruder! Als ehrlicher Mann gestehe ich, daß mich diese Entdeckung unangenehm berührt hat, blos deshalb, weil ich jetzt selbst an die Aechtheit seiner Geburt glaube. Der Mensch steht unserm Herrn Papa zum Erschrecken ähnlich, wenn ihn die Leidenschaft erregt; und gerade diese Aehnlichkeit ärgert mich, denn sie compromittirt uns. Deshalb habe ich auch [] meine bereits früher gehegten und entworfenen Pläne der Ausführung behutsam näher geschoben. Besser ist es doch, unser Geschlecht allein zu repräsentiren, als immer und ewig von einem zottigen Hungerleider angebellt zu werden, dessen man sich eben so zu schämen, als ihn zu fürchten hat.
Mir scheint daher, der von Dir gebilligte Vorschlag sei jetzt mit Energie aufzunehmen und mit Schlauheit auszuführen. Deiner Zustimmung gewiß habe ich nicht angestanden, schon vor der anmuthigen Entdeckung des neuen Bruders Anstalten zu treffen und es ist mir gelungen, em überaus taugliches Individuum dazu aufzufinden. Noch heut oder morgen werde ich persönlich mit diesem Helfer in der Noth zusammenkommen und Alles mündlich abmachen. Vorsicht ist nöthig bei solchen Angelegenheiten und mir wenigstens soll die Welt nicht nachsagen können, daß ich bei allem Speculalionsgeiste doch den eigentlichen Kern und die Blüthe des Glückes – List und Verschlagenheit – nicht besessen hätte.
Mein Befinden ist wieder ganz erträglich. Die reine scharfe Winterluft hat mich wunderbar [] gekräftigt. Bis zum Frühjahr denk' ich gesunder als je zu sein und was dann etwa noch fehlt, wollen wir zusammen im Seebade von Ostende oder Dieppe nachholen.
Uebrigens kann ich Dir die tröstliche Versicherung geben, daß ich mein System consequent durchgeführt habe. Man kann viel erreichen, wenn man klug ist und die Neigungen und Leidenschaften derer zu benutzen weiß, die uns dienstbar geworden sind. So habe ich es mit meinen Arbeitern gemacht, die dabei gutmüthig in dem Wahne bleiben, ich sei auf dem besten Wege mich in Folge ihrer mir zu Ohren gekommenen Klagen für sie aufzuopfern! Freilich geben sich nicht Alle diesem kindlichen Glauben hin, aber doch bei weitem die Meisten. Und das Alles, weil ich ihnen kürzlich doppelten Lohn auszahlen ließ! Ist das nicht amusant? Beweist das nicht, daß derjenige menschlich genommen immer im Recht ist, der in Wahrheit vielleicht das größte Unrecht begeht? Haben es die Eroberer und Despoten alter und neuer Zeit etwa anders gemacht? Und lebt ihr Name nicht hochgepriesen in der Geschichte fort von Jahrhundert zu Jahrhundert? [] Du mußt nur siegen, um groß und unsterblich zu werden, siegen ohne Unterbrechung, und es ist vollkommen gleichgiltig, ob Du als ein Solon oder als ein Caligula die Welt in Erstaunen setzest!
Daß man Lust zu solchen Siegen erhält, ist sehr natürlich, wenn man längere Zeit unter so heruntergekommenem Volke lebt. Ich weiß in der That nicht, ob ich diese Menschen mehr beklagen oder verachten soll, denn wer sie so sieht, in Schmutz und geistige Dumpfheit gleich tief versunken, dem ist es zu verzeihen, wenn er sich urplötzlich auf dem ärgerlichen Gedanken ertappt, es möchten diese prädestinirten Unglücksphysiognomieen wohl nicht Geschöpfe seines Gleichen sein! – Ich kann nicht läugnen, daß ich mich selbst einigemale auf dieser aristokratischen Gedankensünde überrascht habe ganz wider Willen. Nehmen wir aber an, es bestünde wirklich ein geheimer Unterschied zwischen hoch und niedrig Geborenen, was, ich frage Dich, was könnte es dann nutzen, wenn wir uns fruchtlos abmühten, ein von Urfang an minder begabtes, geistiger Entwickelung unfähigeres Geschlecht zu uns [] heraufzuheben? Kannst Du Dichter, Künstler, Fürsten bilden? Nein, sie alle werden geboren! – Wenn dem aber so ist, woran kein Vernünftiger zweifeln kann, dann muß ich sehr bitten, mich mit allen philantropischen Ideen zur Heraufbildung der Menschheit auf gleiche Höhe der Anschauung und Entwickelung mit uns zufrieden zu lassen. Dann bleibe Staub, was Staub ist, und jegliche Creatur begnüge sich mit dem, was ihr Gott in seiner unergründlichen Weisheit zugetheilt hat!
Ich hoffe, wir verstehen uns und wandeln Hand in Hand unserm großen Ziele entgegen. Laß mich wissen, in wiefern Deine Bemühungen gleichen Erfolg gehabt haben! –
Noch eine Sorge hat sich in diesen Tagen zu den übrigen gesellt. Meme Haushälterin ist aus meinen Diensten gegangen. Das stört mich mehr, als die hundert und aber hundert Verwünschungen meiner ohnmächtigen Arbeiter. Ich muß fast verhungern, so schlecht wird Alles zubereitet! Solltest Du eine passende Person wissen – wohl zu merken: sie muß [] jung, hübsch und heiteren Temperamentes sein – so setze mich davon in Kenntniß.
Meiner liebenswürdigen Frau Schwägerin die ehrfurchtsvollsten Grüße!
Adrian.«
Auf diesen Brief, den Adalbert mit großer Seelenruhe las, ging Tages darauf folgendes Antwortschreiben an Adrian ab.
»Mein lieber Bruder.
Die Empfindungen, welche mir das Lesen Deines interessanten, liebevollen Briefes erregte, kann ich nur mit dem unbeschreiblich wohlthuenden Gefühle vergleichen, das unsern Körper nach genommenem Dampfbade durchrieselt. Ich befinde mich ganz à mon aise, äußerst behaglich, befriedigt in jeder Weise und nicht im mindesten aufgelegt, mich künstlich zu melancholisiren, wie dies jetzt in der aristokratischen Welt wohl einigermaßen Mode zu werden beginnt. Für dieses Wohlbefinden bin ich Dir dankbar ergeben, theurer Bruder, und drücke Dir par distance die Hand.
Deine Mittheilungen anlangend, so wüßte ich nicht, was ich darauf zu erwiedern hätte, es müßte denn das sublimste Lob sein. Da [] ich nun aber weiß, daß Du nicht diese plebeje Art von Ehrgeiz besitzest, die nach faustdickem Lobspruche giert, so halte ich an mich und werfe Dir nur einige bescheidene, fein lächelnde Winke zu. Du bist ein Kenner und weißt den haut goût geistigen Genusses zu schätzen.
Eins aber muß ich doch tadeln! Du hast vergessen, mir eine Beschreibung zu liefern von dem Grafen in der Zwillichhose und Kattunjacke! Wie konntest Du so meinen Geschmack verkennen und mich eines Genrebildes berauben, wie es wahrscheinlich vor Deinen Augen nicht zum zweiten Male auftaucht? Du kennst meine romantischen Liebhabereien, meinen Enthusiasmus für die Niederländer, mem Schwärmen für Künstler, die es sich angelegen sein lassen, mit sicherem Pinsel die Zerrissen- und Zerfahrenheiten des Lebens im eigentlichen Sinne des Worts auf die Leinwand zu zaubern!
Gestehe ich's immerhin, daß vielleicht grade dieser capriciöse Hang mich zu Deinem treuesten Bundesgenossen macht. Etwas und zwar nicht ganz wenig, trägt er bei, Deinem Systeme zu huldigen! – Es ist so schwer in unserer unkünstlerischen, nur auf grob Materielles [] gerichteten Zeit, gute Kunstwerke zu erhalten. An Künstlern, die sich so nennen, fehlt es freilich nicht, solche aber, die es wirklich sind, in deren Producten man Seele, sprossendes Leben, zündenden Geist findet, solche wollen mit hundert Laternen gesucht sein.
Da unterhält es mich denn ungemein und bildet mein Urtheil, wie meinen Kunstsinn zu einiger Meisterschaft aus, wenn ich künstlich ein Leben um mich her entstehen lasse, das mir, bisweilen allerdings etwas zu naturgetreu, jene Genrebilder aus den niedrigen und gemeinen Lebenskreisen unmittelbar vor's Auge führt. Um dasselbe besser aus der Ferne genießen zu können und mir einen wirklichen Kunstgenuß, also zugleich Bild und Leben, zu verschaffen, habe ich mir von meiner letzten Reise nach England einen vortrefflichen Dollond mitgebracht, der sehr weit trägt, die Gegengenstände außerordentlich rein und scharf und mit zauberischer Klarheit festhält. Mit diesem bewaffnet bringe ich Stundenlang an den Fenstern meines Schlosses zu und schwelge in den Genüssen, die er mir aus der dumpfen Gemeinheit des in Schmutz und Schande sich [] wälzenden Volkes zuträgt. Größeren Reiz im Genuß und dauerndere Befriedigung daran habe ich noch auf keiner Bildergallerie gehabt; meine Art, das Leben in der Kunst zu goutiren und auch vom Schmutz und Elend die unsichtbare Schicht feinsten Aroms, die sie umwebt, mit Behagen einzuschlürfen, ist die vorzüglichste und wird gewiß fashionable, wenn ich einmal in die Laune komme, die vertrauten Freunde zu verrathen!
Aus diesen Andeutungen kannst Du entnehmen, daß ich keineswegs müssig gewesen bin. Meine Macht wächst täglich, der Unterthan neigt sich gehorsam vor mir und ist sehr zufrieden, wenn ich ihm nicht das Ohr kneipe. Ich herrsche vollkommen unumschränkt über Bauern und Weber. Es gibt fast kein Haus mehr in den nächsten drei Dörfern, das mir nicht angehört, und ich halte sehr streng auf pünktliche Zinszahlung! Enfin ich bin sehr zufrieden! Uebrigens sind meine Leute friedlicher gesinnt, als Deine Fabrikarbeiter. Hier denkt Niemand an Empörung oder gar an Petition. Gott Lob, der Landmann und der bloße Lohnweber gehören noch der alten Zeit [] an, die sich mit Lesen nicht viel abgab! Vortrefflich arbeiten auch meine Pastoren uns in die Hände, und ich danke Gott wirklich, daß er mich so kostbare Wahlen hat treffen lassen. Es sind musterhaft gute, fromme, mir treu ergebene Herren, diese beiden Pastoren, aber Theologen vom Scheitel zur Zeh! Aber auch blos Theologen, sag' ich Dir! Sie halten mit eifersüchtigen Blicken auf Befolgung des geschriebenen Wortes. Was geschrieben steht, steht geschrieben! heißt ihr Gott, ihr Glaube, ihre Seligkeit!
Du kannst Dir vorstellen, was sich mit solchen gelehrten Büffeln anfangen läßt! Sie wollen nichts hören von Volksaufklärung, was ich nur billigen muß, und verleiden meinen Bauern und Webern alle Zeitungen und Bücher durch ihr fanatisches Eifern gegen die Presse. Ihnen ist Alles schlecht und verdammenswerth, was nicht in der Vulgata und etwa in einer geistlosen Postille steht. Kann ich etwas Besseres thun, als diese Ehrenmänner in ihrem Amtseifer unterstützen und bestärken? Während sie meine Unterthanen geistlich und selig machen, bringen sie ihnen den [] herrlichen Glauben bei, daß irdisches Glück und Wohlsein dem Himmel abwendig mache und Niemand zukomme, als den Auserwählten! Unter diese gehören natürlich die Herren und alle Obrigkeiten, und ich bin gar nicht böse, daß meine sehr untheologische Ueberzeugung trotzdem Allem mit dieser banalen Theologie vortrefflich harmonirt!
Gesteh' es, lieber Bruder, daß ich Glück habe! Was Andere in einem ganzen Leben voll Mühen nicht erreichen, das fällt mir von selbst in den Schooß. Es erfolgt, was ich wünsche, nur dadurch, daß ich es wünsche. Höchstens gehe ich meinen guten Seelsorger um ein passendes Kirchengebet oder eine eindringliche Predigt an. Und nun sage Einer noch, daß die Interpretation des Lebens wie der Bücher nicht die Hauptsache sei! Daß man nicht Alles in das liebe Leben hinein- und auch wieder aus ihm herauserklären kann, wenn es nöthig ist!
Viel Glück zu der beabsichtigten Unterredung! Führt sie zum Ziele, so geb' ich ihr [] meinen Segen! Nur sei jetzt doppelt vorsichtig! Wenn Du es doch so einrichten könntest, daß Martell einen Ort besuchte, in deren Nähe sich die Cholera gezeigt oder schon einige Opfer gefordert hat! Sollte sich das nicht thun lassen? Glück, Schicksal und Teufel pflegen alle drei auf ein Ausstrecken des kleinen Fingers zu warten. Darauf muß man achten!
Eine Haushälterin brauchst Du? Hm, es ist fatal, daß wir mit Aurel so übel stehen! Der gute lebenslustige Bruder hat ein paar hübsche Mädchen als Dienerinnen für Herta bei sich, die sehr gut erzogen sein sollen, wie ich in Erfahrung gebracht habe. Auf Umwegen ließe sich die eine oder andere doch vielleicht gewinnen! Ich werde mich erkundigen lassen und Dir später Antwort geben.
Meine Frau erwiedert Deine ehrfurchtsvollen Grüsse sehr angelegentlich.
Ganz
Dein Adalbert«
[] Der vornehme Herr übertrieb in seiner Schilderung durchaus nicht. Die Lage seiner Unterthanen war erbarmungswürdig, war es vorzugsweise durch Adalberts kalte und eiserne Consequenz. Wie immer, wo kluge Verderbtheit und kühler Verstand herrschen, der minder begabte gutmüthige Mensch sich gutwillig gängeln läßt, so verstand auch Adrian die Schwächen derer zu mißbrauchen, die zum Wohlthun ihr Leben anwenden sollten. Ohne daß die Kurzsichtigen es ahnten, trugen sie zur Vermehrung der Unwissenheit bei, welche in der Masse des Volkes herrschte, und leisteten willenlos und unabsichtlich dem Elende Vorschub, während sie des Paradies auf Erden auszubreiten glaubten.
Ein treues Bild der allgemeinen Noth, die bei Adalberts Unterthanen eingerissen war und an deren entsetzlichen Ausbrüchen sein Auge sich weidete, gewährte der Hausstand unsers alten Bekannten Leberecht. Der Mangel hatte ihn vor Weihnachten in die traurige Nothwendigkeit [] versetzt, sein Haus verkaufen zu müssen. Er bot es anfangs einer Menge Bekannten an, allein diese waren theils fast in derselben Lage, theils besaßen sie auch nicht so viel, um selbst einen billigen Kauf eingehen zu können. Und Leberecht brauchte Geld, Geld um jeden Preis!
So blieb ihm zuletzt nichts übrig, als sein Haus an Adalbert selbst für einen Spottpreis abzutreten, unter der Bedingung, es bis zu seinem Tode ungestört bewohnen zu dürfen und ein paar Aecker in Pacht zu erhalten.
Nun saß der arme bejahrte Mann, der sich sein ganzes Leben lang geplagt hatte, um sich ein paar Thaler auf seine alten Tage zusammen zu sparen, verlassen da, und mußte wieder anfangen, für kargen Lohn Tagarbeiterdienste zu thun! Mit Dreschflegel und Schüttegabel auf der Schulter ging er alle Morgen vor Sonnenaufgang eine volle halbe Stunde über Feld, oft [] in schauerlichem Stöberwetter, oder bei einem Kältegrade, der das Blut in den Adern gerinnen machte, um in zugiger Scheune mit leerem Magen bis in die sinkende Nacht hinein zu dreschen! Und für so schwere Arbeit ward noch dazu kein Pfennig Geld verabreicht! Die Arbeiter erhielten Korn, je nach dem Belieben des Herrn bald aller acht, bald auch aller vierzehn Tage! In dieses Korn, das für ein ausgegedroschenes Schock aus einem Viertelscheffel dresdner Maß bestand, hatten sich sämmtliche Drescher zu theilen. Kamen nun auf Leberecht einige Metzen, so mußte er sich diesen schwer verdienten Lohn nicht nur selbst den weiten Weg bei Nacht und Sturm nach Hause tragen, er hatte auch außerdem noch die Mühe, entweder das Getreide in Geld zu verwandeln, oder es mahlen zu lassen, um das tägliche Brod davon zu gewinnen. Hatte er nicht Zeit oder konnte er die Nächte nicht opfern, um in die Mühle zu wandern und es selbst aufzuschütten, so zog auch der Müller noch sein bescheiden oder unbescheiden Theil ab, und was zu guter Letzt übrigblieb, glich nur noch einem Almosen!
Maria und Eduard, ihr Sohn, führten [] kein beneidenswertheres Leben. Sie schafften von früh vier Uhr bis häufig nach Mitternacht hinter ihren Webstühlen und mußten in dieser Zeit mehr als sechzigtausendmal die Trittbreter niedertreten, um ihren täglichen Arbeitsziel zu fertigen! Aus Sparsamkeit brannten sie nur eine einzige Lampe, die zwischen beiden Stühlen in der Mitte hing und ihren trüben Lichtschein gar spärlich auf die graublauen Köper fallen ließ, die Mutter und Sohn webten. Nur langer Gewohnheit war es möglich, bei dieser unvollkommenen Beleuchtung jeden zerrissenen Faden im dunkeln Gewebe sogleich zu entdecken und wieder auszuknüpfen; die Augen der unermüdlich fleißigen Weber aber litten darunter. Sie fingen an zu brennen, entzündeten sich später, wozu am Tage noch der blendend weiße Schnee beitrug auf dem die Sonne funkelte, und wurden, namentlich bei Marieen, immer röther und trüber. Schon zu Weihnachten vermochte sie kaum noch das Gewebe zu erkennen, sie mußte sich ganz auf ihr Gefühl verlassen. Schlichten konnte sie gar nicht mehr, weil sie dabei den etwa reissenden Faden nicht bemerkt und beim Fortarbeiten das ganze Gewebe verdorben haben würde.
[] Leberecht und Eduard redeten der armen Frau wiederholt zu, sie solle sich eine Zeit lang schonen, sich ausruhen und pfegen und einen Arzt befragen, Marie aber achtete nicht auf ihre Bitten. Sie kannte den Mangel, die Noth am besten und sah wohl voraus, daß zwei feiernde Hände diese zu einem Grade vermehren würden, aus dem Rettung nicht mehr denkbar sei. Darum arbeitete sie unverdrossen Tag und Nacht fort, ohne zu murren, noch zu klagen! Ein frisches Krautblatt, das sie unter ihr Kopftuch band, so daß es kühlend über das Auge berabhing, war die einzige einfache Medicin, der sie sich bediente.
Oft beschlich die beiden rastlosen Weber der Schlaf. Konnten sie sich gar nicht mehr retten, so gestattete sich Mutter und Sohn abwechselnd einen kurzen viertelstündlichen Schlummer, damit sie der Mattigkeit nicht zu lange oder wohl gar die ganze Nacht erlagen. Traf nun Eduard die Reihe des Wachens, so strengte er alle seine Kräfte an, um durch schnelleres Arbeiten wo möglich den Verulst an Zeit wieder einigermaßen auszugleichen. Oder er stand wohl auch auf, wenn er die Mutter fest schlafend [] wußte, schlich sich an ihren Webstuhl, hinter dem die sehr gealterte, abgemagerte Frau nickend saß, die Arme frostig über die Brust verschlungen, und träufelte behutsam ein wohlthuendes Augenwasser auf ihre Lider, das er sich zu verschaffen gewußt und von dem er sich viel versprach, da es nicht allein ihm selbst gute Dienste geleistet, sondern auch Marieen einige Linderung brachte, seit er es ihr heimlich im Schlafe auf die entzündeten Lider goß.
Schade, daß Adalberts Dollond nicht bis in diese Hütte darbender und arbeitender Armuth dringen konnte! Vielleicht hätte eine einzige Nacht, inmitten dieses zärtlichen Sohnes und dieser schlummernden Mutter verlebt, ihm sein Vergnügen an jenen Genrebildern vergällt, die er über Alles liebte! Aber Adalbert sah nur die Noth vom Licht der Sonne vergoldet, und diese verliert an Schauerlichkeit, an erschütternder Kraft gegen jene bleichen kalten Nachtgemälde gehalten, die im Silberrahmen des Mondlichtes geisterhaft glänzen! –
Der starke Schneefall und die häufigen anhaltenden Stürme, welche gegen Ende November, namentlich im Gebirge, sich einstellten, erschwerten [] die Communication zwischen entfernt liegengenden Ortschaften so sehr, daß Wochen vergingen, bevor aus weiterer Ferne Nachrichten einliefen. Unsere Freunde auf dem Zeiselhofe unterrichteten Leberecht und seine Familie von dem, was ihnen in Bezug auf die Bobersteinische Angelegenheit zu wissen nöthig war, durch die wöchentlichen Boten, die zwischen den einzelnen Dörfern hin und wieder gehen. Dadurch blieben die Abgeschiedenen ziemlich im Zusammenhange. Nur während des ganzen Decembers und auch in der ersten Hälfte des Januars trat eine Unterbrechung ein, so daß Leberecht seit mehr als fünf Wochen nichts mehr von Sloboda und dem Maulwurffänger gehört hatte. Die eigene Noth im Hause, die schwere und gefahrdrohende Augenkrankheit Marieens ließ den sorgenvollen Mann auch wirklich eine Zeit lang den schwebenden Prozeß vergessen oder doch mehr und mehr im Hintergrund seiner Erinnerung verschwinden.
Da kam Leberecht eines Abends – es war am Tage vor Pauli Bekehrung – in großer Aufregung nach Hause. In der Hast des Eintretens hätte er beinahe Marie umgerannt, [] deren Augen so schlimm geworden waren, daß sie kein Licht mehr vertragen konnte, ohne vor Schmerz laut aufzuschreien, und die nun mit festverbundenem Kopf tappend in der kleinen engen Stube umherschlich.
»Weißt Du's, Maria, und Du, Eduard, was in der Haide passirt ist?«
Eduard hielt die Lade an und legte das kreuzförmige Schnellholz, woran das Weberschiffchen mittelst Bindfaden befestigt ist, auf die Werfte.
»Ich bin nicht hinter'm Stuhle vorgekommen, Vater, und an's Fenster hat auch kein Nachbar gepocht – woher soll' ich 'was Neues erfahren haben?«
»Was gibt's denn?« fragte Marie, auf der Ofenbank Platz nehmend und den schmerzenden Kopf in beide Hände nehmend.
»Paul Sloboda hat seine Schwester gefunden!« sagte Leberecht. »Die ganze Haide ist lebendig geworden von dem Aufruf, denn es hat in den Blättern gestanden! Die Advocaten, heißt's, sollen vor dem blauäugigen Jungen die Mützen ziehen bis an die Erde, denn es ist ausgemacht, daß er nun Graf wird und die Schwester [] Gräfin, und daß sie allesammt, der alte Jan nicht ausgenommen, in prächtigen Palästen wohnen werden.«
»Wenn's nur Grund hat, Vater!« warf Eduard ein. »Der Lügenkrämer laufen heut' zu Tage gar zu viele herum, und nachher hat's wieder Menschen, die sich eine Lust draus machen, ehrliche Leute anzuführen.«
»Warum wird's nicht!« erwiederte etwas ärgerlich Leberecht. »Der erste Bote hat die Nachricht von Pink-Heinrich selber, und der weiß, was er red't, sonst macht er lieber die Zähne nicht auseinander. Wir aber, Marie, Eduard, wir wollen Gott danken, daß es dahin gekommen ist, denn nun gehen wir gewiß und wahrhaftig besseren Zeiten entgegen!«
»Wer's erlebt!« seufzte Marie, den schmerzenden Kopf immer in leise schwingender Bewegung haltend.
»Nur nicht verzagt!« ermahnte Leberecht die Kranke. »Es ist mit der Noth wie mit Zahnschmerzen. Auf einmal, wenn's recht entsetzlich gezogen und gestochen hat, hört's von selber auf und man fühlt sich wie neu belebt. So wird's uns gehen, gebt acht! Das Elend hat sein [] Thun aus, wie wir sagen, und kein Unglück kann uns mehr 'was anhaben. Schon die bloße Nachricht hat mich neu gestärkt und frisch belebt, und da Morgen Pauli Bekehrung ist und unser katholischer Herr da nicht dreschen läßt, will ich mich flugs aufmachen und ein paar Stunden weit laufen, um genauere Kundschaft einzuziehen.«
»O Jesus Christus!« wimmerte Marie.
»Was hast Du, Mutter?« fragte Leberecht und setzte sich neben sie, behutsam seinen Arm um die vor Schmerz Zitternde legend.
»Mir ist's, als sollten mir die Augen aus dem Kopfe springen! Nimm mir das Tuch ab – es brennt mich wie glühende Kohlen.«
Leberecht entfernte die Binde und nahm die brennend heißen Leinwandflecken von den entzündeten Augen. Marie preßte die Lider fest zusammen, erst nach einiger Zeit versuchte sie aufzublicken.
»Noch im Finstern?« sagte sie verwundert. »Ich dächte doch, Eduard hätte gewirkt und sich zuvor Feuer angeschlagen.«
»Die Lampe brennt, Mutter!«
»Wo denn?«
[] »Mein Gott, keine drei Schritte von Dir! Das Tuch hat Dich gedrückt.«
»Blinzle ein paar Mal,« sagte Leberecht, »das wird helfen.«
Marie drückte die schmerzenden Augen wieder fest zu und blickte dann mit weit aufgerissenen Lidern um sich.
»Nicht wahr, nun ist's besser, armeTaube?«
»Es ist noch immer finster.«
»Die Lampe, Eduard! Geschwind die Lampe!«
Der erschrockene Sohn sprang mit dem helllohenden Docht heran. Leberecht riß sie ihm aus der Hand und hielt sie dicht vor Marien's Augen. Sie waren ganz trocken und ein dicker grauer Schleier überzog die Pupillen.
»Siehst Du jetzt?«
»Nacht, nichts als Nacht!«
»Barmherziger Gott!« schrie Leberecht und ließ die Lampe fallen, daß der brennende Docht einige Garnflocken erfaßte, die Funken glimmend über die Stube his unter die Webstühle liefen und in wenigen Augenblicken die Werften in helle Flammen setzten.
»Also blind!« jammerte Marie. »Blind [] geworden von der nächtlichen Arbeit, bei der wir doch fast verhungert sind.«
»Feuer! Die Stühle brennen!« schrie Eduard, der die aufschlagenden Flammen zuerst gewahrte. In der Angst stürzte er sich mit Ungestüm auf die Gewebe, schlug mit beiden Händen in die Flammen, um sie zu dämpfen, verschaffte ihnen aber dadurch nur noch mehr Nahrung. Er fühlte nicht, daß er sich furchtbar verbrannte, daß ihm die Haare auf dem Kopfe abfengten und die leckende Flamme schon durch die Fensterritze an den Wänden hinaufschlug.
»Es ist keine Rettung,« sprach Leberecht in verzweifelter Ruhe. »Laß brennen, was mag! Komm, hilf uns die blinde Mutter retten!«
Eduard vermochte aber vor Schmerz keine Hand mehr zu rühren. Er stieß nur die Thür auf, um den Vater mit der theuern Last hinaus zu lassen. Dann stürzte er nach in's Freie und warf sich heulend in den kalten flimmernden Schnee.
Die Glocken stürmten, die Nachbarn eilten zum Löschen herbei, aber Niemand, Niemand geedachte im Moment der Bestürzung der Unglücklichen! Auf der Schwelle des Nachbarhauses [] saß Leberecht und starrte in die Flammen seines gewesenen Hauses. Auf seinem Schooße hielt er die erblindete Marie, die mit den entzündeten trüben Sternen in die kalte Nacht lautlos hineinstierte. Zu ihren Füßen krümmte sich Eduard in wildem Schmerz, die verbrannten Hände in seinen Thränen badend.
[] Viertes Kapitel.
Das Complott.
Zwölf Tage vor diesem traurigen Ereignisse, das wir des Zusammenhangs wegen schon jetzt unsern Lesern mitzutheilen für schicklich hielten, und einen Tag später, als Adrian an seinen Bruder Adalbert schrieb, flog ein einzelner Schlitten durch die öde, erstarrte Haide. Der Lenker, ein stattlicher Mann mit blassem Gesicht und dünnem braunen Haar, trug starke Fuchshandschuhe und war in einen kostbaren mit feinem Zobel verbrämten Bärenpelz gehüllt. Hinter ihm auf der Pritsche, die Füße in Pelzstiefeln steckend und ebenfalls hinlänglich gegen die Kälte verwahrt, saß der Kutscher oder Bediente oder was der Mann sonst etwa noch vorstellen mochte.
[] Der einsame Schlitten glitt bisweilen über kleine Lichtungen, auf welchen Stangen mit Tafeln standen, an denen man das Wort »Schonung« las. Diese Tafeln waren numerirt.
»Darauf gib Acht, Jean!« sagte der Mann im Schlitten, auf die Stange mit der Tafel zeigend. »Schreib Dir die Nummer auf, damit Du Dich später nicht verirrst!«
Jean nickte mit dem Kopfe, zog ein Taschenbuch hervor und notirte sich die Nummerzahl des Pfahles mit der Tafel.
»Wenn Du Dich genau nach diesen Nummern richtest, kannst Du nie fehlen, welche Kreuz- und Querwege Du auch wider Willen einschlagen magst.«
Ein abermaliges Kopfnicken gab dem Leiter des Schlittens die Zustimmung seines Dieners zu erkennen, und in raschem Galopp jagte das feurige polnische Gespann, dessen brillantes Geschirr mit purpurnen Troddeln und Fransen reich aufgeschmückt und mit silbernen melodisch gestimmten Schellen behangen war, in die windige Haide hinein.
Der geneigte Leser hat in diesen einsamen Reisenden bereits den Grafen Adrian mit seinem [] stummen Kammerdiener erkannt. Aber was sucht der kaum genesene reiche Mann in dieser frostigen Wildniß, die kaum im Sommer von wandernden Köhlerbuben betreten wird? Was sollen die Winke bedeuten, die er seinem stummen Vertrauten kalt und ernst gibt? Um auf diese Fragen Antwort geben zu können, verlassen wir den im rauschenden Tannicht verschwindenden Schlitten und wenden uns einer schon früher betretenen Gegend jetzt wieder zu.
In hohen Schneewehen mehr als zur Hälfte begraben, ragen vier schwarze rissige starke Mauern mit zerborstenen Fenstern hinter breitem Erdwall in die Luft. Die schräg liegenden Balken eines niedrigen Wetterdaches geben dem wüsten Gemäuer einigermaßen ein gastliches Ansehen und eine Breterhütte auf der Südseite, von ziemlich hoher Planke umgeben und mit über einander geschichteten Aesten und jungen Stämmen, wie die Windbrüche des Herbstes sie niederwerfen in dichten Wäldern, geschützt, zeigen an, daß dieser entlegene Ort trotz seiner schauerlichen Einsamkeit doch bewohnt ist. Ein breiter und tiefer Fluß, jetzt mit dickem Eis und Schnee bedeckt, krümmt sich in weitem Halbkreis um [] Hütte und Mauertrümmer. Auf dem hohen Uferrande desselben am Anfang der Waldwiese, die sich gegen Norden ausbreitete, sieht man abermals eine der erwähnten Stangen mit beschriebener Tafel.
Wir befinden uns in der Nähe des »Raubhauses,« jener verfallenen alten Burg, welche ehedem dem »Fürsten der Haide,« Herta's Vater, zum Schlupfwinkel diente. Die größere Cultur der Forste und die vermehrten Kohlenbrennereien und Theerhütten, die neuerdings unter Adrians Herrschaft entstanden waren, hatten auch diesen versteckten und geflohenen Winkel der Haide bekannter und besuchter gemacht, und im Schutz der Mauertrümmer ein Schenkhaus für Köhler, Kien-, Span- und Rußhändler entstehen lassen, dessen genügsamer Wirth sich leidlich nährte. Seit Jahresfrist gehörte Raubhaus und damit verbundene Köhlerkneipe zu den Besitzungen Adrians.
Der Wirth dieser traurigen Waldschenke hatte in den früheren Jahren als Reitknecht in Adrians Diensten gestanden, durch einen unglücklichen Sturz mit dem Pferde aber beide Hände gebrochen und war dadurch unbrauchbar zu jedem [] Geschäft geworden. Der Graf ließ ihn heilen, gab ihm ein geringes Jahrgeld und setzte ihn als Schenkhalter endlich in diese Haidekneipe. Für diese gräfliche Huld war der nunmehr Versorgte seinem großmüthigen Gebieter sehr dankbar. Adrian konnte ihm blindlings vertrauen und Jussuff – so hatte ihn der Graf seines gewaltigen Bartes wegen, den er nach türkischem Schnitt zu tragen pflegte, getauft – Jussuff freute sich, dem gnädigen Herrn gefällig sein zu können.
Vor drei Tagen hatte Jussuff in einem mehrere Stunden entfernt gelegenen Kretscham, wie Adrian ihm brieflich gemeldet, einen fremden Mann gefunden, dessen Signalement ihn nicht täuschen konnte. Nur sein widerlicher Begleiter machte ihn anfangs stutzig; da ihn jedoch der Fremde für seinen alten treuen Knecht ausgab, ließ er ihn unbedenklich den mitgebrachten Bauerschlitten besteigen und brachte beide nichts weniger als freundlich aussehende Männer in seine abgelegene betretene Behausung. Als dies geschehen war, that er Adrian vorschriftsmäßig Meldung und ließ es den Fremden an nichts fehlen.
»Nun, was hab' ich gesagt, alte Hyäne!« [] rief Klütken-Hannes seinem scheußlichen Gefährten zu, als Jussuff auf sein Geheiß vier Kannen glühenden mit Zucker und Gewürz stark vermischten Branntwein den Unersättlichen ohne Widerrede in ihre wohl verwahrte Bretterkammer trug. »Heißt das nicht leben, wie im Feenmährchen? Immer Tischlein deck Dich, Krüglein füll' Dich und nichts zu thun! Das ist prächtig! Aber weißt Du was, Blutrüssel, ich glaube doch, es ist der Teufel, der uns so kannibalisch füttert! Wie?«
»Er wird Dich mästen wollen zum sechstausendsten Geburtstage seiner Großmutter, um Dich ihr als sündengespicktes Spanferkel zum Frühstück vorzusetzen,« grinste der ehemalige Räuber. »Aber was thut das! Friß nur immer zu und sauf', so lange der Magen vor Brandlöchern nicht in Stücke zerfällt. Der Teufel soll leben!«
»Und wer's mit ihm hält hier und dort!«
Beide thaten einen tüchtigen Zug aus den dampfenden Krügen und schnalzten vor Wohlbehagen mit den Zungen.
»Bin doch neugierig, wie lange das Satansfest dauern wird,« sagte Klütken-Hannes. [] »Verflucht wär's, wo wir hier in dieser Bude, in Schnee und Eis vergraben, sitzen bleiben müßten und Niemand als unser lahmer Wirth sich um uns kümmerte.«
»Du hast ja noch Geld.«
»Noch dreihundert Mark.«
»Dann scher' ich mich um Niemand. Ich bin hier bekannt, Hannes, denn ich sitze hier auf meiner hohen Schule, und läßt man uns im Stiche, so krieche ich in die alten Gewölbe hier unter uns, suche eine alte Laterne und ein paar Dolche zusammen und schlage mich mit Dir durch Dick und Dünn bis an einen Ort, wo's uns gefällt.«
»Morgen früh hat mir Jussuff vornehmen Besuch angekündigt,« sagte Klütken-Hannes etwas nachdenklich. »Was würdest Du thun, wenn's nun wirklich so ein Stück vom Teufel wäre?«
»Fluchen und lästern.«
»Warum?«
»Das machte ihn guter Laune, denn 's ist ja sein Geschäft.«
»Schade, daß es kein Mädel hier gibt!«
»Ha Dein Töchterchen!« rief Blutrüssel [] zähnefletschend. »Ich sage Dir, Hundesohn, es war dumm von Dir, das blanke Ding mit dem jungen Laffen fortziehen zu lassen! Das wäre hier eine Taube für ein Teufelsgericht. Wir selbst rupften ihr die Federn aus, was?«
»Mir Alles gleich!« hohnlachte der verwilderte Klütken-Hannes. »Mädel ist Mädel, und wenn mir der Teufel immer genug Geld, satt Branntwein und fette Bissen zuwirft, so viel ich verlange, thu' ich ihm einen Gefallen, beim brennenden Höllenpfuhl! Es kann doch weiter nichts kosten, als die Seele! Die Seele aber ist Luft, blauer Dunst, siehst Du, alte Hyäne, und das hat kein Gefühl, das! Also mag es schmoren, meinetwegen zehn tausend Millionen Jahre!«
»Auf's Wohlergehen Deines Schmorbratens!« wieherte Blutrüssel, stieß an mit Klütken-Hannes und beide tranken den Höllensoff, bis ihnen die stieren Augen übergingen.
»Noch eine Kanne, Jussuff!« brüllte der Mörder Johannes', sein Herr und Meister fiel ihm aber ins Wort und sagte:
»Halt, Nimmersatt! Das Befehlen ist gegen die Abrede, weißt Du! Ich bin Gebieter, [] Du bist Knecht, und wenn ich will, legst Du Dich vor die Thür und bellst oder heulst auf mein Commando! Verstanden, Zähnefletscher? –«
Blutrüssel rollte seine vorstehenden Augen wie Feuerräder, ballte die Faust gegen seinen Herrn, schwieg aber doch.
»Ich will mir nicht den Verstand versaufen,« fuhr Klütken-Hannes fort, »damit ich frisch bin, wenn mein großmüthiger Freund und Gönner mich besucht. Ein vernünftiger Herr aber kann kein unvernünftiges Vieh zum Diener brauchen, siehst Du! Also couche und verschnarche den Höllenbräu, den Du angegeben hast. Mich brennen die Eingeweide, als hätt' ich glühendes Blei hinuntergeschüttet, Gott verdamm mich!«
So fluchend warf sich Elwirens unwürdiger Vater auf die Streu, zog die Kotze von Pferdehaaren über sich und fiel bald in dumpfen Schlaf.
Blutrüssel blieb noch geraume Zeit am Zechtisch sitzen und stierte bald in den sprützelnden Docht der Thranlampe, bald warf er gehässige, wilde Blicke auf den schlafenden Hannes. Endlich schob er den Schemel zurück und stand auf. Scheußlich rollten die großen weißgelben Augäpfel [] unter seiner niedrigen Stirn, die spitzen Wolfszähne klappten ein paar Mal heftig auf einander, als seien sie begierig nach Fraß. Dann fuhr er jäh in die Seitentasche seiner Jacke, ein langer spitzer Stahl funkelte in der hochgeschwungenen Rechten und mit lautlosem Sprunge am Lager des dumpf und fest schlafenden Klütken-Hannes niederkauernd, streifte die scharfe Klinge schon den starken geschwollenen, von dicken blauen Adern durchzogenen Hals des Sorglosen. Doch eben so schnell zog er die Mordwaffe wieder zurück und ließ die Hand sinken.
»Noch nicht!« murmelte er finster und seine abschreckenden Züge überschauerte ein herzloses Hohnlächeln. »Ich will warten bis morgen und horchen, was man verlangt, was man bietet. Erst Geld, dann Blut! – So hielt ich's mit seinem Vater, dem fanatischen Tugendhelden, als er geizig und hochmüthig ward; so will ich's auch mit dem verlorenen Söhnchen halten, das in meiner Schule ein allerliebstes Mutterfrüchtchen geworden ist! – Ha, ha, ha, ha,« lachte der Mörder leise durch die Zähne, »welche Freude würde die Alte haben, die in ihren guten Tagen, weiß Gott, ein wahres Grafenessen war, träte [] ihr das wohlgerathene Söhnlein im schönsten Aufputz der triumphirenden Hölle unter die Augen! 's wär' mir ein Labsal, bei allen Todsünden, und wüßt' ich's dahin zu bringen, so spielt' ich noch Trumpf aus mit Satan um das nächste Schaltjahr!«
Während der Verworfene dieses Selbstgespräch hielt, hatte er den Stahl wieder sorgfältig verborgen und sich in kaum fußbreiter Entfernung von dem sorglos schlafenden Klütken-Hannes ebenfalls auf die Streu niedergestreckt. Der heiße Branntweindunst und die Gewohnheit, sich an den verruchtesten Phantasiebildern zu laben, wiegten auch diesen Sohn der Hölle in festen, traumlosen Schlummer. –
Die Betäubten schliefen noch, als Adrians Schlitten am andern Tage ziemlich zeitig an der Köhlerschenke hielt.
»Alles in Ordnung?« fragte er Jussuff, nur die geröthete Nasenspitze aus seinem Pelz hervorsteckend.
»Zu Ew. Gnaden Befehl! Aber –«
»Aber?«
»Ich hab' ihrer zwei gefunden, Ew. Gnaden!«
[] »Sind sie munter?«
»Wie ein paar Teufel! Von früh bis in die Nacht nichts wie Lärmen, Fluchen, Saufen mit Ew. Gnaden Erlaubniß!«
»Schon gut! Du hast es ihnen doch an nichts fehlen lassen?«
»Im Gegentheil! Sie empfingen Speis' und Trank im Ueberfluß. Sechs Menschen könnten bequem vier Tage von dem leben, was diese beiden Haifische in einem Tage vertilgen. Sie sehen aus, verzeih' mir's Gott, wie entsprungene Galeerensclaven!«
»Desto besser! Wo hast Du sie untergebracht?«
»Sie schlafen noch, gnädigster Herr. Der Branntweinpunsch von gestern Abend wird ihnen zu Kopfe gestiegen sein.«
»Wecke sie, ich werde warten. Und ist derjenige, welcher sich Klütken-Hannes nennt, nicht vollkommen nüchtern, so begieße ihn so lange mit frischem Wasser, bis er seinen Verstand vollkommen beisammen hat. Wer ist sein Begleiter?«
»Ein grauhaariger Schelm, Ew. Gnaden, mit blutrother langer Nase und Krokodilsaugen! [] Ew. Gnaden Empfohlener heißt ihn seinen Diener, sie dutzen sich aber, wenn sie allein sind, wie Holzhauer.«
Adrian gab Jussuff durch einen Wink zu erkennen, daß er genug wisse, und befahl nochmals, den fremden wüsten Gast zu wecken.
Nach einiger Zeit vernahm er ein heiseres Husten und rauhes Flüstern. Jussuff kam zurück und zeigte seinem Gebieter an, daß der Fremde ganz fest auf den Beinen stehe und sehr begierig auf den Besuch des Herrn sei.
»Den angeblichen Bedienten hab ich abtreten lassen,« fügte er hinzu.
»Ich lobe Dich, mein Getreuer,« sagte Adrian, und folgte dem Wirthe in die abgelegne Kammer.
Klütken-Hannes saß, sein aufgedunsenes Gesicht in die linke Hand gestützt, am Tische, dessen Platte noch klebrig war von dem verschütten Getränk der vergangenen Nacht. Da er auf sein Aeußeres nicht eitel war, hingen ihm Strohhalmen in dem borstigen, ungekämmten Haar, und Gesicht und Hände waren mit widerlichen Schmutzflecken bedeckt. Bei Adrians Eintritt, der sich durchaus als vornehmer und gebietender [] Herr zeigte, stand der Trödler auf und versuchte seine beste Verbeugung.
»Habe ich das besondere Vergnügen, mit Herrn Johannes Klütken aus Hamburg zu sprechen?« fragte Adrian mit großer Freundlichkeit.
»Sie haben dies Vergnügen, mein sehr werther Herr,« erwiederte Klütken-Hannes, seinerseits ebenfalls eine herablassende Miene annehmend, denn er sah wohl, daß er es mit einem hochgestellten mächtigen Herrn zu thun hatte.
»Kommen Sie in Folge eines mit ›a – n.‹ unterzeichneten Briefes, dem tausend Mark in Anweisungen beigefügt waren, an diesen Ort?«
»Tausend Mark, ganz recht! – meine Schulden habe ich bezahlt auf Schilling und Grote – bin gereist, habe mir nichts abgehen lassen, und da sitze ich nun mit noch gut gespicktem Sacke!«
»Dürfte ich um jenen Brief ersuchen?«
»Herr,« sagte Klütken-Hannes, sein Gesicht zu einem bedenklichen Lächeln verziehend, »ganz werde ich das Schreiben nicht mehr zusammen bringen. Es hat sich zerrieben in der Tasche.«
Er suchte indeß und brachte nach einiger [] Zeit einen zerknitterten Fetzen von Adrians Briefe hervor. Der Graf warf nur einen flüchtigen Blick darauf, um sich von der Identität desselben mit seinen Schriftzügen zu überzeugen. Als er diese erkannt hatte, sagte er:
»Ich danke Ihnen, mein sehr lieber Herr! Reichen Sie mir jetzt die Hand und lassen Sie uns im Vertrauen ein ernstes Wort sprechen!«
Klütken-Hannes streckte tölpisch seine ekelhafte Rechte dem Grafen entgegen, welche dieser mit einiger Scheu leis drückte. Dann setzte er sich dem Trödler gegenüber auf demselben Schemel, den Abends vorher der Räuber und Mörder eingenommen hatte.
»Können Sie schweigen, Herr Klütken, wenn man Sie gut dafür bezahlt?«
»Wie das Grab!«
»Auch wenn Sie – durch den Genuß geistiger Getränke in heitere Laune versetzt werden?«
»Dann knüpfe ich mir einen Knoten ins Gedächtniß und über den kommt kein Geheimniß und wär's ein Vatermord!«
»Sie sind gegenwärtig ohne Beschäftigung, Ihr eigener Herr?«
[] »Mein Geschäft ist gut essen und trinken, nichts weiter!«
»Sie würden also gern und mit Eifer ein Geschäft für mich ausführen, immer vorausgesetzt, daß man Sie reich dafür bezahlt?«
»Bin nicht heikel, mein sehr verehrter Herr. Was es auch sei, für Geld thu' ich Alles.«
»Demnach würden Sie auch Verrath üben für Geld?«
»Verrath? Vielleicht, wenn man mich königlich belohnte.«
Bei dieser Wendung des seltsamen Gesprächs zeigten sich die Augen Blutrüssels, den Jussuff in einen Verschlag neben der Kammer geführt hatte, an einem zersprungenen Kieferbrett. Stier und blutgierig funkelnd hafteten sie auf der vornehmen Gestalt des Grafen.
»Sie haben dies nicht zu befürchten, Herr Klütken,« erwiederte Adrian lächelnd auf diese Bemerkung. »Ich betrachte Sie vorläufig als in meine Dienste getreten, und da ich weder ein König noch ein Fürst bin, sondern blos ein vermögender Mann, der von zahllosen Feinden umringt ist und schmachvoll verfolgt wird, so bin ich im Begriff, Sie mit Ueberwachung derer, die ich Ihnen [] als meine erbittertsten Feinde bezeichnen werde, zu beauftragen. Dünkt Ihnen dies ein Amt, das Ihre Kräfte übersteigen wird?«
»Ich halte mich dessen im Gegentheil vollkommen gewachsen.«
»Zur Bestreitung aller dabei vorkommenden nöthigen Ausgaben, etwaiger Reisen, Traktamente usw. biete ich Ihnen einen monatlichen Gehalt von zwei hundert Thalern an. Glauben Sie damit zu reichen?«
»Zwei hundert Thaler!« murmelte mit schlecht verborgener Freude, welche dem Grafen nicht entging, der überraschte Trödler. »Ich – ich will es – wenigstens damit versuchen. Geht es nicht –«
»So erhalten Sie Zuschuß, das versteht sich! Wir sind also einig?«
»Vollkommen, vollkommen!« sagte Klütken-Hannes sehr eilig. »Aber das Geschäft?«
Adrian kehrte sich um und ließ seine scharfen Blicke rund um die Bretterwände laufen. Blutrüssels glotzende Augen verschwanden an dem gespaltenen Brett. Zufrieden mit seiner Musterung wendete sich der Graf wieder zu seinem [] angeworbenen Helfershelfer und beugte sich über den Tisch.
»Dämpfen wir unsere Stimmen etwas,« sagte er bedeutungsvoll lächelnd. »Dünne Wände pflegen Ohren zu haben, und ich möchte nicht gern, daß unser intimes Gespräch zur Kenntniß Vieler käme. – Empfangen Sie vor Allem,« fuhr er flüsternd fort, indem er ein Packet aus seinem Pelze zog, die Vorausbezahlung für den ersten Monat, und nun merken Sie wohl auf! Von morgen an haben Sie zu Fuß oder zu Schlitten, wie es Ihnen bequem ist, diese Haide zu durchwandern bis an den See von Boberstein. Sie erkennen ihn an der großen Spinnfabrik, die sich inmitten desselben auf einem Felsen erhebt. Um den See zieht sich ein Dorf, in dem es ein einziges Wirthshaus gibt. Dies Wirthshaus besuchen Sie des Abends, um die daselbst einkehrenden Gäste kennen zu lernen. Geben Sie Acht auf die Gespräche derselben und merken Sie sich diejenigen genau, welche dem Besitzer der Fabrik alles nur denkbare Böse wünschen! Vor Allem suchen Sie mit einem schwarzhaarigen großen und starken Manne bekannt zu werden, der Martell heißt und sich einbildet, [] der eigentliche Besitzer der genannten Fabrik zu sein! Er trinkt gern, mithin –
»Soll er trinken auf meine Kosten, bis er sich den Verstand versäuft!«
»Sie besitzen einen bewunderungswürdigen Scharfsinn, mein Herr,« fuhr Adrian mit seinem gewinnendsten Lächeln fort. »Indeß ein starker, an Branntwein gewöhnter Mensch verträgt sehr viel, wie Sie wissen –«
»Teufelmäßig viel, ich weiß es!«
»Es wird daher zweckmäßig sein, daß man die Wirkung des Getränkes zu verstärken sucht durch Anwendung eines unschädlichen Mittels, das ich Ihren Händen hiermit anvertrauen will!«
Ein zweites wohl versiegeltes Packet fiel neben Klütken-Hannes auf den Tisch. Immer flüsternd fuhr Adrian fort:
»Von dem darin enthaltenen Pulver lassen Sie unvermerkt blos einige Körnchen in jedes Viertelmaß gleiten, das Martell und seine guten Freunde leeren. Die Gelegenheit werden Sie wohl abzupassen verstehen, dafür bürgt mir Ihre [] Gewandtheit und die Liebe zum Leben! Denn wohl zu merken, schöpfte man Verdacht, so könnte man sich Ihrer bemächtigen, was unangenehme Folgen für Sie haben würde! Also Vorsicht, mein Herr, Gewandtheit und Ausdauer!«
»Stirbt man von diesem Pulver?« fragte Klütken-Hannes gelassen, indem er eifrig daran roch.
»Man stirbt davon, wenn man viel auf einmal genießt, man welkt aber blos hin, wenn man zur Delicatesse nur davon kostet. Meinen Feinden in geringen Dosen, aber häufig diesen delicaten Genuß zu verschaffen, wird also die Aufgabe Ihres jetzigen Wirkens sein! Drei bis vier Monate dürften hinreichen, Ihr Werk mit gutem Erfolg zu krönen! Sie haben mich doch verstanden?«
»Sehr genau, mein werther Herr! Und Sie haben Ihre Großmuth an keinen Unwürdigen verschwendet!«
»Dessen war ich gewiß! Aller acht Tage kehren Sie hierher zurück auf eine Nacht. Sie werden dann einen Boten von mir finden, dem Sie [] über Ihr Wirken und die erlangten Resultate Bericht erstatten. Diese Berichte setzen Sie regelmäßig fort, bis wir uns persönlich wiedersehen. Sie haben nichts zu befürchten für Ihre Sicherheit, so lange Sie klug handeln! Ist geschehen, was ich beabsichtige, so gehen Sie wieder nach Hamburg oder verlassen doch diese Gegend! Für Anerkennung Ihrer mir geleisteten Dienste erhalten Sie jährlich eine Pension von tausend Mark, immer vorausgesetzt, daß Sie schweigen können! Sind Sie damit zufrieden?«
»In meinem Leben macht' ich kein besseres Geschäft!« rief Klütken-Hannes aus, sich vor Freude die Hände reibend. »Ich bin Ihr blind ergebener Knecht, und wenn's mich an den Galgen bringt! Hier meine Hand d'rauf, und der Teufel soll mich lebendig statt Zuckerkant auffressen, wenn ich nicht Wort halte!«
»Gut,« sagte Adrian trocken. »Wie ich höre, haben Sie einen Bedienten? Können Sie sich auf den Menschen verlassen?«
»Wie auf mich selbst!«
»Ich wünsche ihn zu sehen.«
[] Als Adrian diesen Wunsch äußerte, verschwanden blitzschnell die glühenden Augen Blutrüssels am Spalt des Kieferbrettes, Klütken-Hannes rief nach dem Wirthe und befahl seinen Bedienten eintreten zu lassen.
Zögernd erschien die abschreckende Gestalt des Mörders an der Thür. Er blickte dem Grafen tückisch und hohnlächelnd in das bleiche, vom Pelz fast ganz wieder verdeckte Gesicht. Adrian richtete kein Wort an den Abscheulichen. Er begnügte sich, einen kalten Blick über ihn gleiten zu lassen, worauf er Klütken-Hannes höflich grüßte und eilig Kammer und Bretterhütte verließ.
Ein paar Minuten später lauteten wieder die silbernen Schellen und verklangen im Walde. Auf dem Heimwege begegnete Adrian einem seine Bahn kreuzenden Schlitten. Er erkannte Sloboda und den Maulwurffänger, die in raschem Trabe an ihm vorüberflogen. Der Wind jagte ihm von dem Schlitten der Begegnenden einen gedruckten Bogen zu, der an einer Branke des Bärenfelles, das Adrians Füße schützte, hängen blieb.
Klütken-Hannes und Blutrüssel standen [] einander lange Zeit sprachlos gegenüber, dann fielen sie fast zugleich in ein krampfhaftes Lachen, von dem sie sich nur erholten, um die am Abend vorher abgebrochene Lebensweise sogleich wieder fortzusetzen.
[] Fünftes Kapitel.
Das Wiederfinden.
Adrian griff mechanisch nach dem im Winde flatternden Papier und warf gleichgiltige Blicke darauf. Es war eins jener kleinen, von dem Landvolke viel und eifrig gelesenen Wochenblättchen, die neben einer Menge gerichtlicher Vorladungen, obrigkeitlicher Bekanntmachungen und Anzeigen anderer Art die neuesten Zeitereignisse in dürftigstem Auszuge enthalten. Der reiche Mann nahm in der Regel nie ein solches Blatt in die Hand, da er die bedeutendsten und einflußreichsten Zeitungen des In- und Auslandes schon aus Speculation selbst hielt und daher immer sehr wohl unterrichtet war von Allem, was in der Welt vorging. Schon wollte er das Blättchen dem Winde wieder Preis geben, als [] er gegen das Ende hin mit etwas größerer Schrift und in schief stehenden Lettern, wie sie als etwas Neues damals gerade erst aufgekommen waren, das Wort »Aufruf« las. Dies veranlaßte ihn doch zu genauerer Betrachtung und mit einiger Verwunderung las er:
»Diejenige Person, welche den Namen Maja Pisom als Geburtsnamen führt, in dem Haidedorfe E. am 13. Februar 1791 zur Welt gekommen ist und mithin zur Zeit ein Alter von beinahe zwei und vierzig Jahren erreicht hat, sich auch vor Andern durch ein purpurrothes Muttermal an ihrer linken Schläfe in Gestalt eines kleinen Sternes auszeichnet, wird hierdurch dringend aufgefordet, ihren gegenwärtigen Wohnort anzuzeigen oder sich persönlich im Hause des Maulwurffängers Heinrich zu B. so bald als möglich einzufinden, da man ihr eine höchst wichtige Mittheilung zu machen hat.«
»Was soll das nun wieder heißen?« murmelte Adrian vor sich hin, indem er das Wochenblatt zusammenfaltete und zu sich steckte. »Zu welchem Zweck verläßt dieser intriguante alte Mann einen so dringenden Aufruf, und wer mag jene Maja sein? Maja? Maja Pisom? [] Dieses Namens kann ich mich nicht erinnern. Unter meinen Arbeitern wäre sie demnach wohl kaum zu suchen. – Aber einen Grund muß der Aufruf doch haben! Und der verschlagene alte Schlaukopf ist sicherlich dabei betheiligt! – Dahinter muß ich kommen und das bald! – Wahrhaftig es thäte Noth, daß man sämmtliche Arbeiter wie die Neger oder wie das liebe Vieh mit eigenen Augen besichtigte, um sich die besondern Kennzeichen jedes Einzelnen gewissenhaft zu notiren! Ich werde mich sogleich erkundigen und, merke ich Unrath, die so Gezeichnete ohne Weiteres entfernen. Der malitiöse Bursche soll nicht allein und nicht immer truimphiren!«
Mit dieser Aufforderung hatte es folgende Bewandniß.
Als unsere Freunde das Sterbebett der alten Maja verließen, drangen sie tief in die Haide ein, um den Geburtsort von Haideröschens Tochter aufzusuchen. Es war dieser kein eigentliches Dorf, blos ein paar zerstreut stehende Häuser, wie man sie häufig in jenen endlosen Wäldern findet und mit dem prunkenden Namen eines Dorfes bezeichnet, bildeten es. Auf seinen Wanderungen hatte der Maulwurffänger auch diesen [] versteckten Ort mehrmals betreten und wollte sich jetzt erinnern, daß ihm vor vielen Jahren ein sehr hübsches Mädchen um ein Almosen gebeten habe, an deren linken Schläfe er das erwähnte Muttermal bemerkt zu haben vorgab. Auch behauptete er zuversichtlich, die hübsche Bettlerin habe sich Maja Pisom genannt. Wie es nun häufig zu gehen pflegt, daß der Suchende wirklich zu finden glaubt, so meinte auch Pink-Heinrich, das Mädchen sei ihm gleich damals durch eine Aehnlichkeit aufgefallen, wozu er das Original lange in seinem Gedächtniß vergeblich gesucht habe, nun aber stehe dasselbe lebhaft vor seiner Seele und er wolle darauf einen körperlichen Eid ablegen, daß jene Maja dem verstorbenen Haideröschen in Haltung und Gesichtsbildung sehr ähnlich gewesen sei.
Alle Nachfragen blieben jedoch ohne Erfolg. Die gegenwärtigen Bewohner des Ortes waren zum Theil nicht einheimisch daselbst, sondern vor wenigen Jahren erst aus andern Haideorten hergezogen. Von jener Maja wußte Niemand etwas.
Unter diesen Umständen blieb den Suchenden nichts weiter übrig, als ein öffentlicher Aufruf [] in den gelesensten Blättern. Dies sind für den Bauer und Landmann die Wochenblätter und amtlichen Anzeiger kleiner Städtchen, weshalb der Maulwurffänger nur diese als geeignet für den zu erreichenden Zweck vorschlug. Er selbst sorgte für zahlreiche Verbreitung derselben in allen Haidedörfern, indem er die Colporteure und Herumträger dieser Blättchen anwies, sie in den meisten Häusern unentgeltlich abzugeben. Man hatte den Drucker freigebig bezahlt und eine größere Auflage als gewöhnlich davon abziehen lassen. Wo Pink-Heinrich am ehesten die Gesuchte zu finden oder doch eine Spur von ihr entdecken zu können glaubte, da eilte er in seinem Rennschlitten von Sloboda begleitet überall selbst hin, vertheilte die Blätter und suchte die Aufmerksamkeit und Theilnahme des armen Volks zu erwecken. Von einem dieser Streifzüge zurückkehrend, begegnete er dem Grafen, dessen seltsame Liebhaberei, auf ungebahnten Pfaden so früh am Tage die Haide zu durchstreifen, ihm auch verdächtig vorkam.
Kaum war daher Adrians rascher Schlitten hinter den beschneiten Stämmen verschwunden, so ließ der Maulwurffänger halten.
[] »Was runzelst Du die Stirn?« fragte ihn der Pferdelenkende Sloboda.
»Freund Jan, laß uns umkehren!« versetzte Pink-Heinrich. »Die Spazierfahrt des Herrn am Stein hat was zu bedeuten, ich wette! Er ist viel zu verweichlicht, als daß er um nichts und wieder nichts seine gesteppten Seidenmatratzen von sich würfe und bei solchem Frost mutterseelen allein in die tiefste Haide führe! Es hat das einen Grund und zwar einen gewichtigen! Komm also, Alter, laß uns seiner Fährte folgen und nachspüren, woher er kommt, wo er gewesen ist.«
Dies war eine leichte Aufgabe. Der gefrorene Schnee zeigte sehr deutlich die Geleise des Schlittens, so daß unsere beiden wackern Alten ohne Mühe bis vor die Thür der Köhlerschenke im Schutze des Raubhauses gelangten.
»Also hier hat der Herr Graf gefrühstückt?« sagte der Maulwurffänger lächelnd. »Das sieht ja beinahe aus wie ein Wink des Schicksals! Wie wäre es, Jan, wenn wir die Ueberreste des hochgräflichen Frühstücks kosteten? Ich verspüre meiner Six Hunger, und der Schornstein der verräucherten Bude dampft gar so einladend.«
[] Sloboda hielt die Pferde an und alsbald saßen die Freunde in Jussuff's Schenkstube, tranken gemeinschaftlich ein Glas Branntwein und ließen sich frisches Schwarzbrod mit geräuchertem Speck vortrefflich schmecken. Während dieses Morgenimbisses vernahmen sie manchmal wie aus dem Walde hereinschallend ein heiseres Lachen, dem das Klirren zusammengestoßener Gläser folgte. Pink-Heinrich winkte dem Wenden heimlich und wandte sich an Jussuff.
»Bei Euch geht's wohl um?« fragte er, sich Feuer anschlagend. »Ich hab' immer gehört, beim Raubhause sollt' es nicht geheuer sein. Es ist viel Blut hier herum vergossen worden in alten Zeiten.«
»So lange ich hier schenke, ist mir nichts vorgekommen, alter Vater! Woher des Landes?«
»Aus dem Gefilde, mein Lieber! Aber ich bitt' Euch, steckt mir ein büchen' Spänl an, sonst muß ich pinken bis zu Lichtmeß. Der Schwamm hat angezogen in der kalten Luft.«
»Es hat wohl nicht viel Einkehr?« sagte Sloboda, während Jussuff einen lichterloh brenneden handbreiten Buchenspan dem Maulwurffänger [] brachte, womit dieser in größter Seelenruh seine Maserpfeife anzündete.
»Je nun, gar stark geht's freilich nicht bei so hartem Frost. Ab und zu verlaufen sich doch ein paar Strolche im Walde, und die lassen dann 'was mehr aufgehen, als unsere gar zu genauen Köhler und Torfgräber.«
»Gelt, Ihr habt ein paar solche Goldfinken grade heut irgendwo eingesperrt, damit sie Euch nicht davon fliegen?«
»Pst!« erwiederte Jussuff erschrocken auf diese lächelnd gethane Frage des Maulwurffängers, denn er besorgte irgend ein Unglück, wenn diese beiden so würdig aussehenden Männer mit jenen verruchten wüsten Säufern zusammenkämen, über deren Verkehr mit seinem Gebieter er sich schon gewaltig den Kopf zerbrochen hatte. »Pst! Es sind ein paar Betrunkene, die mir Alles in Grund und Boden schlagen, wenn ich sie aus ihrer Klause herauslasse! Sie haben einiges Geld bei sich – Gott mag wissen, ob's ehrlich erworben ist! – und spielen's einander jetzt bei der Flasche ab. 's Liegt mir weiß Gott nichts an solchem Besuch, aber Ihr wißt's ja, ein armer Schenkhalter muß halt die Groschen mitnehmen, [] wo er sie findet! Ist die Zeit um, will der Pacht auch bezahlt sein, und da wird keine Rücksicht genommen auf einen verkrüppelten Mann!«
»Wem seid ihr denn unterthänig?«
»Dem reichen Herrn am Stein, eigentlich Herrn Adrian Grafen von Boberstein, aber er hat's nicht gern, wenn ihn ein armer Mann so nennt, daß es die Leute hören.«
»'s Ist ein Sonderling, hört man sagen, und das muß wohl auch sein, sonst würde er nicht sein zierliches Haus verlassen und in solch einer Hütte einen schlechten Schnaps trinken!«
Jussuff warf dem Maulwurffänger einen lauernden Blick zu, dieser ließ sich aber nicht im geringsten dadurch stören, sondern versetzte ganz gelassen: »Wir begegneten ihm eine halbe Stunde von hier. Er mußte es sehr eilig haben, denn er jagte verteufelt wild in den Wald hinein! Vermuthlich waren ihm die lustigen Säufer ein Greuel, die jetzt wieder anfangen, einen Höllenspektakel zu verführen. Da Ihr behauptet, sie wären streit- und zanksüchtig, und wir beiden Alten grade nicht von der herzhaftesten [] Menschensorte sind, so wollen wir doch wieder aufbrechen. Was macht die Zeche?«
Froh, die unwillkommenen Gäste so bald los zu werden, forderte Jussuff eine sehr geringe Summe. Während Sloboda einen kleinen Lederbeutel zog und bezahlte, stieß der Maulwurffänger die Thür auf. In demselben Augenblicke prallte schief über eine zweite starke Bretterthür auf und taumelnd wankten unter Lachen und Fluchen die unheimlichen Gäste Jussuffs an ihm vorüber. Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge der Trunkenen erkennen zu können, Pink-Heinrich erhaschte daher nur einen unklaren Schattenriß von ihnen, der indeß vollkommen genügte, ihm die Ueberzeugung beizubringen, daß diese unheimlich wüsten Menschen in irgend einer Verbindung mit Adrian stehen müßten, welche seinen Freunden verderblich werden solle.
»Duldet es Herr am Stein, daß Ihr solchen wüsten Gesellen Obdacht gebt?« fragte er Jussuff. Dieser stotterte und wußte nicht, was er antworten sollte.
»Da könnt' ich Euch schön in die Patsche bringen,« setzte Pink-Heinrich lachend hinzu, »wenn ich ein schlechter Kerl sein wollte. Ich [] kenne Herrn am Stein; ging' ich nun zu ihm und verrieth es, daß Ihr arges Spitzbubengesindel beherbergt, so setzt' er Euch gewiß aus dem Pacht, denn 's ist ein gestrenger Herr, wenn er gereizt wird.«
»Still doch, still!« raunte ihm Jussuff vertraulich zu. »Er weiß es ja, daß die Schelme da saufen und fressen, aber er will nicht, daß die Schälke seinen Namen erfahren! Nun Ihr versteht mich doch, Alter? Reinen Mund, ich bitte!«
»Das ändert die Sache,« erwiederte munter lachend der Maulwurffänger. »Ich bin kein Spaßverderber, und große Herren, ich weiß, haben zuweilen auch ihre schwachen Stunden! Gott behüt' Euch und gute Einkehr!«
»Jetzt müssen wir auf unsrer Hut sein, Freund Jan,« sprach der Maulwurffänger sehr ernst zu seinem Begleiter, als der Schlitten wieder einsam unter den schneebehangenen Tannen fortglitt. Die beiden Kerle, deren Fratzen ich leider nicht gesehen habe, führen sicher nichts Gutes im Schilde, und ich will keinen Maulwurf mehr fangen, wenn Adrian sie nicht besoldet!
[] Sloboda theilte die Meinung seines Freundes, doch hielt er es für klug, sich zu stellen, als wisse man nichts. Deshalb schlug er auch vor, ihren Freunden diese zufällig gemachte Entdeckung vorläufig noch ganz zu verschweigen, damit, wenn Adrian wirklich etwas Unerlaubtes oder gar Verbrecherisches beabsichtigen sollte, die versuchte That laut gegen ihn zeuge und ihn unrettbar ins Verderben stürze. –
Sehr früh am Morgen dieses Tages, zum Theil auch schon am Abend zuvor war von den gewöhnlichen Colporteuren und Herumträgern das Wochenblatt mit dem Aufruf in vielen Ortschaften ausgegeben worden. Man kann annehmen, daß, sei's aus übertriebener Sparsamkeit, die namentlich für gedrucktes Papier nicht gern Geld ausgibt, sei's aus Mangel an klingender Münze, die meisten Ortschaften, selbst wenn sie stark bevölkert sind, sich mit drei bis vier Exemplaren eines derartigen Blattes begnügen. Obwohl jede einzelne Nummer mit höchstens sechs Pfennigen vom Herumträger gekauft wird, treten doch immer zwanzig und noch mehr Familien zusammen, um ein Exemplar gemeinschaftlich zu bezahlen, bei denen es dann Reih' umgeht [] und oft erst nach mehreren Tagen in die Hände des Letzten fällt. Der jedesmalige Käufer hat allemal das Recht, es zuerst zu lesen. –
Auch in den Haidedörfern war diese Sitte, Geld zu sparen, allgemein verbreitet. Der Maulwurffänger, dem solche Kleinigkeiten, auf die so leicht Niemand achtet, niemals entgingen, und der in wohlhabenderen Ortschaften auch häufig über gräuliche Knauserei spottete, hatte dies wohl in Ueberlegung gezogen. Blieb man dem Herkommen treu, so konnten Tage vergehen, ohne daß irgend Jemand den Aufruf sah und las, denn leider hielt man zwar das Blättchen, sah aber nicht hinein! Es mußte daher das achtlose, stumpfsinnige Volk gleichsam mit Gewalt zu Ansicht des Wochenblattes gezwungen werden. Dies konnte nur durch unentgeltliche Vertheilung und durch besondern Hinweis auf etwas Beherzigenswerthes, das darin enthalten sei, geschehen, und darum ergriff unser Freund dies sicherste und kürzeste Mittel.
Während er die in der Nähe Bobersteins und des Zeiselhofes gelegenen Dörfer, Höfe und Vorwerke den Landboten überließ, durchstrich er selbst mit Sloboda die fern gelegenen Orte in [] der Haide auf flüchtigem Schlitten. Sie hatten einen weiten Weg zu machen, so daß es schon dunkelte, als sie ermüdet und durchfroren dem Dorfe am See sich wieder näherten. Hier gedachten sie zu übernachten und am andern Morgen nach B. aufzubrechen, um dort in der Behausung des Maulwurffängers die Folgen des Aufrufes gelassen abzuwarten. –
Ueber den Schornsteinen der Fabrik lag eine breite Schicht schwarzen Rauches, als sie aus dem Hochwald in die niedrige Haide kamen, wo vor zwei und vierzig Jahren der furchtbare Brand gewüthet hatte. Die Lichter des Dorfes flimmerten trüb durch das hängende Gezweig, während über den leis schwankenden Wipfeln die breiten flammenden Fensterreihen der colossalen Fabrik gleich einem prachtvollen Feenschloß aufleuchteten. Der Luftzug wehte bisweilen das dumpfe Surren der tausend und aber tausend Räder herüber über See und Wald.
In unmiltelbarer Nähe des Dorfes bemerkten die Reisenden eine ungewöhnliche Bewegung unter den Einwohnern desselben. Truppweise eilten die Männer dem Hauptverbindungswege zu, nach welchem auch der Schlitten unserer [] Freunde einbog, um den Kretscham zu erreichen, wo sie übernachten wollten. Nicht gar fern von diesem in einer schmalen Seitengasse, wenn man einen unebenen gewundenen Weg so nennen darf, lag Martell's Hütte und drei Häuser weiter die noch ärmlichere Wohnung des Spinners Simson, dessen Kind am Sylvesterabend aus Mangel an Nahrung gestorben war.
Nach dieser schmalen, jetzt spiegelglatten Gasse drängte sich ein Haufen durcheinander sprechender Menschen. Unsere Freunde besorgten, es möge sich abermals ein Unglück, vielleicht wohl gar ein Selbstmord zugetragen haben, und trieben ihr schnaubendes Pferd grade darauf zu. Die Einwohner des Dorfes waren übrigens so ungewöhnlich aufgeregt, daß sie bisher durchaus nicht auf den heranschellenden Schlitten geachtet hatten. An der Gasse angekommen fanden unsere Freunde dieselbe von Menschen verstopft. Sie mußten nothgedrungen halten und der Maulwurffänger stieg aus.
»Aber so sagt mir doch, Kinder,« rief er zutraulich ein paar junge Bursche an, die sich auf die Zehen hoben und mit langen Hälsen gaffend über die unruhig brausende Menge wogender [] Köpfe hinwegschielten, »sagt mir doch, was zum Henker hier geschehen ist? Es hat sich doch Niemand ein Leides gethan? Etwa Martell –«
»Da ist er! Heda, Ihr dort vorn, der Maulwurffänger ist da!« – »Hurrah, Platz für Pink-Heinrich!« – »Macht eine Gasse, daß sie ungestoßen durchschreiten können, er selbst, der kluge Vater, und sein Freund, der wackere alte Wende!«
So ließen sich mehrere Stimmen vernehmen, und ehe noch der Maulwurffänger Zeit gewann, sich nach der Ursache dieses frohen Jubels zu erkundigen, sah er sich halb geschoben, halb getragen vor der weit offen stehenden Hausthür Simson's, aus der Men schen wie in einem schwärmenden Bienenkorbe aus-und eingingen.
Es brannten eine Menge dünner Pfenniglichter in der niedrigen Stube, die vom rauchenden Ofen kohlschwarz gefärbt und durch einen Webstuhl nebst Treibrad und dem übrigen unentbehrlichen Hausrath so verengt war, daß kaum sechs bis acht Menschen stehend bequem darin Platz hatten. Dennoch befanden sich mehr als [] ein Dutzend Neugieriger in der ärmlichen Hütte. Man hatte außerdem noch die Stubenthür aus den Angeln gehoben, um auch den draußen Stehenden Gelegenheit zu geben, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Frost und Kälte fühlte Niemand, achtete Keiner!
Ein wunderlicher Anblick bot sich unserm alten Freunde dar, als er unter dem sich häufig wiederholenden Triumphgeschrei: »Da ist der Maulwurffänger!« – »Der kluge Maulwurffänger kommt!« – »Platz dem Vater der Armen!« usw. in die von Menschen überfüllte Stube fast gewaltsam gedrängt ward.
Auf dem fichtenen Tische, der vor Zeiten mit blauen und rothen Blumen bemalt gewesen war, wie sie in der Phantasie des Dorfschreiners erblühten, saß auf niedrigem Treibebänkchen Simsons Frau, vor Frost, Angst, Bestürzung und Erwartung zitternd. Sie war sehr bleich und elend anzusehen in der dürftigen schwarzen Trauerkleidung, die sie seit dem Tode ihres Mädchens trug. Neugierig lauschend und beide Händchen fest an die Platte des Tisches geklammert, sah ihr zweites Kind, ein neunjähriges Mädchen, mit klarem Kinderauge zu der betrübten [] Mutter auf, die, den Kopf nach vorn und zur rechten Seite gesenkt, es ruhig geschehen ließ, daß von den neuen Ankömmlingen Jeder den purpurnen Stern an ihrer linken Schläfe genau betrachtete. Simson und einige andere Männer hielten die Lichter bei dieser wunderlichen Beschauung.
Ehe man noch sprach, wußte der Maulwurffänger bereits, daß sein Aufruf gefruchtet hatte, daß die Gesuchte gefunden sei und hier in der abgehärmten Gestalt Maja Simson's vor ihm sitze!
Man kann sich denken, welcher Schwall von Fragen sich über ihn ergoß! Für solche Scenen aber war Pink-Heinrich der rechte Mann. Er antwortete nicht eine Sylbe, bis er durch wiederholtes Winken die größte Ruhe erzwungen hatte.
»Ich bitt' Euch, Freunde, schweigt, bis Ihr mich gehört habt,« sagte er nunmehr, und grüßte dankend durch Abnehmen seiner Pelzmütze die Anwesenden. »Zuvor aber, Maja Simson erlaubt, daß auch ich Euch beunruhige. Ihr wißt ja, daß Jäger und Maulwurffänger die Fährte genau kennen müssen, ehe sie auf Glück [] hoffen dürfen! – Danke, danke, es ist gut! Ihr seid's, die ich suche, wenn Maja Pisom Euer Geschlechtsname und der 13. Februar 1791 Euer Geburtstag ist!«
Statt aller Antwort reichte Simson unserm Freunde die Pathenbriefe, die nach uralter Sitte auch noch heutigen Tages dem Täuflinge von den Pathen geschenkt werden. Geburts- und Tauftag sind regelmäßig in denselben verzeichnet.
Zufrieden mit dem Kopfe nickend und verschmitzt zu der schweigenden Maja aufblickend, gab er die Briefe zurück und sagte:
»Ihr könnt jetzt immer wieder heruntersteigen vom Tische, liebe Frau Simson. Das Komödjespielen, scheint mir, ist Euch nicht angeboren, und da wir nunmehr bestimmt wissen, wer und was Ihr seid, so braucht's weiter keiner Rede mehr und noch weniger unnützen Alarms. Zu seiner Zeit, und ich denke, das soll nicht gar lange dauern, erfährt's jeder Christenmensch in und außer der Haide, was heut Abend hier vorgegangen ist.«
»Aber so redet doch, Pink-Heinrich!« drängte Simson, der gleich den Uebrigen in größter Spannung dastand.
[] »Geschwind, nur herein!« hörte man zugleich von außen die tönende Stimme Sloboda's, der nur eine Secunde lang die trauernde stille Gestalt auf dem Tische betrachtet und sich dann sogleich wieder entfernt hatte. An seiner Hand trat jetzt der düster blickende gigantische Martell ein.
»Was soll ich hier?« fragte dieser mürrisch und kreuzte die Arme über seine Brust.
Da hob der Maulwurffänger Maja Simson vom Tische, führte sie dem finstern Spinner zu und legte sie ihm mit den Worten in die Arme:
»Du sollst Deine Schwester umarmen, die Tochter der Tochter Deines Großvaters!«
Martell zuckte zusammen, doch fing er die erschütterte, weinende Schwester, mit der er hundertmal die letzte Rinde verschimmelten Brodes getheilt, deren verzweifelnden Mann er so oft getröstet hatte, auch wenn er selbst untröstlich war, in seine Arme auf. Secundenlang ruhten seine düster funkelnden Blicke auf der trauernden armen Weberin, dann küßte er die Leidende sanft auf die Stirn und das blitzende Auge wild zum [] Himmel aufschlagend, stammelte er in heftiger Bewegung:
»Gott Lob, Gott Lob, so ist noch mehr Grund zur Rache vorhanden!«
Alle Umstehenden schwiegen ehrfurchtsvoll. Das Schicksal und in seinem Gefolge die zürnende Nemesis war in zu ernster Gestalt unter diese einfachen Menschen getreten. –
[] Sechstes Kapitel.
Adrian und Bianca.
Diese Auffindung des letzten natürlichen Kindes des Grafen Magnus blieb Adrian ein Geheimniß. Alle Betheiligten gaben sich das feierliche Versprechen, gegen ihren gemeinsamen Peiniger das tiefste Stillschweigen zu beobachten, damit sie desto ungehinderter das Werk gerechter Wiedervergeltung fördern könnten.
Auf dem Zeiselhofe verbreitete die Kunde von dem so über Erwarten schnell gelungenen Anschlage des Maulwurffängers ungemeine Freude und näherte einander die hier versammelten Menschen in immer größerer Vertraulichkeit. Elwire hatte sich, seit sie wußte, wie nahe sie Herta verwandt war, mit wahrer Kindesliebe an die stets sanft und mild bleibende Großmutter [] angeschlossen. Das schöne Mädchen erblühte im steten Verkehr mit dem gebildeten Geiste Hertas zu reizender Jungfräulichkeit. Mit überraschender Schnelligkeit entwickelten sich ihre vortrefflichen Anlagen, so daß Aurel selbst eben so sehr darüber erstaunt als entzückt war. Erlaubten es dem Kapitän seine Geschäfte, deren er jetzt sehr viele zu besorgen hatte, so brachte er jede freie Stunde bei der schönen Cousine zu. Er fühlte, daß sie ihm nicht gleichgiltig sei, und glaubte hoffen zu dürfen, auch seinerseits keinen unangenehmen Eindruck auf Elwire gemacht zu haben. Zu ungestörter, herzlicher Aussprache blieb dem Vielbeschäftigten jetzt freilich keine Zeit. Auch wollte er kein bindendes Verhältniß knüpfen, bevor der so verworrene Prozeß, in dem er ja selbst um sein bisheriges großes Vermögen kommen konnte, entschieden sei.
Weit unbehaglicher, innerlich unzufrieden und von mancherlei Stürmen bewegt fühlte sich Bianca. Herausgerissen aus dem betäubenden Strudel des Hamburger Lebens lastete die friedliche Stille und Einsamkeit des Zeiselhofes drückend auf ihr. Zu wenig an ernste Beschäftigung gewöhnt und körperlicher Arbeit entfremdet, [] tauchten im einsamen Zimmer die Schreckgestalten der Vergangenheit aus dem finstern Abgrunde ihres Innern vor ihr auf. Das Gewissen mit seinen tausend kleinen Qualen erwachte und peinigte sie Tag und Nacht. Sie kam sich verworfen vor in diesem Kreise schuldloser Menschen, die ein furchtbares Geschick wohl tief hatte beugen, nicht aber einen wirklichen Makel ihren Seelen hatte anhaften können, und die Verachtung vor ihr selbst steigerte sich mit dem Bewußtsein, daß sie mit Vorbedacht gefehlt habe! Dieß ließ sie eine baldige Veränderung wünschen, und sie war eben im Begriff, Aurel um die Erlaubniß zu bitten, ihr irgend ein passendes Unterkommen in einer größeren Stadt zu verschaffen, als ein Brief von Adalbert eintraf und den Gedanken Biancas eine andere Richtung gab.
In seinem vornehm kühlen und freundlich zarten Tone schrieb der stolze Bruder an Aurel, daß er gehört habe, es lebten unter seinem Schutze zwei sehr hübsche gebildete junge Damen, die alle Eigenschaften besäßen, das Hauswesen eines wohlhabenden Mannes in Ordnung zu erhalten. Vorausgesetzt, daß er geneigt sei, eine oder die andere dieser jungen Damen einem [] Dritten zu überlassen, wage er es, im Namen ihres Bruders Adrian anzufragen, ob sich vielleicht eine von den Schönen entschließen könne, ihm sein verwaistes und einer umsichtigen Lenkerin bedürftiges Hauswesen zu führen? Aurel dürfe immerhin annehmen, setzte Adalbert hinzu, daß keinerlei Nebenabsicht bei dieser Anfrage im Spiele sei. Ihre Rechtsangelegenheiten hätten durchaus nichts damit zu schaffen und er sowohl, wie auch Adrian seien weit entfernt, die gesuchte Dame etwa als Spion zu mißbrauchen!
Aurel wunderte sich zwar über diesen Brief, indeß fand er am Ende die Frage nicht so gar ungewöhnlich. Deshalb sprach er mit Herta darüber und als auch diese kein Bedenken trug, dem Gegner in diesem Punkte sich gefällig zu erweisen, theilte er Bianca den Antrag mit, deren wachsender Trübsinn ihn seit einiger Zeit zu beunruhigen begann.
Bianca war auf der Stelle bereit, darauf einzugehen, nur wollte sie sich nicht eher verbindlich machen, als bis sie Adrian persönlich kennen gelernt und mit ihm gesprochen haben würde. Sie läugnete nicht, daß sie schon längst [] begierig sei, mit einem Manne zusammen zu kommen, der ihrem gerechtigkeitliebenden, großmüthigen Retter so gar nicht gleiche, und der einen so eisernen Willen zeige, daß er sich nicht scheue, allen seinen Gegnern mit kalter Stirn zu trotzen.
Dieser Bereitwilligkeit freute sich Aurel Biancas wegen, und es ward festgesetzt, daß man Boberstein oder vielmehr das Dorf am See besuchen wolle, sobald die neu entdeckten Documente mit den nöthigen Angaben ihrem Anwalt überliefert sein würden.
Nur Einer konnte sich mit diesen Anordnungen nicht befreunden. Dies war Gilbert. Der junge lebensfrohe Matrose hatte Bianca angelegentlichst den Hof gemacht, obwohl ganz ohne Erfolg. Es schien aber gerade, als wünsche und beabsichtige er dies; denn je kecker, spitziger und trotziger die spröde Schöne seine Galanterieen beantwortete, desto beharrlicher setzte er sie fort. Es gewährte ihm unbeschreibliches Vergnügen, von den blühenden Lippen des schönen Mädchens, in der er eine büßende Magdalene in üppigster Formenpracht erblickte, die härtesten Wahrheiten anhören zu müssen. Abweisen ließ sich Gilbert durchaus nicht, so sehr Bianca auf ihrer Hut [] war. Verriegelte sie ihm die Thür, so unterhielt er sich mit ihr durch's Schlüsselloch und sagte ihr die verlockendsten Schmeicheleien über ihre Schönheit. Er lobte ihre Hand, ihre Anmuth, ihr reizendes Zürnen, das schmollende Stampfen ihres zarten Fußes, kurz wie immer sich die Aergerliche gebehrdete, der unermüdliche Gilbert fand alles reizend und entzückend an ihr. –
Als ihm später Aurel seine Zudringlichkeiten verbot und Bianca dem Späher jeden Spalt verstopfte, kletterte er in Schnee und Wind an den Wänden hinan, um durchs Fenster mit seiner Angebeteten zu conversiren, und so brachte er Bianca fast zur Verzweiflung. Weil sie sah, daß Zürnen, heftige und beleidigende Worte bei dem jungen Tollkopf nichts furchteten, ließ sie endlich geschehen, was sie nicht hindern konnte, und ertrug die wunderlichen Aufmerksamkeiten des verliebten Jünglings mit heroischem Gleichmuth. Sie that, als spräche, flehte und girrte der tolle Mensch gar nicht, mochte er nun vor der Thür ihre Augen in einem Sonett besingen oder vor dem Fenster ihres Zimmers klappern, [] um den Umriß des schönen Mädchens durch die Gardinen mit Seufzen zu betrachten.
Gilbert amüsirte sich bei dieser originellen Art, eine hübsche Widerspänstige andauernd zu verfolgen und auf alle Malicen nur süße Liebesworte zu erwiedern, über alle Maßen. Es verging ihm die Zeit dabei und außerdem konnte man ja doch nicht wissen, ob die neue Magdalene nicht zuletzt von der wandellosen Treue ihres Verehrers gerührt werden und ihm dieselbe auf das Anmuthigste belohnen würde. Gilbert hatte Erfahrung genug, um zu wissen, daß oft die sprödesten und widerspänstigsten Mädchen nach einiger Zeit die freundlichsten und hingebendsten werden und daß gerade eine so erzwungene Liebe die genußreichste ist. Darum fiel es ihm nicht ein, seine Nachstellungen aufzugeben und die Vorschriften des Kapitäns zu befolgen.
Als er den Beschluß Biancas hörte, schimpfte er ganz lästerlich, setzte seinen bebänderten Hut schief auf den Kopf und rannte in den Garten, um an dem Rutschberge zu arbeiten, dessen Erbauung ihm Aurel erlaubt hatte.
»Erst soll die verdammte Hexe doch noch Arm und Beine brechen!« rief er aus. »Ja das [] soll sie oder – ich gehe wieder zu Schiffe. Verdammtes Landrattenleben! 's Ist langweilig zum Sterben!«
Und wüthend, als säßen ihm Schweißhunde auf den Fersen, häufte er Schnee auf Schnee, schleppte Wasser und arbeitete sich so matt und müde, daß er an diesem Abende nicht einmal das Spalier erklettern und vor dem Fenster seiner grausamen Schönen eine verliebte Serenade ächzen konnte. –
Inzwischen kam der Tag heran, auf welchen Aurel seine Reise nach Boberstein in Begleitung Bianca's festgesetzt hatte. Es war derselbe Tag, an dem Leberechts Haus im Gebirge von den Flammen verzehrt wurde. Zuvor hatte der Kapitän seinem Bruder freundlich geantwortet und ihm gemeldet, daß die jugendliche Bianca, eine seiner Dienerinnen, nach Boberstein abreisen werde, um sich Adrian vorzustellen. Bereitwillig setzte Adalbert den Fabrikherrn von seinen Bemühungen in Kenntniß und zeigte ihm den baldigst zu erwartenden Besuch an.
Auf diesem Ausfluge begleitete nur Paul noch seinen gräflichen Freund. Sloboda war mit dem Maulwurffänger in dessen Heimath [] zurückgekehrt und Gilbert mußte zum Schutz der Damen auf dem Zeiselhofe bleiben.
Paul wollte seine Schwester, Maja Simson, kennen lernen und ihr von der verstorbenen theuern Mutter, von seinen im Kampfe für Polens Freiheit gefallenen Brüdern erzählen. Und Aurel, der nunmehr ebenfalls in ein halbgeschwisterliches Verhältniß zu Paul getreten war, hatte die Absicht, den in Schmerz und Groll und Rachegedanken hinbrütenden Martell von dem bisherigen Schauplatz seiner Leiden zu entfernen und durch unmittelbaren Verkehr mit ihm, durch heitere, liebeathmende Umgebung mildernd auf ihn einzuwirken.
Mit so löblichen Vorsätzen erreichten sie bei guter Zeit Dorf und See. Ueber beiden lag die schwere dunkle, langsam nach der Haide fortrollende Rauchwolke der Fabrik, ein Anblick für Bianca, der das nicht unempfindliche Mädchen gleichermaßen fesselte und erbeben machte. Die ungeheuern Gebäude auf dem Felsen im See, das bewegte Leben auf diesem selbst, der mit Hand- und Zugschlitten aller Art bedeckt war; das dröhnende Rollen und Schwirren in der stillen Luft, das immer zitternd wie die ferne[] Stimme eines Erdbebens in der Luft schwebte; das umfangreiche, ärmliche Dorf mit den geflickten oder mit alten Lumpen verstopften Fenstern, mit den schadhaften Dächern ohne Schornsteinen und dem ganzen Aeußern eines Anfenthaltes von unglücklichen Bettlern machte den tiefsten Eindruck auf Bianca. Ihre Augen schwammen in Thränen, als sie diese entsetzlichen Contraste erblickte – dort der unermeßliche Reichthum mit der Zwingburg, die ihn schaffte und täglich mehrte, und hier die namenloseste Armuth mit den unverkennbarsten Zeichen eingerissener moralischer Verwilderung. –
Sie trat mit Aurel und Paul zuerst in die Hütte Martells, des gräflichen Spinners.
Ein Schrei wäre beinahe ihren Lippen entschlüpft, als der immer finstere und meistentheils schweigsame Martell beim Eintritt des unerwarteten Besuchs von seinem Schemel sich erhob und die reich und modern gekleidete junge Dame begrüßte. Doch faßte sich Bianca eben so schnell und beseitigte die plötzliche Aufregung mit den leis geflüsterten Worten:
»Gott sei Dank, er ist es nicht! Aber welche Aehnlichkeit! Welch interessante Züge!«
[] Aurel achtete nicht auf das erschrockene Mädchen, dasselbe der freundlich geschäftigen Lore überlassend. Bieder, offen, vertrauensvoll erfaßte er Martells beide Hände, küßte und umarmte ihn wie einen Bruder und hoffte gerade durch so ungeheucheltes Kundgeben seiner uneigennützigen wahren Bruderliebe den Unglücklichen seinem unheilvollen Grübeln zu entreißen und zu wohlthuenden Mittheilungen zu bewegen. Ebenso ließ es sich Paul angelegen sein, den finstern Spinner durch herzliches Fragen und Erkundigen mittheilsam zu machen. Leider aber mußten Beide erfahren, daß diesem jetzt versteinerten Herzen oder verstörten Gemüth auf keine Weise beizukommen sei! Still, gelassen, ohne eine Miene zu verziehen, hörte der Spinner die Erzählungen seiner Blutsverwandten an, nur ein zitternder, wilder Händedruck sagte, daß er sie verstehe und ihnen danke. Der Schmerz Martells mußte entsetzlich sein; nur ein so titanenhaft gebildeter Körper und eine so stolze und ungebändigte Seele, wie sie in diesem leidenschaftlichen Kopfe lebte, vermochten ihn zu ertragen.
Mit eigenthümlichen Empfindungen, die ihr [] Herz hörbar klopfen machten, trat Bianca um die Mittagsstunde, von Paul begleitet, den Weg nach der Insel an. Adrian hatte sie um diese Zeit zu sprechen begehrt. Es beschlich sie eine unerklärliche Angst, je näher sie dem schwarzen Felsencoloß mit den weißschimmernden Fabrikgebäuden auf seinem Scheitel, kam, und fast reute es sie, eine Zusage gegeben zu haben, von der sie ja nicht wußte, ob sie dieselbe würde halten können.
Auf der Insel angekommen, empfing sie Vollbrecht mit Herzlichkeit, doch konnte er einen leisen Seufzer nicht unterdrücken, als er das wirklich ungemein schöne Mädchen erblickte, und den Kopf mißbilligend schüttelnd, sagte er betrübt: »Solch Glück verdient der Mann nicht, und Sie, mein liebes Fräulein, Sie werden sich ewig Vorwürfe machen, wenn Sie sich, verführt durch seine bestechenden Redensarten, mit Banden an ihn fesseln lassen, die Sie nicht willkürlich lösen können! Darum, mein Fräulein, empfehle ich Ihnen Vorsicht, Vorsicht in allen Dingen!«
Diese Worte konnten die Zuversicht Biancas nicht vermehren. Zagenden Schrittes, mit kurzem Athem und bleichem Antlitz folgte sie [] dem meldenden Diener, während Paul bei Vollbrecht zurückblieb. Bianca ward in das glänzende, nicht sehr große, aber mit desto größerem Comfort und im feinsten Geschmack ausmeublirte und decorirte Empfangszimmer geführt, das ein starkes wohlriechendes Arom durchzog, welches aus einer silbernen Pfanne auf dem Kamine in hellblauen Ringelsäulen emporstieg. Hier verabschiedete sich der Bediente mit der Bemerkung, daß Herr am Stein sogleich erscheinen werde.
Bianca lehnte sich gegen einen runden, sehr geschmackvoll gearbeiteten Blumentisch, der das mittelste Fenster des Zimmers grade ausfüllte, und mit den schönsten Exemplaren seltenster ausländischer Gewächse ansprechend aufgeschmückt war. Zu beiden Seiten standen auf kleinen runden gußeisernen und bronzirten Gestellen andere wohlriechende Blumen, die das liebliche Duften ihrer Kelche mit dem kostbaren Rauchwerk vereinigten.
Nach wenigen Minuten öffnete sich eine Seitenthür und Adrian trat ein. Er ging nachlässig vornehm in einem feinen, bequemen Rock von bronzefarbenem Tuch gekleidet, trug in der rechten Hand einen seidenen Foulard und wehte [] sich bisweilen Luft damit zu, als bedürfe er der Kühle. Sein Gesicht war blaß, eingefallen und trug noch die Spuren der kaum überstandenen Krankheit. Das dünne braune Haar hatte er aus Stirn und Schläfen gestrichen, wodurch die schöne Form des intelligenten Kopfes scharf hervortrat.
Mit funkelndem Blick und graziösem Lächeln begrüßte er Bianca herablassend. Diese aber erbebte vor dem mittelgroßen, hagern, bleichen Manne mit dem tiefen kaltglühenden Tigerauge. Sie mußte sich festklammern an den Blumentisch, um nicht umzusinken, denn sie fühlte, wie ihr die Sinne zu vergehen drohten.
»Er ist es!« lispelte sie unverständlich, mit dem Ausdrucke des Entsetzens ihr schönes Auge auf ihn heftend. »Er, der schamlose Lügner, der herzlose Verführer und Mörder meiner armen Schwester!«
Adrian hörte nur ein unverständliches Murmeln und da er das Erbleichen Biancas und ihr sichtliches Zusammenbrechen sah, glaubte er, der allerdings etwas sehr starke Blumenduft verbunden mit dem süßen Arom des Räucherwerkes habe die Nerven des schönen Mädchens angegriffen [] und sie diesem Zustande der Ohnmacht nahe gebracht. Dienstbereit eilte er daher auf die Sinkende zu, schoh rasch einen bequemen Polsterstuhl heran und umfing sie gerade noch zu rechter Zeit, um sie sanft in die weichen Kissen niedergleiten zu lassen.
»Mein Gott,« sagte er, diesmal mit ungeheuchelter Theilnahme, »die Schwüle in diesem üherheizten Zimmer wird Sie umbringen, armes liebenswürdiges Wesen! Fühle ich selbst mich doch unwohl! Aber die ser Aether, womit ich mein Tuch getränkt habe, wird Ihnen bewundernswürdige Dienste leisten. So – so! – Es ist ein wahrer Lebenszauber in diesem Aether!«
Und Adrian von Stein betupfte Stirn, Lippen und Schläfen der matt Aufathmenden mit seinem Taschentuche, bis sich die Erschütterte sichtlich wieder erholte.
Diese kurze Spanne Zeit war aber auch hinreichend gewesen, dem von Natur beherzten Mädchen ihre ganze Spannkraft und Entschlossenheit wieder zu geben. Sie wollte nur noch wissen, ob auch Herr am Stein sich ihrer noch erinnerte, um ihr Benehmen danach einzurichten. [] Deshalb erhob sie sich jetzt dankend aus ihrer gedrückten Lage und schlug langsam, forschend die großen Augen zu dem gewissenlosen Manne auf. Adrian wich diesem langen, tiefen und heißen Blicke nicht aus, vielmehr sog er ihn mit dem wollüstigen Behagen eines Durstigen ein, der lange nach Kühlung, nach Linderung und Erquickung geschmachtet hat. Er erkannte sie nicht! –
Nun erst holte Bianca beruhigt Athem; ihr Entschluß war gefaßt, ihr Plan in einem Augenblick entworfen. Sie wollte Rache nehmen an dem Ehrlosen, für die an ihrer unglücklichen Schwester begangene Schändlichkeit. Sie fühlte urplötzlich die ganze Folterqual Martells und begriff, wie dieses trotzigen Mannes unverwüstliche Natur nach dem süßen Genuß der Rache schmachten und zittern müsse! Aber Bianca war ein Weib, ein betrogenes Weib! – Männer hatten ihr Liebe, Verehrung, Anbetung geheuchelt und doch nur augenblicklichen Reiz gesucht! – Sie hatten die Flehende verhöhnt, der Darbenden nicht einmal ein Almosen gereicht! – Solche Lieblosigkeit, solch grausamer Egoismus hatte in ihrem Herzen die edleren Gefühle zwar [] nicht getödtet, aber abgestumpft, und den berechnenden Verstand über das blinde Zucken des getretenen Herzens zum Wächter gesetzt. Bianca konnte sich verstellen! –
Kaum also hatte sie die Ueberzeugung gewonnen, daß Adrian am Stein nicht ahne, wer vor ihm stehe, als sie auch bereits einen vollständigen Sieg über den nichtswürdigen Heuchler errungen hatte. Das reizendste Lächeln auf ihren blühenden Lippen, verbeugte sie sich jetzt tief und ehrfurchtsvoll vor dem reichen Herrn und sagte mit musterhaft geheuchelter Befangenheit:
»Verzeihen der gnädige Graf einem armen Mädchen, daß es sich so sehr vergessen und in Ew. Gnaden Gegenwart eine ungebührliche Schwäche zeigen konnte! Verzeihen Sie, gnädigster Herr!«
Und demüthig suchte sie die Hand Adrians, um sie Vergebung erflehend zu küssen.
»Nicht doch, mein Fräulein!« sagte dieser abwehrend, während ein sonderbarer Schauer durch seine Nerven bebte, der in den flammenden Augen des verschämten Mädchens seine Quelle zu haben schien. »Nicht doch, mein [] Fräulein! Wenn hier irgend Jemand um Entschuldigung zu bitten hat, so kann nur ich es sein! Aber der unachtsame Schelm von einem Diener soll dafür büßen! Lieber Gott, was hätte ich beginnen sollen, wenn ein Schlagfluß diese schönen Glieder gelähmt, die Pulse in diesem reizenden Körper stocken gemacht hätte! Meine Seelenruhe wäre dahin gewesen auf ewige Zeiten!«
»Der gnädige Herr haben ein solches Unglück nicht zu befürchten,« erwiederte Bianca mit schelmischem Lächeln und mit so schmelzend feuchtem Blick, daß Adrians Innerstes wie von einem elektrischen Funken getroffen wurde, »Ihre herablassende Güte vermag nur aufzurichten, Ihr liebevolles Auge die Schwachen nur zu stärken! Nochmals, gnädigster Herr, Verzeihung, und tausend Dank, daß Sie einem so tief unter Ihnen stehenden Geschöpf so aufrichtige Theilnahme schenkten!«
»Ein himmlisches Wesen! Ein wahrer Engel!« sagte Adrian für sich. »Dieses Mädchen muß bei mir bleiben oder ich bin ein unglücklicher Mann!« Dann wandte er sich zu der noch immer mit demselben schwimmenden [] Blick zu ihm aufschauenden Mädchen und fuhr laut fort:
»Ich hoffe, mein holdes Kind, daß ich mich Ihnen später werde erkenntlich erweisen können; denn ich will nicht Ihre Willfährigkeit, in meine Dienste zu treten, in Zweifel ziehen! Wenn ich dies einmal schon meiner selbst wegen wünschen muß, so möchte ich auch andrerseits um Ihretwillen, daß Sie die Oberaufsicht in diesem Hause übernähmen. Ich bin allein, einsam, ja verlassen, denn, was Ihnen ja kein Geheimniß mehr sein kann, Einer meiner Brüder hat sich von mir losgesagt! Da wäre es mir nun wohl zu gönnen, daß in diese stillen und verödeten Räume das schöne Bild eines guten reinen Menschen träte, der durch seine Liebenswürdigkeit mir die Grillen verscheuchte und die finstern Stunden durch sein heiteres Geschwätz fern von mir hielt! – Sie sind mir empfohlen, liebes Kind, und obwohl ich mit einigem Mißtrauen Ihrer Ankunft entgegensah, weil ich Sie ja unter dem Schutze des mir feindlich gesinnten Bruders wußte, so habe ich doch beim ersten Blick in Ihr kindlich klares Auge mein Unrecht sogleich erkannt und es Ihnen von ganzem Herzen [] abgebeten! Bleiben Sie also bei mir, Bianca! Es wird zwischen uns keines ängstlichen und kleinlichen Abkommens bedürfen, um uns gegenseitig einander Vertrauen einzuflößen. Das meinige haben Sie wenigstens schon jetzt vollkommen und unbedingt!«
Adrian reichte Bianca die Hand. Diese legte schamhaft zögernd die ihrige hinein, indem sie mit leicht gerötheten Wangen erwiederte:
»Leider muß ich bekennen, gnädigster Herr, daß ich mich weit größerer Lieblosigkeit gegen Sie schuldig gemacht habe! Nicht blos Mistrauen gegen die Redlichkeit Ihrer Absichten erfüllte mich, ich hielt Sie auch für einen gar argen Tyrannen nach dem, was ich von Ihnen gehört hatte, und dachte einen Unhold, ein giftig blickendes Ungeheuer in Ihnen zu finden! Da mir nun von dem Allem das Gegentheil begegnet ist,« setzte sie mit naivem Lächeln und wiederholtem schalkhaften Blinzeln ihrer glänzenden Augen hinzu, »so werden Sie wohl mein Erstaunen natürlich finden und mir die Unartigkeit desselben vergeben.«
Adrian war entzückt von den Antworten wie von dem ganzen Benehmen dieses bezaubernden [] Mädchens. Er hatte nie geliebt, höchstens aus Lust an Intriguen oder den Neigungen der Natur zu genügen, leichtfertige Verbindungen geschlossen, die er nach Erreichung seines Zweckes gleich seinem dämonischen Vater wieder fallen ließ. Bei Magnus hatten diese an dem schwächeren Geschlecht begangenen Frevel etwas Großartiges, weil seine Leidenschaft heiß, zügellos, blind, einer Raserei zu vergleichen war. Wo Magnus sündigte, da mußte etwas in ihm lodern, das den Glanz seiner momentanen Neigung von der hehren Flamme der wahren Liebe entlehnte. Adrian dagegen war völlig leidenschaftslos. In ihm dachte und rechnete nur der Verstand! Daher trugen alle seine Vergehungen, mochten sie einen Namen führen, welchen sie wollten, den Stempel der Gemeinheit. Adrian sündigte auch mit dem Verstande, berechnend, schlau, mit größter Vorsicht.
Vielleicht empfand er auch bei dem geschilderten Zusammentreffen mit Bianca nichts Tieferes, Dauernderes; vielleicht waren die angenehmen Regungen, die ihn durchströmten, nur das willenlose Zittern, das dem sinnlichen Reiz vorangeht; dennoch aber hatte der eigenthümliche, [] unbeschreibliche Blick des schönen Mädchens ihn vollkommen bezaubert! Wie stark und anhaltend diese Bezauberung war, bemerkte er erst, als er Bianca entlassen mußte. Er fühlte, daß ein Theil seines unsichtbaren Seins mit dem davoneilenden Mädchen verschwand, daß eine namenlose, bisher nie empfundene Leere in seinem Herzen entstand, die sich durch nichts ergänzen ließ! Adrian hatte seinen Fuß auf die Schwelle gesetzt, die vor der finstern Pforte des Unglücks liegt. Er begann unglücklich zu werden! Der rächende Finger der Nemesis hatte ihn berührt, und mit dem Kusse, den er der kokett Widerstrebenden beim Abschied auf die Stirn hauchte, hatte er dieser furchtbaren Göttin das Gastrecht in seinem Hause eingeräumt.
Bianca ward von Adrian als Haushälterin unter Bedingungen angeworben, die man dem habgierigen Manne nicht zugetraut hätte. Es ward festgesetzt, daß dieselbe schon am ersten Februar ihr neues Amt antreten und ganz allein über die innern Angelegenheiten des Hauses zu verfügen haben solle!
Adrian genehmigte Alles, um nur das [] wunderbare Mädchen bald wiederkehren zu sehen. Als sie sich endlich nicht mehr halten ließ, sah er der mit Paul über den See Wandelnden nach, bis sie hinter den ersten Häusern des Arbeiterdorfes verschwand.
»Ach,« rief er tief aufseufzend aus, »ein Mann ist doch unglücklich, wenn ihm kein liebendes Weib zur Seite steht! Ich werde mich verheirathen, sobald der Prozeß entschieden ist!« – –
Es schlug zwei Uhr, als Bianca wieder in Martells Hütte trat. Ihre Wangen glühten, ihr Auge flammte. Sie glich in der reichen glänzenden Lockenfülle ihres schwarzen Haares, das vom raschen Gange in liebliche Unordnung gerathen war, einer zürnenden Pallas Athene. Ein Helm auf dieses schöne Haupt mit dem kecken Profil gestürzt, mit Schild und Schwert Arm und Hand dieses Mädchens bewaffnet, und Bianca wäre in eine entzückende Heldin verwandelt worden.
Aurel erkannte sie kaum wieder.
»Was ist geschehen?« fragte er bestürzt. »Sie zittern vor Aufregung, vor Empörung! Hat mein Bruder Ihnen unwürdige Fragen vorgelegt?«
[] Bianca lächelte. So entsetzlich schön würde eine Hyäne lächeln, wenn sie die Gestalt eines reizenden Weibes annehmen könnte.
»Herr am Stein war die Artigkeit selbst,« versetzte sie, »und mit Vergnügen werde ich in seme Dienste treten.«
»Bianca, das ist nicht Alles!« fiel Aurel ein. »Sie verheimlichen uns etwas. Die Flamme in Ihrem Auge gemahnt mich an den kalten Todtenschein, der mich zuerst auf Sie aufmerksam macht! Sie verabscheuen meinen Bruder!«
»Verabscheuen? Ja, könnte ich ihn doch auch verachten! Aber ich muß ihn ja nur hassen, ewig, unersättlich hassen!«
»Und wollen dessen ungeachtet in seine Dienste treten?«
»Eben deshalb! Aber ich werde ihm nicht dienen, ich werde ihn mir dienstbar machen. Er soll die Hölle haben auf Erden!«
»Bianca! So schön, so liebenswürdig –«
»Und so vom Teufel besessen? Ja, lieber Kapitän! Nicht nur in diesen Hütten gibt es Todte zu rächen, es leben auch anderwärts Seelen, die gleich diesen Armen nach Rache schreien. Ich schließe mich ihnen an und reiche [] diesem finstern, verschlossenen Manne, diesem von der Bosheit und Schlechtigkeit der Menschen verstoßenen Bruder meine schwache Hand zum Bunde der Rache. Martell, bald vielleicht Graf Martell, wollen Sie mir zur Seite stehen und mich stützen und ermahnen, wenn ich zu schwach werden und das Weib in mir siegen will?«
»Zur Rache bis in den Tod bleibt Martell Ihnen ein treuer Gefährte!« sagte der Spinner und preßte die dargereichte Hand des exaltirten Mädchens an seine Brust.
Aurels Fragen, was ihr zugestoßen, wodurch sie so namenlos, ja dämonisch gegen Adrian aufgebracht worden sei, ließ Bianca unbeantwortet und vertröstete ihn auf spätere Tage, wobei sich denn der theilnehmende Kapitän beruhigen mußte.
Gegen Abend verließen die drei Reisenden wieder das Dorf am See. Als sie an dem Kretscham vorüberfuhren, traten zwei als Köhler gekleidete Gestalten in die Gaststube.
Es waren Blutrüssel, der Mörder, und Herta's Sohn, Klütken-Hannes.
Ende des vierten Theiles.
Fünfter Theil
Neuntes Buch
Erstes Kapitel.
Zwei Briefe.
Drei Wochen nach den zuletzt mitgetheilten Vorgängen finden wir im Hause des Maulwurffängers den Schulmeister Gregor, den frommen Schlenker und den Wenden Sloboda um den Wirth versammelt. Es ist der 13. Februar, der Geburtstag Maja Simsons. Pink-Heinrich, mit Abglättung eines Blaserohrs beschäftigt, hat seine Freunde so eben auf die Wichtigkeit dieses Tages aufmerksam gemacht und bedauert, daß er der schwer geprüften Frau nicht persönlich seine Glückwünsche darbringen könne, denn in Folge schnell eingetretenen Thauwetters sind alle Flüsse ausgetreten und fast überall hin die Communication gehemmt. Selbst vom Zeiselhofe hat man seit mehrern Tagen keine Nachricht erhalten.
[] Schlenker, der, wie gewöhnlich, auf der Bank am Ofen saß und auf der rechten Seite die zerlesene alte Bibel mit der zinnernen Schnupftabaksdose, auf der linken gesalzte Düten liegen hatte, schüttelte den Kopf, warf seine Hand mit dem wackelnden Zeigefinger an's rechte Auge und ließ sich folgendermaßen vernehmen:
»Es ist mit tausend Schrecken, was noch heutigen Tages bei Vornehmen und Reichen passirt! In den Büchern der Chronika und der Könige liest man nichts Grausamlicheres! 's Ist eine auserlesene Geschichte, und ich wollte schon, daß ich schreiben gelernt hätte und die Worte setzen könnte, wie unser lieber Schulmeister, so schrieb ich Alles haarklein auf, wie sich Unglück und Verbrechen, und Strafe Gottes und menschliches Irren durch einander gemengt haben. Das müßte ein Hauptbuch werden für Junge und Alte, und eine moralische Erzählung würde ich's betiteln!«
Schlenker ließ den lahmen Arm fallen, ergriff die Dose, nahm eine tüchtige Prise und pfropfte sie, den Oberkörper bis auf seine Knie herabbeugend, in seine breite Stumpfnase. Gregor [] wiegte bedächtig den Kopf, drehte seinen großen Rohrstock und sagte:
»Natürlich! Eine moralische Erzählung für Kinder und Erwachsene. Ganz Natur!«
»Ich möchte schon wissen, wie Ihr das anfangen wolltet, Freund Schlenker?« fiel der Maulwurffänger ein. »Freilich, Moral steckt ein gut Theil in der vornehmen Herrengeschichte, wie sie aber ein vernünftiger Christenmensch zu einem Schulbuche zurechtschneiden will, das begreife ich nicht!«
»Nichts leichter wie das,« sagte Schlenker, die Hand wieder an's rechte Auge schleudernd, wo dann sogleich der wackelnde Finger mit dem krummen, langen und braunblauen Nagel seinen angewiesenen Platz einnahm. »Da ist z.B. das uneheliche Kind Maja, Haideröschens Tochter, am dreizehnten Februar geboren, hat von Kindesbeinen an ein Leben geführt, wie Hiob und Lazarus zusammen, und ist wie verlassen von Gott gewesen bis jetzt! Nutzanwendung aus dieser herzbrechenden Geschichte: weil Maja am 13. Februar zur Welt gekommen ist und zwar als ein Kind, das nach dem Willen des grundgütigen Gottes eigentlich gar nicht hätte geboren [] werden dürfen und sollen, darum und in Anbetracht der erschrecklichen Folgen der Erbsünde hat das arme Weib an die vierzig Jahre im Elende schmachten und allen Jammer dieser Erde gründlich auskosten müssen, zuletzt aber kommt der Herr, reicht der frommen Dulderin seine Hand und nimmt sie als eine Auserwählte zu Gnaden an! – Nun, ist das nicht eine Moral mit tausend Schrecken?«
Und wieder fiel der steife Arm des Herrnhuters auf den Deckel der Dose, um der immer hungrigen Nase neue Nahrung zufließen zu lassen.
»Kreuzhimmeldonnerwetter,« fuhr der Maulwurffänger auf und warf das Blaserohr so heftig auf den weiß gescheuerten Lindentisch, daß es einen feinen Sprung bekam, »Ihr seid ein Narr mit tausend Schrecken! Ich glaube gar, Ihr beweist mir noch in Eurer unergründlichen Weisheit, daß wir der blinkerblanken Gnade Gottes die Aufdeckung all der erbaulichen Schurkereien zu verdanken haben, über die sich gegenwärtig die hohen Gerichtshöfe des Königreichs die Köpfe zerbrechen!«
»Wir sind Würmer des Staubes ohne die [] Gnade,« docite Schlenker, »und so ein Mensch aus dem Gnadenstande verstoßen wird, so bleibt er verloren hier und dort, und all sein Trachten ist nichtig, all sein Reden vergleichbar dem Klingklang einer tönenden Schelle, die Niemand verstehen kann!«
»Habt Ihr das in der Kirche gelernt, daß Gott erbarm?« fragte der Maulwurffänger, seine Arbeit wieder vornehmend.
»Mir ist das Verständniß gekommen im Tempel des Herrn und in der Kammer der Trübsal, wenn meine Seele im Gebete rang.«
»Ihr scheint mir allzu lange gerungen zu haben, Schlenker! Die gute Seele ist dabei aus den Gelenken geschnappt und kann sich nun nicht mehr zurecht finden in Euerm Kopfe.«
»So man uns verachtet, so gewinnen wir an Heiligung und wachsen in der Gnade des Herrn!« versetzte Schlenker, schlug die Beine über einander, setzte sich eine große Brille vorn auf die Nasenspitze und nahm die Bibel vor, in der er sehr eifrig zu blättern begann.
Der Maulwurffänger mußte lächeln. Sich zu Sloboda wendend, der mit großer Ausdauer aus frisch geglühtem Draht Fangdrähte bog [] und die nöthigen Bindfäden daran knüpfte, sagte er:
»Um die Rechtgläubigkeit ist's doch eine schöne Sache, Jan! Die hilft Dir über Berge hinweg, und reichten sie hinauf bis an den Mond; die trägt Dich unvermerkt über Millionen Meilen breite Abgründe! Kurz, die gleicht nahezu der Allmacht selbst! Sei rechtgläubig, und Du hörst nicht, wenn Dich Jemand einen Schalk schimpft! Gutwillig, nicht murrend und nicht mucksend, läßt Du Dich lästern, schlagen, hänseln, Alles, weil Du fest überzeugt bist, daß jedem Auserwählten solche Fatalitäten zustoßen müssen. Weiß Gott, ich möchte schon manchmal ein Rechtgläubiger sein!«
Schlenker nahm die Brille wieder ab, legte sie in die Bibel und schlug das Buch zu. In etwas predigendem Tone, nur weniger salbungsvoll, sprach er:
»Gott will nicht, daß der Sündige untergehe, sondern daß er lebe und sich bekehre! – Das, seht Ihr,« fuhr er fort, mit seiner plumpen, ungewaschenen Hand auf die Bibel schlagend, »das steht da drin, und weil meine alten Augen just jetzunder darauf gefallen sind, will ich [] Eure wegwerfenden Reden nicht gehört haben, sondern thun, als hättet Ihr nicht gesprochen. Das steht einem alten Manne wohl an, der sich zu jenen Geduldigen zählt, von denen der Herr sagt: Nehmet Euer Kreuz auf Euch und folget mir nach! – Denn seht Ihr, Heinrich, obwohl Ihr ein böses Maul habt, gleichsam eine Schnauze, so bin ich Euch doch von Herzen gut, denn Ihr seid bei all Euern Schwächen und Eurer unglücklichen Neigung zum Spotten, doch ein Mann, der unter Tausenden gescheidt ist mit tausend Schrecken!«
»Wenn ich das wirklich sein sollte, so würde ich das nach meiner religiösen Ueberzeugung die Gnadenwahl nennen.«
»Natürlich, natürlich!« sagte der Schulmeister.
»Hm! 's ist erstaunlich!« murmelte Schlenker. »Aber es soll nichts ausmachen. Wir wollen gute Freunde bleiben, Heinrich, und wenn's Euch beliebt, von der Gnadenwahl wieder auf den Geburtstag Maja's zurückkommen, obwohl's ein Tag von böser Vorbedeutung ist! Judas, wißt Ihr, verrieth seinen Herrn und Meister, weil er der Dreizehnte war, und seit der Zeit [] ist die Zahl dreizehn, wo immer sie uns begegnet, bei gläubigen Christen eine Unglückszahl.«
»Es wird kein Freudentag für sie sein,« sagte Sloboda, »denn was sie seither von sich und ihrer Mutter erfahren hat, heißt bittern Wermuth schütten in den Kelch ihrer Schmerzen.«
»Schmerzen und Leiden reinigen und läutern das Gemüth,« bemerkte Schlenker. »Darum gibt's keine größere Wohlthat für ein recht sündhaftes Menschenkind, als wenn er so zu sagen mit Bekümmernissen und Trübsalen überschüttet wird! Der stürmische Martell ist freilich nicht dieser gotterleuchteten Ansicht, aber dafür ist's auch ein Mensch mit tausend Schrecken!«
»Natur! Natur! Ganz Natur!«
»Thut mir den außereinzigen Gefallen, Bruder Gregor und Schlenker,« fiel der Maulwurffänger wieder ein, »und laßt den braven Martell in Ruhe! Wollte Gott, wir hätten ein paar tausend so treuherzige und felsenfeste Menschen, es würde dann wahrhaftig besser aussehen auf Erden! Martell nenne ich meiner Religion nach einen Mann nach dem Herzen Gottes!«
Schlenker warf mit krampfhaster Bewegung seine Hand an die Stirn, ließ sie jedoch gleich [] wieder fallen und begnügte sich unter Murren und Seufzen eme große Prise einzuschlürfen.
»Unbegreiflich bleibt es mir, alter Freund,« sagte Sloboda, »wie Martell nach solchen Offenbarungen im Stande ist, gleich dem gemeinsten Spinner ohne Murren unverdrossen in der Fabrik seines hartherzigen Bruders fortzuarbeiten! Hat er sich nie darüber ausgelassen?«
Der Maulwurffänger legte das Blaserohr bei Seite, zog Stahl, Stein und Schwamm aus der Tasche seines tuchenen Brustlatzes und schlug sich behaglich Feuer an. Erst als die Pfeife tüchtig qualmte, erwiederte er:
»Kapitän Aurel wünschte, daß Martell bis Austrag der Sache die Arbeit bei Adrian einstelle, und erbot sich freiwillig, die Kosten für den Lebensunterhalt seiner Familie zu tragen. Martell aber widersetzte sich diesem großmüthigen Anerbieten hartnäckig. Ich will spinnen und für ihn, der meinen Sohn gemordet hat, arbeiten, sagte er, so lange mich das Gericht nicht frei spricht und ihm, dem ich diene, gleichstellt. Kommt dereinst diese Zeit – und Gott lasse mich sie erleben – dann werde ich als freier, ihm ebenbürtiger Mann Abrechnnng mit ihm halten! – [] Und darin, find' ich, hat der tief gekränkte Mann vollkommen Recht!«
»Arbeitet auch Maja gleich ihrem Halbbruder?«
»Sie ehrt seine Gründe und will dem unglücklichen Bruder nicht nachstehen. Auch ist dies unter den jetzigen Verhältnissen unerläßlich. Durch ein stillschweigendes Uebereinkommen hat man, wie Ihr wißt, die zuletzt gemachte Entdeckung von Maja's Abstammung dem Herrn am Stein verheimlicht. Er weiß jetzt noch nicht, wem mein Aufruf in den Blättern galt und daß die Aufgefundene gleichsam unter seinen Augen wandelt. Dies Geheimniß so lange wie möglich ungelüftet zu lassen, ist unser wohlerwogener Plan, der später seine Früchte tragen wird. Bei der feindseligen Stimmung aller Arbeiter gegen ihren Herren ist es leicht, dies Schweigen Monate lang fortzusetzen. Die Fabrik betritt Adrian mit keinem Fuße mehr, seit er in Martell einen unwillkommenen Bruder gefunden hat, und da Vollbrecht uns blind ergeben ist und Herr am Stein mit diesem ganz allein Alles verhandelt, was Geschäftsangelegenheiten betrifft, so haben wir keinerlei Verrath zu fürchten.«
[] »Nichts desto weniger lebe ich doch immer in Sorgen, trage ich mich stets mit düstern Gedanken, die mir Tag und Nacht die Ruhe rauben!«
»Aber wozu, Freund Jan? Ist es denn nicht genug, daß Du in so kurzer Zeit zwei Enkelkinder wieder gefunden hast? Du bist undankbar, Jan, gegen Gott und seine Barmherzigkeit!«
»Nein, alter Freund, undankbar bin ich nicht, aber mich ängstigt ein unheildrohendes Vorgefühl!«
»Immer noch abergläubisch?« sagte gutmüthig lächelnd der Maulwurffänger. »Dein altwendisches Blut bicht doch überall heraus. Nun, was schwant Dir denn wieder?«
»Ein Unglück Martells!«
»Natürlich! Natürlich!« rief Gregor feierlich und drehte seinen langen Rohrstock.
»Martells?« wiederholte fragend der Maulwurffänger, indem er seine breite Stirn nachdenklich runzelte. »Zu so böser Ahnung sehe ich keine Veranlassung.«
»Aber ich, Freund Heinrich, ich sehe sie deutlich, sehe sie in drohender Nähe! Erinnere [] Dich des Briefes von Paul, den ich gestern empfing! Aber Du hast ihn nicht gelesen, fällt mir ein! Höre also, was er enthält! Martell scheint sich mit energischer Leidenschaft dem Trunke zu ergeben,« schreibt der gute Junge niedergeschlagen. »Ich habe ihn mehrmals in diesen Tagen in einem Zustande künstlicher Aufregung getroffen, die nur von überreichem Genuß des unseligen Branntweins herrühren konnte. Freilich leugnete er, als ich ihn freundlich fragte, aber ich merkte nur zu bald, daß er mich hintergangen hatte; denn als ich spät Abends Maja besuchte, sah ich den Unglücklichen in Gesellschaft zweier Köhler nach dem Kretscham eilen, wo er sich das schreckliche Gift sehr gut schmecken ließ. Die Köhler – oder waren es Holzhändler – hielten ihn frei, denn es schienen wohlhabende Leute zu sein, und Martell mußte sich ganz gut mit ihnen unterhalten, denn er lachte herzlich über die Geschichten, die sie ihm erzählten. Auch dauerte es nicht lange, so gesellten sich noch andere Fabrikarbeiter zu den Dreien, und weil die Fremden sehr freigebig waren und auch diesen ihre Viertelmäßer füllen ließen, war in Kurzem Alles ein Herz und eine Seele. Ich [] sah dem ärgerlichen Treiben durchs Fenster zu, wagte aber nicht, mich blicken zu lassen, da Martell sehr laut und heftig war und die entsetzlichsten Drohungen gegen Adrian ausstieß. Mehr oder minder anhaltend setzte er dies Leben allabendlich fort, und daß es ihm verderblich werden muß, beweist Das Zittern seiner Hände früh Morgens. Auch klagt er häufig über Uebelkeiten. Lore trägt dies neue gegen sie heranschleichende Unglück mit Lammesgeduld, und Traugott betet, da er nur im Gebet Trost und Ruhe für seine Seele findet. Ich aber melde Dir, lieber Großvater, diese unerfreuliche Wahrnehmung, damit Du Dich mit dem Maulwurffänger berathen kannst.«
Pink-Heinrich hatte mit größter Aufmerksamkeit dem Wenden zugehört. Jetzt verließ er seinen Sitz hinter dem lindenen Arbeitstische und trat neben Sloboda.
»Wann erhieltest Du diesen Brief?« fragte er den Greis.
»Gestern, während Du über Land warst.«
»Und an welchem Tage ist er geschrieben?«
»Am achten Februar.«
»Von wo datirt?«
[] »Vom Zeiselhofe.«
Nach diesen raschen Fragen und Antworten ließ der Maulwurffänger seinen Kopf sinken und sah den Wenden mit vieldeutigem Blick lange an.
»Alles erwogen,« sagte er nach einer Pause, »muß Martell dieses ausschweifende Leben wenigstens seit vierzehn Tagen fortsetzen; denn Paul ging Ende Januar nach Boberstein, um Bianca zu Adrian zu bringen, und am sechsten des laufenden Monates ist er spätestens wieder auf dem Zeiselhofe eingetroffen! – Hm! – Und Fremde! Fremde Köhler oder Holzhändler, die allabendlich in der schlechten Schenke am See unzufriedene Fabrikarbeiter frei halten, ihnen Branntwein zu trinken geben, so viel sie wollen? – Könnte nicht irgend eine verteufelte Schurkerei dahinter stecken?«
»Theilst Du nun meine Besorgnisse, meine Ahnungen?«
Der Maulwurffänger drückte dem Wenden statt aller Antwort die Hand, der Schulmeister aber sagte, als sei es Pflicht, für den Bruder zu antworten:
»Natur! Ganz Natur!«
»Ich vermuthe,« sagte Pink-Heinrich nach [] einer Weile, »daß man die unglücklichen Arbeiter zu irgend einer strafbaren Thorheit verführen will, die Martell als der Verwegenste und Aufgereizteste angeben soll! Der Teufel spinnt seinen Zwirn gar nicht dumm; denn wenn ihm das Ding gelingt, wenn sich die Arbeiter von Branntwein und stachelnden Redensarten erhitzt, zu strafbaren Excessen verleiten lassen, so haschen uns die Gerichte den Martell weg, stecken ihn ein und machen ihm als Aufrührer den Proceß. Beim Himmel, es wäre das die leichteste und bequemste Weise, einen gefürchteten Gegner und einen widerwärtigen Bruder auf einmal los zu werden!«
»Mir sind ungefähr dieselben Gedanken durch den Kopf gefahren,« erwiederte Sloboda, »wie man aber Martell warnen und seine Verführer, wenn die fremden Köhler diesen Namen verdienen, von ihm fern halten soll, weiß ich nicht.«
»Das wird Zeit und Mühe kosten! Vor Allem muß man die freigebigen Herren kennen lernen, um zu ermitteln, ob sie sich blos auf ihre eigene Faust einen Scherz machen, oder im [] Solde eines Dritten stehen und in dessen Auftrage handeln.«
»Wer, alter Freund, soll hier spioniren! Wir Beide –«
»Haben keine Zeit dazu, das seh' ich ein. Da lebt aber der muntere ausgelassene Zeisig, der gelenke Gilbert auf dem Zeiselhofe. Ihm wird die Zeit übermäßig lang, er verlangt nach Beschäftigung, und keine schickt sich besser für diesen aufgeweckten Jungen, als solche, bei der es etwas zu erlauschen gibt, die an's Abeuteuerliche streift. Gilbert ist just der rechte Mann für unser Geschäft!«
»Der Kapitän wird ihn nur kaum von sich lassen – Bianca's wegen!«
»Ich will das schon vermitteln – und übrigens, Bianca lebt ja im Hause Adrians, das der verliebte Matrose schwerlich betreten wird.«
Schlenker hatte diesem Gespräch sehr aufmerksam zugehört, ohne es durch seine frommen Bemerkungen zu unterbrechen. Jetzt aber stand er auf, ging mit vorgebeugtem Oberkörper, die lahmen Arme mit gespreizten Fingern zu beiden Seiten steif herabhängen lassend, zu den beiden alten Freunden und sagte:
[] »Hab' ich's nicht voraus prophezeit, als wär' ich einer der vier großen Propheten, daß es ein Mensch, der von Gott und seinem heiligen Wort so wenig weiß und wissen mag, wie Euer Spinner-Graf, daß solch ein Mann, sag' ich, in der Stunde der Versuchung dem Teufel in die Hände fällt? Er mußte sich fügen und demüthigen lernen, als er seine hohe Abstammung erfuhr! Das hätte ihn zu einem Christen und Gott wohlgefälligen Menschen gemacht. Statt dessen aber flucht und lärmt er und sinnt auf Rache, und da hat Gott seinen Boten ausgesendet und ihm denselbigen zum Begleiter gesetzt! So ist's, meine lieben Freunde! Von verhärteten und verstockten Sündern mag der Herr nichts wissen; woraus folgt, daß auch Ihr Eure Hand von ihm abziehen sollt!«
»Und das nennt nun der wackere Apostel seiner Secte Christenthum!« rief Pink-Heinrich gutmüthig und schmerzlich lächelnd. »Wäre die Gnade und Barmherzigkeit des Herrn, den gerade seine eifrigsten Bekenner am meisten zu lästern pflegen, der ihrigen gleich, die Frommen würden einen harten Stand haben in den paradiesischen [] Gauen, die sie mit so verführerischen Farben zu schildern verstehen!«
Unerwartet flog jetzt ein leichtes Fuhrwerk die Straße herein und hielt vor dem Hause des Maulwurffängers. Gregor erhob sich lothrecht von seinem Schemel und wendete steif den Kopf nach dem Fenster. Schlenker suchte durch wiederholtes starkes Schnupfen seinen Aerger zu verwinden, den ihm die Bemerkung seines Hauswirths verursacht hatte. Zugleich zog er die grauwollenen Strümpfe, die stets schlotternd um seine dünnen Waden hingen, bis an die zerrissenen Kniehosen herauf und schnallte sie mit einiger Mühe fest unter diese.
»Mein Enkelsohn!« sagte Sloboda. »Was kann der bringen?«
»Es muß etwas Wichtiges sein, denn er hat die junge Stute angetrieben, daß sie ganz und gar mit Schweiß bedeckt ist.«
Und beide gingen zugleich dem Jünglinge bis an die Hausthür entgegen.
Paul begrüßte seinen Großvater und dessen treuen Freund mit treuherzigem Handschlage, spannte das Pferd aus und zog es in den Holzschuppen, wo er es eine geraume Zeit auf- und [] abführte. Als er später den Freunden in's Wohnzimmer folgte, sprach Sloboda zu ihm:
»Du bist ein Hiobsbote!«
»Gott Lob, doch endlich einmal eine christliche Redensart!« seufzte Schlenker, klappte die zinnerne Dose auf und bot dem Wenden eine Prise an, die dieser auch in der Zerstreuung annahm.
»Zum Theil, Großvater, komme ich, um der Ueberbringer einer Unglücksbotschaft zu sein,« versetzte Paul. »Leberechts Wohnhaus ist bis auf die Sohle niedergebrannt, Adelbert hat den unglücklichen armen Mann der Fahrlässigkeit beschuldigt und ihn sodann aus dem Dorfe gejagt, da im Gemeindehause keine Stelle frei war. Leberecht hat nun in seiner Verzweiflung die arme Frau bis zu seinem gegenwärtigen Brodherrn geleitet, der den Flüchtlingen auch ein Plätzchen in der Scheuer angewiesen hat für einen Tag und eine Nacht. Am andern Tage mußten die bedauernswerthen Leute, die all' ihre Habe verloren haben, weiter ziehen, und da Leberecht nirgends ein Unterkommen für sich und die Seinen erwarten darf, hat er sich mit einem beweglichen Schreiben an den Kapitän gewandt, und [] für kurze Zeit um Aufnahme seine Familie auf dem Zeiselhofe gebeten –«
»Was ihm Graf Aurel nicht abschlagen wird,« fiel der Maulwurffänger ein.
»Mitleidig ließ er nicht allein sogleich ein paar Kammern in Bereitschaft setzen, sondern er schickte den Abgebrannten auch eine ganze Tagereise weit seinen eigenen Kutschwagen entgegen, um die ermüdeten verlassenen Wanderer so bald wie möglich in Sicherheit zu bringen und ihnen die nöthige Pflege angedeihen zu lassen.«
»Und wie lautet die andere Hälfte Deiner Botschaft?« fragte Sloboda, sich wieder an seine Arbeit setzend.
»Diese kenne ich selbst nicht, Großvater. Der Herr Graf, unser Beschützer und Wohlthäter, hat mir nur einen Brief übergeben, den er mir in unseres Freundes, des Maulwurffängers eigene Hände niederzulegen, wiederholt einschärfte. Hier ist dieser Brief.«
Pink-Heinrich nahm sich nicht erst die Mühe, die Adresse zu lesen. Er zerriß das zierliche Siegel, welches den Abdruck des kleinen Goldringes trug, den Aurel in Hamburg gefunden hatte. Aufmerksam und mit steigender Theilnahme [] durchflog er das Schreiben. Er athmete hörbar auf, als er zu Ende gelesen hatte.
»Darf man fragen?« sagte Sloboda.
»Kapitän Aurel hat Nachrichten aus Hamburg erhalten.«
»Auf seine Briefe? Ist der Gesunkene aufgefunden?«
»Klütken-Hannes hat seinen Keller verkauft und Hamburg verlassen.«
»Das ist auffallend!«
»Noch auffallender kommt es mir vor, daß der arme Trödler einen Paß auf alle deutschen Bundesstaaten genommen und genau eingezogenen Nachforschungen zufolge den Weg nach Osten eingeschlagen hat.«
»Sollte er die Spur seiner Tochter verfolgen wollen? Oder sollte ihm seine unnatürliche Handlungsweise gereuen?«
»Darüber steht nichts in dem Briefe. Nur die Bemerkung ist noch hinzugefügt, daß man guten Grund habe, zu glauben, Klütken-Hannes sei nicht allein aus Hamburg abgereist!«
Der Maulwurffänger lehnte sich schweigend [] gegen die getäfelte Holzwand seines Zimmers und sah mit seinen blitzenden grauen Augen bald gerade vor sich hin, bald auf die Schriftzüge des erhaltenen Briefes. An den strengen Zügen seines ehrwürdigen Gesichtes sah man, daß er angestrengt nachdachte. Niemand störte den Sinnenden, selbst Schlenker schwieg oder unterhielt sich doch nur flüsternd mit Gregor, zu dem er sich auf den Socken geschlichen hatte, um einen langen Disput mit dem einsylbigen Manne zu führen über hochwichtige Missionsangelegenheiten. Schlenker hatte bei dieser Unterhaltung den großen Vortheil, daß er von seinem geduldigen Zuhörer nie oder doch nur durch die längst gewohnten stereotypen Worte: »natürlich« oder »ganz Natur« unterbrochen wurde.
Nach etwa fünf Minuten stand der Maulwurffänger sehr heftig auf und trat so schnell auf Paul zu, daß er den ehemaligen Husaren dabei hart auf seine erfrorenen Zehen trat, was Schlenkern zu den fürchterlichsten Grimassen und zu unbeschreiblich komischen Sprüngen Anlaß gab.
»Heinrich, Heinrich,« rief der Getretene, [] »Ihr seid, verzih' mir's Gott ein Mann mit tausend Schrecken – o weh, o weh – ja mit tausend Schrecken, ach mit tausend Schrecken!«
Lamentirend hinkte der Fromme nach seiner Stube. Der Maulwurffänger achtete gar nicht auf ihn. Mit jugendlich blitzenden Auge fragte er Paul, wenn er glaube, daß die Stute wieder eingespannt werden könne?
»Zwei Stunden genügen, um das Thier volllommen wieder herzustellen.«
»Nun, dann brechen wir alle drei in zwei Stunden nach dem Zeiselhofe aus. Ich muß nothwendig mit dem Kapitän selbst reden. – Du hattest Recht, Freund Jan! Beobachtung thut Noth. Darum mag Gilbert je eher je lieber in die Haide reisen.«
Zwei Stunden darauf verließ der Maulwurffänger mit Sloboda und Paul sein trauliches Häuschen, zu nicht geringem Verdrusse Schlenkers, dem er seiner Unvorsichtigkeit wegen weder ein freundlich entschuldigendes Wort gesagt noch ihm zum Abschiede einen Gruß zugerufen hatte. Der gute Herrnhuter betheuerte nochmals, es sei mit tausend Schrecken, wie[] der Mann mit seinen Nebenmenschen verfahre, und vertiefte sich in die Lectüre jener wichtigen Missionsschrift, deren Vortrefflichkeit er vor Kurzem seinem aufmerksamen Freund Gregor anempfohlen hatte.
[] Zweites Kapitel.
Gezwungenes Abkommen.
Während unsere Freunde dem Zeiselhofe entgegen eilen, jagt eine leicht gebaute Droschke der Haide zu. In Folge des eingetretenen starken Thauwetters waren die an sich schon schlechten Wege beinahe unfahrbar geworden und hinderten das Fortkommen ungemein. Adrian, der Lenker dieses leichten Zweigespanns, stieß vor Ungeduld die ärgsten Schimpfreden aus und ließ seinen Aerger die unschuldigen Thiere entgelten, an denen es wahrhaftig nicht lag, wenn der Wagen nicht im Fluge über Stock und Stein dahin sauste. Der stumme Kammerdiener Jean, den sich Adrian bei all seinen neuerdings unternommenen Ausflügen zum alleinigen Begleiter auserlesen hatte, suchte durch Mienen und Gebehrden [] seinen erzürnten Gebieter zu beruhigen und deutete ihm an, daß ja Niemand dafür könne, und die böse unfreundliche Jahreszeit allein Schuld sei an den schlechten Wegen, die freilich bisweilen noch bloßen Sumpflöchern und Sandlachen glichen. Adrian hörte aber auf alles Zureden nicht. Er schimpfte, fluchte, peitschte nach wie vor, und warf dann und wann einen verzweifelten Blick auf die sich dunkler färbende Waldung.
»Es wird sinkende Nacht, ehe ich zurückkomme,« murmelte er durch die Zähne, »und wenn ich auf diesen grundlosen Haidewegen nicht den Hals breche, kann ich mich obendrein noch bei dem Wegeverderber bedanken. – Jean, der Mensch wird doch sicher auf mich warten?«
Der Kammerdiener bejahte durch Kopfnicken und Adrian ließ pfeifend die Peitsche um die Köpfe der schnaubenden Rosse knallen.
Herr am Stein war auffallend blaß geworden. Hohle fahle Wangen und tief liegende brennende Augen sahen unheimlich aus seinem Reisemantel. Sein ganzes Wesen hatte etwas Hastiges, Unstätes angenommen, das man früher nicht an ihm bemerkte. Dennoch schien dies [] nicht Folge körperlicher Krankheit, sondern mehr geistiger Aufregung zu sein. Die trübe und doch verzehrende Gluth seines Auges zeugte von dem Vorhandensein einer großen Leidenschaft, die nach Befriedigung lechzte und diese trotz der ungeheuersten Anstrengungen doch nicht erlangen konnte.
Es dunkelte bereits, als Adrian das Ziel seiner Fahrt, die Köhlerschenke am Raubhause, erreichte. Die Zügel heftig dem Kammerdiener zuwerfend trat er rasch in die räucherige Barake. Jussuff kam ihm mit demüthigen Bücklingen entgegen und fing schmunzelnd an von der hohen Ehre zu schwatzen, die der gnädige Herr ihm wiederfahren lasse. Ohne darauf zu achten, fragte der Graf barsch:
»Wo stecken die Burschen?«
»Meinen Ew. Gnaden die mir empfohlenen Gäste, so werden Sie die immer sehr durstigen Herren in ihrer Kammer finden! Sie befehlen?«
»Marsch, voran! Ich habe Eile!«
Demüthig öffnete Jussuff die Zuschlagthüre, schritt dem nachfolgenden Grafen einen dunkeln Gang voran und zeigte ihm das Gemach seiner Gäste. Diese waren übrigens so laut, daß [] Adrian auch ohne des Wirths Geleite den Weg zu ihnen gefunden haben würde.
»Du kannst jetzt gehen, Jussuff,« sagte er etwas sanfter. »Gib meinen Pferden etwas Zucker und wirf ihnen ein Bündel Heu in die Krippe. Für mich halte ein Glas Punsch in Bereitschaft. Sobald ich meine Geschäfte mit diesen Burschen abgethan habe, breche ich sogleich wieder auf, um noch vor gänzlichem Einbruch der Nacht den schlimmsten Theil der Haide zurückzulegen.«
Jussuff entfernte sich und Adrian trat, ohne anzupochen, in die Kammer, wo Blutrüssel und Klütken-Hannes bei ihrem Lieblingsgetränk saßen, schwatzten, lachten, fluchten und Tabak dazu qualmten. Bei dem Erscheinen des vornehmen Mannes, von dessen Herkunft und Beschäftigung Keiner etwas Bestimmtes wußte, fuhren sie auf und unterbrachen ihr Gespräch.
Adrian nickte stolz zum Gruß und deutete dann auf Blutrüssel, worauf er durch eine leicht zu verstehende Gebehrde zu erkennen gab, daß er mit Klütken-Hannes allein zu sein wünschte. Der feige Mörder schlich knurrend hinaus, wie [] ein Panther, der gezwungen seine Beute verlassen muß.
»Ist es durchaus nöthig, Herr Klütken, daß dieser unaustlehliche Schleicher immer bei Ihnen sein muß?« fragte der Graf, indem er sich mit verschlungenen Armen an die Bretterwand lehnte. Eine Elle über seinem Haupte funkelten zugleich die rollenden Augen des Mörders.
»Ich bin ihm von früher her Dank schuldig, gestrenger Herr,« versetzte der ehemalige Trödler, »und Sie kennen das Sprichwort: eine Hand wäscht die andere!«
»Gut. – Stehen Sie für seine Verschwiegenheit? Denn ich verhehle es Ihnen durchaus nicht, Herr Klütken, daß, wenn Sie ein einziges Wort von unserm Abkommen gegen irgend Jemand verlauten lassen, ich nichts mehr von Ihnen weiß und meine Hand auf der Stelle von Ihnen abziehe!«
Klütken-Hannes lächelte, wenn das Grinsen seines breiten Mundes und das Blinzeln seiner kleinen, blutunterlaufenen Augen ein Lächeln genannt werden kann, und zog das Hirschhornheft eines Schiffermessers aus der Brusttasche seiner Jacke.
[] »Das macht still, mein großmüthiger Herr Gönner, wenn der Dummkopf in lustigem Schwindel ja einmal unsern Pact vesgessen sollte!«
»Verdammter Hund!« murmelte Blutrüssel und rollte seine Augen so entsetzlich, daß sie blutigen Fleischballen ähnlich sahen. Dann zog er sich zurück und drückte die spitzen Zähne an den Bretterspalt, als wäre es ihm Bedürfniß, etwas vor Ingrimm zermalmen zu müssen.
Adrian schien durch die Antwort seines Verbündeten beruhigt worden zu sein. Er warf sich jetzt auf den Schemel und fuhr fort:
»Obwohl ich Ihren Bemühungen, mir gefällig zu sein, meine Anerkennung nicht versagen kann, Herr Klütken, muß ich Sie doch wiederholt ersuchen, auch fernerhin nicht lässig zu sein! Sie haben Anerkennungswerthes geleistet, es ist wahr, allein es genügt noch lange nicht. Dieser Mensch hat die Kraft eines Riesen und die Natur eines Stieres! Wissen Sie, mein Herr, daß er noch jetzt wie am ersten Tage nach Gebrauch der ihm verschriebenen Arznei seine Arbeit ohne Anstrengung verrichtet?«
[] »Ich will ewig verflucht sein, wenn ich's nicht weiß!« schwur der Trödler, ein Glas heißen Branntwein an seine blauen Lippen setzend. »Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich mehr thun kann! Bin's nicht im Stande, Herr!«
»Vielleicht ließen sich die Arzneigaben verdoppeln, da uns die bisherigen Erfahrungen gelehrt haben, daß man dieser unverwüstlichen Natur etwas zumuthen kann.«
»Soll ich?«
»Machen Sie wenigstens einen Versuch.«
»Bei alledem ist das ein Wagstück, mein Herr Gönner; denn sehen Sie, der Teufelskerl hat manchmal die Gewohnheit, einem zuzutrinken, zumal, wenn ihm's Herz aufgeht und die Galle überläuft, und wenn man sich dann weigert, einen tüchtigen Schluck zu nehmen, so wird er unangenehm.«
»Nun, und was thut das?«
»Was das thut? Ei, mein sehr großmüthiger Herr, das kann einem mir nichts Dir nichts das Leben kosten. Denn ein so robuster Kerl ich auch bin, mit dem Martell mag ich doch keine Rauferei anfangen.«
[] Adrian zuckte die Achseln und erwiederte sehr gleichgiltig:
»Es wird nicht gleich ans Leben gehen, Herr Klütken, ein paar Püffe und Striemen müssen Sie aber schon geduldig einstecken, wenn man Sie dafür so anständig bezahlt.«
»Aus Prügeln mache ich mir gar nichts, mein Herr Gönner, denn ich bin in meinem Leben sehr viel geprügelt worden, aber eine Art muß doch Alles haben! Und die hat der Martell nicht!«
»Dann werden Sie ihm Bescheid thun, so oft er es verlangt!«
»Mit doppelt gepfeffertem Trank?«
»Mit verdoppelter Arznei!«
»Herr, das wäre Mord – Selbstmord!«
»Stecken Sie Brechpulver zu sich und trinken Sie viel Wasser dazwischen! Uebrigens haben Sie ja immer einen ganzen Tag Zeit, um sich durch die kräftigsten Speisen wieder zu stärken. Enthalten Sie sich in dieser Zeit aller berauschenden und aufregenden Getränke, so werden Sie nicht die mindeste Abspannung oder gar Hinfälligkeit spüren.«
»Ich kann nicht essen, ohne zu trinken!«
[] »Schlechte Gewohnheit, Herr Klütken, für die Sie mich nicht verantwortlich machen dürfen. Sie sind freiwillig in meine Dienste getreten, und wenn ich für den anständigen Gehalt, den ich Ihnen gebe, verlange, daß Sie mir treu und rücksichtslos dienen sollen, so glaube ich nur billige Rechtsansprüche an Sie zu machen.«
Klütken-Hannes ward unruhig, ob aus Aerger über die Bedingungen seines unheimlichen Wohlthäters oder aus Furcht vor der Zukunft, konnte man aus seinen verwilderten Gesichtszügen nicht herauslesen.
»Ich ersuche Sie dringend, Herr Klütken,« sagte Adrian nach kurzer Pause mit teuflischer Freundlichkeit, »mir gefälligst unumwunden anzugeben, ob Sie gesonnen sind, meinen Wünschen zu entsprechen? Sie sind durchaus frei, wenn Sie wollen, nur freilich fällt alsdann die versprochene Pension weg, da Sie vor Erreichung des ausbedungenen Zweckes aus meinen Diensten treten.«
»Teufel, das ist ein Kerl!« knirschte Blutrüssel, der schon längst seine Augen wieder an den Spalt drückte. »Der hätte vor einigen vierzig Jahren unter uns leben sollen!«
[] »Es ist gewiß und wahrhaftig der leibhaftige Satan!« murmelte Klütken-Hannes, der sich in eine verzweifelte Klemme getrieben sah. Hier gähnte in furchtbarer Nähe das dunkle Grab mit all seinen geheimnißvollen Schauern ihn an und dort drohte das eben so entsetzliche Gespenst der Armuth, des Elendes, der schauerlichsten Verzweiflung! Er wußte nicht, wem er die Hand reichen sollte, und wieder versank er in ein düsteres, brütendes Schweigen.
Mit einem Blick, der fast ins Liebevolle hinüberspielte, betrachtete Adrian sein ihm verfallenes Opfer.
»Sie haben noch zwei Minuten Bedenkzeit, Herr Klütken,« sagte er ungemein höflich und zog die goldene Repetiruhr aus der Tasche.
Klütken-Hannes fuhr auf und ballte unwillkürlich die Hände. Einen Augenblick lang war er Willens, sich auf den entsetzlichen Gebieter zu werfen und ihn zu erdrosseln, aber die Liebe zum Leben und der Durst nach möglichst großem und schnellem Gewinn siegten. Den wüsten Kopf auf beide Hände stützend, sah er starr vor sich nieder, ohne einen klaren Gedanken zu fassen.
[] Adrian verwandte keinen Blick von dem Unglücklichen. Sein Lächeln ward immer freundlicher, immer satanisch verklärter.
»Wenn Sie die Güte haben wollen, Herr Klütken, mir Ihren Entschluß kund zu thnn, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Ihnen grade noch eine halbe Minute Zeit dazu übrig bleibt!«
Er öffnete ruhig die Thür und rief:
»Jussuff, in einer Minute reise ich ab! Sag' es meinem Diener.«
Und wieder trat er mit dem kalten unerbittlichen Auge eines Todtenrichters vor den noch immer Zaudernden.
»Acht Secunden, mein Herr!«
»Donner und Höllenbrand,« fuhr Klütken-Hannes auf, »wenn's nun einmal nicht anders sein soll, so will ich mit saufen! Läuft's schlecht ab, je nun, so war der Rausch vor dem verfluchten Endreigen doch lustig! Hier meine Hand! Von morgen an soll Martell und wer zu ihm hält, doppelte Portionen schlucken!«
»Gute Nacht, Herr Klütken. Ich danke Ihnen verbindlichst!«
[] Adrian verließ die Kammer. Als die Thüre hinter ihm zuschlug, flüsterte er lächelnd:
»Es ist mir ganz lieb, wenn sie Alle mit einander zum Teufel fahren. Bleibt auch nur Einer am Leben, so wäre ich keine Stunde mehr mein eigener Herr! Nein, fort müssen sie, fort für immer! Und im Grunde kann man dieser versoffenen Canaille keinen größern Dienst erweisen! – O über den Esel! Zu glauben, ich würde einen Kerl seines Charakters für einen Schurkendienst Gott weiß wie viele Jahre gleich einem Fürsten erhalten!«
Mit Behagen schlürfte er sein Glas Punsch, ließ sich dann von Jussuff in die Kalesche helfen und fuhr, sehr zufrieden mit seinem Verfahren, wieder nach Boberstein zurück. Ungeachtet der entsetzlichen Finsterniß und der schrecklichen Waldwege erreichte er es doch ungefährdet.
Klütken-Hannes verlebte eine qualvolle Nacht; denn zu seinem Entsetzen mußte er sich die hämischen Vorwürfe seines Verführers und Dieners gefallen lassen, ohne ein Wort darauf erwiedern zu können. Seit undenklichen Zeiten zum ersten Male genoß er keine berauschenden [] Getränke in dieser Nacht, so häufig ihn auch Blutrüssel dazu aufforderte.
Gegen Sonnenaufgang schlichen sich die beiden Verworfenen wieder in Köhlertracht durch das undurchdringlichste Dickicht und erreichten auf großen Umwegen gegen Mittag das Dorf am See.
[] Drittes Kapitel.
Ein Geständniß.
Unter dem Geläut der Feierabendglocke fuhren unsere Freunde durch das Dorf nach dem Zeiselhofe. Sie wurden von manchem Vorübergehenden, der eben seine Mütze zum Gebet abnahm, freundlich gegrüßt; denn in dieser Gegend waltet noch die fromme Sitte, beim Mittag- und Abendläuten, sei's unter freiem Himmel oder im heimlichen Zimmer, mit entblößtem Haupt ein Vaterunser zu beten.
Nach alter Gewohnheit pflegte der Maulwurffänger immer zuerst die Gesindestube zu betreten, um entweder seinen Ranzen nebst Fangdrähten, oder was er sonst grade bei sich trug, abzulegen, oder sich daselbst nach dem Gebieter zu erkundigen. Sloboda hatte von seinem alten [] Freunde die nämliche Gewohnheit angenommen. Ihr erster Gang war daher auch diesmal nach der Gesindestube gerichtet, aus deren Fenstern ihnen bereits das freundliche Glänzen brennender Späne einladend entgegenschimmerte.
Als Pink-Heinrich die schwere Lehmthüre aufzog, gewahrte er in dem großen Raume eine Scene, die ihm ein paar Secunden lang an die Schwelle fesselte.
Wir bitten den Leser, sich zu erinnern, daß die Gesindestube im Zeiselhofe ein großes, mehr langes als breites Zimmer war mit einer Menge Fenster, einer sehr langen Tafel von grobem Holz und einer rund um die Wand laufenden Bank. Dieses Zimmer hatte im Laufe der Zeit keine Veränderung erlitten, es war nicht einmal ausgeweißt worden. Der ungeheure Kachelofen mit dem bequemen Lager hinter ihm, dieselben Schemel und Bänke, wie vor vierzig Jahren, nur wurmstichiger als damals, füllten den nicht eben freundlichen Raum. Sogar das Gezirp und Geschrill der zahllosen Heimchen hatte sich eher vermehrt als vermindert, denn Niemand war es eingefallen, diese unschuldigen Thierchen zu vertreiben.
[] Der Maulwurffänger brachte, wenn man will, aus Angewohnheit gern ein paar Stunden in diesem gemeinschaftlichen Plauderzimmer der Dienstleute zu, denn er liebte es noch immer, das Dienstpersonal mit alten Geschichten zu unterhalten, die hübschen Mägde zu necken und aufzuziehen. Auch mochte ihn alte Anhänglichkeit und jene unerklärliche Wehmuth der Sehnsucht, die sich an Orte knüpft, wo uns in früheren Zeiten Wichtiges begegnet ist, mit energischer Gewalt dahin ziehen.
In diesem Raume nun, den außer den dunkel brennenden Spänen an beiden Enden der langen Gesindetafel noch einige dünne Talglichter sehr unvollkommen erleuchteten, gewahrte der Maulwurffänger eine rührende Gruppe. Umwallt von bläulichen Rauchwolken, die aus dem erlöschenden Wacholderreisigfeuer auf dem geziegelten Theile der großen Stube aufwirbelten, saß eine hagere, fast ganz weiß gekleidete Frau in Landestracht auf der Ofenbank. Um den Kopf trug sie nach Art alter Frauen ein blau und weiß geblümtes Tuch, das am Hinterkopf in einen einfachen Knoten verschlungen war und beide Zipfel nach beiden Seiten steif ausbreitete. [] Ihr zur Rechten saß Herta in modernem schwarzseidenen Gewande. Zur Linken schmiegte sich die liebliche schlanke Gestalt Elwirens an die alte Frau und lehnte ihren schönen Lockenopf auf deren Schulter. Alle Drei schluchzten leise. Unfern von dieser Gruppe sah man auf der Wandbank einen jungen Mann mit verbundenen Händen sitzen, neben dem ein anderer ergrauter starker Mann aufrecht stand und mit Aurel, der am Gesindetische lehnte, ein lebhaftes Gespräch unterhielt.
»Du mein Jesus, Marie!« rief jetzt der Maulwurffänger und schritt hastig auf die Gruppe am Ofen zu. »Kehren denn die alten Zeiten zurück ganz und gar? Wie viele Male habe ich Dich just auf demselben Oertl sitzen und weinen sehen, wenn ich des Abends einsprach um Essenszeit und der arge Schalk von Großknecht, der nun so lange Jahre schon Dein Eheherr ist, Dir die Suppe mit dem graugrünen Heimlichzeuge verdarb! Aber was weinst Du denn, Marie? Ist's nicht eine rechte Gottesfügung, daß er Alle, die sich lieb haben, so kurz vorm Niederlegen zum ewigen Schlafe, noch einmal zusammenführt? Ich meines Theils danke ihm dafür [] von Herzen, und auch Du wirst es thun, gute Marie, wenn Du erst den großen Verlust verschmerzt hast, der Dich betroffen! Freilich, freilich, noch abzubrennen auf seine alten Tage und gleichsam an den Bettelstab gerathen, das ist hart! Aber, Gott Lob, noch gibt es redliche Menschen, die arme brave Lente nicht verkommen lassen in unverschuldetem Unglück! – Guten Abend, Leberecht! Willkommen, Eduard!«
Und der treuherzige Mann reichte sowohl Vater wie Sohn seine harte ehrliche Hand.
Die blinde Marie erkannte den alten Freund an der Stimme. Gewaltsam hielt sie die Thränen zurück, stammelte einen guten Abend und streckte ihm ihre weiße abgemagerte Hand entgegen.
»Sapperment, bin ich denn gar so durchsichtig geworden?« lachte der Maulwurffänger. »Du greifst ja frisch weg in den blauen Dunst hinein, der mich gar angenehm in die Nase sticht! Hier, alte Mutter, hier ist der gutmüthige Narr, der sein Lebelang für andere Leute seine eigene Haut zu Markte trug!«
»Gott erhalte Dich noch lange gesund, Heinrich!« erwiederte Marie, mit beiden Händen die [] Rechte des alten Freundes ergreifend. »Gott schenke Dir noch viele viele frohe Tage und behüte das Licht Deiner Augen!«
»Das wolle er in Gnaden thun, der gute alte Gott, sonst möcht' es mir übel ergehen auf meine alten Tage! Ich habe weder Kind noch Kegel, und die Hand, die mich pflegen wird, soll noch geboren werden.«
»Wir setzten uns dann neben einander, Heinrich, auf den grünen Plan vor dem Gemeindehause, und wenn wir die warme Sonne auf dem Gesichte fühlten, bildeten wir uns ein, wir könnten auch noch die von ihr beschienene Landschaft sehen.«
»Aber Marie! Wie magst Du so reden!«
»Die Mutter ist blind,« sagte Eduard kalt. »In der Stunde, wo das Licht ihrer Augen erlosch, ging unser Häuschen in Flammen auf und ich verbrannte mich zum Krüppel! Auf dieser Welt kann ich keinen Faden mehr drehen, keinen Schützen mehr schnellen! Ich muß eben betteln gehen, wenn mitleidige Seelen sich meiner nicht erbarmen.«
Der Maulwurffänger erblaßte bei dieser Nachricht, seine stets sichere Hand zitterte. Er [] mußte sich auf seinen Wanderstab stützen, um nicht zusammezubrechen. Inzwischen ergiff Leberecht eines der Talglichter und näherte sich Marien, die noch die Hand des alten Freundes umklammert hielt und ihre lichtblauen Augen, über deren Sternen graue Nebelwolken lagen, fest auf ihn richtete. Bei diesem Anblick schossen auch dem Maulwurffänger die Thränen unaufhaltsam in die Augen und laut schluchzend warf er sich nieder auf die Knie und drückte sein Gesicht in die linnene Kleidung der Jugendfreundin.
»Wie war dies möglich, Marie?« sagte er nach einer Pause. »Wie bist Du um Deine Augen gekommen, armer Engel?«
»Durch die Arbeit!« seufzte die Blinde. »Das Weben bei Nacht vertrugen meine Augen nicht, und weil sie mich so sehr schmerzten und das Licht nicht mehr ertragen konnten, löschte sie der liebe Gott lieber ganz aus. Seit ich blind bin, habe ich keine Schmerzen mehr. Auch das Leid Anderer rührt mich nicht, denn ich sehe ja nicht ihr Elend! O ich sage Dir, Pink-Heinrich, eine größere Wohlthat als Blindheit kann es für den gefühlvollen Armen nicht geben! Ihn [] quält nichts und doch hat Jeder Erbarmen mit ihm! Unaufgefordert empfängt der Blinde Gaben, während andere elendiglich Darbende hart angelassen und unbeschenkt fortgewiesen werden! Darum danke Gott, alter Freund, daß er mir das Licht der Augen genommen hat, als es Zeit war. Ich kann nun ruhig sein wegen meiner Zukunft und geduldig der Stunde harren, wo der Ewige mich rufen wird.«
»Hat Euch Paul mein Schreiben eingehändigt?« fragte jetzt Aurel, um diesen schmerzlichen Auftritt zu beendigen. »Ich bin dann begierig, Eure Meinung zu hören.«
»Um uns mit Ihnen zu berathen, Herr Kapitän, sind wir Beide, Sloboda und ich, unverweilt mit Paul hierher gekommen. Es steht nicht Alles gut um Boberstein!«
»Von meinem Enkel erfuhren wir die Verirrung Martells,« sagte der alte Wende. »Wir vermuthen, daß eine böse List dahinter verborgen liegt.«
»Dieser Ansicht bin ich ebenfalls, wackere Freunde, doch macht sie mir wenig Sorge. Martell ist ein sehr kräftiger Mann, den sein geistiger Stolz schon nicht untergehen läßt. Er [] schmachtet nach Vergeltung, und weil er diese nicht in der Art üben kann, wie er es vielleicht wünscht, geräth er auf Abwege. Mehr bekümmert mich das Verschwinden des Hamburger Trödlers! Ihn müssen wir auskundschaften, sonst laufen wir Gefahr, unsere Absicht nur zur Hälfte zu erreichen. Habt Ihr eine Vermuthung, Heinrich?«
»Blos unbestimmte, Herr Kapitän.«
»Laßt hören!«
»Bewahre mich der Himmel! Was ich denke, erfährt gegenwärtig kein Mensch! Aber ich bin der Meinung, Spione nach Boberstein zu schicken.«
»Wollt Ihr selbst einen so schwierigen Posten übernehmen?«
»Hätte ich nur zwanzig Jahre weniger auf dem Rücken, so machte ich mir wohl den Spaß, aber jetzt, Herr Kapitän, jetzt bin ich doch etwas zu unzuverlässig geworden. Ein flinker Junge wie der Gilbert ist der rechte Mann dazu.«
»Er ist zu leichtsinnig, zu verliebt!«
»Desto mehr wagt er, und einen Wagehals brauchen wir. Kann er auch zechen?«
»Wie ein Bacchus!«
»So ist er wie geschaffen zu dem Posten, den ich ihm zugedacht habe.«
[] »Ihr wollt Martell einen Gefährten geben, nicht wahr?«
»Einen Gefährten und einen Spion zugleich! Ein Bursche, der es mit dem Spinner und seinen Freunden aufnimmt, kann auch erfahren, wer den fremden Köhlern immer von Neuem den Geldbeutel füllt!«
Dies leuchtete Aurel ein, und nach kurzem Bedenken gab er seine Zustimmung. Unterdessen war es auch den vereinten Bemühungen Hertas und Elwirens gelungen, die Blinde zu beruhigen, indem sie nicht allein ihr selbst, sondern eben so bestimmt auch Leberecht und Eduard Obdach und Unterhalt zusicherten. Marie preßte Herta's Hände wiederholt an ihre Lippen, ohne Worte des Dankes für so viel Liebe und Theilnahme zu finden. Es erschütterte die gealterte, von tausend Stürmen durch ein sorgenschweres Leben gepeitschte Frau tief, daß sie am Ende ihres Erdenwandels wieder durch die Noth an dieselbe Bank gefesselt war, die sie vor mehr als vierzig Jahren ebenfalls nur zu ihrem traurigen Ruhesitz hatte erwählen müssen. Nur waren die Gefühle, welche jetzt in ihr aufstiegen, Gefühle des Dankes, und [] trotz ihrer unheilbaren Blindheit mußte sie sich schweigend doch sagen, daß der Allmächtige sie wunderbar und gut geführt habe!
Mit einigem Geräusch erschienen jetzt die Knechte und Mägde, um ihr frugales Abendbrod gemeinsam zu verzehren. Aurel hatte nicht die Absicht, durch seine und der Frauen Gegenwart diese braven, arbeitsamen Menschen in ihrer Unterhaltung zu stören, und bot deshalb seiner Tante den Arm, um sie in ihre Zimmer zu geleiten.
»Ich hoffe, Ihr und Euer alter Freund werdet den Thee mit uns trinken,« sagte er im Aufbrechen zu dem Maulwurffänger. »Gilbert wird ebenfalls erscheinen und so können wir ohne große Mühe gleich Alles ins Reine bringen.«
Der Maulwurffänger schlug blinzelnd sein graues Auge zu dem Kapitän auf und sah ihn mit der schlauesten Miene an, die seine Gesichtszüge annehmen konnten.
»Wollen der Herr Kapitän, daß ich oberländisch sprechen darf?« sagte er lächelnd.
»Ganz nach Belieben, braver Alter!«
»Nun dann bitt' ich ganz gehorsamst um Urlaub, mein Herr Kapitän! Die gnädige Gräfin [] und ihr wunderschönes Nichtchen verstehen zwar einen Thee zusammen zu brauen, wie ihn meine alte Zunge ihr Tage nicht geschlürft hat, aber ein richtiges Maulwurffängerabendbrod ist's denn doch nicht! Da in dem Bauche des alten Kachelofens habe ich einen Topf überlaufen sehen, der ein genaues Viertel Erdbirnen enthalten mag, und der Duft von diesen lieben Knollen kitzelt mich noch in der Nase. Auch habe ich einen starken Apettit, vornehmlich auf eine nahrhafte, gut geschmalzte Mehlsuppe, wie sie dort auf dem Tische dampft. Finden Sie es also nicht gar zu grob und despectirlich, so bleibe ich mit sammt dem Alten da und seinem Enkel in der Gesindestube, helfe die Riesenschüssel mit dem schönen Reimspruche am Rande mit auslöffeln und schäle nachher der blinden Mutter dort einen Teller voll Erdbirnrn, was sie in ihren jungen Tagen oft aus purer Liebe mir ebenfalls gethan hat. Die mehligen Knollen schmecken mir noch einmal so gut, wenn die hübsche Marie die Schalen mit ihren kleinen dicken Fingern so appetitlich abzog.«
Dies Lob des alten Mannes machte die Blinde lächeln. Zugleich ward sie aber auch gerührt [] von Pink-Heinrichs Anhänglichkeit, und die Hand gegen ihn ausstreckend, sagte sie:
»Habt Dank, Alter! Die blinde Mutter wird heut mit Euch zu Abend essen, und wenn auch ein paar Thränen aus ihren erloschenen Augen mit auf Euern hölzernen Teller fallen, Ihr werdet ihr deshalb doch nicht grollen.«
Herta traten die Thränen in die Augen. Sie entzog Aurel ihren Arm, um in dem vorgehaltenen Taschentuche ihre Rührung zu verbergen.
»Gelt, Herr Kapitän, Sie entschuldigen den Grobian von Maulwurffänger und lassen ihn in der alten räucherigen Erdfahrt, in die er von Rechts wegen gehört?«
»Gott segne Euch und Euer Mahl!« rief Aurel bewegt. »Laßt es Euch so wohl schmecken wie in Euren besten Tagen! Gilbert werde ich von Euch grüßen und auf seine Sendung vorbereiten.«
Unter dem lauten und gemeinsamen Zuruf aller Dienstboten, die ihrer Herrschaft von Herzen gute Nacht wünschten, verließ Aurel mit Herta und Elwire die Gesindestube.
Auf dem Wege nach dem Herrnhause fragte [] der Kapitän Elwire: ob er sie auf einige Minuten in ihrem Zimmer sprechen könne? Das schöne Mädchen gab mit Herzklopfen ihre Einwilligung und Aurel beurlaubte sich für kurze Zeit bei seiner Tante, nachdem er sie in das uns bekannte Zimmer geführt hatte, wo die immer geschäftige Emma ihre Gebieterin empfing.
Mit niedergeschlagenen Augen begrüßte Elwire ihren Vetter. Auch Aurel war ein klein wenig befangen, da er heut nicht seinen gewöhnlichen, scherzhaft kecken Ton anstimmen wollte, in den er gern bei ungenirter Unterhaltung mit jungen Mädchen verfiel.
»Liebe Elwire,« sagte er nach einigen unbedeutenden Fragen, die das kluge Mädchen gewiß belacht hätte, wäre sie nicht eben so befangen gewesen, wie Aurel. »Liebe Elrwire, ich erbat mir die Erlaubniß zu diesem Gespräch unter vier Augen, um von Ihren schönen Lippen mein Schicksal zu erfahren.«
»Glauben Sie, daß ich wahrsagen kann?« fiel Elwire mit einem reizenden Anflug von Uebermuth ein. »Emma hat mir nie Unterricht gegeben in der Kunst, aus den gemalten Herzen auf [] Kartenblättern die Geheimnisse in den Herzen der Menschen zu errathen.«
»Sie spotten, Elwire! Ist es möglich, daß Sie mich so gar nicht verstehen, daß ich Ihnen ein Fremder geblieben bin?«
Auf diese mit sichtbarer innerer Bewegung gesprochenen Worte senkte Elwire den Kopf und seufzte. »Bitte, sprechen Sie!« sagte sie kaum hörbar, aber unendlich sanft und zärtlich.
»Ja, das sind Sie, das ist wieder die schüchterne Taube, die sich duckend an meine schützende Brust flüchtete und an dieser wieder zum Leben erwachte! – Wozu viele Worte machen, theure Elwire, wozu in langen nichtssagenden Tiraden die heiligsten Empfindungen des Herzens profanisiren, wenn es doch so einfach, so natürlich ist, durch einen einzigen Blick, einen herzlichen Händedruck sich zu verständigen! Sie kennen mich zur Genüge, meine schöne Cousine, um längst zu wissen, daß ich ein Feind aller Umschweife bin. Ich liebe ein gerades, offenes Wesen, ein klares bestimmtes Wort. Ein solches Wort will ich jetzt an Sie richten, indem ich die Bitte hinzufüge, mir durch ein eben so gerades Wort zu antworten. Wollen Sie?«
[] Elwire ließ ihre Hand, welche Aurel ergriffen hatte, in der seinigen und schlug ihre großen sanften Augen zu ihm auf. Sie sprach nicht, aber ihr Blick sagte dem Kapitän, daß sie seinen Wunsch erfüllen werde.
»Wir dürfen hoffen,« suhr Aurel fort, »daß binnen wenigen Monden dieser anscheinend so verwickelte Proze?, der uns hier zusammengeführt hat, sein Ende erreicht. Ich bin keineswegs in Sorge oder nur zweifelhaft über seinen Ausgang, denn Alles, was zur Bildung eines gerechten Urtheils, selbst im Sinne unserer höchst unvollkommenen Gesetze nöthig war, ist beinahe im Uebermaße vorhanden. Alle aufgefundenen Documente sind als ächt von Zeugen beschworen worden und so hat denn unser altes sündhaftes Geschlecht eine Anzahl von Verwandten bekommen, die späterhin nach Maßgabe des Richterspruches Antheil haben werden an unsern Gütern. Ich weiß aus den Berichten unseres Anwaltes, daß dieser Spruch sehr bald erfolgen wird und muß, und bin schon jetzt hoch erfreut darüber, da viele Menschen durch ihn glücklich, wohl nur ein Einziger unglücklich werden wird. Daß dieser Einzige grade mein ältester Bruder [] ist, schmerzt mich tief, ich nehme es aber als eine gerechte Schickung der Vorsehung hin, die verjährte Frevel und Vergehungen so oft in eigenthümlicher Weise bestraft. Wäre Adrian genügsam, hätte er sein Herz nicht verstockt, so würde er die Armen mit Brüderarmen umschlingen und sich mit uns freuen! Er will es nicht, darum walte das Schicksal! – Ich rufe Ihnen dies jetzt ins Gedächtniß zurück, weil ja auch Sie an dem gemeinsamen Glück Antheil haben werden. Wollen Sie diesen Antheil allein, für sich, getrennt von Andern genießen?«
»So lange meine geliebte Tante lebt, werde ich mich nicht von ihr trennen!«
»Unter keiner Bedingung, Elwire? Wirklich unter keiner? – Sie seufzen! Ach geben Sie diesem Seufzer Worte! Lassen Sie Ihr Herz sprechen, wie das meinige zu Ihnen spricht! Knüpfen Sie Ihr Schicksal an das meinige!«
Aurel fühlte die Hand Elwirens in der seinigen zittern, aber sie schwieg, den Blick zu Boden gesenkt. Mit gedämpfter Stimme fuhr Aurel fort:
»Ein Wort, Elwire, ein einziges Wort genügt, um mich glücklich zu machen! Können Sie [] dieses Wort nicht aussprechen, so dürfen Sie versichert sein, daß Kapitän Aurel nicht eine zweite dringende Bitte an Sie richten wird! Nur jetzt, in diesem geheiligten Augenblick gestatten Sie, daß ich Ihnen einmal sagen darf: ich liebe Dich, theure Elwire!«
Aurel drückte heftig ihre Hand an seine Lippen und heftete wieder fragend sein brennendes Auge auf die liebliche zarte Gestalt.
»Elwire!« bat er. »Ist es denn so schwer, sich zu entscheiden? Laß mich in Dein Auge schauen! In ihm will ich lesen, ob über meinem zukünftigen Dasein der Azurbogen eines sonnigen Himmels schweben soll!«
Da erhob Elwire zögernd ihr schönes Haupt, die Blicke begegneten sich und jauchzend sanken sie einander in die Arme.
»Ewig Dein!« hauchte Elwire, als Aurel die bebende Braut wieder aufrichtete. »Möchte es mir nur auch vergönnt sein, Dir ein kleiner lichter Stern am Himmel Deines Lebens zu werden!«
Lächelnd schloß ihr Aurel den lieblichen Mund durch einen Kuß.
»Zu Herta!« sagte er. »Die Großmutter [] muß ihre kleine verliebte Nichte doch ein wenig schelten, daß sie unter ihren Augen mit dem schelmischen Gott Amor geheime Zwiesprach gepflogen hat.«
Elwire lächelte jetzt ebenfalls schelmisch, hüpfte leichten Fußes am Arme Aurels in Herta's Zimmer und ließ sich von dem Kapitän der liebreichen Tante als Braut vorstellen.
»Hat sie doch endlich geplaudert, der liebe Schalk?« sagte Herta, legte die Hände der Liebenden in einander und gab ihnen ihren großmütterlichen Segen.
Als gleich darauf Gilbert eintrat und die Verlobung erfuhr, schnitt er ein sehr verdrießliches Gesicht, das sich indeß sehr bald wieder aufheiterte, da er den Auftrag erhielt, am nächsten Tage nach Boberstein abzureisen.
»Das ist höchst gescheidt von dem Kapitän,« sagte er nach eingenommenem Thee. »Heirathen mag ich zwar nicht, aber lieben muß ich wieder. Und dazu ist Bianca die passendste Person!«
[] Viertes Kapitel.
Das Erwachen der Nemesis.
Es schlug neun auf der Fabrikuhr. Die Nacht war finster, die Luft still. Das gewöhnliche Brausen der Haide erstarb in einem kaum bemerkbaren Säuseln und Flüstern. Als der letzte Glockenschlag verhallte, stieß die Fähre vom Lande und durchschnitt langsam die trägen schwarzen Gewässer des See's, der große schwere Eisschollen in Menge trieb.
Auf dieser Fähre kehrte Adrian von seinem heimlichen Besuche im Raubhause zurück. Es war derselbe Abend, an dem wir die blinde Marie auf dem Zeiselhofe begrüßt haben, beinah dieselbe Stunde, in welcher Aurel Elwiren seine Liebe gestand.
Adrian holte tief und seufzend Athem, als [] er den Lichtschein am Ufer der Insel durch die Jalousien schimmern und im Wasser des Sees sich wiederspiegeln sah. Auf diesen kleinen flimmernden Lichtpunkt heftete er sein Auge, als liege in dem schwankenden Flämmchen ein unwiderstehlicher Zauber. Die blendenden Reihen der erleuchteten Fenster der Fabrik zogen ihn heut nicht an.
Wie kam es, daß Adrian sein hohles Auge unter Herzklopfen an jenen irrlicht trüben Lichtschimmer heftete, der spielend auf dem Gewässer gaukelte? Um diesen geheimnißvollen Zauber zu begreifen, müssen wir die prächtige Wohnung des Fabrikherrn betreten und uns in dieser etwas genauer umsehen. –
Hier kommen wir in ein kleines behagliches Zimmer, dessen Wände mit blauen Tapeten ausgeschlagen sind. Ein reiches Möblement gibt diesem wohnlichen Zimmer jenen fesselnden Reiz, den wahrer Comfort immer mit sich führt. Vor einem hohen und breiten, in kostbaren Goldrahmen gefaßten Spiegel brennen auf zwei dreiarmigen Leuchtern starke Wachskerzen und gießen ihr volles stilles Licht über eine weibliche Gestalt aus, die auf gesticktem Sessel in einem blendend [] weißen Kleide kniet und eben damit beschäftigt ist, in ihr prächtiges schwarzes Haar eine purpurrothe Camelie zu befestigen. Die schönen glänzenden Flechten sind am Hinterhaupt in einen einfachen geschmackvollen griechischen Knoten verschlungen, und nur um die Schläfe und die feinen Ohren ringeln sich einige lange Locken.
Dieses Mädchen ist Bianca, die ihre Abendtoilette macht. Die zarten Hüllen des weißen Kleides mit den kurzen Aermeln, die ein breiter Spitzenbesatz umflattert, zeigen ihren schlanken und doch edlen Wuchs auf das Vortheilhafteste und erhöhen die natürliche Anmuth des schönen Geschöpfes noch durch ihre ausgesuchte Einfachheit, in welcher ein Kenner die raffinirteste Koketterie erblicken würde.
Bianca betrachtet sich lange im Spiegel, läßt die starken schwarzen Locken so lange durch ihre Finger laufen, bis sie die marmorweißen vollen Schultern berühren, welche das weit ausgeschnittene Kleid nicht verhüllt. Um den schlanken Hals trägt sie ein Collier von ächten Perlen, deren reines Wasser gegen den zarten Glanz der sammetnen Haut nicht aufkommen kann. Es ist ein Geschenk Adrians, Bianca [] aber findet heut Abend, daß Nacken, Hals und Brust ohne diesen kostbaren Schmuck verführerischer sind, und so legt sie es denn mit kaltem Lächeln wieder in die Sammetkapsel, der sie es entnommen hat. Nun verläßt sie den Sessel, ergreift einen der Leuchter, erhebt ihn bis zur Höhe ihrer Achseln, und den Blick immer fest auf den Spiegel richtend, dreht sie sich langsam im Kreise um sich selbst. Bei diesem koketten Spiel stahl sich der Strahl des Lichtes durch die halbgeöffnete Jalousie und hüpfte verlockend, gleich einer dämonischen Flamme vor der rauschenden Fähre her, welche den Herrn am Stein nach der Insel trug.
Bianca machte ihrem Spiegelbilde mit reizendem Lächeln eine graziöse Verbeugung, setzte den Leuchter wieder fort und schlang ein rosaseidnes Band gürtelartig um ihre schlanke Taille. Erst nachdem dies geschehen war, erklärte sie mit stolzem Kopfnicken ihre Toilette für beendigt, schritt bedächtig durch mehrere Gemächer, bis sie Adrians Wohnzimmer erreichte, wo sie Alles zum Abendtisch ordnete. Dann zog sie sich zurück und ging, die Hände über [] dem klopfenden Busen gefaltet, sinnend im Zimmer auf und nieder.
Bald darauf hörte sie die befehlshaberische Stimme Adrians. Sie erbebte leis und ein fulckelnder Blitz schoß aus ihren großen schwarzen Augen. Ihre schwellenden Lippen zuckten und ein Zug bitteren Hohnes, ja tiefer Verachtung verunstaltete auf einige Secunden ihr tadellos schönes Gesicht. Lauschend blieb sie an der Thür stehen, die Stirn in ihre linke Hand stützend, an deren kleinem Finger ein Brillantring blitzte. Als sie sich überzeugt hatte, daß ihr Gebieter nach seinem Zimmer gegangen sei, zog sie ein zusammengefalteles Blatt aus dem Busen, schlang schnell eine bereit liegende Schnur darum, an welcher ein Schlüssel hing, öffnete eben so rasch Fenster und Jalousie und warf Beides unter dreimaligem Husten hinaus. Bald darauf schlüpfte hinter der Scheuer, auf deren Tenne Adrian die verhungerten Kinder ausgestellt hatte, eine dunkle hohe Gestalt hervor, schlich behutsam nach dem Hause und ergriff das weiße Papier, das Bianca absichtlich ruckweise am Boden flattern ließ. Als sie es in den rechten Händen wußte, ließ sie die Schnur [] fallen, der nächtliche Gast verschwand wieder hinter der Scheuer und Bianca schloß behutsam ihr Fenster.
Wieder trat sie vor den Spiegel, um sich von ihrem Liebreiz zu überzeugen. Sie sah jetzt weit bleicher aus, als zuvor, allein diese Blässe that ihren Reizen keinen Abbruch, sondern machte sie eher noch verführerischer. Selbst ihr Lächeln, das nichts weiblich Sanftes an sich hatte, und nur wie eine Maske über die ursprünglich reinen Züge geworfen war, konnte durch die Eigenthümlichkeit des spöttischen Ausdruckes bezaubern, in dem sich Schallhaftigkeit und Laune höchst anmuthig umarmten.
Fast erschöpft lehnte sich Bianca jetzt an den Divan und wartete ruhig, bis sie Adrians Schritte vernahm. Vor diesem Tone schauderte sie zusammen, ob vor Wonne oder Entsetzen würde schwer zu entscheiden gewesen sein, denn ihr Blick blieb kalt, ihre Miene ruhig.
Sie ergriff abermals einen der Armleuchter, und indem sie das Zimmer verließ, sprach sie flüsternd zu sich selbst:
»Nun, Gott der Rache, sende mir Deine schrecklichen Engel, daß ich ihn züchtigen mag, wie er es verdient hat!«
[] Und mit dem süßesten, verführerischsten Lächeln verschämter Liebe trat sie in Adrians Zimmer. –
Der Herr am Stein war sehr zufrieden mit seiner jungen schönen Haushälterin. Bianca war fleißig, sorgsam, accurat und die Aufmerksamkeit selbst. Besser war Adrian nie bedient worden, delicater hatte er nie gespeist. Und was ihm besonders gefiel, war, daß Bianca selbst die Stelle eines Dieners versah und ihm eigenhändig die Speisen reichte. Dabei erschien sie täglich in geschmackvoller Kleidung, immer einfach und immer reizend.
Zwar bat Adrian das schöne Mädchen, es möge die Aufwartung seinen Bedienten überlassen und Theil nehmen an seinem Mahle; wie dringend er aber auch bat, Bianca ließ sich nicht dazu bewegen. Sie wisse gar wohl, was ihr zukomme, behauptete sie mit dem allerschelmischsten Blick ihrer leidenschaftlichen Augen, und wenn der gnädige Herr nur zufrieden sei mit ihren Leistungen, so würde sie mit dem größten Vergnügen als Dienerin ihm während der Mahlzeit Gesellschaft leisten. –
Von diesem Entschlusse war Bianca nicht abzubringen, so große Mühe sich Adrian auch [] gab. Sie legte ihm vor, wenn er es wünschte, sie setzte sich auch auf Verlangen neben ihn und unterhielt ihn munter plaudernd mit allerliebsten Geschichten. Dabei benahm sie sich so unbefangen, wie ein unschuldiges Kind von funfzehn Jahren. Sie streifte mit ihren warmen bloßen, runden Schultern beim Darreichen einer Schüssel Adrians Wangen, daß der sinnlich erregte Mann von der elektrischen Berührung des schönen Mädchens zitterte, oder sie beugte sich mit zur Seite geneigtem Kopf zu ihm herab, mit Mund und Augen zugleich eine Frage an ihn richtend, wobei der arme Mann nothwendig seine Blicke auf den weißen klopfenden Busen der schlauen Verführerin richten mußte, der die zarten Bande, die ihn gefesselt hielten, zu sprengen drohte.
Schon beim ersten Besuche Bianca's war Adrian in das Netz dieses unendlich verführerischen Geschöpfes gerathen, wie wir wissen. Das heitere, verschämte, naive Mädchen hatte ihn so gefesselt, daß er bei sich beschloß, ihr nach Beendigung des Prozesses seine Hand zu reichen. Daß Bianca einen solchen ihr gemachten Antrag ausschlagen könne, daran dachte er nicht. Er selbst glaubte sich noch rüstig und liebenswürdig [] genug, um einem schönen Mädchen ohne Namen und Vermögen Liebe einflößen zu können. Auch verlangte er nicht Unmögliches oder nur Seltenes. Eine stille Neigung, ein freundliches Anschmiegen, ein aufmerksames Eingehen auf seine Wünsche zog er in jeder Hinsicht aufreibender Leidenschaftlichkeit und quälender argwöhnischer Eifersucht vor, womit liebende Mädchen so gern den leidenschaftlich geliebten Mann peinigen. Leider aber passirte Adrian bei aller Verstandeskälte im Umgange mit Bianca selbst das Unglück, daß er sich mit aller Leidenschaft, deren die Sinne fähig sind, in seine jugendliche Haushälterin verliebte. Und Bianca, das schuldlose Kind, merkte gar nichts von dem Unglück, das sie angerichtet hatte! Immer lächelnd, immer guter Laune, täglich in reizenderem Costüme umschwebte die schalkhafte Sirene den stolzen Fabrikherrn und gab auf all seine Fragen die scherzhaftesten Antworten; erröthete, wenn er ziemlich verständlich auf die Gefühle anspielte, die sie in ihm erregte, und wehrte schüchtern, aber standhaft jede vertrauliche Liebkosung ab mit der ernsthaften Bemerkung, dergleichen schicke sich nicht! – Gleich darauf war sie aber schon wieder die alte verführerische [] Fee, die mit geübter Kunst und diabolischer Sicherheit ihre tödtlich treffenden Liebespfeile auf das unbewachte Herz ihres unglücklichen Opfers abschoß.
Durch dieses schlaue Betragen erreichte Bianca in unglaublich kurzer Zeit ihren Zweck. Es war wohlüberdachter Plan bei ihr, den Verführer und Mörder ihrer armen Schwester bis zum Wahnsinn in sich verliebt zu machen, ohne die geringste Hoffnung auf Gegenliebe in ihm aufkommen zu lassen. Sie wußte im Voraus, daß ihr dies vollkommen gelingen würde, und deshalb rüstete sie sich mit dem ganzen Scharfsinn weiblicher List aus, um Schritt vor Schritt langsam und sicher ihr Opfer zu umgarnen.
Adrian widerstand Bianca's meisterhaft geheuchelter Zärtlichkeit, die jedoch immer die Zärtlichkeit eines schuldlosen Kindes von höchster Anmuth blieb, nicht einen Tag, er widerstand ihr um so weniger, als er das reizende Mädchen zu seiner Gattin erheben und durch Freundlichkeit sich ihm geneigt machen wollte. Darum überhäufte er sie schnell mit kostbaren Geschenken und ließ sie ahnen, was er für sie fühlte. Ihr scheues Zurückschrecken bei solchen Andeutungen war ihm freilich nicht angenehm, da es [] ein längeres Bewerben in Aussicht stellte. Täglich, oft stündlich von Bianca bis zu dem höchsten Gipfel sinnlicher Erregung gereizt, berührt von ihren vollen Armen, gestreichelt von ihren Händen, den süßen Athem ihres Mundes auf seinen Lippen fühlend, überall von ihr unrschwebt, gerieth Adrian in einen fieberhaft exaltirten Zustand, der ihn leiblich und geistig verzehrte und schnell aufzureiben drohte. Er verfiel zusehends, seine Augen sanken zurück in ihre braunen Höhlen, in denen sie wie gefesselte Tiger lagen und grollend unheimliche Gluthblicke auf Jeden warfen, der ihm nahte.
Am Tage war dieser Zustand noch zu ertragen, denn dann weidete sich der unglückliche Liebende an seiner grausamen Zauberin, aber des Nachts erreichte die Pein der rasenden Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt hatte, die größte Höhe irdischer Folterqualen. Adrian fiel in einen traumdurchrasten Schlaf, der ihm in tausend bunten Gestalten immer und immer Bianca's liebreizende Gestalt vorführte, und zwar in so lockender Schöne, daß ein Verschwinden dieses lächelnd an ihn heranschwebenden Bildes dem furchtbarsten Seelenschmerz gleichkan. Und doch [] wiederholte sich dieser höllische Zauber unzählige Male immer von Neuem in jeder Nacht, und dem Unglücklichen war es nicht einmal vergönnt, die Locken seiner süßen Peinigerin zu küssen, wie viel weniger, sie an sein stürmisch klopfendes Herz zu reißen und an ihrem Busen, in ihren Küssen die Gluth zu kühlen, die ihn verzehrte! Kühl und ernsthaft wie am Tage enlschlüpfte sie ihm auch im Traume, um sogleich wieder ihr gaukelndes Liebesspiel anzufangen und mit immer schrecklicheren Zaubern den Gefangenen auf ewig zu binden.
Diese göttlichen Träume voll süßer Höllenqualen wechselten ab mit jenen düstern Erscheinungen, die Adrian seit seiner Krankheit häufig im Schlafe verfolgten, wie wir wissen. Auf diese Weise glich sein Leben seit Bianca zu ihm gezogen war, einer nie endenden Folter. Er mußte sich dies selbst gestehen, aber schon hatte ihn die grausame Schöne so ganz mit ihren diabolischen Zauberfäden umsponnen, daß er lieber diese Qual fort erdulden und sie immer um sich wissen, als ohne sie in vielleicht ähnlicher Pein fortleben wollte.
Der schlauen, ihren Plan mit wahrhaft [] entsetzlicher Consequenz verfolgenden Bianca blieb diese Verwandlung ihr Gebieters kein Geheimniß. Nur Adrian gegenüber that sie, als sähe und ahne sie nichts. Als sie bemerkte, daß der Graf nach Tische auf seinem Zimmer kurze Zeit zu schlummern versuchte, schlich sie auf den Zehen bis an die Thür, legte ihr Ohr an das Schlüsselloch und horchte gespannt, ob er vielleicht im Schlafe spreche. Sie hatte sich nicht getäuscht. Sobald der Schlaf Adrians Augenlider schloß, öffneten sich vor den Blicken seiner Seele die Pforten der Pein und nach wenigen Tagen wußte Bianca, daß unter allen Gestalten, die um den Schläfer schwebten, sie selbst und ihre verstorbene Schwester am häufigsten wiederkehrten.
Da flog ein glänzendes Lächeln rachsüchtiger Freude über die schönen Züge des Mädchens, und die kleine Hand ballend, schwor sie, dem Verhaßten noch schrecklichere Qualen zu bereiten.
Die Folter des Unglücklichen sollte in dieser Nacht beginnen!
Um ihren Zweck zu erreichen, hatte sich Bianca mehr wie je mit allem Liebreiz geschmückt und keine der vielen kleinen Toilettenkünste verschmäht, [] die liebenden Männern so gefährlich werden. Als sie nun die Rückkunft des Grafen hörte und die Klingel desselben vernahm, begab sie sich, wie wir wissen, nach seinem Zimmer.
Adrian hatte, ermüdet von der beschwerlichen nächtlichen Fahrt durch den morastigen Wald, bereits sein Hauslkeid angelegt und es sich in dem behaglichen Zimmer bequem gemacht. Auf Bianca's Befehl war der runde Tisch schon gedeckt und mit Allem versehen, was zu einem reichlichen Abendimbiß erforderlich war. Sie selbst hatte nur für Bereitung des Thees Sorge zu tragen, und den Grafen, wie er es seit Kurzem gewohnt war, in ihrer anmuthigen und graziösen Weise zu bedienen.
Heiter lächelnd trat die Sirene Adrian entgegen, grüßte ihn mit zierlicher Verbeugung, wußte aber auch sogleich ihren so eben noch überaus muntern Zügen einen Ausdruck der Bestürzung und Sorge zu verleihen, welcher den Grafen vollkommen täuschte.
»Mein Gott!« rief sie mit geheucheltem Schrecken aus, ihr Arbeitskörbchen neben die singende Theemaschine setzend und lebhaft auf den Gebieter zuschreitend. »Wie blaß, wie angegriffen [] sehen Sie aus, Herr am Stein! Gewiß, Ihnen ist nicht wohl! Sie müssen sich bei dem unfreundlichen Wetter in der wüsten ungastlichen Haide erkältet haben! Ihre Stirn ist wahrhaftig ganz kalt und doch fühle ich das heftige Klopfen ihrer Pulse! Wie geht es Ihnen, armer Mann?«
Und Bianca legte sanft schmeichelnd ihre weiche warme Hand auf die Stirn des Grafen, der unter dieser magnetischen Berührung in süßen Schauern erbebte.
»Sehe ich denn wirklich so angegriffen aus, gutes Kind?« erwiederte er lächelnd. »Nun, wenn dies der Fall ist, so mag die Ursache davon wohl anderswo zu suchen sein, als in meiner heutigen, allerdings angreifenden Waldreise. Wäre ich aber auch zum Tode krank, von solchen Engelslippen bedauert, von so theilnehmendem Auge angeblickt, würde ich alsbald genesen! Theure Bianca, eine Berührnng Ihrer Hand hat tausendmal mehr Wunderkraft, als alle Arzneien der Welt! Wissen Sie, schönes Kind, daß Sie heut entzückend sind?«
»Gefalle ich Ihnen?« fragte die Verführerin zurück, indem sie die vergoldete Tasse des Grafen [] mit der aromatischen Flüssigkeit füllte und dabei einen halb verschleierten Blick auf ihn warf. »Meine Gespielinnen behaupteten immer, weiß kleide mich nicht vortheilhaft. Es soll mir einen zu farblosen Teint geben.«
»Offenbarer Neid gefallsüchtiger Mädchen! Ich finde, daß keine Farbe besser zu dem glänzenden Schwarz Ihrer Haare paßt, als dieses durchsichtige silberweiße Gewebe! Und welche Einfachheit! Welcher Geschmack! Man sollte glauben, Sie hätten Jahre lang die Kunst der Toilette auf der Bühne studirt, so meisterhaft finde ich Ihren Anzug den Regeln des guten Geschmackes angepaßt!«
»Da machen Sie mir ein sehr zweideutiges Compliment, gnädigster Herr,« versetzte Bianca schelmisch. »Wir armen Mädchen halten uns immer für geborene Genies, was Geschmack anbelangt, und da uns die Natur so stiefmütterlich ausgestattet hat den Männern gegenüber, so sind wir ja schon gezwungen, unsern Geschmack zu bilden, um mittelst einiger Bänder, Spitzen und Haarwickel die Mängel vergessen zu machen, die uns in so abhängiger Stellung erhalten.«
»Ich kann Ihnen die Versicherung geben, [] schöne Muthwillige, daß wir Männer nicht so scharfsichtig sind, die gerügten Mängel bei Ihrem Geschlecht zu entdecken! Wir finden im Gegentheil nur Vollkommenheiten, von denen wir gefesselt, entzückt, zur Leidenschaft hingerissen werden!«
Bianca nippte mit großer Zierrlichkeit ihren Thee, wobei sie nicht unterließ, häufig zu Adrian aufzublicken und ihre schönen Zähne aus dem feuchten Purpur ihrer vollen Lippen hervorglänzen zu lassen. Jetzt schob sie ihren Sessel um einen Schritt näher an den Lehnstuhl Adrians, und indem sie ihren bloßen vollen Arm auf die purpursammetne Lehne desselben legte und ihre zarten Finger mit dem Rosabande spielen ließ, das ihre Taille umschlang, sagte sie naiv:
»Wie muß nur das sein, gnädiger Herr, wenn man von Leidenschaft hingerissen wird?«
Ihre schwarzen Augen ruhten bei dieser verführerischen Frage mit so innigem warmen Ausdruck auf Adrian, daß diesem fast die Sinne vergingen. Er suchte sich indeß zu mäßigen und fragte das verführerische Mädchen seinerseits:
»Hat Ihnen denn noch kein Mann eine Neigung abgewinnen können?«
»Ich bin allen hübschen und artigen Männern[] immer gut gewesen, wie Brüdern, aber Liebe oder gar Leidenschaft habe ich nie für einen empfinden können. Es muß das bei mir ein Fehler des Herzens sein, da ich lebensgern einmal wissen möchte, wie man empfindet, wenn man liebt!«
»Wahrhaftig, Bianca?«
»Ganz im Ernst, Herr am Stein! Ein Mädchen, das so allein, so ganz einsam in der Welt dasteht, wie ich, hat wahrhaftig kein beneidenswerthes Loos gezogen! Man täuscht, man betrügt uns und macht uns zuletzt unglücklich!«
Ein paar Thränen stürzten in Bianca's Augen. Sie zupfte zerstreut an ihrem Kleide und wußte dadurch geschickt ihren wunderhübschen Fuß zu enthüllen, den ein feiner durchbrochener Strumpf kaum bedeckte. Diesen reizenden Fuß stellte sie jetzt absichtlich auf ein niedriges Tabourett, das Adrian immer neben sich stehen hatte, um ebenfalls bisweilen seine Füße, in denen er oft Anfälle podagrischer Schmerzen fühlte, darauf ruhen zu lassen. Sie bewegte das zierlich gebildete Füßchen so kokett in dem schmalen Atlasschuh, daß Adrians Herz heftiger zu schlagen [] begann. Die unmittelbare Nähe des schönen, von dem feinsten Spitzengewebe umflatterten Armes wirkte so verführerisch auf ihn, daß er ihn bebend mit brennenden Lippen küßte.
»O bitte, gnädigster Herr!« sagte Bianca, den Arm zurückziehend. »Eine solche Huldigung könnte mich ja eitel machen! Man küßt, so viel ich aus Büchern und Erzählungen weiß, nur vornehmen Damen, Gräfinnen und Prinzessinnen die schönen Hände. Arme Mädchen, wie ich, müssen sich solche Aufmerksamkeiten verbitten.«
»Von der Hand zum Munde ist nicht aus der Welt, Sie lieber Schalk!« erwiederte Herr am Stein. »Und da Sie nach Ihrem eigenen Geständniß noch gar nicht wissen, wie man liebt, so will ich Ihnen für Ihre kleine Bosheit die Ahnung dieser Empfindung beibringen!«
Und mit gewandtem Arm unrschlang Adrian Bianca's vollen Körper, zog sie an sich und drückte heiße, flammende Küsse auf ihren Mund.
Zitternd und erröthend entwand sich das reizende Mädchen der heftigen Umarmung des Grafen, indem sie ihn zürnend anblickte.
»Gnädigster Herr,« sagte sie, die klare [] Stirn kraus zusammenziehend, »wäre ich Ihnen nicht Dank schuldig, so würde ich Ihnen ernsthaft zürnen. Es ist nicht recht von Ihnen, meine Unerfahrenheit so arglistig zu benutzen!«
Sie stand auf und schenkte in einer wo möglich noch koketteren Stellung abermals Thee ein. Dabei kehrte sie dem Grafen halb den Rücken zu, so daß die Flamme der Astrallampe ihren vollen Schein über sie ausgoß und die anmuthigen Rundungen ihrer classischen Formen durch die leichte Gewandung deutlich erkennen ließ.
»Aber Bianca!« rief Adrian aufgeregt.
»Sie befehlen, Herr Graf?« sagte die Schöne und wendete, schon wieder schelmisch lächelnd, ihr volles Gesicht mit den tanzenden schwarzen Locken gegen ihn.
»Schelten Sie mich, lachen Sie mich aus, nennen Sie mich einen Thoren, ja mißhandeln Sie mich, wenn Sie wollen, nur dulden Sie es, daß ich Sie lieben darf, Bianca!« rief Adrian leidenschaftlich, indem er den Sessel, welchen Bianca inne hatte, näher an seinen Sitz zog. Diese sah ihn mit großen Augen verwundert an, nur auf ihren Lippen spielte ein schalkhaftes [] Lächeln. Sie reichte ihm die gefüllte Tasse, stäubte mit ihren gestickten Taschentuche einige Krumen feinen Weißbrodes aus den Falten des Kleides, und setzte sich zutrauensvoll wieder neben den leidenschaftlich aufgeregten Grafen.
»Wenn ich nun thörigt genug wäre, Ihre in einem Moment der Aufregung gesprochenen Worte für wahr zu halten,« sagte Bianca, indem sie ihren Kopf so gegen den Grafen beugte, daß eine ihrer glänzenden Locken fast dessen Lippen berührte, »wenn ich solch eine Thörin wäre, dann würde ich mich wahrscheinlich in Ihre Arme werfen und, wenn ich im Herzen auch nichts für Sie fühlte, Ihnen eine glühende Leidenschaft heucheln. Ich bin aber weder so albern noch so eingebildet, und deshalb erlaube ich mir denn, Ihnen auf das Freundschaftlichste für die mir zugedachte Ehre zu danken und sich vor der Hand noch mit meiner vollkommensten Achtung und innigsten Freundschaft zu begnügen! Sind der gnädigste Herr damit zufrieden?«
Wieder ruhten Biancas Augen mit unbeschreiblichem Liebeszauber auf Adrian, während jeder Zug ihres lieblichen Gesichtes nur dankbare Ergebenheit ausdrückte. Der wunderbaren [] Macht dieses Blickes erlag der Graf. Die lange schwarze Locke erfassend rief er mit gepreßter Stimme:
»Bianca! Geliebte Bianca, habe Mitleid mit einem Unglücklichen!«
Bianca lächelte noch reizender und beugte sich, da sie das tändelnde Zupfen Adrians an ihrer Locke schmerzlich empfand, so über ihn, daß der Graf ihren nur halb bedeckten wallenden Busen erblicken mußte.
»Haben Sie lieber Mitleid mit nur, Sie raufen mich ja!«
»Ich sterbe, Bianca!«
»Vor Liebe? Behüte Gott! Man sagt ja immer, die Liebe belebe, das Auge der Geliebten sei die Sonne, in deren Licht der Liebende die Seligkeiten und Wonnen des ewigen Lebens empfinde! Nun, ich dächte, dieses Auge wäre Ihnen doch jetzt nahe genug? Oder muß ich Sie mit meinen Blicken versengen?«
»Könnt' ich sterben in Deinen Armen, Grausame!« stammelte der Graf, die erfaßte Locke des schönen Mädchens immer fester um seine Finger schlingend. »Jahrtausende des verheißenen jenseitigen Lebens wollte ich dafür opfern!«
»Pfui, gnädigster Herr, wer wird einem [] sterblichen Geschöpfe zu Liebe solche Lästerungen ausstoßen! Aber bitte, entlassen Sie die arme Gefangene, die mich noch zwingen wird, mein Gesicht mit dem Ihrigen in Verbindung zu bringen! Sie thun mir wahrhaftig weh, Herr Graf!«
»Sprich, daß Du mich lieben willst, Bianca! Versprich, meine Geliebte, mein Weib zu werden! Alles was ich besitze, soll Dein sein! ... Nur verstoße, verschmähe mich nicht!«
Und Adrian preßte seinen Mund wie ein Rasender auf den klopfenden Busen Biancas.
Satanischer Freudenglanz strahlte in diesem Moment aus den Augen der schönen Sünderin. Secundenlang ließ sie den vor Liebe und Wollust zitternden Grafen in ihren Reizen schwelgen, dann entriß sie ihm die festgehaltene Locke und sprang, ihn von sich stoßend, zurück. Adrian wollte ihr folgen.
»Keinen Schritt, mein Herr, oder ich muß nach Hilfe rufen!« sagte Bianca mit einer Stimme, die vor Entrüstung zitterte und von Thränen des Zorns gedämpft ward. »Es ist abscheulich, ein schwaches Mädchen auf so hinterlistige Weise festzuhalten und mit Küssen fast zu [] ersticken. – Ich werde Ihnen nicht mehr Gesellschaft leisten, bis Sie sich gebessert und mir durch einen Schwur gelobt haben, nie wieder meine Freundschaft so unwürdig zu mißbrauchen. Schlafen Sie wohl, gnädigster Herr, und verzeihen Sie Ihrer armen Dienerin, daß Sie Worte an Sie richten muß, die ihrer Stellung nicht zukommen! Allein Nothwehr kennt keine Grenzen! Gute Nacht!«
Dies »gute Nacht!« klang bereits wieder so verlockend, so sanft und süß, daß Adrian bei diesem Sirenentone wüthend aufsprang und die zürnende Schöne um Vergebung flehend abermals in seine Arme schließen wollte. Allein Bianca war schon hinter der Thür verschwunden und das Vorschieben des Riegels verhinderte wenigstens im Augenblick jede Verfolgung.
Adrian war sehr unzufrieden mit sich. Er beehrte sich mit allen möglichen Ehrennamen, die ihm einfielen, und ging dabei aufgeregt im Zimmer auf und nieder. Sein Blut kochte, seine Adern hämmerten, die Aufreizung seiner Nerven hatte den höchsten Grad erreicht.
»Dies Mädchen ist ein Dämon, eine Zauberin, die mir atomweise Herz und Seele zerpflückt! [] Und ich liebe sie! ... Ich liebe sie wie ein Wahnsinniger! – Wenn ich sie gehen, sie sprechen höre, stockt mein Blut in den Adern; wenn ich sie sehe, habe ich keinen andern Gedanken, als nur sie, nur ihren Besitz! ... Wenn sie lächelt, wie unendlich liebreizend ist sie dann! Wenn sie spricht, wie scherzen alle Grazien um die Liebliche, Anbetungswürdige! – O es ist seliger Genuß, um sie zu sein, aber auch Höllenqual, in ihrem Blick sich sonnen und diese Wunderaugen nicht küssen zu dürfen! – – Nicht lieben können. – Welch Mädchen von ihrem Alter, mit solchem Körper begabt, fühlte nicht die Regungen der Liebe in der Nähe eines Mannes, der sie anbetet! – Aber gewiß, Bianca liebt mich, muß mich lieben, nur mag sie es mir nicht gestehen! – Sie ist klug und will sich gesichert sehen, ehe sie meine Leidenschaft erwiedert! Sie wird an Magnus und Herta denken – und den Sohn gleicher Handlungen für fähig halten! ... O Gott, o Gott! ... Aber das ist vorüber, längst vorüber! Hinunter, feuchter Schatten, in Dein Grab! Bianca lebt, ich liebe Bianca und sie muß mein sein, und sollte ich ein Verbrechen begehen.«
[] Mit fest an die Stirn gedrückten Fäusten blieb Adrian mitten im Zimmer stehen, so daß der Spiegel seine ganze Gestalt zurückwarf. Sein Blick erfaßte das Spiegelbild und er schrak zusammen.
»Ha, bin ich bleich und verfallen!« sagte er niedergeschlagen. »Ich werde von Tage zu Tage elender, ich fühl' es, aber ich kann sie nicht aus den Gedanken bringen! ... Wenn nur die Nächte nicht wären – diese qualvollen, endlosen Nächte! ... Oder wenn nur ihr holdes Bild mich umschwebte und mir nur einmal des Nachts die schmachtende Lippe mit dem Hauche ihres Göttermundes kühlte! ... Aber jenes Schattenbild, jenes elende Geschöpf, das ich verachte, es verdrängt immer dies Kind des Himmels und erstickt mich mit seinen kalten Umarmungen!«
Vom See herüber erklang jetzt ein lautes schrilles Pfeifen, dem ein matteres, dem Echo ähnliches, antwortete. Adrian in seine Gedanken vertieft achtete nicht darauf.
»Ich muß sie zu versöhnen suchen,« fuhr er fort, »denn ich fürchte, daß ich sie wirklich beleidigt habe. – Sie ist gut, ein unschuldiges, liebes Kind – sie wird mir vergeben und mir [] gewiß wieder Gesellschaft leisten! ... Ich aber will mich mäßigen, alle meine Gefühle verbergen und mich erst ihrer Neigung versichern, bevor ich sie mit neuen Liebesanträgen bestürme! ... Könnte ich nur auch der Leidenschaft gebieten, sich in keinem Blick, in keiner Bewegung zu verrathen!«
Ein zweites Pfeifen, diesmal um Vieles näher, machte die Fensterscheiben schrillen. Adrian schien auch dieses nicht zu hören, denn er zündete mit zitternder Hand ein Licht an und schritt nach der Thür.
»Wenn ich mich schon jetzt als ein Reuiger bei ihr melde,« sprach er, »dann wird sie mir um so lieber vergeben, weil ihr dies ein Beweis von meiner Gutmüthigkeit und Nachgiebigkeit sein muß! Schmollt sie aber dennoch, dann werde ich sie morgen durch ein kostbares Geschenk zur Vergebung zwingen. Reichen Gaben hat noch kein Mädchen widerstanden. Gutes Glück, das Du mir so lange treu geblieben bist, verlasse mich auch ferner nicht!«
So sprechend verließ Adrian sein Wohnzimmer und ging mit unhörbaren Schritten bis zu Bianca's Thür.
[] Er horchte eine Zeit lang, ob er Geräusch in dem Zimmer vernehme, da sich aber kein Laut hören ließ, klopfte er leise an die Thür. Nichts regte sich, selbst nach mehrmaligem Klopfen blieb Alles still. Nun wagte Adrian, Bianca's Namen zu flüstern und um Einlaß zu bitten. Allein auch darauf erhielt er keine Antwort und seufzend sah er sich genöthigt, den Rückzug auzutreten.
»Sie muß schon zur Ruhe gegangen sein,« sagte er sich selbst beruhigend. »Ich werde ihrem Beispiele folgen und von ihrem entzückenden Engelslächeln träumen.«
Bianca schlief aber nicht. Sie hatte die schlürfenden Schritte des herzlosen Mannes wohl vernommen und mit Entzücken sein Bitten und Seufzen gehört. Die Uhr schlug elf, kurz nachdem Adrian ihre Thür wieder verlassen hatte. Sie bereitete sich nunmehr auf das nächtliche Rachewerk vor, das sie sich ersonnen. Den reizenden Schmuck der Abendtoilette abwerfend, legte sie ein verschossenes leichtes Kattunkleid an, das sie zum Andenken an ihre unglückliche Schwester aus deren Nachlaß behalten hatte. Dann löste sie ihr reiches langes Haar, feuchtete [] es ein wenig mit Wasser an und wirrte es durch einander, daß es verworren und ungleich ihre ganze Gestalt bis weit über die Hüften herab umfloß. Das todtenbleiche Mädchen sah in diesem verwilderten Anzuge eben so schön als furchtbar aus. Ihr dunkles Auge blitzte vor Lust nach Rache, die stolzen Lippen öffneten sich und ließen beide Reihen ihrer tadellosen Zähne sehen.
Ueber eine halbe Stunde ging Bianca unruhig, aber so behutsam, daß Niemand ihre Schritte hören konnte, im Zimmer auf und nieder. Manchmal blieb sie auch stehen und warf einen Blick in den Spiegel, worauf sie wild die feuchten Locken schüttelte und ihre Wanderung durch's Zimmer fortsetzte. Nun sah sie nach der Uhr, und da sich kein Laut im ganzen Hause regte, eilte sie ohne Licht durch die ihr bekannte Reihe der Gemächer bis an Adrian's Zimmer. Sie öffnete es behutsam und fand es leer, ohne Licht. Die Thür zum Schlafzimmer war nur angelehnt. Dahin schlich sie, lauschte, lauschte lange und hörte, daß Adrian in unruhigem Schlafe röchelte. Wie ein erzürnter Geist flog sie auf schwebenden Sohlen zurück, zündete eine [] Blendlaterne an und löschte die Wachslichter. Dann stieß sie nochmals das Fenster auf und hustete. Es ward ihr in gleichem Tone geantwortet und aus dem Schatten der Nacht kam mit langen Schritten eine hohe Gestalt auf das Haus zu. Bianca wartete die Annäherung des unheimlichen Gastes nicht ab, sondern ergriff die Blendlaterne, hüpfte damit die breite Treppe hinunter, die mit weichen Teppichen belegt war, und empfing an der Hausthür den bereits eingetretenen nächtlichen Besuch.
»Haben Sie die Thür wieder verschlossen?« fragte das wild blickende Mädchen.
»Fest und sicher.«
»So kommen Sie, doch ziehen Sie zuvor Ihre harten Schuhe aus!«
Hand in Hand mit dem Fremden erstieg sie die Treppe und geleitete ihn bis vor Adrians Zimmerthür. Hier erst öffnete Bianca die Laterne und ließ ihr volles Licht auf den Fremden fallen. Es war Martell, der Spinner.
Dieser Arme zeigte jetzt hohle, tief eingefallene Wangen, sein finster blickendes Auge brannte wie in Fieber, und ein leichtes Zittern war an seinen Händen zu bemerken.
[] »Sind die Köhler heut wieder bei Ihnen gewesen?« fragte Bianca.
»Nein,« versetzte Martell düster und verstimmt, »ich habe mich allein behelfen müssen, aber es ist nicht das! Man wird nur mürrisch davon.«
»Ich sage Ihnen, Martell, sein Sie auf Ihrer Hut! Man will nicht Ihr Bestes, man beabsichtigt, Sie zu Grunde zu richten!«
»Das ist nicht mehr nöthig,« erwiederte der Spinner. »Ich bin schon so sehr zu Grunde gerichtet, daß es ganz gleichgiltig ist, ob es einen Tag früher oder später zu Ende geht. Und überdies zerstreuen mich die beiden lustigen Schälke und machen mir zum ersten Male, seit ich denken kann, das Leben leicht. Dafür bin ich ihnen dankbar und deshalb trinke ich mit ihnen, so lange die Haut über diesen Knochen zusammenhängt. – Aber Sie, Bianca, was haben Sie vor? Welch Schauspiel wollen Sie mir bereiten?«
»Leise, Martell, damit wir nicht gestört werden!« – Bianca hob sich auf ihre Zehen und flüsterte dem gebeugt neben ihr stehenden Spinner zu:
[] »Vor einiger Zeit habe ich Ihnen feierlich das Versprechen gegeben, den Entsetzlichen, den ein grausames Geschick zu Ihrem Bruder und Zwingherrn gemacht hat, nach Kräften zu bestrafen. Sie haben ihm Rache geschworen, müssen aber die Zeit abwarten, wie Sie sagen, um sie auch üben zu können. Ich bin glücklicher, denn meine Rache hat bereits begonnen! Ich lud Sie ein, mich in dieser Nacht zu besuchen, und schleuderte Ihnen zu diesem Behufe den Hausschlüssel nebst Angabe der Stunde zu, wo dieser Besuch am leichtesten zu bewerkstelligen wäre. Ihr wiederholtes gellendes Pfeifen sagte mir, daß Sie meines Winkes gewärtig seien. Die Stunde ist gekommen. Haben Sie Muth, Zeuge der Rache eines Mädchens zu sein, an dessen Familie sich dieser schleichende Satan freventlich vergangen hat?«
»An seinen Qualen werd' ich mich weiden. Ich lechze nach seinem Blut, nach seiner Seele, obwohl er mein Bruder ist! Denn, sehen Sie, schönes Fräulein, mein liebster Junge ist von seinen Maschinen zerrissen worden und hat elendiglich umkommen müssen, weil ihn der Chirurg auf seinen Befehl schlecht curirte. Er starb am [] Brande. Dafür leide der Elende im ewigen Feuer der Hölle!«
»Verhalten Sie sich ganz ruhig und Sie sollen mit Zittern schauen, daß Adrian leidet!«
Bianca schloß die Laterne und Beide umfloß dichte Finsterniß.
»Halten Sie sich nur fest an meine Hand! Im Zim mer waltet spärliche Dämmerung.«
Geführt von dem rachedurstigen Mädchen trat Martell in das Schlafgemach seines gräflichen Bruders. Die nur halb geschlossenen Jalousien ließen gerade so viel Licht eindringen, daß man nach einiger Zeit alle Gegenstände des mittelgroßen Zimmers wie von leichtem Nebel verschleiert erkennen konnte. Auf breitem, mit seidenen Decken und schwellenden Kissen reich erfüllten Bett lag Adrian in tiefem Schlummer. Er ruhte auf dem Rücken, die linke Hand war überrücks geworfen und schmiegte sich fest geballt an seinen mit dünnem Haar bedecken Scheitel. Das feine weiße Hemd entblößte zur Hälfte den Arm und war auch auf der stark behaarten Brust weit gelüftet. Vor dem Bett breitete sich ein pupurrother Teppich aus. Zu Füßen des Lagers stand ein sehr bequemer Polsterstuhl. Auf [] diesen deutete Bianca, indem sie Martell zuflüsterte:
»Setzen Sie sich und geben Sie Acht, ohne einen Laut hören zu lassen!«
Nun stellte sich das schöne Mädchen dicht neben Martell, legte ihre Hände gefaltet über den Busen und richtete ihre beiden dunkeln Augen unverwandt auf den schlummernden schwer athmenden Grafen.
Es ist bekannt, daß der Blick des Menschen, fest auf einen Schlummernden geheftet, eine geheimnißvolle magnetische Kraft ausübt. Diese Kraft steigert sich bis zum Wunderbaren, wenn dem Magnetiseur ein starker Wille zu Gebote steht. Noch gewaltiger und überraschender ist die Wirkung, wenn zwischen zwei auf solche Weise mit einander in Rapport tretende Personen Bande der Verwandtschaft oder leidenschaftliche Zuneigung obwalten.
Bianca kannte Adrians leidenschaftliche Liebe zu ihr, sie wußte, daß er Tag und Nacht nur an sie dachte, von ihr träumte, und sie hatte das grausame Experiment, das sie mit kaltblütiger Ueberlegung jetzt zu Martells Genugthuung wiederholen wollte, schon mehrmals mit gutem Erfolge [] versucht. Bianca wollte Adrian nicht aus seinem unruhigen Schlummer wecken, sie wollte ihn durch ihre starren Blicke und die starke Kraft ihres Willens nur im Schlafe magnetisiren und ihr Bild in seiner geängstigten Seele aufsteigen lassen, um diesem sodann ein anderes, entsetzlicheres unterzuschieben.
Dieses grausame Experiment gelang ihr bewunderungswürdig. Schon nach wenigen Minuten hob sich die Brust des Schlummernden unter schmerzlichem Stöhnen. Er bewegte das bleiche, schweißtriefende Haupt und die Lippen öffneten sich zu flüsterndem Gespräch.
»Grausame!« stöhnte Adrian. »Warum diese Dolchspitzen in Deinen Blicken? ... Sie verwunden ... mein Herz ... sie schneiden tief ... tief in das Mark ... meiner Gebeine!.. Sieh ... Du kannst lächeln ... o wie süß lächeln! ... Nun kommst Du ... näher ... nun fühle ich ... Deinen warmen ... Athem ... Dein Busen ... klopft an meiner Brust ... o welche Wonne! ... Ha, Gespenst ... Fort, fort! ...«
Adrian wand sich convulsivisch auf seinem Lager, während Bianca lautlos, kalt, mit entsetzlicher Entschlossenheit und verstärktem Willen [] tiefer und immer tiefer, gleich einer grauen Riesenschlange, sich über das Bett des Unglücklichen beugte, ihre langen aufgelösten feuchten Haare darüber breitend, bis sie die Brust des Träumenden berührten. Ihr Hauch traf seine Lippen, seine Augen, und unbewegt fuhr Bianca fort, ihre schrecklichen Blicke auf den Gefolterten zu heften.
»Therese,« wimmerte der Träumende, »noch immer verfolgst Du mich? ... Willst Du mir ... denn nie ... vergeben? ... O diese brennenden Locken! ... Wie sie glühen! ... Wie sie mich umlohen ... wie Flammen ... der Hölle! ... Nein, ich will nicht ... diese triefende Hand! ... Diese blauen, schaudernden Lippen sollen ... mich nicht berühren ... Bianca! O rettender, heiliger, geliebter, süßer Engel ... verscheuche ... erwürge ... dies Gespenst! ...«
Bianca warf ihre Haare zurück und erhob sich etwas, doch ohne ihre Augen von dem Röchelnden zu verwenden. Mit der Hand winkte sie Martell, daß er sich langsam bis an die Thür zurückziehen solle.
Adrian's Gesichtszüge trugen die Spuren der furchtbarsten Seelenschmerzen, aber gebannt [] von dem dämonischen Auge des schönen Mädchens konnte er die qualvollen Bande des Schlafes nicht abschütteln, den Geisterarmen des Traumes, unter dessen Umarmungen er litt, nicht sich entwinden.
»Tödte mich!« flehte er wimmernd, »nur diese Blicke ... bohre nicht in meine jammernde Seele! ... Ich war nicht Schuld ... an Deinem Tode ...«
»Elender! Selbst im Traume noch lügt er!« flüsterte Bianca verächtlich und wich, Martell folgend, Schritt vor Schritt nach der Thür zurück.
»Ha ... Gott Lob ... Gott Lob ... das Gespenst ... zerrinnt! ... Ich lebe ... wieder ... Ich fühle meine Pulse wieder schlagen! ... O des Jammers!«
Mit einem stöhnenden Schrei fuhr Adrian wild auf vom Lager. Seine Augen waren noch auf Bianca gerichtet, die in diesem Augenblick an der Thür verschwand. Ihren Schatten erhaschte der erwachende Graf, und beide Hände heulend über sein Gesicht drückend, warf er sich zurück in die Kissen und wimmerte:
»Barmherziger Himmel, es ist wirklich ihr [] Geist, der mich peinigt! der mich noch wahnsinnig machen wird ...«
Geräuschlos und schweigend, wie Bianca den Spinner die Treppe heraufgeleitet hatte, führte sie ihn wieder hinunter. Auf der Flur öffnete sie abermals ihre Blendlaterne. Alle Fibern ihres schönen Gesichtes zitterten, aber sie lächelte.
»Nun, Martell, gefällt Ihnen diese Art Rache?« fragte sie mit einem Zuge teuflischer Schalkheit um den jetzt bleich gewordenen Mund.
»Sie ist eines Weibes würdig,« erwiederte Martell.
»Dünkt Ihnen diese Art, sich an seinem Todfeinde zu rächen, allzu grausam?«
»Nein, schönes Fräulein! Sie gefällt mir blos nicht.«
»Warum, mein Freund?«
»Weil der Bestrafte bewußtlos leidet.«
»Haben Sie sein Stöhnen gehört, seine Worte vernommen, sein krampfhaftes Beben gesehen? Und nennen Sie das bewußtlos leiden?«
»Sobald er erwacht, glaubt er, ein böser Traum hat ihn gequält, oder hält es für Alpdrücken! [] Es bleibt immer nur ein vorübergehender Spuk.«
»Aber ein Spuk, der sich allnächtlich wiederholt! Der Tag beginnt ihm nur zu scheinen, damit er sich während seiner Dauer vor den höllischen Schrecknissen der Nacht fürchtet! Wäre dies aber auch nicht der Fall, so peinigte ihn doch seine Liebe zu mir.«
»Er – Adrian liebt Sie?«
»Ja, mein Freund,« lächelte Bianca und strich sich die wilden Locken aus der Stirn, »er liebt mich bis zur Tollheit und ich bin so freundlich, ihn immer noch verliebter in mich zu machen. Das gibt mir größere Gewalt über ihn, und daß ich diese auf die denkbarste Weise zu benutzen verstehe, haben Sie gesehen! Sie könnten künftighin Theil nehmen an meiner Rache!«
»Nein, Fräulein! Ich will lieber warten, bis ich ihn wachend quälen kann, das ist männlicher; gegen wache Qual kann er sich, wenn er Kraft und Muth besitzt, vertheidigen.«
»Wie Sie wünschen, mein Freund! Aber nicht wahr, Martell, mein Wort hab' ich gehalten und die Schwester, die seinetwegen frewillig aus dem Leben ging und mich um Tugend und [] Ehre brachte, gerächt, wie nur ein Weib es kann?«
»Ich muß Sie bewundern, ohne Sie loben zu können.«
»Gute Nacht denn, mein Freund! Sinnen Sie alsbald nach, wie Sie den Wachenden züchtigen wollen, ich will indeß fortfahren, den Schlafenden auf die Qualen der Hölle vorzubereiten, die er tausendfach verdient hat. Nochmals gute Nacht!«
Bianca sprach dieses zweite »gute Nacht« wieder mit jenem verführerischen Sirenentone, daß es Martell heiß über den ganzen Körper lief. Er floh mit raschen Schritten dem See zu, indem er ausrief:
»Steh' Gott jedem Manne bei, der in die Schlingen dieser furchtbaren Schönheit fällt!«
Langsamer ging die verkörperte Nemesis nach ihrem Zimmer, wo sie sich ruhig entkleidete und mit vergnügtem Lächeln auf den sich wieder röthenden Lippen ihr weiches Lager bestieg und schnell sanft und ruhig entschlummerte.
[] Fünftes Kapitel.
Die Torfhütte.
Mit den nöthigen Instructionen versehen kam inzwischen Gilbert nach Boberstein. Zu Erreichung seines Zweckes würde es nicht rathsam gewesen sein, wenn er sich wie ein Schatten an Martells Fersen geheftet hätte. Er zog es daher vor, dem Spinner nur besuchsweise zu begegnen, sein Quartier aber auf der Insel selbst aufzuschlagen. Dies ließ sich leicht und ohne Aufsehen bewerkstelligen, da Vollbrecht bereitwillig die Hand zu jedem Schritte bot, der seinem verhaßten Gebieter verderblich werden konnte und sollte.
Gilbert enthusiasmirte sich sogleich für das Fabrikwesen, weniger aus wirklichem Interesse an der Sache, als weil seine lebhafte Natur das [] Bedürfniß nach Beschäftigung fühlte und diese in Betrachtung der kunstreichen Maschinerie fand, die für den wißbegierigen Matrosen gleicherweise ein Räthsel und ein Gegenstand der höchsten Bewunderung war. Ueber dem gewaltigen Mechanismus dieser tausend und abertausend Räder vergaß er anfangs den Zweck seiner Sendung vollkommen. Nur die Maschilrenkammer mit ihren ächzenden Hebeln und Walzen oder die vom Rollen der Spindeln ewig erbebenden Säle der Spinner fesselten ihn. Hier konnte man den jungen Matrosen von früh bis in die Nacht umherwandern und mit glänzenden Augen das geheimnißvolle Schaffen der kunstreich ineinandergreifenden Stahlzähne anstaunen sehen. Selbst seine angebliche Leidenschaft für Bianca trat eine Zeitlang vor dem neuen Gegenstande seiner Bewunderung in den Hintergrund.
Vollbrecht benutzte dies hohe Interesse des Jünglings zur Förderung der Zwecke seiner Freunde. Er weihte ihn mehr und mehr in das Geheimleben des Geschäftes ein, nahm ihn, so oft er konnte, mit auf sein Comptoir, um ihm aus den Büchern darzuthun, wie unendlich verwickelt das Geschäft sei, dem er vorstand, [] und welche große Summen es dem Besitzer eintrage, wenn es mit so ausgesuchter Speculation betrieben werde, wie Adrian seit Jahren es beliebte. Gilbert ließ sich gern von dem freundlichen Manne unterrichten, glaubte ihm auf's Wort, bat ihn aber recht dringend, ihn fernerhin mit Vorzeigung der Rechnungsbücher zu verschonen, da er von diesen Dingen durchaus nichts verstehe.
Bei diesen täglichen langen Besuchen in der Fabrik lernte Gilbert nicht allein die Wirksamkeit der Maschinen, ihre Sructur und wie man sie zu leiten habe, kennen, er that auch einen tiefen Blick in das Leben der Arbeiter, die in diesen öldunstigen, ungesunden Räumen mühselig ihr Brod verdienten. Sein leicht empfängliches Herz empörte sich beim Anblick dieser kümmerlichen Existenz so vieler Menschen und wenn je, so wünschte er jetzt dem, welcher dieselbe über sie verhing, alles nur erdenkliche Böse. Begreifen aber konnte er nicht, wie es Martell nach den gemachten Entdeckungen noch möglich war, mit dieser wahrhaft heroischen Ruhe täglich oder nächtlich, wie eben die Reihe ihn traf, fleißig und ohne Murren zu schaffen und für den [] zu arbeiten, der ihn nach menschlichem und göttlichem Recht mit Rührung an sein Herz hätte drücken, ihn Bruder nennen und gleiche Rechte ihm hätte zugestehen sollen! Diese Ruhe und Entschlossenheit des meistentheils finstern und verschlossenen Mannes nöthigte dem Jünglinge eine Ehrfurcht ab, wie er sie vor Niemand noch empfunden hatte, und hinderte ihn länger als es ihm lieb war, den heimlichen Gängen Martells mit der Ausdauer nachzuspüren, die man von ihm heischte.
Das anfänglich absichtliche Zögern, das sich nach einigen Tagen von selbst unabsichtlich verlängerte, hätte beinahe seine ganze Sendung fruchtlos gemacht. Denn als der junge Matrose nach Verlauf von etwa acht bis zehn Tagen die Dorfschenke in später Abendstunde aufsuchte und Martell daselbst inmitten seiner freigebigen Freunde zu treffen glaubte, begegnete er nur fremden Gesichtern. Mehrere Tage hinter einander setzte er seine regelmäßigen Besuche mit keinem bessern Erfolge fort. Martell war und blieb verschwunden und auf Befragen des Wirthes erfuhr Gilbert zu seinem großen Leidwesen, daß ein Zwist den [] riesigen Spinner mit seinen Gästen vertrieben habe! –
Das war ein ärgerlicher Zufall und Gilbert machte sich ernstliche Vorwürfe, daß er über Gebühr gezögert und das Vertrauen seiner Freunde so wenig gerechtfertigt hatte. Von Martell selbst war nichts zu erfragen, obwohl Gilbert kein Mittel unversucht ließ, um den Spinner geschickt auszuhorchen. Der finstere Mann schwieg hartnäckig auf alle Fragen. Doch zeigten sich täglich immer unverkennbarer die Folgen seiner unregelmäßigen, aufreibenden Lebensweise! Sein bisher bleiches eingefallenes Gesicht begann sich zu röthen, die Haut erschien rissig und glänzend und das Zittern seiner Hände war, namentlich am frühen Morgen, so heftig, daß die große Uebung Martells dazu gehörte, um diesen Uebelstand wieder auszugleichen. Jeder andere minder Geschickte würde alles in Grund und Boden verdorben, vielleicht gar die Maschine in momentanes Stocken gebracht und dadurch unübersehbares Unglück hervorgerufen haben.
Von Lore erfuhr Gilbert, daß Martell, wenn seine Arbeitszeit es gestattete, mit Anbruch der Nacht regelmäßig das Haus verlasse und [] gewöhnlich erst spät zurückkomme. Weder ihre eigenen, noch ihres frommen Vaters Bitten vermochten den rabiaten Spinner von diesen nächtlichen Spaziergängen abzuhalten. Er hatte sogar wiederholt betheuert, sie würden zu seinem und der Seinigen Glück führen und hingen sehr genau zusammen mit den Bestrebungen der übrigen vornehmen Verwandtschaft.
Unserm jungen Freunde blieb nach diesen Erkundigungen weiter nichts übrig, als auf eigene Faust zu handeln und das Versäumte wo möglich nachzuholen. Dies erforderte aber große Vorsicht, da in Martell bereits Verdacht gegen den jungen Matrosen erwacht war und er sich möglichst fern von ihm zu halten suchte. Dennoch sollte Gilbert seinen Zweck noch früher erreichen, als er nach dem Vorhergegangenen selbst glaubte. Bianca bot ihm dazu freundlich die Hand.
Seit der im vorigen Kapitel geschilderten Nacht fühlte Martell bisweilen das schreckliche Bedürfniß, seinen Todfeind sich winden zu sehen unter den Qualen, die das dämonische Mädchen über ihn verhing. Er verständigte sich mit Bianca und diese ließ den Spinner auf ein verabredetes [] Zeichen an Adrians Folterbett treten, wenn sie sich ihrer Gewalt über den Grafen gewiß war. Ob während dieses kurzen Zusammenseins eine heimliche Neigung des Spinners zu dem schönen grausamen Mädchen erwachte, wagen wir nicht zu entscheiden; vermuthen aber läßt es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit, indem Martell Bianca unaufgefordert den vorgefallenen Zwist mittheilte und ihr sagte, wohin er seit dieser Zeit seinen sich immer gleich bleibenden großmüthigen Freunden gefolgt sei.
Die jetzige Haushälterin Adrians hatte Gilbert bei seiner Ankunft nach Boberstein weit freundlicher empfangen, als es der Jüngling vermuthen und erwarten durfte. Diese Zuvorkommenheit veranlaßte ihn zu häufigen Besuchen bei der Schönen und bald verging kein Tag mehr, wo nicht beide junge Leute ein Stündchen angenehm mit einander verplauderten. Bianca war die Anmuth selbst, immer heiter, zuvorkommend, bis zu gewissem Grade dienstfertig, aber freilich an ein Kundgeben von Neigung war bei alledem nicht im Entferntesten zu denken. Es schien wirklich, als besitze dieses unerklärbare Wesen das Geheimmittel, gegen Jedermann die [] Liebe selbst zu sein, ohne doch die geringste Ahnung davon zu haben. Sie bezauberte und nahm doch immer den Schein an, als wisse sie nichts davon, als sei es Pflicht jedes weiblichen Wesens, in ihrer Stellung grade so und nicht anders sich Männern gegenüber zu betragen.
Gilbert gab es daher auch auf, das Herz der Schönen zu bestürmen, obwohl er nicht immer genug Herr über sich war, der lächelnden Spötterin dies nicht merken zu lassen. Unwillkürlich fiel er bisweilen aus der Rolle eines Freundes in die eines feurigen Verehrers, und Bianca hatte dann die angenehme Pflicht, mit der liebreizendsten Grazie ihn darauf aufmerksam zu machen.
In seinen Gesprächen mit diesem Mädchen gedachte er auch Martells und seines unregelmäßigen Lebens. Wider Erwarten fand er in ihr eine ganz entschiedene Bundesgenossin, die kein Mittel für unerlaubt hielt, wenn es nur zur Rettung des Unglücklichen dienen konnte. Ohne langes Bitten erfuhr er von Bianca, wohin Martell und seine bedenklichen Freunde sich gewendet hatten und schon in der nächsten Nacht sehen wir Gilbert, mit seinem Dolche bewaffnet, [] das Niederholz durchstreifen und einem trüben Lichtschimmer zueilen, der aus einer Vertiefung heraufglänzte, die rundum von dichtem Gehölz umgeben war.
Diese wichtige Entdeckung machte unser junger Freund Anfang März. Das Versteck lag eine halbe Stunde von Boberstein in einer nicht mehr benutzten Torfgräberei und bestand aus einer bloßen Bretterhütte, wie sie zum Obdach für die Waldwächter häufig in den großen Waldungen angetroffen werden. Zu ungestörter Zwiesprach eignete sich die Oertlichkeit vortrefflich; denn es führten nicht allein blos schmale, wenig betretene und sich noch dazu mehrmals kreuzende Fußsteige nach dem Versteck, die alte Torfgrube war außerdem auch noch durch steile Wände von dem übrigen Haidelande abgeschnitten, so daß es einem Unbekannten schwer ward, in die Tiefe hinabzusteigen und die Hütte zu erreichen.
Lauschend blieb Gilbert am Rande der Torfgrube stehen. Aus der schlechten Hütte, die graues Nebeldüster kaum erkennen ließ, drangen Töne verworrener Stimmen, heiseren Lachens und das matte Klingen voller Gläser zu ihm herüber. Rundum war Alles todtenstill bis auf [] das melancholisch-eintönige Rauschen der Haide.
Furcht kannte Gilbert nicht, dennoch schlich er zaudernd an dem Rande der finstern Grube fort, da er keine Spur von Weg entdecken konnte und auf Gerathewohl in die Tiefe hinabzuspringen doch keine Lust hatte. Es verging eine geraume Zeit, ehe er eine Stelle fand, die man im Nothfalle für einen Weg halten konnte. Der Boden war naß und glatt, so daß es kaum möglich war, Fuß darauf zu fassen. Indessen, an halsbrecherische Pfade gewöhnt und im kühnen Klettern geübt, wagte der junge Matrose, diesen kaum erkennbaren Weg zu betreten, der ihn auch sehr schnell auf den Grund der Grube beförderte, obwohl in einer Weise, die er nicht beabsichtigt hatte. Unten angekommen fand er sich in einem Tümpel zähen Schlamms bis an die Knöchel stehen, den er unter kräftigem Fluche durchwatete. Zum Glück hielt die Lache nur wenige Schritte im Durchmesser; Gilbert erreichte bald das Trockene, eine etwas höher gelegene Schicht lettigen Erdreichs, das dammartig die Grube durchschnitt und in gerader Richtung auf die Hütte zuführte. Ueber diesen Damm lief [] auch der eigentliche Fußpfad nach dem Haidelande, wie der Matrose jetzt zu spät bemerkte.
Eiligen Schrittes näherte sich nun der jugendliche Späher der Torfhütte, deren Thür von innen fest verriegelt war, wie ein behutsamer Druck auf die Klinke ihm sagte. Auch das einzige kleine Fenster schützte ein Bretterladen gegen Wind, Wetter und Blicke Zudringlicher. Gilbert fand auch diesen so stark befestigt, daß er ihn nicht bewegen konnte. An den Seiten schimmerte zwar der Lichtschein durch, allein Raum für einen Blick in's Innere gewährten die feinen, kaum sichtbaren Spalten nicht.
Wie ein Luchs umschlich Gilbert die Hütte, um irgend eine Oeffnung zu entdecken. Lange blieb sein Suchen fruchtlos llnd die Geduld des heftigen jungen Menschen begann zu wanken. Am liebsten hätte er mit beiden Fäusten gegen die dünnen Bretter gedonnert und die lustigen Kumpane dadurch zu einem Ausfalle gezwungen; allein er besann sich, welche Folgen so übereiltes Thun haben könne und begann von Neuem die Hütte zu umschleichen. Endlich entdeckte er einen Ast, der sich in der etwas erweiterten Oeffnung hin und wiederschieben ließ. [] Es wäre ein Leichtes gewesen, diesen nach Innen zu stoßen, da er aber nicht wissen konnte, ob die Hütte gedielt sei, und der Fall des Astes unfehlbar Geräusch verursacht haben würde, so bemeisterte Gilbert seine Unruhe, ergriff seinen Dolch und zog den Ast mit großer Behutsamkeit aus dem Brett. Ein voller Strahl des Lichtes belohnte seine Bemühungen und als er das Auge an die Oeffnung legte, konnte er den engen Raum der Hütte vollkommen übersehen. Doch kaum hatte Gilbert einen Blick in das Innere gethan, als er erschrocken und zitternd wieder zurücktaumelte.
»Gott erbarme sich!« rief er flüsternd aus. »Das ist Elwirens Vater und der scheußliche Musiker aus der Mohrentaverne! – Und zwischen Beiden mitten inne der unglückliche Martell! ... Bei meiner Mutter Haupt, sie trinken brennenden Punsch oder Grog ... und der Spinner, des Kapitäns Halbbruder, er ist wahrhaftig betrunken wie ein Neger! ... Aber was lärmen und lachen diese Elenden denn über den armen Fabrikarbeiter? Laßt doch hören!«
Und statt des Auges legte jetzt Gilbert sein [] Ohr an das Astloch und vernahm schaudernd folgendes Gespräch:
»Heda, Schwarzkopf, aufgeschaut!« sagte Klütken-Hannes, indem er Martell, der auf seinem Sessel hin und her wankte, derb anstieß. »Was meinst Du zu einer neuen Gesundheit auf Ihn? Das Glas ist voll und singt schon von selber vor Freude über den Toast, den es sich mit anhören soll. Bei allen blaubrennenden Branntweinteufeln, Kerl, laß das Kopfwackeln sein und stoß' mit an! Der Fabrikherr –«
»Soll leben wie ich!« fiel Martell ein, erhob mit zitternder Hand sein Glas und goß die glühend heiße Flüssigkeit gurgelnd in den Schlund. Gleich darauf schlug er mit dem Kopf gegen den Tisch und bewußtlos brach der riesige Körper des Betäubten zusammen.
»Er hat genug!« grinste Blutrüssel, indem er schnell sein Glas ausgoß und es trotzig vor sich hinstellte.
»Heut glaub' ich selber, das Pulver wirkt,« entgegnete Klütken-Hannes, folgte dem Beispiele seines entmenschten Gefährten und richtete alsdann den Berauschten mit Hilfe Blutrüssels auf.
[] Martell war jetzt völlig bewußtlos. Jedes Glied seines Körpers zitterte, als ob ein heftiger Frost es schüttelte; die Augen standen offen und sahen stier und gläsern auf einen Fleck. Eine grün-blaue Farbe überzog sein Antlitz und gab ihm das Ansehen eines an der Cholera Verstorbenen.
»Dummer Teufel!« lachte Blutrüssel. »Säuft, was wir ihm vorsetzen, weil's ihn munter macht, und schließt Freundschaft mit zwei stockfremden Kerlen blos deswegen, weil sie den Mann, den er haßt, einen Menschenschinder nannten! – Ich bitt' Dich, Hannes, ist Dir je noch ein unschuldigerer Lümmel begegnet unter hungerndem Lumpenpack?«
»Mir wär's am liebsten, er läge schon in den letzten Zügen,« versetzte Klütlen-Hannes. »Sieh, er rührt sich wieder! ... So macht er's nun alle Abende trotz der doppelten Gaben! Und ich, der ich doch blos nippe, ich spür' es in allen Gliedern!«
»Ha, ha, ha, ha! Du wirst mit ihm abfahren, gröhlend und brüllend, wie ein gestochenes Schwein! Es ist zum Todtlachen! Ha, ha, ha!«
[] »Vieh, ich glaube gar, Du wünschest mir den Tod? Sieh Dich vor, Zähnefletscher!«
»Ah was! Meinetwegen lebe noch hundert Jahre, ich hindere Dich nicht daran, aber lachen müßt' ich doch, wenn Du drauf gingst, wie ein Hund.«
»Und warum, Geselle des Teufels?«
»Weil Du so dumm gewesen bist, einen so einfältigen Contract abzuschließen. Mit Schuften, Freundchen, muß man ganz anders unterhandeln.«
»Nun beruhige Dich, alter Sünder, Du sollst mir auch im Tode Gesellschaft leisten!«
»Doch nicht gleich?« höhnte Blutrüssel. »Ich bitte Dich, wohlgerathenes Muttersöhnchen, laß mir nur Zeit, zuvor das gewonnene Geld in Sicherheit zu bringen, dann kann der Tanz losgehen, wenn Du willst. Du kennst meine Finten!«
Und das viehische Scheusal zog sein Messer und schwang es mit blutgieriger Freude mehrmals um sein grauhaariges Haupt.
»Schweig, Hund! Er richtet sich auf, wir müssen ihn unterstützen, daß er keinen Verdacht [] schöpft. So – halt' ihm den wackelnden Kopf! Er wird gleich wieder bei sich sein.«
Von den Armen der beiden Verworfenen gehalten, kehrte Martell das Bewußtsein zurück. Das Gesicht röthete sich, die Augen bekamen wieder Glanz, aber einen Glanz, der entsetzen mußte, so glühten die finstern Sterne. Die Hände flogen, als würden sie von electrischen Schlägen fortwährend in Bewegung gesetzt. Seine Stimme lallte blos, denn auch die Zunge des Unglücklichen gehorchte nicht mehr seinem Willen.
»Ich habe Feuer ... im Herzen,« stammelte Martell. »Gebt mir ... Wasser, daß ich ... die Gluthen ... auslösche! Hu! Wie mich friert! ... Als ob ... die Hand ... des Todes auf ... meiner Stirn ... ruhte!«
»Er hat das Fieber,« lachte Blutrüssel. »Wie wär's, wackrer Kumpan, wenn Du noch ein Gläschen oder ein halbes aufgössest? Feuer muß man mit Feuer löschen, das ist probat!«
»Ja, ja, ... einen Schluck ... Himmel wie's mich wirft!«
»Du hast Dich erkältet, armer Bursche,« sagte Klütken-Hannes. »Der Abend ist auch [] wirklich noch zu kühl für Deine Kleidung. Du hättest den Mantel umwerfen sollen.«
»Mantel!« schrie Martell wie rasend und riß sich mit gewaltiger Anstrengung aus den Armen der beiden falschen Freunde. »Ich zermalme Euch wie ein paar Regenwürmer, wenn Ihr ... davon sprecht! Ein elender Spinner ... einen ... Mantel!«
Die Kraft verließ den Unglücklichen abermals und ermattet fiel er wieder in die Arme seiner Genossen.
»Also noch ein Schlückchen Halbwarmen, wie? ... Zur Stärkung für den Heimweg. Denn es ist, Gott verdamm' mich, schon in der eilften Stunde! Vor Mitternacht erreichen wir den See nicht!«
Mit diesen Worten reichte Klütken-Hannes dem zum Tode Verurtheilten von Neuem das gefüllte Glas, geleitete die zitternde Hand des Unglücklichen zum Munde und ließ nicht ab, bis er es ganz geleert hatte.
»Nicht wahr, das wärmt?«
»Es brennt ... aber ... das thut nichts ... Wenn nur ihn der Teufel holt! ... Wie ist's ... Morgen?«
[] »Uebermorgen, Freund! Wir müssen in die Haide Geschäfte halber.«
»Dann geht's wieder volle acht Tage, wie heut!« setzte Blutrüssel hinzu.
»Wie heut? Hu! ... dann ging's ... schlecht! – Ich brenne und ... erfriere zu gleicher Zeit! ... O, das ist ... gräßlich!«
Martell warf sich an die Erde und wälzte sich convulsivisch auf dem Boden.
»Er macht's aus,« flüsterte Klütken-Hannes seinem verbrecherischen Genossen zu. »Morgen, stellt uns der Teufel kein Bein, können wir unser Geld einstreichen und fröhlich von dannen ziehn!«
»Noch nicht! – Er wird schon wieder ruhig.«
»Sieh, wie er zuckt! – Das ist der Todeskampf!«
»Lassen wir ihn liegen? – Das Vieh mag ohne uns himmeln.«
»Und wenn er wieder zu sich kommt?«
»Hol' ihn die Pest, oder – mein Messer hilft dem Pulver nach! ... Ich bin es überdrüssig, mich länger mit der wildtrotzigen Fratze herum zu martern!«
[] »Wer heißt Dir's? Du kannst gehen, wenn's Dir nicht gefällt. Bist mir ohnehin nur im Wege.«
»So lange es mir gefällt!« grinste der Mörder. »Will ich mein altes Handwerk wieder aufnehmen, so hast Du am längsten Wasser geschluckt! – Na, sei ruhig Freund! Ich erinnere Dich blos, wenn Du die Pflichten der Dankbarkeit im Unmuth hintansetzen willst. Wir bleiben Freunde, denk' ich, bis uns beim lustigsten Trunk der Teufel selbander holt.«
Klütken-Hannes mußte nothgedrungen die dargereichte Hand des Entsetzlichen annehmen. Beide Verworfene schüttelten sich die verbrecherischen Hände und gelobten sich unter gräßlichen Eidschwüren auf's Neue unverbrüchliche Treue. Inzwischen raffte sich Martell doch wieder auf. Nach den erschütternden Krämpfen schien ihm die angeborene Riesenkraft zurückzukehren. Er stand vom Boden auf ohne Beihilfe, schüttelte mehrmals sein lockiges Haupt und forderte dann die beiden Andern barsch zum Aufbruche auf. Diese zeigten sich willig und nachdem Klütken-Hannes das Licht behutsam ausgelöscht und die Ueberreste des Branntweins in einem Verschlage verborgen[] hatte, entriegelte er die Thür und trat, Martells Hand in der seinigen haltend, in die finstere Nacht hinaus. Ihm auf dem Fuße folgte, einem unheimlichen Schatten gleich, der Mörder von Herta's Vater. –
Mit angehaltenem Athem hatte Gilbert diesem Gespräch zugehört und daraus den abscheulichen Anschlag auf Martells Leben entnommen. Er konnte keinen Augenblick zweifeln, daß Adrian der Anstifter dieser Schändlichkeit sei, daß hier ein Bruder seinen Bruder auf Befehl eines dritten Bruders meuchlings morden solle, vielleicht schon gemordet hatte; denn wer konnte wissen, ob die Riesennatur Martells der Gewalt des genossenen Gistes widerstehen oder erliegen werde!
Da es thöricht gewesen wäre, den beiden heimtückischen Mördern den Weg vertreten zu wollen, so hielt sich Gilbert bei ihrem Aufbruche aus der Torfhütte ganz ruhig. Er ließ sie eine Strecke vorausgehen, bis sich die rauhen Stimmen der laut Sprechenden im Dickicht des Waldes verloren. Dann folgte er ihrer Spur und traf fast zu gleicher Zeit mit ihnen im Arbeiterdorfe ein.
In seiner Wohnung angekommen, überlegte [] der heftig erschütterte Jüngling, was jetzt zu thun sei, um wo möglich Martell noch zu retten, die gedungenen Mörder unschädlich zu machen und den Anstifter des Verbrechens der gerechten Strafe zu überliefern. Ein schneller und energischer Entschluß war nöthig, denn schon übermorgen sollte der nichts Böses Ahnende im Rausche vollends umgebracht werden! –
Allein und auf seine Verantwortung hin mochte er nicht handeln. Deshalb schrieb er wenige dringende Zeilen an Aurel, worin er ihm meldete, daß er Entdeckungen von der größten Wichtigkeit gemacht habe. Der Kapitän möge daher unmittelbar nach Empfang dieser Zeilen nach Boberstein aufbrechen und wo möglich den Maulwurffänger mitbringen!
Dann weckte er Vollbrecht, bat diesen inständigst, er möge ihm einen zuverlässigen Boten nennen, dem die Besorgung eines wichtigen Briefes anzuvertrauen sei, und beruhigte sich erst, als ein solcher gefunden und mit der wichtigen Meldung nach Boberstein abgeschickt worden war.
Vollbrechts Fragen ließ Gilbert unbeantwortet,[] indem er ihn auf die Vorgänge der nächsten Tage verwies.
So kam der Morgen heran, ohne daß unser junger Freund ein Auge geschlossen hatte. Um sich zu zerstreuen, eilte er in die Fabrik. Hier fand er Martell schon an der Arbeit, zitternder als gewöhnlich und mit fahlem eingefallenen Todtengesicht. Der Spinner reichte ihm die Hand; sie war heiß und trocken und ein schneller, harter Puls klopfte in den blutstrotzenden Adern. Von einem Rausche konnte man übrigens nichts bemerken, nur ein trockener Husten, ein pfeifendes Athemholen und zuweilen tiefes Stöhnen ließen den Ausbruch einer Krankheit vermuthen, die bereits in den Eingeweiden des Unglücklichen wühlte.
Schon gegen Abend trafen Aurel, der Maulwurffänger und Paul Sloboda, Haideröschens jüngster Sohn, auf raschem Fuhrwerk in Boberstein ein. Gilbert war ihnen eine Strecke Wegs entgegen gegangen, um sie zu verhindern, in der Wohnung Martells einen Besuch zu machen. Er wünschte, daß ihre Ankunft ganz verborgen bleibe. Deshalb bat er auch den [] Kapitän, er möchte erst im Schutz der Nacht die Insel heimlich betreten.
Aurel mußte diese Vorsichtsmaßregeln billigen. Die mündlichen Mittheilungen Gilberts entsetzten sowohl ihn als den Maulwurffänger und es dauerte geraume Zeit, ehe sie daran glauben konnten.
»Es wäre doch zu entsetzlich,« rief der Kapitän wiederholt aus, »wenn sich alles so verhielte, wie Du behauptest! – Arme Herta! Unglückliche Elwire! – Und dieser Blutrüssel –!«
»Ich täusche mich nicht, Kapitän! Die Nacht in der Mohrentaverne ist meinem Gedächtniß zu tief eingeprägt. Kein Anderer, als jener scheußliche Musikant, von dem Sie Kunde erhielten, daß Ihre gnädige Tante noch am Leben sei, war gestern Nacht des Trödlers Gefährte!«
»Weißt Du seinen Aufenthalt? Wir müssen ihn unschädlich machen.«
»Nein, Kapitän! Gedulden Sie sich aber bis morgen Nacht, so können wir die beiden Unholde gefangen nehmen.«
»Weshalb so lange zögern?«
»Weil sie heut in Geschäften, wie ich aus [] ihrem eigenen Munde gehört habe, in der Haide herumlaufen.«
»Sind sie bewaffnet?«
»Mit langen Messern.«
»Dann müssen wir die Torfhütte umstellen, sie einschließen und überrumpeln!«
»Damit die beiden Teufel dem armen Martell die Kehle abschneiden?« warf der Maulwurffänger ein. »Wenn Sie erlauben, mein Herr Kapitän, so möchte ich mich diesem Feldzugsplane widersetzen. Ich habe einen andern Gedanken.«
»Laßt hören, braver Alter!« sagte Aurel.
»Aus der Beschreibung des flinken Matrosen kann ich mir abnehmen,« erwiederte der Maulwurffänger, »daß die verruchten Satanskinder Ihren Herrn Halbbruder nach jener Torfgrube gelockt haben, die in der Haide unter dem Namen des Binsenloches bekannt ist. Ich kenne die alte Wächterhütte ganz gut, denn sie hat mir manche Nacht zum Obdach gedient. Groß ist das Bretterhäusel freilich nicht, aber um sich drin zu verstecken, hat es doch Raum genug. Es besteht aus zwei ungleichen Hälften und einem Verschlage, um Lebensmittel drin zu verschließen.« [] Die Gauner sind im eigentlichen Wohnzimmer gewesen, hör' ich, die Kammer daneben, scheint mir, hat Keiner von ihnen betreten. Wer weiß, ob sie sie gar kennen! Wie dem aber auch sei, es thut nichts zur Sache! »Wer vorkommt, mäht vor,« ist ein altes gutes Sprichwort, auf das sich alle Deutschen verlassen können bis zum jüngsten Tage! Aus diesem Grunde mein' ich, meine Herren, wir schlichen uns alle vier mit Stricken wohl versehen bei Zeiten nach dem Binsenloche und verkröchen uns schönstens in der Kammer des Wächterhauses. Kommen dann später die Mordkerle mit ihrem vergifteten Gesöff, um unserm unglücklichen Freunde vollends das Garaus zu machen, so packen wir die Sackermenter risch risch so viel wie geschwind. bei der Kehle und binden sie, daß sie die Engel im Himmel singen hören, als stünden sie wie die Ostersänger dicht vor der Hütte! Was hernach weiter geschehen soll, das mag der Herr Kapitän und das Gericht bestimmen.
Aurel fand diesen Vorschlag so annehmbar, daß er sich dankend dafür entschied und den [] Maulwurffänger beauftragte, für alles Nöthige zu sorgen.
Am frühen Morgen des nächsten Tages ging Aurel sehr zeitig mit Gilbert aus, um die Torfgrube zu besichtigen und sich mit den Oertlichkeiten bekannt zu machen. Sie fanden die Thür der Hütte unverschlossen, in dem Verschlag einen großen Vorrath von Branntwein und Rum, ein Kohlenbecken nebst Feuerzeug und mehrere Gläser und Kannen. Die Kammer war bis auf einige von Ratten und Mäusen zernagte Strohsäcke ganz leer. Sie eignete sich vortrefflich zu einem Versteck, da an der Thür ein schmales Schiebefenster angebracht war, das man nach Belieben öffnen und schließen konnte. Um unbemerkt zu bleiben, ordnete Aurel die Schemel in der Stube so um den Tisch, daß die nächtlichen Zecher der Thür den Rücken zukehren mußten.
Den Rest des Tages verbrachte der Kapitän mit Gilbert auf der Jagd, da Vollbrecht aus Adrians Gewehrzimmer unbemerkt ein paar vortreffliche Doppelflinten hatte entnehmen können. Mit der Abenddämmerung kehrten sie zurück und eilten sogleich in ihr Versteck, wo [] bald darauf auch der Maulwurffänger und Paul ankamen.
Lange mußten sie vergeblich warten, erst in der neunten Stunde hörten sie, daß sich schlürfende Schritte der Hütte näherten und drei Männer schweigend in die Stube traten. Einer von ihnen schlug Feuer an, entzündete ein Talglicht und stellte es auf den Tisch. Aurels Späherauge erkannte in ihm Klütken-Hannes. Inzwischen beschäftigte sich Blutrüssel mit Entflammen der Kohlenpfanne, um das scharfe Getränk zu erhitzen, Martell aber, welcher diesen Vorbereitungen schweigend zusah, stützte beide Arme auf die Lehne seines Schemels und schien kaum den Augenblick erwarten zu können, wo das erste Glas des vernichtenden Getränkes seine fieberhaft brennende Lippe benetzen werde.
»Beim ewigen Gott, sie sind es!« flüsterte Aurel dem Maulwurffänger zu. »Und solchen Menschen soll ich Bruder nennen! – O fast möchte ich wünschen, nie das Licht dieser entsetzlichen Welt erblickt zu haben!«
»Still!« sagte der Maulwurffänger. »Der Kerl, der mir damals den Span hielt, als ich Herta's Vater gegen ihren Cousin zu Hilfe rief [] im Namen der armen Wenden, er fletscht seine Zähne gegen Martell und wird vermuthlich einen gottlosen Witz reißen wollen. Hören wir zu!«
»Mordelement,« kreischte Blutrüssel, ein Glas füllend, und die heiße Flüssigkeit anzündend, »brennt das nicht wie ein Todtenlicht? Und wie lebendig machts einen resoluten Kerl, der solche Flammen dutzendweise einschlürft! Wer will?«
Mit krampfhaft zitternder Hand griff Martell nach dem Glase, weidete ein paar Secunden lang seine Blicke an der zuckend spielenden Flamme, in deren blauer Lohe sein Gesicht einer Todtenmaske ähnlich ward, blies sie dann aus und leerte das Glas auf einen Zug. Als er es auf den Tisch niedersetzte, benutzte Klütken-Hannes den günstigen Moment und schüttete weißes Pulver in das Gefäß, während Blutrüssel es sogleich wieder füllte. Martell hatte nichts bemerkt.
»Heiliger Gott, er vergiftet ihn!« stammelte Aurel und wollte die Thür aufreißen.
»Geduld, Herr Kapitän!« ermahnte der Maulwurffänger. »Wir können immer noch eine Weile zusehen. Unser Geschäft hat Zeit, bis Martell wirklich trinkt.«
[] »Und wenn er stirbt? Bedenkt, wie furchtbar angegriffen er ist!«
»Von dem halben Kaffeelöffel Giftpulver stirbt er nicht,« versetzte der Maullwurffänger mit großer Ruhe. »Der Magen eines Armen verträgt 'was. Er wird hart und schwielig, wie die Hand, die ihn erhalten muß.«
»Jetzt laß mal hören, armer Teufel,« sagte Klütken-Hannes, »was das für eine Geschichte ist mit dem Prozesse, von dem wir gestern sprechen hörten? Du sollst ja auch mit dabei sein. Aber um was, in's Teufels Namen, prozessirst denn Du? Bist ja ärmer wie eine Kirchenmaus!«
»Ich prozessire nicht, ich lasse es nur geschehen,« erwiederte Martell mit finsterer Miene, »und weil ich gar nichts davon wissen mag, darum sitze ich hier und trinke mit Euch – auf Eure Kosten. Euer Geldsack soll leben!«
»Hurrah! Und sich immer von Neuem füllen!«
»Sauf!« schrie Blutrüssel und stieß mit Martell an. Der Spinner trank, spie aber schon nach dem ersten Schluck den Branntwein wieder [] aus. Sein Geschmack war noch nicht verdorben, er selbst noch zu nüchtern.
»Nun, was hast Du?« fragte Klütken-Hannes. »Was ist das für Manier, uns für unsern guten Willen nicht Bescheid zu thun?«
»Das Gesöff schmeckt nicht. Es ist verdorben.«
»Albernheiten! Es schmeckt ja uns!«
»Koste! – Aber wie zum Henker sieht das Zeug denn aus! Ganz trüb und wolkig! Puh, und wie riecht das! Wie Knoblauch!«
»Ich rieche nichts,« sagte Blutrüssel. »Trinke nur und ich wette, es schmeckt Dir wie kein anderes.«
Martell setzte das Glas abermals an die Lippen und versuchte zu trinken. Aber nur wenige Tropfen vermochte er zu verschlucken. Schaudernd setzte er es nieder und warf einen furchtbar ernsten Blick auf die beiden Schurken, die unvorsichtig verrätherische Blicke unter einander gewechselt hatten.
»Ich glaube,« sagte er mit schauerlicher Ruhe, »Ihr seid alle Beide ein paar elende Hunde! Eure Satansaugen haben Euch mir verrathen! [] Ihr wollt mich vergiften; denn Gift und nichts weiter als Gift ist in diesem Glase! Was hab' ich Euch gethan?«
»Er ist betrunken!« lachte Blutrüssel.
»Sei kein Narr; gieße das Glas aus und laß Dir's mit frischem Branntwein füllen. Wer weiß, was zufällig mit hineingekommen ist.«
»Halt!« donnerte Martell, als Klütken-Hannes das vergiftete Getränk auf die Diele gießen wollte. Kein Tropfen soll davon verloren gehen, bevor es ein Apotheker untersucht hat. Seit vorgestern will mir ein entsetzliches Licht über Euch aufgehen! Mein armes Weib, das mich weinend umfing, als ich zitternd und taumelnd in die elende Kammer trat, mein Weib hat mich zuerst darauf aufmerksam gemacht. Der grimmige Schmerz in meinen Eingeweiden, der während der Nacht wiederkehrte und sich erst verlor, als ich mich erbrechen mußte, dieser Schmerz, behaupt' ich, rührte von einem Giftstoffe her, den Ihr mir unvermerkt, wenn ich halb trunken war, in's Glas geschüttet habt! Seit einiger Zeit fühle ich ein merkliches Abnehmen meiner Kräfte, eine Schwäche meines Gedächtnisses. Ich werde elend, ich zittere, wie Espenlaub, meine Farbe hat sich [] verwandelt. So wirkt der Genuß rein geistiger Getränke nicht; es sind dies die Folgen der schädlichen Beimischungen, mit denen Ihr mich elend machen wollt! – Ich behaupte dies jetzt und werde es so lange behaupten, bis das Gegentheil bewiesen ist. Ihr aber sollt nicht von der Stelle, bis Ihr mir sagt, was Euch zu solcher Schändlichkeit bewogen hat!
Martell ergriff seinen Schemel, schob ihn vor die Thür der Hütte und stellte sich in seiner ganzen riesigen Größe hinter denselben.
»Gebt Antwort, oder ihr sollt empfinden, daß Ihr es mit einem Verzweifelten zu thun habt, der trotz Eurer verfluchten Tränke doch noch im Stande ist, ein paar Hallunken zu züchtigen!«
»Genug des Spectakels jetzt!« entgegnete Blutrüssel, dem an Aufrechthaltung des Friedens am meisten gelegen war. »Deine alberne Gans von Frau hat Dir die Narrheit in den Kopf gesetzt, und weil Du angegriffen warst vom Arbeiten und Trinken, so hast Du das dumme Zeug geglaubt. Was sollten wir denn profitiren, wenn wir Dir das Lebenslicht ausbliesen? He?«
[] »Ja, das sag' uns, Grobian, was sollten wir profitiren?« wiederholte Klütken-Hannes.
»Man hat Euch bestochen, erkauft! Pfui über Euch Wichte!« schrie Martell und spuckte vor ihnen aus, »aber ich will es Euch eintränken, so wahr ich ein geborener Graf bin!«
»Du ein Graf! Ein Graf in zerrissener Leinwandhose!« höhnte Blutrüssel. »Wie theuer schlägst Du Deine Garderobe wohl los? Etwa für ein halbes Spitzglas?«
»Dafür, Du Hund!« schrie Martell, indem er dem Mörder mit geballter Faust ins Gesicht schlug, daß er krachend mit sammt dem Schemel zu Boden stürzte.
Dieser Faustschlag war das Signal zu einem allgemeinen fürchterlichen Kampfe, der sich jetzt zwischen den beiden Verworfenen und dem gereizten Martell entspann. Eine Zeit lang hielt der starke Spinner die Angriffe seiner wüthend gewordenen Gegner mit Kraft und Gewandheit ab; selbst das versuchte feige Unterlaufen des heimtückischen Blutrüssel, der mordlustig sein Messer gegen den Unglücklichen schwang, vereitelte er. Allein bald ermatteten seine nur künstlich gespannten Kräfte, er wankte, ward von KlütkenHannes [] gepackt und dröhnend zu Boden geworfen.
Jubelnd stürzte sich Blutrüssel auf den gefallenen Riesen, kniete ihm auf die Brust und zückte das Messer.
»Mit wie vielen Stichen willst Du zur Hölle fahren, verrückter Teufel?« schrie ihm der bestialische Mensch in's Ohr. »Geschwind, thu's Maul noch ein mal auf, eh' ich einen Schlund daraus mache; denn fort mußt Du, durch Stahl oder Gift, das ist unser Geschäft!«
»Erbarmen!« röchelte Martell, von Klütken-Hannes Händen wie von eisernen Klammern umschlungen.
»Kein Erbarmen!« rief der ehemalige Trödler. »Die Canaille verräth uns doch, wenn sie wieder frei kommt, also nur zugestoßen! Je tiefer, desto besser!«
Blutrüssel fiel in ein gräßliches Gelächter. Er zog sein langes dolchartiges Messer durch die schwarzen Locken des Spinners, erhob es dann langsam vor dessen Augen und begann zu zählen, während eben so langsam die scharfe Spitze der Mordwaffe sich wieder gegen den Hals des Wehrlosen senkte:
[] »Eins ... zwei ... –«
Da hörte man ein Krachen, wie von zerberstenden Brettern, und eine unsichtbare Gewalt ergriff hinterrücks den Mörder und schleuderte ihn mit Riesenkraft gegen die Diele.
[] Sechstes Kapitel.
Die Gefangennehmung.
Ein zornig flammendes Auge und ein stolzes, von edler Entrüstung geröthetes Antlitz beugte sich über den Missethäter, während drei andere Männer theils seinen Genossen gleich ihm zu Boden warfen, theils dem Gemißhandelten beisprangen. In der kümmerlichen Beleuchtung und der qualmigen Atmosphäre der Hütte, die von Kohlendampf geschwängert war, erkannten weder Blutrüssel noch Klütken-Hannes ihre Ueberwältiger. Erst nachdem Beide gefesselt am Boden lagen, ließ Aurel seine zürnenden Blicke von Einem zum Andern gleiten und sagte:
»Elende, kennt Ihr mich?«
Keiner antwortete, sei es, weil der Schreck sie betäubte, oder sei es, daß sie wirklich in dem [] unerwartet eingedrungenen Gegner den Kapitän nicht wieder erkannten. Aurel fuhr fort:
»Klütken-Hannes! Als ich mich Deines schuldlosen Kindes gegen Dich und Deine brutalen Forderungen annahm, als ich es für immer Deinen Händen entriß; damals machte ich es Dir zur Bedingung, Dich nie mehr um Deine Tochter zu bekümmern, nie mehr meine Wege zu kreuzen. Du hast nicht Wort gehalten.«
»Zum Teufel mit Ihrem Geschwätz, Herr!« entgegnete der frühere Trödler. »Denken Sie denn, es liegt mir 'was daran, Ihnen wieder vor's Gesicht zu kommen? Wer heißt Sie sich zu mir drängen, he? Oder haben Sie mich und meinen Freund nicht überfallen wie Räuber? Mithin laufen Sie mir in den Weg, nicht ich Ihnen. Das ist klar wie Alsterwasser.«
»Um Euch an einem Morde zu hindern, überfiel ich Euch. Was aber, Klütken-Hannes was führt Dich in diese Gegend?«
»Ich müßte klüger sein, als Eulenspiegel, wenn ich darauf genaue Antwort geben sollte. Was meinen Sie dazu, wenn ich sage: ich wollte mich in der Welt umsehen, da mich nichts mehr in Hamburg festhielt und ich aller Noth und [] Mühen durch den guten Handel mit Ihnen überhoben war?«
»Ich würde Dich einen Lügner nennen, denn ich weiß, daß Du auf Veranlassung eines Dritten hier bist.«
»Wer sich mit dem Teufel einläßt, darf sich nicht wundern, daß ihm Krallen wachsen,« hemerkte mit höhnischem Lachen Blutrüssel. »Ich rieth Dir gleich ab von dem Handel, so einträglich er sich auch anließ, Du mochtest aber nicht hören. Nun haben wir die Bescheerung, denn ich will mir gleich die Zunge abbeißen, wenn der hochnasige Herr nicht selber der Schreiber jenes Wisches ist, der uns eine goldene Zukunft versprach. Fluch und Verdammniß!«
»Da stößt der Maulwurf auf!« bemerkte Pink-Heinrich leise. »Senken Sie nun behutsam die Fangdrähte in die Fährte und Sie werden der glatten Bestie sicher den Hals zuschnüren!«
»Mit Dir spreche ich später,« sagte Aurel Blutrüssel den Rücken zukehrend. Zu Klütken-Hannes gewandt, fuhr er fort:
»Du erhieltst also einen Brief, der Dich für Geld in diese Gegend lockte?«
[] »Wozu die Frage, Herr! Oder verstehen Sie nicht deutsch? – Die verwilderte Hyäne hat ja schon geplaudert!«
»Was solltest Du hier?«
»Trinken, bis mir die Seele flammend aus dem Leibe und wie vor Zeiten Elias auf Feuerrädern in den Himmel führe!«
»Um dieses Verhör abzukürzen, will ich Dir das Weitere selbst vorerzählen. Du kamst in die Haide und erhieltest von einem vornehmen Manne, der – besinne Dich – mir etwas ähnlich sah, den Auftrag, einen armen Arbeiter, Namens Martell, durch Branntwein zu betäuben, diesem Getränk Gift beizumischen und den Unglücklichen auf diese Weise langsam zu tödten. Ist es nicht so?«
»Sie spielen unter einer Decke,« murmelte Blutrüssel.
»Fahren Sie nur fort, Herr Kapitän,« erwiederte Klütken-Hannes äußerst brutal. »Ich habe nichts dagegen, meine Zunge zu schonen, die ohnedies heut Nacht sehr trocken geblieben ist; auch macht es mir Spaß, von einem Fremden mein eigenes Leben so hübsch erzählen zu hören.«
[] »Du schlichst Dich mit Deinem saubern Genossen als Köhler in die Gesellschaft der armen Fabrikarbeiter drüben im Dorf am See, die mit ihrem Herrn unzufrieden bei ihren Zusamrmenkünften häufig heftige Reden führten und demselben seiner Härte und Grausamkeit wegen alles Böse wünschten. Dabei fandest Du Gelegenheit, die Armen zutraulich zu machen und namentlich Martell an Dich zu fesseln durch Deine Freigebigkeit. Man versprach Dir goldene Berge, wenn Du seinen Tod bald herbeiführtest, doch so, daß es den Anschein habe, als sei er in Folge ausschweifender Trunksucht gestorben.«
»Sehr verbunden, Herr Kapitän. Es freut mich zu hören, daß Sie von Ihrem eigenen Auftrage kein Wort vergessen haben. Die Komödie fängt nunmehr an mich zu belustigen.«
»Diese Lust wird sich bald in Entsetzen verwandeln, Unglücklicher!« rief Aurel, indem er dem Gefesselten näher trat. »Betrachte mich genau und erinnere Dich, daß ich mich Dir als Kapitän am Stein zu er kennen gab!«
»Kapitän am Stein, ganz recht. Das paßt zusammen, wie Ober- und Untertasse.«
[] »Mit meinem wahren Namen, Aurel Graf von Boberstein.«
»Von Boberstein?« schrie Blurüssel auf und strich sich die borstigen grauen Haare aus der Stirn. »Ha, dann bricht die Hölle über uns herein!«
Und heulend schlug sich der Mörder mit den eigenen Fäusten Brust und Stirn.
»Sieh, selbst dieser verwilderte Elende erschrickt vor meinem bloßen Namen! Glaubst Du jetzt an namenlosen Jammer, an unaussprechliche Vergehungen, die Du zum Theil begangen hast, zum Theil begehen wolltest?«
Klütken-Hannes hatte sich aufgerichtet und schloß die gebundenen Hände unwillkürlich wie zum Gebet. Sein entsetztes Auge hing fragend an den Lippen des Kapitäns.
»Es gibt der Grafen von Boberstein drei, alle Söhne eines Vaters, der zu den unglücklichsten Menschen gehörte,« fuhr der Kapitän fort. Er war leichtsinnig und beging in sträflichem Leichtsinn schwer zu sühnende Uebelthaten. Eine der entsetzlichsten bestand darin, daß er schöne Mädchen mit Gewalt sich dienstbar machte und die unglücklichen Geschöpfe späterhin verstieß. Die [] Kinder so sträflichen Umgangs gab er dem Elende preis; sie irrten ungekannt in der Welt umher. Erst nach langen, langen Jahren leitete ein Zufall ihr Wiederfinden ein. Man traf einen Sprößling des Grafen Magnus von Boberstein unter den darbenden Arbeitern in der Fabrik des Grafen Adrian von Boberstein, genannt Herr am Stein. Der Bruder war ohne Wissen und Willen fast leibeigner Knecht, elender Sclave des eigenen leiblichen Bruders geworden! Dieser Bruder nannte sich Martell!
»O Gott erbarme sich!« stammelte Klütken-Hannes. »Ein Bruder wollte den Bruder ermorden!«
»Wir sind noch nicht zu Ende, Unseliger! Nicht genug, daß der Bruder aus Geiz und Habsucht Mörder gegen den Bruder dang, er suchte sich zu diesem gedungenen Mörder auch einen – dritten Bruder aus in – Dir!«
»Erbarmen!« winselte Klütken-Hannes.
»Ja, Beklagenswerther! Du, ein verlorenes Kind, als Knabe von diesem Scheusal, das sich jetzt winselnd zu Deinen Füßen krümmt, auf Befehl Deines Vaters in die Welt hinausgestoßen, Du bist der Sohn Herta's, der Cousine des [] Grafen Magnus, die jetzt eine Greisin, wieder im Schoße ihrer Familie lebt. Du bist der Bruder dieses Mannes, dem Du täglich Gift zu trinken gabst, Du bist auch mein, mein Bruder!«
Aurel vermochte nicht mehr zu sprechen. Thränen des Jammers erstickten seine Stimme. Er setzte sich auf einen der Schemel, legte beide Arme gekreuzt auf den Tisch, senkte den Kopf und schluchzte laut.
Stumm und ernst umstanden der Maulwurffänger, Gilbert und Paul die Opfer dieser schauerlichen gesellschaftlichen Verbrechen, unter deren qualvollen Last die Betheiligten jammernd zusammenbrachen. Nach einiger Zeit ermannte sich Aurel wieder und fuhr fort:
»Die unerforschliche Vorsehung hat mir das Amt vorbehalten, als Ankläger und Richter gegen meine eigenen Brüder auftreten zu müssen. So schwer dieses Amt ist, so halte ich es doch für meine Pflicht, es zu übernehmen. – Johannes Klütken, Du bleibst mein Gefangener. Ich verhafte Dich, als Mörder, als Brudermrörder! – Und Du, Blutrüssel, oder wie Du sonst heißen magst, Dich verhafte ich als Mörder desjenigen [] Mannes, der ehedem unter dem Namen ›Fürst der Haide‹ in diesen Wäldern berühmt und gefürchtet war; denn Niemand als Du erschlug den Vater Herta's im Walde, Niemand als Du entführte den Knaben Johannes und bereitete seinen moralischen Untergang vor!«
Zerknirscht und überwältigt von der so unerwartet hereingebrochenen Nemesis, wagte der freche Mörder nicht zu läugnen. Die Angst des Entsetzens schüttelte ihn wie Fieberfrost, preßte ihm Töne aus, die dem fernen Geheul hungernder Wölfe glichen.
»Bis zum Anbruch des neuen Tages bleibt Ihr in dieser Hütte, von meinen Begleitern bewacht. Morgen werde ich Euch dem strafenden Arm der Gerechtigkeit überliefern. Zeigt Ihr Euch reuig, so kann ich vielleicht zu Milderung der über Euch zu verhängenden Strafe in Betracht der eigenthümlichen Verhältnisse ein fürsprechendes Wort einlegen, seid Ihr aber halsstarrig, verstockt und in Sünden verhärtet, dann treffe Euch die ganze Strenge des Gesetzes! –«
Aurel wandte sich nun zu Martell, der dem Bisherigen mit demselben ernsten Schweigen beigewohnt hatte, das alle Uebrigen beherrschte. [] Gerürt reichte er dem schwer geprüften Halbbruder die Hand und sprach:
»Muth, Martell, und Selbstbeherrschung, und ich hoffe noch auf dieser düstern Stirn das Lächeln der Freude glänzen zu sehen! Dein unversöhnlicher Feind wird seine verbrecherischen Absichten nicht erreichen; Du wirst leben und glücklich sein.«
Martell schüttelte das Haupt und schlug die krankhaft blitzenden Augen zu dem Kapitän auf.
»Wie kann ich glücklich werden, selbst wenn ich am Leben bleibe?« sagte er. »Mein Vertrauen zu den Menschen ist dahin, mein Glaube an das gerechte Walten eines höchsten Wesens hat den wildesten Zweifeln weichen müssen. Ich kann nicht mehr lieben, ich möchte nur hassen. Sündige ich, nun so möge Gott mir in Gnaden vergeben und diejenigen zur Verantwortung ziehen, die mich zu einem so unglücklichen Menschen gemacht haben!«
»Zeit und sanfte Umgebungen werden Dir andere Gefühle einflößen, armer Gedrückter. Komm jetzt, wenn Du Dich stark genug fühlst. Begleite mich auf einem Gange durch die Haide. [] Der Anblick dieser Unglücklichen taugt nicht für Dich. Sobald wir sie morgen der Gerechtigkeit überliefert haben, gehst Du mit mir auf den Zeiselhof, mit Weib und Kind!«
»Nicht um die Welt, Kapitän!« unterbrach ihn Martell heftig und ungestüm. »Ich mag meine baufällige Hütte nicht verlassen, ich will ein Bettler, ein verachteter Lohnarbeiter bleiben, bis die Stimme des Gerichtes gesprochen hat. Ist dies geschehen, so – wandere ich vielleicht aus, vielleicht lege ich mich hin und sterbe! Denn nütz bin ich auf dieser Welt doch einmal nichts mehr!«
Aurel wollte den Erbitterten, von dem genossenen Gift noch krankhaft Erregten durch Widerspruch nicht noch mehr reizen und ließ deshalb die Zukunft des Spinners einstweilen auf sich beruhen. Ein bittender Blick auf den Maulwurffänger genügte, diesen als Wächter in der Hütte zurückzuhalten. Ihm gesellten sich Gilbert und Paul zu, der Kapitän aber und Martell verließen den Schauplatz eines mit so ausgesuchter Bosheit vorbereiteten Verbrechens.
»Gebt mir Wasser!« kreischte Blutrüssel, als [] sich die beiden Halbbrüder entfernt hatten. »Meine Eingeweide brennen.«
Pink-Heinrich öffnete den Verschlag, fand einen Krug Brunnenwasser darin und reichte ihn dem scheußlichen Mörder. Nachdem dieser getrunken hatte, sah ihn der Maulwurffänger mit seinen grauen durchdringenden Augen forschend an.
»Du kennst mich wohl nicht mehr, alter Knochen?« redete er den Gefesselten an. »Vor langen Jahren hielten wir einmal eine verwunderliche Zwiesprach mit einander, an einem Orte, der just auch nicht zu den apart schönen Palästen gehörte.«
»Ich kenne Euch nicht,« sagte Blutrüssel mürrisch.
»Das beweist mir, daß Du für Dein schlechtes Gewerbe nicht das tauglichste Subject bist. Hättest meiner Seele 'was Besseres werden können! Aber freilich der Wächterdienst im Raubhause –«
»Im Raubhause?«
»Ei ja doch! Dazumal warst Du zwar auch kein Ausbund von Schönheit, aber doch ein fixer Bursche, dem's Maul auf dem rechten [] Flecke stand. Zu dem Besuche beim ›Fürsten der Haide‹ zündetest Du mir die schlüpfrige Treppe voran.«
»Hm! Ihr seid also der berühmte Maulwurffänger vom Todten? Dachte, der Satan hätte Euch längst das Genick umgedreht.«
»Wäre ich so eng mit ihm befreundet, wie Du, dann hätte er mir diesen Liebesdienst wahrscheinlich erwiesen. So aber hielt ich es lieber mit seinem mächtigen Erbfeinde und der geleitete mich noch immer an seiner starken Hand durch alle Fährnisse dieses wechselvollen Lebens.«
Blutrüssel murmelte unverständliche Worte in den Bart. Der Maulwurffänger warf einen Blick auf den verwahrlosten Sohn der engelguten Herta, und wiewohl es ihn drängte, einige Worte an den doppelt Unglücklichen zu richten, unterließ er es doch, um die Seelenleiden des Armen nicht zu vermehren. In sich versunken, regungslos, nur zuweilen mit den warzenbedeckten Händen krampfhaft in sein verworrenes Haar fahrend, schreiende Seufzer ausstoßend und von Zeit zu Zeit die blutunterlaufenen Augen rollend, so saß Klütken-Hannes am Boden der Hütte.
Eine endlose, für Alle gleich entsetzliche Nacht[] umfing Gefangene und Wachthaltende. Als es zu grauen begann, kamen Martell und Aurel von ihrem Nachtspatziergange wieder zurück. Man wartete nun vollends den Tag ab und brach dann die Verbrecher in der Mitte, nach Boberstein auf.
[] Siebentes Kapitel.
Der Urtheilsspruch.
In derselben Nacht hatte Adrian einen sonderbaren Traum.
Er wandelte einsam durch die Säle seiner Fabrik. Die Maschinen standen still, kein Arbeiter war zu sehen, dennoch aber hörte er das Schwirren der Räder und Spindeln, und eine leichte Wolke feinen Wollstaubes umhüllte ihn. Er konnte nicht unterscheiden, ob es Tag oder Nacht war, denn obgleich die Lampen nicht brannten, glühten und leuchteten doch die gläsernen Kugeln, welche sie umgaben, und ein röthliches scharfes Licht strahlte von ihnen aus. Auch der Himmel war hell und durchsichtig blau wie am Tage, nur schien es, als sei statt der Sonne der Mond aufgegangen. Die goldglänzende [] Kugel wärmte nicht, ihr Licht war kalt und farblos. Wie bläuliches Feuer durchströmte es die umliegende Haide und spiegelte sich in den schimmernden Wellen des See's.
Die Glocke schlug die zwölfte Stunde, dann läutete es. Die Thüren aller Säle, die Adrian auf einmal übersehen konnte, thaten sich auf, und in langem Zuge erschienen die Spinner. Es waren aber keine Menschen von Fleisch und Bein, sondern graue durchsichtige Schatten mit kummervollen Mienen, tief eingefallenen, entsetzlich leuchtenden Augen, die sie alle unverwandt auf den erschrockenen Gebieter richteten. Jeder trat an seinen Ort und das ganze Heer dieser murmelnden Schatten begann zu spinnen.
Kaum bewegten sich die Maschinen, als Adrian einen namenlosen Schmerz empfand. Er sah, wie seine Haare sich bäumten, wie die Finger der gespenstischen Spinner darnach griffen und sie an die Spindeln hefteten. Dabei hörte er das Höhnen und Lachen von tausend Stimmen, die sich freuten über seine Qualen. Die verhungerten Kinder krochen hervor unter den rasselnden Walzen, umringten ihn und führten einen phantastischen Tanz auf, während er von[] den zahllosen Spindeln emporgehoben wurde und nach allen Seiten hin durch die Spinnsäle schwebte. Ihm war, als fühle er sich unter unsäglichen Qualen immer kleiner werden, zum Zwerg einschrumpfen und endlich fast ganz verschwinden. Was von ihm übrig blieb, war nicht größer als ein gewöhnlicher Ball, deren sich die Kinder bei ihren Spielen bedienen. Diesen Ball, in dem Adrian sich fühlte und wußte und sah, ergriff zuerst der finstere Martell und schleuderte ihn Maja Simson zu, die ihn in großen Bogen weiter warf. Ein Wesen, das er kannte, obwohl es mit den Arbeitern in keiner Verbindung stand, fing ihn auf, legte ihn behutsam auf die Erde und stampfte dann mit beiden Füßen darauf, daß er jeden Tritt schmerzhaft fühlte und unter den erbarmungslosen Stößen laut seufzte und stöhnte. Ein Fußtritt schnellte ihn wieder zurück in Martells Hände, der das vorige Spiel von Neuem begann. Wohl zwölf Mal mußte Adrian sein fühlendes Selbst in so schrecklicher Weise durch einen endlosen Raum fliegen sehen. Da fing ihn zuletzt Bianca auf, liebkoste ihn und legte ihn in ihren Schooß! Adrian war wieder er selbst. Er kniete vor der spröden [] Schönen und flehte um ihre Liebe. Die Grausame lächelte kalt und schüttelte ihre glänzenden Locken, indem sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand seitwärts deutete und Adrian zwang diesem Fingerzeige zu folgen.
Da sah er in ein dunkles, feuchtes Gewölbe. Einander gegenüber saßen zwei scheußliche Gestalten, die bald sich bald ihn verfluchten. Zwischen ihnen kniete eine greise Frau in schwarzen Gewändern. Er erkannte in ihr Herta, seine Tante. Sie betete und rief um Gnade für ihren Sohn, über den eine strafende Stimme laut das Todesurtheil aussprach, so laut, daß Adrian jedes Wort deutlich verstehen und an dem Tone die Stimme seines Bruders Aurel erkennen konnte. Obwohl der Träumende diesen Sohn weder sah noch kannte, fühlte er doch die Nähe desselben und bei diesem Gefühl ward ihm so schwer und bang, daß er zu ersticken glaubte. Er wollte nach Hilfe rufen, konnte aber nicht, denn die nassen kalten und schönen Haare Theresens, die seinetwegen sich den Tod gegeben hatte, umschnürten seinen Hals!
Lange mußte er röchelnd die erschütternde Gruppe in dem dunkeln Gewölbe betrachten, ohne [] eine Secunde lang sein Auge davon wegwenden zu dürfen, und als endlich das peinigende Bild verschwand, zogen in langer Reihe alle diejenigen wieder an ihm vorüber, denen er im Leben einmal Böses zugefügt hatte. Dieser Zug war von grauenvoller Ausdehnung und von schauerlicher Lebendigkeit. Jeder rief händeringend Wehe über ihn und kehrte sich, wenn er vorüber war, nochmals mit grimmiger Gebehrde gegen ihn, um einen zürnenden Fluch auf ihn zu schleudern.
Als endlich auch dieser gespenstische Zug in feurigem Dunst verschwand, hörte er von fern Trompetengeschmetter, das schnell näher kam. Adrian erbebte vor diesen rauschenden, schreienden Tönen, denn ihm kam es vor, als solle das Weltgericht beginnen und von allen Geschöpfen sei er allein der Verworfene, zu ewigen Qualen Verdammte! Nochmals erklang der Ruf der Trompete, das seinen Hals umschlingende Haar löste sich, er konnte athmen und erwachte!
Dieser wüste Traum, ein treues Abbild von Adrians Seelenzustande, schien mit der Wirklichkeit einigermaßen im Zusammenhange zu stehen. Es war lichter Tag und Adrian hörte jetzt wirklich das laute Geschmetter einer Trompete, das [] der Wind vom Dorfe her über den See jagte. Auf sein heftiges Klingeln trat der stumme Jean ein und bedeutete dem bestürzten Grafen, daß etwas Ungewöhnliches im Dorfe vorgehen müsse.
Adrian stand nun auf und eilte an's Fenster. Mitten auf dem See schwamm die Fähre gegen die Insel. Sie war mit Menschen dicht besetzt, aus deren Mitte ein Reiter hervorragte, der von Zeit zu Zeit in eine Trompete stieß, worauf sowohl die Menschen auf der Fähre, als die Bewohner des Dorfes ein lang andauerndes Hurrah erschallen ließen. Der Name Martell ward häufig unter jauchzendem Zuruf genannt.
Irgend eine neue Demonstration vermuthend, warf sich der Graf schnell in die Kleider und griff nach seinen stets geladenen Pistolen. In seinem Zimmer fand er bereits Bianca in einem wundervollen Negligé, beschäftigt, den Frühstückstisch zu ordnen. Mit dem anmuthigsten Lächeln wünschte sie Adrian guten Morgen und ließ es geschehen, daß er dankend ihr die Hand drücken durfte.
»Hören Sie den Lärm?« fragte er mit verstellter[] Gleichgiltigkeit. »Was mag das dumme Volk wieder haben?«
»Ein klein wenig Geduld, gnädiger Herr, wird uns sogleich davon in Kenntniß setzen. Die Fähre nähert sich bereits dem Ufer. – Befehlen Sie Chokolade?«
»Wenn Sie mir Gesellschaft beim Frühstück leisten wollen, schönes Kind, wird mir Alles munden, was Sie mir reichen! – In dieser Nacht waren Sie mein Schutzengel.«
»Danke sehr! – War ich hübsch?«
Bei dieser Frage neigte Bianca sich mit so verführerischem Blick zu Adrian, daß es diesem große und schmerzliche Ueberwindung kostete, das Mädchen nicht an sich zu reißen und mit Küssen zu bedecken.
»Nicht hübsch, aber schön, entzückend schön, wie jetzt! – Bianca, bitte –«
»Still, still! – Sie machen mich eitel! – Oder meinen Sie, ein armes Mädchen bleibe gleichgiltig, wenn es von so liebem Munde immer mit so großen Lobsprüchen überschüttet wird?«
»Ich bin Ihnen also doch lieb, Bianca?«
[] »Recht sehr! Warum auch nicht? – Aber da landet ja die Fähre.«
»Vom lieb sein bis zum lieben ist nur ein Schritt. Versuchen Sie doch, mit Ihrem zierlichen Fuße diesen Schritt zu thun, der einen unglücklichen Mann auf einmal unaussprechlich glücklich machen würde!«
»Ich bin nicht liebenswürdig, gnädigster Herr, ich scheine es blos zu sein. Sie würden erschrecken, wenn ich Thörin genug wäre und mich von Ihrem Zureden bestimmen ließe, Ihren Wünschen Gehör zu geben!«
Diese Worte sprach Bianca mit so meisterhafter Kunst, daß Adrian nie ein hinreißenderes Weib gesehen und gehört zu haben glaubte. Er wollte darauf antworten, als die räthselhafte Trompete dicht unter den Fenstern erklang.
»Soll ich mich nach der Neuigkeit erkundigen, die der Mann unstreitig zu verkündigen hat?« sagte Bianca. »Vermuthlich eine wichtige Bekanntmachung.«
»Gehen wir zusammen,« erwiederte Adrian. »Ich vermuthe, es wird abermals etwas sein, das meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.«
[] »Hoch lebe Graf Martell, unser gnädiger Herr!« riefen jetzt hundert und mehr Stimmen in jubelndem Chor.
»Mein Bruder!« sagte Adrian, der Aurel unter dem hervordrängenden Menschenhaufen gewahrt hatte. »Was kann der Kapitän auf Boberstein wollen?«
»Mein großmüthiger Beschützer? Dann hoffe ich, ist die Zeit der Versöhnung gekommen. Gehen wir dem wackern Manne entgegen!«
Bianca hing sich schmeichelnd an Adrians Arm. Einer solchen Berührung konnte dieser nicht widerstehen. Vor Seligkeit bebend schritt er mit dem heiter plaudernden Mädchen die Treppe hinunter nach dem freien Platze vor dem Hause.
Dieser war von einer Menge sehr aufgeregter Menschen umstellt, in deren Mitte Martell an Aurels Arme, der Trompeter zu Roß und der greise Maulwurffänger dem Grafen sogleich in's Auge fielen. Als die Menge den Herrn der Fabrik ansichtig ward, erhob sich verworrenes Geschrei und die heftigsten Verwünschungen wurden gegen ihn ausgestoßen. Nur die schöne Mädchengestalt an seinem Arme hielt die Heftigsten ab, Hand an ihn zu legen. Dennoch blieb[] Adrian ruhig, trat entschlossen näher, gebot Schweigen und fragte:
»Was hat dieser Auflauf zu bedeuten? Wünscht Herr Kapitän Aurel am Stein mir eine Mittheilung zu machen, so folge er mir in meine Zimmer. Ich liebe nicht, im Beisein tumultuirenden Pöbels Privatangelegenheiten zu verhandeln.«
Sogleich trat die Menge zurück und machte dem Kapitän Platz. Aurel, immer den Spinner festhaltend, trat vor und näherte sich seinem Bruder. Hinter ihm schloß sich abermals der Haufe.
»Es ist eine öffentliche, keine Privatangelegenheit, die mich heut nach Boberstein führt,« sagte der Kapitän. »Unser Streit ist zu Ende, wir können, wenn die Parteien sich einigen, uns binnen wenigen Minuten versöhnen. Das Gericht hat in unserer Rechtssache entschieden.«
»So schnell?« stotterte Adrian.
»Wo es an Beweisen nicht mangelt, kann ein Urtheil rasch gesprochen werden, mein Bruder! Der Prozeß ist in meinem und meiner Freunde Sinne gewonnen, mithin für Dich verloren.«
»So bin ich ein Bettler!« rief Adrian erbleichend.
»Keineswegs,« versetzte Aurel. »Das Gericht ist nicht ungerecht verfahren. Es spricht [] Jedem das Seinige zu und so bleibt denn dem Herrn am Stein außer dieser Fabrik noch hinlänglicher Besitz, um als freier, unabhängiger und wohlhabender Mann leben und Gutes wirken zu können.«
Adrian athmete wieder auf. Er bat den Bruder durch einen Wink, fortzufahren.
»In den nächsten Tagen werden uns die Details des Urtheilsspruches zugefertigt und dieser selbst späterhin im Namen des Gerichts vollzogen werden. Gegenwärtig habe ich nur um die Vergünstigung zu bitten, Du wollest diesen meinen Halbbruder vor der hier versammelten Menge laut und öffentlich ebenfalls als Bruder anerkennen und versöhnend umarmen.«
Ein spöttisches Lächeln kräuselte Adrians Lippe. Tückisch ruhte sein Blick einige Secunden auf dem zerlumpten, in Folge des genossenen Giftes gleich einem altersschwachen Greise zitternden Martell.
»Ich weiß nicht,« versetzte er mit schneidender Höflichkeit, »ob mein Herr Bruder vielleicht vorher die Güte haben wird, dem neuen Verwandten, dessen Anerkennung das Gericht uns aufzwingen will, zu bedeuten, daß er Schmutz und [] Kleid der Gemeinheit erst ablege, ehe er Ansprüche macht, in die Gesellschaft anständiger und vornehmer Menschen aufgenommen zu werden. Was mich betrifft, so muß ich entschieden alle Gemeinschaft mit Leuten abläugnen, die, so lange ich denken kann, in meinem Lohn standen und deren Existenz nur von meiner Großmuth abhing. Kann mich das Gericht zwingen, solch einen Menschen Bruder zu nennen, so mag es den Versuch machen; laut aber muß ich hiermit erlkären, daß ich nur der Gewalt weichen werde!«
Aurel antwortete blos durch eine stumme Verbeugung. Dann kehrte er sich um und winkte den Umstehenden, daß sie zurücktreten möchten. Dies geschah so schnell, als sei Jedermann darauf vorbereitet. Zugleich wurden die beiden Gefangenen, von Gilbert, Paul und dem Maulwurffänger bewacht, sichtbar. Adrian trat einen Schritt zurück und erbleichte, als hätte er Geister gesehen. Der Kapitän fixirte ihn unverwandt und erkannte schaudernd die Schuld auf den fahlen Zügen des Bruders.
»Was ist das für Gesindel?« rief Adrian heftig und befehlshaberisch. »Ich will, daß man alle Landstreicher, die auf meinen Besitzungen [] eingefangen werden, nicht zu mir bringe, sondern an die betreffenden Gerichte abliefere.«
»Tretet vor!« befahl Aurel.
Die Gefesselten gehorchten und näherten sich bis auf wenige Schritte dem bestürzten Grafen. Der Kapitän flüsterte Klütken-Hannes in's Ohr:
»Ist dieser Mann derselbe, von dem Du in Sold genommen und mit jenem verbrecherischen Befehle beauftragt wurdest?«
»Er ist es!« sagte kalt und fest der Gefangene.
»Mein Herr Bruder wird erlauben,« wandte sich darauf Aurel zu Adrian, »daß man diesen beiden Uebelthätern ein festes Gefängniß einräume. Man hat sie ergriffen in dem Augenblicke, wo sie einen Schuldlosen vergiften wollten. Das Corpus delicti ist in unsern Händen. Sie waren frech genug, sich nur für Werkzeuge eines höher Gestellten auszugeben und wagten sogar den Namen eines Mannes zu nennen, den wir einer solchen Frevelthat nicht für fähig halten können. Schon aus diesem Grunde muß es wünschenswerth sein, die Verbrecher in festes Gewahrsam zu bringen. Die spätere Untersuchung wird das Uebrige enthüllen. Dürfen wir also hoffen –?«
Aurel stand jetzt an Adrians Seite. Hinter [] ihm lehnte der Maulwurffänger auf seinem Stabe. Seine kleinen grauen Augen magnetisirten den entlarvten Verbrecher, der nur mit Mühe seine Ruhe zu behaupten wußte. Mit lallender, matter Stimme antwortete er:
»Man schaffe sie fort –! Vollbrecht wird einen passenden Raum für sie wissen.«
Aurel winkte, daß die Gefangenen abgeführt würden. Es geschah unter staunendem Gaffen des Volkes. Als sie hinter dem Hause verschwanden, beugte sich Aurel zu dem gebückt dastehenden Bruder und sagte, nur ihm vernehmbar:
»Der Mann, welcher den Namen Klütken-Hannes führt und dem armen Martell den Gifttrank mischte, gehört auch mit zu den Erben der Boberstein'schen Güter. Es ist der verlorene Sohn Herta's!«
Adrian erstarrte bei dieser Kunde. Sein Auge ruhte gläsern auf dem zürnenden Antlitz des Kapitäns. Dennoch faßte er sich; nur an dem röchelnden Athemholen und den zuckenden Bewegungen seiner Hände, die nach einem Halt an seiner Kleidung suchten, konnte man die große Erschütterung erkennen, der er fast erlag.
Da berührte die Hand des Maulwurffängers den Unglücklichen.
[] »Herr am Stein,« sagte der Greis, »ich habe Wort gehalten. Die Geister der Todten habe ich aus ihren Gräbern hervorgerufen zu Ihrer Züchtigung. Wehe Ihnen, wenn Sie jetzt nicht in sich gehen und bereuen!«
»Hurrah! Hoch lebe Martell, unser neuer Graf und Gebieter!« jubelte die Menge, indem sie sich, den riesigen Spinner in ihrer Mitte, zerstreute, um auf die Fabrik an ihr Tagewerk zu gehen.
Auch Aurel und der Maulwurffänger zogen sich zurück.
Bianca, die während dieser Scene entschlüpft war, um die Blicke der Menge nicht auf sich zu ziehen, trat jetzt wieder vor und schob ihre Hand unter Adrian's Arm. Freundlich lächelnd blickte sie ihn an, indem sie mit hinreißender Zärtlichkeit sagte:
»Sie werden sich erkälten, Herr Graf! Bitte, folgen Sie Ihrer gehorsamen Dienerin in's warme, trauliche Zimmer!«
Diese Stimme rief Adrian wieder in's Leben. Er drückte den weichen, vollen Arm der Schönen und ließ sich von ihr in's Haus geleiten.
[]Zehntes Buch
Erstes Kapitel.
Weibliche Rache.
Graf Adrian hatte drei entsetzliche Tage verlebt. Er schloß sich in sein Zimmer ein und ließ Niemand zu sich, als Bianca. Ihr Kommen und Gehen, ihr immer gleich anmuthiges, zartes und theilnehmendes Betragen war in dieser schweren Zeit seine einzige Zerstreuung. Unschlüssig, ob er sich dem Ausspruche des Gerichtes fügen oder dagegen appelliren sollte, ging er mit großer Genauigkeit alle Schriften und Documente durch, die ihm inzwischen von seinem Anwalt zugeschickt worden waren. Aus diesen konnte er leider keine Hoffnung schöpfen! Martell, Maja Simson und Klütken-Hannes waren unläugbar Kinder seines Vaters, blieben trotz seines Sträubens und seines innern Entsetzens, [] das sich bei dieser Gewißheit seiner bemächtigte, seine eigenen beklagenswerthen Halbgeschwister! Maja Simson's Ansprüche auf den fünften Theil der Güter des Boberstein'schen Hauses, die ihr die freiwillige Schenkung des Grafen Magnus gesichert hatte, war als giltig anerkannt worden und sollte der rechtmäßigen Erbin in einigen Wochen rechtskräftig zugeschrieben werden.
Ein Brief Adalberts, dem es zu gemein erschien, persönlich sich in diese Angelegenheit zu mischen, und der sich deshalb nur durch Mittelspersonen darum bekümmert hatte, richtete den niedergeschlagenen Herrn am Stein einigermaßen auf. Adalbert schrieb:
»Mein theurer Bruder,
Es ist mir von Seiten des Gerichtes die Mittheilung gemacht worden, daß wir unsern Prozeß gegen Jan Sloboda und Consorten verloren haben. Obwohl ich auf diesen Ausgang gefaßt war, hat er mich doch überrascht. Die Justiz ist überaus eilig gewesen und hat sich der Sache mit einem Eifer angenommen, den wir für gewöhnlich nicht an ihr rühmen können. Unstreitig sind Dir wie mir die nöthigen Mittheilungen zugekommen. Bei Durchsicht derselben [] leuchtet mir ein, daß für uns nichts als Kosten in Aussicht stehen, wenn wir den Instanzenzug verfolgen wollen. Wir müssen unter obwaltenden Umständen von jedem Gericht verurtheilt werden. Es scheint mir daher politischer zu sein, uns schweigend in die bittere Nothwendigkeit zu fügen, einen Theil unserer Güter abzutreten, die Kosten gemeinschaftlich zu tragen und uns übrigens von der neuen Verwandtschaft stolz zurückzuziehen. Mir ist nicht bange vor diesen Sprößlingen unseres alten Geschlechtes! Halb illegitim sind und bleiben sie doch, und da es dem gütigen Himmel gefallen hat, sie unter der niedrigsten Hefe des Volkes aufwachsen, die Gewohnheiten und Allüren derselben annehmen zu lassen; so hoffe ich, sie werden allesammt Plebejer bleiben bis an ihren Tod!«
»Meine Frau, deren Ansichten fast immer mit den meinigen zusammen treffen, billigt vollkommen, daß wir uns stolz zurückziehen und mit vornehmer Gelassenheit den Bettlern das begehrte Almosen auszahlen. Man kann ja nicht wissen, ob sie es lange genießen werden! – Ereilt sie der Tod bald, was ich [] erwarte, da unsere gemeinschaftliche Handlungsweise Verlängerung ihres Lebens weder beabsichtigen noch hervorrufen konnte, so ist es ja immer noch möglich, daß wir sie später wieder beerben. Es käme nur darauf an, ihre Nachkommenschaft, die nicht unbedeutend sein soll, unschädlich zu machen. Beschlüsse darüber fassen wir bei unserer nächsten Zusammenkunft, die ich hier in meinem romantischen Asyl zu halten vorschlage. Der Stammsitz unserer Väter ist mir verhaßt, ich werde ihn sobald nicht wieder betreten. Die Gemeinheit hat ihn mehrfach entweiht. Wir thun deshalb besser und handeln im Geiste unserer großen Ahnen, wenn wir uns einen andern unbefleckten Sitz für uns und unsere Kinder aussuchen.
Theile mir Deine Ansichten recht bald darüber mit, füge Dich, wie ich es thue, mit stoischer Ruhe in das Unvermeidliche und eile in die Arme Deines Bruders
Adalbert.«
Die Nothwendigkeit solchen Entschlusses sah Adrian ein, an schleuniger Ausführung desselben hinderte ihn aber Verschiedenes. Adalbert wußte nicht, daß Klütken-Hannes des beabsichtigten [] Mordes überführt, auf Boberstein gefangen saß. Er ahnte nicht, daß sein unglücklicher Bruder als Anstifter dieses Mordes bereits bekannt war, daß Aurel um die ganze empörende Schandthat wußte und mit einem einzigen Worte den eigenen Bruder verderben konnte!
Ungeachtet seiner schrecklichen Lage verzweifelte Adrian nicht. Er hielt es sogar für möglich noch zu siegen und selbst den Schein der Mitwissenschaft von sich abzuwenden, wenn er Zeit gewinnen konnte. War dies geschehen, dann stand einer Zusammenkunft mit seinem Bruder nichts mehr im Wege.
Es gab zwei Mittel, dies Ziel zu erreichen, Flucht oder Tod der beiden Gefangenen. Die Pflicht der Selbsterhaltung, die Nothwehr gebot ihm, zu dem zu greifen, das ihm das sicherste dünkte. Dies konnte nur ein Mord sein, ein heimlicher Mord, der unentdeckt blieb.
Adrian schauderte vor solcher That nicht mehr zurück. Er überlegte nur, wie man sie ausführen müsse, um sicher zu gehen, und als er mit sich darüber einig war, fühlte er eine Anwandlung von Freude.
Ein Umstand trug bei, die Ausführung ihm [] leicht zu machen. Niemand kannte die Fremden. Sie lebten als Herumstreicher in der endlosen Haide und wurden schwerlich vermißt, wenn sie gänzlich verschwanden und man das Gerücht von ihrer Flucht verbreitete. An ihrer Habhaftwerdung konnte ohnehin Niemand ein Interesse haben, als Aurel und Martell. Diesen fürchtete Adrian nicht, da er seine Auflösung nahe glaubte, und von Jenem nahm er an, er werde Edelmuth und Großsinnigkeit genug besitzen, um seinen eigenen Bruder nicht des Mordes anzuklagen.
Unglücklicherweise bedurfte er noch einer Mittelsperson, da er einen nicht zu überwindenden Abscheu vor persönlicher Ausübung des Verbrechens empfand. Die Anordnungen dazu zu treffen, den Plan zu entwerfen, selbst die Mittel herbeizuschaffen, schien ihm weniger entsetzlich und strafbar, als die Vollbringung der That. Sophistik half ihm über alle Skrupel hinweg und beruhigte ihn vollkommen.
»Ich bin ja kein Mörder,« rief er sich ermuthigend zu, »wenn ich nicht selbst Hand anlege! Ich gebe blos Rathschläge und überlasse die Ausführung, die Anwendung derselben andern Händen.«
[] Auch diese Hände glaubte er schnell zu finden. Die zarte Aufmerksamkeit Bianca's, ihr weniger freund lich-kaltes Benehmen seit jenem entscheidenden Morgen, ihre aufmunternden Blicke und Worte ließen Adrian glauben, sie erwiedere seine Neigung. Die Leidenschaft machte ihn blind, er sah die Liebliche sich schon verbunden und in dieser unbegreiflichen Verblendung zauderte er nicht, sein Wohl und Wehe diesem verführerischen Mädchen anzuvertrauen. –
Es war gegen Abend. Blitzende Goldfäden spannen sich durch die dunkelgrünen Nadelbehänge der Haide und warfen ein zitterndes Strahlennetz über den leis wallenden See. Adrian saß auf kostbarem Rollstuhle am Fenster und warf von Zeit zu Zeit einen zerstreuten Blick auf den prachtvoll glühenden Abendhimmel. Seine Gedanken schienen aber mit ganz anderen Dingen beschäftigt zu sein, denn das erhebende Schauspiel des Sonnenunterganges erheiterte nicht seine düstern, unheimlichen Mienen. Er war so tief in sich versunken, daß er nicht einmal das Kommen und den schwebenden Schritt Biancas hörte, die, wie immer reizend angekleidet, für den [] Grafen einige Erfrischungen auftragen wollte. Erst als sie hustete, sah er auf und reichte ihr die Hand.
»Immer aufmerksam, immer liebenswürdig und gut,« sagte er mit einem Anflug von Schwermuth.
»Meine Schuldigkeit, gnädigster Herr.«
»Werden Sie mir nicht auch den Rücken kehren nach diesem Unglück?«
»Warum sollte ich? Sie sind ja gütig gegen mich, wie früher.«
»Ich werde aber sehr mürrisch, zänkisch, herrisch, vielleicht gar tyrannisch werden, denn ich hasse die Menschen, weil sie mich hassen und betrogen haben.«
»Nicht doch, Herr am Stein! Nun und wenn auch bisweilen wirklich die böse Stunde Sie überfällt, so werde ich armes Kind durch meine Possen den garstigen Feind aus dem Felde zu schlagen bemüht sein, und geben Sie Acht, er weicht! Meine Blicke kann er nicht ertragen. Was meinen Sie?«
Bianca kniete vor Adrian nieder, der noch ihre Hand gefaßt hielt, und ließ einen jener schmelzenden, seelenbezaubernden Blicke auf ihn [] fallen, über welche die Sirene nach Belieben verfügen konnte.
»Was könnte Ihnen unmöglich sein, entzückendes Kind!« erwiederte der Graf. »Ich glaube, Sie können Todte erwecken und Verdammte selig machen!«
»O nein, so umfassend ist meine Macht nicht,« versetzte die Schöne lächelnd und die Liebkosungen ihres Gebieters ohne Sträuben duldend, was sie bisher noch nie gethan hatte. »Höchstens vermag ich Kranke zu heilen und mürrischen Trotzköpfen ein freundliches Lächeln abzugewinnen. Begeben Sie sich unter meine Herrschaft, und Sie werden der heiterste Mensch werden!«
»O Bianca, habe ich das nicht immer gewünscht? Aber Du wiesest mich ja von Dir!«
»Die Kriegskunst haben Sie nicht studirt, das sieht man!« sagte mit schalkhaftem Lächeln die verführerische Kokette, und legte ihr duftendes Lockenhaupt auf seinen Schooß. Adrian küßte wiederholt die weichen glänzenden Haare und die Gluth der Leidenschaft, die ihm Bianca eingeflößt hatte, gab sich in dem Zittern seiner [] Hände kund, die an den Wangen der Schönen ruhten.
»Wollen Sie mich glücklich, mich ruhig machen?«
»Sie wissen es ja!«
»Dann reichen Sie mir Ihre schöne Hand und werden meine treue, verschwiegene Bundesgenossin!«
»Recht gern, Herr Graf, doch blos unter der Bedingung, daß Sie keinen offenen Krieg gegen Ihre Feinde beginnen wollen. Wir Mädchen, wissen Sie, haben vor allen Arten von Waffen eine unwiderstehliche Furcht.«
»Ich suche eine Bundesgenossin, die sich auszeichnet durch Treue, Verschwiegenheit und List. Sollte ich mich irren, wenn ich diese drei Vorzüge Ihnen zutraute?«
»Es käme auf die Probe an.«
»Und wenn Sie diese Probe nicht beständen?«
»Nun was dann?«
»Dann würden Sie mich vielleicht unglücklich machen und sich selbst schwerer Verfolgung aussetzen.«
»Auf diese Gefahr hin hätte ich beinahe Lust, den Versuch zu wagen.«
[] »Im Ernst, Bianca?«
»Im vollen Ernst! Hier meine Hand!«
»Engel! Retterin! Göttin meines Lebens!« rief Adrian, das noch immer vor ihm knieende Mädchen zu sich emporziehend, mit leidenschaftlicher Gluth umarmend und es wiederholt an sein Herz drückend.
»Nicht so ungestüm, Lieber!« flehte Bianca, ihrerseits eine schmachtende, verschämte Hingebung heuchelnd, die den Grafen vollends in seinem Vorsatze bestärkte und jede Vorsicht bei Seite setzen ließ. Sie blieb aus seinem Schooße sitzen, das Gesicht an seine Brust gedrückt, den rechten, halb entblösten Arm lose um seinen Nacken geschlungen.
»Habe wohl Acht aus das, was ich Dir jetzt sage,« flüsterte Adrian, bald die linke weiche Hand der Schönen an seine Lippen drückend, bald einen Kuß auf ihre klare Stirn hauchend. »Sahst Du die beiden wüsten, verwilderten Männer, die mein Bruder Aurel vor einigen Tagen in Banden hierher brachte?«
Bei dem Namen »Aurel« erbebte Bianca unmerklich. Ohne auszublicken, gab sie dem [] Grafen durch einen Händedruck ihre Mitwissenschaft zu erkennen.
»In wenigen Tagen wird man die Elenden verhören,« fuhr Adrian fort. »Ich weiß, daß sie mich verläumdet, daß sie mich bei Aurel und dem Maulwurffänger angeschwärzt haben, um ihre verbrecherischen Handlungen zu bemänteln. Eine Klage steht bevor, wenn sie ihre Aussagen frech zu Protocoll erklären und eine endlose, meinen Namen befleckende Untersuchung wird die besten Jahre meines Lebens vergiften. Dem muß man zuvorkommen, dem müssen und können wir vereint steuern!«
»Wie?« fragte Bianca und erhob ihren Kopf, das dunkelflammende Auge fragend und neugierig auf den Grafen heftend. »Wie stünde das in unserer, namentlich in meiner Macht? Ich weiß ja von nichts, ich kann nicht einmal Zeuge sein!«
»Kleine Thörin, wie du Dich einfältig stellst! Hörst Du nicht, daß es gar nicht bis zum Verhör kommen darf, wenn ich nicht compromittirt werden soll?«
»Also?«
[] »Sie müssen beseitigt, heimlich entlassen werden!«
»Man soll ihnen demnach zur Flucht behilflich sein?«
»Daß ist mein Plan, indeß –«
»Indeß?« erwiederte Bianca, strich sich die ausgegangenen Locken zurück und legte beide Hände auf ihren Busen.
»Der Vorsicht wegen müßte noch etwas Anderes geschehen –«
»Etwas Anderes! Und worin soll dies bestehen?«
»Wozu mir die kluge, schlaue, treue und verschwiegene Bundesgenossin, deren Wort ich besitze, behilflich sein wird!«
Bianca neigte ernst und schweigend den Kopf und entschlüpfte dem Schooße des Grafen. Adrian ergriff ihre Hand.
»Schelmen, wie es jene beiden sind, ist nie zu trauen. Läßt man sie also entfliehen, so können sie mir immer noch einen Streich spielen, denn es sind von Grund aus verworfene und dem Henker anheim gefallene Menschen. Jedes Gericht muß sie zum Tode verurtheilen, den sie mehr als ein Mal verdient haben. Es wäre [] deshalb ein Verdienst, sie unschädlich zu machen – sie unmerklich, ohne vorhergegangene langweilige Untersuchung – sterben zu lassen! Wer dazu die Hand reichte, würde sich verdient machen um Staat und Gesellschaft!«
»Bitte, sprechen Sie weiter!« lispelte Bianca.
»Ich bin entschlossen, mir dieses Verdienst zu erwerben, allein ich bedarf eines Gehilfen, der mich versteht, der mich dabei unterstützt und – verschwiegen ist!«
»Das begreife ich. Nur weiter, Herr Graf!«
»Du hast Dich mir verbündet, Bianca – Du kennst, Du verstehst, Du liebst mich – Deine Hand –«
»Soll die verfluchte Hand einer Mörderin werden?«
»Bianca! Welche Schlußfolgerung! Welche Verwandlung Deines Wesens! – Was geht in Dir vor?«
In der That hatte die verführerische Schöne während der letzten einschmeichelnden Worte des Grafen eine ganz andere, eine furchteinflößende Miene angenommen. Ihre schlanke Gestalt hoch aufgerichtet, ihre großen zornsprühenden Augen auf Adrian geheftet, die vollen Arme fest [] über dem heftig wallenden Busen geschlungen, warf sie den schönen Kopf mit den schwarzen flatternden Locken zurück, und ein furchtbares Lächeln spaltete die blaßrothen Lippen. Ihr Antlitz war weiß, wie das einer Leiche.
»Brudermörder! Zweifacher Brudermörder!« rief Bianca und schleuderte Blitze des Zorns und der Verachtung auf den Grafen. »Endlich hab' ich Dich gefangen, Elender!«
»Wozu diese Verstellung,« entgegnete Adrian, indem er ebenfalls aufstand und das dämonisch schöne Mädchen umschlingen wollte. »Wir verstehen uns ja doch, und ein so schöner und süßer Mund, wie der Deinige, wird nicht aus der Schule plaudern! Deine Hand aber bleibt zart und weich, wie immer. Von ihr wird nichts weiter begehrt, als daß sie einen silbernen Löffel erfasse und mit der ihr eigenen graziösen Bewegung den armen Gefangenen einen warmen Trank mit Zucker versüße. Sollte das meinem lieben, freundlichen und klugen Mädchen nicht möglich sein?«
Adrian wollte schmeichelnd die Hand Bianca's wieder erfassen, diese aber trat stolz einen Schritt zu rück und donnerte ihn an:
[] »Hinweg, verabscheuungswürdiges Scheusal! Hinweg! – Dein bloßer Hauch verpestet die Luft, die Dich umgibt ... Qualen der Hölle lohen um Dein verbrecherisches Haupt ... Wer Dir naht, geräth in Gefahr, durch bloße Berührung von Dir mit fortgerissen zu werden auf die Lasterbahn, die Du wandelst seit Jahren! – Ja, ich nenne Dich nochmals einen zwiefachen Brudermörder, denn ich weiß, daß Martell, von Dir mit brennendem Gifte getränkt, dem Grabe entgegenwankt, und Dein eigener schamloser Mund hat mir gestanden, daß ein zweiter Brudermord Dein Tag- und Nachtgedanke ist! ... O ich kenne die Gefangenen, Herr am Stein! Ich weiß, daß jener unglückliche Klütken-Hannes der beklagenswerthe Sohn Herta's ist, die Dein Vater der Ehre beraubte! ... Entsetzlich, grauenvoll, seelenerschütternd geht jetzt nach fast einem halben Jahrhundert die Saat der Frevel und Verbrechen auf, die ein gewissenloser Mann ausstreute, und die eigenen unseligen Kinder sind es, die sie mit sich in's Verderben reißen! ... Adrian, Graf von Boberstein, zittere, denn die Rachegöttin zückt ihr Schwert über Deinem Haupte! – Kennst Du mich?«
[] Bianca trat, immer die Arme über der Brust verschränkt, dem Grafen näher, der entsetzt über die unerwartete Verwandelung seiner schönen Bundesgenossin in den Polsterstuhl zurückgesunken war.
»Bianca,« rief er, die Hände flehend gegen sie ausstreckend, »Bianca, vergib mir! ... Sei barmherzig! Sei ein mildes, sanftes Weib!«
»Ha, ha, ha!« lachte die Rachedurstige. »Erbarmen, Sanftmuth, Vergebung, weibliche Milde suchst Du bei der, deren Schwester Du herzlos in den Tod gejagt hast?«
Todtenblässe lag auf Adrians eingefallenen Zügen. Die vor Seelenangst zitternden Hände gegen das zürnende Mädchen ausstreckend, lallte er:
»Wer ... wer ... bist Du?«
»Ich bin die Schwester Theresens, des armen Dienstmädchens, das ob Deiner grausamen, kalten Treulosigkeit ihrem Leben in den Fluthen der Saale ein Ende machte! Kennst Du dies?«
Und die Rächerin ihrer Schwester hielt dem Grafen jene höhnischen Zeilen vor, die der [] stolze Edelmann der armen Verführten kurz vor ihrem Tode geschrieben hatte.
»Gerechter Gott, ich bin gerichtet!« schrie Adrian und stürzte Bianca zu Füßen.
»Gerichtet und verdammt!« sagte die Unerbittliche streng und kalt. »Winsele, bis der letzte Kieselstein dieser Welt Empfindung bekommt; krümme Dich Millionen Jahre hier und dort vor meinen Füßen, um Vergebung von mir zu erlangen; ich werde nur höhnende Worte, tödtende Blicke, verachtendes Lächeln für Dich haben, denn ich will Rache, Rache für meine schuldlos hingeopferte Schwester! Als Weib habe ich keine andere Waffe, als die Lust der Rache, die aus Hohn und Spott und Verachtung ihren Honig saugt; wär' ich ein Mann, so würde ich Dich vor die Mündung einer Pistole oder die Spitze eines Degens fordern, um Deine schwarze Seele möglichst früh zur Hölle zu senden! Da ich dies nicht kann, will ich mich wenigstens weiden an der feigen Angst Deiner frechen Seele, an der Qual, die jede Minute Deines unseligen Lebens vergiftet! O könnte ich noch tausend Jahre leben und Dich in meiner Nähe tausend Jahre leiden sehen, – [] dann wollte ich meine arme Schwester für hinreichend gerächt halten!«
»Ist es möglich, Bianca!« wimmerte der zu Boden geschmetterte Graf. »So schön, so voll süßer Reize und so erbarmungslos?«
»Es ist mein Amt. Gott will es, daß ich es treu und redlich übe!«
»O und ich, ich liebte Dich, ich liebe Dich noch!«
»Die Strafe des Himmels! Das Verhängniß, das richtend über uns waltet!«
»Finsterer Wahnsinn packt mich, wenn Du von mir gehst, wenn ich Dich nicht mehr um mich sehen kann!«
»Zur Steigerung Deiner Seelenqualen will ich nicht von Deiner Seite weichen.«
»O diese Nächte! Diese endlosen, einsamen, gräßlichen Nächte!« jammerte Adrian. Bianca sah dämonisch lächelnd auf ihn herab.
»Sie nennen ihre Nächte einsam?« sagte sie, aus dem zürnenden Tone plötzlich in einen scherzenden übergehend. »Sie sind sehr ungerecht, Herr Graf. Ich war immer bei Ihnen, oft Stundenlang. – An Ihrem Lager knieend bannte ich Ihre Seele in den Zirkel meiner [] Macht. Der scharfe Blick meines liebeheuchelnden Auges zauberte sie in die wilde Jagd schreckhafter Träume, und die seelenfolternde Gewalt, die Ihre blinde Leidenschaft mir über Sie gegeben hatte, hob Gestalten und Bilder vor Ihr Auge, die alle Qualen der Hölle über Sie verhingen! Gewiß, Herr Graf, ich war Ihnen eine treue Haushälterin!« schloß sie lächelnd, indem sie abermals einen ihrer zärtlichen, zur Liebe reizenden Blicke auf den Unglücklichen warf. Adrian klammerte sich mit beiden Händen an ihre Kleider.
»Furie!« rief er, »göttliche Furie! Peinige mich im Leben und im Tode, nur ein Mal schließe mich in Deine Arme!«
Lange blickte Bianca auf den zu ihren Füßen sich krümmenden Grafen. Dann schlug sie die Augen zum Himmel auf und sagte:
»Schwester Therese, wenn es Dir vergönnt ist, aus dem Jenseits herabzublicken auf diese verbrecherische Welt, dann öffne Dein Auge und sieh, wie ich Deinen Verführer gezüchtigt habe! Ich bin mit mir zufrieden.«
In diesem Augenblicke pochte es.
»Man kommt!« sagte Bianca. »Bitte, Herr [] Graf, reichen Sie mir die Hand, damit ich Ihnen aus dieser unwürdigen Stellung aufhelfe.«
Seufzend erhob sich Adrian. Das Pochen an der Thür wiederholte sich.
»Sie erlauben, Herr Graf?« sagte die schöne Furie und hüpfte graziös zur Thür, die sie öffnete und einige Worte mit dem Bedienten wechselte.
Inzwischen war die Sonne untergegangen. Nur blutiges Abendroth überflammte noch Himmel, Haide und See, und warf einen duftigen Widerschein in's Zimmer. Adrian stand wie in einer dunkeln Feuerwolke. Bianca trat wieder zu ihm.
»Ein Mann wünscht mit Ihnen zu sprechen, gnädigster Herr,« sagte sie mit dem sanftesten und bescheidensten Tone von der Welt, indem sie die Falten ihrer kleinen Atlasschürze, welche Adrians Festhalten in diese gedrückt hatte, mit der Hand sorgfältig ausglättete. »Befehlen Sie, daß ich ihn vorlassen soll?«
»Ich bin nicht in der Stimmung –«
»Um Fremde zu empfangen, wollen Sie sagen? Zu Ihrer Beruhigung, gnädiger Herr, [] kann ich Ihnen melden, daß es ein sehr naher Bekannter und noch dazu ein ganz schlichter Mann ist.«
Adrian sah die boshaft Lächelnde mistrauisch an.
»Sein Name?«
»Ihr Bedienter meinte, eigentlich solle er den Mann als Graf Martell melden, indeß –«
»Martell!« wiederholte Adrian und seine verstörten Züge nahmen den Ausdruck des wildesten Hasses an. Bianca aber winkte, hüpfte nach der Thür und warf dem auf der Schwelle ihr begegnenden Spinner mit verliebtem Blick eine Kußhand zu.
Als sich Adrian umwandte, stand ihm Martell allein gegenüber.
[] Zweites Kapitel.
Adrian und Martell.
Die beiden Halbbrüder standen einander Minutenlang schweigend gegenüber und maßen sich mit finstern feindlichen Blicken. So betrachten sich zwei Raubthiere, ehe sie zum tödtenden Sprunge sich erheben.
Martell trug noch seine gewöhnliche schlichte Arbeitstracht, grobe leinwandene Beinkleider und eine Zwillichjacke. Seine abgegriffene Pelzmütze hielt er in der Hand. Ein schwarzbaumwollenes Tuch, von dessen Schadhaftigkeit die vielen Fasern und Troddeln am verschlungenen Knoten Zeugniß ablegten, war lose um den stämmigen Hals geschlungen. Ihm gegenüber stand Graf Adrian in einem kostbaren Pelz, im Uebrigen [] ungezwungen, aber doch vollkommen elegant gekleidet.
Der Spinner war sehr bleich, seine tiefliegenden schwarzen Augen brannten in den dunkeln Höhlen, sein dichtes schwarzlockiges Haar schien einen Todtenkopf zu bedecken.
»Was beliebt?« redete Adrian den unversöhnlich beleidigten, fast zum Lastthier herabgewürdigten Bruder an, seine heimliche Furcht in ein trotziges und hochfahrendes Wesen hüllend.
»Herr am Stein,« erwiederte Martell, »oder wie ich eigentlich sagen sollte, Herr Bruder, ich komme, Ihnen anzuzeigen, daß ich nicht mehr Ihr unterthäniger Knecht bin und von morgen an als Arbeiter Ihre Fabrik verlasse.«
»Das hättet Ihr Euch ersparen können. Nach dem Vorgefallenen verstand sich dies von selbst. Guten Abend!«
»Sie erlauben, Herr am Stein! Ehe ich Sie von meiner, ich kann es mir wohl denken, verhaßten Gegenwart befreie, habe ich noch einige Worte mit Ihnen zu sprechen.«
»Jedenfalls muß ich auf die größte Kürze dringen,« fiel Adrian ein. Ohne auf diese Bemerkung Rücksicht zu nehmen, fuhr Martell fort:
[] »Da ich demzufolge für immer aus Ihren Diensten gehe, scheint es mir unerläßlich, daß wir zuvor Abrechung mit einander halten.«
»Ist man Euch rückständigen Lohn schuldig, so wendet Euch an Vollbrecht.«
»Von Geld ist hier nicht die Rede Herr am Stein, sondern von einer moralischen Abrechnung.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Dann muß ich es Ihnen erklären,« sagte Martell mit grollender Stimme und trat dem grausamen Bruder, der an einem Spigeltische lehnte, um einige Schritte näher. »Ich will nicht anheben von dem Beginn unserer Verbindung und von den Ungerechtigkeiten, die ich während derselben von Anfang an erduldet habe. Es sind deren so viele, daß ich mich ihrer nicht mehr erinnern kann. Deshalb vergesse ich sie geflissentlich und nehme an, sie hätten mich nie oder doch nur als ein unabwendbares Schicksal getroffen!«
»Ihr würdet sehr gut thun, wenn Ihr Euer ganzes Leben als von so unabwendbarem Schicksal gleitet betrachten wolltet.«
»Ich weiß zu unterscheiden, Herr am Stein, [] zwischen Zufall, der vom Himmel kommt, und zwischen Qualen, welche die Willkür unbarmherziger, selbstsüchtiger Menschen über uns verhängt. So viele deren von Ihnen ausgingen, über diese sollen Sie mir jetzt, nun mich der Spruch gerechter Richter Ihnen gleichgestellt hat, Red' und Antwort geben.«
Adrian zuckte vornehm die Achseln und zog die Stirn in noch krausere Falten.
»Durch Ihre Schuld ist der Tod in meine Hütte gebrochen,« rief Martell, »und hat mir den einzigen Sohn unter grausamen Martern geraubt. Dafür fordere ich jetzt Genugthuung!«
Adrian verharrte, ohne aufzublicken, in seinem vornehmen Schweigen.
»Mein armes geliebtes Weib liegt in Folge der verlängerten Arbeitszeit auf dem Siechbette und wird langsam eines elenden Todes sterben. Auch dafür fordere ich Genugthuung!«
Abermals tiefes und unverbrüchliches Schweigen von Seiten Adrians.
»Ihr teuflisches System, durch vermehrte Arbeit der Unbemittelten Ihr eigenes Vermögen ins Ungeheure zu vergrößern, hat mich selbst der Liebe entfremdet, hat mich beinahe zum Gotteslästerer [] gemacht und mir den Frieden meiner Seele geraubt, der mich sonst in aller Noth und Drangsal erquickte!«
»Dafür werdet Ihr jetzt auch die Früchte meiner schweren Mühen mit genießen,« fiel Adrian ironisch dem Spinner in's Wort.
»Zuvor fordere ich für diesen Diebstahl, den Sie rechtlos an meinem besseren Selbst begangen haben, Genugthuung!«
Der Graf lächelte und fing an mit der Spitze seines Fußes auf der parkettirten Diele zu trommeln.
»Nummer drei,« sagte Adrian spöttisch. »Ich muß die einzelnen Punkte in meinem Gedächtnisse numeriren, damit ich nicht in die Irre gerathe. Viertens? Bitte, mein sehr unterhaltender Herr Bruder, fahren Sie fort. Es fängt an dunkel zu werden und ich würde in der That Etwas entbehren, könnte ich Ihr interessantes Mienenspiel bei diesen Mittheilungen nicht mehr beobachten. – Also Viertens, Herr – Martell?«
»Sie haben mich geistig beinahe getödtet,« sagte tief erschüttert der ehemalige Fabrikarbeiter, »und körperlich mich zum Krüppel gemacht! – Aus elendem, niedrigen Geiz, aus [] schmuziger Hab- und Gewinnsucht, aus gemeinem Haß gegen Alles, was nicht Ihrer Ansicht war, nicht hochadliger Abkunft sich rühmen konnte, dungen Sie – Meuchelmörder, ließen mir vergiftete Getränke reichen und untergruben meine so starke, nie von einer Krankheit angefochtene Gesundheit! – Es stünde mir frei, Sie deshalb bei dem weltlichen Gericht zu denunciren, allein ich kann und will das nicht! Ein Etwas, das ich nicht näher bezeichnen kann, ein unklares Gefühl hält mich davon zurück. Es dünkt mir unsittlich, wenn ein Bruder den Bruder – habe er es auch hundertmal verdient – angibt! Und sodann wäre mir auch damit nicht gedient, wäre mein Groll, mein Durst nach Rache nicht gelöscht, wenn auch das Gericht den Mann, der mich mit teuflischer List elend machte auf Erden, zum entehrenden Tode verdammte! – Eben darum komme ich vor dieser Zeit und – fordere Genugthuung!«
»Ist Herr Martell zu Ende?«
»Sogleich. Ich habe blos noch zu fragen, ob Herr am Stein mir diese Genugthuung geben will?«
»Man muß Euch etwas zu Gute halten, [] Herr Martell,« erwiederte Adrian. »In Eurer bisherigen Lage und Stellung zur Welt konntet Ihr Euch wenig gediegene Bildung aneignen; es darf mich deshalb auch nicht wundern, daß Ihr Euch klar auszudrücken nicht gelernt habt.«
»Wollte ich mich verständlicher ausdrücken, so müßte ich Ihnen den schurkischen Hals umdrehen,« rief Martell, dessen erkünstelte Ruhe der angeborenen Lebhaftigkeit des Temperamentes zu weichen drohte.
»Das ist schon deutlicher,« erwiederte Adrian. »Ich fange an, den Sinn Ihrer Worte ahnungsweise zu begreifen. Aber was wollen Sie, Herr Martell, daß ich thun soll?«
»Herr, mir Genugthuung geben! Ist das deutlich?«
»Ihre Stimme ist laut, ich habe die Worte vollkommen verstanden. Doch lassen Sie hören! Auf welche Weise verlangen Sie von mir Genugthuung?«
»Ich wünsche Sie dieselben Qualen empfinden zu lassen, die mir seit Jahren das Herz zerrissen haben,« raunte Martell seinem kalt lächelnden Halbbruder zu, indem er dicht an seine Seite trat. »Ja,« fuhr er fort, »ich habe unter [] tausend Seufzern diese Stunde herangefleht vom ewigen Richter der Welt, und ich beklage nur, daß es nicht in meiner Macht steht, Auge um Auge, Zahn um Zahn mit Ihnen abzurechnen! Es peinigt mich, daß Sie keine Kinder haben. Ich würde mich ihrer bemächtigen und mit ihnen verfahren, wie Sie mit meinem armen Haus. Ich würde Ihre Gemahlin peinigen, erschrecken, durch Truggebilde in wahnsinnige Seelenangst hineinhetzen, bis sie zum Schatten hinschwände und unter Seufzen und Schauern ein gebildeter Schrecknisse verschied! Das wäre Abrechnung, wie ich sie will, das wäre Rache, wie sie ein Mann nehmen darf und soll, der so gelitten hat, wie ich! – Nun ich hoffe, wir verstehen uns endlich.«
»Diese Bekenntnisse machen Ihnen als Mensch und Bruder viel Ehre. Ich danke Ihnen dafür.«
»Werden Sie mir Genugthuung geben, Herr am Stein?«
»Muß ich nicht?« versetzte Adrian. »Das Gericht, gegen dessen Weisheit ich nicht die geringsten Zweifel hege, hat Sie einstimmig zum Cavalier erhoben. Sie sind mein leiblicher Halbbruder, [] sagt man ... Ich habe Sie beleidigt, behaupten Sie ... Enfin, ich bin Ihnen Genugthuung schuldig.«
Adrian lachte und begann im Zimmer, das jetzt ganz dunkel geworden war, auf und nieder zu gehen.
Martell, etwas verblüfft durch die leichtfertige, beinahe cordiale Art und Weise, wie sein Halbbruder den von ihm gemachten Antrag hinnahm, schwieg eine Weile.
»Befehlen Sie Licht, Herr Martell?« fragte der Graf, der jetzt seine ganze Sicherheit, seinen geübten gesellschaftlichen Ton ungeachtet der Aufregung, die in ihm tobte, äußerlich doch wieder gewonnen hatte. Mich dünkt, es wäre schicklicher. Feinde müssen einander Aug' in Auge blicken können, wenn sie es ehrlich meinen.
Und Adrian zog mehrmals die Klingelschnur, daß die Glocke laut durch das stille Haus dröhnte.
Als der Bediente Licht gebracht hatte, blieb Adrian vor seinem Halbbruder stehen.
»Beliebt es, Herr Martell, so können wir unsere Angelegenheit vollends beendigen,« sagte er. »Sie haben zu bestimmen, in welcher Weise [] das, was Sie Genugthuung nennen, stattfinden soll. Lassen Sie hören.«
»Sie werden sich mit mir schlagen.«
»Ich muß bemerken, mein Herr,« versetzte Adrian sehr höflich, »daß dies abermals zu den unnöthigen Aeußerungen gehört, auf denen ich Sie schon einigemale ertappt habe. Man schlägt sich immer, wenn man Genugthuung fordert! Es handelt sich jetzt um Ort, Zeit und Waffen.«
Martell schwieg eine lange Weile, dann richtete er sein schwarzes Auge durchbohrend auf den Halbbruder und erwiederte:
»Obgleich mein Haus sehr schnell bestellt sein wird, da ich zur Zeit nichts besitze, habe ich dennoch mancherlei Anordnungen zu treffen, die mich aufhalten können. Deshalb wünsche ich, daß unser Zusammentreffen morgen um Mitternacht stattfinde.«
»Um Mitternacht? Wir werden dann auf gut Glück wie Blinde mit einander kämpfen! Fürchten Sie etwa das Tageslicht oder schreckt Sie die blanke Waffe die drohende Oeffnung einer geladenen Pistole?«
[] Martell verfärbte sich, doch blieb er gelassen und antwortete ruhig:
»Das Zusammentreffen selbst wird Ihnen beweisen, daß ich keine Furcht kenne! Uebrigens soll es an dem erforderlichen Licht nicht fehlen.«
»Nun so sei es! Und der Ort, wenn ich fragen darf?«
»Der Saal in der Fabrik, wo ich unter Kummer, Sorge und Angst Ihnen arbeitete, damit Sie ein reicher Mann werden konnten.«
»Sie haben seltsame Gelüste, mein Herr! Indeß, wenn man sich auf Tod und Leben schlägt, kommt es nicht auf den Ort an, wo man zum letzten Mal sein Auge schließt. Ich bin also auch damit einverstanden.«
»Um nicht gestört zu sein, werde ich Herrn Vollbrecht beauftragen, in dieser Nacht die Arbeiter jenes Saales zu beurlauben.«
»Es sei! – Nun aber die Waffen. – Vermuthlich verstehen Sie den Degen nicht zu führen und wünschen deshalb Pistolen?«
»Nein, Herr am Stein! Weder Degen noch Pistolen vermögen mir Genugthuung zu verschaffen, das vermag einzig und allein Gott, [] der als Zeuge unserm gerechten Kampfe beiwohnen wird!«
»Ah, jetzt verstehe ich,« sagte Adrian mit verächtlichem Zucken der Lippen. »Sie haben es auf einen Faustkampf, auf eine Rauferei abgesehen, und weil Sie in solchen Fechterkünsten natürlich sehr geübt sein müssen als geborener und erzogener Proletarier, so hoffen Sie mich auf die leichteste Weise besiegen und zum Krüppel schlagen zu können! – Sie sind sehr großmüthig, mein Herr, indeß mein Grafenwort darauf, zu solcher Gemeinheit reiche ich Ihnen nicht die Hand.«
Martell schoß das Blut ins Gesicht. Den Grafen verächtlich anblickend erwiederte der Spinner:
»Stünden Sie auf meinem Platze, Herr am Stein, dann würden Sie vielleicht dies Auskunstsmittel ergriffen haben, ich, bei Gott dem Herrn sei es geschworen, ich habe nie daran gedacht! Nur Gleichheit der Waffen wünsche, fordere ich, und da ich nun weder ein Fechter noch ein Schütze bin, weil die Noth des Lebens mir keine Zeit zu Spiel und Lust gestattete, so verwerfe ich auch diese Waffen. – [] Herr am Stein, wir werden uns schlagen, ohne daß Einer die Hand gegen den Andern erhebt! Es würde dies Brüdern übel anstehen, und ich meines Theils mag das Kainszeichen nicht auf der Stirn mit mir herumtragen!«
Adrian setzte sich und sah den Spinner halb erstaunt, halb ungläubig an. Der Gedanke, Martell möge in Folge des genossenen Giftes an seinem Verstande gelitten haben, gewann bei ihm die Oberhand.
»Das ist Alles recht schön, Herr Martell,« entgegnete er, »und zeugt von einem ungewöhnlich zarten Schicklichkeitsgefühl, allein, da es auf Ihr eigenes Verlangen zwischen uns denn doch zum Blutvergießen kommen soll, so erklären Sie sich jetzt gefälligst, wie wir dies zu bewerkstelligen haben!«
»Ihr Blut, Herr am Stein, habe ich nie gewollt,« sagte Martell mit stolzer, eiserner Ruhe, »nur Genugthuung für alle mir und den Meinigen zugefügten Beleidigungen und Qualen, nur Abrechnung für das, was ich unter Ihrer Willkürherrschaft gelitten habe! Das sühnt kein Blut, das sühnt nur ein Kampf, wie er mir vorschwebt, ein Kampf, der Sie lehrt, wie dem [] Elenden zu Muthe ist, der unter der Geißel eines übermüthigen Reichen täglich und stündlich tausend Tode stirbt!«
»Verstehe ich Sie recht,« sagte Adrian erschrocken, »so wollen Sie mich dem Hungertode Preis geben.«
»Nichts von alledem! Ich werde Sie vielmehr sich selbst und Ihrer Geschicklichkeit überlassen. Sie sind ein kluger, ein fürchterlich kluger Mann; Sie sind gewandt und in tausenderlei Fertigkeiten geübt; Ihnen gebricht es weder an Um- noch an Vorsicht! Das Alles geht mir ab. Ich bin rasch, ungestüm, körperlich ungeübt, geistig nicht halb so gewandt, wie Sie. Ueberdies hat das von Ihnen nur beigebrachte Gift meinen Körper geschwächt, daß all seine Muskeln ein krampfhaftes Zittern rastlos bewegt. Ich bin also nur noch der Schatten eines Menschen! Dennoch vertraue ich Gott und meiner Geschicklichkeit und auf Gott, der ja auch über Ihnen waltet, auf Gott und Ihre Geschicklichkeit sind Sie jetzt von mir gefordert!«
»Mein Gott, das sind aber ja keine Waffen!« rief Adrian erstaunt aus. »Besäße ich auch hundert Fertigkeiten, wäre ich gelenk wie ein [] Seiltänzer, ich könnte mich durch solche Kunstfertigkeiten doch nicht schlagen! Das ist also ein Unsinn, eine Thorheit, die allen vernünftigen Grundes entbehrt!«
»Dennoch bestehe ich darauf,« erwiederte Martell. »Sie haben mir die Wahl der Waffen freigestellt und ich wähle als völlig gleiche Waffen unsere beiderseitige Geschicklichkeit. Antwort: Sind Sie damit zufrieden?«
Adrian sann lange hin und her, was der rachsüchtige Spinner wohl unter einem Kampfe verstehen könne, bei welchem einzig und allein die Geschicklichkeit gleichsam als Waffe dienen sollte, er konnte aber zu keinem haltbaren Resultate kommen. Längst schon der Unterhaltung müde, obwohl ihn das unbeholfene Wesen seines Halbbruders einige Male vergnügt hatte, sagte er ärgerlich:
»Nun denn, der bloßen Curiosität wegen bin ich mit dieser neuen Art, einen sogenannten Ehrenhandel zu schlichten, einverstanden. Ich nehme die Waffen an, Waffen, von denen ich zur Stunde noch gar keine Vorstellung habe.«
»Morgen um Mitternacht.«
»Angenommen!«
[] »Im Saal der Feinspinner und ohne Zeugen.«
»Ohne Zeugen!« sagte Adrian und legte seine kleine weiße Hand in die harte, zitternde des Spinners.
»Gute Nacht denn, auf Wiedersehen!«
Martell ließ die Hand des Grafen sinken, kehrte ihm den Rücken und verließ das kostbar meublirte Zimmer des reichen Halbbruders, ohne einen Laut von diesem als Gegengruß zu vernehmen.
»Dieser Mensch ist fürchterlich!« sagte Adrian, als die schweren Schritte des Davongehenden auf dem Corridor verhallt waren. »Hat je ein Mensch so etwas gehört! Ein Duell auf Geschicklichkeit! Man sollte glauben, der Tollkopf wolle mich zwingen, nach Art der Jongleure scharfe Messerklingen im Kreise um mich zu werfen! Müßte ich nicht wider Willen seiner Ehrlichkeit vertrauen, nie und nimmer wäre ich diesen Handel eingegangen. So aber sei es der puren Seltsamkeit wegen und um zu zeigen, daß der legitime Erbe von Boberstein dem Bastard an Muth in keiner Weise nachsteht.«
[] Drittes Kapitel.
Ein Mord.
Sehen wir jetzt, welchen Eindruck die erwähnten Vorfälle auf die stillen Bewohner des Zeiselhofes machten.
Aurel war nach erfolgter Einkerkerung der Verbrecher mit seinen Freunden wieder abgereist und hatte in den nächsten Tagen Herta auf die schonendste Weise von dem Wiederfinden ihres verlorenen Sohnes unterrichtet. Es war die traurigste Aufgabe für den Kapitän, die so schwer Geprüfte jetzt auf das Entsetzliche vorzubereiten, ihr beizubringen, in welchem Zustande der Erniedrigung Klütken-Hannes betroffen worden war, wie man einen tief gesunkenen Verbrecher in ihm gefunden habe!
Herta bedurfte geraumer Zeit, um dies [] neue Unglück, das alle früheren harten Prüfungen und Schicksalsschläge noch zu übertreffen schien, mit der ihr eigenen schönen Seelenruhe und wahrhaft christlichen Ergebenheit zu ertragen. Sobald sie sich aber daran gewöhnt und mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, daß ihr unseliger Sohn ein verabscheuungswürdiger Brudermörder geworden sei, war sie auch schnell entschlossen und einig mit sich über das, was ihr zu thun jetzt obliege.
»Also in Boberstein lebt der Unglückliche?« sagte Herta mit gepreßter Stimme, »und wenn mein Herz dabei brechen, wenn ich auf der Stelle vor Gram und Kummer sterben sollte, noch einmal ihn sehen, vielleicht mit einem Blick meines Mutterauges ihn trösten muß ich!«
»O stehen Sie ab davon!« bat Elwire, deren Schmerz sich in einer Fluth von Thränen Luft machte. »Es muß Sie tödten!«
»Halte mich nicht, liebes Kind, es ist meine Pflicht!«
Elwire viel schluchzend der Großmutter um den Hals und bedeckte sie mit Küssen.
»Die Tante hat Recht,« sagte der Kapitän nach einer Pause. »Wenn irgend etwas den [] unglücklichen Mann zur Erkenntniß seiner Frevelthat bringen und ihn der Neue zuführen kann, so ist es der Anblick seiner beklagenswerthen Mutter. Ich werde Sie begleiten.«
Herta drückte dem Neffen dankend die Hand.
»Nicht wahr, Sie eilen?«
»Sobald Sie wünschen, können wir aufbrechen.«
»Auf morgen denn?«
»Ich bin bereit.«
»Herta! Theure Großmutter!« schluchzte Elwire.
»Fürchte nichts, mein Kind! Ich bin durch ein Leben voll Schrecknisse an das Entsetzliche gewöhnt. Ich werde auch dies ertragen, ich werde die Zusammenkunft mit meinem Sohne, der ... ein Mörder ... geworden ist, .. still überleben.«
Thränen erstickten ihre Stimme. Sie verbarg ihr Gesicht in den Locken der schmerzlich bewegten Enkelin.
»Nehmen Sie mich mit, Großmutter,« sagte Elwire nach einiger Zeit und sah bittend mit ihren großen von Thränen verschleierten Augen zu Herta auf, vor der sie kniete.
[] »Aber mein Kind!«
»Bitte, nehmen Sie mich mit!« flehte das schöne Mädchen dringender. »Ich sterbe vor innerer Angst, wenn ich allein zurückbleiben soll!«
»Liebe Elwire,« sagte Aurel, indem er die Weinende sanft aufhob und sie nöthigte, an Hertas Seite niederzusitzen, »es würde Dich zu heftig erschüttern! Du bist ja nicht allein, die treue, erprobte Dienerin der Tante, die sorgende Emma bleibt bei Dir.«
»Nein, nein, Aurel, ich verlasse die Großmutter nicht!« rief Elwire mit leidenschaftlicher Heftigkeit.
»Bedenke, welch ein Wiedersehen! Welch Zusammentreffen!«
Elwire trocknete ihre Thränen und schlug die Augen zu dem Geliebten auf.
»Wiedersehen!« sagte sie dann düster und ein Frostschauer überrieselte ihren zarten Körper. »Nein, Aurel, ich will ihn nicht wiedersehen, aber ich will um Euch, ich will in Eurer Nähe sein.«
Der Kapitän küßte sie auf die Stirne und drückte zärtlich ihre Hand.
[] »Unter dieser Bedingung nehme ich Deine Begleitung an,« erwiederte er, »nur versprich mir auch, nicht wankend zu werden in Deinem Entschlusse.«
»Bin ich nicht Deine Braut?« sagte Elwire durch Thränen lächelnd. »Du darfst meinem Wort vertrauen, wie meinem Blicke! –«
Nach diesem Entschlusse machte sich eine größere Ruhe bei den Bewohnern des Zeiselhofes geltend. Die Frauen trafen die nöthigsten Vorkehrungen zu der bevorstehenden kleinen Reise, Aurel schrieb eine Menge Briefe an ferne und nahe Freunde. Ausführlich berichtete er das Vorgefallene sowie den Ausgang des Prozesses an Madame Oehler in Hamburg und sprach die Hoffnung aus, sie recht bald wiederzusehen.
Der Maulwurffänger war in seinen Wohnort zurückgekehrt, um Gregor und Schlenker die frohe Kunde von dem Ausgange des Prozesses mitzutheilen. Er hatte versprochen, in einigen Tagen wieder nach Boberstein zu gehen, da seine Anwesenheit dort nöthig sein konnte, um Martell theils zu beaufsichtigen, theils zu beruhigen. Man durfte also hoffen, den treuen Bundesgenossen [] dort anzutreffen, wenn etwa mehrere Tage vergehen sollten, ehe an Rückkehr gedacht werden konnte. Einstweilen war blos Gilbert im Arbeiterdorfe geblieben, um über Alles, was sich daselbst begeben konnte, sogleich Bericht an den Kapitän zu erstatten. –
Es war am Tage nach der merkwürdigen Unterredung zwischen Adrian und Martell, als Kapitän Aurel mit Herta, Elwire und Sloboda, der nunmehr für immer seine Wohnung auf dem Zeiselhofe aufgeschlagen hatte, nach Boberstein fuhr, um die Gefangenen zu sehen und zu sprechen. Wir eilen den trauernden Reisenden voraus, um uns nach den Verbrechern zu erkundigen, die wir am Morgen des wichtigen Tages verließen, welcher den drei gräflichen Brüdern drei Halbgeschwister unter so erschütternden Umständen zuführte.
Vollbrecht hatte die Verbrecher in einen sichern Ort geführt, aus dem kein Entkommen möglich war. Dieser lag unter den Fabrikgebäuden und bestand aus einem kellerartigen Gewölbe, das für gewöhnlich zu Aufbewahrung von Waarenballen benutzt ward. Feste Thüren und Riegel, ein hohes vergittertes Fenster mit[] altgothischem steinernen Fensterkreuz und mehrere Ellen starke Mauern ließen auf den ersten Blick erkennen, daß dieses Gewölbe noch ein Ueberbleibsel der alten Burg Boberstein sei.
Unmittelbar neben diesem Kellergewölbe befand sich eine der Maschinenkammern, weßhalb die Gefangenen das dumpfe, monotone Stampfen und Rauschen der arbeitenden Maschine Tag und Nacht vernahmen. Auf dieser Seite war auch die Mauer des Gewölbes neueren Ursprungs und, wie ein leises Klopfen daran deutlich verrieth, bei weitem nicht so stark. Der Keller mochte beim Brande der Burg zum Theil eingestürzt, später aber die schadhaften Stellen mittelst Mauerwerk aus Backsteinen wieder aufgeführt worden sein.
Dies Gewahrsam war für ein Gefängniß ein ganz erträglicher Aufenthaltsort. Vollbrecht ließ einen Tisch nebst ein paar Stühlen hereinschaffen, ein eiserner Ofen half die etwas dunstige und feuchte Luft erwärmen, Matratzen wurden auf den gedielten Fußboden gebreitet und außerdem für Lebensmittel die nöthige Sorge getragen. Nicht einmal Fesseln legte man den Verbrechern an, da Vollbrecht keinen Auftrag[] dazu erhalten hatte, vielmehr löste er sogleich mitleidig und menschenfreundlich die Stricke, womit den Unglücklichen die Hände auf den Rücken gebunden waren.
So konnten denn die beiden Verbrecher nach Belieben in ihrem gemeinsamen Kerker umhergehen, sich nach Herzenslust unterhalten und treiben, was ihnen gefiel. Täglich drei Mal brachte ein Bedienter des Grafen den Gefangenen Speise und Trank in Fülle und weit besser zubereitet, als sie es erwarten durften. Selbst auf ihre schlechten Gewohnheiten nahm Vollbrecht Rücksicht, indem er den Elenden täglich eine halbe Kanne Branntwein verabreichen ließ.
Anfangs beobachteten Beide ein finsteres Stillschweigen. Jeder schien über die mißliche Lage nachzudenken, in welche sie rohe Gewinnsucht und unüberlegtes Handeln gebracht hatte. Keiner sprach mit dem Andern. Wie grimmige Bestien gingen sie mürrisch, bisweilen wüthende Blicke sich zuwerfend, an einander vorüber.
Dies Schweigen dauerte den ganzen ersten Tag ihrer Gefangenschaft. Am nächsten Morgen aber fühlte sich Blutrüssel doch gar zu sehr gelangweilt und so hielt er es für klüger, seinen [] Unglücksgenossen anzureden. Sich mit halbem Körper von seiner Matratze erhebend ließ er unter häßlichem Rollen seiner vorspringenden, immer entzündeten Augen die Blicke durch die dämmrige Helle des Gewölbes schweifen, heftete sie dann fest auf Herta's unglücklichen Sohn und sagte mit mürrischem Humor:
»Guten Morgen, Hans. Wie hast Du auf Deiner Stammburg geschlafen?«
Klütken-Hannes antwortete nicht. Er wendete dem Sprecher den Rücken zu und seufzte.
»Hm,« fuhr der Mörder fort, »der hat noch Lust zu träumen von den Herrlichkeiten, die seiner warten.«
»Daß Du ersticktest!« murmelte Elwirens Vater.
»Bruder, sei kein Narr,« erwiederte Blutrüssel, »laß uns lieber vernünftig mit einander reden. Wir sitzen Beide in einer verdammt ärgerlichen Patsche, aber der Teufel müßte über Nacht all' seinen Witz verloren haben, wenn wir nicht mit heiler Haut davon kämen. Laß uns einig sein und wir sind geborgen!«
»Hätte ich Dich nie gesehen, nie auf Dein [] Wort gehört! Du hast mich verführt, mich unglücklich gemacht hier und ewiglich!«
»Bleib mir vom Leibe mit solchen Redensarter, alter Junge! – Unglücklich gemacht – was will das sagen! – Und hier und ewiglich! Da ist kein Menschenverstand drin!«
»Ich ... ein Brudermörder! ... O Fluch, Fluch, tausendmal Fluch über Dich seelenverderbendes Scheusal!«
»Recht so, Hans, tobe Dich aus! Das klärt die Seele auf und stärkt den Körper. – Sobald Du Dich satt geschimpft hast, wollen wir zusammen reden wie Brüder. – Ich weiß, daß Du mir ruhig zuhören wirst, denn halb und halb bin ich Dein Stiefvater und – kann das von Dir verlangen.«
»Mörder, ich werde mich rächen!« drohte Klütken-Hannes, erhob drohend seine Faust gegen Blutrüssel und schüttelte wild das struppige graue Haar.
»Ja doch,« sagte sein Verführer, immer räche Dich, das ist in der Ordnung. Wenn heut zu Tage ein ehrlicher Kerl eine Ohrfeige kriegt, so hat er keine ruhige Minute, bis er zwei Ohrfeigen zurückgegeben hat. Das nennt [] man sich rächen oder bezahlt machen, und Alles ist wieder in's alte Gleis gebracht. Ich sehe also gar nicht ein, weshalb Hans Klütken, von Geschlecht der Sohn einer Gräfin, eine andere Methode befolgen sollte.
»Du bist ein Teufel ... mit Deinem Hohn! – O meine Mutter, meine Mutter!«
»Deine Mutter, die alte Frau, ist in guten Händen. Nach einigen Jahren schlechten Lebens geht es ihr vortrefflich, fast so vortrefflich, als es eine Gräfin verlangen kann.«
»Sie wird sterben um mich, um ihren verworfenen Sohn! ... Sie wird sich die weißen Haare ausraufen um den elenden Verbrecher ... den Brudermörder! ... Und mein Kind – meine Tochter!«
»Wärst Du meinen Rathe gefolgt, so brauchtest Du jetzt nicht diese lamentable Höllenlitanei statt des Morgensegens zu beten. Dein blankes, glattes Mädel gehörte dahin, wohin ich sie Dir zu verhandeln rieth, als es mit dem Trödel nicht mehr vorwärts gehen wollte. Dort wäre sie gut aufgehoben gewesen und Dein Lebetage hättest Du nichts von den Dummheiten erfahren, die im vergangenen Jahrhundert Deine [] hochgeborene Sippschaft beging. – Aber Du wolltest flugs mit Gewalt reich werden, ließest Dich mit dem flinken Gelbschnabel ein, der zum Unglück Dein Bruder sein mußte, und so kamst Du in diesen zähen Morast, in dem wir jetzt Beide bis an den Hals stecken.«
»Gottes Finger! Gottes Finger!« rief Klütken-Hannes, beide Hände über sein Gesicht schlagend. »Ich fühle, wie er meinen Scheitel berührt – wie er im sündhaften Sohne die Verbrechen des sündhaften Vaters strafen und sühnen will!«
»Das muß ein sehr widerliches Gefühl sein, mit Verlaub,« erwiederte Blutrüssel höhnisch, »ungefähr so widerlich, als ein nüchterner Magen, der sich nach einem derben Stück Fleisch und einem kräftigen Glas Porter sehnt. – Teufel noch' mal, ich glaube, die Bestien wollen uns Hungers sterben lassen!«
Er sprang von seinem Lager auf und suchte Klütken-Hannes, der schon früher aufgestanden war und ruhelos im Kerker auf- und niederging, den Weg zu vertreten. Dieser wich ihm aber geflissentlich aus, um alle Reibung zu verhindern und durch die frechen und höhnischen [] Bemerkungen des gänzlich demoralisirten Mörders gereizt, nicht zu Thätlichkeiten veranlaßt zu werden.
Klütken-Hannes, im tiefsten Innersten erschüttert durch die furchtbaren Aufschlüsse über seine Abstammung und sein Verhältniß zu der Familie der Grafen Boberstein, bereute jetzt wirklich sein unseliges Leben, seinen sträflichen Leichtsinn, seine habgierige Verblendung! Ihm graute vor sich selbst, wenn er seine jüngste Vergangenheit überblickte; denn wohin er sein zitterndes Auge wandte, überall begegnete er einer rohen Gewaltthatt oder einem heimlichen Frevel! Verkäufer seines eigenen Kindes – wüster Säufer – frecher Gotteslästerer – gewissenloser Heuchler – und endlich gedungener Mörder! – Alle Sünden und Laster der weiten Welt fühlte er bei dieser Rundschau auf sich lasten, ja Satan selbst schien ihm nicht entsetzlicher, nicht fluch- und verabscheuungswürdiger zu sein, als er, der verachtete Trödler, der Sohn einer frommen, rechtschaffenen, liebenswürdigen Mutter aus altem Geschlecht.
»Und sie lebt noch!« rief er wie wahnsinnig. »Sie muß leben, um den grauenvollen Untergang [] ihres heißbeweinten Sohnes zu sehen! – O daß ein Blitz mich tödtete und meinen Leib in Asche verwandelte, damit die Winde jedes Stäubchen von mir spurlos in alle Lüfte zerstreuten!«
Drei Tage lang wiederholten sich diese Klagen des bedauernswerthen Mannes. In dieser ganzen Zeit vermied er jede Gemeinschaft mit seinem verbrecherischen Genossen, obwohl er gezwungen war, stets um ihn zu sein. Blutrüssel ward dadurch sehr erbittert, doch ließ er sich nichts merken, da er sehr richtig voraussah, daß Klütken-Hannes neuen Verkehr mit ihm anknüpfen werde, sobald er die ersten tobenden Stürme der Verzweiflung überstanden haben würde.
Der abgefeimte Bösewicht hatte sich nicht getäuscht. Schon am Abend des dritten Tages gab Herta's Sohn auf seine Fragen zusammenhängendere Antworten, was der ergraute Sünder für ein günstiges Zeichen hielt. Er hatte neue Pläne entworfen und wollte diese nunmehr seinem Genossen mittheilen, doch verschob er dies bis auf den künftigen Tag, um recht sicher zu gehen.
Klütken-Hannes war am nächsten Morgen, [] demselben, wo Herta in Begleitung ihrer geliebten Verwandten nach Boberstein abreiste, um den verlorenen Sohn nochmals zu sehen, niedergeschlagen und schweigsam. Dennoch trank er unaufgefordert von dem Branntwein, den sie zum Frühstück erhalten hatten. Blutrüssel merkte, daß sein Vertrauter und ehemaliger Freund lebhafter ward, und glaubte diesen Moment benutzen zu müssen. So freundlich lachend, als es ihm bei seiner abschreckenden Gesichtsbildung möglich war, sagte er:
»Wenn wir klug sind und uns Einer auf den Andern verlassen, so können wir in ein paar Tagen wieder unsere eigenen Herren sein.«
»Daran liegt mir nichts,« erwiederte Klütken-Hannes. »Habe ich gefrevelt, so will ich auch jetzt Strafe dafür leiden.«
»Und Dich aufknüpfen oder, was noch wahrscheinlicher ist, von unten auf rädern lassen? Denn das ist jetzt Sitte in manchen civilisirten Staaten. Ich sage Dir, Du hast einen schlechten Geschmack. Aus daß Du bessere Einfälle bekommst, – stoß' an!«
»Mit Dir? – Nun und nimmermehr, und sollte es mir die Seligkeit losten!«
[] Blutrüssel setzte sein Glas vor sich hin und warf dem Reuigen wilde Blicke zu.
»Weshalb nicht?« sagte er barsch. »Bin ich Dir nicht gut genug?«
Klütken-Hannes saß mit untergestemmtem Arm am Tische, runzelte die blatternarbige Stirn und trank häufig kurze Züge aus seinem vollen Glase.
»Antwort verlange ich!« rief der Bösewicht heiser kreischend und stieß sein Gegenüber unsanft an. »Ob ich Dir nicht mehr gut genug bin, Herr – Bettelgraf, frag ich?«
»Du bist mein böser Geist,« versetzte dumpf und ernst Herta's Sohn.
»Ha, ha, ha!« lachte Blutrüssel. »Weil der Narr jetzt weiß, daß er aus anderm Teig geknetet ward, als ich und Hunderttausend meines Gleichen, und weil ich so gescheidt war, einen talentvollen Jungen bei Zeiten ins harte Leben hineinzustoßen, damit er auch Einer der Unsrigen, ein armer Teufel werde, der von seinem Erwerb sich das Leben fristen muß, deshalb bin ich jetzt sein böser Geist. – Hans, alter Hans, ich, siehst Du, ich finde das lächerlich.«
»Ich aber fürchterlich, unaussprechlich grauenvoll!« [] sagte Klütken-Hannes mit demselben ernsten und dumpfen Tone, in dem er das Gespräch begonnen hatte, während er immerfort von dem Glase nippte.
»Vergiß, was vorüber ist, und schau vorwärts! Ein rechter Kerl kümmert sich den Henker um die Vergangenheit!«
»Auch nicht um seinen Vater, seine Mutter?«
»Um diese schon gar nicht, denn sie gehen ihn nichts an, wenn er sich so lange wie Du allein und ohne Hilfe in der Welt hat forthelfen müssen.«
»Ohne Dich wäre ich glücklich, wäre ich ein guter Mensch, ein dankbarer Sohn geworden!«
»Oho!« rief Blutrüssel. »Am Ende soll ich gar daran Schuld sein, daß Du Dein liebes Brüderchen, den Mohrenkopf, mit Gift vergeben wolltest!«
»Bei der ewigen Pein, das bist Du!«
»Kellerhaus!« drohte Blutrüssel und ballte die Hand gegen ihn. »Trödelbube, mach mich nicht mürrisch!«
»Ja,« fuhr Klütken-Hannes fort, mit der Faust auf den Tisch schlagend, »Du bist es, der [] mich um Zeit und Ewigkeit gebracht hat, Du! ... Von Dir fordere ich mein verlorenes Leben! Dich werde ich dereinst vor dem ewigen Richter verklagen!«
»Der kennt mich nicht, so gut ich ihn nicht kenne,« höhnte der Mörder, »und überdies, da ich nicht zu seiner Gerichtsbarkeit gehöre, lache ich Deiner Klage.«
»Gotteslästerer!« murmelte Klütken-Hannes. »Seine Hand wird Dich ereilen, ehe Du es vermuthest!«
»Ach das ist gut,« erwiederte der Bösewicht, »Du fängst schon an zu predigen – und wirst mich mithin belehren, wenn wir uns noch einige Wochen Gesellschaft leisten sollten.«
»Dann erwürge ich Dich!«
»Im Schlafe, nicht wahr? Denn wachend fürchte meine Kralle!«
»Mörder meines Großvaters!« sagte Klütken-Hannes dumpf vor sich hin und schauderte unwillkürlich zusammen. »Und mit ihm muß ich den Kerker theilen!«
»Ein witziger Einfall, fürwahr! Aber warum war auch Dein Großpapa so albern und lief mir in den Weg, da ich eben beschäftigt [] war, mir ein paar Honigwaben zu holen? Du wirst zugeben, daß dies höchst unklug war von dem Fürsten der Haide. Uebrigens aber meine Hand darauf, ich that damals nichts mehr, nur mit etwas besserem Glück und mit wenigeren Umständen, als Du neulich thun wolltest. Ich handelte im Auftrage des Herrn Grafen Magnus, Du aber – nun Herr Bruder in diabolo, was beliebten denn Ew. gräfl. Gnaden zu beginnen?«
»Mord! Mord! Nichts als Mord und Todtschlag!« rief Herta's Sohn händeringend. »Mord an Aeltern, Brüdern, Verwandten! ...«
»Noch nicht, aber es kann dahin kommen,« sagte Blutrüssel trocken. »Wer Nesseln sät, der ärndtet Nesseln, und das Zeug brennt wie Feuer, wenn's recht gedeiht. Ha, und Du bist gediehen, teufelmäßig gediehen!«
Und das Scheusal fiel in ein so fürchterliches Hohngelächter, daß Klütken-Hannes aufsprang und mit zorniger Miene dem Unholde näher trat.
»Vermaledeiter Hund!« schrie er ihm zu. »Du höhnst mich noch? Du wagst zu lachen, wenn sich die Haare einzeln auf meinem Scheitel bäumen über das grauenvolle Verhängniß, das an meinem Geschlechte nagt? An dessen [] Sturze ich elender Verführter unwissenderweise mitgearbeitet habe?«
»Wenn Ew. Gnaden erlauben, so lache ich,« versetzte Blutrüssel. »Denn es macht mir Vergnügen zu sehen, daß meine Aussaat so vortreffliche Früchte getragen hat. Auf Du und Du mit einem Grafensohne leben, noch dazu mit dem Sprößlinge des übermüthigsten Aristokraten, der je einen Wappenring am Finger und goldene Sporen an den Fersen trug; mit einem Sohne des Mannes, der alle übrigen Menschen nur als Spielpuppen seiner Laune behandelte und kein größeres Unglück kannte, als Armuth, Mangel, niedere Geburt und schlechte Gesellschaft – was die Großen so nennen – ja bei dem Fluch aller Flüche, das macht mir Vergnügen, das ergetzt mich, wie's etwa den Teufel ergetzen mag, wenn er ein schuldloses Seelchen in sein Netz gelockt hat!«
Mit harter Faust packte Klütken-Hannes seinen Verführer am Arm und schüttelte ihn heftig, indem er ihm zurief:
»Du kanntest also meine Abstammung? Du wußtest wirklich, daß eine verzweifelte Mutter um mich weinte?«
[] »Ob ich es wußte! –«
»Und hattest kein Mitleid mit ihr, mit mir?«
»Ich hatte Geld, viel Geld, gnädiger Herr Graf und Mitgefangener, und wenn ich Geld hatte, so kannte ich das Wort ›Mitleid‹ niemals.«
»Wie kam es, daß Du mich späterhin verließest?« fuhr Klütken-Hannes mit kalter Inquisitorstimme fort, den abscheulichen Mörder zu verhören. »Denn ich erinnere mich erst, Dich in spätern Jahren, als ich schon Comptoirdiener war, gesehen zu haben.«
»Das ging sehr einfach zu, mein Vortrefflichster. Du warst ein hübscher, kräftiger Junge mit prächtigen Haaren und einem allerliebsten frischen Gesichtchen. Eine herumziehende Schauspielerbande fand Dich liebenswürdig, machte mir annehmbare Anträge und so schlug ich Dich für ein gutes Handgeld los. Du wirst billig sein und mir dies nicht verdenken! – Ich hatte es satt, die Kindermuhme zu spielen und Dich bei meinen Wanderungen auf den Armen herumzuschleppen. Im Grunde bist Du mir sogar vielen Dank dafür schuldig, denn ich konnte Dich, straf' mich Gott, abstechen, wie eine Gans, die [] Vollmacht dazu war mir gegeben! Aber ich hatte mich in Dein Lärvchen vergafft, und so ließ ich Dich denn leben.«
»Um mich langsam und desto sicherer zu tödten! Um mich dem ewigen Verderben zu opfern!« rief Klütken-Hannes aus. »Und dafür, meinst Du, dafür soll ich Dir jetzt dankbar sein?«
»Als guter und treuer Kumpan, beim Element, ja! Das ist Sitte und Brauch bei allen honetten Leuten.«
»Wir sind nicht honette Leute, wird sind Elende – Verbrecher!«
»Oho! Verbrecher sind auch honett. Oder haben wir nicht honett gehandelt mit – mit – den beiden Brüdern?«
Klütken-Hannes fühlte, das sein Blut sich mehr und mehr empörte. Er vermochte sich nicht mehr zu zügeln. Einen Schritt zurücktretend, knirschte er mit den Zähnen und spie dem Abscheulichen den Geifer der Wuth in's Gesicht.
»Nimm das für Deine Judasdienste,« rief er ihm zu, »und verflucht will ich sein, wenn ich von dieser Stund' an noch einen Bissen Brod mit Dir theile! Wenn ich je wieder Deine vermaledeite Hand berühre!«
[] »Nun so sei verflucht!« erwiederte Blutrüssel, sprang auf, ergriff sein Branntweinglas schlug den Rand desselben an der Tischkante ab und stürzte brüllend wie ein wüthender Tiger auf ihn zu.
Herta's Sohn hatte einen so ungestümen Angriff nicht erwartet. Ohne Waffe, ungeübt im Ring- und Faustkampfe, überdies von dem häufigen Genuß starken Branntweins geschwächt, vermochte er dem Anstürmen des wüthend gemachten Mörders kaum zu begegnen. Er empfing rasch hinter einander mehrere empfindliche Stöße mit dem scharfen Fuß des zerbrochenen Glases und sah Hände, Arme und Gesicht alsbald von heißem Blute überströmt. In der Angst ergriff er zwar einen Schemel und wehrte sich tapfer gegen den Blut- und Rachedurstigen. Auch rief er mehrmals laut schreiend um Hilfe. Wenn aber auch Jemand in der Nähe gewesen wäre, den wimmernden Ruf würde er kaum gehört haben, da das Rauschen der Maschine im Erdgeschoß und das dumpfe Gesurr der Spindeln in den obern Stockwerken jeden andern Laut übertäubten.
Blutrüssel, erhitzt bis zu sinnloser Wuth, [] gewandter als sein unglücklicher Gegner und von diabolischer Mordlust erhitzt, hetzte unter wildem Lachen, unter Fluchen und Lästern den Geängsteten aus einem Winkel in den andern, entriß ihm den Schemel, da schon sein erster Stoß eine Flechse an der rechten Hand Klütkens zerschnitten hatte, und trieb nun mit raffinirter Grausamkeit sein wehrloses Opfer in den äußersten Winkel des Kerkers. Ohn' Aufhören versetzte er dem Jammernden rasche Stöße mit dem scharfen Glase auf Schenkel, Arme, Brust und Kopf, so daß er aus hundert Wunden blutete und kaum mehr einen Schatten seines wüthenden Gegners sah. In die Ecke gedrängt, stürzte er erschöpft zu Boden. Blutrüssel warf sich auf ihn, kniete dem Halbbewußtlosen auf die Brust und fletschte thierartig lachend die Zähne.
»Recht so, mein Honigpüppchen,« sagte der Schreckliche, indem er ihm mit furchtbarem Stoße die Lippen abschnitt, »das wird Dich satt machen für immer und Dich verhindern, honetten Leuten wieder ins Gesicht zu speien. – So! – Du hattest ja die Spitzgläser lieb, gib ihm noch einen innigen Kuß! – Ha, wie das rieselt! – Das hilft fürs Ausplaudern! ...«
[] Blutrüssel zerriß dem Vater Elwirens die Zunge. – Der Unglückliche röchelte nur noch, aber seine Hände wischten das Blut von den Augen, die mit vorwurfsvollem, entsetzlichen Ausdruck den Mörder anstierten. Dieser erbebte vor diesem kalten, glänzenden, wie aus einer andern Welt aufleuchtenden Blick.
»Ha!« rief er aus. »Willst Du gleich die Deckel schließen, Satanskind? Willst Du?«
Der Sterbende hörte ihn nicht mehr. Die Augen stierten weit geöffnet und regungslos den Entmentschten an.
»Nun so empfangt von mir die Sargnägel!« tobte Blutrüssel in der Raserei des Mordens und schlug mit zwei furchtbaren Schlägen das spitze Glas dem jahrelangen Genossen in beide Augenhöhlen. Die Stöße waren so gewaltig daß ihm das Blut in's Gesicht spritzte. Klütken-Hannes zuckte noch einige Male und verschied.
Jetzt erst kehrte dem blutbesudelten Mörder die Besinnung zurück. Er entsetzte sich vor seiner gräßlichen That und die Angst der Verzweiflung kam über ihn. Die innere Qual zu betäuben, trank er rasch den noch vorräthigen Rest [] des Branntweins aus, setzte sich dann, den Rücken gegen den Ermordeten gewendet, auf den Tisch und starrte, in dumpfes Hinbrüten verloren, das vergitterte Fenster an, um dessen steinernes Kreuz sich dann und wann der Schatten einer Rauchwolke schlang, die von den hohen Schornsteinen in den hellblauen Himmel emporwirbelte.
Der verzweifelte Mörder hatte noch kaum zehn Minuten in dieser Stellung verharrt, da nahten sich Tritte und er hörte das Klirren von Schlüsseln. Zusammenschaudernd sprang er von dem Tische, trat zurück und lehnte sich im äußersten Winkel des Gewölbes an die kalte, trockene Steinwand.
In diesem Augenblicke knarrte der Schlüssel im Schloß und die Thür ward geöffnet.
[] Viertes Kapitel.
Der Besuch.
Der Eintretende war Vollbrecht. Er blieb unter der Thüre stehen und wunderte sich über die Ruhe der beiden Gefangenen, von denen er keinen erblickte.
»Klütken-Hannes!« rief er nach kurzer Pause. »Wo bist Du? Man will Dich besuchen.«
Keine Antwort. Vollbrecht ließ jetzt seine Augen nochmals durch den etwas düstern Kerker schweifen und bemerkte die unsichern Umrisse von Blutrüssels Gestalt, der regungslos an der Wand lehnte.
»Es ist sehr ungezogen von Euch,« fuhr er fort, »daß Ihr für die gute Behandlung, die Euch zu Theil wird, nicht einmal so viel Erkenntlichkeit [] habt, um auf eine Frage Antwort zu geben. Wer steht dort an der Wand? Und wohin hat sich der andere Schelm verkrochen?«
Jetzt erhob sich der Mörder und ging mit wankenden Schritten nach der Thür. Zugleich trat Aurel neben Vollbrecht. Man konnte das Schluchzen Herta's, die hinter ihm stand, hören.
»Klütken-Hannes! Unglücklicher Bruder!« sagte der Kapitän gerührt und mit weicher Stimme. »Tritt hervor aus der Dunkelheit und reiche mir Deine Hand! Ich möchte Dich gern einem Wesen zuführen, das Dir theuer sein muß das Dich noch einmal umarmen und, wenn auch unter bittern Schmerzensthränen, verzeihend, sühnend, segnend seine zitternde Hand auf Dein sündiges Haupt legen will! Armer beklagenswerther Mann, Deine Mutter – will Dich sehen!«
Beide Männer traten jetzt in den Kerker. Blutrüssel, den die entsetzliche Wucht des eben verübten Verbrechens fast zu Boden drückte stöhnte in unarticulirten Tönen und schüttelte sein wüstes, blutbeflecktes Haupt wie ein wildes Thier.
»Tritt zurück, Kannibale!« befahl Aurel, seiden[] Arm mit Abscheu gegen den Unmenschen ausstreckend. »Wo ist Dein Gefährte?«
»Er ... schläft, murmelte der Mörder.«
»Wo aber? Das Lager ist ja leer?«
»Dort ... hinter ... dem Ofen,« stotterte Blutrüssel, indem er sich wieder auf den Tisch setzte, der unter seiner Körperlast knackte.
»Dort?« wiederholte der Kapitän, schnell gegen den Ofen vorschreitend. »Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Beim Teufel ja!« schrie Blutrüssel in einem Anfalle wahnsinnigen Humors auf und brach in ein schallendes Gelächter aus. »Es ist ihm so viel zugestoßen, daß er sich verblutet hat.«
Diese scharf und gellend ausgestoßenen Worte vernahm Herta. Sogleich folgte sie den vorangegangenen Männern in den Kerker, stützte sich auf Vollbrechts Arm und sagte leise zu dem Geschäftsführer:
»Kommen Sie, kommen Sie, ehe er stirbt!«
Aurel stieß an die Füße des Getödteten. Er kniete nieder, ergriff seine Hand, sah die Blutlache, die ihn umgab und wie ein dunkelrother Saum die tiefe Wandseite umfing; er entdeckte die zahllosen Wundenmale, die blutigen, [] tiefen, schrecklichen Augenhöhlen des grausam Gemordeten.
»O Gott!« rief er aus, mit schnellem Griff eine der Matratzen erfassend und sie mitleidig über den Verstümmelten werfend. »Seine Leiden sind vorüber, man hat ihn getödtet!«
Obwohl Aurel nur leise sprach, konnte Herta doch den Sinn seiner Worte erfassen, und mit dem jammernden Weheruf »getödtet?« stand sie an Aurels Seite neben dem entseelten Schlachtopfer der Mordlust Blutrüssels.
»Lassen Sie uns gehen, theuerste Tante!« bat der Kapitän, indem er die unglückliche, vor Entsetzen bebende Mutter sanft umfaßte. »Dieser Anblick ist nicht für Frauen, denn hier hat die Hölle selbst eine ihrer gräßlichsten Thaten vollbracht.«
Allein Herta ließ sich nicht zurückhalten. Ohne auf die Bitten Aurels zu hören, sank sie in die Knie, streckte ihre magern weißen Hände nach der Matratze aus, hob sie langsam empor und heftete ihre in Thränen schwimmenden Augen auf das blutbedeckte, von Mörderhand zersetzte, Antlitz des Mannes, in dem sie ihren Sohn wieder erkennen wollte. Lange betrachtete sie [] den verstümmelten, in schmutzige Kleider gehüllten Leichnam; die Thränen versiegten, ihre Augen brannten. – Dann faltete sie die Hände, als wolle sie beten, ihre Lippen bewegten sich, und indem sie ihr Gesicht tief herabbeugte über den noch rauchenden blutigen Leichnam des Erschlagenen, schlug sie ein Kreuz über seine Stirn und sagte:
»So ruhe wohl, Kind der Schmach und des Unglücks! Möge der Segen Deiner armen Mutter, von deren Herzen Dich unbarmherzige Räuberhände rissen, die Pforten des Himmels Dir erschließen und Dir Vergebung Deiner Frevel bei dem Allbarmherzigen erwirken!«
Kaum hatte die erschütterte Dame diese Worte geflüstert, so verließen sie die Kräfte. Sie brach zusammen, sank vorwärts auf die Leiche des Sohnes und tauchte ihre weichen erbleichenden Locken in das warme Blut des eigenen Kindes. –
Aurel hob die Ohnmächtige schnell auf und legte sie in die Arme Vollbrechts, der vor dieser unerhörten Frevelthat verstummt war.
»Schützen Sie die Arme,« sagte er, »ich [] muß noch, ehe wir diese Bluthöhle verlassen, ein Wort mit diesem Bösewicht sprechen.«
Blutrüssel saß noch immer regungslos auf dem Tische, die schrecklich rollenden Augen scheu zu Boden schlagend. Seine blutigen Hände hatte er in die Seitentasche der Jacke gesteckt, die ebenfals mit Blut besudelt war.
»Aus welchem Grunde hast Du Deinen Genossen getödtet?« fragte der Kapitan streng und kalt. »Hattet Ihr Streit mit einander?«
»Es mochte so 'was sein, denn er spie mir ins Gesicht.«
»Du bekennst Dich also zu seinem Mörder?«
»Was hilft's Läugnen, wenn es unmöglich ist?« grinste der Entsetzliche.
»Unglücklicher!« sagte Aurel. »Zwei-, ja dreifacher Mörder! Erhebe Deine rollenden Augen und sieh hin auf dies trauernde, dem Grabe zuwankende Weib! Kennst Du die Arme?«
»Es mag wohl die gefallene Gräfin sein,« versetzte der Mörder mit kalter Gleichgiltigkeit. »Ich erkenne sie an der Art, die Haare zu tragen. Als sie jung war, hätte ich 'was drum gegeben, wenn es mir erlaubt gewesen wäre, ihr [] eine Locke zu rauben. Aber das eitle Ding fand mich zu häßlich und dafür schwur ich ihr Rache.«
»Du hast Deinen Schwur gehalten, Entsetzlicher! Denn nicht allein ihren Vater erschlugst Du meuchelmörderisch, Du raubtest ihr auch ihren Sohn, verführtest ihn zu grauenhaftem Lasterleben und, als Du ihn herabgezogen hattest in Deine Lebenskreise, als Du ihn zum Morden verleitet, erschlugst Du auch ihn! – Elender, hörst Du nicht den Rachegesang der Furien, die in engerem und immer engerem Kreise Dich umschleichen?«
Zwar hatte den mordgewöhnten Bösewicht die gräßliche Blutthat selbst überrascht und ihn, wie wir gesehen haben, in eine geistige Dumpfheit hinabgedrückt, die ihn vielleicht die strafende Stimme des Gewissens auf einige Augenblicke vernehmen ließ. Allein Blutrüssel war zu sehr an alle Arten von Verbrechen gewöhnt, er hatte von Jugend auf im Schlamm der tiefsten Lasterhaftigkeit gelebt, die raffinirtesten Sünden hatten ihn ergetzt; es war ihm Genuß, Zerstreuung gewesen, bald hier bald dort eine neue Uebelthat zu begehen oder ihr wenigstens Vorschub zu leisten, daß ein Aufzählen seiner Schandthaten den [] Verstockten jetzt unmöglich einschüchtern und bis zu wahrhafter Reue zerknirschen konnte. Deshalb schleuderte er auch dem Kapitän nach diesen vermahnenden Worten einen Blick der tiefsten Verachtung aus seinen häßlichen Augen zu, zuckte kaltblütig mit den Achseln und erwiederte:
»Auf dieser curiosen Welt hat Jeglicher sein Geschäft. Wer das gut besorgt und zu einigem Aufschwung bringt, der wird belobt. Wozu also Ihr jammervoller Lärm? Raub und Mord war mein Geschäft, der Herr Vater dieser Dame, den ich zuletzt nach Verdienst das Lebenslicht ausblies, hat mich darin unterrichtet und war immer zufrieden mit der Ausführung seiner Aufträge. Ich finde es daher ganz ordnungsmäßig, daß ich auch den Enkel abthue, wenn er mir nicht mehr gefällt. Immer besser, von der Hand eines geübten Mörders zu sterben, als von einem Stümper geschlachtet zu werden! Ich hab's gethan, und ich meine, das Werk soll den Meister loben. Basta!«
Blutrüssel hatte seine ganze Frechheit während dieser Gegenrede wieder erlangt. Er fühlte sich sicher, ja in gewissem Sinne groß und stolz, und ohne sich weiter um den Kapitän und seine [] Begleiter zu kümmern, sprang er vom Tische und schritt wie ein wildes Thier im Kerker auf und nieder.
»Nun so zittere!« sagte empört über die Rohheit des Mörders der Kapitän. »Für Dich keine Gnade, kein Erbarmen! Für Dich die härteste Strafe des Gesetzes!«
»Bah!« lachte Blutrüssel. »Es kostet doch weiter nichts als den Kopf, und der ist bei mir grau und alt genug, um abgeschüttelt zu werden!«
Heiseres Lachen begleitete diese höhnischen Worte. Aurel fühlte, wie ein unabweisbares Grauen vor diesem Scheusal sich seiner bemächtigte, und da er sah, daß Herta sich wieder zu regen begann, faßte er sie unterm Arm und geleitete die zum Leben Erwachende mit Vollbrechts Hilfe aus dem Kerker.
»Schließen Sie den Wütherich fest ein,« befahl er, »und lassen Sie ein paar sichere Leute vor die äußere Thür stellen, denn dieses Scheusal soll der Strafe nicht entgehen!«
Mit größter Schonung führten die beiden Männer die noch halb bewußlose Herta zurück in Vollbrechts Wohnung, wo Elwire in Biancas [] Gesellschaft die Großmutter mit Unruhe erwartete. Zärtlich, liebreich und voll kindlicher Sanftmuth schloß die jugendliche Braut die Zitternde in ihre Arme, benetzte ihr Stirn und Lippen mit stärkenden Essenzen und suchte sie durch freundlichen Zuspruch zu trösten. Herta beobachtete ein tiefes Schweigen über das, was sie gesehen hatte, und so hielt es auch Aurel für besser, vor der Hand der Tochter das schreckliche Ende ihres unglücklichen Vaters noch zu verschweigen.
Blutrüssel aber erhob grinsend seinen Kopf bei den letzten Worten des Kapitäns und sah mit gleichgiltigem Lächeln die Thür verschließen.
»Nicht entgehen soll ich der Strafe?« wiederholte er. »Meinst Du, weil Du Graf bist, werde das Gericht Dir schneller zu Handen sein? Dummkopf, das weiß ich besser! –«
Hastig schritt er einigemal im Gewölbe auf und nieder Das brausende Stöhnen der Maschine hinter der tönenden Wand und die verworrenen Stimmen mehrerer Menschen, die in der Maschinenkammer laut mit einander sprachen, machte ihn aufmerksam. Er blieb stehen und horchte.
[] »Wachen wollen Sie mir vor die Thür stellen? Ha, ha, ha, als ob es möglich wäre diese Schlösser und Riegel zu sprengen mit den bloßen Händen! – Wacht immerhin, meine abschreckende Physiognomie soll Euch nicht in die Flucht schlagen! – Aber meinen Kopf sollt Ihr doch nicht in Eurer Schlinge fangen! –«
Auf den Zehen, als fürchte er gehört zu werden, schlich jetzt der blutige Mörder nach der Wand, hinter welcher die Maschine stampfte und fauste. Geraume Zeit legte er sein Ohr an das Gestein, um zu horchen. Dann richtete er sich wieder auf und fletschte die häßlichen Zähne, wie zum Hohn.
»Sie sind fort,« sprach er nachdenkend »aber es waren Menschen da, was ein Beweis ist, daß hinter dieser Wand ein Raum sich befindet, den man betreten kann.«
Seine vorstehenden Augen liefen forschend über das graue Gestein und mit gekrümmten Fingern pochte er mehrmals daran.
»Kein Zweifel,« fuhr er fort, »es ist eine Wand aus Ziegelsteinen. – Sie kann nicht dick sein, sonst könnte ich die Stimmen der Sprechenden nicht so deutlich gehört haben. – Das [] Rauschen und Lärmen der Maschinen ist sehr vortheilhaft – es überschallt vorsichtig geführte Schläge – es unterstützt mein Vorhaben. Eine Feuerzange ist zwar ein sehr unvollkommenes Brecheisen, indeß – in der Hand eines klugen Mannes kann sie eine Spitzhaue ersetzen. – Wir wollen es versuchen, sobald es Nacht geworden, und Satan müßte seine besten Gesellen auf Urlaub schicken, wenn ich den Narren nicht vor Tagesanbruch entschlüpfen könnte. Der Teufel soll mir den Kopf abbeißen, wo ich mich nicht befreie!«
Diesen Plan in seinem verbrecherischen Gehirn ausbildend, setzte sich Blutrüssel ruhig wieder auf seinen Schemel und vertrieb sich die Zeit, so gut als es gehen wollte, durch Absingung unsittlicher Lieder.
[] Fünftes Kapitel.
Die verhängnißvolle Nacht.
Um die Mittagsstunde trat Aurel in die Hütte Martells, die schon seit einiger Zeit häufig der Versammlungsort derjenigen gewesen war, die sich als Verbündete die Hand gereicht hatten. Der Kapitän war bei seiner Ankunft am Morgen nur auf Augenblicke bei seinem Halbbruder eingekehrt, um ihm die Veranlassung seines Besuches auf Boberstein zu melden. Später hatte er wiederzukommen versprochen, um noch manches Wichtige mit dem ehemaligen Fabrikarbeiter zu besprechen.
Er traf die Familie nebst Gilbert bereits beim Mittagsmahle, das noch immer so einfach wie früher, nur etwas reichlicher war, da Aurel dem halsstarrigen Halbbruder fast mit Gewalt [] Geld zu Bestreitung der nöthigen Ausgaben aufgedrungen hatte. Man hätte glauben sollen, ein so plötzlicher und erfreulicher Glückswechsel müsse die ganze Familie in einen Jubel des Entzückens versetzen, denn sie ging ja mit vollkommener Gewißheit einer schöneren Zukunft und einem Leben entgegen, das ihren Augen als ein wahres Paradies erscheinen mußte. Dem war jedoch nicht so. Martell war nichts weniger als heiter, eher zeigte er sich jetzt noch mürrischer und verschlossener, als früher, und die übrigen Glieder der Familie litten mehr oder weniger an den Folgen zu großer Anstrengung und lange stillschweigend ertragenen Mangels. Traugott war sogar krank geworden, mehr vielleicht aus freudigem Schreck als weil seine Lebenskraft wirklich zur Neige ging. Er lag hinter dem Ofen auf derselben Bank, wo Hans unter namenlosen Schmerzen seinen Geist im Arm der jammernden Mutter aufgegeben hatte. Die vielgelesene Bibel vor sich auf dem abgetragenen Pelze, der ihm zur Bettdecke diente, und ein Gesangbuch daneben, lag er mit vorgebeugtem Haupte, um das sein langes Haar in schimmerndem Silbergelock floß, mit gefalteten Hände auf dem Krankenbett, [] und besiegte Zeit und Kummer durch gläubige Hingabe an das ewige Wort der Verheißung.
Der entsetzliche Anblick im Kerker hatte Aurel so gewaltig erschüttert, daß sich der Schreck darüber noch jetzt in seinen Mienen aussprach. Martell bemerkte dies, weshalb er ruhig sagte:
»Du hast etwas erlebt.«
»Etwas Unerhörtes,« erwiederte der Kapitän, aus Lore's Händen den Schemel annehmend, den ihm die kränkelnde Frau an den Tisch schob.
»Herta ist ein Unglück begegnet,« rief Martell. »Ihr Herz brach beim Anblick des maßlos Verwilderten!«
»Vielleicht wäre erfolgt, was Du sagst, hätte die Vorsehung nicht anders über sie bestimmt Die Tante hat ihren Sohn nicht gesprochen, sie hat ihn nur sehen und weinend segnen können für ein besseres Leben. Er war todt.«
»Todt! Schon todt! Und vor drei, vier Tagen noch die Gesundheit selbst? Wie ist dies möglich?«
»Er starb an Gift,« warf Gilbert ein. »Kredenzte er Ihnen doch wiederholt den vergifteten [] Trank, wie ich mit eigenen Augen schaudernd sah.«
»O nein,« sagte Aurel betrübt, »er starb eines fürchterlichen, qualvollen Todes durch Mörderhand.«
»Blutrüssel erschlug ihn!« rief Gilbert.
»Mein Gott, welche Gräuel!« sagte Lore. »Und das heißt eine christliche Welt!«
»Betet, betet,« flehte der greise Traugott, »damit die Seele des unvorbereitet Dahingegangenen Gnade finde vor dem Herrn!«
»Ich habe Auftrag gegeben,« fuhr Aurel fort, »den gräßlich verstümmelten Leichnam aus dem Kerker, wo er jetzt noch liegt, zu entfernen. Sein Tod sühnt seine Verbrechen. Wir wollen dem Irrenden, dem Verführten von Herzen verzeihen und seine Gebeine ehrenvoll bestatten. Obwohl ein tiefgesunkener Mensch, war er doch unser Bruder, und sein Zwist mit dem Ungeheuer Blutrüssel, dem er mit Recht und in harten Ausdrücken seine moralische Verwilderung Schuld gab, beweißt, daß er im Herzen sein sündhaftes Leben bereute und auf dem Wege war, sich zu bekehren. Darum Friede seiner Asche und keinen Groll seinem Andenken!«
[] »Ist Adrian von dieser Mordthat unterrichtet?« fragte Martell.
»Vollbrecht überbrachte ihm die Nachricht.«
»Wie nahm er sie auf?«
»Mit gewohnter Ruhe, nur wollte der Geschäftsführer ein seltsames Glänzen seiner kleinen Augen bemerkt haben.«
»Wohl denkbar, der Tod des Bruders freut ihn,« sagte Gilbert.
»Er kommt ihm wenigstens gelegen,« versetzte Martell. »Mit dem letzten Athemzuge dieses Unglücklichen verschwindet auch der letzte Zeuge gegen ihn, denn Blutrüssel ist ein unschädlicher Mensch, ja wer weiß –«
»Du ziehst die Stirn in Falten? Welch ein Gedanke foltert Dich?«
»O nichts, nichts! Ich überlegte nur, wie ich mich bei meinem Abschiede von Adrian benehmen soll.«
»Bestehst Du noch immer darauf?« sagte Lore. »Wozu diese fortwährende Qual? Bleib fern vor der Insel und überlasse den, der uns so viel Uebles zugefügt hat, der Strafe seines Gewissens! – Ich kenne Dich, Martell, ich weiß, daß Du Dich in bittern Aerger hineinredest, [] wenn Du eine geheime Zusammenkunft mit ihm hältst; darum also, ich bitte Dich, stehe davon ab und bleibe bei uns! Noch vor Ostern verlassen wir Dorf und Haide, und siedeln uns über zu unserm treuen guten Bruder und Schwager.«
»Ich muß zuvor Abrechnung halten,« versetzte Martell trocken.
»Abrechnung! Was hast Du denn noch zu fordern? Es ist kein Lohn mehr rückständig.«
»Das verstehst Du nicht,« erwiederte der Spinner. »Mein Herz, mein Gewissen, meine und Eure Zukunft verlangen, daß ich dennoch eine Abrechnung mit dem Manne der Willkür und des Eigennutzes halte, wie ich sie als Euer Oberhaupt und Versorger zu fordern habe. Also laß mich, Lore, und bringe mich nicht auf durch Widerspruch. Adrian ist überdies schon davon unterrichtet und erwartet mich.«
»Wann?« fragte Aurel lebhaft.
»Heute Nacht.«
»Ich begleite Dich.«
»Bis zu Vollbrecht, wenn Du willst, aber nicht weiter, bei meinem Zorne!«
»Martell!« bat Lore.
»Bruder, Du thust mir Unrecht,« erwiederte [] Aurel. »Will ich Dich denn hindern? Nein, nur über Deine Sicherheit wachen, wenn ein Hinterhalt Deiner warten sollte.«
Martell lächelte unheimlich.
»Ich fürchte nichts,« sagte er ruhig, »aber Du magst mich begleiten, wenn es Dich beruhigt, doch bestehe ich nochmals darauf, daß Du meine Zusammenkunft mit Adrian, die mehrere Stunden dauern kann, unter keiner Bedingung störst!«
»Wunderlicher, einsinniger Mensch!« versetzte Aurel. »Wenn es nicht anders sein kann, so muß ich mich ja wohl fügen.«
Zur Bekräftigung seines Wortes reichte er Martell die Hand, zugleich aber wechselte er mit Gilbert einen bedeutungsvollen Blick, den der kluge Matrose vollkommen verstand. –
Die übrige Tageszeit brachte der Kapitän mit Besprechungen zu, welche die künftige Einrichtung seiner Halbgeschwister betrafen. Martell nebst Frau, sowie Maja Simson und ihr Gatte, bei dem Sloboda eingekehrt war, nahmen lebhaften Antheil daran. Es ward beschlossen, zum nahen Osterfeste, bis wohin eine Ausgleichung möglich war, die bisherigen Wohnungen zu verlassen [] und diejenigen Besitzungen zu beziehen, welche Haideröschens Tochter, also Maja, rechtmäßig zugehörten. Dies waren der Zeiselhof nebst einigen dazu gehörigen Ortschaften, Vorwerken, Meiereien und Mühlen. Aurel wünschte dies schon deshalb, weil er sich möglichst bald mit Elwiren zu vermählen gedachte und alsdann wieder entweder nach Hamburg oder in irgend eine andere große Stadt sich übersiedeln wollte, da ihm das stille und eintönige Leben eines Landedelmanns nicht für lange Zeit behagen konnte.
Sloboda fühlte sich nunmehr wahrhaft glücklich. Er konnte sich von der Tochter seines geliebten Kindes gar nicht mehr trennen, folgte ihr auf Schritt und Tritt und war im Stande Stundenlang vor ihr zu sitzen, sie mit seinen gutmüthigen hellblauen Augen fröhlich lächelnd zu betrachten und vergnügt sich die Hände zu reiben. Die Freude, schien es, hatte den Geist des alten Mannes so heftig erschüttert, daß eine sich meldende Verstandesschwäche, eine Rückkehr in die Kindheit kaum mehr zu bezweifeln stand. Ihm war es daher auch ganz gleichgiltig, wohin seine Enkel sich jetzt wendeten. Nur immer bei ihnen zu bleiben und ruhig die letzten Tage seines [] Lebens auf dem Boden, der ihn geboren hatte, zu beschließen, wünschte er sehnlichst und sprach es wiederholt aus.
Seltsamerweise ließ den ehrwürdigen Greis die Nachricht von dem schrecklichen Ende Klütkens ganz unberührt. Er nahm sie hin, wie etwas Alltägliches, sah mit ernster Miene drein, da er die bestürzten und betroffenen Gesichter der Uebrigen bemerkte, aber sein Herz wußte offenbar nichts davon.
Diese schnelle unerwartete Verwandlung des alten Wenden machte seine Freunde sehr besorgt um ihn, und ließ sie stillschweigend der Aeßerung Aurels beistimmen, welcher Gilbert zuflüsterte:
»Es geht eilig mit ihm zu Ende! Deshalb müssen auch wir uns sputen.«
Gegen Abend kehrte Aurel auf die Insel zurück, um Herta und Elwire nicht länger allein ihren Gram zu überlassen. Um Mitternacht, wo Martell seine letzte Zusammenkunft mit Adrian halten wollte, versprach ihn der Kapitän am Ufer des Sees zu treffen, was der ehemalige Spinner zusagte. Gilbert erhielt von Aurel den Auftrag, erst mit Martell, aber ungesehen von ihm, nach Boberstein zu kommen und alsdann [] wo möglich das Zusammentreffen desselben mit dem Fabrikherrn zu belauschen, damit jedes Unglück verhindert werden könnte, wenn ja die beiden feindlichen Brüder einander Böses sollten zufügen wollen.
So waren menschlicher Berechnung nach alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um einen etwa gefährlichen Plan des verschlossenen Spinners zu vereiteln, und die Sorge Aurels um beide Brüder verminderte sich merklich.
Herta und Elwire fand der Kapitän ziemlich gefaßt in Bianca's Gesellschaft. Er hütete sich wohl, von der Ermordung des Unglücklichen zu sprechen, aber es freute ihn, daß Elwire heiße Thränen des Andenkens dem unwürdigen Vater weinte. –
Es war schon spät, als Bianca die Trauernden verließ, um in ihr noch nicht gelöstes Dienstverhältniß zu Adrian zurückzukehren. Sie hatte Herta entdeckt, welchen Frevel der Graf an ihrer Schwester begangen, wie sie dafür Rache genommen und welche qualvolle Strafe sie über den gewissenlosen Verführer verhangen. Sie versprach den hinlänglich Gestraften, dem sie eine aufreibende Neigung eingeflößt hatte, zu [] Ostern für immer zu verlassen und in den Schooß häuslichen Friedens bei ihren neu erworbenen Freunden zurückzukehren. Von der neuerdings beabsichtigten Vergiftung des inzwischen Ermordeten, wozu sie die Hand hatte reichen sollen, schwieg sie.
Wie gewöhnlich versah auch Bianca an diesem Abend bei Tisch das Amt einer Dienerin mit der ihr eigenen Anmuth und Grazie. Adrian suchte sich möglichst zu beherrschen, um nicht den schrecklichen Hohn der grausamen Schönen zu reizen und sich durch eigene Schuld brennende Schmerzen zu bereiten, allein ganz vermochte er seinem Vorsatze nicht treu zu bleiben, und so suchte denn sein Blick mehr als einmal mit flehender Sehnsucht das diabolisch lächelnde Auge seiner entzückenden Peinigerin.
Von dieser unseligen Leidenschaft abgesehen, war Adrian seit Mittag ein fast heiterer und glücklicher Mensch geworden. Der Tod Klütken-Hannes' entriß ihn plötzlich aller Sorge. Der gefürchtete Bruder war von Mörderhand gefallen, ohne daß er eine Ahnung davon gehabt hatte; mit dem Ermordeten war das Geheimniß begraben, das ihm (dem Grafen) noch schwere Stunden [] und ein trübes Schicksal hätte bereiten können. Niemand konnte jetzt gegen ihn klagen, ihn als Mörder denunciren; denn die etwaigen Aussagen Blutrüssels, von dem er von jeher nichts hatte wissen wollen, konnten ihn selbst in keiner Weise compromittiren.
Bianca blieb bis nach zehn Uhr bei Adrian, dann verabschiedete sie der Graf, indem er um die Vergünstigung bat, sie küssen zu dürfen.
»Weshalb?« fragte die Schöne. »Sie wissen, daß ich Sie hasse, Ihnen alles nur mögliche Böses wünsche, daß ich, so lange es mir vergönnt ist, als Furie um Ihr Lager wandeln werde. Wie also können Sie mich küssen wollen?«
»Um Sie zu versöhnen, armes, verblendetes Kind! Es ist dies ja meine Pflicht. Oder sehen Sie nicht ein, daß ich das Unrecht, welches ich Ihrer Schwester zugefügt habe (hier bemühte sich Adrian schwermüthig zu seufzen) an Ihnen wider gut machen muß? Ich bin nicht so schlecht, als Sie und mit Ihnen so viele meiner Feinde glauben! Die Verhältnisse allein sind es, die meinem Charakter eine Richtung gegeben haben, welche der allzustrenge Sittenrichter [] als eine bösartige bezeichnen kann. Sie sehen, ich bin offen, Bianca! Ich gestehe freimüthig meine Schwächen und Untugenden, ja, ich bereue sie aufrichtig. Und dennoch stoßen Sie die Hand des Reuigen von sich, kehren dem, der sich bessern will und nur einer liebevollen Leitung dazu bedarf, verächtlich den Rücken? – O das ist nicht liebreich, Bianca! Das widerstreitet dem christlichen Sittengesetz, in dem wir doch Beide erzogen worden sind, so oft wir auch später dagegen gefehlt haben mögen! – Also ... Vergebung, Bianca, Vergebung um der Liebe willen, die ja Alles heilt, Alles söhnt, Alles bindet! Vergib mir und Du erfüllst das Gebot Christi!«
Adrian erhob flehend seine Hände zu Bianca, die stolz lächelnd vor ihm stand.
»Bemühen Sie sich nicht weiter, Herr Graf, mich durch geübte Heuchelei und wohl einstudirte Verstellung meinem Vorsatz abwendig machen zu wollen,« erwiederte sie höflich. »Ich habe Sie durchschaut und lasse mich nicht von Ihnen täuschen. Ich weiß, was ich von Ihrer Zerknirschung zu halten habe! Ihrem Wunsche gemäß bin ich in ihre Dienste getreten. Diesen Diensten [] unterziehe ich mich mit Aufopferung aller meiner Kräfte und mit größter Sorgfalt und Pünktlichkeit. Das ist's, was Sie von mir zu fordern haben, was ich leisten muß und leisten werde, bis unser Abkommen zu Ende geht. Ich würde Sie außerdem meiden, allein Sie wünschen meine Gegenwart und so bleibe ich denn Ihnen zur Qual, weil dies der Wille der Vorsehung ist. Gute Nacht, Herr Graf.«
Bianca ging, Adrian war allein. Die Fabrikuhr schlug halb eilf.
»Ihre Liebe und ich wäre glücklich!« murmelte der einsame, von Allen verlassene vornehme Mann. »Aber sie ist ein Dämon – ein entzückender Dämon, bei dessen Erscheinen ich Himmel und Hölle zugleich in mir fühle! – Diese Raserei der Leidenschaft wird mich noch tödten, wenn ich dieser unnatürlich schönen Gorgo nicht das Herz im Busen umwenden kann!«
Er machte einen Gang durchs Zimmer und trat dann an's Fenster, um einen Blick auf See und Haide zu werfen, die im weichen bläulichen Silberlicht des Mondes zauberisch glänzten.
»Wie die Stunden schleichen!« rief er aus. »Wäre es nur erst Mitternacht, damit ich den [] entsetzlichen Menschen für immer los würde! ... Diese Abrechnung, warum denn fürchte ich sie? Warum schlägt mein Herz lebhafter, wenn ich an sie denke? Warum überrieselt es mich kalt, weil ich mit einem Manne, den das Ungefähr zu meinem Halbbruder gemacht hat, in stiller Nacht, einsam, von Niemand beschützt und bewacht, ein ernstes Gespräch halten soll in einem Saale meiner Fabrik? ... Wird er mich tödten? ... Nein, denn er ist ein ehrlicher, obwohl rachsüchtiger Mann. Und er hat mir versprochen, das, was er seine Waffen nennt, so zu wählen, daß die Vortheile auf beiden Seiten gleich vertheilt sein sollen ... Warum also diese Furcht, die mein Verstand thöricht nennen muß? ... Warum dieses Zweifeln, das mich einer Feigheit bezüchtigt, die ich doch früher nie gekannt habe?«
Und Adrian setzte sich, in trübes Nachdenken versunken, in den weichsten seiner Lehrstühle, neigte den Kopf auf seine Hand und schloß die Augen. So saß er lange, lange; man hätte glauben können, er schlafe, wenn er sich nicht bisweilen bewegt, den Kopf geschüttelt oder tief und schwer Athem geholt hätte ... Allemal, wenn die [] Schläge der Uhr in der völlig windstillen Nacht verhallten, richtete er sich auf und sah hinaus auf den See. Dann nahm er seine frühere, halb nachdenkende, halb ruhende Stellung wieder ein.
Als es zwei Viertel nach Eilf geschlagen hatte, belebte sich der See. Die Arbeiter aus dem Dorfe ruderten sich nach der Insel, um nach Mitternacht ihre Brüder und Schwestern abzulösen.
Jetzt stand der Graf auf, öffnete das Fenster und sah starr hinaus auf den glitzernden See, über welchen unter leise rauschenden Ruderschlägen die dunkeln Nachen herüberglitten nach der Felseninsel. Obwohl der Mond sehr hell schien, konnte er doch Niemand erkennen, denn es flirrte ihm vor den Augen, so regte ihn die Erwartung auf.
Endlich landeten die Nachen, die Arbeiter stiegen an's Land und schlugen unter verworrenem Gespräch truppweise den Weg nach der Fabrik ein. Adrian hörte ein dreimaliges Händeklatschen.
»Er kommt,« sagte er und sein bleiches aschfarbenes Gesicht wurde noch bleicher und fahler. Dann beantwortete er das Zeichen auf die nämliche Weise. Langsam schritt Martell, [] als bereits sämmtliche Arbeiter verschwunden waren, gegen Adrians Villa vor. Seine hohe Gestalt war im vollen klaren Mondlicht deutlich zu erkennen. In größerer Entfernung unweit der Scheuer, wo sich der Weg aufwärts nach dem Felsen zog, glaubte der Graf noch zwei andre Gestalten zu bemerken, doch konnte er nicht bestimmt sagen, ob er sich nicht vielleicht getäuscht habe. Ihre Schatten verschwanden ebenfalls auf dem Sandwege zu den Fabrikgebäuden.
Adrian beugte sich jetzt weit aus dem Fenster, winkte Martell, der unsern des Hauses stehen blieb, schloß das Fenster, löschte die Lichter aus und verließ sein Zimmer. Vor Biancas Thür blieb er einige Augenblicke stehen und horchte. Es war still darin; seufzend, eine gute Nacht mit sehnsüchtiger Lippe lispelnd, schritt der Graf die Treppe hinunter, schloß die Hausthüre auf und sah sich dem finstern Halbbruder gegenüber. –
Zwischen Beiden ward kein Wort gewechselt. Sie begrüßten sich nur mit Blicken, in denen Jeder die Gedanken des Andern zu lesen suchte. Martell war eben so bleich, wie Adrian, Hände und Arme zitterten ihm merklich. Neben einander [] fortschreitend schlugen sie den Weg nach der Fabrik ein.
Sie gingen sehr langsam, um den Arbeitern nicht zu begegnen, die sich im Hofe versammelten und daselbst so lange warteten, bis die Fabrikglocke das Ende der Arbeitszeit verkündigte.
Mit dem Schlage zwölf standen sie unter dem ehemaligen Burgthore, über dessen gothischer Wölbung das verwitterte Wappen der Boberstein mit seinen Emblemen und seiner colossalen Grafenkrone, wie sich unsere Leser erinnern werden, noch sichtbar war.
»Zur Seite!« sagte Martell, das erste Wort, welches die feindlichen Brüder mit einander wechselten, und deutete nach einer tiefen Mauerblende, die wohl in früherer Zeit als Wachthaus benutzt worden sein mochte. Diese Blende lag im Schatten und war geräumig genug, um zwei bis drei Personen fassen und verbergen zu können. Die Brüder traten in die Vertiefung und ließen hier, den Blicken Aller entzogen, die Schaar der abgelösten Arbeiter schweigend an sich vorüberwandeln. Erst als es wieder still geworden war, verließen sie ihr Versteck und betraten den fünfeckigen großen Hof der Fabrik.
[] Zwei pechschwarze Rauchwolken stiegen fast senkrecht aus den beiden thurmhohen Schornsteinen, neigten sich aber durch einen seltsamen Zufall, welchen der Luftzug in den obern Regionen der Atmosphäre herbeiführen mochte, so gegen einander, daß sie ein colossales Kreuz bildeten, welches tief schwarz und unbeweglich gerade über dem Hofe stand und sich scharf gegen den glänzenden Nachthimmel abzeichnete.
Adrian bemerkte dieses Kreuz zuerst, blieb stehen und machte seinen Begleiter darauf aufmerksam.
Gleichgiltig betrachtete es Martell, sein fest verschlossener Mund verzog sich zu einem matten Lächeln, er zuckte die Achseln und ging nach der Fabrikthüre, die zu seinem Saale führte. Auf diesem Wege mußten sie an Blutrüssels Kerker vorüber und Beiden schien es, als belustige sich der Gefangene damit, daß er in einem gewissen Tacte Schläge gegen die Mauer führte. Sie beachteten indeß dieses Geräusch durchaus nicht, da sie mit sich selbst viel zu beschäftigt waren.
An der Treppe blieb Martell stehen und lud Adrian durch eine Handbewegung ein, ihm voranzuschreiten. Stirnrunzelnd und einen scharfen [] mißtrauischen Blick auf den Halbbruder werfend, gab er dem Verlangen seines ehemaligen Spinners nach. In diesem Augenblicke schritten noch drei Männer durch's Thor auf den Hof. Diese waren Aurel, Gilbert und Vollbrecht.
»Wo können die seltsamen Menschen hingegangen sein?« sagte der Kapitän. »Ich sehe Niemand.«
»Ohne Zweifel in den Saal der Spinner, deren Arbeiter nach strenger Weisung des Herrn Grafen in dieser Nacht Urlaub erhalten haben,« erwiederte Vollbrecht.
»Aber das ist ja unbegreiflich räthselhaft!«
»So lassen Sie uns eilen, damit wir es enträthseln!«
Drei Minuten später erstiegen die drei Freunde dieselbe Treppe, die so eben erst unter den Fußtritten Martells und Adrians geseufzt hatte.
[] Sechstes Kapitel.
Das Duell.
Wir haben schon erwähnt, daß die Nacht sternhell und still war. Die halbvolle Mondsichel goß ihr silbernes Licht in blendender Fülle über die schlummernde Gegend und spiegelte sich in den zahllosen Fensterscheiben der Fabrik.
Zögernd betrat Adrian von Martell gefolgt den Spinnsaal. Bei dem Anblick der jetzt ruhenden Maschinen mit ihren tausend Rädern und Zangen, mit den unheimlichen Hebeln, Stangen und Bügeln, mit den gezahnten Wellen, die sich in Manneshöhe kreuzten und verbanden, und auf deren polirtem Stahl jetzt der Mond seine bleichen Flammen spielen ließ, überlief den Herrn am Stein ein kalter Schauer. Noch niemals hatten seine Maschinen einen so gewaltigen, so[] grauenhaften Eindruck auf ihn gemacht. Er dünkte sich in einen Gerichtssaal versetzt, um von unsichtbaren Geschworenen einstimmig und erbarmungslos verdammt zu werden, und schaudernd mußte er des wüsten Traumes gedenken, der ihn am Morgen vor der Einbringung seiner verbrecherischen Söldlinge gefoltert hatte.
Ja, das war derselbe Saal, in dem er sich damals unter körperlosen Arbeitern qualvoll wandeln sah! So schwarzblau, kalt und eisern glänzte in jener Traumnacht über ihm der Himmel, so hell und blendend und ohne Wärme schien der Mond in die weiten Räume. Genau so lange düstre ölige Flammen lohten aus den gläsernen Lampenhüllen und verbreiteten einen widerlichen stinkenden Dunst im öden menschenleeren Saale! – Adrian blieb wie verzaubert an der Thür stehen und richtete seine fragenden Blicke auf Martell.
Dieser lächelte, winkte dem Halbbruder und schritt nun mit ihm den breiten Gang entlang, welcher den Saal in zwei gleiche Hälften schied, bis etwa in dessen Mitte. Hier befanden sich hart neben einander die beiden Spindelfluchten, an denen Martell und Simson gearbeitet hatten, [] von deren Kämmen dem kleinen Hans der Fuß abgerissen worden war und wo Adrian Maja's Tochter als Leiche dem jammernden Vater zum Neujahrsgeschenk aufbewahrt hatte.
Man hörte das Surren der Maschinen aus den übrigen Sälen, in denen gearbeitet wurde, das Sausen und Zischen des Dampfes und empfand das schütternde Dröhnen des ganzen Gebäudes, im Uebrigen aber unterbrach kein Laut die mitternächtliche Stille.
»Wir sind zu Stelle,« sagte Martell. »Hier ist der Ort, wo Sie mir Genugthuung geben werden, Herr am Stein.«
Adrian verneigte sich zustimmend. Zugleich er schienen Aurel, Gilbert und Vollbrecht an der Thüre, die sie nur angelehnt fanden. Sie erkannten die beiden gegeneinander überstehenden Brüder und konnten genau Alles beobachten, was in dem nun folgenden Auftritte sich zwischen Beiden zutrug.
»Sie haben mir Genugthuung zu geben versprochen,« sagte Martell, »und mir Ort, Zeit und Wahl der Waffen zu bestimmen überlassen nicht wahr?«
[] »Ich erinnere mich dessen noch deutlich, da ich bei vollem Verstande bin.«
»Wie ich Ihnen schon sagte, Herr am Stein, bin ich kein Fechter, ich kann mich also nicht in hergebrachter Weise schlagen. Ebenso müßte ich ein Duell mit Pistolen ablehnen, da mich Ihre brüderlichen Gifttränke zum alten zitternden Manne gemacht haben, und endlich konnte ich mich aus seltsamen Gewissenscrupeln nicht entschließen, an einem so liebevollen Bruder zum Mörder zu werden.«
»Es bedarf keiner Wiederholung, Herr Martell, da ich Sie nochmals versichere, daß ich mich genau des jüngst zwischen uns Verabredeten erinnere. Ich bitte, kommen wir zur Sache.«
»Erlauben Sie, Herr am Stein, daß ich mich offen gegen Sie ausspreche, denn was ich von Ihnen begehre, bedarf der Rechtfertigung.«
Martells Züge wurden jetzt finsterer, seine Stimme drohend. Er fuhr fort:
»Als mein Sohn unter diesen Walzen zum Krüpel gequetscht wurde, um dann in Folge grausamer Behandlung einem schmerzlichen Tode zu unterliegen, da schwur ich Ihnen Rache! Ich wußte damals noch nicht, daß ich Ihr Bruder [] sei, dachte auch gar nicht, daß ein verbrecherisches Leben gewissenloser Aeltern über ihre eigenen Kinder solchen Erdenjammer verhängen, daß sie sich in ihren Nachkommen so grauenvoll selbst bestrafen könnten. – Als ich es später erfuhr, schwur ich Ihnen abermals Rache, denn ich glaubte das mir und den Meinigen zugefügte Unrecht nur mit Ihrem Herzblut sühnen zu können! – Noch vor ganz kurzer Zeit, in dem Augenblicke, wo ich überzeugt ward, daß Sie Mörder gedungen hatten, die mich heimlich und ohne daß es die Welt ahnen könne, still bei Seite schaffen sollten, und daß einer dieser Mörder durch eine furchtbare Fügung des Schicksals oder der Vorsehung des richtenden Gottes unser beider unglücklichster Bruder sei, in jenem erschütternden Augenblicke wiederholte ich meinen Racheschwur zum dritten Male! Ich wollte Abrechnung mit Ihnen halten nach altem Gesetz; ich wollte Ihnen Alles das wiederthun, was Sie mir gethan hatten, aber – ich habe mich inzwischen anders besonnen.«
»Sie wollen mir großmüthig verzeihen,« fiel Adrian wieder aufathmend ein, denn der Oeldunst des Saales, die von Wollstaub geschwängerte [] Luft und die Angst vor dem Kommenden, das er nicht kannte, nicht einmal ahnen konnte, lasteten erdrückend auf ihm. »Das ist brüderlich gehandelt.«
»Verzeihen? – Nein, Herr am Stein! Ich vermochte meine wilden Leidenschaften zu zügeln, meinen Zorn zu bändigen, aber die aus meinem Herzen gerissene Liebe diesem wiederzugeben, das konnte ich nicht! Das überstieg alles menschliche Empfinden! – Verzeihen kann ich Ihnen als schwacher unvollkommener Mensch nicht, aber – ich lege die Strafe in Ihre eigene Hand.«
»Wie das?« fragte Adrian zögernd.
»Ihre Geschicklichkeit wird die Waffe sein, mit der Sie gegen mich fechten sollen!«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich werde es Ihnen sogleich erklären. – Zu wiederholten Malen, wenn ich und meine armen Mitarbeiter unterthänigst bittend zu Ihnen kamen, um Ihnen vorzustellen, daß Verlängerung der Arbeitszeit einer Art Folter gleichzustellen sei, wiesen Sie uns bald mit harten Worten, bald mit spöttischem Lächeln von sich. Sie glaubten uns nicht allein nicht, Sie behaupteten sogar, [] wir verstellten uns nur, um Ihnen höheren Lohn abzupressen. Wir hatten gegen Sie keine Waffen, denn wir waren arm, hingen von Ihnen ab, standen in Ihren Schuldbüchern, waren mit einem Wort Ihre leib- und seeleneigenen Knechte, Ihre weißen Sclaven! – Wir fühlten diese Sclaverei um so tiefer, je bestimmter wir uns sagen mußten, daß Rettung, d.h. Fristung unseres jammervollen Daseins nur im Fortbestehen dieses entwürdigenden, unser Volk, unser Jahrhundert, unsere Religion schändenden Verhältnisses zu suchen sei! – Herr am Stein, wir riefen es uns hundertmal zu in schlaflosen Nächten, daß man das Wort ›Freiheit‹ zum Schalksnarren gemacht, daß man ihm die Knechtspeitsche in die Hand gegeben habe, und uns armes, gedrücktes, wehr- und rechtloses Volk unbarmherzig damit geißele! – Dies Gefühl demüthigte uns bald, bald ergrimmte es uns, und wenn wir murrten gegen Ihr Regiment, so war Sinn in diesem Murren! Die getretene Menschennatur setzte sich nur zur Wehr, zur Nothwehr! Aber der Schwache hat immer Unrecht, so lange dem Gesetz die höhere Sittlichkeit gebricht, vermöge welcher es auch über Gewaltige Strafen verhängt, [] wo sie es verdient haben. Das Gesetz ist zur Zeit der Gewalt zinsbar und straft nie ein Verbrechen, das blos an der Humanität verübt wird. Sie konnten also ungestraft sündigen und werden es vielleicht späterhin noch oft, weil Sie wissen, daß Sie es dürfen. Zuvor aber will ich Sie für die an schuldlosen Menschen begangenen Verbrechen in meiner Weise strafen und zwar brüderlich, und darin allein soll meine Rache bestehen.«
Martell kreuzte seine Arme über der Brust und sah mit zornfunkelndem stolzen Blick herab auf den zaghaften Bruder.
»Fahren Sie fort,« sagte Adrian kaum hörbar. »Der Aufenthalt in diesem Saale greift mich an. Ich bin noch hinfällig von meiner letzten Krankheit her.«
Martell lächelte. »Schon jetzt?« erwiederte er. »Nun das höre ich gern. Es liegt in diesem Bekenntniß eine Bestätigung meiner Behauptung, die meiner Strafe nur größeren Nachdruck geben wird. – Glauben Sie denn, Herr am Stein, wir Spinner, die wir doch Menschen, hinfällige, Krankheiten und anderen Zufällen gleich Ihnen unterworfene Menschen sind, glauben Sie [] denn, daß unsere Nerven anders empfinden, als die Ihrigen? Meinen Sie, unsere Lungen würden nicht auch von dieser dunstigen, unreinen, fettigen, von Wollstaub erfüllten Luft angegriffen? – Denken Sie etwa, ein immerwährender Aufenthalt in diesen Räumen gewöhne den Körper daran? Und trösten Sie sich denn etwa mit der Vermuthung, eine Stunde Aufenthalt hier sei qualvoller, als deren zehn bis zwölf? – Sollte dies, wie ich fürchten muß, der Fall sein, so will ich Ihnen diesen Glauben für alle Zukunft benehmen ... Sie werden mit mir allein eine ganze Arbeitsfrist in diesem Saale zubringen!«
»Zehn Stunden?« rief Adrian entsetzt. »Ich bitte –«
»Sie irren, Herr am Stein,« unterbrach ihn Martell. »Nicht zehn, sondern zwölf Stunden dauert nach Ihren letzten Verordnungen die Arbeit bei den Feinspinnern. Sie werden also zwölf Stunden mit mir hier bleiben und, damit Sie aus eigener Erfahrung das Leben Ihrer Fabrikarbeiter kennen lernen, damit Sie fühlen, wie süß, wie erheiternd, wie stärkend für Geist und Körper dies Dasein, diese irdische Bestimmung[] ist, sollen Sie während dieser Zeit mit mir arbeiten!«
»Um Gottes Willen, Martell!«
»Sie werden mit mir spinnen, Herr am Stein, ohne alle Widerrede! Bei der geringsten Weigerung vergesse ich, daß wir Brüder sind, und erwürge Sie, wie einen Hund! – Ich mache es Ihnen ja leicht,« fuhr Martell mit zuckendem Munde fort, »ich strafe Sie ja blos mit Ihren eigenen Gesetzen. Was Sie Tausenden Ihrer Brüder jahrelang zumutheten, das können Sie selbst versuchsweise wohl eine Nacht probiren! – Sie werden also an Ihren eigenen Maschinen mit mir spinnen, werden Alles das thun und üben, was von Ihren Arbeitern verlangt wird, und haben Sie das gethan, dann sollen Sie frei ausgehen und – ich hoffe es – menschlicher werden. Diese Nacht an Ihrer Maschine als Spinner verbracht wird Ihnen unvergeßlich bleiben und Sie erkennen lehren, wie grausam Sie gegen hilflose Kreaturen verfahren sind! Das ist das Duell, welches ich mit Ihnen auskämpfen will – und hier die Maschinen sind unsere Waffen! Wohlan, fangen wir denn an!«
[] Adrian würde einer Batterie geladener Kanonen mit geringerer Furcht entgegen gegangen sein, als der dämonischen Kraft der Maschinen, die ihre glänzenden Stahlhände grimmig nach ihm ausstreckten! Er zitterte, kalter Schweiß rann ihm von Stirn und Wange, seine Augen stierten ohne Ausdruck, ohne die Gegenstände zu erkennen, in die dunstige, feuchtwarme Luft.
»Ich verstehe ... die Behandlung ... nicht,« stotterte der Entsetzte.
»Die Behandlung ist leicht und gefahrlos,« entgegnete Martell. »Sie dürfen nur Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit richten. – Belieben Sie mir zu folgen, Herr am Stein, und sich wohl einzuprägen, was ich Ihnen sage! Sobald Sie diesen Bügel hier heben und diesen Schraubenflügel links drehen, setzt sich die Maschine mit der gemeinsamen Dampfwelle in Verbindung und die Arbeit beginnt. Der Spindelwagen läuft gegen anderthalb Ellen vorwärts auf Sie zu, dann bleibt er eine Secunde lang stehen. Diese Secunde benutzen Sie, um den Haken hier oberhalb der Würtel aufzuheben, wodurch das Aufrollen des gesponnenen Garnes bewirkt wird. Sobald dies geschehen ist, läuft der [] Wagen wieder zurück, steht wieder still und dieselben Operationen wiederholen sich. Bemerken Sie, daß ein Faden reißt, was zuweilen häufig vorkommt, so drehen Sie den bekannten Schraubenflügel rechts. Dies setzt die Maschine außer Verbindung mit der Dampfkraft und macht das Werk stehen. Ungefährdet können Sie die Fäden wieder knüpfen und dann in angedeuteter Weise die Maschine wieder in Gang setzen. Sie sehen, es ist so einfach, daß jedes Kind diese Arbeit verrichten kann, weshalb Sie ja auch so viele Kinder angestellt haben, denen Sie nur halb so viel Lohn geben, als uns Erwachsenen! – Sind Sie bereit?«
»Einen Augenblick ... Geduld!« bat Adrian. »Mir schwirrt es ... vor den ... Augen ... Ich fühle ... Schwindel ...«
»Sie theilen alle Gefühle Ihrer Arbeiter,« erwiederte Martell, dessen Stimme ruhig, aber kalt und ehern klang, »der Schwindel verläßt uns nie, allein Noth kennt kein Gebot, und so lernen wir auf bewundernswürdige Weise balanciren. Ich will Ihnen jetzt vorspinnen.«
Nun trat Martell an die Maschine, welche Adrian durch zwölf Stunden bedienen sollte, verfuhr [] in angedeuteter Weise und ließ den klirrenden und schwirrenden Spindelwagen einige Male vor- und rückwärts laufen.
»Haben Sie jetzt begriffen, Herr am Stein?« fragte er höflich.
»Ich ... glaube ... wenn Sie ... noch einmal ... bei mir bleiben ... wollen –«
»Mit Vergnügen. Einen Schüler muß man unterstützen. Beliebt es?«
Adrian ergriff mit zitternder Hand den Bügel, drückte die Schraube, und sausend rollte der Wagen gegen ihn. Er stand, der Haken ward aufgehoben, die Würtel klirrten, und abermals lief der Stahlwagen mit seinen scharfen Zangen, Rädern und Spießen auf den Eisenrollen in der ihm vorgeschriebenen Bahn.
»Vortrefflich!« sagte Martell. »Sie bedienen die Maschine wie ein geübter Spinner. – Fahren Sie nun so fort, Herr am Stein, und Sie werden das größte Vergnügen haben, wenn Sie später einmal sagen können: so viele hundert Ellen Garn habe ich mit eigner Hand auf meinen eigenen Maschinen gesponnen. – Nur hüten Sie sich, den Messingflügeln dieser Welle nahe zu kommen. Sie versteht keinen Spaß. [] Es ist dieselbe, die meinem Hans unten am Boden, wo sie ebenfalls zwei solche Flügelschaufeln hat, den Fuß abquetschte. – Armer Hans, in dieser Nacht soll Dein Geist gesühnt werden!«
Mit angehaltenem Athem hatten unsere Freunde diesem Gespräche der Brüder zugehört. Bei dem Geräusch der in Bewegung gesetzten Maschinen wagten sie zum ersten Male einige Worte mit einander zu wechseln.
»Eine eigenthümliche, originelle und in gewissem Sinne großartige Rache!« flüsterte Aurel dem Geschäftsführer zu. »An ihr erkenne ich, daß Bobersteinsches Blut in den Adern dieses willensstarken Mannes fließt.«
»Er sammelt feurige Kohlen auf das Haupt des Hartherzigen,« erwiederte Vollbrecht, »nicht, indem er ihm Gutes mit Bösem vergilt, sondern indem er seine Lippen zwingt, aus dem Kelch der Arbeit zu trinken und ihre Bitterkeit zu kosten. Es gibt kein besseres, kein wirksameres Mittel, Verstockte zu bekehren. Wohl bekomm' es ihm!«
»Still!« sagte Gilbert. »Auch Martel tritt an seine Maschine und läßt das Spiel der Spindeln beginnen.«
[] Der Anblick dieser einsamen beiden Spinner in dem weiten öden Saale, von flackerndem Lampenschein und bläulichem Mondlicht matt erleuchtet, hatte etwas durchaus Gespenstisches. Die blassen, knochigen, verfallenen Gesichter der beiden Brüder, die in der geistigen Aufregung, in der sie lebten, sich auffallend ähnlich sahen; ihre düstern, unheimlichen Blicke, das Zittern ihrer Hände, das lautlose, schattenhafte Auf – und Niederwandeln auf ein und derselben Stelle, verbunden mit dem eigenthümlich schrillenden Geräusch der rastlos arbeitenden Maschinen: dies Alles machte einen unbeschreiblichen, unvergeßlichen Eindruck auf die heimlichen Zuschauer. Und damit dieser Eindruck noch verstärkt werde, hörte man aus den untern Gewölben wie aus dem Grabe herauf ein Geräusch, als sänge eine tiefe heisere Männerstimme wilde Lieder.
Eine Zeitlang spannen die beiden Brüder ungestört fort, dann aber rissen auf Adrians Spindelflucht mehrere Fäden und er mußte die Maschine hemmen. Es gelang ihm erst, nachdem der Wagen noch mehrmals auf – und niedergerollt und eine Menge Fäden abgerissen waren.
[] »Bruder,« sagte er bittend, sich mit dem seidenen Taschentuche den Angstschweiß abtrocknend, »Bruder, habe Nachsicht! ... Verzeihe mir und ... entlasse mich! Ich fühle meine Brust kaum noch ... die Augen entzünden sich ... und hindern mich deutlich zu sehen!«
»Das ist die gewöhnliche Arbeiterkrankheit, Bruder Adrian,« versetzte Martell, ohne seine Maschine einzuhemmen. »Alle leiden daran, Einige kurze Zeit, Andere immerwährend, und für den Lohn, den sie für ihre Mühen erhalten, zeigt es wahrlich von Ausopferung und großer Geduld, wenn sie dabei zufrieden bleiben. Aber schnell, schnell, sonst wird man Dir den Lohn verkürzen!«
»Habe Erbarmen!« winselte Adrian, noch beschäftigt mit ungeübter Hand die zerrissenen Fäden anzuknüpfen und die Wollflocken aus einigen gehemmten Kämmen zu zupfen. »Ich vermag nicht, mit Dir ... gleichen Schritt zu ... halten!«
»Hatte der Herr am Stein Erbarmen, als sein armer Bruder Martell darum flehte? Hatte er Erbarmen, als fünf Kinder seiner Arbeiter Hungers starben? ... Nein, er hatte kein Erbarmen! [] Er legte ihre gefrorenen Leichen an die Arbeitsstätten ihrer Aeltern und blieb gleichgiltig bei ihren Wehklagen! – Also nur vorwärts, Herr Bruder. Es gilt Deine Ehre, Dein Leben!«
Adrian raffte sich zusammen und ließ die Maschine wieder spinnen. Aber von Minute zu Minute vermehrten sich seine Leiden! – Der verhängnißvolle Traum tanzte wie ein Schattenspiel vor seinen brennenden Augen auf und nieder. Er glaubte wirklich den Saal sich bevölkern zu sehen mit den grauen durchsichtigen Gestalten der Arbeiter, die für gewöhnlich ihn füllten. Sie schwebten um ihn wie ein Heer drohender Geister ... Sie grüßten ihn, winkten ihm zu, schlugen ihm Schnippchen, höhnten ihn durch lautes Gelächter! ... Ach, und auch die Spindeln der Maschinen um ihn hörte er klirren; er vernahm das Knarren und Knirschen ihrer Stahlzähne, das Rollen und Klappern der langgestreckten Wagen! ... Und die Schattenkörper standen daneben, beugten sich über die Spindeln, knüpften die Fäden, hoben Bügel, drehten Schrauben, krochen mit eingezogenen Beinen unter den haspelnden Kämmen herum und richteten – o Entsetzen [] – ihre rollenden blutigen Feueraugen alle auf ihn, auf ihn! ... Die Hände des Grafen zitterten nicht mehr, sie flogen ... Sein Flehen verwandelte sich in ein schreiendes Rufen, das in dem Rauschen der Maschine erstarb ... Martell hörte ihn nicht, er wendete nur bisweilen seine kalten Flammenaugen auf ihn, nickte ihm Beifall zu und lächelte! ... Einmal hielt Martell seine Maschine an. Adrian that dasselbe, warf sich auf seine Knie und rief:
»Erbarmen, Bruder, Erbarmen! Ich werde wahnsinnig in diesem Troß spinnender Gestalten!«
»Das macht der fliegende, geölte Wollstaub. Er täuscht und quält die armen Spinner, wenn sie sich nicht an die Luft gewöhnen können, mit sonderbaren Bildererscheinungen. Aber nur an's Werk! Die Zeit vergeht!«
Es schlug ein Uhr.
»Noch eilf Stunden!« sagte Martell zu Adrian. »Für einen, der blos zur Bereicherung seiner Kenntnisse spinnt, ein wahres Kinderspiel!«
»Eilf Stunden!« wiederholte Adrian und ließ verzweiflungsvoll den Wagen wieder rollen. Aber seine Qualen, obwohl sie blos Ausgeburten eines schuldbeladenen Gewissens und eines krankhaften, [] überreizten Nervensystems waren, vermehrten sich von Minute zu Minute. Die blutige, augenlose Gestalt des Bruders, den er zum Mord hatte verführen wollen, erschien ihm, und Herta, im Trauergewande, breitete ihre erbleichenden Locken über den Ermordeten und schluchzte, daß er es zu hören glaubte, die Thränen zu fühlen wähnte, die ihren Augen entströmten. Und wieder hob er bittend die schweißtriefenden Hände zu Martell auf und rief:
»Gnade, Gnade, Bruder! Ich bekenne mich besiegt!«
»Spinne!« sagte Martell und fließ ihn zurück an die Maschine.
Keuchend ging Adrian nochmals an das für ihn entsetzliche Werk. Die Phantasiegestalten verschwanden noch immer nicht, sie mehrten sich eher. Unter seiner eigenen Maschine glaubte er jetzt den verstümmelten Hans kauern zu sehen ... neben ihm seine Mutter in der elenden Tracht der Armuth, zerlumpt, frierend, ein Bild des schrecklichsten Erdenjammers! ... Und über den Spindeln breitete ein junges Mädchen die weißen Arme aus, kroch auf ihn zu und flüsterte in markdurchschütterndem Geistertone: ich starb für [] Dich ... vor Hunger ... und Du wolltest ... mich nicht begraben lassen!
»Ha, das ist die Hölle!« rief Adrian, in der Angst seiner Verzweiflung mit der Hand in die Spindeln schlagend, um das Gespenst zu verscheuchen, daß er sie blutend und zerschnitten wieder zurückzog. »Tödte mich, entsetzlicher Rächer, nur mache diesen Qualen ein Ende!«
»Spinne!« wiederholte eintönig, grabeshohl die Richterstimme des rächenden Bruders. »Spinne, bald geht die zweite Stunde zu Ende!«
Adrian ging nochmals an die für ihn gräßliche Arbeit und wieder sah er das gespenstische Leben eingebildeter Personen im Saale, wieder hörte er ihr Zischeln, ihr Lachen, ihr Flüstern, ihr Rufen! ... Um der Pein dieses Anblickes zu entgehen, richtete er seine Blicke starr auf die arbeitende Maschine. Da ward es heller vor seinen Augen ... Funken flogen herüber, hinüber, Feuerballen rollten und zischten um ihn ... ein Meer von blitzender Gluth stieg empor von der dunkeln Diele, schwoll gegen ihn heran, brandete an seiner Brust und enthüllte ihm eine goldene Bernsteinmuschel, in deren Innerm, von rosigem [] Gewölk umflattert, ein wunderbares Frauenbild ruhte!
»O rette, rette mich, gütiger Engel!« schrie Adrian in wilder Fieberhitze.
»Spinne!« klang Martells Todtenstimme zurück. »Spinne, bis Deine Zeit um ist! Im Schweiße seines Angesichts, heißt es, soll der Mann sein Brod essen, und wer nicht arbeitet, der soll auch nicht leben! Also arbeite und spinne!«
»Ich will aber nicht leben!« rief Adrian noch aufgeregter, indem sich sein Gesicht in convulsivischem Krampfe verzog. »Zu ihr nur will ich, zu meiner Retterin, zu meiner süßen Bianca, die mir vergebend, mit zauberischem Lächeln die rettende Hand entgegenstreckt. – O, ich komme, ich komme ...!«
Und Adrian drängte sich hochaufrichtend dem rückwärtsrollenden Spindelwagen nach, streckte die Arme aus, streifte mit dem Haupthaar die metallenen Schaufeln der eisernen Welle, die unmittelbar von der Dampfmaschine in Bewegung gesetzt ward, und war im nächsten Augenblicke – skalpirt! Ein entsetzlicher, alle Mauern durchdringender Schmerzensschrei entschlüpfte ihm – seine Hände erfaßten die blitzende, schwingende [] Welle, und zerrissen, eine blutige Guirlande, hing der Unglückliche an dem dampfenden Eisenschaft!
Die Maschine stand – auch in den übrigen Sälen, wo man den Schrei gehört hatte, wurden die Maschinen gehemmt. Die Zuschauer an der Thür stürzten athemlos herein – da vernahm man von unten herauf einen zweiten, dem ersten ähnlichen Schrei, und Alles ward still.
Martell aber neigte sein Haupt und sagte düster:
»Gott hat ihn gerichtet!«
Auf der Fabrikuhr schlug die Glocke die zweite Morgenstunde.
[] Siebentes Kapitel.
Die Versöhnung.
Dieser unerwartete, unbeabsichtigte Ausgang des von Martell ersonnenen Duells machte auf einmal allem Streit und Hader ein Ende. Das Erscheinen seiner Freunde, die er fern gelaubt hatte von dem Orte, wo er auf edle Weise seinen grausamen Bruder bestrafen wollte, war ihm jetzt, obwohl unerwartet, doch sehr lieb. Sie konnten, als Zeugen des Ausgangs, im Nothfalle eidlich erhärten, daß Martell vollkommen schuldlos sei am Tode seines Halbbruders, daß diesen nur die innere Seelenangst, die von wilder Leidenschaft und Sinnenlust erhitzte Phantasie in den Tod gejagt habe. – Martells Absicht bei dem von ihm ersonnenen Duell war eine durchaus ehrenwerthe gewesen. Sein Herz [] sagte ihm, daß Adrian Strafe, sogar harte, empfindliche Strafe für sein gewissenloses Handeln verdient habe, sein unverdorbenes natürliches Gefühl verlangte eine solche, und so erdachte er denn diese eigenthümliche Art der Bestrafung. Er bezweckte damit eine große moralische Wirkung auf den Grafen; er wollte ihm durch die That beweisen, daß es kein Vergnügen sei, ein ganzes Leben hindurch ohne die geringste Aussicht auf Verbesserung seiner Lage, täglich so lange Stunden in verdorbener Luft zu arbeiten und bei der geringsten Nachlässigkeit Gesundheit und Leben auf's Spiel zu setzen! Er wollte ihm praktisch darthun, daß ein solches Leben die vom Schicksal dazu Verurtheilten verschlechtern bösartig, zu ungesetzlichen, aber leicht erklärbaren Schritten geneigt machen und bei günstiger Gelegenheit sie zu Grausamkeiten verleiten müsse! Nur in dieser Absicht zwang er den Bruder, mit ihm eine Arbeitsfrist zu spinnen, fest überzeugt, daß er den verweichlichten Mann dadurch vollständig bekehren und für alle Zukunft ihn in einen milden Herrn gegen seine Arbeiter verwandeln werde. –
Adrian war eines schmerzlosen, schnellen [] Todes gestorben. Als die Maschinen standen und Martell seine Freunde in größter Bestürzung auf sich zueilen sah, wiederholte er die Worte:
»Gott hat ihn gerichtet!«
und erhob seine Rechte wie zum Schwur. Von allen Sälen stürzten nun die Arbeiter herbei, drängten in den Saal und umstanden bald in dichten Reihen die vier Männer, die sich vergeblich abmühten, die zerbrochenen Glieder des Unglücklichen von dem Eisenschaft abzulösen.
Es konnte den Arbeitern nicht verborgen bleiben, wer auf so schreckliche Weise geendet habe. »Es ist der Herr am Stein!« – »Unser Graf, unser Gebieter!« – »Die Maschine hat ihn zermalmt, den Armen!« so lief es flüsternd von Mund zu Mund. Kein Laut der Schadenfreude, kein Ruf des Triumphes, kein Schrei der Rache ward vernommen, was man von diesen größtentheils ungebildeten Leuten, denen der Todte nie Wohlthaten erwiesen hatte, so sehr fürchten mußte. Das unmittelbare Eingreifen von Gottes allmächtiger Hand wehrte aller niedern Leidenschaftlichkeit. Jeder fühlte sich erschüttert, gedemüthigt! Es war, als ob man die Nähe [] des Ewigen scheue, als ob man vor dem unerforschlichen Walten desselben an seine Brust schlagen und sein Knie beugen müsse!
»Gott sei ihm gnädig und vergeb' uns unsere Sünden!«
»Ehrt seinen Namen, flucht ihm nicht! Er ist gestorben wie ein Märtyrer!«
»Es sei ihm von ganzem Herzen vergeben!«
»War er doch unser Brodherr, der uns Kleider und Nahrung gab, wenn schon nicht immer gute und reichliche! Aber ohne ihn, was wäre aus uns geworden!«
»Darum Friede mit ihm! Der Herr lasse sein heiliges Antlitz über ihn leuchten!«
»Ja, Friede mit ihm! Amen! Amen!«
So riefen sich alle Arbeiter zu, nahmen ihre Mützen ab, falteten die Hände und beteten für die Seele des Verunglückten mit gläubigem Herzen ein Vaterun ser.–
Inzwischen wurde es laut auf dem Hofe. Einige waren fortgestürzt, um das Geschehene der Dienerschaft des Grafen zu melden und seine Leute herbeizurufen. Andere eilten mit ungläubiger Miene in die Maschinenkammer, aus der [] man jetzt ein wüstes Durcheinander lauter Stimmen vernahm.
Mitten in diese Verwirrung die mit dem tiefen Frieden der wunderbar klaren und milden Nacht seltsam contrastirte, trat athemlos der Maulwurffänger. Er hatte bereits von einem Unglück gehört, wen es aber betroffen habe nicht erfahren können.
»Wer ist zermalmt worden von der Maschine?« rief er jetzt in den drängenden Haufen hinein, seine durchdringende Stimme erhebend, und arbeitete sich vorwärts bis an die trüb erhellte Thür zur Maschinenkammer, die mit Menschen dicht angefüllt war.
»Der Mörder! Der Mörder!« antworteten eine Menge Stimmen. »Dem Bösewicht ist Recht geschehen! – Der Teufel hat ihn geholt, wie er's verdiente!«
»Welcher Mörder!« sagte der Maulwurffänger, der von den Vorgängen dieses Tages noch nichts wußte. »Es sitzen deren zwei im Gefängniß, wenn sich nicht einer durch irgend ein Mauseloch auf und davon gemacht hat.«
»Wie er noch die Zähne fletscht! Wie er grinst!«
[] »Das macht, des Satans Bruderkuß hat ihm nicht gut geschmeckt!«
»Ja und darum verdreht er auch die häßlichen Augen so greulich!«
Unter diesen Bemerkungen der Gaffenden erreichte der Maulwurffänger das Innere der Maschinenkammer. Diese war eng und bot nur so viel Raum dar, als nöthig war, um Denjenigen, welche die Maschine zu bedienen hatten, Zutritt zu verstatten. Die ungeheuern Hebel streiften beinahe die Wände und machten es unmöglich, daß Menschen sie nach allen Seiten hin umgehen konnten. Am nächsten berührten die Hebel jene schwache Ziegelwand, welche den Kerker des Mörders von der Maschinenkammer schied. Diese Wand und ihr gegenüber zwischen Wand und Hebeln ein abgestumpfter Eichenpfosten, der mit zur Maschine gehörte, waren jetzt das Augenmerk der Ab- und Zugehenden. Die Wand zeigte sich nämlich durchbrochen und in der entstandenen Oeffnung, die gerade so weit war, daß ein mittelstarker Mann sie vollkommen ausfüllte, hing der blutige Rumpf eines Menschen. Der Kopf war hart an den Achseln abgerissen und von der Kraft des tödtenden Hebels [] nach dem erwähnten Eichenstumpf geschnellt worden. Dort stand er, als habe eine geschickte Hand ihn mit Absicht dahin gestellt, das Gesicht der Thür zugekehrt, mit offenen Augen, den häßlichen Mund mit den Wolfszähnen im Todeskampfe scheußlich verzogen. Blutrüssels Wunsch, der Teufel solle ihm den Kopf abreißen, wenn er sich nicht befreie, war somit buchstäblich in Erfüllung gegangen.
Pink-Heinrich, den es bei diesem widerlichen Anblick und bei den rohen Bemerkungen, welche sich die Arbeiter über den Tod des Elenden zu machen erlaubten, kalt überlief, wendete sich mit Abscheu ab und ging in's Innere der von Menschen überfüllten Fabrik. Schon an der Treppe begegnete ihm Aurel und Vollbrecht. Sie führten Martell, der sich jetzt kaum noch auf den Füßen erhalten konnte. Hinter ihnen ging Gilbert und sodann trugen vier Arbeiter den zerschmetterten Leichnam Adrians, den Niemand mehr erkennen konnte.
»Der Maulwurffänger!« rief Aurel aus, als er den alten Mann, erschüttert von dem Schauspiel, das sich ihm darbot, am Fuß der Treppe auf seinen Schlehdornstock gestützt, mit [] erschrockenem Auge und bekümmerter Miene, das runzelvolle Gesicht von ehrwürdigem Silberhaar umflossen, auf den Trauerzug hinstarren sah.
»Er ist's!« erwiederte Pink-Heinrich kummervoll. »Aber er kommt diesmal zu spät, um zu helfen! – Die That ist geschehen, wehe dem, der sie vollbrachte!«
Der alte Mann entblößte sein Haupt und wischte sich eine Thräne aus den Augen.
»Ihr seid im Irrthum, braver Alter,« versetzte Aurel. »Dieses Unglück, wenn wunderbare Schicksalsfügungen solchen Namen verdienen, dieses Unglück lastet auf keines Sterblichen Gewissen! Wir drei waren Zeugen des Hergangs, wir können mit den heiligsten Eiden beschwören, daß Martell am Tode des Herrn am Stein, unseres unglücklichen Bruders, eben so schuldlos ist, als Ihr selbst, wackerer Mann! – Es war Gottes Hand, die ihn schlug, und wo diese in die Geschicke der Menschen eingreift, da müssen wir uns beugen und ausrufen: Sein Wille geschehe für und für! – Die Phantasieen des Verunglückten jagten ihn in den Tod! Gott sei ihm gnädig!«
Der Maulwurffänger schloß sich dem Trauerzuge[] an, der sich langsam über den Hof, den gewundenen Kiesweg hinab nach der Wohnung Adrians bewegte. Alle Arbeiter folgten paarweise. Das seltsame Kreuz, welches der Rauch über dem Hofe der Fabrik bildete, war noch immer zu sehen. Erst, als der Zug vor dem Hause anhielt, zerflatterte es nach und nach in der Luft.
Das heftige Laufen so vieler Menschen und das damit verbundene unvermeidliche Rufen und Schreien, hatte die Frauen aufgeschreckt, und ihnen das Geschehene verrathen. Sie erwarteten am Portale des Hauses den nahenden Zug. Bianca, die zwischen Herta und Elwire in der Mitte stand, machte auf Aurel einen unauslöschlichen Eindruck. Während nämlich Großmutter und Enkelin schwarz gekleidet waren, trug Bianca ein durchsichtiges weißes Gazekleid, das ihre vollendeten Formen mehr enthüllte als verbarg. Ihre schwarzen Haare waren über der blassen Stirn gescheitelt, im Nacken durch eine Perlenschnur zusammengefaßt und ergossen sich in fesselloser Pracht, eine glänzende Lockenwelle, bis weit über ihre Hüften. Diese phantastische Kleidung war reizend und abschreckend zugleich. [] Bianca hatte, wie schon so oft, auch in dieser Nacht den Grafen wieder in jene gräßliche Gedankenhölle stürzen wollen, die sie willkürlich um ihn erbauen konnte und an der sich ihr grollendes Auge erlabte. Ueberrascht von dem unerwarteten Tode ihres Feindes hatte sie in der ersten Bestürzung ihre Kleider zu wechseln vergessen. So empfing nun die zur Rache gerüstete schöne Furie die blutige Leiche dessen, den sie durch ihre Reize in Verzweiflung und Wahnsinn stürzen wollte, an der Schwelle seines Hauses! –
Der Tod ist ein mächtiger Vermittler. Das fühlte in diesem unvergeßlichen Augenblicke selbst die unerbittliche Rächerin. Thränen wahrhaft weiblichen Mitgefühls füllten ihre bis dahin kalten Augen, die wohl zuweilen geweint hatten, aber nur vor Wuth und vor Begierde sich zu rächen. Der Anblick des grausam Zerrissenen erschütterte sie, das starre Herz brach ihr im Busen und weinend beugte sie sich über den Todten, um ihm vergebend die Hand zu drücken.
»Ich verzeihe Dir, Unglücklicher!« sagte sie. »Ich verzeihe Dir im Namen meiner Schwester. [] Du hast gefrevelt, aber Du hast auch gebüßt. Friede Deiner Asche! –«
Die Leiche ward ins Haus getragen und hier in jenem prachtvollen Speisesaale, wo Adrian die bittenden Arbeiter so schnöde abgewiesen und Lore ihr Kind in brennendem Mutterschmerz von ihm zurückgefordert hatte, auf reiche Teppiche niedergelegt. Hier kniete Bianca nochmals neben dem Todten an die Erde, ein Strom heißer Thränen entfloß ihren Augen und Reue über ihr unbarmherziges, unglaublich hartes und sündiges Verfahren versetzte sie in tiefe Traurigkeit. Da trat Vollbrecht an sie heran, hob sie liebevoll auf und sagte:
»Lassen Sie ihn ruhen! Wir können die Geschicke nicht ändern. Sie aber, meine Freundin, werden vor Gott gerechtfertigt erscheinen, denn Sie waren in seiner Hand ein Werkzeug der Strafe! Ein Leben voll Milde, Sanftmuth und Liebe wird auch Sie vergessen lassen, was Ihnen geschah und was Sie verübten! Kommen Sie!«
Der gutmüthige Geschäftsführer zog die nur schwach Widerstrebende mit sich fort. Herta und Elwire folgten. Die Männer aber gingen zusammen [] in Adrians Wohnzimmer, um sich über die Schritte zu einigen, die zu thun man jetzt für nöthig halten würde. –
In dieser Unterredung erfuhr der Maulwurffänger erst die Ermordung des unglücklichen Klütken-Hannes, dessen Leichnam auf der Tenne der Scheuer lag. Eine unerklärbare Unruhe hatte den Maulwurffänger vom Hause fortgetrieben. Er war trotz seines hohen Alters rastlos fortgewandert, hatte erst nach Mitternacht das Dorf am See erreicht und bei Martell den Rest der Nacht zubringen wollen. Von Lore benachrichtigt, daß ihr Mann in dieser Nacht eine Zusammenkunft mit seinem Halbbruder habe, um Abrechnung mit ihm zu halten, trieb es ihn ruhelos fort nach der Felseninsel. Leider fand er keinen Fährmann; er mußte sich also mit eigener Hand über die Gewässer rudern, was ein Wagstück für ihn war, da er keine Uebung in der Schifferkunst besaß. Er brauchte daher auch verhältnißmäßig lange Zeit, ehe er die Insel erreichen konnte, denn mehr als einmal trieb er seinen Kahn rückwärts anstatt vorwärts. Daher kam er erst nach der schrecklichen Katastropfe an, die durch sein früheres Auftreten [] vielleicht verhindert worden wäre. Indeß leuchtete seinem hellen Verstande sehr wohl ein, daß vielleicht gerade dieser Ausgang die besten und segenbringendsten Folgen haben könne.
In der nun folgenden, bis an den Morgen dauernden Berathung ward beschlossen, den beiden an einem Tage umgekommenen Brüdern ein feierliches Begräbniß zu veranstalten und sämmtliche Mitglieder der Familie dazu zusammen zu rufen. Adalbert von den erschütternden Ereignissen zu benachrichtigen, übernahm Aurel in einem ausführlichen Briefe, der eben so wahr, offen und gerade, als liebenswürdig und versöhnlich geschrieben war, und wohl geeignet sein konnte, auch das haßerfüllteste Herz zu erschüttern und wider Willen zur Versöhnung zu zwingen. Da er Adalbert als einen vornehmen und abgeschlossenen Aristokraten kannte, hütete er sich wohl, in einen allzuvertraulichen Ton zu fallen, obwohl sein Herz diesen gern angeschlagen hätte. Seinen Zweck zu erreichen und zugleich den feindlich gesinnten Bruder von der Schuldlosigkeit dessen zu überzeugen, auf den ein Bösgesinnter wohl einige Schuld wälzen konnte, zog er es vor, mehr die Klugheit als das Gefühl sprechen[] zu lassen. Dieser Brief, der Aurels Charakter in so schönem Lichte zeigte, lautete folgendermaßen:
»Mein vielgeliebter Bruder,
Es ist löblich, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen! Mit diesem treuherzigen Bibelwort, von dem ich freilich nicht behaupten will, daß ich es ganz wörtlich nach Luthers Uebersetzung citirt habe – denn es ist eine ziemlich lange Reihe von Jahren seit der Zeit verflossen, wo ich mich bibelfest nennen durfte – mit obigem Wort also rufe ich Dir heut einen wohlgemeinten, von Herzen kommenden Gruß zu. Wir haben vor wenigen Tagen einen Prozeß gegen arme und rechtliche Leute verloren, die ein unerforschlicher Wille der Vorsehung von Geburt an zu unsern nächsten Verwandten auserwählte, ohne daß wir eine Ahnung davon hatten. Gewiß, ein ganz anderer Geist hätte unser Aller Leben und Wirken beseelt, wäre vor nur zehn Jahren diese für uns so wichtige Entdeckung gemacht worden! Weil dies nicht geschah, nicht geschehen konnte und sollte, deshalb trennten wir uns in einer finstern Stunde und standen [] uns feindlich gegenüber. – Ich bekenne lieber Bruder, daß ich durch meine Hartnäckigkeit und die Gereiztheit meines ganzen Wesens nicht wenig Schuld gewesen bin an dieser Trennung. Indeß, Gott Lob, ich kann mir auch selbst Unrecht geben, wenn ich es verdient habe, und so hoffe ich, der Freudentag, wo unrechtmäßig getrennte Brüder sich wieder in Liebe vereinigen, einander aufrichtig vergeben und sich für immer versöhnen, wird nicht mehr fern sein! –«
»Alles fordert uns dazu auf, der verlorene Prozeß, der für uns gewonnen ist, wenn wir, wie ich gethan habe, diejenigen als unserm Geschlecht zugehörig anerkennen, welche vermöge ihrer Abstammung ein unbestrittenes Recht dazu haben! Das Schicksal, das den Samen der Zwietracht unter uns ausgestreut hat, und endlich die Vorsehung selbst, die in diesem Augenblick uns schwer ihre strafende Hand fühlen läßt!«
»Ich sehe Dich grollend die Stirn runzeln, aber höre mir geduldig zu und Du wirst mir Recht geben!«
»Unser armer Bruder Adrian, den ein seltsamer[] Geist des Irrthums verblendete und auf Abwege führte, die ich eben so wenig wie Du vereinbaren kann mit dem angeborenen Sinne für Gerechtigkeit, der unserm alten stolzen und berühmten Geschlecht bis in die Zeiten des grauen Alterthums eigen gewesen ist, dieser arme Bruder hat plötzlich aus dem Leben scheiden müssen! – Ich sage müssen, weil sein Tod wirklich einer unbegreiflichen Fügung Gottes, einem wahrhaften Schicksal gleichkommt.«
»Du weißt, daß er seit langer Zeit kränkelte. Eine gewisse Schwäche, die sich in nervöser Reizbarkeit und nicht selten in unheimlichen, erschreckenden Einbildungen bekundete, verließ ihn seit jener Zeit nie mehr. Aerger, Verdruß, wohl auch wahrhafter Kummer steigerten diese krankhafte Gemüthserregung, und eine unbegreifliche Leidenschaft, die ihn mit dämonischer Gewalt überfiel und zum willenlosen Kinde eines armen, aber schönen Mädchens machte, das seine Neigung nicht er wiederte, rieb ihn geistig und körperlich beinahe auf.«
»In dieser Gemüthsstimmung überraschte [] ihn, wie mich, die Nachricht von dem Verlust des Prozesses. Du kennst Adrians Festhalten an irdischem Besitz, dem er häufig mehr Werth beilegte, als ein besonnener Mann es sollte. Er hielt sich daher im ersten Augenblick völlig ruinirt und nur meinen wiederholten Versicherungen gelang es, ihn dieser fixen Idee zu entfremden. Zum Unglück mußten sich an die Mittheilung von dem verlorenen Prozeß auch noch andere Eröffnungen knüpfen, die sein Gemüth tief erschütterten. Es galt nichts Geringeres, als einen unserer wiedergefundenen Halbbrüder gefänglich einzuziehen, da man ihn auf verbrecherischen Wegen ertappt hatte. Ich schweige über das Nähere und verschiebe ausführlichere Mittheilungen bis auf persönliches Zusammenkommen.«
»Brauche ich Dir noch zu sagen, daß seit jenen Tagen unsern armen Bruder eine Melancholie befiel, die uns ernstlich um ihm besorgt machte? Aber wer, wer sollte ihn nahen, wer ihn bewachen! Sein Mißtrauen war grenzenlos, seine Heftigkeit nicht zu ertragen! Abgemagert bis zum Skelett, erkannte man ihn kaum noch. Seine Phantasieen, die ihm [] die seltsamsten und schrecklichsten Träume vorspiegelten, streiften hart an den Wahnsinn, und immer kehrte in ihnen neben tausend fratzenhaften Spukgestalten das bezaubernde, ihn beseeligende, aber auch aller Vernunft auf Augenblicke beraubende Bild des Mädchens wieder, dem er hoffnungslos sein Herz geschenkt hatte!«
»Durch den plötzlichen Tod jenes Bruders, der als angeklagter Verbrecher im Kerker saß, von Neuem ungewöhnlich erschüttert, machte er seiner Gewohnheit nach tief in der Nacht einen Besuch in der Fabrik, wo vor Kurzem die Arbeiter ihre Stellen gewechselt hatten. Lampenlicht, Mondschein, Oeldunst und Maschinengerassel verwirrten seine Gedanken – er hielt die Spinner für Geister, glaubte in dem blitzenden Glänzen einer eisernen Welle, die senkrecht vom Fußboden zur Decke sich erhebt und das ganze Werk durch alle Stockwerke treibt, das heiß geliebte Mädchen zu erblicken ... eilte darauf zu und ... ward von der Dampfkraft zerschmettert!«
»Traure mit mir um den beklagenswerthen Bruder, dessen Leiden so tragisch enden sollten! [] – Ich hatte ihn seine Wohnung verlassen sehen und war ihm, seine Stimmung fürchtend, nachgegangen, aber erst in dem Augenblicke, als die Welle ihn erfaßte, konnte ich den Saal erreichen, der seine Todeskammer werden sollte!«
»Dieser unvermuthete, nicht allein uns Brüder sondern auch Adrians sämmtliche Unterthanen tief darniederbeugende Tod ruft uns mahnend zu: Vergebt und vergeßt! Seid einander wieder liebende Brüder und lebt als solche in christlicher Eintracht! Laßt allen Groll auf immer dahin fahren und vertragt Euch, wie Brüder es sollen! – Und was, theurer Bruder, was soll uns denn eigentlich entfremden? – Haben wir uns gegenseitig um unser Eigenthum gebracht? – Nein, wir haben es in brüderlich gutem Einverständniß vermehrt! – Sind wir Schuld daran, daß alte Frevel zu sühnen waren, daß tief Gekränkten Gerechtigkeit verschafft werden mußte? – Keineswegs! – Nun und haben wir denn an unserer Ehre etwas verloren, wenn wir denen, die Gottes Wille aus der Nacht unverdienter Armuth zu uns emporhob in den mildernden und bildenden [] Sonnenschein mäßigen Besitzes, wenn wir diesen brüderlich die Hände reichen und sie neben uns wandeln lassen? – Auch dies muß ich verneinen! – Warum also noch länger getrennt und unversöhnt leben? Warum grollen und grollend vom Tode überrascht werden, wie unser armer Bruder?«
»Adalbert, laß uns großmüthig, laß uns ritterlich handeln! Nimm die Hand, die ich zu aufrichtiger Versöhnung Dir entgegenstrecke, vertrauensvoll an und laß uns treue Brüder sein und bleiben, so lange uns Gott am Leben erhält!«
»Schwere, traurige Gedanken ziehen durch meinen Geist und stören die Ruhe meiner Seele! – Mich dünkt, wir haben den ernsten Wink der Vorsehung zu spät verstanden! Schon damals sollten wir froh und frei uns einigen in Liebe, als wir die ersten Spuren entdeckten von den Fußstapfen, welche verlorene Kinder unseres Vaters in den Staub der Armuth, in den Schlamm der Erniedrigung gedrückt hatten! Es war an uns zu vergeben, zu sühnen, was ein Verstorbener vor uns gesündigt. Glücklich und beneidenswerth sind die [] zu preisen denen Gelegenheit geboten wird, Vergehungen ihrer Vorfahren durch Thaten des Segens in der Gegenwart auszugleichen! – Wir haben dies nicht so eifrig, nicht so gern gethan, wie wir sollten, ja es bedurfte erst eines so erschütternden, gewaltigen Donnerschlages, ehe wir trauernd, gebeugt und reuig zu dieser Erkenntniß kamen! –«
»In fünf Tagen soll die feierliche Beerdigung des Abgeschiedenen stattfinden. Ich weiß, Du wirst nicht dabei fehlen, denn ich kenne Dein Herz, das gern geneigt ist zum Vergeben, wenn es auf ehrliches Entgegenkommen rechnen kann.«
»Mit schmerzlicher Sehnsucht erwarte ich Dich und Beatrice, meine schöne, liebenswürdige Schwägerin, der ich mich angelegentlichst zu empfehlen bitte! Lebe wohl bis dahin Ueber den Sarg des geliebten Bruders reicht Dir die Hand zur Versöhnung
Dein treuer Bruder
Aurel.«
Die kleine Abweichung von der Wahrheit, welche sich der Kapitän in diesem Briefe erlaubte, [] glaubte er vor sich selbst rechtfertigen zu können, da es ihm zumeist daran lag, Adalbert wirklich zu aufrichtiger Versöhnung zu bewegen. Deshalb nahm er sich selbst auch gar nicht aus von denen, die ein irrthümliches Handeln sich vorzuwerfen hatten. Adalbert war Diplomat und nur auf diplomatischem Wege ließ er sich zu einem Abweichen von der einmal eingeschlagenen Bahn bestimmen.
Aurel hatte sich übrigens nicht verrechnet. Sein Bruder kam früher in Boberstein an, als der Kapitän vermuthete. Beatrice begleitete ihn. Der Empfang war zwar nicht herzlich, aber doch erwärmt. Blick, Händedruck und Bewegung Adalberts sagten Aurel, daß er seinen Zweck erreicht habe. Der vornehme, stolze Herr bat sogar, der Kapitän möge ihm seine Halbgeschwister vorstellen und stattete zu diesem Behufe einen, freilich sehr kurzen Besuch in Martells und Simsons Hütte ab. Ueber den Eindruck, welchen der einsilbige Spinner auf den Aristokraten gemacht haben mochte, sprach sich Adalbert nicht aus.
Mit großem Pomp fand am fünften Tage nach der Zerschmetterung Adrians die Beerdigung [] beider Brüder statt. Aurel glaubte die Verfolgung und Bestrafung selbst eines überführten Verbrechers nicht bis über das Grab hinaus erstrecken zu dürfen.
Die beiden geschmückten Särge, auf denen das Wappen der Boberstein prangte, wurden feierlich in die alte, noch wohl erhaltene Grafengruft eingesenkt. Außer den Leidtragenden, zu denen Aurel, Adalbert, Martell, Herta, Elwire, Maja, Simson, Paul und Sloboda gehörten, begleiteten die sämmtlichen Arbeiter ihren verunglückten Gebieter zur Gruft und weinten ihm eine Thräne des Mitleids, zollten ihm ein Wort der Theilnahme und der Verzeihung.
Ueber der Gruft reichten die bis dahin so feindlich gesinnten Brüder, Schwestern und Verwandten einander die Hände zur Versöhnung. Auch der Maulwurffänger, der gleich den Uebrigen dem Leichenconduct beiwohnte, erhielt von Adalbert und Beatrice den versöhnenden Handschlag.
Nach der Beerdigung reisten Adalbert und seine Gattin sogleich wieder ab. Er versprach Aurel, recht bald zu schreiben und ihm seine Gedanken [] über Theilung der zugefallenen Erbschaft mitzutheilen.
Man trennte sich mit der Ueberzeugung, daß die Vergehungen des alten Geschlechts zugleich mit den sterblichen Ueberresten Adrians und Johannes Klütken's gesühnt und für immer in die Gruft gesenkt worden seien. –
In derselben Nacht trugen zwei Spinner, von Aurel und Gilbert begleitet, die Leiche des Mörders nach der Torfhütte und vergruben sie in den tiefsten Moor. Ueber den schlammigen Hügel sprachen die beiden Seemänner ein stilles, andächtiges Gebet.
[] Achtes Kapitel.
Beschlüsse.
Es ist stiller Sonnabend, jener Tag vor Ostern, den der Landmann fromm und ernst zu verleben pflegt. Alle noch lebenden Glieder der Familie Boberstein mit Ausschluß von Adalbert und Beatrice sind auf der ehemaligen alten Stammburg versammelt. Aurel hat den verheißenen Brief von seinem Bruder erhalten, dessen Inhalt er den Versammelten mittheilt. Dieser Brief lautete:
»Mein theurer Bruder,
Durch den schnellen Hintritt unseres Bruders Adrian sind der Familie eine beträchtliche Anzahl Güter zugefallen, über deren Vertheilung wir uns in jener schönen Eintracht berathen wollen, die ferner unter uns obwalten soll. Als dem Nächstältesten in der Familie fällt Dir Boberstein nach Recht und Gesetz zu [] und mit Freuden sehe ich es in Deine Hände übergehen. Damit aber nicht in späterer Zeit wieder ein unglücklicher unser Geschlecht in Zank und Streit und Feindschaft verwickelnder Prozeß darüber entstehen möge, wünsche ich, daß unsere lieben Halbgeschwister von Dir entschädigt werden. Ich meines Theils verzichte auf alle Theil nahme an der Erbschaft. Ich besitze genug, um zufrieden und glücklich leben zu können. Da man Dir von jeher ein großes Zutrauen bewiesen hat, wird es für Dich nicht schwer sein, die verschiedenen gesetzlichen Miterben zu befriedigen. Wie Du dies thun willst, bleibe Dir ganz allein überlassen!«
»Adrians Tod hat mich so heftig angegriffen, daß ich mich durch eine Reise zerstreuen muß. Ich werde nach dem Orient gehen, dessen hohe Eigenthümlichkeit, dessen mysteriöse Ueberreste alter Kunst mich immer wunderbar angezogen haben. Beatrice begleitet mich. So genußreich, belehrend und bildend unstreitig eine solche Reise ist, so viele Gefahren bietet sie auch dar. Wer dergleichen unternimmt, muß zuvor mit dem Leben abschließen, muß auf ewig von seinen Lieben Abschied nehmen [] und sich betrachten als einen Todten. Darum, geliebter Bruder, wirst Du mir verzeihen, wenn ich Dir gegenwärtig mit gerührtem Herzen zurufe: Lebe wohl, lebe wohl auf ewig! Gott weiß, ob wir uns je wieder sehen in diesem Leben! Lebe wohl und grüße die Lieben, die wir vor Kurzem als unserer Familie zugehörig haben kennen gelernt! Ich wünsche ihnen recht viel Gutes und daß sie Freude an ihren Kindern erleben mögen! Gott, der sie Alle so wunderbar geführt hat, beschirme sie auch fernerhin!«
»Wenn Du diese Zeilen erhältst, bin ich schon weit von Dir! Ich habe dies vorgezogen, damit Du mich nicht mit Einwendungen bestürmen und mich wankend machen mögest in meinem Entschlusse! Die Verwaltung meiner Güter ist treuen und zuverlässigen Händen übergeben. Nochmals, lebe wohl! Im Leben und im Tode, in der Nähe und Ferne immer
Dein treuer Bruder
Adalbert.«
Aurel ward von diesem Schreiben sehr unangenehm berührt. Adalberts Reise sah vollkommen [] einer Flucht ähnlich, einer Flucht, zu welcher sich der stolze Aristokrat blos deshalb entschlossen hatte, um nie wieder mit denen in Berührung zu kommen, die er als seine Blutsverwandten hatte annerkennen, denen er die Hand zur Versöhnung hatte reichen müssen! Aurel fühlte, daß diese vornehme Freundlichkeit blos Maske war, und daß Adalbert im Herzen noch eben so grollte, wie früher. Indeß war dem Scheine genügt. Die Versöhnung war geschehen, ein freundliches Verhältniß unter den Geschwistern hergestellt, und so mußte Aurel schweigen und die Betheuerungen des geflüchteten Bruders als aufrichtig und wahr gelten lassen.
Er wendete sich darauf zu den Versammelten und sagte:
»Liebe Geschwister, Vettern und Verwandte! Als rechtmäßiger Erbe dieser Besitzungen steht mir das Recht zu, über dieselben zu verfügen, wie ich es für gut und zweckmäßig halte. Ich bin kein Fabrikant, kein Kauf- und Handelsherr, ich bin nur ein schlichter, grader Seemann, dies aber mit Herz und Seele!«
»Bravo!« rief Gilbert aus, der an der [] halboffenen Thür hochte. »Jetzt bläht eine frische Brise doch endlich wieder die Segel.«
»Daraus folgt,« fuhr Aurel fort, »daß ich diese Fabrik, der wir die Wiederkehr unseres ehemaligen Wohlstandes zu verdanken haben, nicht leiten kann, ohne ihr zu schaden, ohne vielleicht das ganze Geschäft zu zerstören und damit die Quelle unseres gemeinsamen Glückes zu verstopfen. Es ist daher, sofern Niemand Einspruch thut, mein Wille, daß statt meiner unser ältester Bruder Martell nicht blos die Leitung der Fabrik antrete, sondern auch Boberstein mit allen Pertinenzien als wirklicher Erbe übernehme!«
»So soll es sein!« sagten sämmtliche Anwesende, wie aus einem Munde und reichten dem neuen Besitzer der großen Herrschaft, der schweigend in ihrer Mitte saß, die Hände.
»Unter Martells Leitung,« sprach Aurel weiter, »wird die Fabrik gedeihen und blühen, allein ich habe noch einen andern wichtigen Vorschlag zu machen, worüber ich Eure Meinungen zu hören wünsche. Um ihn zu rechtfertigen, muß ich etwas weit ausholen. Ich erbitte mir also für einige Zeit Eure ungetheilte Aufmerksamkeit!«
»Es gibt eine sehr große Anzahl Menschen, [] welche der Ueberzeugung leben die Erfindung der Maschinen und deren Verwendung in den verschiedenartigen Fabriken sei ein unerhörtes Unglück für das gesammte Menschengeschlecht. Seit man sich ihrer bediene, nehme Armuth, Elend, Hunger, Kummer und Verbrechen unter den niedern Ständen des Volkes auf eine wahrhaft entsetzenerregende und staatsgefährliche Weise überhand! Es sei daher Pflicht jedes wahren Menschen- und Volksfreundes, mit aller Kraft auf Abschaffung der Maschinen zu dringen, den Armen neue Arbeit und hinreichenden Verdienst zu verschaffen und ihnen somit wieder zu geben den alleinigen Besitz, der ihnen geworden ist, das Kapital des Fleißes ihrer Hände! – Diese Leute, diese wohlmeinenden, aber kurzsichtigen Eiferer irren!«
»Nein, liebe Geschwister und Freunde, die Maschinen sind ein Segen Gottes, eine Wohlthat für die Menschheit! Ihre Beibehaltung, ihre Vermehrung und Verbesserung muß der Wunsch jedes Biedermannes sein; allein man muß sich ihrer nur bedienen zur Befreiung, nicht zur Unterjochung der arbeitenden Klassen! Leider ist letzteres so häufig geschehen und geschieht [] noch täglich in der gesammten civilisirten Welt, daß die Verwünschungen derer gerechtfertigt scheinen, die in den Maschinen den Untergang des Volkes erblicken. Dies muß anders werden! Aufgeklärte, humane Männer müssen dem Unfuge steuern, welchen gemeine Eigenliebe und brutaler Speculationsgeist mit einer der größten Segnungen, die das Genie des Menschen der Erde geschenkt hat, treiben. Der Maschinenbesitzer muß – gebe Gott, daß wir bald diese Zeit erleben – durch ein Staatsgesetz gezwungen werden, diese Hebel der Kraft zur Erleichterung der Arbeit zu benutzen und diejenigen, welche mittelst der Maschinen ein ungleich größeres Mehr von Arbeit liefern, auch ein Theilhaben zu gönnen an den Vortheilen dieses Mehr! Der Maschinenbesitzer, der Fabrikant, darf nicht allein den Gewinn einstreichen, es muß eine verhältnißmäßige, vernünftige Theilung zwischen ihm und seinen Arbeitern stattfinden! Geschieht dies, dann wird die Noth, die Armuth, die Unzufriedenheit, das Laster sich mindern im Volke! Dann wird der Arbeiter die Erfindung der Maschinen segnen, seinen Arbeitsherrn lieben und verehren, ihm treu und ergeben bleiben mit [] inniger Liebe, mit und für ihn dulden ohne Murren!«
»Und dahin, geliebte Geschwister und Freunde, dahin muß es kommen! Darauf laßt uns hinwirken! Damit laßt uns einen Anfang machen!«
Alle Versammelten jauchzten Aurel Beifall zu und erhoben sich von ihren Sitzen.
»Ich schlage vor,« fuhr der Kapitän fort, »und mache es meinem Bruder Martell zur unerläßlichen Bedingung, daß er seinen Arbeitern den Arbeitslohn verdoppele, daß er ihnen außerdem einen Antheil am Gesammtgewinn sichere, diesen Antheil aber nicht in baarem Gelde auszahle, sondern blos verzinse, damit zu größerem Nutzen das Betriebskapital nicht allein ungeschmälert bleibe, sondern auch von Jahr zu Jahr sich mehre! Dadurch werden dem Fabrikherrn nicht die unerläßlichen großen Geldmittel, dem Arbeiter nicht der kleine Vortheil, den er beanspruchen darf, entzogen. Auf Verlangen wird den Arbeitern am Schlusse des Jahres, Rechenschaft abgelegt über den Stand der Sachen, und je nachdem die Geschäfte sich verbessert oder verschlechtert haben, die Theilnahme der Arbeiter am [] Gewinn geregelt. Der Arbeitslohn aber darf den Arbeitenden nie und unter keiner Bedingung verkürzt werden, damit sie stets ein menschliches Leben führen können und nie erniedrigt werden zu willenlosen Sclaven! – Bist Du bereit, Martell, unter diesen Bedingungen die fernere oberste Leitung der Fabrik zu übernehmen?«
»Ohne Bedenken!« sagte Martell. »Ich will ein Mensch sein unter Menschen, nicht ein Despot unter Sclaven. Lieber will ich verhungern!«
»Dann bin ich zu Ende, meine Lieben. Vollbrecht, der fleißige, gewissenhafte und umsichtige Geschäftsführer unseres verstorbenen Bruders ist bereit, dem kaufmännischen Theile des Geschäfts wie bisher vorzustehen. Seine Rechtlichkeit ist eben so anerkannt, wie seine milde Gesinnung. Alle Arbeiter lieben und vertrauen ihm. Sie werden auch seinen Worten Glauben schenken, wenn er am Schluß des ersten Jahres ihnen Rechenschaft ablegt und mittheilt, welcher Antheil am Gesammtgewinn ihnen zufällt.«
»Seine Rechtlichkeit soll mir Vorbild sein,« sagte Martell.
»Was nun mich betrifft, meine Freunde,« [] fuhr Aurel mit größerer Lebhaftigkeit fort, »so habe ich Lust mein altes Leben wieder zu beginnen. Unsere überseeischen Verbindungen und Besitzungen verlangen bisweilen einen raschen Inspector. Ueberdies ist mir ein Leben ohne Wagniß und Abenteuer zur Last, denn der ächte Geist der Boberstein, ich hoffe im edelsten Sinne des Wortes, schäumt und tobt in meinen Adern. Daher, Geschwister, Neffen, Freunde, werde ich in diesem Frühjahr wieder zur See gehen.«
»Zu Befehl, Herr Kapitän!« sagte Gilbert, die Thür öffnend und militärisch grüßend. »Ich bin bereit, in jedem Augenblick die Anker zu lichten.«
»Du sollst mich begleiten, braver Junge und, verschlingt mich dereinst eine Sturzsee, mein wackerer Nachfolger werden.«
»Hurrah!« schrie Gilbert aus Leibeskräften, wie toll seinen bebänderten Matrosenhut schwenkend. »Es lebe Kapitän Aurel, hoch!«
Alle Anwesenden stimmten in die tolle Lustigkeit des muntern Burschen ein und brachten dem braven uneigennützigen Manne ebenfalls ein Lebehoch.
Noch während desselben zeigte sich der Maulwurffänger, [] der an dieser Verhandlung keinen Theil genommen hatte. Seine Mienen waren traurig, sein ganzes Wesen ernst und feierlich.
»Was bringst Du?« fragte Aurel erschrocken.
»Wenn der Herr Kapitän mit Ihren Ge-Geschäften zu Ende sind,« versetzte Pink-Heinrich, »so möchte ich Sie ersuchen, mit Ihren lieben Angehörigen in größter Eile in Martells bisherige Behausung zu kommen.«
»Ist ein Unglück geschehen?« fragte Martell.
»Kein Unglück, ach nein, aber Lore säh' es doch gern, wenn ihr alter Vater Dich segnen könnte, bevor er hinübergeht.«
»So plötzlich?« versetzte Martell »Und ich verließ ihn doch ganz munter heut Morgen!«
»Es ist stiller Sonnabend,« bemerkte der Maulwurffänger, »und da lieben es alte frommgläubige Väter, Abschied vom Leben zu nehmen.«
»Nun so laßt uns aufbrechen!« sagte Aurel. »Bis her ist uns der Tod nur in schrecklicher Gestalt [] begegnet, sehen wir jetzt, wie er sich einem Gerechten naht.«
Die Versammlung verließ die prunkende Wohnung des Reichthums, um in der Armuth Hütte einzukehren und dem Tode des greisen Spinners beizuwohnen.
[] Neuntes Kapitel.
Das Ende des Gerechten.
Schon in einiger Entfernung von der ärmlichen Hütte vernahm man den gedämpften Gesang eines Kirchenliedes. Die Stimmen waren nicht grade sehr rein und angenehm, kamen aber aus bewegten Herzen und ergriffen deshalb die Hörer. Der Gesang klang feierlich und erhebend zugleich in der dämmernden Abendstille, die sich über See und Haide bereits auszubreiten begann.
Beim Eintritt unserer Freunde gewahrten sie einige Nachbarn, die auf den Knieen lagen und mit thränenfeuchten Augen das alte Kirchenlied:
»O Haupt voll Blut und Wunden etc.«
andächtig absangen. Traugott hatte noch einmal [] vor seinem Hingange die kräftigen Worte dieses vortrefflichen, geistesstarken Liedes zu vernehmen gewünscht. Von Lore gestützt, saß er auf dem Lager hinter dem Ofen, hielt die abgemagerten Hände über der Brust gefaltet und sprach, die gläubigen Augen heiter zum Himmel gerichtet, für sich das Lied in stillem Gebet nach.
Die Freunde störten die Andächtigen nicht in ihrem Gesange. Schweigend beugten auch sie ihre Knie und stimmten zum Theil mit in das Lied ein, wie z.B. der Maulwurffänger und Sloboda. Erst als der Gesang endigte, drängte Martell mit einigem Ungestüm zum Sterbelager des ehrwürdigen Greises, beugte sich mit Heftigkeit über ihn und fragte besorgt:
»Wie geht es, Vater? Soll ich nicht nach dem Doctor schicken?«
Traugott drückte dem Schwiegersohn matt die Hand und schüttelte lächelnd sein Haupt.
»Der Herr kommt,« sagte er flüsternd, »und der ist der beste Doctor. – Aber setze Dich zu mir, mein Sohn, und höre ... was ich Dir sagen werde ... Ihr Andern, Nachbarn und gute Freunde, auch Ihr könnt meine Worte in einem feinen Herzen bewahren, denn ... sie [] werden Euch keine Gewissensbisse verursachen ... auf dem Sterbebette und am Tage des Gerichts.«
Er schwieg eine lange Zeit, um Athem zu schöpfen und seine letzten Kräfte zu sammeln. Christel, seine jüngste Enkeltochter zündete die Lampe an, bei deren flimmernden Schein die Mutter gar manche Nacht am Webstuhl den kalten morgen herangewacht hatte, und stellte sie auf den Ofensims, daß ihr Schimmer auf das welke Gesicht des sterbenden Großvaters fiel.
»Mein Sohn,« nahm jetzt Traugott das Wort wieder auf, »so arm wie ich, wills Gott, noch heut aus der Welt scheide, um morgen mit Jesu Christo das Auferstehungsfest im Himmel zu feiern, so arm trat ich in die Welt, so arm lebte ich an die achtzig Jahre!.. Es heißt etwas, ein solches Leben zurückzulegen; es erfordert nicht blos Mühe und Geduld, es erfordert vor Allem Glaube und Liebe und Gehorsam! ... O Martell, ich kenne Dein Herz und weiß, daß es im tiefinnersten Grunde gut ist und rechtschaffen, aber Glaube, Liebe und Gehorsam, – diese drei – sie haben darin nicht ihre bleibende Stätte gefunden.«
Martell wollte dem Greise antworten, [] dieser aber machte eine abwehrende Bewegung.
»Unterbrich mich nicht, laß mich endigen, denn meine Zeit ist kurz.«
Traugott holte einigemal tief Athem, dann fuhr er fort:
»Sieh, mein Sohn, so arm ich war und blieb bis auf den heutigen Tag, so fröhlich schlug doch immer mein Herz auch unter den härtesten Bedrängnissen!.. Du wirst sagen, das mache mein glückliches, heiteres Temperament, ich aber rufe dagegen, das machte der Glaube, aus dem Liebe und Gehorsam, die beiden sichersten Führer durch die Irrwege der Welt, uns erwachsen ... Ach warum lacht die heutige Welt über den Glauben, warum kennt sie die Liebe nicht, warum will sie den Gehorsam nicht mehr? ... Am Abend meines Lebens kommt mir dies vor wie ein Frevel an der heiligen Lehre des Sohnes Gottes und es will mir scheinen, als müsse daraus nur Böses entstehen, Unfrieden und Blutvergießen!« ... »Liebet einander!« sagte der sterbende Evangelist Johannes, und »liebet einander!« rufe auch ich Euch zu als die letzte väterliche Mahnung.
[] »Du bist ein reicher Mann geworden, habe ich mir sagen lassen,« sprach Traugott weiter und seine Stimme ward von Secunde zu Secunde schwächer, »ein vornehmer, großer Graf! Das verstehe ich nicht, aber es mag wohl gut sein, da es Gott so gefügt hat!.. Wird es Dich und Deine Kinder auch glücklicher machen? ... Wird es Dir die Liebe wieder geben, die aus Deinem Herzen entschwunden war ob der Ungerechtigkeiten, welche Einzelne Dir zugefügt hatten? ... Wirst Du jetzt wieder glauben lernen und den Gehorsam als eine hohe Tugend achten? ... Wo das nicht geschieht, mein armer Sohn, dann wünschte ich, Du lägest neben mir und führst zugleich mit meinem grauen Haupt in die Grube!«
»Beruhigt Euch, Vater –«
»Still! Keine Versprechungen! Keine Eide! ... Seit die Welt so rasch bei der Hand ist mit dem Schwur, seitdem sind Vertrauen und Ehrlichkeit noch seltener geworden als klingende Münze! ... Nun es mag sein ...«
»Gönnt Euch Ruhe, Vater!« bat Lore. »Der Athem geht Euch aus!«
»Laß ihn, werde ich doch bald Paradiesesluft[] schlürfen,« versetzte Traugott mit verklärten Zügen. »Der Graf von Boberstein, der ein Bruder von Dir gewesen sein soll,« fuhr Traugott fort, »der hartherzige Herr am Stein ist begraben worden, ... die Maschinen, die er mißbrauchte, haben ihn zerrissen ... die Welt nennt das Strafe, Gottesgericht ... Wie sie doch ungerecht ist! ... Kann sie wissen, warum Gott den begrabenen Mann mit solch einem Herzen von Marmelstein schuf und über so viele Menschen setzte als obersten und gewaltigen Gebieter? ... Er hatte seine heiligen großen Zwecke, ich zweifle nicht, aber die Welt, die arme, sünhafte Welt mag nichts hören von Züchtigung, und darum grollt sie und schreit nach Rache, wenn sie die strafende Ruthe des Herrn fühlt! ... Du hast oft gemurrt, Martell, wenn Noth und Krankheit bei uns einkehrten, darum versprich mir, von jetzt an nie mehr gegen die Vorsehung zu murren, wenn Du ihre Wege auch nicht begreifen kannst!«
Martell legte seine zitternde Hand in die seines Schwiegervaters.
»Blicke zurück und Du wirst einsehen, daß die Pfade gut waren, welche der Herr Dich [] geführt! ... Siehe, ohne jene Bedrückungen, unter denen wir und alle unsere Brüder leiden mußten, wären niemals die alten Frevel ans Tageslicht gekommen und Du .. würdest als armer Spinner gestorben sein! ... Das lehrt uns nachdenken, das mahnt uns demüthig, bescheiden und fromm zu sein! ... Es geschieht nichts zwischen Himmel und Erde, das der Herr nicht kennt, von dem er nicht will, daß es geschehen soll, warum also wollen wir zagen und zittern? ... Glaubet nur und Ihr seid glücklich! Liebet und Ihr urtheilet mild! Gehorchet gern und man wird Euch mit Freuden dienen! ...«
Der Greis sank völlig entkräftet von dem langen Sprechen zurück auf sein dürftiges Lager und schloß die Augen. Lore küßte ihn wiederholt auf die erkaltenden Lippen und die beiden Enkeltöchter erfaßten weinend seine Hände.
»Habt Ihr mir vergeben Vater?« fragte Martell.
»Ich habe nichts zu vergeben,« murmelte der Sterbende, ohne die Augen zu öffnen. »Ich wollte nur mein Herz noch einmal ausschütten ... vor meinem Tode und mich rechtfertigen [] ... meines Tadels wegen ... den ich manchmal .. gegen Dich .. ausgesprochen .. Wie sie so schön singen!..«
»Wer, Vater?« fragte Lore. »Die Nachbarn beten still für sich, es singt Keiner.«
»In lieblichen Tönen ... in sanften ... reinen Silberstimmen ... Und wie die Sonne glänzt ... dort ... über den ... Bergen! ...«
»Er schwärmt!« sagte Aurel. »Die Seele ringt sich los von den Banden des Körpers.«
»So sterben Dulder und Gerechte,« sagte der Maulwurffänger und legte seine Hand auf die Stirn des alten Spinners.
»Sie ist schon ganz kalt. Bald wird es mit ihm vorüber sein.«
»Ueber mir ... unter mir ... Alles ... blauer, sonniger .. Himmel! Die Orgel tönt ... der Ostermorgen tagt .. Sie singen Alle ... Alle .. Alle:
O Haupt voll Blut und Wunden etc.«
Und ganz leise und zitternd stimmte der Sterbende nochmals sein Lieblingslied an. Unwillkürlich fielen die Versammelten einer nach dem andern mit ein und unter diesem erhebenden Gesange [] schlummerte Traugott ohne Todeskampf in ein besseres Leben hinüber.
Martell, Lore und ihre Kinder neigten schluchzend ihre Häupter über den Todten, über den Armen, der nie sein Kreuz zu schwer gefunden hatte und nur Dank, innigen Dank gegen Gott auf der Lippe, glücklicher gestorben war, als tausend Reiche.
»Wir wollen die Trauernden nicht stören,« sagte der Maulwurffänger. »Es ist schon der Mühe werth, einen solchen Vater zu beweinen!«
Still schlichen sich Freunde und Nachbarn aus dem Sterbezimmer. Als eine Viertelstunde später Martell und Lore sich wieder aufrichteten waren sie allein. Zu Füßen des Lagers knieten betend die beiden Schwestern. Das kleine Flämmchen der Lampe brannte düster und das Silberlicht des Vollmonds wob um das Greisenhaupt Traugotts einen verklärenden Heiligenschein.
[] Zehntes Kapitel.
Der letzte Geburtstag.
Der Maulwurffänger hatte seinen Sonntagsrock angezogen, den wohl gebürsteten dreieckigen Hut aufgesetzt und stand wartend mitten in der Wohnstube seines kleinen, saubern Häuschens zu B .... In ähnlicher Kleidung, nur weniger accurat und reinlich, saß Schlenker auf der Ofenbank, die zinnerne Tabaksdose häufig unruhig auf- und zuklappend.
Ein Wagen, mit zwei jungen muthigen Füchsen bespannt, fuhr vor. Pink-Heinrich schüttelte den Kopf, stampfte ungeduldig mit seinem Schlehdornstecken auf die Diele und sagte:
»Na, da haben wir's! Krücken-Gottlobs-Friedel, (so genannt, weil sein Vater Gottlob an Krücken ging), hält schon vor der Thür und [] mein Bruder kommt immer noch nicht! Wo er nur bleibt!«
»Mein Gott, wo wird er bleiben!« versetzte Schlenker. »Wo er immer steckt, zu Hause. Er trödelt gar mit tausend Schrecken!«
»Hast Du ihn nicht gesehen, da kommt er über die Wiese hergestiefelt!« sagte der Maulwurffänger, sein würdiges Gesicht zu ironischem Lachen verziehend. »Nimm Dir Zeit, Bruder Schulmeister, sonst kannst Du noch eine Lerche schießen, daß Dir acht Tage lang die Ohren gellen! – Friedel,« rief er durch das Schiebefenster dem jungen Burschen am Wagen zu. »Krempele die Plane auf, daß man eine Umsicht hat! Das Wetter ist schön heut und die Luft würzig und warm. Obgleich wir drei alte Knackse sind, vertragen wir doch noch ein Bissel Zugluft. Nicht wahr?«
»Natürlich, natürlich, ganz Natur!« sagte Gregor, der eben ins Zimmer trat, als der Maulwurffänger diese Frage an Schlenker richtete.
»Aber wo steckst Du denn, Bruder Schulmeister?« rief ihm Pink-Heinrich zu. »Es geht schon auf zwölf, wir haben noch einen langen Weg zurückzulegen und um vier sollen wir doch [] schon auf dem Zeiselhofe sein! Da ist's höchste Zeit, daß wir aufbrechen!«
»Aufbrechen, natürlich! Dennoch mußte ich mein Chronikon erst schließen! – Jetzt geht kein Sterbenswort verloren, ganz Natur!«
»Wovon, Bruder Schulmeister?«
»Von der grausamverwickelten, in vielem Betracht erschrecklichen, dabei aber wiederum hochlehrsamen und moralischen Geschichte, welche anhob mit dem sonderbaren Betragen des hochseligen Grafen Magnus von Boberstein, genannt Blauhut. Selbige Geschichte ist nunmehr von meiner Hand sorgfältig zu Papier gebracht bis auf den heutigen Tag, und zwar leserlich, höchst leserlich, natürlich!«
»Hast Du auch nichts vergessen?«
»Nichts Wesentliches. Und weil heut des Mannes Geburtstag ist, der unverschuldet durch sein schönes Tochterlein Rose oder Röse, genannt Haideröschen, Veranlassung gab zu so traurigen Vergehungen und herzbrechenden Ungerechtigkeiten, darum wollte ich ihm und seinen nunmehr gesetzlich anerkannten Nachkommen dies wohlausgearbeitete und schön niedergeschriebene Chronikon zum Präsent machen.«
[] »Und darum kommst Du so spät?«
»Natürlich! Und hätte mir beinahe den Fuß vertreten.«
»Es ist meiner Six mit tausend Schrecken!« sagte Schlenker, den Schulmeister mit einer Art von Verwunderung betrachtend. »Ich hätt's Euch nicht zugetraut, verzeih' mir's Gott; nun aber, da Ihr's doch zu Stande gebracht habt, nun flößt Ihr mir, so zu sagen, einen ehrfürchtigen Respect ein. Glaubt Ihr's, Schulmeister?«
»Glaub's. Ganz Natur!«
»Und ich glaube,« sagte der Maulwurffänger, »es wird jetzt ebenfalls sehr natürlich sein, wenn wir einsteigen und die beiden Füchse austraben lassen, was Zug und Zeug hält. Ist's also genehm, so bitt' ich, einen Anfang zu machen! Unter der Plane können wir noch schwazzen, daß alle Sterne blau davon anlaufen.«
Von dem jugendlichen Fuhrmann unterstützt, bestiegen die drei Alten den leichten Wagen, der nun rasch auf der wohl erhaltenen Straße den Königshainer Bergen entgegen rollte, die im duftigsten Blau ihre malerischen Gipfel über das Blachfeld erhoben.
»Es wird heut just ein Jahr sein,« sprach [] der Maulwurffänger, »daß ich die wichtige Schrift fand, der unsere Freunde eine so wunderbare Umgestaltung ihrer Verhältnisse zu verdanken haben. Gott weiß, wie lange ich noch zwischen Himmel und Erde herumspazieren darf! Deshalb will ich am heutigen Tage doch wieder einmal das Bergrevier besuchen und mich recht lebhaft aller Glücks- und Leidenstage erinnern. Ich bin lange nicht mehr zum Todtenstein gekommen!«
Er rief nun dem Kutscher zu, vom graden Wege abzubeugen und nach dem genannten Gebirgsstock einzulenken. Da die Pferde jung und kräftig waren und fast ununterbrochen lustig galoppirten, so erreichten die Greise in verhältnißmäßig kurzer Zeit den Fuß des Todtensteines. Hier ließ der Maulwurffänger halten, fragte seine Begleiter, ob sie mit ihm die Berglehne ersteigen wollten, und schritt, da er bejahende Antwort erhielt, rüstig den holprigen Fußsteig hinan.
Auf einem Kreuzwege rastete er, da Gregor und Schlenker ihm nicht so schnell folgen konnten.
»Wo nehmt Ihr nur die Kräfte her, Ihr Tausendsasa!« sagte Schlenker puhstend, indem er sein blau-und rothgewürfeltes, mit Tabakflecken romantisch gezeichnetes Taschentuch mühsam [] aus der breiten Klappentasche des viertelhundertjährigen Rockes hervorzog, den Dreikantigen abnahm und sich den perlenden Schweiß von der Stirn wischte. »Es ist mit tausend Schrecken, was Ihr noch laufen könnt!«
»Ganz Natur!« sagte Gregor mit größter Ernsthaftigkeit, die Hände auf den Knopf seines Stockes legend und die Gegend mit freudigem Auge überblickend. »Wir leben doch in einem herrlichen Landstriche, Gott segne ihn ewiglich!«
»Ist es mir doch, als wäre die Geschichte erst gestern passirt,« bemerkte der Maulwurffänger, nachdenklich den Ort betrachtend, wo er rastete. »Ja, Freunde, ich möchte einen körperlichen Eid ablegen, daß wir uns genau auf der Stelle befinden, vor welcher vor nunmehr dreiundvierzig Jahren Graf Magnus das liebliche Haideröschen entführte! Dort liegt die Meierei, ihre weißen Schornsteine aus den Saftgrün der Buchen glänzend emporstreckend, und jenseits der bewaldeten Hügelkette führt die Straße nach dem Zeiselhofe! Wer hätte damals gedacht, daß dieser freche Raub eines leibeigenen Mädchens so viel Unglück über die hohe Familie des Räubers [] verhängen und ein ganzes Geschlecht beinahe dem zeitlichen und ewigen Untergange nahe bringen würde! – O die Wege des Herrn sind wunderbar, aber immer, immer gerecht!«
»Immer gerecht!« wiederholte Schlenker, der durch lebhaftes Kopfnicken dem Maulwurffänger seinen Beifall zu erkennen gab. Gregor stieß ein trockenes, »natürlich« aus und haspelte neben dem stark ausschreitenden Bruder die Berglehne vollends hinan.
Trotz Schlenkers Abmahnen, der seiner lahmen Arme wegen alles Klettern vermeiden mußte, und den Maulwurffänger auch nicht mehr die nöthige Gewandtheit zutraute, schwang sich Pink-Heinrich doch die Stufen in dem zerklüfteten Felsen hinauf und erschien nach wenigen Minuten auf der Platform desselben. Der Schulmeister der dem Bruder zu folgen Anstalt machte und auch den besten Willen dazu hatte, mußte das schwierige Unternehmen aufgeben. Seinen steifen Gliedmaßen fehlte es an aller Geschicklichkeit so halsbrecherische Pfade ohne Fall und Sturz wandeln zu können.
Der Maulwurffänger begnügte sich mit kurzer Umsicht. Dann bückte er sich, riß aus einem [] Felsenspalt frischgrünes Hauswurz und kam fast springend wieder herab zu seinen Gefährten.
»Jetzt kann's wieder fortgehen, alte, ehrliche Seelen,« sagte er heiter. »Ich habe mich wahrhaft erquickt an der prächtigen Aussicht und in den Lüsten der Erinnerung, die da oben das alte Gestein umsäuseln. Ich werde lustig sein, wie ein Junggeselle, dem ein liebes Mädel zum ersten Mal verheißungsvoll in's Auge schaut. Auf, auf nach dem Zeiselhofe!«
Noch vor der festgesetzten Zeit erreichten die Greise diesen alten, stattlichen Edelsitz, der heut' überaus belebt war. Aurel und Gilbert, Beide festlich gekleidet, empfingen die Freunde und geleiteten sie in das Herrenhaus. Hier kamen dem Maulwurffänger lauter bekannte Gesichter entgegen. Es war nämlich die ganze Familie Boberstein zum Geburtstage des alten Wenden auf dem Zeiselhofe zusammen gekommen. Selbst Vollbrecht, dessen geräuschlosem Wirken man viel zu verdanken hatte, fehlte nicht. Martell und Lore mit ihren beiden Töchtern, jetzt alle zwar einfach, aber gut und reinlich gekleidet, Maja und Simson mit ihrer vom Hungertode verschonten Tochter, der kräftige Paul, der ausgelassene Gilbert, [] die jetzt wieder still gewordene schöne Bianca, und endlich die glückberauschte Elwire mit Herta: Alle, Alle umschlang nunmehr ein gemeinsames Band der Liebe und des Friedens! Denn Frieden, der Frieden schwergeprüfter Herzen, durch Unglück geläuterter Seelen war über jeden Einzelnen dieses wunderbar geführten Geschlechtes gekommen. Selbst Martell, obwohl seine Gesundheit litt und seine Kraft gebrochen war, schien doch mit dem Schicksal ausgesöhnt zu sein, das ihn so furchtbare Wege geführt, so nahe an verderbenschwangere Abgründe gestoßen hatte. Wie früher, war er auch jetzt noch still und von wenig Worten, aber sein Auge blickte klar und heiter und der milde Sonnenglanz der Liebe, der Vergebung blitzte wieder in der dunkeln Pupille auf.
Den allverehrten Mittelpunkt des festlichen Tages bildete Jan Sloboda. Nach so vielen glücklich durchgekämpften Lebensstürmen wollte der alte Wende eingedenk bleiben seiner Abstammung und seiner früheren Leiden. Deshalb legte er heut', was er seit langer Zeit nicht gethan hatte, den glänzenden Lederriemen, das Zeichen ehemaliger Knechtschaft, wieder um Haar und Stirn [] und wandelte in seiner schlichten Kleindung, das starke silberne Haar von braunem Hornkamm im Nacken festgehalten, wie ein greiser Heros durch die ihm zu Ehren geschmückten Zimmer.
Man verbrachte den Tag heiter, ohne ausgelassen zu sein, was bei den traurigen Erinnerungen, die jedem Einzelnen der Versammelten sich aufdrängen mußten, moralisch unmöglich war. Spät Abends, als von dem Bedienten die Lichter angezündet wurden, bemerkte der Maulwurffänger, daß man der ereignißvollen Vergangenheit wegen auch derer gedenken möge, welche mittelbar zur Enthüllung der vielen Geheimnisse beigetragen hätten, die anfangs ihren Bestrebungen kein vortheilhaftes Ende verhießen.
»Ich vermisse die gute blinde Mutter, Marie, Leberechts getreue Ehefrau, nebst Vater und Sohn,« sagte der wackere Mann. »Sie haben uns Allen wesentliche Dienste geleistet und, wenn wir ehrlich sein wollen, für das Haus Boberstein Gesundheit und Leben mehr denn einmal in die Schanze geschlagen. Ich schlage daher dem vielgereisten Herrn Kapitän und seiner hohen Verwandtschaft in aller Demuth vor: machen wir den Armen, die sich am heutigen Tage nicht mit[] uns hier in Glanz und Wohlleben freuen können, sammt und sonders einen Besuch in ihrer bescheidenen Wohnung. Sie werden sich geehrt und glücklich fühlen durch solche Aufmerksamkeit. Und ich, meine Herrschaften, ich bin der Meinung, daß die Gesindestube just der rechte Ort ist, wo wir heut allesammt hingehören. Denn aus ihrem dunkeln Bereiche sind alle diejenigen hervorgegangen, die in spätern Jahren die Stützen und Träger des uralten Geschlechtes der Grafen Boberstein sein und bleiben sollen. Es lebe also die Gesindestube!«
Des Maulwurffängers Antrag fand lebhafte Unterstützung; ehe man jedoch zur Ausführung schritt in der Weise, wie Pink-Heinrich es vorschlug, schickte der Kapitän seinen Merkur Gildert erst als Gesandten an die Bewohner der Gesindestube ab, um diese auf den ihrer wartenden Besuch vorzubereiten und die Dienstboten während der Dauer desselben zu entfernen.
Mit lautem Hurrah kehrte der junge Matrose zu rück, verkündete der zahlreichen Gesellschaft, daß Leberecht und Marie bis zu Thränen gerührt dem verheissenen Besuche ihrer großmüthigen [] Beschützer erwartungsvoll entgegensähen und sich innigst darauf freuten.
Unverweilt brach nun die Versammlung unter Vortritt mehrerer Bedienten auf, die jedoch an der Zuschlagthüre der Gesindestube die Weisung erhielten, sich wieder zu entfernen. Elwire, von Jugend, Glück und Schönheit strahlend, geleitete den alten Wenden, der lächelnd seine feenhafte Führerin betrachtete. Herta mit Aurel, Bianca und Vollbrecht, und hinter diesen die Uebrigen schlossen sich paarweise an und nahmen, wie sie einander folgten, Platz auf Schemeln und Bänken an der langen fichtenen Tafel, an deren beiden Enden lohende Kienspäne brannten, wie dies seit Jahrhunderten gebräuchlich war. Am obersten Ende quervor auf etwas erhöhtem Stuhl, dem einzigen, den es in diesen Räumen gab, mußte der greise Wende, der Held des Tages, niedersitzen, von Herta und Elwire umgeben. Diesem gegenüber am untersten Ende auf der Ofenbank saß die blinde Marie zwischen Leberecht und Eduard. Aurel ließ von Paul und Gilbert einige Karaffen edlen Weines holen, um die Gesundheit Slobodas in diesen Umgebungen mit den Versammelten zu trinken. Lebhaft und [] herzlich fielen alle in das wohlgemeinte Hoch ein.
Als es wieder ruhig geworden war, erhob sich Aurel nochmals um der Gesellschaft seine Verlobung mit Elwire anzukündigen. Dabei ergriff Gilbert rasch die Gelegenheit, um seine schöne, zukünftige Kapitänin leben zu lassen und auf ihr Wohl mehr als ein Glas zu leeren.
»Der vorlaute Bursche hat Recht,« sagte Aurel, da einige noch Zweifel in den schon früher ausgesprochenen Entschluß des Grafen zu setzen schienen. »Es ist mein fester Wille, nach dem Pfingstfeste aus Eurer Mitte zu scheiden, meine Lieben! Ich werde mein Schiff ›die Hoffnung‹ wieder besteigen, aber diesmal nicht allein. Ein Engel, ein Engel des Glückes, der Liebe, des Friedens wird mich begleiten. Elwire wird mein Weib und Schutzgeist sein! – Vernehmt nun an diesem Freudentage, der nach so langem Jammer den Anfang einer schönern Zukunft verkündet, vernehmt jetzt von mir, daß ich den dritten Theil meines Vermögens allen Armen und Hilfsbedürftigen schenke, die auf Bobersteinschem Grund und Boden geboren worden sind und daselbst leben! Ich habe mehr als ich bedarf, [] ich bin kräftig und unternehmend, und da ich einer guten Sache diene, wird Gott meine Bemühungen segnen. Vor meiner Abreise werde ich die nöthigen Papiere über diese Schenkung und wie ich sie zum Besten der Darbenden angewendet wissen will, in Vollbrechts Hände niederlegen. Auf das Wohl und ein besseres Loos der arbeitsamen Armen!«
Freudig stimmte Jeder auch in diesen Toast ein, der ebenso die Menschenliebe wie die Großmuth des Kapitäns kund gab. Elwire lächelte dem Geliebten glücklich zu und führte auf sein Wohl das volle Glas nippend zum schönen Munde.
»Nunmehro mag es aber gut sein,« fiel der Maulwurffänger in seiner trockenen Weise ein. »Das viele Trinken, treibt's Einer auch noch so vorsichtig, macht einem zuletzt doch schwer im Kopfe, und davon, muß ich sagen, bin ich kein aparter Liebhaber. Statt also das Gesundheittrinken fortzusetzen, was eine ganz hübsche Sitte ist, wenn's nicht zu lange dauert, hätte ich mit Verlaub einen Vorschlag zu machen, der mir passend scheint.«
»Und dieser besteht?« fragte Aurel.
[] »Worin er bestehen wird, hängt nicht ganz allein von mir ab. Ich will blos in Anregung bringen, daß wir heut den Geburtstag unsers wackern Freundes, des braven, ehrwürdigen Jan Sloboda, des letzten Wenden, der leibeigen gewesen ist, feiern. Zugleich begehen wir, so zu sagen, auch den Begräbnißtag aller Sclaverei, wenn jeder Herr die hohen Gesinnungen des Grafen Aurel zu den seinigen macht, was Gott geben wolle! Ein solcher Freudentag muß, dünkt mich, gefeiert werden, in mannichfacher Weise, namentlich aber auf wendische Art, da Sloboda dem wendischen Stamme von Geburt angehört.«
»Mir recht, so erfahre ich 'was Neues,« flüsterte Gilbert Bianca zu, hinter deren Schemel er sich meistens aufhielt. »Die Wenden sollen merkwürdige Einfälle haben.«
»Bilden wir uns ein,« fuhr der Maulwurffänger fort, »wir hätten uns hier eingefunden zur Spinnte –«
»Ja, ja, zur letzten Spinnte!« fiel Sloboda ein, sein greises Haupt in Erinnerung an die traurige Vergangenheit bedeutungsvoll neigend. »In der letzten Spinnte beschlossen sie den Besuch am Todtenstein! – Es ist seltsam – seltsam!«
[] Er stützte die müde Stirn, umfangen von dem Riemen ehemaliger Knechtschaft, in die hohle Hand und lächelte still für sich. Freudige Verklärung breitete sich über seine abgespannten Züge.
»Denken wir,« sprach der Maulwurffänger weiter, »die Spinnräder schnurrten, die Weifen klapperten! Es würde an die Thür geklopft und ein Dudelsackpfeifer träte mit vielen Bücklingen ein und verspräche ein lustiges Stücklein zu pfeifen! Davon wachten die schläfrigen Geister auf, würden heiter, lustig, ausgelassen – begönnen Volkslieder zu singen und Tänze aufzuführen und schlössen zuletzt, wie's Sitte ist beim Volk der Wenden, mit –« (hier ließ der Maulwurffänger den Kopf hängen und schwieg).
»Nun, womit denn?« fragte Gilbert.
»Hole mich Der und Jener, ich weiß nicht, ob ich's rund heraussagen darf, denn 's fällt mir eben ein, daß außer Jan Sloboda kein geborner Wende unter uns ist, und dann, seht, dann habe ich mich selber zum Narren gehabt!«
»Kann jetzt nichts helfen, mein Freund!« sagte Aurel. »Ihr habt angefangen, seht nun zu, wie Ihr zu Ende kommt!«
[] »Meinethalb denn! – Ich dächte also, wir schlössen nach wendischer Sitte mit Erzählung einer der Geschichten, wie sie im Munde des wendischen Volkes leben und an langen Winterabenden während der Spinnte erzählt werden.«
»Der Vorschlag ist gut, wenn nur der Erzähler sich findet,« meinte Herta.
»Eigentlich,« sagte der Maulwurffänger, »dachte ich dabei an die blinde Marie, denn ich weiß, daß sie ehemals in den wendischen Liedern und Geschichten fast eben so bewandert war, wie Sloboda's Tochter.«
»Wie mein Haideröschen, das arme Kind! Gott beglücke sie in seinem Paradiese!«
»Wirst Du mich in Schande bringen, Marie?« fragte Pink-Heinrich die Blinde, ihre Hand erfassend. »Suche in Deinem Gedächtniß, und ich möchte wetten, daß im verborgensten Fache des Betkästchens eine Perle ersten Wassers herumkollert, die sich auf Deiner Zunge in den allerfeinsten geistigen Honigseim verwandelt.«
Marie lächelte, drückte dem Jugendfreund die Hand und sagte:
»Laß mir eine Weile Zeit, Maulwurffänger! Alles hab' ich noch nicht vergessen, aber es [] ist wüst durch einander geschüttelt worden durch die vielen harten Stöße, die mein armer Kopf in diesem drangvollen Leben aushalten mußte.«
»Besinne Dich, Mutter, und die Engel im Himmel sollen Dein Lobpreisen!«
»Die Engel werden ihr Lobpreisen,« wiederholte in seiner Geisteszerstreuung der Wende, seine hellblauen Augen zum Himmel aufschlagend. »Sie war schon auf Erden ein Engel.«
Es trat eine kurze Pause ein. Das monotone Schrillen der Heimchen in den Wänden unterbrach allein die allgemeine Stille. Da erhob Marie anmuthig lächelnd ihr auf die Brust geneigtes Haupt, ließ die erblindeten glanzlosen Augen über die Gesellschaft gleiten, als könne sie jeden Einzelnen erblicken, und sagte:
»Deutlich erinnere ich mich blos einer einzigen Geschichte, die ich zu erzählen bereit bin, so gut ich's vermag. In manchem Betracht kann sie uns Allen zur Beruhigung dienen und uns über das Schicksal derer trösten, die unfreiwillig, in ihrer Sünden Blüthe, aus dem Leben schieden.«
»Ohne Einleitung erzähle! Jedes Wort soll uns ein Evangelium sein.«
»Natürlich!« sagte Gregor zu Schlenkern [] der in dieser Bemerkung des Maulwurffängers eine Art Gotteslästerung erblicken wollte und sich zu einer Predigt in Bereitschaft setzte. Bevor er jedoch zu Worte kommen konnte, hatte sich Marie des Gespräches bereits wieder bemächtigt und trug den aufmerksam Lauschenden folgende mährchenhafte altwendische Erzählung vor.
Lipskulijans Bett.
»Es war aber ein armer Mann, der sich fast nicht mehr ernähren konnte und doch hatte man ihm noch große Abgaben auf sein Haus gelegt. Und er mußte auf's Stöcke-Roden gehen. Und als er eines Tages auch sehr traurig in die Haide ging, begegnete ihm ein Männchen, das ihn fragte: Weshalb bist Du so traurig? Der arme Mann antwortete ihm: Du kannst mir auch nicht helfen. – Wer weiß? sagte das Männchen, sage mir es, so will ich Dir helfen.«
Der arme Mann erzählte ihm, daß er in großer Noth sei und daß es ihm unmöglich wäre, die Steuern zu geben. – Darauf sagte das Männchen: Wenn Du mir das versprichst, wovon Du in Deinem Hause nichts weißt, so will ich Dir helfen. – Der arme Mann gedachte bei [] sich: Das kannst Du, Du weißt ja Alles, waß Du in Deinem Hause hast. – Hierauf brachte das Männchen ein Stück Papier hervor, und auf dieses hat sich der arme Mann mit seinem Blut unterschreiben müssen.
Als dies geschehen war, sagte das Männchen: Nach sechszehn Jahren bringe mir das, was Du mir versprochen hast, auf dieselbe Stelle. Und es gab ihm eine große Summe Geld. Und nach einiger Zeit gebar seine Frau einen Sohn, und er erinnerte sich, was sich der Teufel bedungen hatte, und war sehr traurig.
Der Knabe wuchs aber, und lernte sehr fleißig, so daß ihn der Vater studiren ließ, und als er funfzehn Jahr alt war, da hatte er schon ausstudirt. Und weil sich die Zeit näherte, wo er an das Männchen ausgeliefert werden sollte, so grämte sich sein Vater je länger je mehr. Er sagte daher: Was seid Ihr so traurig, lieber Vater? – Ach, antwortete ihm dieser, ich habe Dich schon ehe als Du geboren wurdest, dem Teufel versprochen und hab' ihm eine Schrift darüber gegeben, und erzählte ihm die ganze Sache. Er aber sagte: Keine Sorge! Ich werde mir selbst diese Schrift holen. –
[] Und er nahm seinen Degen und etwas Weihwasser und begab sich auf den Weg. Er kam aber in einen so großen Wald, daß ihn die Nacht darin übereilte und er sich zuletzt verirrte. Als er aber lange umhergegangen war, erblickte er Licht und dann ein Häuschen. Und als er hinein trat, war dort Niemand weiter, als eine alte Frau. Diese bat er um Herberge, aber sie antwortete ihm hierauf, er solle seines Weges gehen, wenn ihm sein Leben lieb wäre, denn da wohne ein großer Räuber. Er sagte aber, daß er sich nicht fürchte, und blieb dort.
Nach einer Weile kam auch der Räuber und frug ihn, wohin er gehe. – Da that ihm der Räuber nichts, sondern gab ihm zu essen und zu trinken und bat ihn des andern Tages am Morgen, er möge doch so gut sein und den Teufel fragen, was Lipskulijan zu erwarten habe? –
Und als er in die Hölle gekommen war, war dort grade kein Anderer, als der oberste Teufel. Der wußte aber von der Schrift nichts und sagte, das ginge ihn nichts an und er solle ihn in Frieden lassen. Da besprengte er ihn mit Weihwasser und der oberste Teufel fing so an zu [] brüllen, daß die andern in Hausen hereingestürzt kamen. Er befragte sie auch nach der Schrift, aber es hatte sie Keiner. Da besprengte er den obersten Teufel wieder mit Weihwasser und er fing an noch viel mehr zu brüllen, so daß ihrer noch viel mehr hereingestürzt kamen. – Er befragte sie wieder wegen der Schrift, aber es hatte sie Keiner. Da besprengte er den obersten Teufel noch einmal und er fing an so schrecklich zu brüllen, daß ihrer von allen Seiten hereingestürzt kamen, und zuletzt kam auch ein Lahmer angehinkt und der hatte die Schrift. Der wollte sie aber nicht geben.
Da sagte der oberste Teufel: Werft ihn auf Lipskulijans Bett! – Da gab sie der lahme Teufel. Und als er die Schrift erhalten hatte, frug er, was für ein Bett Lipskulijan bekommen würde? Und sie zeigten es ihm, und es war von der Art, daß, als er seinem Degen hineinsteckte und ihn wieder herauszog, die Klinge, so weit sie in das Bett hineingestoßen worden war, zerschmolzen war, denn das Bett bestand aus lauter glühendem Eisen.–
Hierauf ging er wieder nach Hause und, [] kam unter wegs zum Lipskulijan. Der frug ihn ob er wüßte, was ihn erwartete? Und er erzählte ihm Alles. Da erschrak Lipskulijan und erkundigte sich, ob er doch noch nicht könnte begnadigt werden? Und er antwortete ihm: Gott ist jedem Sünder gnädig, wenn er sich bessert. Entziehe Du Dich allem Bösen und bete ohne Aufhören zu Gott, so wird er Dir auch gnädig sein! –
»So wird er Dir auch gnädig sein,« wiederholte Sloboda, ohne sein auf dem untergestemmten Arm ruhendes Haupt zu erheben. – Marie fuhr fort:
»Und er führte Lipskulijan ein Stück von der Straße ab, errichtete dort einen kleinen Hügel und pflanzte darauf eine Gerte und sprach: Auf dem Hügel bete Du, und wenn die Gerte Aepfel tragen wird, so magst Du daraus erkennen, daß Dir Deine Sünden vergeben werden. Hierauf ging er nach Hause.«
Nach langer Zeit, als er schon ein hoher Geistlicher war, fuhr er durch denselben Wald und es erblickte dort sein Diener schöne Aepfel auf einem Baume. Er wollte einen pflücken, aber wie er ihn berühren wollte, da hörte er eine Stimme, welche sprach: Du hast mich [] nicht gepflanzt, Du wirst mich auch nicht pflücken.
Er erzählte dies in aller Schnelligkeit seinem Herrn. Der ging hin, und als er zu dem Aepfelbaum kam, fand er unter demselben einen knieenden Menschen und besann sich auf Lipskulijan. Und der wollte ihm beichten. Und als er ihm die Sünden vergeben hatte, zerfiel Lipskulijan in lauter Staub, und die Aepfel, welche die Seelen derer waren die er ermordet hatte, verschwanden alle. Und eine weiße Taube flog zum Himmel auf und sang:
Aepflein trug das Gertelein,
Meine Seele muß nun selig sein.
Und er hatte so die Gewißheit, daß Lipskulijan selig gestorben sei.
Als Marie dies eigenthümliche wendische Mährchen beendigt hatte, hörte man ein leises Schluchzen. Es war Bianca, welche, ergriffen von dem tiefen Sinn der ungekünstelten Volksdichtung, ihre Gefühle nicht länger verheimlichen konnte. Schlenker gab seinen Beifall durch lebhafte Gebehrden zu erkennen und reichte in seiner Freude der Blinden sogar eine Prise. Sloboda's [] Haupt war langsam immer tiefer herabgesunken, so daß es jetzt beinahe die Tischplatte berührte.
Die Kienspäne mit ihren langgekrümmten Rispen brannten dunkel und verbreiteten über Stube und Versammlung mehr Schatten als Licht.
»Der greise Wende ist, glaub' ich, vor Ermüdung eingeschlafen,« sagte Elwire leise, um den Schlummernden nicht zu stören.
»So schnell?« erwiederte Aurel. »Und er hat doch vor Kurzem noch gesprochen?«
»Sonderbar!« sagte Herta. »Der wackere alte Mann schläft so sanft, daß man ihn nicht einmal athmen hört!«
Bei dieser Bemerkung verließ der Maulwurffänger seinen Platz und näherte sich dem Wenden. Behutsam neigte er sein Ohr zu dem Schlummernden. Da aber auch er keinen Athemzug entdecken konnte, erlaubte er sich, seine Hand auf das Silberhaar des Greises zu legen und ihn laut bei Namen zu rufen.
Sloboda antwortete nicht.
Da schob der Maulwurffänger seine Hand unter die Stirn des Wenden und richtete ihn sanft auf.
[] Sloboda hatte die Augen fest geschlossen, ein Lächeln umspielte seinen Mund, er war todt! Gleich der Seele des Räubers im Mährchen, hatte die Seele dieses greisen Wenden unter Sangesgeflüster ihre irdische Hülle verlassen.
Elftes Kapitel.
Schluß.
Wir haben unserer Erzählung nur wenige Worte noch hinzufügen.
Sloboda ward feierlich auf dem Kirchhofe des zum Zeiselhofe gehörigen Dorfes in der herrschaftlichen Gruft beerdigt. Vierzehn Tage später reichte vor dem Altar der nämlichen Kirche die glückliche Elwire dem Kapitän ihre Hand als Gattin. Die Neuvermählten verließen Heimath, Verwandte und Freunde, um wenige Wochen später auf dem Schiffe »die Hoffnung« nach Amerika unter Segel zu gehen, nicht, weil sie Europa fliehen wollten, sondern weil es Aurel für rühmlicher hielt, sein Leben in rüstiger Thätigkeit zum Besten des Volkes zu verbringen. Gilbert begleitete ihn und erhielt die Stelle eines Schiffslieutenants,[] da Kapitän Aurel auf seinem Kauffahrer die Gesetze eingeführt hatte, die ihm während seiner Dienstzeit in der englischen Marine lieb und werth geworden waren.
Elwire folgte dem geliebten Gatten mit leichtem Muth und bewährte ihren Heroismus auf glänzende Weise.
Nach Jahresfrist kehrten die Seefahrer wieder auf längere Zeit nach Europa zurück und statteten ihren Freunden einen mehrtägigen Besuch auf Boberstein und dem Zeiselhofe ab. Sie fanden Vieles verändert.
Marie war Sloboda in die Gruft nachgefolgt und Martell, der sich nur scheinbar von seiner Entkräftung erholt hatte, wankte sichtlich dem Grabe zu. Er war fast zum Geripp abgemagert und ging jetzt in denselben Gemächern, die sein schuldiger Bruder so oft in der Angst seiner Seele durchwandert hatte, rastlos umher, um die Schmerzen, die seinen Körper folterten, zu unterdrücken. Sein Geist aber hatte sich beruhigt. Er verzieh dem Verstorbenen vollkommen und wünschte nichts sehnlicher, als neben ihm zu schlummern. Noch im Herbst desselben Jahres ward sein Wunsch erfüllt.
[] Vollbrecht war zu Aller Erstaunen ein glücklicher Gatte geworden an – Bianca's Seite! Nie schien es ein gesetzteres Ehepaar gegeben zu haben als diese beiden einander so gänzlich widersprechenden Charaktere.
Darüber war Gilbert sehr ärgerlich, weshalb er sich auch allen Ernstes vornahm, sich für solche Untreue, die so gar wenig guten Geschmack verrieth, an Bianca, der allerliebsten Geschäftsführerin, empfindlich zu rächen. Der leidenschaftliche Jüngling hielt auch wirklich Wort, indem er bei seiner Rückkehr nach Hamburg um die Hand Clara's anhielt und die freundlichste Aufnahme fand. Der wilde Sohn des Meeres ward durch seine Liebe zu dem klugen Mädchen sogar unerwartet zahm, denn er entschloß sich, da Clara sich entschieden weigerte, zur See zu gehen, als Compagnon in das Haus »Am Stein und Comp.« zu treten, und einige Jahre später finden wir ihn als geschickten, thätigen und höchst soliden Handelsmann wieder.
Paul übernahm die Bewirthschaftung des Zeiselhofes, wobei ihm Leberecht, Eduard und Simson treulich zur Hand gingen. Man sprach bei der erstmaligen Wiederkehr des Kapitäns von [] einer Neigung, die Martells älteste Tochter dem jüngsten Sohne Haideröschens eingeflößt haben sollte.
Herta lebte in tiefstem Frieden fortwährend auf dem Zeiselhofe und versprach zugleich mit ihrer Zofe Emma ein sehr hohes Alter zu erreichen.
Von Adalbert hörte man nie wieder etwas Bestimmtes. Er schien sich im Orient niedergelassen zu haben.
Der Maulwurffänger ging noch immer seinen Geschäften nach, kehrte häufig auf dem Zeiselhofe ein, pilgerte nicht selten auch nach Boberstein und verschmähte nie, einer tüchtigen Mahlzeit mit gesundem Appetit zuzusprechen.
Schlenker und Gregor kamen nur selten aus, desto lebhafter konnten sie Stunden- und Tagelang über Dinge streiten, die sie hochwichtig fanden, während der Maulwurffänger sie dummes Zeug nannte.
Die Fabrik gedieh, die Arbeiter wurden verhältnißmäßig wohlhabend und Niemand hat je wieder gehört, daß irgend Einer mit seinem Loose unzufrieden gewesen wäre oder die Erfindung der Maschinen als ein Werk des Teufels verwünscht [] hätte. Die Frevelthaten, welche auf dem Geschlecht der Boberstein lasteten und es gleich Furien umrauschten, waren durch die zahlreichen Opfer, welche die strafende Nemesis forderte, für immer gesühnt, und ein neues frischeres Geschlecht erblühte auf den Gräbern der Todten. –
- Rechtsinhaber*in
- ELTeC conversion
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2022). German Novel Corpus (ELTeC-deu). Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes : ELTeC ausgabe. Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes : ELTeC ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001B-D411-0