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D i e
G r e n? b o t e n.

Eine deutsche Revue.

Note: Redigirt vo»
I. K n r a i» d a.

Unter Mitwirkung der deutschen Schriftsteller:

Karl Andree, Berthold Auerbach, Karl Beck, Baron A. von Vülow,
Theodor Creizenach, Lorenz Diefenbach/F. Dingelstedr, I. Fester, Ludwig
August Fränkl, Carl Gustow, Heinrich Heine, I. Kaufmann, Heinrich
Koenig, Gustav Kühne, Heinrich Laube, Herrmann Marggraf, H. Merz,
Julius Mosen, Theodor Mügge, R. E. Prutz, L. Schefer. H. Schiff,
G. Schirges, Theodor Schliephake, Baron von Sternberg, I. Venedey,
Van Hasselt, A. Weilt, Ernst Willkomm.

Zweiter Jahrgang.
'Aweites Semester.
Note: Leipzig.
Bei Fr. Ludw. Her dig.
»8As.

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Inhalts - Werzeichniß.



Seite.


  • Die Männer der Zeit. I. Ludwig Feuerbach...... 2
  • Die deutschen Schriftsteller und die Gesellschaft, von I. Kuranda. 3V
  • Tagebuch: l. Bekenntnisse der Grenzboten, von I. Kuranda.
    it. Briefe aus Paris von Philipp V"*. til. Plaudereien. 36
  • Ein Besuch bei Madame Pasta........... 51
  • Die Lehrfreiheit in Belgien, von Th. Schliephake. . . » 61
  • Beschauliche Briefe aus Oesterreich, von Z. v. Z. .... 75
  • Literaturblätter, von I. Kuranda........ . . 83
  • Tagebuch: I. Brief aus Frankfurt. II. Reisejournale. Hi. Notizen. 91
  • Wanderungen durch eine Bildergallerie, von V. 1..... 99
  • Brief aus Se. Petersburg, von . ........ 129
  • Philipp II. und Granvella, von Gcrlache....... 128
    *"
  • Tagebuch: l. Brief aus Paris, von Philipp P. II. Plaudereien. 147
  • Großstädtische Fragen von einem Lebemann....... 155
  • Aus dem Studienheftc eines Musikers......... 182
  • An Ludwig Philipp, von Theodor Creizenach...... 194
  • Tagebuch: l. Korrespondenz aus einem Seebade, von H. Koenig.
    II. Korrespondenz aus Wien. III. Notizen...... 197
  • Bilder aus dem deutschen Universitätsleben, von Ed. Müller.
    I. Deutsche Studentenwelt........... 203
  • Der Musikunterricht in Elementarschulen, in Deutschland und
    Frankreich................ 209
  • Tagebuch: I. Briefe aus Brüssel, it. Aus Leipzig. III. Neueste
    Literatur. IV. Notizen............ 235
  • Reiche Thränen — Armes Volk. Eine literarisch-sociale Epistel,
    von L. H. Gcibler............ 251
  • Soldatenbilder aus Oesterreich...........> . 267
  • Tagebuch: l. Korrespondenz aus Mailand, von G. I. II. Preußi¬
    sche Vor- und Rückschritte, lit. Korrespondenz aus Berlin,
    von IV. Notizen............. 290

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Seite.


  • Die Industrie und das Jahrhundert. Skizzen, Andeutungen,
    Wünsche, von I. A. Jobard...... . . . 299
  • Skizzen aus dem Cölner Dombaufcst, von R. G..... 326
  • Briefe aus Se. Petersburg, von ......... 332
  • Bilder aus dem deutschen Universitätsleben, von Eben. Müller.
    it. Göttinger Persönlichkeiten.......... 34V
    '
  • Tagebuch: I. Gutzkows gesammelte Schriften, it. Die Preß-
    verhältnissc in Mecklenburg-Schwerin........ 348
  • Erinnerungen und Mittheilungen eines Landschaftsmalers, von
    B. C. Kockkock.............. 355
    ""
  • Wanderungen durch die Pariser Theater, von Philipp P. 374
  • Tagebuch: I. Brief ans Mainz. II. Notizen....... 388
  • Die belgischen Städte und ihre Kunstwerke....... 395
    '
  • Ueber LenauS Albigenser, von Th. Schliephakc..... 417
  • Briefe aus Wien............... 429
    *"
  • Tagebuch: I. Thcaterplaudereicn: 1) aus Paris, von Philipp P.
    2) aus Stuttgart von Aug. Z____er. it. Notizen. . . 433
  • Briefe aus Se. Petersburg, von . -...... 443
  • Die Maas und ihre Anwohner, von I. Fester..... 459
  • Ein Besuch in einer Irrenanstalt........... 473
  • Tagebuch: I. Ueber Sattel'S Laienevangclium, von Th. Seht.
    II. Notizen................ 484
  • Briefe aus der böhmischen Hauptstadt. ........ 491
  • Harmlose Briefe aus Mecklenburg-Schwerin, von A. Wachen-
    Hufen. . ............... 499
  • Erinnerungen an den Wiener Kongreß. ........ 511
  • Brief aus Wien................ 523
  • Tagebuch: I. Gutzkow und die deutschen Kleinstädter, von I. K u-
    randa. II. Notizen............. 528
  • Die Männer der Zeit. II. Ad. Mickiewiez....... 539
  • Pauperismus und Colonisation, von A. Baron v. Bülow. . 561
  • Hamburg nach dem Brande, von G. Schirges. ..... 582
  • Tagebuch: Notizen. .............. 586

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Die Männer der Zeit.")



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Ludwig Feuerbach.
((Vom Verfasser der Briefe über Schwaben und Franken.))



Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und ihre
Copula Arnold Rüge, der sie auf den Schild hob und der Welt
als die Heilande und Retter von aller Gottseligkeit verkündet —
welch ein satanisches Kleeblatt auf dem Stcingel der deutschen Jahr¬
bücher, welch eine infernalische Dreifaltigkeit um jene 3 Autoren!
Es wird ein ewig denkwürdiges — Andere würden sagen, fluch¬
würdiges — Phänomen sein, wie von diesen Männern in diesen
unsern Tagen der Leidenskelch der Theologie bis zum Rande ge¬
füllt wurde. So mag der fromme Sinn sich entsetzen über die
„Ruchlosigkeit," mit der jene theologischen Herostratcn in fortschrei¬
tender Schärfe der eine erst den Christus, der andre die Evangelien
und „der ruchloseste von allen, Ludwig Feuerbach" selbst die Religion
nicht blos in die Wüste deS Begriffes, sondern in den Tod zu



Note: D. R,

l
[]

schicken suchen; so mag die Wissenschaft die Augen öffnen und auf
die Warte der Zeit und der Ewigkeit zugleich steigen, um die Spreu
in die Winde fliegen, den Waitzen in frischbebauter Erde keimen
und reifen zu lassen.


Ich lasse Ihnen das Glauben und Wissen dieser Männer als
vor andre Richterstühle gehörig hier zur Seite und gedenke der
eigenthümlichen Stellung dieser drei Männer im Verhältniß zu ihren
Volksstämmen. Strauß, der Schwabe mit seiner Innerlichkeit, seiner
Urkraft, die mit einem Hiebe durch Reiter und durch Sattel bis
tief in Pferdes Rücken schlug; Ludwig Feuerbach, der Franke, der
zornesschnaubend und gewandt auch das Pferd durchhieb z und Bruno
Bauer, der eilig vollends über die Leiche sich hermachte. Der Ge¬
wichtigste und Gewaltigste ist ohne Widerrede Strauß, darum hat
rr auch zuerst durchgeschlagen; der lebendigste, originellste und
genialste ist Feuerbach, darum hat er auch am wenigsten Anhänger.
Der abstrakteste, in seiner Leerheit und Eitelkeit tollste ist nach Allem
Hengstenberg'ö Schüler und einstiger Liebling, der norddeutsche Bauer.
Es lag im Plane der Briefe über Schwaben und Franken, in ihrem
Verfolge Ludwig Feuerbach ebenso als Ausdruck des etwaigen wissein
schriftlichen, des philosophischen Berufes und Triebes im fränkischen
Stamme darzustellen, wie Strauß als Repräsentanten des wissenschaft¬
lichen schwäbischen Geistes. Seitdem ist Feuerbach'S Name erst recht
bekannt, berühmt und berüchtigt geworden , ich folge um so lieber
Ihrer Einladung, über ihn Einiges mitzutheilen, als namentlich
durch den verstorbenen Gans verschiedentlich Unrichtiges, besonders
in der berliner gelehrten Welt über ihn in Umlauf gekommen ist.
Wenn Einer zwar von den bösen Dreien sich in feinen Schriften
ganz wie er selber ist, ganz splitternackt, ganz bis in's Innerste
durchsichtig darstellt, so ist es Feuerbach. Aber je mehr dies der
Fall ist, desto näher legt sich endlich das Bedürfniß, das geistige
Bild von dem Manne durch das leibliche und persönliche zu ergän¬
zen oder zu berichtigen. Gerade diese Art, wie sich das Persönliche
und Sachliche so vollkommen deckt und das Eine nur Ausdruck und
Wiverschem des Andern ist, rechne ich zur ganz besondern Eigen¬
thümlichkeit des fränkischen Wesens. Auch der Schwabe lebt ganz
in der Sache, und so sehr, daß er sich kaum in leichten Augenblicken
von dem Grunde seines Innern losbrechen kann. Aber je tiefer in


[]

ihm die Mächte seines geistigen Bestehens weben', je entschiedener
der ganze, volle Mensch in diesem Gehalte steckt, desto mehr ver-
steckt er sich dem Auge, desto befremdlicher ist seine äußere Erschei¬
nung. Wer fand in dem Heros des ehernen Gedankens, in dem
Hegel der Logik den Mann wieder, der an so platten Späßchen,
faden Klatschen, leeren Spielen deö Augenblicks sich so kindlich erfreuen
konnte? Sicher, dem Schwaben sehen Sie es nie und nimmer am
Gesichte ab, was hinter ihm steckt, und der Mensch und der Denker,
der Gesellschafter und der Dichter, der Mann der Feder und der
Zunge sind oft bis zum Räthsel verschieden. — Nicht so der Franke.
Aeußeres, Inneres, oder wie man den Gegensatz des menschlichen
Wesens sonst bestimmen mag, ist in lebendigeren Verkehr und
Wechsel. Alle Mächte seines Daseins sind in bewegteren Flusse in
und zu einander. Die funkelnden Edelsteine, welche in dem schwä¬
bischen Urgebirge vereinzelt, in sich und in ihren Ort gefestet, der
Hebung, des Schliffes und der Fassung harren, sind hier vom Hause
aus bereits zu leichtem, heiterem Farben- und Gestaltenspiel an den
Faden eines sinnlich und geistig erfüllten, zwischen Aeußeren und
Innerem harmonisch getheilten Lebens aufgereiht. So war Göthe,
der Mann der Ewigkeit, immer ganz und voll der Mann des Au¬
genblicks, sein Wirken und Wesen ging stets in einander auf und
jedes Werk war er selbst, ein Stück, eine Epoche seines immer in
sich gerundeten und so in fertigen Gebilden verlaufenden Lebens.
Sagte Hegel: was der Mensch thut, das ist er, so war bei ihm
die Wahrheit eine philosophische Abstraktion; spricht Strauß es ihm
nach, so ist es auch bei ihm und in Bezug auf ihn mehr Gedanke,
alö eine Thatsache. Wer ahnte in dem Verfasser des Lebens Jesu
den Verfasser der zwei friedlichen Blätter, den Freund Justtnus
Kerner's, des gemüthvollsten Dichters, den Mann der Mystik, der
Poesie, der Fantaste und — des Gemüthes? Es liegt der uner¬
bittlichen Härte, der kalten, eisernen Strenge des schwäbischen Genius
eine unerschloßne Tiefe der Seele, des Gefühls und Gemüthes zu
Grunde, daß, in ihr gegründet, ein solches Wesen furchtlos und treu
gleich jenem Gottbegnadeten mit allen Himmelsmächten ringt und
sie nicht läßt, sie segnen ihn denn.


So gibt der Schwabe immer, was er kann, und wollte er nur
immer, was er kann; der Franke, waS er ist, er ist aber in jedem



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Augenblicke Etwas und etwas Neues; der nördlichere Genius, was
er hat i— er ist aber eilig und emsig genug, um in jedem Mo¬
mente neue Schätze einzusammeln und neue Mittel zu erwerben.


Feuerbach's Bücher, Gedanken, Sätze und Ansichten sind dem¬
nach er selber. Nur an und aus sich selber hat er gefunden, was
er schon früher in einer fast unbekannt gebliebenen Schrift aussprach.
„DaS, was dem Menschen Tag und Nacht keine Ruhe läßt, was
ihm nie aus dem Herzen kommt, worüber er seinen Abend- und
Morgensegm zu beten vergißt . . . DaS, was ihn sein ganzes
Leben an der Nase herumführt, was ihn mit unwiderstehlicher Macht
an sich fesselt, was ihn so gewaltsam zusammenknebclt, daß er keinen
freien Athemzug mehr thun kann ... das,— und wäre dieses DaS
auch nur die Summe von hundert Dukaten oder eine neue Conjectur
im EutroviuS, oder die Erfindung einer neuen Stiefelwichse, oder ein
Ordensbändchen mit dem Wörtchen: Von---das nur und sonst auch
nicht ein Haar breit mehr ist die Seele des Menschen." — „Die
Seele des Menschen ist das, was er als das Wahre und Höchste
in sich erkennt und erfährt, was seine Art, die Dinge zu deur
theilen, zu sein, zu leben, und zu wirken, bestimmt." Dieß eine
Stelle aus seiner Schrift: „der Schriftsteller und der Mensch, eine
Reihe humoristisch-philosophischer Aphorismen"—worin er eben- sein
Wesen: die Einheit seines Menschen — und Schriftstellerthums
in seiner Weise auseinanderlegte.


Und wie fassen wir nun den Menschen in dem Schriftsteller?
Man hat Feuerbach verschiedentlich als Schüler Hegel's begrüßt und
verdammt, man sieht in ihm den leiblichen Sohn des atheistischen
Vaters. Allein wenn Jemand von Mutter Leib an nicht dazu ge¬
eignet war, in der Hegel'schen Schule zu sterben — in der Schule
aber leben, ewig die dürre Weide des trocknen Begriffs abgrasen,
heißt doch mindestens so viel als sterben, ja ein nur fremdes Leben
ist weniger und daher schrecklicher als Sterben — so war Feuerbach
es, der am Ersten den trocknen Staub der Schulbank von den Füßen
schütteln mußte. Sagt er darum doch selber: „Ich unterscheide
mich von Hegel, daß ich als Mensch, alö purer, blanker Mensch
lebe, denke und schreibe." Nach Hegel gehört zum wahren Menschen
die Philosophie und zu dieser das bloße Denken, aber für Feuerbach gehört


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zum Menschen und zum Philosophen nicht blos der natus >,uru« deö
Denkens, sondern auch der »ctus imnnrns, aber mixtus der Leidenschaft,
der sinnlichen Receptivität. Ihm ist die Philosophie „nicht Professoren-
Angelegenheit, sondern Sache deS Menschen, des ganzen freien Men¬
schen"- der vor Allem nicht in daS Geschlecht der Wiederkäuer gehört.


Feuerbach saß in Berlin zu Hegel'S Füßen, von ihm erfüllt
ging er von der Theologie zur Philosophie über. Aber Berlin,
die berliner Philosophie und das berliner Weißbier war nicht für
ihn; er verdarb sich den Magen daran, ja er kehrte halb schwind,
süchtig in sein heimisches Ansbach zurück, wo sein Vater, der berühmte
Criminalist, der das Abbitten vor dem Bilde des Königs Ludwig
von Baiern erfunden, in wichtiger Stellung fungirte. — Es galt
nun, von dem Rausche der Spekulation dieser „betrunkenen Philosophie"
sich zu ernüchtern und aus den metaphysischen Wolken wieder festen
Fuß auf Gottes reicher Erde zu fassen, aus der Zirbeldrüse wieder
herab in's lebendige Herz zu steigen. Erlangen, wo er als Privat
docent auftrat, diese mit Recht berüchtigte „Geistessteppe," konnte
ihm nicht daS geeignete Klima zum Gesunden geben. Er fand keine
Zuhörer und ging. DaS nahe Nürnberg gab dem unruhig wühlen
den und gährenden Geiste wenigstens ein heitergenüßliches Volks¬
leben, eine alterthümliche, in sich einheitsvolle, harmlose Stadt, eine
alte Bibliothek und köstliche Bände in Schweinsleder auf dem präch¬
tigen Trödelmarkt. Das war seine Lust, darin zu suchen und zu
naschen, was seinen Grillen, seinen Trieben und Gelüsten schmeckte.
Er vergrub sich gleich dem gespenstigen Professor Danaer, seinem
Freunde, in die aufgespeicherten Lieblinge und legte hier den Grund
zu der seltsamen, fast abentheuerlichen, recht Jean- Paulischen Ge¬
lehrsamkeit, der mehr eine Curiositätensucht als eine wissenschaftliche
Richtung zu Grunde lag.


Wie es in ihm glühte, kochte und gcihrte, damals, zeigt auf
höchst interessante Weise seine Erstlingsschrift, die, von einem Freunde
und anonym herausgegeben, er selbst eine in jeder Beziehung namen-
lose nennt und wenigstens in der vorliegenden Form nicht als die
seinige anerkennt. 'Jugendlicher Uebermuth und ungezügelte Leiden¬
schaft deö Gedankens und Wortes überstürzt sich fast in diesen
/-Gedanken über Tod und Unsterblichkeit." Der Fluch der gesammten


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Klerisei, wie er sich ausdrückt, lastete eine Zeitlang darauf, es wurde
confiscire, später erst wieder freigegeben.


Noch fehlte es ihm an einem festen Grund und Boden unter
sich; die Stadtlust war ihm einmal zuwider. So suchte und fand
er denn einen Ort») ländlicher Muße, von ganz vortrefflicher Qua-
lität. „Reine, gesunde Luft weht hier, aber wie wichtig ist für
das wichtigste Organ des Menschen, das Denkorgan, die reine,
frische Luft! Die speculative Philosophie Deutschlands, wie sie sich
bisher entwickelt hat, ist ein Beispiel von den schädlichen Ein¬
flüssen der verpesteten Stadtluft. Wer kann leugnen, daß ihr Denk¬
organ, namentlich in Hegel, vortrefflich organisirt war, aber wer
auch übersehen, daß die Funktion des Central - Organs von den
Sinnenfunktionen zu sehr abgesondert, daß namentlich der Kanal bei
ihm verstopft war, durch welchen die Natur ihren heilbringenden Odem
uns zuströmt? Ich selbst weiß es aus Erfahrung. Stets dachte
ich frei und hell; aber ich hatte doch immer Anflug von Schnupfen,
der den Zudrang der freien Naturluft hemmte. O, vortrefflich ist
der stsws u-dem-aus für den Denker! Wie vielen Illusionen der
Menschheit bin ich erst hier auf die Spur gekommen! Und wie
viele Lücken meines Wissens habe ich in sileotio ausgefüllt! wie
viele werde ich noch ausfüllen!—Gut, daß Du kein Hexenmeister bist
— schrieb er»») seinem Freunde Riedel auf die Skizze in dem Gutz-
kow'schen Jahrbuch der Literatur hin, worin Riedel einige Worte
über Feuerbach und Danaer mittheilte, und für erstem bedauerte, daß
er in abgelegenem Orte, wo er aller fremden Anregung entbehre, dem
Kreise deö Lebens und der Bewegung entzogen werde, verkümmern
müsse, so daß es gar sehr zu wünschen wäre, er träte recht bald in eine
bestimmte Wirksamkeit ein.— „Deine Wünsche könnten mich sonst in
dem, mir wenigstens noch mehrere Jahre unentbehrlichen Frieden meiner
sehr verschiedenartigen Studien stören und auch einem Boden entziehen,
wo ich mich geistig und leiblich wohler, als je, unendlich wohler befinde,
als an irgend einer Universität, wo auFer dem Kartoffelbau der Brod-
Wissenschaften nur noch die fromme Schafszucht im Flor ist."



1


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Gewiß, Feuerbach'S Schriften rieche» viel nach der Literatur
des Trödelmarkts, seine Gelehrsamkeit erinnert an die verlegenen.
Winkel alter Bibliotheken, seine Studien gehen häusig mehr aus dein
Zufall, der ihm ein interessantes Buch in die Hände brachte, und der
Liebhaberei, welche an dieser oder jener Absonderlichkeit gerade ihre
Freude hat, als aus bestimmtem Zweck im Interesse objectiver Ent¬
wicklungen hervor. Seine Gelehrsamkeit ist mit einem Wort eine
ganz subjective. Wie ganz anders stellt sich Strauß in seinen Wer¬
ken dar: Alles gründlich in streng historischer Folge und nothwen¬
diger Entwicklung, die Gelehrsamkeit nicht um ihrer selbst, d. h.
nicht um des Subjects willen, sondern streng im Dienste der Sache
und deS vorgesetzten Zweckes. Gegen die ernste Objektivität des
' Straußischen, die charaktervolle Subjektivität des Feuerbach'schen
Wissens ist B. Bauer's gelehrtes Material ein hastig und runter-
bunt zusammengerafftes, heute im Dienste Hengstenberg's, morgen im
Interesse Hegel's, übermorgen als Specimen für das Narrenhaus,


Hätte Feuerbach den Willen und Beruf gehabt, innerhalb der
bestehenden Entwicklung in herkömmlicher Weise zu studiren, zu leh¬
ren und zu schreiben, so würden freilich diese Sonderbarkeiten sich
hübsch abgeschliffen, die Herbigkelten sich geglättet, diese Eigenthüm¬
lichkeiten sich bestens in den bestehenden Gang und Zug gefügt
haben. Allein dann wäre es eben mich um ihn geschehen gewesen.
Moses bereitete sich auf seinen Beruf in der Wüste vor, die Pro¬
pheten lebten in der Einsamkeit, Johannes predigte in der Wüste,
Christus ging, ehe er auftrat, in die Wüste; Augustin, Luther, fast
könnte man auch sagen Strauß, rüsteten sich in der Einöde und im
Kloster zu dem Geschäfte ihres Lebens. — Und wer eS an sich
selber erfahren hat! Wie will Einer aus dem in eiserne Bande gefug¬
ten Systeme der Hegel'schen Philosophie kommen, wie will er den
Zauberbann lösen, womit sein Ich, sein Bewußtsein und Willen
verschlungen Wird in fremde Gedankenmächte, wenn er nicht
irgend wie fern von dem, alles Erfaßbare in seine Strudel ziehenden
Räderwerk dieser Dialektik, in anderer Lust und Umgebung seine
Quarantäne halten kann? Wollte Feuerbach nicht wie so Viele
entweder an Hegel oder am Rückfall von Hegel zur Unfreiheit zu
Grunde gehen, wollte er seine Eigenheit und Originalität erhalten
und bewahren, so mußte er nach Bruckbcrg ziehen. Und er mag


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daS nicht ein widriges, sondern ein günstiges Lebensgeschick nennen
lassen und seinem Genius eS danken, daß er ihn auf diesen Boden
versetzt hat.


Ich meinerseits glaube zwar, daß Feuerbach trotz seinem Bruck-
berg nicht in die Reihe jener Reformatoren zu stellen sein wird.
In seiner Einsamkeit ist er gar zu vielen „Illusionen der Menschheit
auf die Spur gekommen" und so tief er durch den Wust der Ge¬
schichte und Alltäglichkeit in das lebendige Herz hinuntergegrabcn,
so hat er doch nicht die Stelle gefunden, wo der Quell eines neuen
Lebens selber hervorspringen muß; so sehr er gefunden und gezeigt,
wie das gesunde und lebendige Her; im Busen schlägt, so hat er
doch nicht gesehen und geoffenbart, was der Inhalt ist, der in die¬
sem Herzen weben soll, wenn eS nicht der pure, natürliche, ich sage
nicht thierische, wie brutaler Mißverstand Feuerbach's Naturalismus
deutet, aber doch blos physiologische Herzschlag sein und bleiben soll.
Einsam, mit Weib und Kind, mit dem theilnehmenden Freunde, mit
der Bibliothek und dem Klavier, mit gutem Bier und gesunder Luft,
im freundlichen Garten von schöner Natur umgeben, braucht Einer
freilich dieß und Jenes und manches Andre nicht, ohne das die
Gesellschaft nicht bestehen kann, am allermeisten kann er Staat und
Kirche entbehren, und Religion, Kunst, Wissenschaft mag in einem
lediglich subjektiven Cultus des Geistes und des Herzens aufgehen.
Allein die Menschheit, die Gesellschaft muß zu ihrer Einigung und
Erhaltung einen objectiven Inhalt haben, an dem sie Norm und
Halt des Bestehens finde. Wer keinen solchen Inhalt zu bieten
weiß, mag auf ihn hinweisen, ihn bedeuten selbst, aber Reformator
selber ist er nicht.


Und solche Bedeutung möchte ich allerdings unserem Helden zu¬
erkennen. In der auf'S Häßlichste gesteigerten Unnatur und Ver¬
zwicktheit aller unserer öffentlichen und privaten Verhältnisse, in der
Künstlichkeit aller Bildung, in dem allgemeinen Marasmus, der
sich unserer Tage bemächtigt, in der Dürre der Theorie, die man
durch Anschauen des Baumes des materiellen Lebens sich verquicken
will, dessen goldne Aepfel doch in sich voll Würmer sind, in der
Trostlosigkeit des Systemes, in der trostlosen Aussicht auf den in¬
dustriellen Materialismus, der Nachbarländer auf die sah windliche
Höhe geschnellt, von der herab sie nur fallen können — in diesem


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verkommenen, verkümmerten Dasein, wie es trotz allem Selbstbetrug
heute uns umfängt, — was will da Gutes kommen, wenn es nicht
aus dem reinen Brunnen der ewig jungen Natur entgegenquillt,
wenn man nicht wieder in die eigne Tiefe steigen und einen neuen
Menschen anziehen will? Wollen! Können! Ach, vielleicht kann
die altgcwordene Menschheit nicht mehr jung werden wollen. Nicht
das Einfache, Ursprüngliche, Natürliche, nur daS Uebernatürliche,
Uebermenschliche, der Finger Gottes, der wieder einmal den Besen
am Firmament aufsteckt, womit er den Staub und Schmutz von
seiner armen Menschheit abkehre, — nur das kann aus dem Zuge
in die Unnatur, in die Entmenschlichung, in das Verderben retten.


Feuerbach wird allein bleiben, sein Wort wird wie die Stimme
eines Predigers in der Wüste verhallen. Er freilich blickt mit sei¬
nem am Grün der Bäume erfrischtem, am kühlen Bergquell ge¬
stärkten und erhellten Auge leichter, freier, hoffnungsreicher in die
Zeit, als wir, denen Stadt- und Kathederlust frei aufzuathmen ver¬
wehrt. Könnte die Herbigkeit, der feurige Eifer, das rakctenmäßige
Ungestüm ihn „auf die schwarze Tafel der Unzufriedenen und Zer-
rißncn hinzeichnen," und in ihm eine geheime Lust am Schmerz,
einen Trieb zur Selbstzerstörung und Selbstverbrennung sehen lassen,
so müssen wir ihn wiederum nur selber hören.


Ja, der allgemeine Schmerz der einer bessern Zukunft sich be¬
wußten Gegenwart, oder der Schmerz der Unzufriedenheit mit sich
selbst, der alle strebenden Geister rastlos vorwärts treibt, oder der
Schmerz der Erfahrung, daß Verstand nur vor den Jahren kommt,
oder der ethische Schmerz des Bewußtseins, daß wir im Leben immer
hinter unsrer Erkenntniß zurückbleiben — diesen Schmerz hat und
fühlt auch er in seinem tiefsten Innern. Aber nicht auf Zerrissen¬
heit und Lust am Schmerz darf eS gedeutet werden, wenn wir in
seine Gedanken über Unsterblichkeit folgende Verse eingelegt finden:


Wenn Dir im Rücken dieser Zeit
Auflauerte Unsterblichkeit,
So wärst du schon als Kind ein Greis,
Dein Herz schlich hin in mattem Gleis.
Du wärest hier schon farbenbleich,
Dein Herz ein abgeschmackter Teig;
Der Ewigkeiten Ueberfluß

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Ohr' Todesgränz und Hindernuß
Hätt' alle Kraft Dir ausgespült,
Die Qualität hinweggewühlt.
Der Himmel dann, die Erde hier,
Das schönste Jenseits wär' sie Dir.
Du würdest die Unsterblichkeit
Gern geben hin für diese Zeit,
Und aus dem leid'gen Engelöstand
Dich sehnen in des Todes Land,
Um wieder auf dieser Erden
Ein liebender Mensch zu werden.
Denn hier ist ja das schönste Land,
Ein Mensch zu sein, der höchste Stand,
Nur wo es Kampf und Leiden gibt,
Und Schmerz der Seele Hellung trübt,
Da ist mein wahres Vaterland,
Schmerz ist des Geistes Unterpfand.
ES mögen feige Pfaffen
Jn'ö Jenseits sich vergaffen!
Mir bleibe nur mein Schmerz,
Mein liebend heißes Herz.
Und wollten Alle himmlisch sein,
Und gingen in die Himmel ein,
— Was aber ich nicht glauben kann,
Es gibt noch manchen tapfern Mann
Ich bliebe draußen stehen,
Ich möcht hinein nicht gehen,
Und bäte mir zu meinem Haus
Die alten Schmerzen wieder aus,
Die sollen wieder in mir brennen.
Von ihnen kann ich mich nicht trennen.
Schmerz ist ja nicht ein einzelner Theil,
Getrennt von ihm der Seele Heil,
Ganz bin ich Drang, ganz bin ich Schmerz.
Ich will nicht unter, noch oberwärts.
Der Schmerz eint Himmel und Hölle
In seines Grundes Sonnenhelle.

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O Niobe! O Niobe!
Auf ewig Stein! O weh! O weh!
Ein Stein fürwahr, der ewig weint,
Hat Menschheit mehr in sich vereint,
Als aller Engel durst'ge Schaar,
In denen Sund' und Schmerz ist gar.
Drum wär' ich lieber solcher Stein,
Als bei den Engeln in Himmelsschein.

Alles dies sagte Feuerbach in dem seltsamen Buche blos gegen
die Vorstellung der ewigen Himmelsfreuden, wo er bei ewig Psaltern
und Harfen nur Langweile absehen kann. Das Leben, das mensch¬
liche Leben als solches, wie es in Lust und Schmerz getheilt ist,
die Freude, welche auf dem Boden der Trauer gründet und die
Trauer, welche sich in Wonne verklärt, das ist sein wahres Leben,
sein einziges. Zwei Leben hintereinander sind ihm unerträglich,
noch mehr als unbegreiflich.


Du kannst nur Einmal sein,
Ergib Dich willig drein.
Einmal ist alles Wahre nur,
Einmal der Geist, Einmal Natur.


Dem, was sich zählen, theilen läßt,
Ist aller Geist schon ausgepreßt.
Das Müde, Welle, schlappig Weiche,
Der Schlaf, der Tod, Schwindsucht'ge Bleiche,
Der aufgewärmte Kohl, der Brei,
DaS abgeschmackte Einerlei,
Die ungesalznen Judenmatzen,
Mordsucht, sentimentale Fratzen,
Kopfhängeret, ohnmcicht'ges Sehnen,
Pietisterei, langweil'ges Gähnen,
Die Wassersuppen, eselsgrau,
Der Mysticismus bleich und flau,
Geschwulst, Erbrechung, Ueberdruß,
Krankheit und eiternder Ueberfluß,
Dies Wesen ohne Trieb und Kraft,
Ohr' Wesen, Farbe, Leben, Saft,

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Dies Wesen nur aus Dunst und Brei
Kommt aus dem Zweimal Eins ist Zwei.
Die Zahl ist nur des Todes Grund.
Einmal ist Leben, ist gesund.
Der Geist läßt sich nicht repetiren,
Nicht zählen und nicht dupliciren.
Das Leben selber ist schon Geist,
Drum alle Zahl eS von sich weist.
Im Einmal endet Zahl und Zeit,
Drum ist das Einmal Ewigkeit.

Dieses Einmal Eins, daS sein innerster Kern ist, schied Feuer--
bach auch von dem Systeme, daS den Geist nicht blos duplicirt,
sondern in triplicirender Dialektik ewig um die Are der Logik kreisen
läßt. Mit dem Gesetze der Triplicität kam daS System ihm nicht
vom Flecke, diese blos um sich rotirende Bewegung erregte ihm
Schwindel, drum nannte er es eine „betrunkene Philosophie"
darum ließ er eS. Das Einfache, das Ganze, das Unge-
theilte ist seine Liebe. „Ich schätze z. B.," so spricht er sich selber
aus, „die entschiedenen Wassergeschöpfe, die Grathen und
Knorpelfische höher als die Klasse der Reptilien, sowohl
unter Thieren als Menschen, nur weil ihr Leben ein zerrisse¬
nes ist, obwohl höher organisirtes. Oft hat's mich wohl schon,
wie den Fischer in der Götheschen Ballade, zu dem stummen Fischlein
in sein klares Element hinabgezogen, aber nie, nie bin ich in Ver¬
suchung noch gekommen, die windbeutligen Blasbälgc der Batrachier
(der Frösche, Kröten ze.) oder die zweizüngigen Klapperschlangen,
Nattern und Eidechsen um die Vorzüge ihrer Organisation vor der
Klasse der Gräthen und Knorpelfische zu beneiden. Nein! mir ist
das Fischlein, daS in seinem Elemente bleibt, lieber als die Kröte,
die denselben Boden mit den Menschen theilt, und doch ihrem Ur¬
sprung und Wesen nach dem Moraste angehört, lieber der Gimpel
mit seinem eintönigen, aber eigenen, natürlichen Sang, als der Pa¬
pagei, der fremde Worte plappere, lieber der Esel, der nicht mehr
als ein Esel sein will, denn der Affe, welcher über das Thier hin¬
aus will und doch zur Bestie verdammt ist. Und diesem innern
Gefühl und Sinn für das Ungetheilte, mit sich Einige, stimmen
alle meine Sinne, selbst bis in'S kleinste Detail hinein, bei. Meine


[]

Augen lieben mehr die Blumen und Pflanzen mit ganzen, als
mit zerschlitzten und zerrissenen Blättern; ihre Lieblingsblumen
gehören sogar nicht zu den Di- sondern zu den Monocotyle-
donen. Meine Hände klatschen diesem Urtheil meiner Augen Bei¬
fall zu: lieber umfassen sie den geraden, einfachen Stamm einer
orientalischen Palme, als den buckligen, getheilten, brüchigen Stamm
eines zwielappigen, es r i se l i es - germanischen Gewächses.
Selbst mein ZV(>i vus »Iluctol-ins ist Monotheist: er huldigt zwar
auf dem Gebiete der fortschreitenden Cultur dem Pariser («eitle,!?.
Schnupftabak) aber auf dem Gebiete der Natur geht ihm nichts
über den lieblichen Geruch der Maiblume, die zu den Monocoty-
ledonen gerechnet wird. Mein Geschmack ist zwar pikant, Freund
des Sauren, Bittern, salzigen, aber eben deßwegen ein entschiedener
Antipode aller widernatürlichen Composition: er verwirft sogar all¬
gemeine beliebte Vermischungen, wie die des Kaffees mit Zucker uno
Kuhmilch, nur um den Kaffee in seiner vollen Originalität
und Integrität zu lassen, den Tert der Natur nicht durch fremd'
artige Ingredienzien zu interpoliren. Meine Ohren endlich beleidig)
weit weniger ein Esel, der spricht wie ein Mensch, als ein Mensch
Ver denkt wie ein Esel, um den Widerspruch des supranaturalisti¬
schen Esels Bileam'S durch unvernünftige Gründe mit der Ver¬
nunft in Harmonie zu setzen. Nun mache man die Rechnung, nur
nicht ohne den Wirth. Zwei Zeugen gelten vor Gericht, und den
alten indischen Weisen galt selbst ein einziger Sinn, der Geschmack
deS Menschen, für ein hinreichendes lest'muiuium moniu,. Ich habe
nicht weniger als 5,, sage fünf Zeugen für mich, nicht weniger als
5,, sage fünf Sinne auf meiner Seile. Was kann man mehr ver-
langen?"


Ja, was kann man mehr verlangen zu Einem ganzen, völligen
Menschen, der gesund durch und durch, frisch und kräftig, nicht wie
gewisse Leute in Frack und Cravatte von Naturwüchsigkeit sprechen,
um damit der unter der feinen Wäsche nistenden Lüderlichkeit einen
leidlichen Namen zu geben, sondern in seiner puren blanken Mensch¬
heit ein wahrhaft sittliches Pathos, eine ernste ethische Grund¬
stimmung und Bestrebung hat? Faßt man so seine Ungeberdigkeitcn
gegen Religion und Christenthum, so werden sie in der Erklärung
eine gewisse Entschuldigung finden. In dieser frischen Natürlichkeit


[]

ist ihm das Uebernatürliche so unnatürlich, als das Uebermenschliche
unmenschlich ist. Er braucht, er begreift es nicht, will eS nicht
und will eS nicht dulden. Aber all dieser Sturm und Hohn gegen
religiöses und sittliches, trivial und matt gewordenes Bestehen beruht
auf einer kernhaften Natürlichkeit, welche an der Begeisterung, Tiefe
und Kräftigkeit des ersten christlichen Bewußtseins sich begeistert,
während sie das heutige Maulchristenthum, die Schaale Pietisterei,
das platte Dogmatisiren, die Saft- und Kraftlosigkeit deS modernen
religiösen Geistes ihrer gesunden Natur zuwider, zum Ekel findet,
wie alles Schlappe, Zwieschlächtige und Abgestandene. Wenn er
darum lieber gar keine Religion als die der Stunden der Andachten,
der Wirschel'schen Morgen- und Abendopfer, der Tractcitchen und
Pietisten will, so muß man eS wenigstens einer solchen Natur ho¬
mogen und am Ende auch zu gut halten, wenn man anders den
gesunden, tiefen, sittlichen Kern in dem seltsamen Manne anzuerken¬
nen fähig ist.


Feuerbach'S Naturalismus geht eben so sehr gegen den pietistisch-
christlichen Spiritualismus, als gegen den industriellen Materialis¬
mus, denen beiden man uns in den Rachen werfen will. Will er
tüchtige Sinne und gesunden Sinnengenuß für den rechten Men¬
schen, so will er ebenso warmes, frisches Herz und einen hellen,
energischen Kopf. Er will den ganzen Menschen, nicht den thieri¬
schen für sich, wie der Materialismus, nicht den geistigen für sich,
wie der Spiritualismus, sondern Leib, Seele und Geist in Einem,
harmonisch, lebendig, kräftig, ganz und gar, wie er sich selber kennt
und hat.


So haben ihn von dem gewöhnlichen, falsch verstandenen, glatt
getretenen Christenthum unserer Zeit, wie von der Zeitphilosophie
eben diese seine herrlichen 5 Sinne zugleich hinweggewiesen. Die
„verzwickte, untergeordnete Stellung, welche die Hegelsche Philosophie
der Natur gibt", trieb ihn aus der dumpfen Stubenluft des Systems, er
mußte von Anfang dagegen, wenn auch sich selbst noch nicht genug
bewußt, gegen die Lehre protestiren, welche in der Natur oder
Sinnlichkeit nur das Anders- oder Außersichsein des Geistes er¬
blickt, werde sie aus dem Katheder oder auf der Kanzel verkündigt.


Vermißte er aber in der speculativen Philosophie das Element
der Empirie, so vermißte er nicht minder in der herkömmlichen Em'


[]

pirie die Speculation. Wollte er sich an der Natur von dem syste¬
matischen Rausche ernüchtern, so wollte er in ihrem frischen Wasser-
bade sich auch innerliche Lebenskraft schöpfen; wollte er den Geist in
die Natur versenken, so sollte es sein, nicht um sich darin zu entgei-
sten, sondern umgekehrt, um darin die Wasser des Lebens zu trin¬
ken, um sich an ihr zu begeistern. Das Innere in Natur und
Menschen zog ihn an sich, in der Vertiefung und Versenkung in
das Wesen, den Kern, die ursprünglichen Elemente des natürlichen
und menschlichen Daseins hatte er seinen Cultus; dieses innerste
Wesen, in dem die Pulse alles Lebens schlagen, aus dem die Keime
alles Gedeihens sprießen, ward sein Gott. „Das Wesen deS Men¬
schen ist sein Gott!" das liegt ja nahe genug dem Satze: Gott ist
das Wesen des Menschen; Gott hat es geschaffen und erhält es:
also ist er es. So soll nur Feuerbach das Wesen des Menschen
sich und uns nur immer klarer und reiner darlegen, soll ganz in
seine Tiefe graben; der Gott, dessen Werk dieses Wesen ist, wird
dann um so klarer sich vor unser Geistesauge stellen. Tüchtige psy¬
chologische Betrachtung ist es in der That, welche dem in der Spe¬
kulation verflüchtigten Glauben und Gott wieder eine feste Basis
in unserem Herzen zu geben im Stande wäre. Sofern Feuerbach
in die Tiefen der Seele blickt, um das Wesen des Menschen zu er¬
forschen, arbeitet er im Dienste der Religion und Gottes, mag er
es auch noch so wenig wollen.


Nur daß man Feuerbach um seiner Cynismen, seiner Splitter¬
nacktheit und Natürlichkeit willen nicht mit einem blos sinnlichen,
geistlosen Materialismus und Naturalismus zusammenkopple! Von
dieser Flachheit und Leerheit ist er ewig weit entfernt. Als Ludwig
F. das Gymnasium verließ, war er auf dem Wege, ein Pietist zu
werden oder, wie man in Franken die Pietisten heißt, Mystiker.
Augustin's Schriften zogen ihn besonders an und mit ganzem Her¬
zen ergab er sich anfangs in Heidelberg der Theologie. Noch heute
ist er für die alten Mystiker begeistert, die er sogar in seinem blin¬
den Haß gegen alles theologisch-religiöse Gebiet der Bibel, dem
Buche der Bücher, vor dessen Tiefe und Unergründlichkeit er sonst
hinlänglich Ehrfurcht hegt, vorzuziehen sich die Miene gibt und
wohl auch in den Kopf setzt. Dieser Zug in die geheimnißvollen
Tiefen des Lebens. dieser Trieb in das schlagende Herz der Natur


[]

adelt seinen Naturalismus und gibt ihm diesen Schwung, diesen in
seiner Art heiligen, reinen Feuereifer für das unmittelbare Körper-
und Geistesleben. Ein energischer Trieb des Erkennens, eine scharfe
Anschauungs- und Auffassungsgabe, unterstützt durch ausgebreitete
philosophische und insbesondere naturwissenschaftliche Kenntnisse, be¬
fähigen ihn, in seiner Art den Geist in der Natur und die Natur
im Geiste zu erkennen und erkennen zu lassen.


Aber diese seine Art, den reinen Gedanken und die positive
empirische Anschauung zu vermitteln, ist eine für klare wissenschaft¬
liche Entwicklungen und Resultate unzulängliche. Janusartig immer
gegen zwei Feinde sich kehrend, gegen das nur spekulative und ge¬
gen das nur Empirische kann er keinen Augenblick in ruhiger Be¬
trachtung und Entfaltung verweilen: eine Seite, ein Begriff, eine
Anspielung, ein Wort kommt zum Vorschein, das zu speculativ oder
zu empirisch lauten könnte, gleich muß die andere Seite hervorge¬
kehrt werden. Daher ein ewiges Abspringen und Abbrechen von
Einem auf das Andere, von dem Gedanken zum Bild, von dem
Begriff zur Sache, vom Satz zum Gegensatz. Dieß nimmt die
Ruhe und Stetigkeit zwingender Entwicklung. Der Leser findet so
wenig als der Verfasser einen Ruhepunkt, es ist ein stetiges Gäh-
ren und Sprudeln, und wenn wir dem auf die entgegenstehende Seite
hineinbrausenden Glutbach der Gedanken und Witze folgen, saust
und zischt es uns in den Ohren nicht anders, als „wie wenn Feuer
und Wasser sich mischte."


Diese Art zu denken und zu produciren ist bei Feuerbach weder
eine künstlich-forcirte Genialitätssucht, wie etwa Br. Bauer sie an¬
strebt, noch ein bewußtloses, blindes Sichgehenlassen, wie es sonst
erscheinen könnte. Er thut das mit klarsten Bewußtsein, so daß er
diese Art, den Stoff zu behandeln, sich selber zur Ausgabe und zum
schriftstellerischen Berufe macht. Er will damit auch einleuchtender,
in die Augen springender, rascher und leichter auf den Leser wirken.
Er nennt es seine Methode, das Hohe stets mit dem scheinbar
Gemeinen, das Fernste mit dem Nächsten, das Abstrakte mit dem
Concreten, das speculative mit dem Empirischen, diePhi-
losophie mit dem Leben zu verbinden; sie soll das Allgemeine im
Besondern darstellen, versenkt in das Element der Sinnlichkeit,
aber so, daß der Gedanke auch mitten im Freudentaumel der Far«


[]

laste nicht die Besinnung, die Geistesgegenwart verliert, viel¬
mehr mitten im Außer Sinsheim der Sinnlichkeit unmit¬
telbar bei sich selbst ist und so, aber ganz incognito, ge¬
gen die Lehre polemisirt, welche in der Natur oder Sinnlichkeit nur
das Anders - und Außersichsein deö Geistes erblickt. Das Mittel,
glied, der l'vrminus modius zwischen dem Hohen und Niedrigen, dem
Abstracten und Concreten, dem Allgemeinen und Besondern ist nach
ihm praktisch die Liebe, theoretisch der Humor; die Liebe
verknüpft den Geist mit dem Menschen, der Humor die Wissen¬
schaft mit dem Leben, die Liebe ist selbst Humor und der Humor
Liebe. Den Humor eben, der übrigens keineswegs nur in gemüth¬
lichen Späßen oder in willkürlichen Verknüpfungen und Un¬
terbrechungen besteht, überhaupt aber auch dem Gebiete der Wis¬
senschaft nur nach seinen w esentlt es e n Eigenschaften geltend
gemacht werden kann — diesen Humor in die Wissenschaft einzu¬
führen, war sein Bestreben, wie er sagt. „Das Bild hat bei mir
nicht die Bedeutung des Auswuchses üppiger Phantasie, die sich
gedankenlos zwischen den Verstand und die Sache einschickt, die den
Gedanken nur verschönern oder gar ersetzen soll, sondern das
Bild ist bei mir die Sache selbst, aber im concreten Fall, der Ge¬
danke selbst, aber zugleich als ein Gegenstand der Anschauung. Die
humoristische Bilderthätigkeit ist bei mir Methode des seiner
selbst vollkommen mächtigen und bewußten Gedankens.
Sehr häufig sind freilich Witz und Fantasie da, wo sie nicht in ihrem
eigenen Elemente, dem der Poesie, sivd, nur Viti-l snleii«litt.l, nur
Lückenbüßer des Gedankens. Etwas anderes ist eS dagegen, 'wo sie
die Früchte der Erkenntniß sind, denen nur die innere Reife
den reizenden Farbenschmuck der Schönheit aufgedrückt hat, wo es nicht
das Feuer der Sinnlichkeit und die Glut der Begierde ist, die den e r-
sehnten Gedanken in täuschenden Bildern zu erfassen strebt,
sondern die Glut des vollendeten Genusses, wo die Fantaste die
Geliebte des Gedankens ist, die die selige Gewißheit, daß sie
sein, daß Er ihr Wesen ist, dem Gedanken in freudetrunke¬
nen Blicken entgegenstrahlt, So sind Witz und Fantasie
nichts weiter, als der sich selbst erkennende und klar durchschauerte
Gedanke, der sich freiwillig zum Bilde entäußert, der sich anders
ausdrücken könnte, wenn er wollte, der nur aus Ironie unter der


2
[]

Maske des Scherzes und Bildes den Ernst der Wahrheit verbirgt.
Ein wesentliches Attribut des Gedankens, der sich so ausdrückt, ist aber
der Humor, der jedoch hier keine andere Bedeutung hat, als die.
daß er der Privatdocent der Philosophie ist."


Hat der Humor für Feuerbach die Bedeutung eines Privatdo¬
centen der Philosophie, so ist dies der Humor davon, daß er es
auch selber nicht über den Privatdocenten hinaufgebracht hat. Man
sonnte eben hier eS bedauern, daß Feuerbach nicht durch eine be¬
stimmte Lehrstelle an einer Universität genöthigt worden ist, sich zu
zügeln und seinen unruhige» Privatdocenten förmlich zu Hause
zu lassen. Allein es war eine nothwendige Fügung: Feuerbach
angle nicht für das Katheder; Witz, der Zwerg unter dem würdig-
sten Professorentalar — „wo sich nur ein Fältchen ruckte. Witz hei -
vor mit Lachen guckte."


Ist Methode in dieser scheinbaren „Tollheit" seiner Feder, und
seine Methode die: Empirie und Spekulation, aber nicht den Stoff,
sondern das Element, d. i. die empirische Thätigkeit mit der
speculativen Thätigkeit zu verbinden, so ist das Verbindungsglied
dieser beiden Gegensätze, die Skepsis oder Kritik, ebensowohl gegen das
nur speculative, als das nur Empirische, so ist es nicht die Me¬
thode, welche Resultate schafft. Bei diesem ruhelosen Hin- und Wie¬
derstreben, diesem unaufhörlichen Frontemachen gegen das Verschie¬
denste, in dem stetigen Abwehren des irgendwie Ausschließlichen und
Einseitigen wird die Munition verschossen, ehe es zur eigentlichen
Hauptschlacht kommt. DaS Kleingewehrfeuer des Witzes schadet
viel, und der hat immer etwas gewonnen, der die Lacher auf seiner
Seite hat, aber für den Punkt und Augenblick, da es Ernst wird, muß
schweres Geschütz und schwere Reiterei in gemessenem Schritte einher¬
donnern. Feuerbach'ö Methode ist also nicht die gute, nicht die rechte,
um zu einem positiven Ziel zu kommen. Verbindung blos der em-
pirischen und speculativen Thätigkeit durch die Kritik oder
Skepsis ist schließlich nichts als blos negatives, kritisches Verhal¬
ten gegen Empirie und Speculation; in diesem blos negativen, blos
abwehrenden, verzehrenden Thun geht Feuerbach's Wirken vollständig
auf und eS kommt nichts dabei heraus.


Nur wo Positives zu Tage kommt, ist ein Anschluß von An¬
hängern oder Schülern möglich. Die bloße Negation macht keine


[]

Proselyten. Affen gibt eS freilich allenthalben. Nie und nirgends
aber erstanden reformatorische, die Menschheit wirklich weiter bildende
Genien an der Hand der bloßen Negation, der bloßen Leidenschaft¬
lichkeit des Zerstörens. Nie zwar hat in ihnen das „Eiferartige",
wie eS Plato nannte, gefehlt, selbst Christus wußte die Käufer und
Verkäufer aus dem Tempel zu werfen, aber bei allen bekundete die
Ruhe, Sicherheit und Stetigkeit, welche ihre Erscheinung, ihre Tha¬
ten und Worte charakterisieren, daß ein wirklicher, in sich beschlosse¬
ner, ihnen gegenständlich gewordener Gehalt ihre Brust erfüllte, ver¬
möge dessen sie mehr gaben, als sie nahmen, und darum das Jahr¬
hundert und die Welt bezwangen.


Ich wollte wünschen, Feuerbach könnte recht viele wirkliche An¬
hänger um sich sammeln, mir wäre nicht bange um Himmel und
Erde, um Religion und Sitte, beide müßten am Ende nur gewin¬
nen. Aber „Gottlob", wo nicht „leider" gibt es wenige Feuerbachs
heute, zu dieser unserer schlappen, naturlosen, verkrüppelten und ver-
zwergten Zeit der Fräcke und Maschinen. Wer seine Ansichten thei¬
len wollte, müßte auch so gesund, lebenskräftig, sinnlichfrisch, geistes¬
freudig sein, wie er. Mit vollem Rechte mag er von sich sagen:
se^Jo c't-se l'Kommv ahme; wie viel erst die Methode!" Ist
er selbst seine Methode, so kann sie auch nur von ihm getrieben
werden. Lesen ihn Viele, so verstehen ihn Wenige und stimmt mit
ihm im Herzensgrunde Keiner überein. Weil aber sein Denken und
Lehren so durchaus subjectiv und individuell ist, so wird er wohl
schwerlich anders, denn als ein glänzendes Meteor vorüberziehen.


Ich kann nicht denken, daß dieser Vulkan so leicht ausbrenne,
von Zeit zu Zeit wird er die Glutbäche seines Innern unter Blitz
und Wetterleuchten ausströmen, auf der Lava, wenn sie erkaltet,
wird einst noch manches Korn und manche Rebe sich bauen lassen,
aber unmittelbar zum Heile des Jahrhunderts wirken wird er nie,
dazu fehlt es ihm an Objektivität, an einem Inhalt, der ihm Ruhe
und Stetigkeit abgewänne.


Wenn aber Feuerbach der Mann des objectiven, positiven In¬
haltes wäre, so würde sicherlich seine Arbeit eine andere als philo¬
sophische sein. Er ist philosophisch nur um das, was Philosophie
ist und sein will, zu negiren. Und er negirt es nicht schrittweise
mit der Widerlegung der Dialektik, sondern sprungweise mit der



[]

Widerspiegelung deS Humors. Das aber, waS ihn immer aus
dem Strome ruhiger Entwicklung auftauchen läßt, was ihn immer
wieder aus der dunklen Tiefe des Gedankens in die lichte Er¬
scheinung deS farbenvollen Bildes aufschnellt, was ist eS an¬
ders, als — sein poetischer Genius. Und darin ist er
Franke. Wohl liebt eS auch dieser deutsche Stamm, in die Tiefen
von Natur und Gottheit sich zu versenken, den finstern Räthseln deS
Bestehens nachzusinnen, nach dem Ausgang ins ewige Licht zu for¬
schen — aber weniger im Element des reinen Gedankens, als im
Element der Anschauung, weniger auf dem Wege der Begriffs-, als
auf dem der Welt- und Lebens-Dialektik. Die Natur, die Geschichte,
das Herz geben ihm die lichten Bilder, in denen sich die Geheim--
nisse der Ewigkeiten auf die ihm vernehmliche Weise spiegeln. Ich
habe eS in den frühern Briefen über Schwaben und Franken ausein¬
andergesetzt, wie das Organ des fränkischen Genius vorzugsweise
die Fantasie ist, wie er darum minder für die Philosophie als
für die Poesie genaturt ist. Sein offener Sinn für alle Weiten
und Breiten der Natur ist der willige Diener für die huldreiche
Herrin. So hat Franken dem nachbarlichen Schwabenstamme keinen
Philosophen entgegenzustellen, aber es hat einen Göthe, einen I.
Paul, einen Fr. Rückert zum Ersatz. Sie alle sind in ihrer Art Philo¬
sophen und Denker, meistens nur zu viel für die Realitäten, welche
die Poesie verlangt. Aber Göthe wollte sich nie und nimmer ein
System vor seine freie Aussicht in Natur und Welt und Menschheit
„hinpfählen" lassen; Jean Paul und Rückert fliehen vor dem starren
Gedanken immer in das weiche, faßlichere Bild zurück. Der Natur¬
sinn, die Fantasie, der poetische Genius ist eS denn, der auch un¬
serem Feuerbach die philosophische Palme entreißt.


Darf ich den schwäbischen Philosophen Schelling, Hegel, Wag¬
ner die drei fränkischen Dichter Göthe, I. Paul und Rückert
gegenüberstellen, so mag ich auch sür Feuerbach eine in meinen frü¬
hern Briefen charakterisirte schwäbische Erscheinung entsprechend fin¬
den. Auch einen noch jungen Mann, der zwischen Philosophie und
Poesie in der Mitte steht, der, wenn er dichten will, denken muß und
wenn er denken will, dichtet, der Poet genug ist, um sich sein Phi¬
losophiren zu verderben, und Philosoph genug, um sich sein Dichten zu
zerstören. Ich meine den sonst freilich nicht so bedeutenden und originellen,


[]

nicht so naturfrischen und von leiblicher und geistiger Gesundheit
strotzenden Gustav Pfitzer, der mit seiner philosophischen Natur
ebenso in die Poesie übergreift, als Feuerbach mit selner poetischen
Natur in die Philosophie. Zum Philosophen hat Feuerbach zu
viel Lust am Unmittelbaren, zu viel Naturstnn und einfaches Lebens-
gefühl, zu wenig Kathedergeduld, zu wenig Sitzfleisch. Zum Dich-
ter hat er zu viel Lust am Zerlegen und Zerstören, er pflückt das
doive Maienblümchen am Ende doch nur, um eS zu zerpflücken, und
an ihm, dem Monocotyledonen, die Dicotyledonen zu negiren. Was
der Brutwärme eines mild ihm entgegenschlagenden Herzens bedarf,
um ein eigenes Leben zu erlangen, muß an der Glut deS Feuerbach-
schen Herzens sich versengen. Wann so der Philosoph den Dichter und
der Dichter den Philosophen in ihm aufzehrt, so bleibt am Ende
freilich wenig übrig außer dem einzigen Manne, Ludwig Feuerbach
genannt, der mit unverwüstlichem Appetite fort und fort sich jene
beiden schmecken läßt.


Und nun wir uns aus seinem geistigen Wirken das geistige
Bild deS Mannes gewonnen, soll zur Vollendung des Gemäldes
Feuerbach selbst in leibeigener Gestalt ein Stündchen sitzen. Der
schönste Sommer-Sonntagsmorgen zieht über das alte freundliche
Nürnberg herauf, wir verlassen die heimlich und traulich uns grü¬
ßenden engen, aber reinlichen und wohnlichen Straßen mit ihren
malerischen Giebeln und lieblichen Erkern zu guter Stunde, um noch
vor Mittag nach Bruckberg zu kommen. Zur rechten Seite der
Hauptstraße von Nürnberg nach dem 8 Stunden südlich entfernten
Geburtsort UzenS, der Ruhestätte Caspar Hanser's, dem alten Mark¬
grafensitze Ansbach folgen wir einem kleinen in die Rezat heranflie¬
ßenden Bache, der Biber, die sich durch ein schmales, sanftgemul-
detes Wiesenthal anspruchslos und still wie der abgelegene und
durch Wald umschlossene Thalgrund, herunterschlängelt, fleißig Müh¬
len treibend, manchem Dorf und Weiler, die Sohlen netzend und
den Wanderer mit allem, was das Aug' ergötzt, erfreuend. Auf die
großen Erinnerungen vergangener Tage der alten Kaiserstadt und
den behenden Lärm ihrer regen, gewerbsfleißigen und kaufmännischen
Gegenwart spricht es uns so traulich in diesem stillen Wiesenthale
zum Gemüthe, und wenn es wie heute Sonntag Morgen ist, und
die Glocken klingen, und die frischgeputzten Mädchen, die heitern


[]

Burschen und hinter ihnen Väter und Mütter in würdigem Sonn¬
tagsstaat, das Gesangbuch unterm Arm, durch ihre beblumten Felder
zur Kirche wallen, wenn hinter uns noch weithin der Gesang der
Gemeinde auf den Tönen der Orgel sich durch die reinen, ruhigen
Lüfte schwingt, wenn weiterhin aus dem Giebel einer alten Kirchen¬
ruine durch die leeren spitzbogigen Fenster blauer Himmel und grüne
Blätter schauen, so muß es in uns Sonntag sein, und alle Gedan¬
ken und alle Sinne drängen sich zu stillem, seligem Gottesdienst.


Kann hier in solcher Wald- und Wieseneinsamkeit, so fragen
wir, kann in solcher einfach den Gott im stillen Säuseln der Blät¬
ter, im Blühen und Duften der Blüthen, im Schmettern der Lerche,
im Gesumse der Biene, im Gezirpe der Eleate predigenden Umge¬
bung ein Geist der Hölle, ein Geist des Gottlosen und Widergött¬
lichen Hausen? Unmöglich! Ein solcher geht heute nicht mehr in die
Wüste der Einöde, er geht in die Wüste der rauschenden Städte,
in die Wüste der um Geld und Gut, um Namen und Ehre in
Neid und Haß, um die Götter des Bauches und um Mammon,
und leider auch um Theologie und Religion in Erbärmlichkeiten sich
verzehrenden, ihre hoffnungsvollsten Kinder dem Moloch der Zeit in
die von Gierde und Leidenschaft brennenden Arme werfenden Gesell¬
schaft. Wer aber in die Einöde fliehet, das ist ein Geist der Wahr¬
heit und Freiheit, der die Lüge, die allherrschende, und die Knecht¬
schaft, die allduldende, flieht, das ist ein Geist, der frische Luft, hel¬
len Sinn, klares Auge ohne Brille und Opernglas verlangt, der
den falschen Aufputz, die gleißnerische Schminke einer sich selbst um
ihre theuersten Interessen belügenden Zeit haßt, der diesen Affengeist
verachtet, der heute von dem Franzosen sein Leben und seinen Geist,
morgen von dem Engländer sein Geld, seine Maschinen borgen
will, mit einem Worte, es ist ein Geist, der von dem blos super-
naturellen Oeus ox macliioa nichts betteln und dem materiellen
plus in in-teliillll nichts opfern will.


Mittag ist nahe herangekommen, indem wir so sinnen und
wandern, die Hitze will drückend werden, wir sehnen uns nach dem
Ziele der Wanderung, da erscheint durch Bäume und Holz hindurch
links auf einer kleinen Anhöhe, durch den Bach von den Hütten
und Häusern zu seinen Füßen geschieden, das alte Jagdschloß, der
Markgrafen von Anspach, daS dem Weiler Bruckberg Namen und


[]

Geschichte gab. Markgräfliches Jagdschloß — was knüpft sich
an solchen Namen nicht alte Romantik von Jägerlust aus Hirsch
und Eber, und auf manches edlere Wild, das sich in süßem Garne
fangen läßt, von Falken-, Beth- und Mtnnedienst. Aber gut, daß
wir, ich meine wir, die wir Unterthanen der Markgrafen von Ans-
bach waren oder von solchen geboren sind, nichts von Ansbach-Bat-
reuthischer Romantik wissen, es sei denn von den Sauhetzen, von dem
Pferde-zu-todt-Reiten, von den Gestüten, von der Hundezucht, und
ganz absonders von dem Galgen, an dem der letzte kleine Tyrann
den unbedeutendsten Dieb neben dem Vatermörder baumeln ließ,
um seines Namensvetters, Aleranders des Großen würdig zu wer¬
den. Nach dessen Tode erbte bekanntlich Preußen, in dem damals
noch der Korporalstock, der Zopf und die Kamasche im schönsten
Flore standen, daS Ansbach »Bairenthische Fürstenthum, und für eS
war die Erbschaft weder zu romantisch noch zu poetisch. Also gut,
sagte ich, daß wir nicht mehr nach dem Hallo der Jäger und dem
Echo der Hörner lauschen, so treten wir ungeirrt und ohne Leid
näher und sehen das im ganz einfachen Stile gebaute drctflügelige
Schloß sammt den Nebengebäuden, das in eine Porcellanfabrik um,
gewandelt ist, welche ein tu Literatur und Philosophie gut bewar>
derter, lebenskräftiger und völliger Mann, der Schwager Feuerbach's,
besitzt und leitet.


Köstliche Ironie, daß Feuerbach den Oertern entflieht, wo den
Göttern der verblaßten Welt geopfert wird, um dahin zu ziehen,
wo man die Opferschalen dazu fabrizirt, vor allem buntgeschmückk-
Kaffeeschalen. Doch ein Trost ist nahe. Konnte der Mensch nie,
mais seinem Geschick und seinem Gott entfliehen, verfolgt nun vol,
tends heute der Gott der Zeit auf den Flügeln deS Dampfes den
armen Flüchtling über Meer und Land bis in die geheimsten Schluch¬
ten und Klüfte, daß von ihm wenigstens die geschäftigen Menschen
das Wort empfinden: „nahmest Du die Schwingen der Morgen¬
röthe und flögest an die Grenzen der Erde, siehe, ich bin Dir nahe;''
— kann also dagegen selbst sür den feurigsten Geist keine Rettung
sein, seitdem die Erfindung des Satans daS Feuer mit dem Wasser
zusammenschweißt, um die beiden herrlichen Elemente als fahle, todte
Schwaden, gespenstig-blasse Nebel und Dünste dem leeren, nimmer¬
satten, ewig nach Wirklichkeit und Leben gähnenden Gott der un»


[]

tern Welt zu opfern — nun, Feuerbach läßt die großen, mit Ro¬
sen und Vergißmeinnicht bemalten Schalen dem nichtsnutzigen, schlaff
gewordenen europäischen Leben, überläßt eS dem armen Volke,, das
Wein und Brod nicht kaufen, jedenfalls mit seinen schlappen Mä¬
gen nicht vertragen kann, daraus sein Gemisch von Kaffee, Runkel¬
rübe, Ctchorie und — Kuhmilch zu trinken, er aber setzt sich auf
den Dtvan und schenkt seinen reinen, schwarzen, klaren, natur- und
gottvollen Mokka ohne Interpolation von Milch und Zucker in die
kleinen, zollhohen Kaffeetassen, von denen eben aus dieser Fabrik
jährlich so viele Tausende gegen Morgen in die Gemächer der seli¬
gen OSmanl.is wandern.


Uebrigens ist der Betrieb dieser Fabrik geräuschlos genug, um,
während unten für die Freuden der Gegenwart gemodelt, geformt,
gebrannt und gemalt wird, oben den Demosthenes im Entwurf sei¬
ner Philippika gegen diese gott- und geistlose Gegenwart nicht zu
stören. Die Stille des Thales bleibt auch am Werktage, Garten
aber und Wald, Wiesen und Feld und hochgeschlungene, vicldol-
dige Hopfen sind nahe genug auf jedem Schritt, den man zum
Hause hinaus macht, schauen freundlich genug in jedes Fenster deS
schön gelegenen Schlosses herein, daß der Eindruck von ländlicher
Ruhe und Einfalt auch durch ein lauteres Handthieren nicht wohl
gestört würde.


Wir sind die kleine Anhöhe hinangegangen, durchschreiten den
blühenden, sichtlich unter einem herzlichen, befreundeten Gärtner ste¬
henden Garten voll Blumen und Büschen, der von dem Hufeisen
deS Schlosses umfangen, an die Stelle deS frühern Schloßhofes ge¬
treten zu sein scheint, und gehen durch die Gänge und Corridore
des ersten und zweiten Stockwerkes, bis' ein paar muntere Kinder
uns die Thüre, zu der wir wollen, bezeichnen.


Wie sieht wohl Ludwig Feuerbach aus? Ziemlich beleibt, groß,
frisch und roth, wie die Natur ihre Lieblinge und Liebhaber zu
schaffen und zu erhalten Pflegt? Müßte doch Justinus Kerner, der
Geisterseher, dürr und eingefallen, mit tiefen Augenhöhlen, blassen
Wangen, vorgebeugter Haltung, ein Bild seiner gespenstigen Kame¬
radschaft sein! Kerner aber freilich ist rund, dick und bedeutet, was
man nur sonst unter Saft und Blut, von Kraft und Leben, vor
dem die Geister fliehen, verstehen mag. Feuerbach nun ist zwar


[]

nicht zerfetzt und abgethan wie Hieronymus in der Wüste, daS ver¬
haltene, nur stoßweise sich Lust und Bahn machende Feuer, daS in
dem Vulkan seines Innern glüht, hat die Lebenskraft ihm nicht ver¬
zehrt, der Groll gegen eine in blasser Gottseligkeit und unnatürlicher
Gottlosigkeit verdorbene Well hat seinen Blick nicht verwildert, seine
heitre Stirne nicht zerwühlt; aber in dieser untersetzten, nichts we¬
niger als beleibten Figur, in diesem scharf gebildeten Kopfe, in der
entschiedenen Stirn, in diesen tiefen blauen Augen, in diesem brau¬
nen, straffen Schnurrbart, der die Oberlippe deckt, und sammt dem
leicht um den Hals geschlungenen Tuche, dem leichten, kurzen Röck¬
chen, was eher einen Kriegs- oder Jägersmann, als einen Philo¬
sophen in dem Inhaber vermuthen ließe, zumal aber in dem ent¬
schiedenen, lebendig, obgleich selten hervorgestoßenen Wort erkennen
wir wohl den Feuerbach, den Mann des Gedankens, der Entschie¬
denheit, des Ungestüms, wenn es einmal daran geht, des innern Gäh-
rens und Lebens, der gesunden, compacten, von einem überlegenen
Geiste gefaßten und beseelten Natur, welche in sich gefestet jeden
Augenblick zum Geben und Nehmen, zum zweischneidigen Worte
und zum frischen, scharfen Genuß der Sinne sich entbinden kann.


Und nun zum gastfreundlichen Willkomm ein Krug guten
bairischen Vieres aus dem frischen Fasse im kühlen Keller — oder
beliebt eine Flasche edlen Main- oder Tauber-Weins eher? — nun
lassen wir die Sonne draußen brennen, lassen den Berlinern ihr
Weißbier und ihren Fusel, und stoßen fröhlich an Ms das Leben
aller Schurken dort draußen in der Welt. Was sonst in Feld und
Garten Frisches, scharfes und Pikantes, Ganzes und Einlappiges
grünt und blüht, ein holdes Maienblümchen erst, dann ein tüchtiger
Rettig, ein saftiger Spargel, der mag in Salz und Essig und Pfef¬
fer sich guter Kundschaft freuen . . . dort aber liegen auf dem offe¬
nen Klaviere heitere und ernste Noten, wie der finstere Dämon oder
der lichte Engel, der des Denkers Stirn umflattert, eS eben ver¬
langt: vielleicht das „Freut Euch des Lebens" neben dem „60 pro-
lllllSis" . . . Und dann ein Gang in den nahen Wald unter die
Lieblingsbuche oder auf das weiche Moosbette unter der hohen Fichte;
nach der Rückkehr schlürfen wir in der Gartenlaube — wir wissen
schon aus einem kleinen schmucken Täßchen, wenn'S uns Freude
macht, den gewürzigen Trank . . . Zum Schluß, wenn'S gefällig


[]

ist, eine gute Prise Pariser; sodann theilt unser Wirth und Held
uns vielleicht ein Stück von seinen Thesen zur Reformation der
Hegel'schen Philosophie und Lutherischen Theologie mit — o, die
Universität Wittenberg ist aufgehoben, der Professor, der an die
dortige Schloßkirche die fünfundneunzig Sätze der Reformation
annagelte, ist todt, L. Feuerbach ist nicht über den Privatdocenten
hinausgekommen, und Bruckberg hat zwar ein Schloß, aber keine
Kirche . . . was unsere Zeit so krank macht, Schlösser gibt eS wohl,
aber keine solche Kirche, von der das Wort des Lebens in alle
Weltlichkett wieder ausgehen könnte. Bauen wir eine Kirche, so
baut jetzt eiliger als je der Teufel eine Kapelle daneben; laßt sehen,
ob es besser komme. Jeder in seiner Art sehe, ob er helfen könne,
es besser zu machen. Feuerbach sucht eS in seiner Weise mit frischem
Quellwasser und verzehrenden Gedankenfeuer; kalt Wasser mag un¬
sere Zeit nicht leiden, eS muß lau, noch besser Dampf, also weder
Wasser noch Geist sein. Vielleicht, daß ein anderer, nicht so ver¬
neinender Geist, der ruhiger zu Wege geht, den Stab an die rechte
Stelle schlägt, wo die Wasser des neuen Lebens entspringen mögen.
Feuerbach ist der Mann nicht, vielleicht aber ist es überhaupt nicht
ein einzelner Mann, sicher aber wohl nicht eher die Zeit des Heiles,
als bis die Sturmflut des Unglücks wieder das versumpfte Leben
aufpeitscht, und die Menschheit, im Feuer der Trübsal von den Schlak-
Zen der Afterbildung gereinigt und geläutert wieder frisches, lauteres
Wasser aus Gott und seinem ewig festen Worte, das nur ergriffen
und verstanden sein will, um Geist und Leben zu sein, zu suchen
und zu finden weiß ...


Solche Gedanken tauchen in uns auf und nieder unter den
Anschauungen und Betrachtungen des heutigen Tages, der uns ei¬
nen so seltnen Mann vorgeführt hat. Ein Mann, ein Mensch im
vollen Sinne deS Wortes zu sein, das bleibt unserem Feuerbach;
fehlt ihm zu den fünf Sinnen nicht der Geist, zum Geist nicht die
Seele, die sich an allem Lebendigen, an Natur und Schöpfung er¬
füllt, erglüht er im Forschensdrange, ist Wissenschaft, Kunst, Sittlich¬
keit ihm heilig — mag er die Religion nicht, weil er die Pfaffen
haßt, will er Gott nicht draußen wissen, weil er ihn in der Natur
und im Busen fühlt, schilt er die Bibel, um die Mystiker zu loben,
ist er in seiner Weise unchrtstlich, aber fromm, unbiblisch, aber reli-


[]

giöS, so klage und Schelte, so hebe den Stein auf gegen ihn, wer
sich ohne Sünde weiß. Zu fürchten ist sein Thun nicht, denn Nie¬
mand macht ihm den Feuerbach nach, aber liebenswürdig ist viel¬
leicht dieser straffe, gesunde und völlige Mensch? Wo nicht, so lassen
Sie ihm das Seine, worin er selten und seltsam ist. Der Himmel,
der ihn werden ließ und ihn erhält, meint ohne Zweifel — eS muß
auch solche Käutze geben.


[]

Die deutschen Schriftsteller und die Gesellschaft



I.
— Sonst und Jetzt —


Es gab eine Zeit, wo der Autor, wenn er keinen sonstigen
Rang und Titel besaß, in der Gesellschaft kein Ansehen hatte. Die
kühnsten und edelsten Geister dieser Art waren gewissermaßen vogel¬
frei. Der große Haufe hielt die Verschiedenheit der Stände nicht
für eine historische, sondern naturhistorische Frucht, für eine vom lie¬
ben Herrgott selbst am sechsten Tage eingesetzte Ordnung; als Gott
die großen und die kleinen Lichter am Himmel schuf, ließ er auch
die Könige und Fürsten, die Bischöfe und Bürgermeister, dann die
Schneidermeister, Schuster und die übrigen löblichen Zünfte und Ho¬
noratioren wachsen. In welches Fach sollte man den Schriftsteller
stecken? ES blieb ihm nichts übrig, als auf Schiller's Rath mit
Gott in seinem Himmel zu wohnen. Dem ordentlichen Bürger war
er ein überzähliges Geschöpf, der lustige Hofnarr der Welt. Er
stand aber nicht unter, sondern außer der Gesellschaft und über
ihr; er war Bettler und König zugleich. Denn nicht nur die Spie߬
bürgerlichkeit der Stände, sondern auch sein Stolz machte ihn zum
Fremdling in den Kreisen deö geselligen Lebens. Zu solcher Lauf¬
bahn gehörte ein heroischer Muth, ein starker Geist, deshalb gab eS
unter den Schrifthelden des vorigen Jahrhunderts, wie einst unter
den italienischen und spanischen Malern, so viel reckenhafte, eigen¬
willige, wildfrete Charaktere: Heinse, Lesstng, Lenz, Seume, OelSner,
Schubart u. A. Wer fühlte nicht einen Ehrfurchtsschauer, wenn er
den Ausdruck gebietender Freiheit im Antlitz dieser Literaten steht,


[]

dieser wahrhaften Helden, obgleich der Zopf ihnen hinten hing! Die
Gesellschaft war ihnen gerade auch nicht verschlossen, aber sie erschie¬
nen nur als seltene Gäste darin. HöflingSnaturen mochten sie als
Raritäten belächeln, im Allgemeinen nahm man sie, wo sie kamen,
mit Ehrfurcht auf; denn sie waren den ,,GebiMe^1-..wirklich über¬
legen und hatten der Gesellschaft mehr zu bieten, als diese ihnen.
ES war die Zeit, wo ein Rousseau in selner Dachkammer Prinzes¬
sinnen und Fürsten Audienz gab.


Man glaube nicht, daß wir diese Vereinsamung zur Norm ma¬
chen, oder als alleingiltiges Merkmal schriftstellerischer Größe hin¬
stellen wollen; sie hatte eben so häufig, wie bei den Buchstabenge¬
lehrten, die noch immer außer der Gesellschaft stehen, ihren Grund
in einem Hange zur Träumerei und Originalitätssucht. Die alten
Genies setzten der Aristokratie des Goldes und der Titel die des
Geistes entgegen, ließen sich aber von ihrem Uebermuth zu weit
fortreißen, und das Leben, in dem sie doch am Ende wurzelten, rächte
sich an ihnen.


Heutzutage besteht die Gesellschaft nicht mehr aus Geburts¬
und Geldadel, sondern aus den sogenannten Gebildeten. Aber nickt
blos die größere Toleranz dieser neuen Gesellschaft hat eine Annä¬
herung zwischen ihr und den Literctten bewirkt, sondern eine neue
Richtung der Literatur selbst, die Journalistik. Denn man gestehe
sich,' daß der Dichter, der höher strebende, ungewöhnliche Geist, sich
nie und nimmer den Gesetzen der gebildeten Gesellschaft ganz unter¬
werfen, daß er in ihren ruhigen, harmonisch abgezirkelten Kreisen
stets ein Fremdling, ein seltener, wenn auch willkommener Gast blei¬
ben wird. Von seinem Verhältnisse zu ihr, einem ausnahmsweisen,
kann also hier nicht die Rede sein.


Die Journalistik hat den Schriftsteller gezwungen, seine Ein¬
samkeit zu opfern und sich unter die Gesellschaft zu mischen. Der
TageSschriststeller ist mit seinen Bedürfnissen auf sie verwiesen; denn
die Gebildeten sind das verklärte Abbild des Volkes und geben von
jeder Bewegung in den Tiefen desselben schnelle und feine Sym-
ptome. Der regelmäßige Verkehr mit der Gesellschaft, eine Folge der
Journalistik, ist und bleibt durch die erweckte lebendigere Theilnahme
am Realen, am frischen Inhalt des Lebens, für unsere Literatur
höchst wohlthätig. Andrerseits übersehe man nicht, daß eS die re-


[]

gelmäßige Beschäftigung des Journalisten ist, die ihm im bürger¬
lichen Leben ein gewisses Ansehen von einem „ordentlichen" Men¬
schen gibt, abgesehen von seinem Einfluß auf Politik und andere
praktische Seiten deS Lebens. — So ist der deutsche Schriftsteller
civilisirt und zum zahmen Hausthier geworden.


So, um uns deutlicher auszudrücken, hat von da an die Lite¬
ratur eine regelmäßige und eigentliche Vertretung in der Gesellschaft
gefunden. Aber eS ist eine Sache von Wichtigkeit, daß die Herolde
und Dolmetscher unserer Poesie und Wissenschaft, die sogenannten
Literaten oder Journalisten, überall die ihrem Berufe geziemende Ach¬
tung finden, und daß sie selbst der Würde und Freiheit ihres Stan¬
des nichts vergeben. In den Betrachtungen, die wir über dieses Ver¬
hältniß zur Gesellschaft anstellen, werden unsere ernsten Mahnungen
nicht blos an die Gesellschaft, sondern vor Allein an die Literaten
selbst gerichtet sein. Der Literat, von dem wir eine würdige Ver¬
tretung unserer Literatur erwarten, und für den wir Achtung im
bürgerlichen Leben fordern können, muß allerdings der Gesellschaft mehr
zu bieten haben, als sie ihm) er muß im Stande sein, in den Be¬
wegungen derselben mehr als das vergängliche Farbenspiel der Mode
zu erfassen und zu deuten; sonst freilich ist er zu ihrem bloßen Sprach¬
rohr und Wetterhahn, zu ihrem Schüler oder gehorsamen Diener
herabgesunken. _


II.
Persönlichkeiten.


Wir haben die Schriftsteller und die Gesellschaft einander gegen¬
über gestellt. Von diesem Gesichtspunkte aus möchten wir nun
einige Fragen anregen. In der Gesellschaft gilt der Grundsatz, daß
jeder Mann von Ehre daS von ihm gesprochene Wort, namentlich
jedes über den persönlichen Werth oder Unwerth eines Andern ge¬
fällte Urtheil auch persönlich vertreten müsse. In der Presse, wo
das Wort ein tausendfaches Echo weckt, kann man diese Verantwor¬
tung mit noch weit größerem Rechte fordern. Ja, in dem Grade,
als die Beschränkungen unserer Presse geringer werden; — und
wir hoffen, daß sie einst gänzlich fallen — in dem Grade fällt auch


[]

die volle Last der Verantwortlichkeit immer mehr auf den Schrift¬
steller selbst. In der deutschen Presse hat aber bis jetzt eine ganz
sonderbare Abnormität stattgefunden. Gewisse Gebiete und Personen
wurden durch siebenfache Mauern gegen jedes strenge Urtheil ver¬
wahrt, während Andere, wie Schauspieler, Schriftsteller, Franzosen,
Juden der allgemeinen Polemik als öffentliches Gut preisgegeben
waren. So stürzte sich die ganze Heftigkeit des Journalismus nach
einer Seite hin und unsere Polemik artete nach einer Richtung bis
zur rohesten Rücksichtslosigkeit aus, während sie nach der andern
stumpf und unbeholfen blieb. In der Uebergangsepoche, in welcher
unser Journalismus sich jetzt offenbar befindet, und in dem Maße,
basi immer wichtigere Gegenstände und Personen in sein Gebiet ge¬
zogen werden, wird auch eine gleichmäßigere Entwicklung ihrer Aus»
drucksweise, eine edlere Stimmung ihres Tones, eine höhere Reinigung
ihrer Form wünschenswert!).^


In diesem Punkte kann die Tagespresse von der Gesellschaft
nur empfangen. Wir verstehen natürlich nicht unter Gesellschaft die
bornirten Gränzen der Salonwelt, sondern die ganze große Welt der
Gebildeten. Man hat ein Recht, solche Ansprüche an die deutsche
Presse zu machen, eben weil sie am spätesten zur Entwicklung kam,
weil sie den längsten Weg gemacht hat und die meisten Ersahrun¬
gen gesammelt haben kann. Ohne das gleißnerische, spitzfindige
Raffinement der Franzosen, ohne die ungeschlachte, egoistische Plump¬
heit der Engländer, spiegele sie den deutschen Charakter im Worte
wieder, in humaner Geradheit und in züchtiger Gefälligkeit. Sie
scheue keine Wahrheit, aber sie sei nicht grausam, und was keinem
von unsern beiden Nachbarn gelang, daS gelinge ihr, die Sache
von der Person zu trennen.


Wo endet aber die Sache und wo beginnt die Person? DaS Wort
Persönlichkeit ist in der letzten Zeit eine Vogelscheuche geworden,
gerade so wie im vorigen Jahrzehend das Wort „Demagog" eS war.
Jeder männliche Freimuth wurde mit dem Schreckwort Demagogie
bezeichnet, so wie jetzt hinter dem Worte Persönlichkeit jede von
einem strengen Urtheil gekränkte Eitelkeit hilferufend sich verkriecht.
Der bessere Ton, den wir unserer Journalistik wünschen, soll den
Freimuth ihres Urtheils nicht hemmen; diesen wollen wir vor Allem


[]

ihr gewahrt wissen und darum fragen wir nochmals, was ist per¬
sönlich und was nicht?


Die Frage ist von Wichtigkeit. Für daS Persönliche hat der
Schriftsteller mit seiner Person dem Beleidigten zu stehen; und je
würdiger und geachteter wir die Stellung deS Schriftstellers in der
Gesellschaft wünschen, desto nothwendiger ist es, daß kein Mackel an
seiner Ehre haften bleibe. Andrerseits aber ist Niemand so oft ge¬
nöthigt, Urtheile zu fällen, Interessen und Eitelkeiten zu kränken,
als eben der Schriftsteller; und es ist eben so nothwendig, ihm seine
Freiheit zu wahren. Soll jeder Narr, der sich durch irgend ein Wort
beleidigt glaubt, das Recht haben, ihn aus seiner Ruhe aufzustören?
Soll er wie jene Tempelbauer stets mit einer Hand die Kelle führen
und mit der andern das Schwert bereit halten?


Wir müssen einen besondern Umstand hier in Erwägung brin¬
gen. Die deutsche Schriftstellerwelt hat in den letzten Jahren durch
die aristokratische Literatur einen eigenthümlichen Zuwachs erhalten.
Wir sagen eigenthümlich, weil die Wappenschilde jener Autoren bei
ihrem Eintritt in die Gelehrtenrepublik nicht vor der Thüre draußen
weggestellt, sondern mit hineingenommen wurden. Auch Frankreich
und England haben Schriftsteller mit Grafen- und Fürstenkronen
aufzuweisen, aber diese Herrn gehn nicht wie die Theaterkönige mit
der Krone auf dem Kopf herum, die Pretentionen ihres Standes
zählen nicht gegenüber der literarischen Gleichheit, und der vernünf¬
tige Grundsatz findet seine Geltung: In der Kirche und in der
Literatur sind alle Menschen gleich.


In Deutschland ist es anders. Der aristokratische Schriftsteller
begreift nicht, daß er sich ehrt, indem er in den Kreis der besten
und edelsten Geister seiner Nation tritt, sondern er glaubt sich zu
ihr herabzulassen. Daß wir mit diesem Urtheile nicht zu weit gehen,
beweist schon der Umstand, daß in Frankreich und England der aristo¬
kratische Autor stets seinen vollen Namen auf seinen Werken nennt,
während der deutsche hinter allerlei Pseudonymen sich reserviren zu
müssen glaubt; wie die orientalischen Frauen nur mit einem Schleier
über dem Gesichte sich sehen lassen dürfen, um nicht von dem ge¬
meinen Blick berührt zu werden.


Was das Schlimmste dabei ist, daß die Haut dieser Herrn
wirklich feiner und empfindlicher zu sein scheint, als die gewöhnlicher


[]

Schriftsteller, daß mancher von ihnen den Anspruch macht, die Kritik
solle aus Achtung vor seinem Range (den er doch nicht einmal blos'
gegeben) auch Achtung vor seinen literarischen Mängeln haben; daß ein
absprechendes Urtheil über ihre Productionen gerne auf das Feld
der persönlichen Beleidigung hinübergezogen wird; wie jener russische
Taschenspieler, der auf einer deutschen Bühne ausgepfiffen wurde,
das Publikum zornig fragte: „Gilt das mir oder meiner Nation?"
Wir wollen hier nicht mit Beispielen kommen, obgleich wir deren
anzuführen wüßten; wir wollen nur im Allgemeinen darauf hinwei¬
sen, daß diesen Herrn gegenüber die Frage, was ist persönlich oder
nicht? am nothwendigsten zu erörtern ist.


Denn wenn der bürgerliche Schriftsteller von seinem bürgerlichen
College,, Rechenschaft über einen Ausdruck, ein Urtheil verlangt, so ist
es immer noch Zeit, zu ermitteln, ob die vermeintliche Beleidigung
eine persönliche sei. Wenn der aristokratische Schriftsteller in einem
ähnlichen Falle dem bürgerlichen gegenüber tritt, so dürfte leicht der
Fall eintreten, daß der letztere aus Stolz auf jede Ermittlung ver¬
zichtete.



[]

T a g e b u rh.



i.
Bekenntnisse der Grenzboten.


Mit dem Beginne der zweiten Hälfte dieses Iahrev haben diese Blatte«
eine Veränderung erlebt. Sie haben ihrem Geburtsort außerhalb der deutschen
Grenzen Balat gesagt, um ihr Zelt im Innern von Deutschland aufzuschlagen;
sie haben die Werk'stätte ihres Druckes von Brüssel nach Leipzig verlegt.


Eine neue Epoche bricht für sie herein. Bisher glichen diese Blätter jenen
freien Tscherkessen, die ihrem Baterland aus eignem Triebe dienen, unberührt
von Polizei- und Regimentszwang, nur ihrem eigenen Gewissen folgend; nun
treten sie in die Reihe der — Civilisation! Fortan werden sie nicht mehr
Bart und Haupthaare nach Lust sich wachsen lassen; sie werden ihre Nägel
beschneiden, ihr Kinn glatt scheeren und ihre Glieder in dieselbe Uniform stet-
?en lassen, welche alle übrigen civilisirten Journale Deutschlands ziert.


Da steht sie, die gute Mutter der Deutschen, die Gattin Hermann des
Cheruskers, die gute treue Mutter Censur! Da steht sie und breitet zärtlich
ihre Arme aus, um uns zu empfangen, und weinend stürzen wir an ihre Brust
und Thränen der Rührung ersticken unsere Stimme.


O zürne nicht, du liebevolle, erhabne Mutter, daß wir dich so lange ver¬
leugnete», daß wir so lange auf fremdem Boden deinen treuen Blicken uns
entzogen. Wir haben es schwer gebüßt! Aus allen deutschen Gauen hat man
uns zurückgewiesen, denn die Deutschen sind Männer von tiefer Empfindung
und dem Sohne, der seine Mutter verleugnet, verschließen die Pförtner alle
Thore.


[]

Nun denn, hier sind wir! Wir beugen unser Haupt! Reiße uns die strup¬
pigen Haare aus, begieße sie mit deinem Oel, damit sie schmiegsam werden und
in seinen, gehorsamen Locken sich kräuseln. Zürne nicht, wenn wir noch einen
Scheideblick auf den schönen Boden, den wir verlassen, zurückwerfen und eine
Thräne uns aus dem Auge wischen; nur noch ein Mal gestatte uns die ver¬
lebten Stunden an uns vorübergehen zu lassen — es waren schöne Stunden!
Zürne uns nichts wenn wir die Pietät für sie immer in unserem Herzen be¬
wahren.


Wir dürfen vielleicht behaupten, daß wenige deutsche Journale in dem
kurzen Zeitraume eines Jahres eine so eigenthümliche Geschichte hinter sich
haben wie diese Blätter. Die Grenzboten traten aus einem Boden ins Leben,
auf welchem die deutsche Sprache eine fremde ist. In einem Lande, wo die
französische und holländische (flamändische) Zunge sich hartnäckig um jeden Fuß
breit Erde streiten, wie sollte da das Interesse für eine dritte Sprache möglich
sein? Der Redacteur dieser Blätter glaubte an diese Möglichkeit. Ein zwei¬
jähriger Aufenthalt in Brüssel, vielfache Reisen ins Innere des Landes haben
ihn tausend Elemente kennen gelehrt, die alle nach Deutschland hin sich be¬
wegen. Dieß ist keine leere Phrase. Abgesehen von den dreißigtausend Deut¬
schen, welche in Belgien zerstreut leben (in Brüssel allein gegen 10,000) und
zum Theil den Kern des Handelsstandes und des Untervichtswesens bilden, ab¬
gesehen von der Provinz Luxemburg, wo die deutsche Sprache zu der franzö¬
sischen in demselben Verhältnisse wie im Elsaß steht, gewinnt die Borliebe für
deutsche Literatur und Redeweise unter den Flamändern mit jedem Tage eine
größere Ausdehnung. Der Flamänder kann mit wenig Mühe das Deutsche
vollkommen verstehen; seine Culturbedürfnisse treiben ihn, sich dies Verständniß
anzueignen und seine Abneigung gegen die französische Sprache steigert das
noch. Hierzu gesellen sich noch vielfache politische, religiöse und kommerzielle
Rücksichten. Die Regierung, welche die geheimen Gedanken Frankreichs und
das Gelüste, mit dem es aufWelgien blickt, wohl kennt, sucht eifrig an Deutsch¬
land einen Verbündeten und im Nothfalle eine schützende Gewalt zu finden.
Jener Theil des HandelSstandcs, den wie in Antwerpen seine Interessen an
Deutschland knüpfen, sucht fast ängstlich eine Vertretung gegen jene Faction,
die den französischen Zollanschlufi herbeizuführen wünscht. Die gelehrte und die
Kunstwelt, die Literatur, das Unterrichtswesen hat unzählige Vertreter, die
eifrig die vielfach verbreiteten französischen Prinzipien durch deutsche Muster
verdrängt zu sehen wünschen. Und doch, wie wenig wurden alle diese Inter¬
essen bisher von der Presse gefördert. Die belgische Journalistik befindet sich



[]

fast ausschließlich in den Händen von Franzosen; von Deutschland werden nur
die allernöthigsten Tagesneuigkeiten aufgenommen und selbst diese werden vie¬
len belgischen Journalen aus der zweiten Hand zugeführt, aus einer Art Corre«
spondcnzfabrik, welche sich in Lüttich etablirt hat und die Anschaffung deutscher
Journale ersparen will. Jene Redactionen verschweigen nun die meisten Ur«
theile, welche Deutschland über Belgien fällt, wenn sie nicht in ihren Kram
passen. Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Man hat in Deutschland
den Kopf darüber geschüttelt, daß der verlciumderischen Nachricht, König Leopold
habe die belgische» Nachdrucker aufgemuntert, auch deutsche Bücher nachzu¬
drucken, von keinem officiellen belgischen Journal widersprochen wurde. Aber
man wußte in Deutschland nicht, daß kein belgische« Journal ein Wort von
der Empörung und dem Geschrei erfuhr, welches die deutsche Presse über jenes
Gerücht erhob. Und welche Urtheile hat Belgien in Deutschland gesunden?
In der ganzen deutschen Presse sind kaum vier Journale, welche Originalbe¬
richte aus Belgien enthalten; und das gründliche Deutschland kennt von Bel¬
gien nichts als den Skandal.


Hier war nun ein doppelt edler Beruf zu verfolgen; einerseits dem deut¬
schen Batcrlandc, seinen geistigen und materiellen Interessen neuen Boden zu
gewinnen, andererseits wieder das schöne Land, welches durch die Freiheit
seincrJnstilutionen, so wie durch die Denkmäler seiner uns verwandten Geschichte
und KunstJcdcm, der eine längere Zeit in seiner Mitte weilt, theuer wird —
gegenüber von Deutschland zu vertreten, und die zahllosen Vorurtheile, welche
schlecht unterrichtete Journale und mißwollende Rücksichten gegen Belgien auf-
gethürmt haben, zu zerstreuen.


Der Redacteur dieser Blätter hatte die Ueberzeugung, daß ein Organ,
welches nach dieser Richtung hin wirkt, ein nicht überflüssiges und erfolgloses
sein würde — mehrere Gleichgesinnte schlössen sich ihm an; die nöthigen Fonds
wurde» zusammengelegt und diese Zeitschrift trat ins Leben.


. Zu den großen Privilegien, welche ti« Presse in Belgien besitzt, gehört auch,
daß die Herausgabe eines neuen Journals keiner zuvor nachgesuchten Erlaubniß
bedarf. Das gedruckte Wort hat dasselbe Recht wie das geschriebene; der es aus¬
gesprochen, hat es zu verantworten — es auszusprechen, ist Niemand benommen.


Diesem Grundsatze gemäß, und in dem Bewußtsein eines edlen lautern
Zweckes unterließ es die Redaction, sowohl bei der belgischen, als bei irgend
einer deutschen Regierung vor dem Erscheinen dieses Blattes irgend einen
Schritt zu Gunsten desselben zu thun, fest überzeugt, daß die Tendenz desselben
unmöglich zu verkennen sein werde.


[]

Wir hatten u»6 getauscht. Von beiden Seiten wurde» wir mir mißtraui¬
schen Blicken betrachtet. Zunächst von Belgien, wo das Seltsame unseres
Unternehmens manche sonderbare Vermuthung Hervorries. Es fehlte nicht an
Stimmen, die behauptete», die „Grenzboten" standen im Dienste eines be¬
nachbarten großen deutschen Staates; indessen in einem Lande, welches so
ängstlich über seine Interessen wacht, konnte unser Streben nicht lang alß»
deutet werden. Die belgischen Journale, welche fast aus jeder unserer Num¬
mern Auszüge übersetzten, einzelne Artikel, welche die englischen Blätter von
uns entlehnten, trugen dazu bei, uns von jedem Verdacht zu reinigen und
diesen Blättern Eingang ins Publikum zu verschaffe». Wenn die Ver¬
breitung eines Journals einen Beweis sür de» Erfolg seines Strebens liefern
kann, so spricht für uns der günstige Umstand, daß diese Blätter trotz ihrer
fremden Sprache, trotz der kurzen Zeit ihres Bestehens in zahlreichen Exil»,
plaren in Belgien verbreitet sind und nicht nur in vielen deutschen und flaua»-
disthen Familien der Hauptstadt und der Provinz, sondern auch an den meiste»
öffentlichen Orten, Casinos -c. Zugang gefunden haben. Weniger glücklich
waren wir da, wo wir den geringsten Widerstand erwarteten, in Preußen.


Wir wollen hier keine Anklage erheben. Wir wollen uns nicht beklage»,
daß man einem Journal, welches in rein nationaler Gesinnung wirkte, el»
Hemmnifi in den Weg legte. Preußen hatte das Recht dazu. Das Bundes,
gcsctz verbietet piivii jede in, Auslande erscheinende deutsche Schrift. Di^
Grenzboten erschienen ohne Censur, zwar legten wir uns selbst eine so strenge
auf, als wären wir bei einem ganzen Censurcollegiuin in die Schule gegange»,
zwar konnte eine rücksichtslose Opposition gar nicht in der Absicht einer Zeit¬
schrift liegen, deren Tendenz es ist, Deutschland von seiner glänzendsten Seite
einem fremden Volke zu zeigen, zwar gingen unsere Artikel in die meiste»
deutschen Journale über und die preußische Presse, selbst die Staatüzeitung
zögerte <M nicht, uns solche zu entlehnen, zwar fanden die Grenzboten in
alle übrigen deutschen Staate» freien Eintritt, ohne daß eine Beschwerde da¬
gegen sich erhob — dennoch wollen wir nicht klagen. Der Redacteur die'.r
Blätter ist kein Preuße, er bot Preußen keine Garantie, er ließ die ersten
Monate verstreiche», ohne bei der preußischen Regierung um die Zulassung
seine« Journals nachzusuchen, und erstmals er die Hoffnung aufgab, daß diese
von selbst erfolgen werde, und sich endlich im Den. vorigen Jahres zu diese».
Schritt entschloß, da wandte er sich mit Ucvcrgchung der preußischen Ge¬
sandtschaft in Brüssel an das Oberpräsidium i» Rhcinprcußen, von welchem
er den Bescheid erhielt, daß sei» Gesuch an die Regierung übermittelt wurde.


[]

Obschon seitdem sechs Monate verstrichen sind, so ist dennoch der Redaction
keine Antwort auf ihr Ersuchen geworden, vielmehr hat das Aachener Postamt,
als die nächste deutsche Postbchörde für Belgien, die entschiedene Weisung er¬
halten, daß die Grenzboten in Preussen nicht zugelassen werden können. Das
Verbot in Preußen ist für uns weit gewichtiger, als für jede andere Zeitschrift,
da diese Blätter, um von Brüssel nach Deutschland zu kommen, Preußen be¬
rühren müssen. Dennoch hielten wir es sür unstatthaft, weitere Schritte
zu thun.


Wohl aber haben wir den Muth, unserem Unternehmen trotz aller Schwie¬
rigkeiten den fernern Bestand zu sichern. Von nun an werden die Grenzbo¬
ten unter deutscher Censur in Leipzig erscheinen. Das Landesgesetz, welches
r>, sirlori gegen sie sprach, findet fortan keine Anwendung auf sie. Im Be¬
wußtsein, während der ganzen Zeit ihres Bestehens stets würdig und national
und mit sclbstvcrleugncnder Mäßigung gewirkt zu haben, könnte uns die Auf¬
sicht, der wir uns jetzt wie alle anderen deutschen Blätter unterziehen, glctch-
giln'g sein; immerhin aber bleibt es schmerzlich, was man früher aus freiem
Willen that, nun thun zu müssen.


Wir haben unsern Standpunkt offen und loyal dem Publikum dargelegt;
um so mehr dürfen wir hoffen, daß man uns Glauben schenken wird, wenn
wir versichern, daß die Ortsveränderung auf die Gesinnung und Haltung die¬
ser Blätter von keinem Einfluß sein wird.


Note: I. Kuranda.

2.
Briefe aus Paris.


Note: Münchhausen und die Schnepfenjagd. — Die Kämpfe der Presse. — Journale zu
funfjchii Franken! — Frankreich und Deutschland als Vrügcttnabcn. — Hamburg.
— Der Tischlermeister Kaiser. — Schumann. — Heine.

Es findet sich im alten Münchhausen eim kostbare Episode; es ist die,
wo er auf die Jagd geht und ein ganzes Schock Schnepfen ohne Flinte und
ohne Netz als Beute nach Hause bringt. Er hatte nämlich pfiffiger Weise
ein dürres Brodrindchc» an's Ende einer langen Schnur befestigt und warf
es den Schnepfen vor. Die erste biß an, da die Speise aber etwas unverdaulich
war, so gab sie es aus anderem Wege wieder von sich. Nun verschluckte die


[]

zweite den Fund; gleicher Erfolg. Ebenso die dritte, die vierte u. s. w. Als
das ganze Schock sich auf diese Weise an der langen Schnur ausgefädelt hatte,
zog der pfiffige Jäger sie an sich, wickelte sie um den Leib und eilte mit dem
Fange nach Hause. Plötzlich aber singen die Vögel an unruhig zu werden,
breiteten ihre Flügel aus und flatterten in die Höhe. Der erschrockene Münch-
hausen wurde in die Lüfte gehoben und sah zu seinem Entsetzen sich plötzlich
zwischen Himmel und Erde schweben. Aber der alte Münchhausen war nicht
der Mann, der sich prellen ließ; bald hatte er seine Geistesgegenwart wieder
gefunden und beschloß aus diesem Iwischcnfallc Nutzen zu ziehen und auf ei¬
nem um so schnellern Wege zu seinem Ziele nach Hause zu gelangen. Er sing
an, die fliegenden Schnepfen so, wie man einen Wagen kutschirt, nach der Ge¬
gend zu lenken, wo seine Wohnung sich befand, und als er nun über den
Kamin seines Hauses flog, da drehte er einer Schnepfe nach der andern den
Kopf um und senkte sich auf diese Art langsam und allmälig durch den Schorn¬
stein herab und gelangte wohlbehalten und zum Erstaunen des ganzen Küchcn-
personalö in der Mitte der Seinigen an. — Diese vortreffliche und höchst
merkwürdige Geschichte erscheint Bieten als eine närrische Aufschneiderei und
lächerliches Lügengewebe; aber der Weise sieht ihr auf den Grund und bemerkt
leicht, daß es eine gar tiefsinnige Allegorie ist, welche den Kampf, den der
Juli-Thron seit zwölf Jahren mit der Presse führt, sehr beißend und treffend
pcrsisflirt. Als nämlich am Morgen nach der Julirevolution der kluge Waid-
man», der sich so gern den Napoleon des Friedens nennen hört, das kleine
Brodrindchen, die kleine Phrase Ili, alares ssra un? vvritö, an die lange
Schnur der neuen Konstitution befestigte, da bissen die guten Schnepfen Frank¬
reichs an. Heißhungrig schnappten sie nach der leckeren Phrase und der kleine
Köder ging von Schnabel zu Schnabel. Als alle an der Schnur festsaßen,
da wickelte sie der kluge Jäger um sich herum und glaubte nun ganz ruhig
genießen zu können. Aber die Bögel singen an zu flattern und zu zappeln,
die Journale sammelten ihre Kräfte und rissen kreischend und alle Kräfte anspan¬
nend den Waidmann in die Höhe. Der Boden unter seinen Füßen schwand,
mit Entsetzen sah er jede» Augenblick mit dem Sturze sich bedroht. Unten
aber standen die Epiciers und alle die kleinen Leute über deren Haupt der
gefährliche Flug hinwegzog, und zitterten, daß er auf sie herabstürzen und ih¬
nen die Köpfe zerschmettern könnte. Der Waidmann aber verlor die Geistes¬
gegenwart nicht; er lenkte und lenkte, und als er den günstigen Zeitpunkt ersah, da
begann er allmälig einem Journale nach dem andern den Hals umzudrehen und
Europas Küchcnpcrsonal sieht nun mit Erstaunen den Fliegenden durch den


[]

Schornstein herabkommen, etwas angeschwärzt zwar, immerhin aber wohlbe¬
halten und unversehrt. Die erwürgte Presse aber, die Journale mit ihre»
umgedrehten Hälsen und die herumslattcrnde», zerrupften Federn geben einen
jammervolle», rührenden Anblick. Gestern noch so flügge und lustig, alle An,
gen nach ihrem Fluge gerichtet und heute die Beine von sich streckend und
verröchelnd. Sie sind todt, mausetodt, und Sie brauchen nur die letzte Kam-
mervcrhandlung in Bezug auf das Journal I.ol'eiiiiis zu lesen und die Sicherheit
zu beobachten, mit welcher hier Hebert die ganze Procedur auseinandersetzt, um
sich zu überzeugen, daß der Tag der Auferstehung nicht sobald sich nahen dürfte.
Die Maßregel, daß die Regierung alle ihre Annoncen jenen Journalen zuwen¬
dete, welche ihr geneigt sind, und den Oppositionsjournalen dieselben entzieht,
ist wohl einer der entscheidendsten Schläge, mit welchem man die Tagespreise
in Frankreich bisher bekriegte. Nicht nur, daß man die Hälfte der Einkünfte
den Oppositionsjournalcn dadurch entzieht, so zwingt man auch denjenigen
Theil des Publikums, der namentlich in den Provinzen sich weniger um
die Politik der ersten drei Journalsciten, als um die geschäftlichen Ankündi¬
gungen auf der vierten Seite kümmert, von nun an den regierenden Jour¬
nalen sich zuzuwenden. Es ist kein leeres Gerücht mehr, daß die Regierung
sich mit der Etablirung dreier neuer Journale trägt, deren Preis ganzjährig
nur Is Franken betragen wird. Dieser Maßregel gegenüber muß alle Eon-
currenz der Opposition aufhören, und wir können leicht die Zeit erleben, daß
die ceiisirtc» deutschen Journale ein Muster von Liberalismus für die franzö¬
sische» werden.


Deutschland, das seit Jahrhunderten der Prügelknabe Frankreichs gewesen
ist, und für alle Dummheiten und Schlechtigkeiten, die dieses beging, büßen
mußte, Deutschland scheint nun die Rolle gewechselt zu haben. Sie können
es in allen Revuen und Journalxn, die von der hiesigen Regierung unterstützt
werden, lesen, daß Deutschland ein Musterland ist. Namentlich ist die Revue
des deux Mondes voll des Lobes über Oesterreich und Preußen. Bei ihr spielt
jetzt Frankreich den Prügelknaben und bei jedem Lobsprüche, den sie dem deut¬
schen BolkSgeiste ertheilt, kriegt Frankreich immer einen tüchtigen Puff auf
den Rücken. Daß dieses nicht dazu beiträgt, die Deutschen hier populär zu ma¬
chen, können Sie leicht denken. Sie müssen sich auch davon nicht irre machen
lassen, wen» die hiesige» Eorrcspondenten in den deutschen Journalen Lärm
schlagen über de» gewaltigen Eindruck, den der Brand von Hamburg hier
gemacht und ub^r die allgemeine Theilnahme, die Paris an diesem Er¬
eignisse genommen. Ich will die Gewissenhaftigkeit dieser Herren nicht i»


[]

Argwohn ziehen, ich will nicht behaupten, daß sie in's große Horn stoßen, da¬
mit die Kühe aus den deutschen Bergen die Köpfe voll Verwunderung zu¬
sammenstecken, nein ich will gerne glauben, daß diese Herren an alle die gro¬
ßen sympathetischen Wunderthaten, welche die Sympathien für Hamburg nach
ihrer Behauptung hervorgebracht haben sollen, glauben. Der Deutsche geht
hier größtentheils mit dem Deutschen um und die deutschen Korrespondenten
haben das, was sie in ihren Kreisen hörten, für die Stimme von ganz Paris
genommen. sZählen Sie mir die Subscribenten im Journal des DcbatS — wer
sind die Veitvagenden ? Zwei Drittel sind Deutsche, und von dem andern sind
drei Viertel elsäßische Juden — den kleinen übrigen Rest bilden die eigentli¬
chen Franzosen.Z Was kümmert den Pariser Hamburg? Ihm ist Saoma
und New-York und Hamburg ganz gleich. Ich wollte, man könnte die Stim¬
men zählen, welchen in Deutschland ein Ah! des Entsetzens über das Unglück
auf der Ncrsailler Eisenbahn entschlüpfte und die Stimmen, welche in Frank¬
reich irgend eine Theilnahme für Hamburg äußerten! Wir wollten dann sehen,
in welchem Lande man sich mehr für das Unglück des Nachbars interessirte.
Und doch wie gering ist das Versailler Unglück gegenüber dem Hamburger!
Glauben Sie nicht, daß ich über den Vorfall auf der Versailler Eisenbahn so
kalt spreche, weil ich nicht persönlich dabei betheiligt bin; das Unglück hat mich
fast direct berührt, da mein Landsmann, der Tischlermeister Kaiser, ein mir sehr
werther Mann, unter den Leichen war. Man hat ihn nicht herausfinde» kön¬
nen, den Unglücklichen, und zwei elternlose Waisen bleiben in dem weiten Pa¬
ris hilflos zurück. Kaiser war als Geselle im Jahre 1S28 hieher gekommen.
Er ist aus einer achtbaren Familie (sein Bater war beim Magistrate ange¬
stellt) und hatte eine ziemlich gute Erziehung erhalten. In den Julitagen
beging er, wie viele deutsche Handwerksburschen, die hier lebten, die Unvorsich¬
tigkeit, sich in Dinge zu mischen, die ihn nichts angingen; er wurde bei ei¬
nem Straßcngcmetzcl verwundet, kam ins Spital und blieb da sechs Woche»
liegen. Dadurch erfuhr unsere Gesandtschaft die Geschichte und machte einen
Bericht darüber. Sein Wanderbuch war gerade abgelaufen und man verwei¬
gerte ihm die Erneuerung. Man verlangte, er solle zurück in seine Heimath,
aber er traute nicht. Ohnedieß hatte eine hübsche, schwarzäugige Französin,
die in der Borstadt Se. Antoine mit weißen seinen Händen in einem Tabaks-
ladcn geschäftig waltete, sein ehrliches deutsches Herz gegen schlechten franzö¬
sischen Regie-Tabak eingetauscht. Er verheirathete sich; sein Vater schickte
ihm einiges Geld zur Einrichtung, er etablirte sich und das Glück, welches den
»leisten deutschen Arbeitern hier sich so hold zeigt, lächelte auch ihm. Sei»


[]

Atelier machte ihn wohlhabend, und als seine Frau nach zwei Jahren starb,
nahm er seine Schweflet zu sich. Es war ein hcrzzerschncidendcr Anblick, diese
Schwester am BcgrSbnißtage, die beiden elternlosen Waisen an der Hand, sich
auf das Grab stürzen zu sehen. Die Eisenbahnverwaltung hat sich er¬
boten, die Kinder erziehen zu lassen. Das Atelier wird von dem Werk-
führer, gleichfalls einem Deutschen, fortgeführt werden. Wenn uns nur
alle Deutschen so viel Ehre machten, wie unsere Handwerker! Diesem Schu¬
mann, der mit seiner Truppe uns so blamirt hat, möchte ich einen Denkzettel
auf den Weg mitgeben, daß er sein Lebelang daran denken sollte. Es .ist
unter mehreren jungen Deutschen hier ernstlich davon die Rede gewesen, ihn
und seinen Pächter (denn Schumann ist nur wie ein Frachter mit seinem Wa¬
gen und seinen Gäulen, von einem Speculanten gepachtet gewesen) weidlich
durchzuprügeln. Man hat diesen schönen Plan aufgegeben, weil man nicht
noch größeren Scandal zum Besten geben wollte, als schon geschehen ist. Aber
ich wünschte, daß, wie dieser Mensch den deutschen Boden betritt, hundert
handfeste Choristen an der Grenze stünden, von denen ihm jeder eine tüchtige
Maulschelle im Namen aller Uebrigen gäbe- Nicht nur, daß er die deutsche
Kunst auf mehrere Jahre hinaus in Mißcredit brachtet, hat er auch den deut¬
schen Charakter in Schatten gestellt. Und wahrlich, die Franzosen haben nicht
Unrecht, von diesen „t>vtos aUemanslss" zu sprechen, die plump, dumm und
sogar frech genug sind, Paris mit Kräften erobern zu wollen, die für keine
Borstadtbühne ausreichten. Wie wenig sonst Frechheit im Charakter des
Deutschen liegt — hier giebt es keine andere Bezeichnung. Nun büßen sie es,
die Abenteurer! Die deutsche Kunst bettelt von Thüre zu Thüre, von Esta-
minet zu Estaminet. Keine Uebertreibung! Ich habe Leute aus dem Schu-
mannschen Chöre mit der Guitarre an den öffentlichen Plätzen herumziehen
sehen — um so von der Würde unseres Theaters auch dem Pöbel einen Be¬
griff zu geben. Pfui — pfui! Ich mag über die dumme Geschichte Ihnen
gar nicht mehr schreiben.


Ueber Heine 's Schildcrhcbung für Rossini's Stalle gegen die deutsche Musik
und namentlich gegen Mendelssohn-Bartholdy (in der Augöb.Allg.) hat man wohl
in Deutschland sich eben so angelegentlich unterhalten, wie hier- Es zeigt sich im¬
mer mehr, wie Recht Heine hatte, als er seine Muse eine „gute Dirne" nannte;
man könnte sie noch besser eine Sirene nennen. Ach, wie sie zaubern und
trügen kann! Durch die reizende Schilderung einer Kinderprocession in Cette,
die ihn bald katholisch gemacht hätte, beweist Heine auf ein Haar, daß Rossini
eigentlich christlicher sei, als Händel, Bach und Mendelssohn-Bartholdy. Und


[]

dabei weiß er eine kleine Teufelei von solcher Feinheit anzubringen, daß ein
geübter Sinn dazu gehört, um sie recht zu genießen. Wie naiv kleidet Herrn
Heine die Harmlosigkeit, mit der er beiläufig erwähnt, daß er Mendelssohn
nicht etwa darum für unchristlich halte, „weil er erst im dreizehnten Jahre sein
Christenthum anfing." Eine wahrhaft weibliche oder vielmehr weibische
Medisance. Heine selbst bekommt beinahe Krämpfe, wenn man sich die lei¬
seste Anspielung auf seine jüdische Abstammung erlaubt. In Deutschland, so
viel ich weiß, war es noch Niemand eingefallen, gerade Mendelssohn gegen¬
über dergleichen zu berühren. Dies mußte Heine, der hier in Paris den Kos-
mopolitiomus studirt, vorbehalten bleiben.


Note: Philipp P**".

Plaudereien.


Radirungen von Wltthöft nach Originalgemälden deutscher Künstler.

Ein Prachtwerk, wovon das erste Heft so eben bei Wigand und Mayer
erschienen ist. Es enthält: Schloß am Rhein von Lessing, Abendandacht von
S. Richter, der umgeworfene Heuwagen von Bürkel. — Drei Radirungen in
groß Folio, von welchen namentlich das mittlere von einem wunderbaren Reiz
durchweht ist. Unternehmungen dieser Art sind namentlich in Deutschland
wichtig und von guten Folgen. In Deutschland, wo keine große Stadt wie
Paris der Mittelpunkt aller Kunstschätze der Nation ist, wo die Schöpfungen
unserer besten Meister größtenteils Privateigenthum, wenn es hoch kommt,
Provinzialeigenthum, und nur in den seltensten Fällen Eigenthum der Nation
werden. Kann man unsere Kunstausstellungen mit dem Pariser Salon ver¬
gleichen? Die Berliner Künstler schicken eben so wenig Bilder auf die Wiener
Ausstellung, als die Wiener auf die Berliner. Und doch sind es die beiden
Ccntralstädte der zwei größten Staaten Deutschlands. Die Vervielfältigung
des einzelnen Bildes durch Aetzung und Stich ist daher nirgends so wünschens-
werth und willkommen als bei uns, namentlich wenn sie, wie hier, durch eine
geschmackvolle Wahl geleitet wird.


[]
Di« deutsche Monatsschrift.

Man hat den deutschen Schriftstellern oft den Vorwurf gemocht, daß sie in'S
Blaue hinein schwärmen, und die unpraktischsten Ideen von der Welt zu Tage
fördern. Herr Karl Biedermann gehört nicht zu diesen Ideologen-, er be¬
faßt sich vielmehr mit den materiellen Interessen aus unmittelbar praktischer
Nähe und hat, um doch den deutschen Gelehrten nicht zu verleugnen, seine
utilitarischen Ansichten in ein System gebracht, das er mit vieler Konsequenz
in seiner „Deutschen Monatsschrift für Literatur und öffentliches Leben"
durchführt. Diese Monatsschrift ist von Wichtigkeit; sie entwickelt nicht nur
eine vielseitig anregende und befruchtende Thätigkeit für Alles, was praktische
Reform ist, sie zeigt auch offen und unverhüllt die Kehrseite des Materialis¬
mus. Wenn Biedermann den politischen Fortschritt, die Entwicklung freier
Staatsverfassungen, vom unaufhaltsamen Gang des umpflügenden und associi-
rcndcn Jndustrialismus erwartet und deshalb geduldiger in sei'n.n Forderungen
ist, so werden ihm selbst die Liberalen, obgleich unmuthig, Recht geben müsse»;
wenn er aber andrerseits Philosophie, Poesie und Wissenschaft nur vom Stand¬
punkt der materiellen Fortschrittsfragc mit haushälterischer Augen betrachtet,
wenn er noch jetzt nach 300 Jahren der deutschen Reformation einen der eng¬
lischen ähnlichen Gang geben möchte und, weil dies nicht geht, aus einer
Trennung von Staat und Kirche besteht, so wird ihm die entgegengesetzte
Partei mit Recht vorwerfen, daß er keinen, oder nur einen äußerlichen Grund
habe, sich als nationale Partei hinzustellen. Dieser Widerspruch hängt aber
mit dem Umstand zusammen, daß Biedermann, bei aller konstitutionellen Mä¬
ßigung, im Wesentlichen revolutionairer und gewaltsamer ist, als die ent¬
schiedensten Liberalen, so wie in seiner Indifferenz gegen die speculativ - theolo¬
gische Lösung uralter Räthsel eine crasserc Negation des Christenthums liegt,
wie in Strauß, Feuerbach und Bruno Bauer. In der That, was würden Sie
zu einem Freimuth sagen, der sich also äußerte: Strauß und Feuerbach haben
ganz Recht, jener geht mir sogar nicht weit genug, allein was haben wir für
positiven Nutzen davon? Was soll uns die unfruchtbare Erkenntniß ? Gebe»
wir die Kirche frei, betrachten wir die Religion bloß praktisch, als Cultus,
und jenes beunruhigende Philosophiren wird von selbst aufhören.— Das hieße,
noch etwas deutlicher gesprochen: Wir wollen thun, als wüßten wir nicht, was
wir wissen. Die Wahrheit wollen wir als einen zufälligen Fund, nicht als eine
nothwendige Frucht des Denkens betrachte» und wen» wir die Frucht vom
Baum der Erkenntniß nur entschlossen wegwerfe», wird der Baum selbst schon


[]

dir Lust verlieren, neue Früchte zu tragen.—So ungefähr spricht Biedermann
in einem Artikel über Strauß und Feuerbach.


Biedermann setzt gleich im Eingang seiner Controverse als ausgemacht,
daß eine Versöhnung zwischen dem Glauben und der modernen Wissen¬
schaft, zwischen der christlichen und speculativen Weltanschauung unmöglich sei,
und zwar, indem er der letztern das Kompliment macht, daß man sie nicht
mehr widerlegen könne. . Dennoch scheint Biedermann zu verlangen, daß
man diese moderne Wissenschaft, obgleich oder vielmehr, weil sie gegen den posi¬
tiven Glauben im Rechte sei, mit Gewalt besiege, d. h. verwerfe. Denn in¬
dem er anerkennt, „daß die Strauß-Feuerbach'sche Richtung das unvermeid¬
liche Ergebniß des PhilosophirenS selbst und zwar des gründlichsten und
konsequentesten PhilosophirenS ist," wessen kann er die Philosophie noch ankla-
klagcn alö ihrer Existenz überhaupt'! Hier müßte er konsequenter Weise die
Akten schließen; der Poet, Phantasie- und Gefühlsmensch wird, auf diesem
Standpunkt angekommen, vielleicht seine Klage erheben über das Unglück des
menschlichen Geistes, der so traurige Siege erkämpft, der im Triumph des
Wissens zugleich den Untergang seiner glücklichen Kindheit, seiner naiven An¬
schauung feiert; und wer weiß, ob selbst diese Klage nicht blos von den Lippen
poetischer Schwächlinge ertönen wird? Aber selbst der Gefühlsmensch wird
jedenfalls einsehen, daß eine Wahrheit, einmal als Wahrheit erkannt, so wenig
sich vergesse» und beseitigen, als etwas Geschehenes ungeschehen machen läßt.
Hr. Biedermann aber gründet darauf eine radicale Polemik gegen das An»
sehen der speculativen Wissenschaft, gegen die Einbildung, als habe man ihr
irgend etwas zu verdanken. Und indem er dies beweisen will, beweist er wieder
blos ihre Begründung im Leben; denn er bestreitet ihr nicht den Werth der
freien Forschung, sondern das Verdienst der Initiative, wenn er fragt: (S.26.
„Hat nicht vielmehr der unwiderstehlich hervorbrechende Trieb nach empirischem
Wissen und nach praktischer Gewerbthätigkeit den ersten Anlaß zum freien
Forschen gegeben"!" und wenn er sich auf Strauß' Worte beruft- „haß die
mannichfachen Einwirkungen der Physik, Geographie, Astronomie u. s. w. es
waren, welche die biblischen und kirchlichen Vorstellungen von Himmel und
Erde, Gott und Schöpfung nach und nach in die Gestalt gebracht haben, in
welcher sie im philosophisch gebildeten Bewußtsein unserer Zeit vorhanden
sind." Ja, nachdem Hr. Biederm-», auch Hugo Grotius' vernunftmäßige Be¬
gründung des socialen Rechtes und zuletzt selbst die Reformation auf seine ma¬
teriellen Interessen zurückgeführt hat, schließt er- „Jene positiven Resultate,
welche die Philosophie für die Resultate ihrer Dialektik, ihrer Opposition gegen


[]

die Autorität des Glauben« ausgibt, sind keineswegs auf diesem Wege allein
erlangt worden; sie wurzeln vielmehr im Leben selbst, in den Fortschritten der
allgemeinen Cultur." u. s. w. Ist das nicht die schlagendste Rechtfertigung
der Philosophie? So klage doch Hr. Biedermann das Leben, die moderne
Cultur und vor Allem die Naturwissenschaften an! — Allein ich glaube, trotz
dieser scheinbaren Widersprüche, Hrn. Biedermann zu verstehen. Es ist nicht
der poetische oder religiöse und überhaupt gemüthliche Schmerz über jene Re¬
sultate der Spekulation- es ist der terroristische Materialismus, der Alles bei
Seite werfen möchte, was nicht unmittelbar praktisch nützt. Er möchte,
das, jener erste Anstoß, den der Trieb nach empirischem Wissen zum freieren
Forschen gab, zu weiter nichts geführt hätte, als zu Industrie, Gewerbthätig-
keit und materiellen Interessen. Wie könnte er sonst so prosaisch fragen -
(S- 27.) „Haben- sich unsere tüchtigsten Naturforscher in den dialektischen
Kämpfen der theologischen Speculation ausgebildet? sind die bewundernswerthen
Fortschritte unserer Industrie, — unter der Herrschaft und Leitung des philo¬
sophischen Bewußtseins zu Stande gekommen?" — Es läßt sich erwarten,
daß Hr. or. Biedermann mit der Zeit dieselben Fragen auch an die Poesie
stellen wird; die Poeten und Aesthetiker, welche jetzt mit den Borsechtern des
Materialismus so gern gegen die Philosophie sich verbinden, mögen, sich daher
vorsehen. Ich glaube sogar, daß mit der Zeit in einem Biedermann'sehen
Staate auch dem Christenthum der Aufenthalt gekündigt wird; denn, ohne
an die Positivität desselben zu glauben, es in positiver Gestalt erhalten wollen,
heißt ein politisches Mittel daraus machen; und wenn ein Mittel nicht mehr
verhängt, läßt man es fallen.


Wir unsererseits müssen gestehen: Es ist wahr, die Philosophie hat von
jeher Krieg geführt mit dem Glauben und diesen zuweilen gestürzt, z. B. im
alten Griechenland und Rom, wo sie dadurch dem Christenthum die Bahn
brach, ein Beweis von ihrer welthistorischen Bestimmung. Ein schwacher Christ,
der da fürchtet, daß die Philosophie heute eben so das Christenthum stürzen
könnte! Steht dieses nicht höher als das alte Heidenthum? So viel für
den tlo/ensor ticlei. —


Die Vertreter des Materialismus aber mögen bedenken, daß sie kein Volks«
bcwußtsein, keine Nationalität !c. für ihre Gottheit aufrufen könnten, verhieße
der Materialismus nicht die Erfüllung höherer Forderungen, die uns erst ein
von Poesie und Philosophie angefachtes Culturleben stellen lehrte.


[]
Di« deutschen Bühnen und die Th-atcrd ichttr.

Wenige Tage nach der Aufführung eines neuen Stückes in Paris erscheint
das Buch im Druck; für wenige Sous steht es dem Publikum an allen Stra¬
ßenecken feil. In Deutschland kommt das Buch erst nach einem Jahre, oft¬
mals noch später zum Vorschein. Mittlerweile streiten darüber die Recensenten
aus allen Winkeln, wie die Hähne um die Henne. Jeder meldet etwas An.
teres; jeder erzählt den Inhalt auf eine andere Weise. Das Publikum kann
nicht selbst urtheilen, denn das Stück liegt nicht vor. Der Dichter wird zcv
setzt, zerbissen, und wenn nach einem Jahre der Druck des Drama's beginnt,
hat er bereits tausend Wunden in der öffentlichen Meinung erhalten. Woher
dieser Mißbcstand! fragt man die Dichter, so antworten sie: Wir können nicht
anders; sobald wir das Drama drucken lassen, sind die Bühnen nicht mehr
verpflichtet, uns zu zahlen. Dieses Argument scheint einer honnetten Theater-
direction gegenüber unbegründet. Was für moralischen Grund kann eine an¬
ständige Bühncnleitung haben, dem Dichter sein ihm gebührendes Honorar
vorzuenthalten, weil sein Stück gedruckt ist? Wird ihre Einnahme dadurch
geschmälert? Im Gegentheile erhält sie bei grossen Stücken das Ersparniß und
die Erleichterung, daß sie die Hauptrollen nicht kostspieliger Weise copiren zu
lassen braucht, sondern das ganze Buch den Schauspielern in die Hände giebt.
Da an manchen Bühnen das Honorar des Dichters kaum so viel beträgt, als
der Lohn, den der Theatcrcopist für das Ausschreiben der Rollen und des Souf-
flirvuches erhält (dieß ist keine Uebertreibung — nicht nur an fast allen Pro«
vinzialtheatcrn, sondern auch an mehreren Hostheatern ist dies der Fall, der
Copist gewinnt an dem Stücke mehr als der Dichter!) so ist eine Honorarent¬
ziehung in solchen Fällen doppelt ungerecht. Und doch lassen sich so mäkler¬
artige Ungerechtigkeiten selbst vielen Hofbühnen nachweisen. Ja, oft wenn
Jemand aus dem Publikum bei einem Regisseur sich erkundigt, warum denn
dieses oder jenes Drama nicht gegeben werde, hört man die Antwort: Wir
warten, bis es gedruckt erscheint! — So wartet auch die Katze, bis das Mäus¬
chen aus dem Loche herausschlüpft — husch, ist es hinter ihm her, um es als
gute Prise zu verspeisen. Wenn die Schriftsteller ernstlicher zusammenhielten
und Knausereien dieser Art gehörig controllirten und züchtigten — so würde
dieses und »och manches Andere — ganz anders werden!


Russische Zustände.

Rußland ist mächtig. Polen, der Kaukasus und die preußischen Grenzlande
fühlen seine schwere Hand. Aber im Herzen Rußlands wuchert das Unkraut


[]

und gleißend stehen die Blüthe» exotischer Cultur, Luxus und Laster, über dem
faulen Sumpfe der alten tatarischen Barbarei. Ein kaiserlicher Ukas, der die
Freilassung der Leibeigenen erleichtern sollte, wirkte so bedenklich auf den ho¬
hen, europäisch gebildeten Adel, daß er nach wenigen Tagen durch einen an¬
deren Ukas widerrufen wurde. Also allmächtig, wo es gilt, fremde Nationa¬
lität zu untergraben, ohnmächtig, wo es im eigenen Hause zu schassen und zu
bauen giebt! Diesen seltsamen Gegensatz und das Trügerische des ganzen
Selbstherrscher-Nimbus hob die Times und nach ihr das Journal d.
Debats etwas schneidend hervor. Unsere Augsburger Allgemeine konnte nicht
umhin, dieses falsch zu verstehen und sich darüber zu entrüsten, daß die freien
Franzosen und Engländer, die edle Absicht des Kaisers verkennend, die Leibei¬
genschaft gewissermaßen in Schutz nähmen (!) Die Augsburger selbst aber rühmt
in einer anderen Nummer die materielle Lage der russischen Leibeigenen, ver¬
glichen mit dem Elend der englischen Arbeiter. Sie beruft sich dabei aus die
Aussagen von G. Kohl, dessen Unzuverlässigkeit von mehreren Seiten schon
(unter Andern auch von der Preßzeitung) erwiesen wurde. — Bortreffliche
und, wie es scheint, sehr treue Schilderungen russischer Zustände bringt dage¬
gen seit einiger Zeit das Cotta'sche „Ausland" von Treumund Welp.


Die Augsburger Allgemeine.

Warum kann die „nationale" Augsburger Allgemeine Zeitung ihre Pri-
vatantipathicn dem Auslande gegenüber nicht verwinden? Wenn die Times
Rotteck's Verdienste um die politischen Fortschritte Deutschlands rühmend her¬
vorhebt, muß sie, das deutsche Blatt, mit boshaften Parenthesen den Bericht
darüber begleiten? mit Bemerkungen, wie: (Ja wohl!) ete.? Solche kleinliche
Ncrgelei ist unserer vcllettristischen Blättchen würdig, nicht der Augsburger
Allgemeinen. .^^^


Besorgte Recensionen.

In einem Leipziger „Aeitungskatalog" (von I. I. Weber herausgegeben)
beißt eS von den Journalen, die el» sogenanntes Literaturblatt haben, wie
Rosen, Komet, Abendzeitung ceo., jedesmal zur Nachricht: „Besorgt Recen¬
sionen." Die Buchhändler drücken sich oft sehr naiv aus.


Ein Privatschreibcn ans Stuttgart.

Die Prinzessin Sophie (Prinzessin von Oranien), welche bei ihren Eltern
zum Besuche hier ist, hat den Wunsch geäußert, einige der dort einstudirtcn
Stücke der jüngern Dramatiker kennen zu lernen. Es sollen daher in den
letzten vierzehn Tagen vor den Ferien Werner, Patkul, die letzte weiße Rose,
Monaldcschi und Rokoko ausgeführt werden. — David Strauß, der Verfasser
des Lebens Jesu, wird sich mit der Sängerin Scherest vermählen.



Note: Druck von Friedrich Andrä in Leipzig.
[]

Gin Besuch bei Madame Pasta



Die Natur des deutschen Künstlers unterscheidet sich von der
des italienischen vorzüglich darin, daß sie gleichmäßiger ist. Das
geistige Leben des Südländers steht im Einklange mit seinem physi¬
schen, und wie die heiße Lust seines Landes ihn zwingt, in Mitte
des schönsten Tages Siesta zu halten, so zwingt ihn auch die hei¬
ßere Strömung seiner Seele, in Mitte seiner schönsten Thätigkeit
eine Pause zu machen und auszuruhen. Aus dieser Ruhe treibt ihn
aber oft seine Leidenschaft plötzlich auf und unerwartet, ohne daß
man sich's versieht, übt er seine Kraft wieder aus, mit gespannten
Sehnen und in glühender Aufregung, bis er abermals ermattet nie¬
dersinkt. So ging es mit Rossini. Jahre lang hielt er Siesta und seine
Feinde spotteten über den todten Löwen; aber plötzlich raffte er sich
empor und schuf den Tell, um gleich darauf wieder in ein Dolce
farniente ;n versinken. So auch die Pasta; Jahre lang war sie
von der Bühne verschwunden, neue Namen verdrängten ihren alten
Ruhm. — Da treibt es sie aus der Zurückgezogenheit heraus und
die Rudern ihrer Stimme reichen hin, Berlin in Bewunderung zu
setzen.


Bevor die Pasta ihre letzte Reise nach Petersburg und Berlin
antrat, lebte sie mehrere Jahre an den Ufern des Como-See's.
Am Rande dieses blauen Gewässers, am Fuße der grünen Berge
hatte sich die Sängerin ein allerliebstes Landhaus erbauen lassen.'


4
[]

Hier übte sie, namentlich des Sommers über, dis zuvorkommendste
und liebenswürdigste Gastfreundschaft aus. Familienfreunde, Künst¬
ler und ausgezeichnete Fremde bildeten da eine ewige Caravane.
Juditha Pasta ist als Weib eben so liebenswürdig, wie als Künst¬
lerin bewundernswerth; «ö ist eine einfache Frau, gutmüthig, nach¬
sichtsvoll und doch geistreich. Welcher Reisende, der nach Mailand
kommt, wird nicht den Como-See besuchen? Ich konnte es um so
weniger unterlassen, da ich unter meinen Empfehlungsbriefen auch
einen an die berühmte Sängerin mit mir führte. Von Mailand
nach der kleinen Stadt Como sind nur wenige Stunden. Der Co¬
mo-See bildet eine Reihe von Wasserbecken, welche durch kleine
Borgebirge von einander abgetheilt sind, wodurch die Manig-
falligkeit der Gegend ganz eigenthümlich erhöht wird. Die Villa
der Pasta befindet sich am ersten Bassin. Wenn man vom Como-
See aus hinkommt, so erblickt man zuerst die Nebengebäude; die
Hauptwohnung ist weiter zurückgedrängt, hinter einer Terrasse, die
mit großen Bäumen bepflanzt ist. Wenn man der Villa gegen¬
über steht, so hat man ein allerliebstes Panorama; fünf oder sechs
Gebäude von verschiedener Form und Größe werden von Gärten,
Alleen und Terrassen durchzogen und umschlungen. Das Hauptge¬
bäude mit seiner Säulenfa^abe ist im schönen architektonischen Style
und gleicht der Außenseite eines kleinen Theaters. Hier empfängt
die Dame des Hauses und zugleich befinden sich hier die Gastzim¬
mer für die Fremden, die für mehrere Tage von der liebenswürdigen
Wirthin zurückgehalten werden. Am Ende des ersten Gartens be¬
findet sich ein anderes Gebäude, welches die Pasta und ihre Fami¬
lie selbst bewohnt; seitwärts befindet sich die Hauskapelle und noch
weiter hinten ein allerliebstes Häuschen, welches zur Herbstwohnung
dient. Badegewölbe, Treppen, kleine Basteien, Terrassen und Bo¬
gengänge zieren diese reizende Villa noch ganz besonders.


Eine Barke führte mich über den See zu diesem zauberischen
Wohnorte ; die Freundlichkeit des Empfangs überstieg meine Erwar¬
tung, Nicht blos, daß ich zum Diner, womit gewöhnlich jedes Em¬
pfehlungsschreiben abgefertigt wird, geladen wurde; kaum halte ich
im Laufe des Gesprächs geäußert, daß ich gesonnen sei, an den
Ufern dieses magischen Sees einige Tage zuzubringen, so wurde
heimlich nach dem Gasthofe, wo ich abgestiegen, hingeschickt, um


[]

meinen kleinen Koffer abzuholen. Ein allerliebstes kleines Gemach
aus dessen Fenstern man eine zauberische Aussicht genießt, wurde
Mir angewiesen und ich mußte das entschiedene Versprechen geben>
drei Tage zu verweilen.


Ich war nicht der einzige Gast. Madame Pasta hatte einen
Kreis um sich, der aus den verschiedensten Klassen der Gesellschaft
zusammengesetzt war: or^ C., ein berühmter Arzt aus New-Uork
und seine beiden Schwestern, Ferdinand Hiller, d^r bekannte Coa
ponist aus Frankfurt, Graf Neuperg, dessen Bruder Schwiegersohn
des Königs von Würtemberg geworden, und mehrere Mailänbische
Damen. Die Familie der Madame Pasta bestand aus ihrem Gat¬
ten, ihrer alten Mutter, ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und
einem allerliebsten Enkelchen. Diese Familie vereinte somit vier Ge¬
lterationen und doch hatte die Mutter der Madame Pasta noch tem
einziges weißes Haar.


Es wurde an demselben Abende ein Ausflug verabredet, M
welchem die ganze Gesellschaft Theil nehmen sollte; es galt die
neblige Spitze eines Berges zu besteigen, von welchem aus der Son¬
nenaufgang den wunderbarsten Anblick bietet.


Um zur gehörigen Zeit an Ort und Stelle zu sein, mußte man
um 1 Uhr nach Mitternacht ausstehen; da fünf bis sechs Damen
von der verschiedensten Constitution keinen Anstand nahmen, sich die¬
ser bergstürmenden Caravane anzuschließen, wie hätten die .Herren
sich da weigern sollen? Man ging demnach bei Zeiten schlafen, um
bei Zeiten wieder zu erwachen. Allein wer könnte um neun Uhr
Abends schnarchen, wenn man zum ersten Male am Ufer eines der
schönsten Seen der Welt sich befindet? In Mitte einer italienischen
Sommernacht, wenn der klarste Mondschein und tausend Sterne sich
in den Wellen spiegeln? Ich stand noch lange an meinem Fen¬
ster, nachdem schon alle Domestiken, welche jedem der nächtlichen Ar¬
gonauten nach seinem Zimmer leuchteten, sich zur Ruhe begeben hat¬
ten. Ich konnte nicht schlafen — und die bestimmte Weckstunde
fand an mir denjenigen, der am frühesten aus dein Bette sprang —
Ich bin überzeugt, daß Mancher aus der Gesellschaft, er es
über seine Eigenliebe hätte gewinnen können, sich auslachen zu las¬
sen, den Bedienten, der ihn aus seinem friedlichen Schlummer weckte
gern als seinen Stellvertreter auf den Spaziergang geschalt und den


4-«-
[]

Sonnenaufgang ihm bereitwillig abgetreten Härte. Andere hätten
wohl lieber dem Beispiel der Sonne selbst gefolgt, die um 5 Uhr
früh aufsteht, nachdem sie um 7 Uhr Abends zu Bette gegangen.
Allein das faule Sträuben half nichts und nach einer Viertelstunde
war Alles auf den Beinen. Das Wetter war wunderbar schön,
der Himmel blau und klar, der Mond hell und glänzend. Madame
Pasta verlas die Namen; ein Herr fehlte. Drei oder vier Bediente
wurden vor seine Thüre geschickt — umsonst ; er antwortete: er
schliefe. Alsobald machte sich die ganze Bande auf und brachte ihm
unter seinem Fenster ein Ständchen, wie die beste komische Oper kein
schöneres aufzuweisen hat. Endlich öffnete sich das Fenster, ein Kopf
kam zum Vorschein.


— „Was giebt eS? was soll das heißen? — ich glaube,
man ruft mich —"


„Sie glauben? Die ganze Gesellschaft wartet nur auf Sie!--"


— „Wozu denn?" —


— „Um sich aus den Weg zu machen."


— „El, Sie machen sich auf den Weg. — Ich meinerseits be¬
finde mich hier so wohl bei Madame Pasta, daß ich auch bis
morgen da zu bleiben gedenke. Glückliche Reise!"


Hierauf verschloß er das Fenster. Der Abtrünnige! Offenbar
war ein solcher Mensch uilwüidig, ein Mitglied unserer muthigen
Caravane zu sein. Wir überließen ihn daher seiner Faulheit und
bestiegen die Barken, welche uns nach dem jenseitigen Ufer des Sees
fuhren, von wo aus wir unsere eigentliche Wanderung antraten.


Jeder Ritter bot seinen Arm einer Dame und so mgchten wir uns
daran, das Zickzack des steilen Berges zu erklimmen. Diese Ritterdienste
waren weder leicht, noch angenehm, der steile Weg war. mit tausend
kleinen spitzen Steinchen bedeckt, die oftmals unter den Füßen weg¬
rutschten, wobei die Damen immer ein Zetergeschrei ausstießen; das
Gesträuch verwickelte sich oft in den Kleidern wie ein frecher Zu-
bringung. Die Aufmerksamkeit für das zarte Geschlecht raubte uns
die Aufmerksamkeit auf uns selbst und mancher kollerte daher, nach¬
dem er 20 Schritte gethan, 30 Schritte wieder zurück. —


Meine Dame war eine junge Engländerin, welche der Zufall
in der Barke an meine Seite brachte; ich hatte ihr die Hand hehr
Heraussteigen geboten und war somit ihr natürliche-r Partner auf


[]

der ganzen nächtlichen Expedition. So durchstrichen wir beinahe
eine deutsche Meile, jeder seine Dame führend, stützend und aufmun.
lernt; aber die Müdigkeit nahm bald überHand. Glücklicher Weise
hatte man die Vorsicht gebraucht, auf einem gewissen Punkte Esel
zu bestellen. Die Damen vertrauten sich dem Schritte dieser interes-
santen Vierfüßler ,an und wir hatten nun die Aussicht, wie jener
Münchhausen dreizehn Meilen in vierzehn Tagen zurückzulegen. Der
Weg war für die vierfüßigen Thiere nicht minder schwierig, als für
die zweifüßigen. Zwei oder drei Personen mußten jeden Esel um¬
ringen, ihm mit Stockschlägen zureden; bald jenen von vorn bei dem
Zaume fassen, bald diesen von hinten stoßen, um nur die Bestien
vorwärts zu bewegen. Endlich sah man ein, daß man auf diese
Weise nicht weiter kommen konnte und mußte sich wieder entschlie¬
ßen, die eigenen Muskeln in Bewegung zu setzen, und gewiß hat
manche Dame in diesem Augenblick gefunden, daß der Herr, der zu
Hause in der Wohnung zurückgeblieben, weit leichter zu beneiden,
als zu verspotten war. Madame Pasta klomm wie ein Eichhörnchen,
sie lachte uns alle aus. Diejenigen von uns, welche keinen innern
Beruf fühlten, ihrem Beispiele zu folgen, mußten sich doch dazu ent¬
schließen, um wenigstens die Ehre ihrer Nationalfarben zu retten,
denn es waren Italiener, Deutsche, Engländer, Franzosen und Gott
weiß, was noch für Menschen unter uns. Wir glichen auf dieser
Wallfahrt so ziemlich jenen Pilgern von Mekka, die immer zwei
Schritte vorwärts und einen Schritt rückwärts machen. Vier volle
Stunden verstrichen; der Mond verschwand allmälig. Weiße Wolken
zogen am Himmel auf und bald konnten wir bemerken, daß die
Sonne nicht Lust hatte zu warten, bis wir auf der Spitze des Ber¬
ges sie mit unserer Bewunderung beehren würden. Gegen acht Uhr
Morgens kamen wir endlich bei den Mauern eines alten Klosters an,
welches jene Vergesspitze krönt. Die Sonne war weit näher ihrem
Zenith als jenem Fleck am Horizont, auf welchem wir sie zu er¬
tappen die Prätension gehabt hatten. Um uns einigermaßen zu trösten,
machte uns unsere liebenswürdige Führerin eine wahrhaft poetische
Beschreibung von dem, was wir verloren. Mehr als zwölf Mal
hatte Madame Pasta allein, bisweilen in Gesellschaft rüstigerer Ar¬
gonauten diese Alpenfahrt gemacht ; wir aber mußten uns den Mund
abwischen, der ohnehin von dem vielen Steigen ausgetrocknet und


[]

erfrischungslustig geworden >var. Glücklicherweise wurde jetzt ein
kaltes Frühstück bereitet und die Gesellschaft beeilte sich, die Poesie
der kalten Küche mit mehr Eiser zu genießen, als die Poesie der schönen
Natur. Die gebratenen Hühner, die Knackwürste, die Pasteten ver¬
schwanden mit der Schnelligkeit eines fliegenden Vogels. Vergebens
versuchte Madame Pasta uns die malerische Schönheit der Land¬
schaft verständlich zu machen; die Augen der Gesellschaft streiften
gletchgiltig umher, um mit weit größerem Behagen zu den hand¬
greiflichen Elementen unseres Frühstücks zurückzukehren. Bald wa¬
ren die Teller nur mit Knochen bedeckt, die Weinflaschen hatten den
letzten Tropfen ihres Blutes hergegeben und nun erst begann die
Landschaftsbegeisterung über uns zu kommen. Wir standen auf dem
" Gipfel eines der höchsten Berge dieses Landstrichs, eine doppelte Al¬
penkette umzog ihn nördlich, während die herrlichen Ebenen der
Lombardei sich vor uns ausdehnten und unser Blick über zehn
Städte streifte, welche in der verschiedenartigsten Beleuchtung ihre
Thürme emporstrcckten.


Nqchdein wir Magen und Augen gehörig gesättigt, rasteten
wir im Kloster ein wenig aus. Und nun übernahm unsere reizende
Wirthin die Mühe, uns zu unterhalten. Die Pasta ist noch immer
eine schöne und edle Gestalt; wenn nicht etwa die zwei Jahre, die seit
jenem Besuche verstrichen sind, sie stark verändert haben. Ihre Haare,
die sie in zusammcngewundenen Flechten ans dem Hinterhaupte ->, I-»
Nil!M!t!5v befestigt trägt, sind glänzend schwarz und von einer be-
neidenswerthen Fülle. Das Auge ist feurig und doch sanft, die ge¬
wölbten Brauen verrathen, welche Leidenschaft sie auszudrücken
im Stande sind, und die Umrisse ihres Gesichtes haben ein echt
römisches Gepräge. Die Arme dieser Künstlerin sind von einer so
sprichwörtlichen Schönheit, daß ein berühmter Bildhauer einst sagte,
die Arme, welche der medicäischen Venus fehlten, seien im Besitz
der Madame Pasta. Im Ganzen haben die italienischen Frauen
vor den deutschen den ungeheuern Vortheil voraus,, daß sie früher
reifen und weit später altern. Madame Pasta steckte die ganze
Gesellschaft mit ihrer Fröhlichkeit an; sie sang und spielte uns ko¬
mische Scenen vor, copirte berühmte Schauspieler mit komischen Ge¬
sten. Wenn man bedenkt, daß diese Frau nicht nur die eine von
den zwei berühmtesten Sängerinnen ihrer Zeit war, sondern auch


[]

ein« der gewaltigsten tragischen Schauspielerinnen ist, ti« noch jetzt
dnrch die Wahrheit ihres Ausdrucks die eingetretenen Mängel ihrer
Stimme vergessen macht, so ist es fast unbegreiflich, wie diese froh--
liebe Natur sich durch alle diese Studien und Leidenschaften wach er¬
halten hat. Wer würde es glauben, daß diese rührende Norma, diese
stolze Semiramide so liebenswürdige Tollheiten begehen, daß die
Königin von Babylon in eine Colombine sich verwandeln kann?


Mittlerweile war es Mittag geworden.


Und die Sonne versendet glühenden Brand
Und, von der unendlichen Mühe
Ermattet, sinken die Kniee.

ES war Zeit auf den Rückzug zu denken; aber dieser Gedanke
hatte wenig Erfreuliches, wenn man die Mühseligkeit des Weges so
erprobt hatte, wie wir. Madame Pasta sah uns alle nach der
Reihe an und lächelte bedeutungsvoll: „Meine Freunde scheinen
nicht zu wissen," sagte sie, „daß wir hier auf diesen Bergen Ma¬
schinen besitzen, wodurch wir die Reisenden auf die allerbequemste
Art in's Thal hinab praktiziren?" — „Maschinen?" — riefen wir
alle erstaunt. „Ja," sagte sie, „folgen Sie mir und Sie sollen be¬
wundern, wie tiefsinnig und erfindungsreich der menschliche Geist ist."


Wir verließen den Klosterhof, um ihr zu folgen, und erblickten
in der That eine eigenthümliche Maschinerie, die dazu dienen sollte,
uns auf die komischste und behaglichste Weise die Berge hinabkollern
zu lassen. Zwölf bis vierzehn riesige Baumzweige, deren kleinere
Aeste, mit grünen Blättern reich bewachsen, zu einem bequemen Sitze
zusammengeflochten waren, lagen vor uns. Der mittlere Ast dersel¬
ben bildete eine Art Deichsel, zu dessen Führung ein breitfüßiger lom-
bardischer Bauer bereit stand. Jeder der Reisenden hatte somit seine
eigene Equipage mit einem Menschen vorgespannt. Die ganze Ge¬
sellschaft brach bei diesem Anblick in ein lautes Gelächter aus und
unter fröhlichem Jubel rutschten wir Tlicck abwärts, bis wir wohl
gerüttelt am Ufer des Sees anlangten. Eine Stunde später stiegen
wir die granitene Treppe der Villa-Pasta hinauf; einige Augenblicke
Ruhe, ein Seebad, ein treffliches Diner gaben uns bald unsere Kräfte
wieder; und eine Gondelfahrt beschloß den Abend dieses mühevollen Tages.


Wenn sich Madame Pasta am ersten Tage, wo ich sie kennen
lernte, mit allem Glanz« deö liebenswürdigen Weibes, mit jenem beste-


[]

ahmten Schönheitssinn zeigte, der das gewöhnliche Leben zum poetischen
Genusse zu steigern weiß, so lernte ich sie in spätern, stillern Tagen
in ihrer Künstlernatur erst recht begreifen, und ich glaube, daß trotz
dem, was die Berliner Kritiker in neuester Zeit über diese wunder¬
bare Frau geschrieben, ein beleuchtendes Wort nicht zu viel sein dürste.


Der Tod der Malibran und das Abtreten der Pasta haben die
Bühnen Italiens ihrer größten Muster beraubt. Weder die Ungher
noch die Persiani sind mit jenen Beiden in eine Linie zu stellen.
Die reizende, höchst ausgebildete Stimme und Methode der Persiani
ergreift im Concertsaal; auf der Bühne entbehrt sie allen tragischen
Ausdruck, wozu diese Sängerin schon durch ihre schmächtige, unbe¬
deutende Gestalt sich nicht eignet. Mit größerer Leidenschaft begabt
ist die Ungher, ihr aber fehlte selbst in ihrer besten Zeit jene plasti¬
sche Ruhe, welche der Kunst ihre höchste Schönheit verleiht. Die
Grisi, die jetzt in Paris und London so gefeiert wird, ist bei allen
ihren schönen Eigenthümlichkeiten doch nur ein Gemisch Malibrani-
scher und Pasta'scher Copie, die Originalität fehlt ihr gänzlich. Ich
habe Italien durchstreift und kenne die besten Kräfte seiner Büh¬
nen; aus eigener Erfahrung darf ich daher behaupten, daß das
heutige Italien nur sehr wenig Talente besitzt, welche zu großen
Hoffnungen veranlassen, hauptsächlich deshalb, weil ihnen die großen
Vorbilder fehlen. Abgesehen von der wunderbaren Gesangsme-
thode der Pasta ist sie als tragische Schauspielerin so großartig,
daß ihr Spiel in dein Gemüthe einer jugendlichen Künstlerin eine
entscheidende Umwälzung hervorbringen, ihr Talent reifen und ihr
Verständniß lichter machen muß. Die Pasta ist aus jener seltenen
und kostbaren Schule, welche weder in Italien, noch in Frankreich
und noch viel weniger in Deutschland seitdem ersetzt wurde. Man
hat mich versichert, daß Talma, dieser tragische Halbgott, keine Vor¬
stellung der Pasta in Paris versäumt hat, wenn er nämlich nicht
selbst an demselben Abend spielte. Ich weiß nicht, welche Rolle es
war, in welcher die Pasta zum ersten Mal in Paris auftrat; Talma
ward von ihr so entzückt, daß er ausrief: „dieses Kind zeigt mir
plötzlich und mit Einem Male, was ich seit zwanzig Jahren verge¬
bens suchte." Der Beifall Tellina's war nur der Ausdruck des ge¬
stimmten Publikums. Die Darstellungen der Pasta tragen ein un¬
nachahmliches Gepräge. Die Berliner Kritiker heben besonders den


[]

Umstand hervor, daß sie mit den wenigen Mitteln, vie ihr aus ihren
schönen Tagen übrig geblieben sind, noch so zu wirken versteht, daß
ihre Mängel dadurch versteckt werden, aber die Pasta hat nie eine
besonders große Stimme gehabt; das war's, was sie groß machte,
das, was sie bewundernswerth machte, das hatte sie durch unendli¬
chen Fleiß und durch ein besonderes Genie der Natur abgezwungen.
Nicht das Einzelne, sondern die Ganzheit in jeder ihrer Leistungen
war es, waS man anstaunte.


Vor einem Publikum, welches seine Hauptaufmerksamkeit auf
die materielle Qualität der Stimme richtet, hatte die Pasta immer
einen schweren Stand; daher kam es auch, daß diese Sängerin in
Mailand auf der großen Bühne der Scala niemals besondere Er¬
folge feierte, während sie bei nördlicheren Nationen den Kelch des
Enthusiasmus bis an den Rand füllte. Das Mailänder Publikum,
welches mit Recht als das competenteste in ganz Italien gilt, hat
der Malibran bei weitem den Vorzug vor der Pasta gegeben. Und
doch hatte die Pasta nie jene Ungleichheit in ihren Leistungen wie
die Malibran. Die Malibran überließ sich ganz ihrer augenblick¬
lichen Eingebung, sie war immer die Künstlerin des Moments und
in ein und derselben Rolle war sie an einem Tag« erhaben und an
dem andern mittelmäßig. Das Talent der Pasta erhebt sich selten
über seine Durchschnittsbildung , aber es sinkt auch nie unter die¬
selbe; bei ihr ist Alles Studium und Ueberlegung, und dieser Gleich¬
mäßigkeit ihrer Kraft ist es zuzuschreiben, warum sie in England,
Frankreich und Deutschland, überhaupt im Norden, mehr Bewunde¬
rung fand, als in ihrem eigenen Vaterlande.


Ich hatte oft Gelegenheit, mit der Pasta zu musiciren; es ist
eigenthümlich, daß diese Künstlerin es nicht mehr liebt, allein und
für sich selbst Musik zu machen; eS ist gewissermaßen, als hätten
ihre mühevollen Studien sie abgestumpft gegen den Reiz musikali¬
scher Schwärmerei. Aber sür ihre Freunde ist sie immer bereit zu
singen. Jeden Abend vor dem völligen Erlöschen des Tages, in der
Stunde, wo die blaue Färbung der Luft allmälig in ein rärhsel-
hastes Grau übergeht, bestiegen wir die Barken des friedlichen
Sees. Unsere Donna del Lago hatte eine kleine Flotille; ein kleiner
Nachen, mit chinesischem Lack bemalt, wurde von ihr selbst regiert,
ein Ruder in jeder Hand fuhr sie uns übrigen immer voran. In


[]

solchen Augenblicken sang sie uns ihre Lieder. Indem sie plötzlich
den Lauf ihrer Barke einhielt, saß sie mit gekreuzten Armen da,
eine schöne Büste mit hoher Stirn, der der Nahmen des blauen
Sees unter den dunklen Bergen einen magischen Eindruck verlieh,
Canova hat diese Büste in Marmor ausgeführt, und man behaup¬
tet, sie sei eins seiner gelungensten Werke.


Was mag wohl die Pasta veranlaßt haben, den köstlichen Auf¬
enthalt an dem Como-See, ihre Familie und so zahlreiche Freunde
zu verlassen, um von Neuem dem ungewissen Meer der Bühne sich
zuzuwenden? Man behauptet, eS seien materielle Verlegenheiten, zer¬
rüttete Vermögensumstände, die sie dazu gezwungen. Dieß beruht
auf einem Irrthum. Die Donna del Lago besitzt ein so glänzendes
Auskommen, daß sie in einer der schönsten Straßen Mailands ein
prächtiges Hotel, ausgeschmückt mit den seltensten Kunstgegenständen
und Allem, was Comfort und Lurus bieten, ihr eigen nennt; auch
fehlt es ihr nicht an schönen Equipagen und Pferden, um sie nach
ihrem Landhause am Como-See zu bringen. Allerdings bemerkt
man, daß die italienischen Künstler der Habsucht mehr ergeben sind,
als die deutschen, aber so gemeine Motive wollen wir nicht einer
Frau unterlegen, deren Haus als ein Bild altrömischer Gastfreund,
schaft gilt. Wohl aber mag die vulkanisch auflodernde Natur deö
Südländers, auf die ich am Eingange dieses Aufsatzes hingewiesen,
daran Schuld sein; dasselbe Emporraffen, welches Rossini zum Tell
gestachelt und welches man bei den meisten großen Künstlern Ita¬
liens als einen eigenthümlichen Zug ihres Lebens findet.


Note: Th. Vanbeneden,
Großhcrzogl. toskamscher AammmmlMr.

[]

Die Lehrfreiheit in Belgien!



Ueber die erst« Gestalt und Entwicklung des belgischen Unter¬
richtswesens seit der Revolution von 1830 hat die ausführliche
Schrift von Thiersch in Deutschland genauere Kenntniß gegeben.
Auf die Debatten, welche dieses Buch hervorgerufen, wollen wir
hier um so weniger zurückkommen, als während der letzten Jahre
die Verhältnisse in Belgien sich wesentlich verändert haben und wir
die Grundsätze, an welche sich Herr Thiersch damals hielt, nicht
mehr als entscheidend ansehen können. Als eifriger Beförderer der
classischen Studien, selbst in den weiteren Kreisen der Bürgerschulen,
hatte der berühmte Münchener Hellenist sein Augenmerk mit Vor¬
liebe auf diesen Unterrichtszweig gerichtet; allein grade die altclassi>
schen Wissenschaften dursten bei der praktischen und modernen Rich¬
tung, die im belgischen Leben durchaus vorherrschend ist, nicht in
den Vordergrund gerückt werden. Die Erfahrung hat seitdem ge¬
lehrt, daß das Unterrichtswesen in Belgien, obgleich jener einzelne
Theil nicht gefördert worden, dennoch im Ganzen und in den Zwei¬
gen, welche dem Charakter des Volks und der Zeit näher stehen,
augenscheinlich im Aufschwung begriffen ist.


Nach den sorgfältigen und unpartheiischen Mittheilungen, welche
Herr Mohl in den Heidelberger Jahrbüchern über die belgischen
Universitäten veröffentlicht hat, haben wir über den frühern Zustand
derselben nichts Neues zu sagen; desto mehr müssen uns aber die


[]

neuern Einrichtungen und Veränderungen interessiren, von, denen
wir in den letzten drei Jahren Zeuge gewesen sind.


Der Gesichtspunkt, den wir bei den nachfolgenden BnnertmigM
zu beobachten haben, muß vornehmlich ein politischer sein; namentlich
müssen wir die Unterrichtsfreiheit, deren Belgien genießt, in ihre»
Beziehungen zum Staate, sowie das Eingreifen und die Rückwirkung
des letztem auf jene betrachten. Die Unabhängigkeit des Unterrichts
ist eine der Institutionen, die bis jetzt kein Land in der Art und in
dem Umfange wie Belgien besitzt, und, worauf noch mehr Gewicht zu
legen, die keines in dem Maße, wie es hier geschehen ist, zur An¬
wendung gebracht hat. Frankreich gehorcht auch auf diesem wichtigen
Gebiet geistigen und gesellschaftlichen Lebens seinem politischen Grund¬
satz, der Macht der Centralisation; seine Lehranstalten sind Vasallen
der Pariser Universität. In Frankreich wählt die freie und offene
Lehre nicht den zwar mühsamen, aber desto tiefer dringenden Weg
durch Classen und Hörsäle; sie zielt auf schnellere und wcitergrei-
sende Wirkung ab, durch die Zeitblätter. Die einflußreichste Schule
des französischen Volkes wird von den Tagesfchriftstellern unterhal¬
ten; die Lehre hält sich durch die Presse für die Hemmnisse und
Mängel schadlos, die sie auf ihrem eignen und nächsten Felde erlei¬
det. In England b:steht zwar das Lehrwesen im Allgemeinen vom
Staate ganz unabhängig, mit der Ausnahme, daß die Stiftung
von Universitäten, wie die der Londoner, einer Genehmigung des
Parlaments bedarf. Doch wird in diesem Lande die freie Entwick¬
lung des höhern Schulwesens durch den positiven und stabilen Geist
gehindert, der grade die Wissenschaften, welche auf den Unterricht
am stärksten einwirken, die.Theologie und Philosophie, beherrscht.
Unter der Aegide der Bischöfe, unter herkömmlichen Satzungen und
vererbten Patronaten haben die großen englischen Lehranstalten
einen durchaus traditionellen Charakter angenommen. Was den
Volksunterricht in England betrifft, so ist er bekanntlich, verlasse»
von der Staatsverwaltung, im elendesten Zustande. Nach Herr»
von Raumer's Angaben bleibt dort noch über die Hälfte des niedern
Volks von aller Unterweisung ausgeschlossen; bet dem Volke ist es
ja ein dringenderes Bedürfniß, die Jugend so früh und so lange
Zeit des Tantes als möglich und erlaubt ist, in die Fabriksäle zu
schicken. Ganz anders verhält eS sich in Belgien. Hier hat die


[]

Unterrichtsfreiheit d«in öffentlichen Leben einen mächtigen Impuls
gegeben; hier haben Provinzen, Gemeinden und Privatvereine an
die Ausübung dieses Rechtes Hand gelegt, und die Regierung hat
nicht unterlassen, ihnen von ihrer Seite entgegenzukommen; hier ist
diese Freiheit mit dem politischen Dasein und mit den Bewegungen
des öffentlichen Lebens aufs unzertrennlichste verbunden geblieben.
Die Aufhebung dieses wahrhaft nationalen Rechtes müßte entweder
den Staat in die Hände des Clerus, oder die Kirche unter die Ge¬
walt der Staatsregierung bringen; in dem einen wie in dem andern
Falle würde aber die ganze Arbeit von 18Z0, die Constituirung
eines in seinen Gliedern und Ständen unabhängigen Volkes und
Staates vereitelt werden. Daß Belgien, welches durch seine /Revo¬
lution nicht bloß in dem rein politischen, sondern auch in dem sitt¬
lichen Dasein ergriffen und umgeschaffen ist, ein solches Loos nicht
zu befürchten habe, dafür ist ihm der Geist der Freiheit in Glauben,
Lehre und Wort, auf dem seine Unabhängigkeit errichtet ist, der beste
Bürge, davor bewahrt es sich selbst durch den Sinn für Oeffent-
lichkeit und gesetzliches Handeln, gegen den keine Parteibestrebungen
mehr aufkommen können. Wo diese innern und allgemeinen Mächte
einer Volksunabhängigkeit zum Hebel dienen, wo sie einmal zum
thätigen Bewußtsein durchgedrungen sind, da dürfen wir mit Recht
auf einen dauerhaften Bestand, auf eine immer vollere und reinere
Ausbildung der erlangten Selbständigkeit und der Rechte, die sie
begreift, rechnen.


Um die Freiheit des Unterrichts zu würdigen, dürfen wir nicht
übersehen, daß die Quelle und der Inhalt derselben die Freiheit der
Lehre, des Gedankens ist, jenes ewige Recht der Menschen, das
Fundament, worauf die Gesittung der europäischen Volker beruht.
Wo dies ursprüngliche Recht erdrückt ist . da wird bald die Kaste
ihr ertödtendes Regiment einführen, den blinden, alle Sittlichkeit er¬
stickenden Gehorsam. Die Forschung, die Lehre sei frei und bewege
sich unbehindert und unangefeindet, dies ist das erste, nothwendigste
Erfordernis), ohne welches die Freigebung des Unterrichts keinen
Sinn hat, da sie selbst ihren Zweck in nichts Anderem finden kann,
als dem Gedanken den äußeren Spielraum zu eröffnen und sicherzu-
stelle». Nur der Gedanke, als Wissenschaft, ist im Stande, den
Mißbräuche» und der Willkür im Lehrwesen zu steuern; sein eigenstes.


[]

Interesse ist es ja und sein Beruf, für jede Freiheit das Gesetz, die
gesellschaftliche Form und Ordnung aufzuweisen. Diese Freiheit, die
des Denkens und Lehrers, die wir in den politisch freiesten Ländern
nicht immer ungefährdet sehen, ist ein Gut, in dessen Besitz und
Gebrauch nicht leicht ein anderes Volk mit dem Deutschen wetteifern
kann. Es sei erlaubt, hieran zu erinnern, da wir selbst Stimmen
haben vernehmen müssen, die für uns Deutsche das Unterrichtsgesetz
eines fremden Landes zum Muster aufstellen. Wie oft hören wir
nicht Klagen und Besorgnisse laut werden, über die Rückschritte,
über den vermeinten Verfall unserer Universitäten. Wir geben den
unzufriednen Richtern und Tadlern im deutschen Vaterlande zu be¬
denken, daß bei uns die Lehrfreiheit in einem hohen Grade, wie bei
keinem andern Volke, geübt wird. Aller ernsten Forschung, sofern
sie nicht vorschnell über das Reich des Wissens hinausgreift, stehen
in Deutschland Lehrwege offen; jedes System, jede Methode findet
auf unseren Universitäten einen Spielraum. Hindernisse und Ein¬
schränkungen, die hier und da vorfallen, Ausnahmen in diesem oder
jenem Staate, auf einzelnen Hochschulen, die im Nachtrabe stehe»,
beweisen nichts gegen einen Zustand, der allgemein zu fassen ist.
Wenn die theologische Facultät in Bonn einem Docenten das Recht
des akademischen Vertrags entzieht, so ist daS freilich keiner von
den Fällen, nach denen wir uns eine allgemeine Ansicht über den
Zustand des deutschen Universitätswesens bilden wollen. Die theo¬
logischen Facultäten befinden sich überdies in einer ganz verschiedenen
Lage gegen die andern; sie können, streng genommen, einen Ge¬
lehrten, der die Fundamente ihrer Wissenschaft positiv verneint, in
ihrem Schooße nur dulden, nicht aber eigentlich zu sich rechnen;
denn ein solcher Gelehrter ist, in Folge seines Standpunktes bereits
in die Sphäre der philosophischen Wissenschaften hinübergeschritten.-
Wo fände sich nur das Land, wo wie in den Theilen von Deutsch¬
land, welche in der geistigen Welt den Ton angeben, gradezu ent¬
gegengesetzte Lehrsysteme öffentlich und im Dienste des Staates verkün¬
det werden, sowie z. B. in Berlin Savigny und Gans zusammen
lehrten, oder in Halle, wo neben dem Pietismus und der heftigsten
Orthodorie sowohl die ältern als die neuern radikalsten Nationalisten
den Katheder inne hatten. Sogar das historisch-gesinnte Göttingen
kann sich in diese Reihe stellen. Was würde dagegen Orford zu


[]

einer solchen Freiheit für eine Miene machen? Ja, wir zweifeln
selbst, daß Paris und Brüssel ein solches Maß von Unabhängigkeit
auf jeder Seite des Forschens ertragen könnten, und es ist dies kein
Vorwurf für sie; eS wäre unter den jetzigen Verhältnissen ungereimt,
ihnen dergleichen zuzumuthen.


Ein gänzliches Freigeben des Unterrichts in die Hand der
Privatpersonen und Vereine mag auf den ersten Blick denen, welche
an die deutschen Zustände gewöhnt sind, unzuläßlich vorkommen.
Wie sollte ein geordnetes Volksleben bestehen, wenn nicht das Volk
durch eiir vollständig organisirtes und überwachtes Schulwesen dazu
herangebildet wird? Giebt der Staat nicht mit der Sorge dafür
eine seiner heiligsten Pflichten auf, um die sittliche und politische
Erziehung wenigstens des größten Theiles der Landesbewohner dem
Zufall, dem Eigennutz, dem guten oder bösen Willen der Klügern
oder Glücklichern zu überlassen? Dem Lehrenden gar keine Garantie
seiner Tüchtigkeit abfordern, den Schulen keine Bedingungen vor¬
schreiben hieße, wie es scheint, einerseits das Lehrfach in die Reihe
solcher Gewerbe stellen, die mit den Stoffen der Natur, mit Erzeng¬
nissen der Mechanik zu thun haben, andrerseits aber hieße es, den
Staat für intellektuell bankerott erklären. Würde man nicht der
Anarchie Thür und Thor öffnen, oder doch jedenfalls an die gute
Natur eines Volkes eine ungeheure Zumuthung machen, indem man
ihm ein so bedenkliches Geschenk zum beliebigen Gebrauch gäbe?
In der That sehen wir auch die Unterrichtsfreiheit höchst selten
um ihrer selbst willen gefordert; man verfolgt mit ihr und unter dem
Deckmantel derselben gemeiniglich ganz andere, mit dieser Freiheit
selbst streitende Zwecke, wie wir es grade jetzt in Frankreich wahr¬
genommen haben. Es liegt unserer Absicht sern, der absoluten Los-
gcbung des Unterrichts an und für sich das Wort zu reden. Es ist
sicherlich kein normaler Zustand, wenn der Unterricht ohne Erweis
der Fähigkeit und Gesinnung Derer, die sich demselben widmen, der
Concurrenz der Menge überlassen wird; wohl aber kann dieser Zu¬
stand, wie dies in Belgien der Fall ist, der Ausgangspunkt einer
gesunderen Gestaltung des Unterrichtswesens und die freie Concurrenz
eine bleibende Grundlage natürlicher Entwicklung sein; jedenfalls
ist diese in Belgien die erste und unabweisliche Bedingung einer
volksgemäßen Organisirung desselben gewesen.


[]

, Um zu sehen, wie weit Belgien zur Erfüllung dieser letztern
Aufgabe bis jetzt gekommen ist, wollen wir die hauptsächlichsten
Momente herausheben, welche den Gang des öffentlichen Unterrichts
bezeichnen.


Wenige Wochen, nachdem die belgischen Provinzen sich als
einen eignen Staatskörper constituirt hatten, erließ die provisorische
Regierung am 12. October I83V ein Decrer, kraft dessen „dieVer¬
fügungen, welche die Freiheit des Unterrichts bisher behindert hatten,
für ausgehoben" erklärt wurden. Sie entsprach dadurch einem
dringenden Verlangen der Patrioten, welche in dem bestehenden
Lehrzwange einen Hauptgrund zur Lossagung von dem niederländi¬
schen Staatsverbande gesucht hatten. Das Bestreben des frühern
Regiments ging bekanntermaßen darauf aus, die südlichen Theile
des Königreichs den nördlichen völlig zu assimiliren. Zu diesem
Behuf bediente es sich auch der Schulen, als des geeignetsten Mit¬
tels, um holländische Sprache und Bildung unter die Bewohner der
belgischen Lande zu verpflanzen. Während der niederländischen Zeit
war das Schulwesen ganz in die Hand des Staates gelegt; die
Errichtung der Schulen, die Beaufsichtigung aller Anstalten, die
Autorisation zu Privatstiftungen hing einzig und allein von der Cen-
tralgewalt ab. Ein großes Verdienst lag gewiß darin, daß die
niederländische Regierung durch normal- und Musterschulen direct
auf die Verbesserung des Lehrwesens zu wirken suchte; aber sie ver¬
fuhr dabei in einem Sinne, der die südlichen Landestheile, in denen
der Eleruö sich immer mehr und mehr von den Lehrstühlen entfernt
sah, gegen sie aufbringen mußte. Ihre Einrichtungen nahmen den
Charakter eines gehässigen Zwanges an, wo sie, wie durch die Vor¬
schrift bestimmter Methoden in den Volksschulen, den bestehenden
Gebräuchen und Lehrweisen schroff entgegentrat, und ihnen den Raum
zur allmäligen Umbildung abschnitt. Indeß fallen dergleichen stren¬
gere Maßregeln erst in die letzten Jahre vor der Revolution und
sie wurden in Belgien niemals zu vollständiger Ausführung gebracht.


Indem die provisorische Regierung in Brüssel den Ausspruch
that, daß jedem Belgier das Recht zustehe, Schulen M gründen und
zu unterhalten, fügte sie zugleich; um ihre Betheiligung an dem Un<
terrichte festzustellen, die Bestimmung hinzu, daß „die vom Staat
unterhaltenen Universitäten und Kollegien, desgleichen die den Elemen-


[]

tarschulen ausgesetzten Subsidien vorläufig aufrecht schalten werden
sollten, bis zur Zeit, wo der Nationalcongreß über die Sache einen
Beschluß gefaßt haben würde." Zu gleicher Zeit gab sie das Recht
der allgemeinen Inspektion über die Schulen und Erziehungsanstalten
auf und behielt dasselbe nur für die von Staatswegen errichteten
oder subventionirten Anstalten bei; ein Decret des Regenten vom
31. Mai 1831 löste die Provinzialcommijsionen auf, welche zur
niederländischen Zeit mit der Inspection der Schulen beauftragt ge¬
wesen waren. /


Die schlimmen Folgen dieser plötzlichen Freigebung des Unter¬
richts mußten sich natürlich zumeist in dem niederen Schulwesen
zeigen. Es erhob sich sogleich eine Reaction gegen alle ausschlie߬
licherweise vom Staate verwalteten Volksschulen. Viele Gemeinden
unterdrückten die Ausgaben, welche sie bisher gehalten gewesen
waren, für den Unterricht zu bewilligen. Das Mißtrauen, womit
man die vorige Verwaltung angesehen, erstreckte sich auch auf die
Einrichtungen, welche von der neuen ausgingen. Ueberall thaten
sich Privatschulen auf, welche gegen die der Gemeinden eine gefähr¬
liche Concurrenz unterhielten. Durch billige Preise und freigebige Ver¬
sprechen ließ man sich nach den Anstalten hinlocken, wie sie eben
aus dem Stegreife geschaffen wurden, ohne nach ihrem Geist und
der Wahrheit ihrer Programme zu fragen. So geschah es bald,
daß die bessern Lehrer sich von dem Elementarunterricht abwandten.
Auf den Dörfern sah man meist nur diejenigen sich diesem Ge¬
schäfte widmen, denen es in keinem anderen glücken wollte. Die
Opposition gegen die Institute der Regierung dauerte während der
ersten zwei Jahre fort; nach dieser Zeit trat an die Stelle derselben
eine Gleichgültigkeit, die nicht minder verderblich werden mußte. Ge¬
gen alle diese Uebel hatte der Staat kein anderes Mittel, als das
der Vorstellung und Ueberredung. Nur nach und nach gelang es
ihm, auf diesem Wege den Unterricht in einer großen Anzahl von
Gemeinden emporzubringen.


Von ganz anderer Art waren die Folgen der neuerworbenen
Freiheit für den mittlern und höheren Unterricht. Ohne der zahl¬
reichen Bildungsanstalten zu gedenken, hier von Privaten, dort von
Städten und Vereinen gegründet oder unterstützt und erweitert, so
brauchen wir, um den wohlthätigen Einfluß des neuen Gesetzes zu



[]

beweisen, nur an die beiden bereits im Jahr 5834 gestifteten freien
Universitäten zu erinnern, welche nicht wenig dazu beigetragen haben,
- inen regen Wetteifer in ven Universitätsstudien wach zu erhalten und
sie zuerst, wie wir gleich näher zeigen werden, eine der gefährlich¬
sten Lücken im öffentlichen Lehrwesen auszufüllen gestrebt haben.


Wenn das Decret der provisorischen Verwaltung sich daraus
beschränkt hatte, die damals bestehenden Staatölehranstalten als
solche anzuerkennen, so lag es nach Vollendung der Konstitution
des Landes der Regierung ob, „im Einverständnis) mit den Kam¬
mern daS gesammte öffentliche Unterrichtswesen zu reorganisieren."
Seit dem Jahre hat dieselbe dieses Gesetz durch eine Reihe
"on Institutionen zur Ausführung gebracht, von denen wir jetzt
lenz Rechenschaft zu geben haben.


Indem die Regierung eine Anzahl Lehranstalten errichtet, tritt
sie gewissermaßen neben die Privatpersonen und Gesellschaften, welche
aus eignen Mitteln für denselben Zweck thätig sind. Man könnte
meFrage auswerfen, inwiefern dies zu der höhern Stellung, zu der
Parteilosigkeit paßt, welche dem Staate, selner Natur nach, zukommt.
Ist indeß die Unterrichtsfreiheit einmal gegeben, so entsteht für den
Staat von selbst die Aufgabe, überall ermunternd und ergänzend
einzuwirken und seinerseits Lehrsäle zu eröffnen, da die vom Volke
frei und noch ungeordnet ausgehende Thätigkeit keine hinlängliche
Bürgschaft giebt, das; dieselbe den Bedürfnissen des ganzen Landes
entspreche. Doch würde der Staat allerdings diese seine natürliche
Stellung verläugnen, wenn er als Rival der freien Anstalten letztere
in ihrem Wirken und in ihrer Ausbreitung hemmte; ihm muß viel¬
mehr daran liegen, daß so viele Anstalten als möglich vorhanden
seien, die unmittelbar dem örtlichen Bedürfnisse entsprechend sind, mö¬
gen sie nun von Einzelnen odervon korporativen Unternehmen ausgehen.
'


Unter der niederländischen Regierung hatten in denbelgischen
Provinzen drei Universitäten, zu Löwen, Lüttich und Gent bestanden.
Nach der Revolution waren diese Universitäten für den Augenblick
durch den freiwilligen oder gezwungenen Austritt von siebenzehn Profes¬
soren, theils Holländern, theils Fremden, sowie bald nachher durch
die Entlassung von sechs anderen Professoren in Zerrüttung gerathen.
Ganze Facultäten waren eingegangen; so besaß Belgien eine Zeit
!nig nur Eine philosophische Facultät und ebenfalls nur Eine für


[]

die cracker Wissenschaften. Diesem schmählichen Zustande hatten
zuerst die freien Universitäten abzuhelfen unternommen, die katholische
in Mecheln errichtete und bald nach! Löwen verlegte und die Brüsseler,
deren Gründung ein Werk der Liberalen ist. Ueber ein Jahr spä¬
ter wurden von Seiten des Staates die beiden Hochschulen in Lüttich
und Gertl) eingerichtet, die mit dem Anfange des Jahres 1836
ihre Arbeiten begannen; die alte Staatsuniversität in Löwen wurde
aufgehoben, um der katholischen Platz zu machen. Geht man die
Berichte durch, welche das Ministerium über die Universitäten in
Lüttich und Gent den Kammern seit 1837 jährlich vorgelegt har,
desgleichen die von der Administration der Brüsseler veröffentlichten
und die zwar spärlichen Notizen in den Jahrbüchern der katholischen
Universität, so ist es erfreulich, überall die Sorgfalt zu sehen, welche
auf alle Zweige des Unterrichts verwandt wird. Kaum geht ein
Jahr vorüber, ohne daß Verbesserungen, getroffen, die Lehrfächer
erweitert und die wissenschaftlichen Mittel vervollständigt wärein
Allein der Hauptgewinn der von vier Seiten her betriebenen Con-
currenz ist ohne Widerrede die Forderung des wissenschaftlichen Be¬
strebens, die vielfache Anregung der Studien und Methoden, wo¬
durch, wie zu hoffen ist, die belgischen Hochschulen vor dem Schicksale
der englischen, in denen der Unterricht im Ganzen und Großen sta¬
tionär wird, sich bewahren werden.


Hinsichtlich des Volksunterrichts haben wir schon erwähnt, daß
derselbe nach der Revolution in Verfall geriet!). Zufolge späterer
Kammerberichte stellt sich heraus, daß, wie die ConscrivtionSlisten
beweisen, in verschiedenen Provinzen bald ein Drittel, bald zwei
Fünftel, ja selbst mehr als die Hälfte der Militärpflichtiger ohne
alle Unterweisung geblieben waren. Seit der Neugestaltung der
Gemeinde- und Provinzialverfassung von 1835 hat die Negierung
planmäßig ihren Einfluß auf die Volks- und Gelehrtenschulen immer
weiter ausgedehnt, indem sie bei einer großen Anzahl derselben durch
Bewilligung eines Subsidiumö und in Folge einer darauf gegrün¬
deten Uebereinkunft sich daS Recht der Inspection, der Anordnung
öffentlicher Prüfungen erwarb. Statistische Vergleiche zeigen, daß




[]

im Volksunterrichte gegenwärtig eine merkliche Verbesserung gegen
die letzten Jahr/ vor dem Umsturz des holländischen Regiments ein¬
getreten ist.


Unter den allgemeinen Veranstaltungen, welche die Proclamation
5er Unterrichtsfreiheit herbeiführen mußte, und welche wir als die
.-igentliche Vollendung dieses Gesetzes ansehen, haben wir vor Allem
der öffentlichen Prüfungen vor den Jurys zu gedenken. Durch die
Eraminationsjury empfängt der Staat die Zöglinge der verschiedenen
Anstalten des Landes, der freien sowie der von der Negierung ab¬
hängigen, desgleichen die jungen Leute, welche durch Privatstudien
sich auf einen gelehrten Beruf vorbereitet haben. Indem die Jury
den Uebergang aus der Schule in die öffentliche Welt vermittelt,
muß sie ihrer Natur gemäß von den obersten politischen Gewalten
des Landes eingesetzt werden. Unter den Mitgliedern, deren sieben
eine Jury bilden, werden drei von der Regierung, zwei vom Senate
und zwei von der Repräsentantenkammer ernannt; jährlich finden
zwei Sitzungen statt, von denen jede vier bis sechs Wochen zu
dauern pflegt. Zwei Grade, die Candtdaiur und das Doctorat,
oder, nach deutscher Art zu reden, das letzte Staatseramen, werden
von besonderen Püfungsbehörden ertheilt; nur in den philosophischen
und allgemeinen Vorbereitungswissenschaften sind beide Grade der
nämlichen Jury anvertraut. Bloße Ehrendiplome, dergleichen die
Universitäten nach abgehaltenem Eramen oder wegen wissenschaftli¬
cher Auszeichnung ertheilen können, geben wie in Deutschland weder
Anspruch noch Vorrecht auf den Eintritt in eine öffentliche Carriere.
Man hat über die Zulänglichkeit und den Nutzen der PrüfungS-
jurys viel gestritten, und es ist nicht zu läugnen, daß allerlei Uebel¬
stände damit verbunden sind. Um das Eramen zu überwinden
und zwar so schnell als möglich, wirst sich der Studirende häufig
auf ein mechanisches Erlernen des Stoffs seiner Fächer. Die Era-
mina selbst bieten im Durchschnitt das Schauspiel eines gemessenen,
einförmigen Abfragens dar, ohne jenes Zutrauen, welches dem Era-
minanden sein Wissen vor dem Geiste gegenwärtig erhält. Um mit
Sicherheit angetreten zu werden, setzen diese Prüfungen voraus, daß
der Studirende sein Material selbständig beherrsche und es verstehe,
in verschiedenen Methoden und Ansichten sich schnell zu orientiren.
Nur mit den Jahren kann der Studirende die Gewandtheit erlangen,


[]

Welche erfordert wirb, um vor Eraminatoren zu bestellen, die ans
allen Theilen des Landes zusammenberufen und alljährlich erneut
werden können. Daher greift er so gern nach dem Auskunftsmittel,
sich eine Masse Kenntnisse gedächtnißmäßig einzuprägen, worüber
freilich die wahre Frucht seiner Arbeit ohnfehlbar verscherzt wird.
Es ist schon oft von einer Umwandlung des Instituts der Prüfungs-
jurys die Rede gewesen, und es scheint, daß eine solche in Kurzem
zu Stande kommen wird. Jedenfalls verdient der Vorschlag Billi¬
gung, nur die letzten, sogenannten Doctoreramina den JuryS zu
übertragen, und alle frühern Prüfungen, die Kandidatur mit einge¬
schlossen, den vier Universitäten anheimzugeben. Dies würde ganz
mit der Bedeutung in Einklang sein, die wir überhaupt den StaatS-
jurys zuschreiben. Denn da der Unterricht freigegeben ist, so scheint
das Eingreifen des Staates erst für den Moment nothwendig, wo
der Studirende am Eingang in irgend einen gelehrten Beruf steht;
erst dann tritt für den Staat die Verpflichtung ein, über die Arbeit
und Fähigkeit Derer, die ins praktische Leben übertreten wollen, zu
entscheiden.


Wie nun der Staat durch die Prüfungsjurys die oberen Sphä¬
ren deS gestimmten Unterrichtswesens in eine directe Beziehung zu
der praktischen Welt bringt, so steht ihm auch noch eine andere
wichtige Funktion zu, die Lehranstalten nämlich in ihrem Wirken
sowohl unter einander als mit der Nation selbst in Berührung zu
setzen. Alle Anstalten, welcher Stufe sie auch angehören, weß Gei¬
stes und welcher Herkunft sie sein mögen, wirken innerhalb der
Nation und arbeiten für dieselbe. Lehre und Erziehung sind nie
bloße Privatsache. Daraus ergiebt sich die Forderung, daß sämmt¬
liche Anstalten sich zu einander versammeln und unter das Auge des
Volkes treten. Ohne Oeffentlichkeit würde der freie Unterricht der
sittlichen Haltung ermangeln. Als einen Anfang, dieses Ziel zu er¬
reichen, sehen wir die zuerst vor zwei Jahren eingerichteten öffent¬
lichen Preisbewerbungen an, durch welche die Jugend zu einem
edlen Wetteifer bet den großen Nationalfesten im Herbst in der
Hauptstadt zusammengerufen wird. Belgien ist das Land der Preis-
vcrtheilungen, der Feste für jederlei Kunst und Wissen. Das rühm¬
liche Ehrenzeichen des öffentlichen Lobes ziert jede Art von Verdienst.


[]

die Erzeugnisse des gemeinsten Bedarfs, wie die herrlichsten Schöpf¬
ungen des Talents.


Der erste große Schulact ward im Jahre 1840 unter den von
der Regierung subvcntionirten Athenäen und Kollegien angeordnet,
Durch Ausschluß der freien und blos städtischen Gymnasien entbehrte
jedoch diese Festlichkeit noch des rechten nationalen Charakters. Der
Staat stellte sich noch mit seinen Schulen, gleich einem Privatvcrein,
den zahlreichen, von ihm unabhängig bestehenden Lehranstalten, ent¬
gegen. Die Erweiterung des Preiöconcurses, welche das darauf
folgende Jahr brachte, muß deshalb als ein bedeutender Gewinn,
als eine der wichtigsten Anordnungen seit der Reorganisation des
Unterrichtswesens im Jahr IZM angesehen werden. Zu der Be¬
werbung im Herbst 184! waren sämmtliche Schulen eingeladen, die
einen vollständigen Gymnasialcursuö, die alten Sprachen nebst den
mathematischen Wissenschaften, ausweisen konnten, ohne Unterschied,
ob sie ein subsidium vom Staate genossen oder nicht; nur waren
die der ersten Art zur Theilnahme verpflichtet, den übrigen war
dieselbe freigestellt. Das erste Mal schlössen sich freilich nur wenige
freie Anstalten an; es liegt aber in der Natur der Sache, daß die
Theilnahme mit der Zeit immer allgemeiner werden wird. In bei¬
den Jahren hatte man die Preisbewerbungen nur für die oberste
Klasse, die Rhetorik, gelehrter Schulen ausgeschrieben; dieses Jahr
hat man die niederen berufen; uns scheint der frühere Gebrauch den
Vorzug zu verdienen, denn für -die mittleren und unteren Klassen
reichen die gewöhnlichen häuslichen und städtischen Feste vollkommen
hin, und es ist ein Sporn für den Schüler, wenn es ihm für das
Ende seiner Schulzeit vorbehalten bleibt, bei der allgemeinen Natio¬
nalfeier in die Arena zu treten.


Eine noch umfassendere und bedeutendere Preisvertheilung wird
im gegenwärtigen Jahre zum ersten Male stattfinden. Denn es
sind nun auch durch einen königlichen Beschluß vom Z3. Oktober
>84I sämmtliche Universitäten des Landes aufgefordert, und für jede
der vier Facultäten (an die Stelle der theologischen tritt als vierte
eine Facultät der mathematischen und naturwissenschaftlichen) sind
zwei Ehrenmedaillen ausgesetzt, über deren Ertheilung die von den
einzelnen Facultäten der vier Universitäten erwählte Jury zu ent¬
scheiden hat. Zu diesem Concurse wird nicht blos, wie in Deutsch-


[]

land, eine schriftliche Dissertation, sondern auch, um die eigene Ar¬
beit des Bewerbers bestimmt zu ermitteln, eine unter den Augen ve»
Preisrichter verfaßte Arbeit nebst öffentlicher Vertheidigung der Dis
sertation erfordert.


Es ist noch nicht an der Zeit, über die Ergebnisse der bisse.
rigen Concurse näheren Bericht abzustatten; das Institut ist noch zu
neu, die Wirkungen desselben werden sich erst mit den Jahren er
kennen lassen. Zu den allgemeiner bemerkten Thatsachen im belgischen
Unterrichtswesen kann man jedoch ohne Bedenken das Ueberwiegen
der Realstudien über die classischen rechnen, ein Umstand, der in
dem hiesigen Lande nicht überraschen kann. Eine der erfreulichsten
Thatsachen ist unbestreitbar das wiederauflebende Studium der flä-
mischen Sprache in den Schulanstalten, welches nach der Revolution
durch die Uebermacht des französischen Wesens eine Zeitlang in Still¬
stand gerathen war. Nach den bis jetzt vorgenommenen Prüfungen zu
urtheilen, stehen in diesem Lehrzweig die wallonischen Schüler den
flamcindischen nicht nach, wie es andrerseits eine merkwürdige
Thatsache ist, daß die Schüler flamändischer Gymnasien im Durch»
schnitt in der französischen Sprache den wallonischen gewachsen sind.
So scheint von beiden Seiten eine Durchdringung der fremdartigen
Elemente der zwei Haupttheile des Landes von den Schulen aus
sich zu bewerkstelligen.


Durch die öffentlichen Prüfungen und Preisconcurse erhält das
freie Unterrichtswesen seine natürliche Ergänzung. Der Staat gibt
dadurch Allen, die dabei betheiligt sind, die Mittel an die Hand,
ihr Wirken, wie es sein soll, vor der Nation auszuschließen. Es
wäre gewiß ein großer Verlust für das Volk, wenn die Unterrichts,
freiheit eine Zerstückelung und Jsolirung desselben in den Sälen der
Privatunternehmer, zerstreuter Vereine und einzelner Stände oder
Parteien zur Folge hätte. Das Volk hat Anspruch auf alle Kräfte,
der Stand der Gebildeten jeden Geschäfts hat das Recht, über die
Leistungen deö Lehrwesens Kenntniß zu fordern und ein Urtheil zu
fällen. Nach Oeffentlichkeit strebt und ringt unsere ganze Zeit; in
ihr liegt die größte Macht und Bildungskraft für alle Theile der
gesellschaftlichen Thätigkeit. Das Recht des Urtheils, ein Zuge-
ständniß, welches Einzelne und Einzelvereine der Gesellschaft einräu¬
men, lohnt diese durch die Sanction ihres Vertrauens, durch den


[]

Ausspruch ihres Antheils und ihrer Billigung. Die gegenwärtige
Zeit, welche allen Gemeinsinn anregt und reift> wird es dahin brin¬
gen, daß das Erscheinen vor der Nation den Häuptern der Ver¬
waltung und den Leitern des Unterrichts, wie es jetzt den Lehran¬
stalten Belgiens geboten und freigestellt ist, zu einer unabweislichen
moralischen Nöthigung, zu einer Bedingung ihres Gedeihens wird.


Note: Th, Schliephakc.

[]

Beschauliche Briefe aus Oesterreich
(von
3. von Z.)



Sie kennen gewiß das Haus, aus welchem ich Ihnen diese
Zeilen schreibe. Vor mir liegt die Bruska mit ihren grünen An¬
höhen, die wie eine blühende Friedenshand über die alten Festungs¬
werke sich ausstreckt. Weithin blickt das Auge über die freundlichen
Inseln der Moldau; die Daliborka, das alte Denkmal böhmischen
Tongenies und die Sternwarte Tycho Brahe's sind meine Nachbarn;
unter meinem Fenster zieht eine Procession singender Landleute zu
dem Standbilde des heiligen Johannes von Nepomuk. Der Mor¬
genwind streicht über die Stadt und weckt sie zur Thätigkeit, zu neuem
Tagewerke, zur frischen Zukunft. Seit acht Tagen bin ich hier.
Ich habe von dem staubigen Wien auf zwei Monate Abschied ge¬
nommen, um Böhmen zu durchstreifen, das ich seit fünfzehn Jahren
nicht gesehen. Fünfzehn Friedensjahre verändern ein Land nicht
minder als eben so viel Kriegsjahre. Warum verlangten Sie blos
Briefe aus Wien von mir? Hat die Nähe von Paris, in der Sie
leben, Sie vielleicht vergessen lassen, daß Oestreich kein centralisir-
tes Land wie Frankreich ist, wo derjenige, der ein Bild von der
Hauptstadt gegeben hat, zugleich ein Bild deö ganzen Landes liefert?
Diese Staaten-Mosaik, die man Oestreich nennt, muß in ihren ein¬
zelnen Farben und Steinen untersucht werden. Wien ist kein Ma߬
stab für Prag. Prag ist kein Maßstab für Pesth, Pesth nicht für


[]

Trieft, Trieft nicht für Mailand u. s. w. Auch muß ich Ihnen
bekennen, ich habe nie geglaubt, daß die Centralisanon in Frankreich
so sehr stark ist, als unsere deutschen Neiseschriftsteller uns glauben machen
wollen. Es geht dem deutschen Reisenden in Frankreich nicht besser, als
dem französischen Reisenden in Deutschland. Die fremde Nationalität,
auf die er stößt, frappirt ihn, er sieht nur das Ganze; die einzelnen
Nuancen zu begreifen, dazu gehört eine tiefere Vertrautheit mit der
Nation. Unter fünfhundert Reisenden, die Paris besuchen, macht
höchstens Einer einen Ausflug nach Lyon, nach Clermont, nach Mar¬
seille und dieser Eine, wenn er nicht in Geschäften reist, eilt durch
das schöne Land, um nur die Städte zu sehen. Da trifft er denn
freilich nur Pariser Moden, Pariser Journale und Pariser Affen.
Der Volksgeist aber mit seinen localen Sitten, Traditionen und Aus-
drucköverschiedenheitcn ist glücklicher Weise zäher, als daß der nivel-
lirende Geist der Staatsprincipien und der vorüberrauschende Strom
der Modeidcm ihn vernichten könnten, und es ist mir schwer zu glau¬
ben, daß in dieser Beziehung Frankreich centralisirter sein soll, als
England und Deutschland. Der oberflächliche Tourist findet in Prag
wie in Pesth Wiener Speisen, Wiener Theaterstücke und Wiener
Tanzmusik, und doch sind beide Städte weit entfernt, die Affen der
Residenz zu sein. Besonders Prag, wo noch die Erinnerungen an
die Zeiten leben, da es selbst der Sitz der östreichischen und
deutschen Kaiser gewesen ist. Prag, das in seinem historischen
Stolz auf Wien wie ein alter Edelmann auf einen Parvenü
herabsieht. Das gemeine Volk in Böhmen trägt sich noch im¬
mer mit der Sage, der Kaiser werde seinen Hof wieder nach
Prag verlegen, und^ selbst in den Vürgerklassen hört man die
Aeußerung, die alte ungestalte Hofburg in Wien werde nächstens
umbaut werden und der Kaiser werde nächstens sein prächtiges
Schloß in Prag beziehen und zwei, drei Jahre hier verweilen. In
der That ist das Eintreten eines solchen Ereignisses nicht außer dem
Bereiche der Möglichkeit. Ja, es kann sogar der Fall eintreten,
daß die politsche Klugheit dazu räth. Nicht um die alte Hofburg in
Wien umbauen zu lassen, sondern um dem Geist der böhmischen Anhäng¬
lichkeit neue Stützmauern und einen frischen Anbau zu geben. Die
Verlegenheiten, in welche die östreichische Negierung durch den so
lebhaft erwachenden CzechiömuS in Böhmen geräth, würden dadurch


[]

gehoben werden. Offenbar ist man in Wien noch unentschieden über die
Art und Weise, wie man dem böhmischen Slavismus begegnen soll.
Einerseits liegt es nicht in der Tendenz des Wiener Hofes, die
sprachlichen und nationalen Eigenthümlichkeiten der verschiedenen
östreichischen Staatsvölker, so lange sie dem Geiste der Centralregie-
rung nicht hemmend in den Weg treten, zu stören; vielmehr braucht
sie dieselben oft als eine Stütze ihrer Macht; dieselbe slavische
Sprache, welche ihm in Böhmen Besorgnisse einflößt, wird in Un¬
garn gegen die Uebergriffe der Magyaren von ihm beschützt. An¬
drerseits fehlt es nicht an warnenden Stimmen, welche in der Na¬
tionalbewegung der böhmischen Slaven eine gefährliche Umwälzung,
deren Zweige bis nach Rußland hin sich erstrecken, erblicken wollen.
Diese Gefahren würde eine zeitweilige Verlegung des kaiserlichen
Hofes nach Prag allerdings aufheben. Wir Wiener würden hier¬
zu allerdings gar sauere Gesichter machen. Wohl lebt in Böh¬
men ein bei Weitem lebendigeres historisches Bewußtsein als in Oest¬
reich, dem Erzherzogtum. Und dieses historische Bewußtsein ist es,
was der jungen böhmischen Literatur ihre ganze Anregung gibt.
Die Zeiten, wo Böhmen glänzend und groß, wo Prag ein prächti¬
ger Kaisersitz war, sind die Lieblingserinnerungen der böhmischen
Jugend. Alle diese Erinnerungen aber stehen zu Rußland in keiner
Verbindung. Die Regierungsmarimen Rußlands sind wahrlich nicht
so anziehend, um ihm die Sympathien solcher Völker zu erwerben
deren Geschichte die glorreichsten Kämpfe für ihre Freiheit aufzuwei¬
sen hat. Man erhebe Prag wieder zum Kaisersitze, man umgebe
Böhmen mit dem Glänze, den es vor den Zeiten Mathias' hatte,
und der neuerwachte Sinn für seine Nationalität wird nur eine
neue Stütze für den östreichischen Thron sein. Ich muß Sie in die¬
ser Beziehung auf die Schrift des Grafen Leo von Thun verweisen.
„Man behauptet" — heißt es in dessen so eben erschienener Schrift,
„über den gegenwärtigen Zustand der böhmischen Literatur und ihre
Bedeutung" s> — „ das Ziel der slavischen Sympathien: eine
die bestehenden Verhältnisse Europas zerstörende, slavische Univer¬
salmonarchie soll die nothwendige Folge der gemeinschaftlichen Be¬
strebungen der slavischen Volker sein. Diese Behauptung wird von



[]

Vielen in allem Ernste aufgestellt; den Beweis sind sie unseres Wis¬
sens alle schuldig geblieben. — Uns scheint eben diese gefürchtet«
Universalmonarchie nichts mehr als ein Gespenst. Wohl muß dem
Gefühle nationaler Verwandtschaft und dem Bande einer gemeinsa¬
men Literatur politische Wichtigkeit zugeschrieben werden. Allein
sie stellen doch gewiß nicht das einzige Moment dar, welches auf
die Abgrenzung der Staaten einwirkt. Den materiellen Interessen,
dann jenen Umständen, welche unabhängig von der subjektiven Be¬
schaffenheit einer Bevölkerung ihre geistigen sowohl als materiellen
Interessen auf das Mannigfachste modificiren: der geographischen
Lage, den Verhältnissen der Stellung zu Nachbarvölkern, endlich der
Macht des geschichtlich Bestehenden müssen wir einen gleichen Ein¬
fluß zugestehen. Deutschland, ein zusammenhängendes, abgerundetes
Gebiet, wird von einem Volke bewohnt, das alle Perioden der
Entwicklung gemeinschaftlich bestanden, unter dem stets nur eine
Sprache geherrscht hat, und doch sehen wir, daß es nicht einen
Staat bildet, sondern sogar aus einem Staat in viele zerfallen ist.
Besteht unter diesen einige politische Gemeinschaft oder ist man der
Meinung, daß sich solche noch in Zukunft herstellen wird?(!) Nicht
eher und nicht mehr werden die deutschen Staaten je ihre Selb¬
ständigkeit aufgeben, als es die Interessen ihrer Völker verlangen,
und immer werden von der politischen Einheit Deutschlands jene
Völker sich ganz lossagen, deren Interessen durch den Anschluß an
einen andern Staat mehr gefördert werden. Nach denselben Gesetzen
wird auch die politische Zukunft der Slaven sich gestalten. Ein
Blick auf die Karte von Europa und in seine Geschichte lehrt uns
aber, daß alle die Umstände, deren Gesammtwirkung nur eben hin¬
gereicht hat, um Deutschland einigermaßen zusammenzuhalten, hin¬
sichtlich der slavischen Völker nicht vorhanden sind. So weit wir
dem Verlaufe der Zeiten nachzuforschen im Stande sind, finden wir
keinen Vereinigungovunkt für alle slavischen Völker, nicht ein den
östlichen Slavenstämmen mit den westlichen gemeinschaftliches Ereig-
niß. Vielmehr sehen wir, daß jeder Stamm seine sociale Entwick¬
lung auf einem eigenen Wege, von den übrigen abgesondert, erlangt
hat. Dem Raume nach sind nicht nur die Böhmen und Jllyrier
weit auseinander gerückt, sondern sowohl die einen als die andern
von den östlichen Stämmen durch eine große Entfernung getrennt,


[]

wenn auch Stammverwandte den Zwischenraum zum Theil bevöl¬
kern. Hierdurch sind die Slaven über Länder verbreitet, die durch
ihre ungeheure Ausdehnung die verschiedensten, zum Theil wider¬
sprechendsten materiellen Interessen erzeugen. Zwischen sie hinein ha¬
ben sich andere Völker gelagert, und selbst die Gebiete, welche sie
bewohnen, haben sie nicht im ausschließlichen Besitze. Der hier¬
aus hervorgehende, in das Geschäfts-, wie in das Familien¬
leben vielfach verwobene, innige Verkehr der Westslavcn mit den
Angehörigen anderer Nationen, die seit Jahrhunderten ihre Le¬
bensgefährten sind, ist ein mächtiges Mittel, sie vor nationaler Eng¬
herzigkeit zu bewahren; so wie der Umstand, daß ein Staat, der
alle Slaven umfassen sollte, zugleich die Magyaren und ausgedehnte
deutsche Ansiedlungen verschlingen müßte, und daher nur auf den
Trümmern des europäischen Staatensystems errichtet werden könnte,
den Wunsch nach einer politischen Vereinigung aller Stämme seiner
Nation, auch in der Brust jedes redlichen und einigermaßen gebil¬
deten Slaven niemals entstehen lassen kann."


Graf Thun bringt noch einige andere Gründe vor, welche die
gefürchteten Gefahren des Panslavismus als ein Hirngespinst dar¬
stellen, als: die Verschiedenheit in den Sprachen der Russen und
Serbier, der Polen und Böhmen :c. Aber den Hauptgrund gegen
die Möglichkeit einer slavischen Universalmonarchie, das sicherste Mit¬
tel, alles Mißtrauen gegen die Möglichkeit solcher Gedanken und
Hoffnungen zu zerstreuen, hätte er in den vielfachen Entgegnungen
und in der entschiedensten Zurückweisung suchen können, welche die
Schrift über „die europäische Pentarchie" in Deutschland erfahren
hat. Frankreich ist für Deutschland ein gefährlicher Feind, denn die
Civilisation steht ihm zur Seite. Nicht seine Waffen allein sind es,
was die Regierungen fürchten, sondern seine Theorien, seine verfüh¬
rerische Cultur. Nußland aber könnte sich auf Deutschland nur stür¬
zen, wie die Wandalen auf Rom, keine Intelligenz, keine humanen
Sympathien, kein geschichtlicher Glanz macht ihm Bahn. Es war
eine ungeschickte Vergleichung, wenn unlängst ein Schriftsteller die
Stellung Böhmens zu Oestreich mit der Stellung der Rheinprovinzen
zu Preußen verglich. Böhmen ist mit Oestreich durch Jahrhunderte
zusammengewachsen. Es hat nie einen Theil von Nußland gebildet,


[]

wie jene einen Theil von Frankreich, es hat nie dessen Gesetzgebung
zu der seinigen gemacht oder auch nur ein Gelüste verspürt, sie da¬
zu machen zu wollen; seine Geschichte, seine Institutionen, sein Na¬
tionalleben, überragen die russischen, wie die Altgriechenlands die
des neuen Griechenlands überragen. Sein materielles Leben, seine
Industrie, sein Handel hat keine Berührung mit den fernen Sprach--
verwandten, und mit Recht kann man den Ausspruch des Grasen
Thun wiederholen: „die Nussensurcht ist ein Gespenst, nur eine über¬
reizte Einbildungskraft und leichtgläubige Kindernaturen können da¬
vor zurückschrecken."


Es ist ein schlechter Dienst, welchen die Zuflüsterer der östrei¬
chischen Regierung erweisen, indem sie ihr Mißtrauen gegen die
slavische Literaturbewegung in Böhmen stacheln; es kann nur dazu
beitragen, Oestreich in eine Reihe von Verlegenheiten zu stürzen.
Ich bin kein Slave, kenne den Werth der böhmischen Literatur nicht
und habe keine innere Veranlassung, ihr das Wort zu reden; aber
wo der Nationalgeist erwacht ist, da hat er ein Recht zu seiner
Existenz. Eine weise Negierung muß ihn zu leiten wissen, ihn un¬
terdrücken ist ungerecht und unklug. Man lasse dem Strom seinen
vollen breiten Lauf und er wird ruhig in seinem Bette bleiben. Legt
man ihm Hindernisse in den Weg, sucht man ihn einzudämmen, so
wird er sich entweder überstürzen oder sich aus Nebenwegen Bahn
machen und dort hervorbrechen, wo sein Erscheinen am gefährlichsten
ist. Es ist in letzter Zeit vielfach von einer Versetzung des Oberst¬
burggrafen von Cholet die Rede gewesen, und aus den widerspre¬
chenden Nachrichten einiger halbofficiellen Journale konnte auch der
Uneingeweihte ersehen, daß man in Wien hinsichtlich dieses Staats¬
mannes schwankende Ansichten habe. Einige Mißverständnisse, die
zwischen demselben und dem hiesigen Adel eingetreten sind, haben
hieran weniger Schuld als der Vorwurf, daß er die neue Czechi-
sche Bewegung eine so entschiede:» Entwicklung gewinnen ließ.
Dieser Vorwurf findet aber, so viel ich in Wien mich darüb.er un-
terrrichten ließ, dort viele Gegner, und gerade derjenige Staatsmann,
auf dessen Urtheil das meiste Gewicht gelegt wird, soll der Ansicht
des böhmischen Landesgouverneurs durchaus nicht entgegen sein.
Ich habe bereits in den wenigen Tagen, die ich hier lebe, häufig


[]

Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die Politik, welche der Graf
von Cholet gegenüber der böhmischen Litcraturbewegung beobachtet,
sowohl vom Standpunkte des Provinzialinteresses, als auch im In¬
teresse der Centralregierung eine durchaus weise und beifallswürdige
sei. Die Czechvphilen (denn ich sehe nicht ein, warum man ihnen
den Spitznamen Czechomanen geben sollte) sind nicht eine kleine
Hand voll Menschen, die man durch eine strenge Maßregel hemmt
und abschneidet. Zwei Drittheile des Landes sprechen nichts als
böhmisch. Die Culturbedürfnisse dieser Volksmasse können nur durch
böhmische Bücher und böhmischen Unterricht befriedigt werden. In
dem Grade, als" die Bildung und der Volksunterricht fortschreitet,
in demselben Grade muß auch die böhmische Literatur eine größere
Ausdehnung und zahlreichere Anhänger im Lande gewinnen. Wollte
man dieses hemmen, so müßte man entweder die Gesetze über den
Volksunterricht aufheben oder dem langbewährten Staatöprincipe
treulos werden, vermöge welchem dem Volke immer die Freiheit sei¬
ner Sprache unbenommen blieb. Da Oestreich keinen dieser beiden
Grundsätze aufzugeben Lust haben kann, so würde ein kleiner Krieg
gegen einzelne Literaten und Wortführer theils der Staatsregierung
unwürdig sein, andrerseits aber nur dazu dienen, eine ewige Reiz¬
barkeit in den Gemüthern zu nähren und kleinen Umständen eine
Wichtigkeit zu geben, die sie nicht verdienen. Hier gilt es einen
entschiedenen und freien Entschluß zu fassen, die einmal angeregte
Bewegung in ihrem Gange auch nicht im Mindesten zu stören; ja
durch einzelne Beförderungen, durch Beweise von Zutrauen die Unbe¬
fangenheit deö Staates zu manifestiren. Der Haß gegen die Deut¬
schen, den man den Böhmen zur Last legt, wird dadurch von selbst
entwaffnet. Oestreich kann die Böhmen moralisch zu der Anerken¬
nung zwingen, daß die Deutschen toleranter sind als sie. Zu den
Zeiten der selbständigsten Macht Böhmens, in der Epoche Carls
III. und Rudolf des 1l. klagten die Böhmen über das kleinste Amt
das er einem Deutschen zuwies. Wenn nun jetzt die deutschen
Staaten des Kaiserthums Repressalien gebrauchen wollten? Die be¬
deutendsten und höchsten Stellen des östreichischen Staates und seiner
Residenz sind mit Böhmen besetzt. Die böhmische Nation kann
hierin den Beweis sehen, daß sie von der Staatsregierung nicht


[]

hintangesetzt wird. Ihrerseits hin auch die Regierung bisher
nicht Ursache gehabt, die Treue dieser Beamten und Staatsmänner
zu bezweifeln. Warum sollte sie plötzlich ihre Unbefangenheit selbst
zerstören und ein Gespenst zwischen sich und eine langbewähr¬
te Nation treten lassen? Hier, wo Freiheit in ihrem Principe
liegt, wo sie gerecht aus Klugheit und klug aus Gerechtigkeit sein
kannt


[]

Literaturblätter.



l.
Die bcUcttristischcn Journale Mit die politischen.


Die letzte Leipziger Ostermesse hat ein merkwürdiges Resultat
gegeben. Die Aussage aller Buchhändler lautet einstimmig dahin,
daß die Theilnahme des deutschen Publikums an bellettristischen Er-
zengnissen auf eine entschiedene Weise abgenommen hat, das In
teresse aber an ernsten, besonders an politischen Schriften im gleiche»
Grade sich steigert. Wenn es noch eines Beweises bedarf, daß
Deutschland mit jedem Tage an Kraft und Nationalbewußtsein ge¬
winnt, so ist er hier zu finden. Unter den drei großen Nationen,
welche jetzt an der Spitze der europäischen Bildung stehen, hat die
gemeine Belletristik nirgends einen so breiten Boden für ihre Wu^
cherpflanzen gefunden, als bei den Deutschen. Ist es nicht merkwür-
dig, daß in Deutschland, wo der Volksunterricht und die Durch
schnittsbildung weit blühender sind, als bei jeder anderen Nation, eine
so heillose Masse der rohesten Erzeugnisse in die Reihe der schöne»
Literatur sich drängen darf? Daß die Poesie- und geschmacklosesten
Producte von dem Straußmagen des Publikums gierig verschlungen
werden? Daß eS noch zahlreiche Buchhandlungen giebt, die einen
ellenlangen Verlagskatalog von Ritter-, Räuber- und Gespensterge¬
schichten besitzen? Auch in Frankreich und England fehlt es nicht 'an
bellettristischcm Abschaum; aber in allen solchen Büchern findet man
Spuren, die mit dem Nationalleben zusammenhängen. Die unsinnig-
^


v
[]

ste» Seeromane der Engländer, die fratzenhaftesten Revolutions- und
NapoleonSgcschichten der Franzosen baben für ihren Mangel an
ästhetischem Gehalt immer noch irgend ein volksthümliches Element,
wodurch <le den Haufen reizen und wodurch ihre Existenz sich moti-
viren läßt. Die deutschen Erzeugnisse solchen Ranges entbehren selbst
dieses Hebels. Und doch sahen wir durch ein halbes Jahrhundert
das Publikum immer frisch und unerntüdet nach derartigen Fabrik«^
mi greifen. Bei dem Mangel an Nationalbewußtsein und politi¬
scher Rcgbarkeit war es der Masse gleichartig, aus welchen Kreisen
und Nationen man die Helden der Geschichten wählte, die seine gut¬
müthige Neugier und seine naive Einbildungskraft zu sättigen be¬
stimmt waren.


Aus dieser Apathie, aus dieser Kinderstuben-Naivetät erwacht
nun daS deutsche Publikum. Ein Blick in den Mcßkatalog und
man wird finden, daß die Bedürfnisse der Lesewelt ernster, männli¬
cher und zweckbewußter geworden sind. Die politischen Schriften er¬
schienen in größerer Zahl als je, und es ist nicht mehr China und
Bessarabien, um welche es sich dreht, sondern Deutschland ist der
Mittelpunkt der Debatten. Man sieht, die große Masse der Na¬
tion ist näher herangetreten, die Verhandlungen der vaterländischen
Interessen zu beobachten.


Die Lyrik, welche bei den Deutschen immer voranläuft, hat
diese Wendung schon lange voraus versündigt. Die politischen Dich¬
ter sind wie die Quartiermacher der langsam nachziehenden Masse
vorangelaufcn. Die Journale trotten, so gut es bei den Schwierig¬
keiten und Hindernissen des Terrains gehen will, rüstig nach. Daß
bet uns die Lvrik eher die Bewegung der Zeit verkündigt als
die Journalistik, ist ein tiefer Charakterzug des deutschen Volkes.
Die Lyrik ist ihm angeboren; für die Journalistik muH es erst seine
Erziehung durchmachen. In dieser letzten Schule hat es noch eine
große Strecke Weges vor sich, bevor es die anderen Nationen errei¬
chen wird.


Man muß dem deutschen Publikum nicht allzuviel Kompli¬
mente machen. Es ist ein schlechter Dienst, den man ihm erweist,
wenn mau ihm — wie dieses in unserer Zeit oft geschehen ist —
einreden will, es sei überaus klug und edelmüthig und uneigennützig,
und es gehe allen andern Völkern auf dem großen Weg zur Voll-


[]

kommenden voran. Wenn ich mich nicht sckeuen möchte, dein ver
ehrten Leser Grobheiten ins Gesicht zu sagen, so würde ich alle diese
Schmeicheleien geradezu auf den Kopf stellen und behaupten, das denk
sche Publikum ist stumpfer und bei weitem kleinlich interessirter al^
jedes andere. Wenn der deutsche Schriftsteller über die Grausamkeit
des Censurbeilö in Klagen ausbricht und darüber jammert, daß es
seine edelsten und besten Gedanken köpfe und den blutenden Rumpf
ihm vor die Füße wirft, dann ist seine Klage doppelt rührend, den»
der Schriftsteller in Deutschland hat selten von seinem Berufe mehr
als Befriedigung seines innern moralischen Dranges. Wenn aber
das deutsche Publikum über Bevormundung durch die Censur klagt,
dann möchte man seinen Grimm gegen es selbst wende!?. Denn wer
ist an dem Allen Schuld als du selbst, du stumpft, schwerfällige
Masse, die sich Publikum nennt, ohne es zu sein? Ein Tory-Jour-
nal, ein Whig-Journal in England, ein cvnservativeS, ein radicaleö
Blatt in Frankreich kann immer daraufzählen, von der Partei, de-
ren Ausdruck es ist, getragen, gefördert und unterstützt zu werden.
Wie viele deutsche Privaten unterstützen eil? Tendenzblatt, weil es ihre
Meinung ausdrückt? Wie viele deutsche „Nationale" abonniren auf
die Oberdeutsche Zeitung? Wie viele „Liberale" halten die Königs«
berger, die Rheinische? Man' liest sie in den Lesezirkeln, ,« man
dbonnirt auch für das eigene Haus darauf, wenn sie ein anderes
Neuigkeitsblatt ersparen. Nur die Journale mit religiösen Tenden¬
zen können auf Unterstützung rechnen; der politische Journalist
gleicht oft jenem ritterlichen Führer, der seiner Schaar voran¬
schreitet, im Gedränge des Gefechres aber mit Schrecken bemerkt,
daß seine Mannschaft nicht nachgefolgt ist.


Bei dem Allen könnten die Journale ihrerseits, trotz der Strenge
der Censurmaßregeln, bei weitem gewichtiger, freimüthiger und selb-
ständiger sein, wenn sie mehr Aufmerksamkeit auf die Form wenden
würden. Ein Mensch im Frack darf Manches sagen, wofür man
einen Menschen im Kittel zur Thüre hinauswerfen würde. Die
deutsche Sprache ist reich und biegsam, sie hat Spitz und Schneide
was nicht auf die eine Weise geht, das geht auf die andere. Dies
Zugeständnis; aber muß man dem deutschen Publikum immer ma¬
chen, daß es aufmerksamer liest als jedes andere, daß es Winke ver--
steht, wo es bei einem andern der Rippenstöße bedars.



[]

Indessen bei einem peinigen Journal, das tagtäglich die
Tribune betreten ausi, das nicht Zeit hat, sich ans- und anzu¬
kleiden, sondern gestiefelt und gespornt zu Belle gehen muß, um
des anderen Tages, beim ersten Postruf, wieder aufzuspringen und
in's Feld zu rücken, da kann man nicht die Ansprüche macheu,
daß es seine Worte lange poliren und auf diplomatische Wendun-
gen nachdenken solle.


Was aber den politischen Tageblättern unmöglich wird, warum
übernehmen dies nicht die Wochenblätter, die literarischen und bettet,
n istischen Zeitschriften?


Die belletristischen Journale gehen ohnstreitig einer Krisis entge¬
gen, ihre Form ist abgenutzt und, wenn sie den Zug der Zeit nur
einigermaßen begreifen, wenn sie ihr ferneres Bestehen möglich machen
»vollen, so müssen sie einen andern Weg einschlagen. In Frankreich,
wo die Politik alles Andere aussaugt, haben die politischen Jour¬
nale längst die bellettristischen verschlungen; das Feuilleton wird von
dem Hauptblatte wie ein Nachen von einem Linienschiff am Schlepp¬
tau nachgezogen. In Deutschland ist bisher dieses Beispiel nur von
einigen Journalen mit Erfolg versucht worden, diese Versuche wer¬
den aber immer häufiger, die Materien, welcher sich unsere politi¬
schen Journale bemächtigen, greisen immer mehr und mehr in's li-
terarische Gebiet hinüber; und es dauert vielleicht nicht mehr lange,
so lesen wir in der Augsburger und in der Leipziger Allgemeinen
Zeitung auch Novellen.


Mögen die bellettristischen Journale die drohende Gefahr beden¬
ken und aus ihrer Schlaffheit, aus ihrem trägen l'-ki- mente sich auf¬
raffen ; noch ist es Zeit, einen Plan zu machen. Die Kreise müssen
weiter ausgesteckt werden, die Kräfte rüstiger sich drängen. Muß
doch unsere ganze Journalistik bei England in die Schule gehen,
warum wollen die literarischen Journale nicht gleichfalls dort ihre
Erfahrungen herholen; auch die untergeordneten englischen und fran¬
zösischen Revuen wagen sich nicht mit so leichter Fracht auf den
Strom, wie die unseren.


Die deutschen bellettristischen Zeitschriften haben aber noch den
großen Vortheil voraus, daß ihnen eine Lücke der politischen Ta¬
gesliteratur zu bebauen übrig bleibt, welche sür die englischen und
französischen verloren ist. Sie können jene Gegenstände aufgreifen,


[]

welche die Tagesblätter in ihrer Hast und im Mangel an der für eine
diplomatischere und freiere Form nöthigen Zeit fallen lassen müssen.
Die bellettristischen Journale könnten, wenn sie auch die Politik in
ihr Bereich zögen, weit freisinniger sein als die politischen, weil
der Tag sie nicht drängt, weil sie die ganze Woche Zeit haben, die
ganze Form zu ersinnen und das verschleiernde Wort zu wähle».


!l.
Französische Urtheile über deutsche Kunst.


Wenn die französische Unkenntnis; deutscher Zustände poetisch
wird, wenn Marinier und seine Nachfolger von den großartigen Rui¬
nen Augsburgs und anderer süddeutscher Städte erzählen, so kann
man sich dies gefallen lassen; und die Augsburger Allgemeine, die
dergleichen Phantasiestücke zuweilen mittheilt, verbreitet damit in ganz
Teutschland große Heiterkeit. Es funkelt in solchem Unsinn oft ein
gewisser Esprit, es zeigt sich eine Art von Germanomanie darin, wie
man sie sonst an unsern selbstgefälligen Nachbarn nicht bemerken konnte.
Man sieht, wie der französische Reisende überall die pi-oloiulem- »I-
Il'M-mu'e ergründen will, wie er in jedem Heuschober die urgothischc
Bauart und K la Don Quüote in jedem Wirthshaus ein verfalle
mes Raubschloß entdecken möchte; dabei laufen ihm Naturphilosophie,
Jakob Böhme und Hoffmann'sche Romantik in den wunderbarsten
Verkörperungen auf allen Gassen durch einander vor der Nase her¬
um. Der deutsche Eulenspiegel rächt sich an dem eitlen Franzmann,
der so oft geglaubt hat, an dem ehrwürdigen, schlichten Wesen un¬
seres Volkes sein Müthchen kühlen zu dürfen. Kehrt er dann in
seine klare, nüchterne tickte krimce zurück, so redet er von nichts als
Schlemihlsschatten, Siebenmeilenstiefeln, Seherinnen von Prevvrst
und anderen Ungeheuerlichkeiten, läßt darüber einige Faustische
Blitze leuchten, macht Novalis zu einer Thräne Spinoza's, gefalle»
bei Mondschein in den Kelch einer pantheistischen Lilie, kurz, der
verständige, spottende Franzose bekommt das deutsche Wesen und wird
vor lauter Tiefsinn unsinnig. Wir brauche» das Bild nicht weiter
auszuführen.. Solche Unwissenheit, wiederholen wir, ist ergötzlich,
obgleich es zu verwundern ist, daß sie gerade in einem Blatt, w?e die


[]

Revue des Deur-Mondes sich blamiren darf. Welches Recht aber
hat man, uns langweiligen, trocknen Unsinn vorzusetzen? Unsere
Langweiligen, unsere Pedanten haben wenigstens was gelernt.
Wenn wir französische Abhandlungen über unsere Literatur, Politik
no Gesellschaft lesen, die von der Wahrheit das Gegentheil enthalten,
so können wir mit Recht wenigstens eine pikante Entschädigung fordern.


Die Revue des Deur-Mondes bringt von Herrn Frvd^rie Mer¬
cey einen Artikel über die moderne Kunst in Deutschland, den wir
kaum beachten würden, fühlten wir uns nicht gedrungen, auf Herrn
Fr. WolfferS hinzuweisen, der in der hiesigen „Emancipation" die
gröbsten Irrthümer der Mercey'schen Darstellung scharf beleuchtet
hat. Gerade in Belgien, wo die Erinnerungen aus der flämischen
Kunstperiode eine Theilnahme am Schicksal der geistverwandten deut¬
schen Kunst erwarten lassen und wo die französische Presse bei der
Jugend noch so viel Glauben findet, war die Entgegnung des Herrn
Wvlfferö um rechten Orte. Manchen Leser, wenn er auch sonst
nicht nach den Ansichten des Herrn Mercey neugierig wäre, wird
die würdige Sprache freuen, die unser Freund für den Ruhm der
deutschen Kunst in einem französisch geschriebenen Blatte führt. Wir
heben die wichtigsten Stellen aus dem Aufsatz des Herrn Wolffers
hervor:


„Eine gefährliche Klippe," behauptet Mercey, „ist für die deut¬
schen Maler der Mißbrauch des Gedanklichen . . . welcher
voir dem zu großen Einfluß herrührt, den die Schriftsteller auf die
Maler ausüben. Es ist dabei von abstrakten Ideen und künstlicher
Begeisterung durch deutsche Philosophie (!) die Rede."


Der Verfasser, entgegnet Wolffers, beruft sich hierbei auf Mme
de Stael, die zu einer Zeit schrieb, wo sich Deutschland noch müh¬
sam den Schulen von David und Camuccini nachschleppte, wo es keine
deutsche Schule, keine deutschen Künstler gab. Was aber würde
man von einem Ingenieur sagen, der über die Mängel der Dampf¬
maschinen declamiren wollte, ohne seit 15, Jahren eine neue gesehen zu
haben? — Die deutschen Künstler malen für ein unterrichtetes, ge¬
bildetes Volk, ein Umstand, der den Kreis ihrer Ideen und Ent¬
würfe um ein Beträchtliches erweitert. Die Kenntniß der Bibel ist
in Deutschland allgemein verbreitet, eben so hat der öffentliche Un¬
terricht den reichen Schatz einheimischer Sagen, Legenden und Ge-


[]

schichten außerordentlich populär gemacht. So geschieht es, daß je-
der Primaner die Scenen aus der Hliade von Cornelius i» der
Glyptothek, jeder>Mann aus dem Volke die Bedeutung der biblische»
Gemälde auf den ersten Blick erkennt; so groß ist in den deutscheu
Gemälden der „Mißbrauch des Gedanklichen" (irbuk «Zo l-i, >>«!»8<-<>),


Der Kritiker beruft sich auf eine Ausnahme, um eine eingebil¬
dete Regel festzustellen; er weist auf einige nebelhafte Stücke von
Overbeck hin von deren Bewunderung Deutschland längst zuiückge
kommen ist.


Wenn es Gemälde gibt, zu deren Verständniß selbst für den
leidlich Gebildeten eine weitläufige Erklärung Noth thut, so sind co
die Fresken in der nun«^ doll-r 8KA'im,tui-ir im Vatikan. Und dock,,
hätte Raphael aus Furcht vor dem Mißbrauch des Gedauklichen
seine „Schule von Athen" oder sein Freskobild der Theologie »ich!
malen sollen, weil es die Unwissenden noch jetzt nach dein gelehr
ten Vasari w <ii«muta nennen? Nein, Cornelius, Schadow, Kaul-
bach, Lessing, Bendemann reden zu ihrem Volk die Sprache der
Empfindung und Leidenschaft in den klarsten und ergreifendsten Far
den; aber ihre Sprache ist tiefsinnig wie der Charakter ihres Vol¬
kes. Heißt dies darum, daß sie dunkel ist?


Herr Mercey lobt seinerseits die klare Auffassung und Darstel
lung Schmorr's und scheint dieses Lob auf die ganze Düsseldorfer
Schule ausdehnen zu wollen, wirst also zum Theil selbst das Ge
baute seiner Kritik über den Haufen.


Uebrigens sind in Deutschland die Schriftsteller, welche über die
Kunst geschrieben haben, später gekommen, als die Künstler.


Herr Mercey behauptet, Raphael gelte in Deutschland für den
ersten Geschmackverderb er; aber nirgendswo ist dieser große
Maler populärer, nirgendswo wird er mehr bewundert und richti¬
ger gewürdigt als in Deutschland. Die einzige, dieses Namens
würdige Biographie Raphael's ist von dem Frankfurter Passavant,
Der Baron von Rumohr widmet Raphael den ganzen dritten Band
seiner vortrefflichen „Italienischen Forschungen." Und wer in Deutsch--
land behaupten wollte, Raphael sei ein Geschmackverderber, liefe Ge¬
fahr, in's erste beste Narrenhaus gesperrt zu werden.


Wie vertraut Mercey mit den deutschen Künstlern und Kunst-
schriflstellem ist, beweist seine kühne Orthographie ihrer Namen. C>


[]

schreibt Owerbek, Numorh, Karhens, Hemser, Woß.
Zum Akadcmiedirektor in München hat er eigenmächtig Herrn
Schlotthauez ernannt, worüber dieser Herr, .wenn er überhaupt
enstirt, sehr verwundert sein dürfte.


Hätte Herr Mercey nur zwei oder drei Kapitel in dem von ihm
angeführten Werke des Grafen RaczynSki gelesen, so müßte er se¬
he», wie Alles, was er über die moderne deutsche Malerei vorbringt,
nur in seiner Einbildung wirklich ist, und daß man in München
eben so wenig an eine Wiederbelebung der byzantinischen Malerei
denkt, als man ägyptische Pyramiden bauen oder Mumien ma¬
chen will.


Rumohr bekämpfte zuerst die Manier, die jungen Maler nach
der Antike zeichnen zu lassen und so jede Idee von Styl im Keime
zu verfälschen; denn die Skulptur ist wesentlich von der Malerer
verschieden und diesen Unterschied bezeichnet vorzüglich der Styl, der
zugleich aus dem Stoff und dem Gedanken hervorgeht.


Deutschland gebührt der Ruhm, die monumentale Malerei wie¬
der zu Ehren gebracht zu haben.


Die christliche Kunst in ihrer ursprünglichen Reinheit wurde
nur und zuerst in Deutschland und Italien studirt. Die Kritik kam
dazu und die Geschichte der Kunst, eine ganz neue Wissenschaft,
machte seitdem ungeheuere Fortschritte.


[]

T a g e b u ni).



i.
Aus Frankfurt.


Note: Die Stadt. Fleischmctzger und KülbSmetzger, ein Lustspiel, Der Ccrrcspondent Ebner.
, Der Bundestag und die Journale. Litcrciten.

Sie haben eine allzuvortheilhafte Meinung von unserer Stadt, mein Freund,
wenn Sie glauben, baß sie „ein ewiger Anregungspunkt für Correspondenzen,"
wie Sie sich ausdrücken, sei. Frankfurt gleicht jenen von der Natur be¬
günstigten und vom Schicksal verfolgten Menschen, die, bei den besten Anlagen,
bei dem besten Willen, es in ihrem Leben zu nichts bringen können. In der
Mitte Deutschlands gelegen, historisch wie geographisch zu einem Mittelpunkt
des Vaterlandes gestempelt, ist sie dennoch nichts als.ein Übergangspunkt,
eine Brücke, eine Furt; Alles zieht an ihr vorüber, ohne sich heimatlich dort
niederzulassen. Eine sreie Reichsstadt — ist sie doch weit gebundener und
unfreier, als irgend eine andere, welche diesen stolzen Titel nicht führt. Nicht
durch äußere Verhältnisse, weil sie sich als Sitz des Bundestages oder gewisser¬
maßen als österreichische Garnisonsstadt beengt fühlt, sondern durch innere
Mißbestände, weil sie in ihrer Freiheit hundert kleine despotische Elemente des
Mittelalters eingewebt hat. Die Despotie gegen die Beisassen, gegen die Ju¬
den, die Zunfteinrichtungen und zahlreiche ähnliche Dinge, welche mit dem
Begriff der modernen Freiheit unvereinbar sind. Es wäre kein undankbares
Geschäft, die Blätter unserer Stadtordnung mit heiterer Laune zu durchstrei¬
fen und die komischen Züge derselben auszubeuten. So z. B. könnte man ein
allerliebstes Lustspiel aus den Einrichtungen unserer Metzgerzunft gewinnen. Sie


[]

wissen vielleicht nicht, daß diese ehrsame Corporation in Ochsen-Metzger und
in Kalbs-Metzger streng abgetheilt ist. Wehe dem Ochsenmctzger, der das
Fleisch eines zarten Kalbes seinem Käufer anbietet; wehe dem Kalbsmctzger,
dessen Ehrgeiz sich bis zum Ochsen versteigt. Das Schwert des Gesetzes hängt
drohend über dem Haupt des Frevlers, der solche Uebergriffe in die Rechte
seines Nachbars zu thun wagt. Für einen französischen Baudcvillisten wäre
dieß Stoff genug, um einen Abend zu füllen. MontagueÄ Sohn, Romeo der
Ochsenmetzger, liebt Capulct's Tochter, die Kalbsmetzgerin, aber Capulet hat
dem Sohne seines Feindes geflucht. Balconsccne. Romeo eilt im Mondschein
unter das Fenster der Geliebten. Plötzlich tönen Schritte. Romeo schlüpft
hinter einen Baum. Das Hausthor der Geliebten öffnet sich. Da erblicken
seine Augen den gräßlichsten Frevel- Ein schreckliches Geheimniß wird ihn»
kund. Aus dem Hause der Geliebten tragen vier starke Knechte, heimlich
unter dem Deckmantel der Nacht, ein Ochsenviertcl heraus. Ein Ochsenviertcl
aus dem'Hause des Kalbsmctzgcrs! Romeo stürzt gegen die Lampen vor:


Nun ist er in meinen Händen
Niemand kann sein Schicksal wenden.

Abgang mit obligaten Reimen — Knalleffekt—Aplaus; der Borhang fällt.—


Sie müssen mich bei Ihren Lesern entschuldigen, wenn ich sie mit solchen
schlechten «Späßen unterhalte. Die Schuld trifft Sie ganz allein, warum ver¬
langten Sie so ernsthaft Briefe aus Frankfurt von mir? Nehmen Sie un¬
sere hiesigen Journale zur, Hand, durchfliegen Sie alle übrigen Journale
Deutschlands und sehen Sie, was aus Frankfurt berichtet wird.


ES gehört die ganze Geduld unseres guten Ebner dazu, um das noth¬
wendige Budget der kleinen Tagesneuigkeiten herauszufischen, mit welchen er
die zehn bis fünfzehn politischen Journale, für welche er correspondirt, versehen
muß. Ich habe oft Mitleid mit dem fleißigen Manne, wenn ich ihn von sei¬
ner Gartenwohnung vor dem Bockenheimcr Thore im tiefsten Schnee wie in
der glühendsten Sommerhitze fünf bis sechsmal nach der Stadt trotten sehe.
Bald nach der Post, bald nach der Börse, nach einer Buchhandlung u. s. w., um
seinen täglichen Correspondenzbedarf wie eine Schwalbe aus allen Enden zu¬
sammenzutragen. Mit der Hälfte dieser Mühe und dieses Fleißes würde in
einer andern Stadt von gleichem Range wie Frankfurt, ein jeder Correspon-
dent bogenlange Materialien finden und doch ist Frankfurt der Sitz des Bun¬
destags. Depesche», Verhandlungen, Persönlichkeiten drängen einander, aber
die Presse steht wie die Zuschauer hinter einem Gitter, weit entfernt von dem
politischen Drama, dessen Sctauspielcr hinter dem herabgelassenen Borhcnige


[]

ihre Scenen abspielen. Ist es doch Grundsatz fast aller politischen Körper in
Deutschland, in ihrer Nähe das tiefste Schweigen herrschen zu lassen. Was
in Berlin und Wien verhandelt wird, das muß man überall eher suchen als
in den Berliner und Wiener Journalen; sogar die Kammerverhandlungen des
konstitutionellen und freisinnigen Würtembergs werden nicht in den einheimi¬
schen Journalen zum vollständigen Abdruck erlaubt. Will man etwas, zur
öffentlichen Kenntniß bringen, so sendet man es in die Fremde. Die Augs¬
burger Allgemeine spricht, indeß der österreichische Beobachter schweigt; die
Leipziger nimmt das Wort, wo die Staatszeitung die Lippen verschließt und
die Oberdeutsche meldet, was der schwäbische Merkur verschweigt. Frankfurt
aber, wo alle Mächte zusammen sitzen, ist der Ordnung nach das verschwiegenste
unter Allen. Darum haben die Frankfurter Journale nicht nur weit weniger
politische Originalmittheilungen als andere, welche weder durch die Lokalität
noch durch die Abonnentenzahl so bedeutend sind wie sie, sondern sie haben auch
mit einer weit zimperlicheren Censur zu kämpfen. Der Censor hat hier nicht
wie in jeder andern Stadt nur einen Herrn zu fürchten, sondern er hat eben
so viel Herren als Gesandte beim Bundestag accreditirt sind; hieraus nament¬
lich können Sie ersehen, wie wenig frei die freie Stadt Frankfurt ist. Dieser
Sciroccohauch der Censur-Verhältnisse ist es auch, was den früher so blühen¬
den Frankfurter Buchhandel so herabgedrückt hat, was die Literatur trotz der
manichfachen Kräfte, die hier sich finden, nach den versprechendsten Anfängen
immer wieder entwurzelt hat. Glauben Sie nicht, daß es hier an Talenten
und tüchtigen Köpfen fehlt, welche zusammen vereint, ein frisches und kräftiges
Literaturleben hier hervorrufen könnten. Außer vielen Fachgelehrten und
Schriftstellern leben hier noch viele eigentlich literarische Talente wie Theodor
Creizenach, Ludwig Braunfels, Lorenz'Diefenbach :c. Dennoch kann mit Aus¬
nahme der mit den politischen Zeitungen erscheinenden bellettristischen Beiblätter
und einiger Lokalblätter kein bedeutendes literarisches Journal emporkom¬
men- Wenn es wahr ist, daß Gutzkow seit einem Monate sich wieder hier
niedergelassen hat und seinen Telegraph Hieher verlegt, so könnenISie überzeugt
sein, daß Frankfurt selbst nicht der Druckort desselben werden wird. Wäre
nicht besser, daß ich Ihnen Offenbachcr statt Frankfurter Briefe schriebe -


Note:

[]

Reise - Journale.


ES wäre wünschenswert!), daß jedes Journal eine kleine Spalte wöchentlich
als eine Art Reisezeitung brächte. Dahin gehörte Alles, was der Redakteur
oder seine Freunde auf verschiedenen Ausflügen an Erfahrungen hinsichtlich der
Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten der Beförderungs-Anstalten, Gast¬
höfe, Posten -c. gesammelt haben. In einer Zeit, wo Alles reist, sind solche
Berichte viel nützlicher und interessanter, als die Theater- und Conccrtberichtc,
welche unsere Journale als ewigen Ballast mit sich führen. Die Beschwerden¬
bücher, welche man auf den einzelnen Poststationen im Dunkel der Passagier¬
stube findet, bleiben oft genug wirkungslos. Unter zwanzig Reisenden scheue»
sich neunzehn, ihre Beschwerden niederzuschreiben, und der zwanzigste ist oft
gerade der Dümmste von Allen — ein Kleinigkeitskrämer, der über schlechten
Caffee und einen schlaftrunkenen Kellner eine lange Epistel nicdcrkleckst. Wenn
die Journale die Funktion der Beschwerdenbücher übernahmen, dann würde
Manches sich ändern — z. B. die gräßlichen Torturmaschinen, welche unter
dem Namen Beiwagen der Schrecken aller Reisenden sind. Giebt es etwas
Grausameres, Ungerechteres, als daß ein Mensch für den kleinen Zufall, daß
er um eine Viertelstunde später, als sein Bormann, auf dem Postamte sich
einschreiben ließ, zu dem schrecklichen Loose verurtheilt ist, in einen engen,
baufälligen, schmutzigen Armcnsünderkarrn eingepfercht zu werden, aus welchem
er mitten in der Nacht unter Schneegestöber und Wind alle zwei Stunden
aufsteigen muß, um in einen andern, oft noch halsbrecherischeren eingesperrt zu
werden. Dieses Beiwagen-System ist ein wahrhaft unchristliches, gottesläster¬
liches. Der Gott, der alle Creaturen gleich geschaffen hat, will nicht, daß der
Eine in einem bequem gepolsterten, großen Hauplwagen sitze und sich schaukle,
während der Andere in dem höllischen Räderwerk einer Beichaise sich, seinem
Schicksal und vor Allem dem Postmeister flucht. Dieses Postsystem ist, wie
die ganze Thurn und Tausche Postmeistcrschast, ein Ueberbleibsel aus dem
Mittelalter, wo der erstgeborne Sohn in Gold und Seide, in Ueberfluß und
Herrlichkeit zu schwelgen berechtigt war, während der jüngere, bloß weil er
etwas später gekommen, in den engen Mauern eines Klosters sein Leben zu¬
bringen mußte. Gleichheit vor dem Gesetze wollen wir, und haben nicht ein¬
mal Gleichheit vor dem Postamte. Gegen solche Mißbräuche nützen die ein¬
zelnen Klagen in den Beschwerdenbüchern nichts; wenn jedoch die ganze Presse
ihr Geschrei dagegen erhübe, so würden wir bald die guteWirrkung erleben.—


[]

Ein andere« Beispiel. Von Frankfurt nach Leipzig, 44Z Meilen, kostet der
Eilwagen eine Summe von 17 Thalern! Bon Wien nach Prag, 42z Meile,
zahlt man (wenn man die Eisenbahn bis Stockerau oder bis Brünn nicht bs-
nuhcn will) nur 10 Thaler! >


Die preußischen Posten sind um etwas weniges theurer als die östreichischen;
würde die preußische Post die ganze Strecke von Frankfurt bis Leipzig be¬
fahren, so würde der Preis auf 12—13 Thaler sich belaufen. So aber fährt
von Frankfurt bis Erfurt die Thurn und Tarische Post, und von Erfurt bis
Leipzig erst fährt die preußische Post. Für die Güte, welche Kaiser Mathias
im Jahre 1615 gegen den neu ernannten Freiherrn Lamorel von Taxis hatte,
muß im Jahre 1842 jeder Reisende für die Strecke von 28 Meilen eine Steuer
von 4 bis 5 Thalern bezahlen. Umsonst haben Sachsen und Preußen bisher
Schritte gethan, um eine verhältnifimäßige Herabsetzung der Thurn und Taxis»
sehen Postpreise zu erlangen. Soll die deutsche Presse den gerechten Ansprüchen
der deutschen Reisenden kein kräftiges Wort zu schenken wissen? keinen Vor¬
schlag ersinnen können, wodurch diesem Mißbräuche abgeholfen werden könnte t



— Große Männer in allen Ecken! —

Jetzt erst erfahren wir, welch ein Heer von großen Männern Deutschland
besitzt. Der neugcstiftcte Orden i-oui- I« »>«rio hat sie wie die Dachse aus
allen Löchern hervorgetrieben. Jeden Tag lesen wir neue Reclamationen aus
Flachsenfingen, Kuhschnappel und Krähwinkel. Jede Stadt beschwert sich, dost
man ihren großen Mitbürger, den berühmten X. V. X., übergehen konnte —
während man doch den Herrn L. L., der bei weitem nicht so viel geschrieben
hat, ernannte. In Paris ist eine Carricatur erschienen: gi-an-I ellemin a l».
I>v!ni>rien! Victor Hugo reitet auf einem ungeheueren Hippogryph mit einer
Fahne in Händen, wsrauf die Devise steht: l<- doa» e'oft Is Isnl! Ueber ihm
schweben Chateaubriand und Lamartine, während der ganze Troß der Tages-
schriftstellcr hinterdrein trottet. Wenn unsere Ecnsur nur ein bischen Spaß
und unsere Zeichner nur ein bischen die Gelegenheit verstünden, so würde der
<>i'<Ils pour Is möritv und die vielen gekränkten und schmollenden Eitelkeiten
längst einem allerliebsten Earricaturbildc die Entstehung gegeben haben.


— Böhmen und seine Räuber. —

„Giebt es in Böhmen" — fragt ein .Rheinisches Journal — „noch so
viele Räuber? odcrhausen sie nur in den Köpfen der Romanschreiber ? Herloßsoh»


[]

läßt einen Roman erscheinen, der den gewagten Titel führt: Babinski, Räuber-
leben aus Böhmens neuester (!!!) Zeit." — Wir wollen dem Rheinischen
Journal die Beruhigung geben, daß es in den böhmischen Wäldern in unse¬
rer Zeit nicht minder sicher ist, als auf dem freien deutschen Rheine-, daß es
aber hier wie dort Leute giebt, die auf den Seckel des Publikums speculiren.
Derlei Schriftsteller geben allerdings ein Bild von dem Räuberleben der neue¬
sten Zeit. Uebrigens müssen wir Herloßsohn gegen den Vorwurf, der Autor
dieses Romans zu sein, in Schutz nehmen. In seiner leichtsinnigen Gutmü¬
thigkeit hat der Herausgeber des Kometen — einem seiner Landsleute einen
Verleger für dieses Buch verschafft. Der Buchhändler (Reklam) machte jedoch
zur Bedingung der Annahme, daß Herloßsohn sich als Herausgeber neben dem
eigentlichen Verfasser nenne. Der Verfasser dieses Machwerks ist Graf Schirn-
ding; derselbe, der bei Reklam eine „Revüe östreichischer Zustände" heraus-
giebt. Was dieses für Zustände sind, und ob der Herr Graf dieselben mit
eben solcher Sachkenntniß schildert, wie das Räuberleben in Böhmens
neuester Zeit — davon wollen wir die Leser dieser Blätter in einem eigenen
Note: A — d. Artikel unterhalten.


— Alexander von Humboldt. ^-

Giebt es nur Einen Mann dieses Namens? Wenn man die Zeitungen liest,
so muß man glauben, es existiren ihrer zehn. Die Leute benutzen diese Cclebritär
wie einen großen Auslagskasten. Alles, was man an den Mann bringen will,
wird hineingehängt. In Berlin ist ein neues Dintenvulver erfunden worden,
Alexander von Humboldt soll darüber zum König gesagt haben, diese Dinte
ist die größte Erfindung unseres Jahrhunderts. — Der Professor 5l. hat sein
bald erscheinendes Werk über die Erhöhung des Collegiengcldes Herrn, von
Humboldt zugesendet, der ihm in sehr aufmunternden, Worten ,darauf zu ant¬
worten beabsichtigen soll. Unter den neuen Ordensrittern soll der Ge-
heimerath von Humboldt namentlich Unsern berühmten X. haben aufnehmen zu
sehen gewünscht! Bei Gelegenheit des Kölner Domfestes soll Alexander von
Humboldt sich auch unseres, schönen Thurmes erinnert haben, den er, als er
vor zwanzig Jahren in einer Winternacht hier durchfuhr, sehr bewundert
haben soll. Der berühmte Reisende soll zu Sr. Majestät darüber ge-
äußert haben, daß man diesen Thurm in unserer donwedürftigen Zeit durchaus
mit einem Subside von 10,000 Thalern unterstützen müsse-


[]
— Journale uns Ratten. —

In Paris wurden dieser Tage notariell 122 Actien des Siecle versteigerte
ihr Nominalwerth ist 200 Francs; erstanden wurden sie zu 409 Francs, welche
Summe durch die Kosten auf 450 Francs erhöht wird. Im verflossenen Jahre
brachte jede Actie über IIX an Interessen und Dividenden, so daß zu 4',0
Francs immer noch ein Zinsfuß von ü F erreicht wird. Die 2500 Actien des
Siecle würde» zu diesem Kaufpreise jetzt eine Summe von I,I2',,000 Francs'
repräsentiern. Die Presse, das andere Actien-Journal, ist in nicht minder
blühenden Verhältnissen.


— Mrillparzcr und da S var iher V a lie t.—

Ein Privatschreibcn aus Paris an den Redacteur dieser Blätter enthält
folgende Stelle: Woraus wir Deutsche Tragödien machen, daraus machen die
Franzosen Ballete. Derselbe Stoff, den Grillparzer in einem seiner besten
Dramen: „Der Traum ein Leben" behandelt, macht jetzt in der Opera-Co-
mique als Pantomime sein Glück. Ein junges Herz wird> von dem Dämon
der Eitelkeit getrieben, am Tage vor der Verlobung die stille Geburtsstätte zu
verlassen und sein Glück in der großen Welt zu suchen. Bei Grillparze'r ist
es ein Jüngling: der französische Wallctmeistcr hat ein Mädchen daraus ge¬
macht. Carlotte tanzt Grillparzerschc Verse. Die Handlung jedoch spielt nicht
in Persien, sondern in Gent und Venedig, wo freilich die Volksscenen und
das Costüme für ein Ballet dankbarer sind. Wie der Grillparzer'sehe Held,
sinkt auch hier die Heldin von Stufe zu Stufe: ihr Verführer hat sie ver¬
lassen.... ihre Noth ist aufs Höchste gestiegen... da erwacht sie. Alles
war ein Traum: sie ist in ihrem stillen Stübchen im älterlichen Hause. Der
Vater holt sie ab zur Trauung- Ihre Phantasie hatte ihr den Streich ge¬
spielt, und der Zuschauer hat all die Tänze ihrer Einbildungskraft mit ange¬
sehen. Die reichen und glücklichen Handlungen dieses Ballets, welches den
Titel: „Das schöne Mädchen von Gent" führt, verschaffen derDirecrivn
trotz deö herrlichen Wetters volle Häuser. Der allerliebsten Musik, die Adam
dazu componirt hat, gehört aber eine große Hälfte des Erfolges-


— Die Persönlichkeiten d-r l'adischcu Kammer. —

Die neue badische Kammer wird folgendermaßen geschildert. Am Äimstcr-
tischc sitzen: der Minister des Innern, Freih. v. Rüdt, ein milder und ver¬
söhnlicher Redner; der Finanzminister, v. Bökh, sein Gegensatz, leidenschaftlich


[]

und sich überstürzend; endlich der Liebling Oestreichs «ut Preußens, Herr v.
Blittersdorf, ein feiner Kopf und lebhafter Redner, der gefährlichste Gegner,
den die Opposition zu bekämpfen hat. Die Talente der ministeriellen Partei
sind sparsam ausgesäet; Tresurt ist der bedeutendste unter ihnen. Das Centrum
hat zu seine» Führern Bekk, Bader, Martin, Posselt, Mordes, die abwccl>
seind bald mit der Linken, bald mit den Ministeriellen stimmen. Die Linke
wird von v. Itzstein, Sander und Welcker geleitet. Itzstein ist ein Siebenziger,
aber mit jugendlicher Frische begabt: er spricht gelassen, aber mit schneidender
Ironie; es ist der einflußreichste Mann der Kammer. Welcker steht häufig
isolirt, ein guter, aber maßloser Redner, der oft ermüdend wird. Sander ist
ein vortrefflicher Jmprovisator, reich ein Einfällen, den Effect verstehend.
Einige jüngere Talente gewann die Kammer an den Abgeordneten Bassermann
und Gottschall, welche sich zur Opposition geschlagen haben.


— Die Religion in Deutschland.--

Während die Berliner und Königsberger Blätter über den Verein der
Freien berichten, die sich von allem Glauben lossagen, meldet die A. A. A-,
daß der Jubiläums-Ablaß, den der Pabst angeordnet, die Kirchen mit An«
dächtigen füllt, so daß in einer einzigen Stunde, und in ein und derselben
Kirche über MO Personen zur Beichte gehen. Auf der andern Seite treten
in Berlin 500 Protestanten zusammen, die das heilige Grab erobern wollen,
während mehrere I'udenfamilien aus den Rheinprovinzen in Paris und Brüssel
Erkundigungen einziehen und Unterhandlungen einleiten, um im Falle, daß das
preußische Edict, das sie vom Militärdienste lossprechen soll, wirklich publi-
cirt würde, in jene Städte übersiedeln zu können,


— Pariser Theater. —

Im Theater Se. Martin macht eine Schauspielerin, welche die Tochter
eines Deutschen ist und das Deutsche auch sehr gut spricht, Furore., Ihr
Name ist Demoiselle Klotz. Dieser Klotz scheint sehr bildsam gewesen zu
sein.--Rubini wird wieder austreten: er hat jedoch die Decorirung
init dem Kreuze der Ehrenlegion zur «on,Ali», sin« qua non gemacht. Ein
neues Lustspiel in 5 Acten: „Paris in der Nacht" wird ein fetter Bissen für
deutsche Uebersetzer sein. Die Anlage hat Ähnlichkeit mit dem bekannten:
,,Nach Sonnenuntergang." Die Rachel spielt in London vor leeren Häusern:
ihre Feinde frohlocken. Sie wird jedoch erst im September wieder zurück¬
kehren, da sie in Brüssel gastiren soll. Ein Vaudeville ist eingereicht worden,
das Talma zum Helden hat; ein andres führt den Titel-'Spinoza. —
Spinoza im Vaudeville! Da haben die Deutschen doch wenigstens einen Ro¬
man aus ihm gemacht. Ob wohl der französische Theaterdichter B. Auer.
bach's Buch gelesen hat?



Note: Druck von Friedrich Andrä in Leipzig.
[]

Wanderungen durch eine Bildergallerie
(von
N.- I.-)



^Rine Bildergallerie, eine Welt! Und welch' eine Welt. Hier
spinnt sich das Leben nicht am dünnen Faden langsam ab. Hier
rinnt der Quell nicht in einzelnen Tropfen zögernd in das Becken.
Tausend Momente stürzen mit einem Male in die Seckel tausend
verschiedene Zeiten, Leidenschaften und Naturen drängen auf einmal
auf uns ein. Süd und Nord, West und Ost breiten ihre Gebiete
wechselweise zum Genusse aus, der Alpen eisige Höhe und des Gan¬
ges stille Thäler, des Urwalds grüne Ruhe und der weiße Schaum
des stürmenden Meeres; der Griechen fröhlicher Olymp und der
Christen schauerliche Hölle, Madonna mit ihren himmlischen Blicken
und Venus mit dem irdischen Leibe, tanzende Sirenen und betende
Mönche, Napoleonische Schlachten und niederländische Hochzeiten,
Jesus auf der Flucht nach Egypten und deS Papstes Zug nach der
Peterskirche, Christus in Mitte der Jünger und Huß in Mitte der
Flammen, Heinrich der Achte auf dem Throne, Ludwig der Sechs--
zehnte auf dem Schaffet, Jeremias auf den Trümmern des Tempels
sitzend und der Einzug des Doctor Alexander in Jerusalem, Gott¬
fried von Bouillon und der Sultan von Egypten, Lord -Palmerston
und Mehemed Ali, Agnes Sorel und Agnes Bernaucrm, Kam und
Abel, Abelard und Heloise, Liebe und Haß, Lust und Trauer. —


7
[]

Wohin willst Du Dich versetzen, Du, der diese Gallerien durchschreitet?
Laß Deine Blicke schweifen, Deine Seele schwebt auf einem Zauber¬
mantel; vor Dir goldene Morgenröthe, grüne Saaten, blühende
Menschengesichter, der Mensch in seiner Größe und Herrlichkeit, ein
Ebenbild Gottes — wende Dich rasch um, hinter Dir ist Nacht,
Zerstörung, Skelettentanz, der Mensch, ein entartetes Thier, zur Hölle
reif und ihr auch verfallen.


Wenn man diesen Zauber bedenkt, so begreift man leicht, wie
eS Menschen geben kann, die ein halbes Leben in Mitte dieser
todten leinwandenen Welt zubringen können, denen der Besuch einer
Gallerie der höchste aller Genüsse und eine Gemäldeausstellung ein
wichtiges Ereigniß ist. Denn man vergesse nicht, daß hinter dieser
sichtbaren und gemalten Welt, deren Scenen vor dem Blicke sich
ausbreiten, noch eine zweite unsichtbare in der Phantasie des Be¬
schauers sich erhebt. Es ist dies die Welt des Künstlers, der diese
Werke geschaffen, das Leben dieses Raphael, Rubens, Coreggio,
Murillo und wie sie alle heißen, jene wunderbaren Meister, deren
eigene Geschichte die Einbildungskraft nicht minder reizt und spornt
als die Werke, die sie hinterlassen; wie ihr Geist sich entwickelt, wie
ihre Umgebung und ihre Zeit auf sie eingewirkt. Dies zu beobach¬
ten, ist eine süße Lust und eine nicht minder fruchtreiche Beschäfti¬
gung als die Beobachtung der physischen Natur mit ihren sichtbaren
Erscheinungen.


Ich meinerseits gestehe es unverholen, daß es meine liebste Be¬
schäftigung ist, die Säle einer reichen Gallerie zu durchwandern
und die Meister in ihren Bildern zu belauschen und aus diesem oder
jenem Zuge auf das Gesetz zu schließen, welches ihre Seele leitete,
so wie der Schmetterlings- und Käfersammler an den verschiedenen
Farben der Flügel die Gattung erkennt, zu welcher seine Lieblingsge¬
schöpfe gehören. Nicht ohne Absicht wähle ich diesen Vergleich. ES
giebt Menschen, die das Kleine lieben und zu diesem sich mehr hinge¬
zogen fühlen, als zudem Gewaltigen, für das ihre Seele zu schüchtern
ist. Der Käfersammler unterscheidet sich von dem Astronomen darin,
daß er nicht wie jener die großen Himmelskörper zum Gegenstande
seiner Beobachtung macht, sondern dem kleinsten, unscheinbarsten
Theil der Schöpfung seine Neigung zuwendet. Sein Geist ist mehr
mikroskopischer, als teleskopischer Natur. Ebenso giebt es in der


[]

Kunst Naturen, welche für jene mikroskopischen Schöpfungen eines
Mieris, eines Teniers ze. mehr Verständniß haben, als für den ge¬
waltigen Geist eines Michael Angelo, eines Rubens ze. Ich weiß
nicht, welch' eine Sympathie mich immer zu jenen kleinen Bil¬
dern führt, welche gewöhnlich in der Tiefe der Wand, wenige Fuß
hoch von dem Boden hängen, zu den humoristischen Schöpfungen der
niederländischen Meister.


Aber ich kann, so oft ich eine Gallerte besuche, von diesen Vit'
dem mich nicht trennen und, wenn ich auch stundenlang vor den
Gemälden der großen historischen Maler gestanden und zu einem hö¬
hern Genusse mich erhoben habe, so kehre ich doch immer wieder zu
meinen kleinen humoristischen Freunden zurück, wo ich den Künstler,
fröhlichen Muthes, unter Bauern und Soldaten, unter alten Wei¬
bern und vollen Landdirnen finde.


Willst Du, freundlicher Leser, Dich nicht scheuen, in diese lustigen
Bauernhütten und etwas leichtsinnigen Wirthshäuser mir zu folgen,
so will ich gern Dein Führer sein und Dich mit manchem Meister
bekannt machen, dessen Name mehr unter den Kennern, als unter
dem großen Publikum gefeiert wird. Die Lebensgeschichte jener viel¬
gepriesenen Maler, die zu ihren historisch-religiösen Schildereien eine
4 bis 8 Fuß hohe Leinwand brauchten, ist aller Welt bekannt; aber
das Leben und Treiben jener stillen Beobachter, die mit durchrin¬
gendem Blick dem wirklichen gemeinen Leben ihre Schilderungen
entnahmen und in einen Nahmen faßten, der bisweilen kaum eine
Hand breit ist, ist viel unbekannter und unerforschter geblieben, als
es sein sollte. Denn der schöpferische Geist ist göttlicher Natur, gleich¬
viel, ob er einen Floh oder einen Elephanten in die Welt gerufen.
— Ich will die Reihe dieser Wanderungen mit einem Namen begin¬
nen, der an Deinem Ohre, freundlicher Leser, gewiß nur sehr flüch¬
tig vorübergeklungen ist, so wie seine Bilder im Gedränge der
Gallerte Deinen Blicken vielleicht entschlüpft sind, während sie der
Kenner gewiß für einen der größten Schätze erklärt. Es ist dies ein
Mann, dem unter allen Käuzen, womit die Malerwelt so reich ge¬
segnet ist, ein Platz im Vordergrunde gebührt: Adrian de Brauer.


Man hat bisher in der Würdigung sowohl des Charakters
als des Talents Adrian Brauer's eine viel zu große Strenge ange¬
wandt. Alle seine Biographen haben schonungslos die scharfe Lauge


7 »
[]

chres bittern Tadels über das ergossen, was sie seine Ausschweifun¬
gen und seine Liederlichkeit nennen. Keiner von ihnen hat die Einflüsse,
unter denen das Talent des Malers sich ausbildete und heranwuchs, er¬
kannt und ihm zu Gute halten mögen. Man hat den armen Wai¬
senknaben, der hungrig und nackt einem gierigen Ausbeuter in die
Hände fiel, und dem es eigentlich an aller Erziehung gemangelt hat,
beurtheilt, als stände er auf gleicher Stufe mit Rubens oder van
Dyk, die, wie sie Fürsten durch ihr Talent, so auch Edelleute duch die
Eleganz ihrer Sitten und den Aufschwung ihrer Geistesbildung
waren.


Wenn schon i,in Gebiete der Literatur der Styl den Schriftstel-
ler verräth und die Individualität nothwendig in der literarischen
Form sich abfärbt, um wie viel mehr muß dies im Gebiete der pla¬
stischen Künste stattfinden, welche der Persönlichkeit des Künstlers
Tausende von Mitteln zur Kundgebung darbieten, die dem geschrie¬
benen Wort stets abgehen. Brauer'S Leben war unglücklicher Weise
wie unauflöslich festgeknüpft an ausschweifende Orgien. Die Ein¬
flüsse, die in seiner Jugend ihn trafen, das harte Elend, das an
seiner Wiege schon ihn mit gewaltigen. Griffen packte; eine glühende
Sinnlichkeit, die, je länger ihr durch Arbeit und durch Entbehrun¬
gen aller Art Befriedigung versagt gewesen, mit um so größerer
Gewalt alle Dämme durchbrach und sich unersättlich in den mate¬
riellen Genüssen berauschte, die sie bisher vergebens erstrebt; eine
lebhafte Sympathie für die Volkssitten und endlich die Gewohnheit
des Kneipenlebens; alle diese Ursachen erklären wenigstens, wenn sie
dieselbe auch nicht entschuldigen, Brauer's tiefgesunkene Lebensweise,
von dem die kräftige Hand einer wachsamen Freundschaft vielleicht
das Schmachurtheil ferngehalten hätte, welches die Geschichte über
seinem Grabe ausgesprochen.


Kein Maler der Volkshelden ist wahrer gewesen, als Brauer.
David Teniers nimmt vom Volke nur seine Freuden, seine Feste, seine
Kermessen an und, was die Farben der Wirklichkeit bei diesen
Gegenständen allzu Rohes oder zu Auffallendes haben können, da¬
mit versöhnt er durch den Geist und den gutmüthigen Spott, der
Wer seine. Gemälde ausgegossen ist. Ueber alle seine Arbeiten webt
sich ein Schleier ländlicher, fast idyllischer Poesie, der die rauhesten
Züge unserem Auge verhüllt. Man meint die römischen Hirten


[]

aus Virgil's Georgiken zu sehen, zwar genau nach der Natur ge¬
zeichnet, aber doch noch jenen Anhauch deö Ideals an sich tragend,
den ihnen des Dichters künstlerischer Griffel verliehen, Teniers'
Bauern erscheinen uns immer nur von irgend einer Seite ihres
moralischen Seins. In ihren Spielen, in ihren ländlichen Vereini¬
gungen, belebt von den Tönen der Schalmei, zeigt er sie uns: er
hebt zwar eine Ecke von dem Schleier auf/ der ihre ungeschlachten
Sitten verbirgt, aber nur, um uns davon die komische, groteske Seite zu
zeigen. Wenn aber aus dem Feste eine Orgie geworden, wenn die
Dämonen, die auf dem Grunde deö Bierkruges Hausen, alle die
thierisch-wilden Instinkte deö Menschen entfesselt, all seine blutdürsti-
gen Regungen geweckt haben, wenn die Messer aus der Scheide her¬
vorgeholt werden, wenn die Krüge an den Köpfen zerschellen, wenn
die Schemel sich einen blutigen Weg in die dichtesten Haufen bah¬
nen, wenn die Frauen angstvoll nach den Thüren zustürzen: — da
tritt Teniers erschreckt zurück vor diesen wilden Gelagen, die Adrian
Brauer allein zu begreisen und darzustellen vermag. ,


Eine belgische und eine holländische Stadt, Audenaerde und
Harlem, streiten mit einander um die Ehre, die Geburtsstätte
dessen gewesen zu sein, der ohne Rubens' Bemühungen nicht einmal!
eine Grabstätte gefunden hätte. Brauer theilt hierin das gemein¬
same Loos all jener stürmischen und poetischen Geschöpfe, welche die
Nationen für die Zierden ihrer Geschichte halten, und denen sie später
Bildsäulen errichten, damit ihnen das Verbrechen verziehen werbe,
daß sie ihnen, da sie lebten, ein Stück Brod verweigert haben.


Alle seine Biographen sind über den Punkt einstimmig, daß
Adrian Brauer's Kindheit in Elend und Verlassenheit dahin geflos.
sen sei. Im Jahre 1008 von armen Handwerkern geboren, erhielt
er nicht jene befruchtende Erziehung, wodurch die Bahn eines Ge¬
nies vorbereitet wird, und konnte also auch nicht jene moralische
Würde besitzen, welche ihre Frucht ist.


Ein wahrer Zigeuner in der Kunst, verbrachte er eine sorglose,
fröhliche und ungebundene Jugend. Wie bei allen vollständigen Na¬
turen, so verrieth sich auch bei ihm seine Künstlerbestimmung in sei¬
nen Spielen, seinen Streitigkeiten, seinen Träumereien. Die Blu¬
men und Vögel waren seine ersten Modelle, und ohne irgend einen
Führer, ohne einen andern Rathgeber, ohne eine andere Inspiration


[]

als jenen verborgene», geheimnißvollen, inneren Trieb, der nichts
anderes ist als das Genie, konnte Brauer sehr bald seinen Spielen
eine ernsthaftere Bedeutung verleihen. Er verließ die weißen
Wände, die bisher seine Skizzenbücher gewesen, auf denen er mit
Kohle alle Launen seiner Phantasie verzeichnete, und begann Blu¬
men, Laubwerk und Vögel auf Leinwand zu zeichnen, welche seine
Mutter alsdann stickte. Diese kleine Industrie, deren Erzeugnisse
an den Bäuerinnen der Umgegend sichere Abnehmerinnen fanden,
trug dazu bei, daß Brauer's Mutter wenigstens eine Erleichterung
des Elends fand, das bisher stets mit erdrückender Schwere rauh
auf ihr gelastet hatte.


Brauer setzte eine Zeit lang diese angenehme und leichte Arbeit
fort, in der sich seine eigenthümliche Geistesrichtung, deren wilde
Lebhaftigkeit durch keinen akademischen Unterricht gemäßigt worden,
täglich offener kundgab. Seine überströmende Einbildungskraft of¬
fenbarte sich schon in kleinen Gruppen voll jenes offenherzigen, gut¬
müthigen und heitern flamändischen Spottes. Seine glühende und
kräftige Natur, welche, wenn eine moralische und einsichtsvolle Erziehung
ihr Geschmeidigkeit verliehen und ihre Ecken abgeschliffen hätte, so
herrliche Früchte getragen haben würde, ward durch die fortwährende
Berührung der ungeschlachten Sitten, die ihn umgaben, rauh und
wild. Er nahm üble Gewohnheiten an und verdarb sich dadurch
seine Einbildungskraft, und, als später sein Genie so glänzend und
vollständig sich offenbarte, sah der arme Brauer bald ein, daß er aus
den schönen und rein poetischen Gebieten ausgeschlossen sei, und
stürzte sich dann ganz und gar in den verschlingenden Strudel eines
ausschweifenden Lebens, so daß er sein Dasein schon mit 32 Jahren
endete und Rubens, dem Einzigen, der ihn verstanden und gewür¬
digt, Thränen über seinen Verlust entlockte.


Doch eilen wir dem Laufe der Begebenheiten nicht zuvor. —
Brauer zeichnete noch seine Blumen, sein Laubwerk für seine Mul-
li-r, als eines Tages ein Fremder vor diesem zerlumpten, schmuzigen
Knaben stehen blieb, der, im hellen Tageslicht sitzend und munter
singend, reizende, phantastische Gruppen zeichnete. Als der Knabe
den Fremden erblickte, erhob er sein schelmisches und trotziges Gesicht,
aus dem ein Blick voll geistiger Kraft hervorleuchtete. Der
Fremde war Niemand anders als Franz Hals aus Mecheln, ein


[]

geschickter Maler; er fragte den jungen Burschen, ob er nicht, an¬
statt weiter Vögel und Blumen zu zeichnen, den Pinsel in die Hand
nehmen und ein großer Maler werden wolle? Der Knabe zögerte
nicht, mit einem lustigen Ja zu antworten.


Franz, welcher die reiche Goldader erkannte, die hier unter ge¬
meinem und grobem Aeußeren lag, suchte Brauer's Mutter auf, der
er die glänzende Zukunft, die einem solchen Genie bevorstehe, mit
hellen Farben ausmalte. Die arme Frau, der es täglich schwerer
fiel, den Bedürfnissen ihres eigenwilligen und launischen Kindes zu
genügen, dessen Schelmenstreiche sie obendrein mit ihren Nachbarn oft
genug in Unannehmlichkeiten verwickelten, nahm HalsenS Anerbie-
tungen freundlich an, um so mehr, als er ihr versprach, er werde
für ihren Sohn Sorge tragen, werde ihn in seiner Kunst unterrich¬
ten und ihn nähren und kleiden.


Leicht an Gepäck, aber reich an jenen frischen und freudigen
Hoffnungen, welche zu 15 Jahren über unserem Dasein wie heitere,
glänzende Vögel dcchinschweben, folgte, nachdem er seine Mutter
umarmt, mit der ihm ein Wiedersehen das Schicksal nicht mehr ver¬
gönnte, Brauer seinem Meister, unter dem ihm die harte LehrlingS-
zeit des Lebens zu bestehen und das bittere Noviziat des Elends
und Hungers durchzumachen bestimmt war. Hals begab sich damals
nach Harlem, wo er sich niederzulassen gedachte.


Nach einigen Monaten schon machte Brauer reißende Fort¬
schritte. Er arbeitete mit einem unerhörten, fast fieberhaften Eifer.
Hals sah bald, daß der Augenblick nahe war, wo er die schöne,«
Früchte dieses jugendlichen, ungewöhnlich frühreifen Talents ernten
konnte; er schloß daher unter dem Verwände, ihm mehr Ruhe zu
lassen und ihn vor Zerstreuungen zu sichern, seinen Schüler in ei¬
nem Söller ein. Der Zweck dieses geizigen und herrschsüchtigen
Menschen aber war, vor Aller Augen die Arbeiten deS jungen
Brauer zu verheimlichen, die ein so eigenthümliches Gepräge und
eine so originelle Färbung an sich trugen, daß er beschloß, dieselben
unter dem Namen eines fremden und geheimnißvollen Meisters, dessen
Gemälde nur er zu erlangen vermöge, dem Publikum darzubieten.


Brauer's Verschwinden aus Franz Halsens Werkstätte, so wie
das plötzliche Erscheinen reizender Gemälde, in denen sich eine bis jetzt


[]

unbekannte Kraft der Einbildung, Naivetät und Manier offenbarten,
machte damals den Stoff der Unterhaltungen in allen Malerateliers
aus. Adrian von Ostade, der den fröhlichen und schelmischen Zög¬
ling liebgewonnen hatte, schlich sich eines Tages während einer Ab¬
wesenheit von Hals bis zum Söller hinauf, in welchem die Hab¬
sucht des Meisters unsern Brauer eingeschlossen hatte. Ostade klet¬
terte bis zu einem kleinen Dachfenster, durch welches dieser erbärm¬
liche Aufenthalt beleuchtet wurde, und da sah er zu seinem größten
Erstaunen, daß dieser unbekannte und geheimnißvolle Meister, dessen
Arbeiten sich Franz Hals mit Gold aufwiegen ließ, kein anderer
als sein Freund Brauer war. Dieser beklagte sich bei Ostade über
die schlechte Behandlung, die er von Hals erfuhr, der ihn mit Ar¬
beit überhäufte und ihm nur dann zu essen gab, wenn er eine be¬
stimmte Ausgabe vollendet hatte. Er zeigte ihm seine zerlumpten
Kleider und schilderte' ihm seine Leiden in so wahren und naiven
Ausdrücken, daß ihm Ostade, um sein Elend einigermaßen zu er¬
leichtern, vorschlug, er solle ihm die fünf Sinne malen.zu vier
Sols das Stück. Brauer nahm es an und mußte nun mit noch
größerem Eifer arbeiten, um seinem gierigen Tyrannen zu verbergen,
daß er einen Theil seiner Zeit sür sich verwende. Als die fünf
Sinne zur allgemeinen Zufriedenheit der Werkstätte geendigt wa¬
ren, verlangte ein anderer Schüler die zwölf Monate von Brauer
zu demselben Preis. Der arme Zögling nahm auch dieses an, um
sich eine gesündere und hauptsächlich eine reichhaltigere Nahrung zu
verschaffen, und endigte bald sein Dutzend Allegorien, das ihm hin¬
reichend Brod für einen Monat verschaffte.


Aber der Dämon der Habgier und des Geizes wachte über
Brauer. Bald glaubte Hals zu bemerken, sein Sklave pro-
duzire nicht mehr so viel als früher. Halsens Frau besonders,
eine Art aus der Hölle aufgestiegener Harpye, übernahm es,
Brauer sorgfältig zu überwachen und seine Arbeit zu verdop¬
peln, während sie zu gleicher Zeit seine ohnedieß schon sehr
beschränkte Nahrung noch mehr verringerte. Den anderen Zög¬
lingen ward es nun so schwer, zu dem Gefangenen sich Zutritt
zu verschaffen, daß sie es nicht mehr wagten. Franz Hals äußerte
sich von Tag zu Tag verächtlicher über Brauer's Talent und schil¬
derte ihn seinen Zöglingen, als würde er nicht im Stande sein, je


[]

etwas Gutes zu leisten. Ostade, erzürnt über diese feige Grausam¬
keit, welche das Opfer, das sie plünderte, noch obendrein verläumdete,
täuschte noch einmal die strenge Wachsamkeit Halsens und seiner
würdigen Gattin, drang bis zu Brauer und rieth ihm, aus diesem
Zwangsaufenthalt zu fliehen, wo man dem Sclaven, dessen Pinsel
Schatze erzeugte, sogar daS trockne Brod verweigerte. Ostade fügte
hinzu, das ganze Atelier sei bereit, seine Flucht zu begünstigen, und
die Ersparnisse seiner Gefährten, so wie die seinigen würden ihm
die ersten Mittel verschaffen, für seine Eristenz zu sorgen; das Wei¬
tere würde schon sein Talent thun.


Das aufs Höchste gestiegene Elend deS ausgehungerten und
halb nackten Brauer ließ ihm nur die Wahl zwischen Flucht oder
Verzweiflung. Er machte sich einen Tag, wo Hals abwesend war,
zu Nutze und entfloh glücklich seinem abscheulichen Kerker. Aber
wie er nun im Freien war, wußte unser arme Künstler nicht, was
er mit seiner Freiheit beginnen sollte. Die Sclaverei schien seine
Seele erstarrt zu haben. Er zweifelte an sich, an seinem Talent,
an seiner Zukunft. Die Lobeserhebungen seiner Werkstättgenossen
tauchten ihm einen Augenblick Spöttereien, von denen er sich habe
zum Narren halten lassen.


Da jedoch der Hunger eins seiner vorzüglichsten Leiden gewesen
war, so war der erste Gebrauch, den er von seiner Freiheit und
dem wenigen Geld, das er besaß, machte, der, daß er zu einem
Pfefferkuchmhandler ging und einen reichlichen Vorrath an Lebens¬
mitteln sich einkaufte, die er verschlang, indem er dabei die Stadt
durchlief. Da ihn der Tod seiner Mutter jeglicher Zuflucht und
allen Schutzes beraubt hatte und er nicht wußte noch hatte, wo
sein Haupt hinlegen, suchte er bei einbrechender Nacht einen Zu¬
fluchtsort in der Karhedralkirche.


Daselbst versteckte er sich unter dem Positiv der Orgel und, in
seinen Lumpen zusammengekauert, fing Brauer an über die Mittel
nachzudenken, wie er einen Stand verlassen könnte, in dem er nicht
einmal Brod gewann und wie er aus einer Lage sich herausrisse,
in welcher er geistig und leiblich das Eigenthum eines gierig ihn
ausbeutenden Herrn geworden. Seine Zukunft und seine Gegen¬
wart schienen ihm gleich düster, und er konnte sich nicht erwehren
bitterlich zu weinen, als seine Gedanken unwillkürlich zu den glück-


[]

lichen Tagen zurückkehrten, die er bei seiner Mutter verbracht, Tagen
der Muße und der freien Laune, der Schelmenstreiche und der ge¬
räuschvollen Spiele. Während er in diese Gedanken vertieft war, hörte
er — und ein Schauer durchlief seine Glieder — eine Stimme, die
seinen Namen murmelte, während gleichzeitig eine Hand sich auf
seine Schulter legte.


Das Elend und die bisherige rauhe Behandlung hatten Brauer'S
Seele gebeugt; er zitterte anfangs vor Furcht, diese Stimme möchte
die seines unbarmherzigen Quälgeistes sein. Da aber sein Name
ein zweites Mal mit einem Ton der Güte ausgesprochen ward, an
den er bisher nicht gewöhnt gewesen, wagte es der arme Sclave,
sein von Thränen gebadetes Haupt in die Höhe zu heben. Der
Mann, der vor ihm stand, war einer von Halsens Freunden und
ein fleißiger Besucher seines Ateliers, der nun nicht wenig erstaunt
war, Brauer unter dem Orgelpositiv versteckt zu finden, während
einige Stücke Pfefferkuchen um ihn her lagen, die vollends zu ver¬
zehren sein überwältigender Schmerz ihn abgehalten.


Gerührt von einem solchen Schauspiel, frug Halsens Freund
den jungen Menschen um die Ursache des tiefen Kummers, der ihn
zu bedrücken schien. Diese in einem Ton voll Herzlichkeit an ihn
gerichtete Frage war der Tropfen, der, in ein volles Gefäß geschüttet,
es zum Ueberströmen bringt. Brauer, in Thränen zerschmelzend,
erzählte nun, welche schlechte Behandlung er bei seinem Meister er¬
dulden müssen, und wie dieser sich nicht damit begnüge, sich die
Früchte von Brauer's Arbeit anzueignen, sondern ihn aus Geiz auch
noch nackt und halb Hungers sterben lasse. Das abgezehrte und
hungerbleiche Aussehen, so wie die scheußlichen Lumpen, mit denen der
Künstler bekleidet war, bestätigten die vollkommne Wahrheit dieser
Erzählung. Halsens Freund versprach dem jungen Manne seine
fernere Theilnahme und seine Vermittlung, um diesem hassenswerther
Benehmen ein Ende zu machen, wenn er mit ihm zu seinem Meister
zurückkehren wolle.


Der trostlose Flüchtling, der wie alle durch die Unterdrückung
ihrer moralischen Kraft beraubten Sclaven von der Freiheit, die er
sich eben erst erworben, keinen Gebrauch zu machen wußte, nahm das
Anerbieten seines Beschützers an und kehrte mit gesenktem Haupte
zurück, um von Neuem seine Ketten zu tragen. Franz Hals, der


[]

über den Verlust eines solchen Schülers ganz in Verzweiflung ge¬
rathen, war eben nach Haus gekommen, nachdem er unnütz alle
Straßen Harlems durchlaufen. Als Hals den Deserteur erblickte,
befahl er ihm, halb wüthend halb froh und mit rauhem Tone, in
seine Werkstätte zurückzukehren, indem er ihm, wenn er sich je wieder
einen solchen Streich erlaubte, die derbste Tracht Schlage versprach,
die je auf die Schultern eines Taugenichts gefallen wäre.


Um dem Geschrei und den Schimpfworten von Halsens Frau
zu entgehen, die sich über die Undankbarkeit dieses Unglücklichen
beklagte, der ihre Sorgfalt so schlecht belohne, eilte Brauer, der
einen düstern Horizont von Kopfnüssen und Fußstößen vor sich sah,
in seine Bodenkammer. Halsens Freund warf seinem Meister indeß
sein unverantwortliches Benehmen gegen ein Kind vor, das zum
Lohne für diese kostbare Arbeit schlechter als ein Dienstbote behandelt
werde. Er gab ihm zu verstehen, daß eine Fortsetzung dieser schlech¬
ten Behandlung ihn nicht allein für immer seines Schülers be¬
rauben, sondern ihm auch noch eine strenge Bestrafung zuziehen
könne.


Diese Vorwürfe hatten einen außerordentlichen Erfolg. Am
andern Morgen, da der arme Bursche glaubte, die Zeit sei gekom¬
men, wo sein Meister von gestern her mit ihm rechnen werde, wie
erstaunt war er da nicht, als dieser in aller Sanftmuth mit ihm
sprach. Halsens Frau schien ihre giftige Zunge verloren zu haben.
Zum ersten Mal in seinem Leben frühstückte Brauer. Herz, was be¬
gehrst du? Man ließ ihm zu selner größten Verwunderung die
Wahl zwischen Fleisch und Fisch. Diese gänzliche Revolution än¬
derte seinen ganzen Jdeenkreis. Wie wurde ihm aber erst, als gegen
Mittag Hals ihm sagte, er habe neue Kleidungsstücke für ihn
kommen lassen! Brauer glaubte toll vor Freude zu werden, selbst da
er sah, daß diese neuen Kleider nur alte beim Trödler aufgekaufte
Sachen waren, die ihm nach allen Dimensionen hin nicht paßten.
Aber Hals und seine Frau sprachen Wunder wie viel darüber, wie
gut er sich darin ausnehme, und so kehrte er mit fröhlichem Herzen
zu seiner Arbeit zurück und arbeitete fleißig darauf los, um seinem
Meister eine reichliche Thalerernte zu verschaffen.


Unerhört! Brauer war der einzige, der sein Talent nicht kannte.
Die Verachtung und schlechte Behandlung, die sein Meister ihm an-


[]

gedeihen ließ, und die Einsamkeit, in der er lebte, waren die Ur¬
sachen gewesen, die dazu beigetragen, daß er fortwährend Mißtrauen
gegen sich selbst hegte. Man würde ihn-vor Erstaunen außer sich
gebracht haben, wenn man ihm gesagt hätte, er sei zu 17 Jahren
ein großer Künstler, dessen Arbeiten im Kaufpreise denen der be¬
rühmtesten Meister gleichstanden. Er überraschte sich oft selbst in
dem Gedanken, ob wohl seine Arbeiten eine hinreichende Entschädigung
für die Kosten wären, die er Hals verursachte, und dieser, wie man
sich leicht denken kann, verfehlte nicht, ihn in diesem Gedanken zu
bestärken, der für ihn so erfreuliche Früchte trug.


So vergingen wieder drei Monate, während deren Brauer,
besser behandelt, besser gespeist und zufriedenen Herzens, solche Fort¬
schritte machte, daß alle Welt von Hals ein, wenn auch noch so
kleines Gemälde von der Hand seines unbekannten Malers ver¬
langte. Franz nahm die Bestellungen an und hatte den Preis eines
kleinen Stasseletgemäldes auf 100 Dukaten festgesetzt. Aber der
Geiz, der diesen Elenden verblendete, verursachte ihm auch bald
Brauer's Verlust. Denn Ostade und einige andre Schüler, welche
Kenntniß von dem geheimen Handel erhielten, den ihr Meister mit
Brauer's Arbeiten trieb, benachrichtigten diesen davon und bewiesen
ihm, daß sein Talent ihm überall Unabhängigkeit und Vermögen
verschaffen könne; daß es der Gipfel der Feigheit wäre, sich noch
länger so ausbeuten zu lassen, und daß er in Amsterdam, wo sein
Talent bekannt und geschätzt wäre, Beschützer, Freunde und Ruhm
finden würde.


Diese Worte hörte Brauer keineswegs vergebens und, obgleich
ihm immer noch einige Zweifel über seinen Künstler-Werth blieben,
so benutzte er doch eine Abwesenheit seines Meisters, um sich für
immer von dem Orte zu entfernen, wo er so viel gelitten. Dieses
Mal aber cimusirte er sich nicht mehr damit, in Harlem umherzu-
streifen, sondern er begab sich sofort nach Amsterdam, ohne Empfeh¬
lung, ohne alles Gepäck und fast ohne Geld, aber frei, frohen Herzens
und reich an Hoffnungen.


In Amsterdam angekommen, erkundigte er sich nach einem Lieb¬
haber der Malerei, dem er sich empfehlen könnte. Man verwies
ihn an einen gewissen Gastwirth van Zomeren, der den Gasthof
„Zum Wappen von Frankreich" inne hatte. Dieser Mann, der in


[]

seiner Jugend selbst die Malerkunst betrieben, und dessen Sohn,
Heinrich van Zomeren für Landschaftsmalerei und Blumenstücke einen
gewissen Ruf genoß, nahm Brauer freundschaftlich auf, indem er
ihm versprach, er werde ihm seine Gemälde zu guten Preisen unter¬
bringen.


Zum ersten Male in seinem Leben fand Brauer in seinen Um¬
gebungen Theilnahme und rücksichtsvolles Benehmen. Gut behan¬
delt, gut gespeist, konnte er nach Belieben arbeiten und sich ganz den
Launen seiner Einbildungskraft hingeben. Van Zomeren, erstaunt
schon über seine unglaubliche Leichtigkeit und über die Wärme seiner
Composition bei kleinen Gegenständen, glaubte, daß so reiche Fähig¬
keiten sich in einem größeren Nahmen nur um so vortheilhafter ent¬
falten würden. Er gab daher Brauer eine Kupferplatte, auf die, er
ihn einen Gegenstand seiner Phantasie zu malen bat.


Brauer, seinen persönlichen Inspirationen überlassen, beendigte
in einigen Tagen ein Gemälde, dessen Gegenstand ein Zank oder,
richtiger gesagt, ein Kampf zwischen Bauern und Soldaten war.
Karten, die auf dem Boden zerstreut umherliegen, zeigten die Ursache
des Zankes an. Man sah einen zu Boden geworfenen Soldaten,
dessen Schädel halb geöffnet worden durch einen Schlag mit einem
zinnernen Bierkrug, den ein wüthender Bauer noch über seinem
Kopfe schwingt. Weiterhin röchelt ein Andrer seinen Todeskampf.
Ein von allen Seiten umringter Soldat wehrt sich, um den Degen
aus der Scheide ziehen zu können, während ein'Bauer mit wilden
Zügen, mit dem Messer in der Faust, sich anschickt, mitten inS
Handgemenge sich zu stürzen. Im Hintergrunde steht man einen
Mann eine Treppe hinabsteigen, mit einer Zange in der Hand, um
dieser Schlächterei ein Ende zu machen. Tisch und Stühle sind um¬
geworfen, die Dienstmädchen fliehen den Tumult.


Van Zomeren, erstaunt über dieses Werk eines jungen Men¬
schen von zwanzig Jahren, erkannte endlich an den Eigenschaften,
die dieses Gemälde auszeichneten, daß Brauer jener unbekannte
Maler war, nach dessen Gemälden alle Liebhaber eine wahre Hetz¬
jagd anstellten. Es war aber in einem noch höheren Grade der
Vollkommenheit dieselbe ungestüme Kraft, derselbe Farbenreichthum,
dieselbe Reinheit der Zeichnung, Vorzüglich aber war der moralische


[]

Ausdruck der verschiedenen Leidenschaften, die hier in Thätigkeit ge¬
rathen waren, mit einer merkwürdigen Energie wiedergegeben.


Da sich in Amsterdam das Gerücht verbreitet hatte, daß der
unbekannte Maler, mit dessen Arbeiten Franz Hals bisher
einen Monopolhandel getrieben, diese Stadt bewohne, gelang es
einem Liebhaber, Namens Herr von Vermandois, Brauer zu ent¬
decken. Er ward betroffen von der Originalität der Gruppirung,
von der Kraft des Colorits und vorzüglich von diesem männlich
festen Pinselstrich, der die jugendliche Glut des Künstlers verrieth.
Brauer, dem van Zomeren vorher seine Lection eingelernt hatte, in¬
dem er ihm sagte, es werde ein Liebhaber kommen und mit ihm
um sein Gemälde handeln, wagte es nicht das Wort zu nehmen
und den Preis zu bestimmen. Endlich frug Herr von Verman¬
dois, ob er wohl sein Gemälde für 100 Dukaten abzulassen ge¬
willt wäre. Der Künstler glaubte anfangs, die Ohren klängen
ihm, oder der Käufer wolle sich über ihn lustig machen. Als aber
dieser sein Gebot wiederholte, und Brauer sah, daß ihm van Zomeren
durch Zeichen winkte, anzunehmen, antwortete er verwirrt und ver¬
legen und seinenSchnurrbart drehend: „Dieses Gemälde hätte
ihn viel Arbeit gekostet und die Kupferplatte habe
einen großen Werth" und ähnliche Gründe, die ihm geeignet
schienen, der bedeutenden Summe, die man ihm bot, ein Gegenge¬
wicht zu halten. Endlich stand Herr von Vermandois auf, um
wegzugehen und bat den Künstler, ihn mit seinem Gemälde in seine
Wohnung zu begleiten, wo er ihm den Preis für seine Arbeit in
schönen, neuen Dukaten zustellen würde.


Erst als Brauer seine hundert Dukaten wirklich besaß, entfernte
er die Idee, die er bis dahin gehegt, man wolle sich über ihn lustig
machen. Der Anblick dieser schönen, glänzenden Goldstücke berauschte
ihn völlig. Er glaubte, Potosi's Goldminen ständen ihm nun zu
Gebote. Erst von diesem Augenblick an begriff er sein Talent und
die Zaubergewalt seines Pinsels, der gleich einem Zauberstab alle
irdischen Genüsse ihm verschaffen konnte. Sein Genie war der goldne
Schlüssel, der ihm nun die Thore dieser Freudenwelt weit öffnen
sollte, die er bisher nur im Traume erblickt, von der er bis jetzt
ausgeschlossen gewesen und in der er fortan als Herr und Meister
werde herrschen können. Ihm gehören fortan die Frauen, ihm die


[]

Aufregungen des Spiels, ihm die wundersamen Täuschungen der
Trunkenheit! Sein Genie hatte ihn gleich einem jener Genien der
arabischen Wundermärchen in einen Zauberpalast geführt, wo alle
Wollüste der Erde in einem Neigen ihn umgaben, schmeichelnd,
kosend sich ihm zu Füßen legten und mit wunderholden, zaubersüßen
Stimmen ihm sagten: Herr und Meister, hier sind wir! Was be¬
gehrst Du?


Der Uebergang aus der nackten, leidensvollen Bodenkammer
bei Hals in das freudenberauschte, glänzende Amsterdam, der Ueber¬
gang aus der düstern Nacht in diese leuchtenden, duftenden Gegen¬
den — das war zu viel für Brauer'S ungeübte moralische Kraft.
Als er von Herrn von Vermandois nach Hause kam, stand sein
schwaches Gehirn ganz in Feuer; der Anblick seines Goldes bezau-
berte ihn. Jedes dieser glänzenden Goldstücke schien ihm mit süßer,
verführerisch lockender Stimme zuzurufen: Willst du Jungfrauen mit
schamverschleiertem Blick, oder willst du die endlosen Räume des
Idealen auf den schwindelnden Fittigen der Trunkenheit durchfliegen?
Willst du die rohen Orgien des Volkes oder die entnervenden Lieb¬
kosungen der Courtisanen und die fieberhaften Umschlingungen des
Spieldämons kennen lernen? Wähle; wir enthalten Alles.


Und die verlockenden Stimmen hatten einen leichten Sieg; denn
was in dem moralisch-vernachlässigten Brauer sollte mit ihnen käm¬
pfen? Nachdem er seine Dukaten aufs Bett geworfen und sich darin
gewälzt mit der Wuth, mit der ein, nach langem Hungerleider zu
herrlichem Male geladener Gast die Speisen verschlingt, raffte Brauer
sein Geld wieder zusammen, that es all in sein Wamms und ging,
stolz, ja übermüthig in Miene und Haltung aus, um den geheim¬
nißvollen Stimmen zu folgen, die ihn einluden, um ihn einzuweihen
in die todbringenden Feste und die mörderischen Freuden der Aus¬
schweifung.


Die hundert Dukaten dauerten acht Tage: sie zerstreuten sich
in Amsterdams Tavernen und Liebeshöfen. Erst als er auch nicht
einen Gulden mehr in seinem Vermögen hatte, kehrte er zu van Zo-
meren zurück; dieser, ganz erstaunt, ihn wiederzusehen, frug ihn, was
er mit seinem Gelde gemacht? — Gott sei Dank! entgegneteder
Künstler; es hat mir Mühe genug gekostet, es los zu
werden, und ich bin froh, daß ich nun wieder so weit


[]

bin! Brauer fand fortan diese Lebensweise so vernünftig, daß er
beisie bis zu seinem Tode beihielt.


Dieser erste Eindruck war zu stark gewesen, als daß er fortan
em geordnetes, arbeitsames Leben zu führen vermocht hätte. Er
verbrachte seine Tage in Kneipen und Bordellen, wo er seine Palette
mit tausend komischen und tragischen Episoden bereicherte, während
zugleich sein Geist und sein Herz stufenweise sanken. Wenn aber
eine glückliche Inspiration mit ihren Fittigen ihn umschattete, dann
erwachte in ihm das ganze Feuer seines Genies; seine Stirn, der
die Orgie ihren scheußlichen Stempel aufgedrückt, strahlte alsdann;
sein Auge belebte sich mit seltsamem Glänze und sein Pinsel streifte
über die Leinewand mit unerhörtem Eifer und merkwürdiger Leich¬
tigkeit hin. Diese letzte Eigenschaft aber war eS gerade, die ihn auf
die gleitenden Wege zum Abgrunde noch rascher dahintrieb. Ein
Tag reichte für ihn hin, ein Gemälde zu beendigen, das die Liebha¬
ber mit Gold bedeckten, und dieses Gold ward bald von dem glü¬
henden Schlunde der Ausschweifung verschlungen. Die Tavernen
wurden seine Malerwerkstätte; krummbeinigte Schemel oder oft auch
die Schultern einer Courtisane waren seine Staffelei; und in den
lichten Zwischenräumen eines trunkenen Lanzenknechtlebenö schuf er
seine Meisterwerke.


So führte Brauer in den wenigen Jahren, die er in Amster¬
dam verbrachte, ein wahrhaft verzehrendes Leben, das unmöglich
lange Bestand haben konnte. „Viel gewinnend, aber noch mehr
verschwendend und niemals seine Schulden bezahlend,, sagt Descamps
(einer seiner Biographen), „sah er sich bald genöthigt in heimlicher
Flucht den Schauplatz seiner fröhlichen Gelage zu verlassen."


Er ging aus Amsterdam, wie er dort angekommen war, arm
an Geld, aber reich an Talent; doch war seine Einbildungskraft
durch die vielen mannigfachen Ausschweifungen der letzten Jahre
schwächer und matter geworden. Unkundig aller weltlichen Angele¬
genheiten, wie ein Künstler, der sich nie um etwas Anderes als um
den Preis der spanischen Weine bekümmert hatte, wußte Brauer
nicht, daß die spanischen Niederlande mit den vereinigten Provinzen
Hollands im Kriege begriffen waren. Er erfuhr es auf seine Un¬
kosten in Antwerpen. Denn als er an den Thoren dieser Stadt
anlangte, ward er für einen Spion gehalten und da er weder einen


[]

Paß noch Empfehlungsschreiben an irgend Jemand bei sich hatte,
so führte man ihn trotz seiner Protestationen ins Gefängniß der
Citadelle.


Zu Brauer's Glück war damals der Herzog von Aremberg
ebenfalls ein Gefangener in der Antwerpener Citadelle, wo derselbe
die Freiheit genoß, in Begleitung zweier spanischer Soldaten in den
innern Höfen spazieren gehen zu dürfen. Auf einem dieser Spazier¬
gänge vernahm der Herzog eines Tages eine Stimme, die aus einem
vergitterten Kerker drang und ihn um ein Gespräch von einigen
Augenblicken bat. Der Herzog trat zu dem Gefangenen hin, der
Niemand anders als Brauer war und, da er den Herzog für den
Gouverneur der Citadelle hielt, dringend bat, man möchte ihn in
Freiheit setzen, indem er bald zu beweisen sich erbot, daß er wirklich
ein Maler sei, der von Amsterdam komme, um sich in Antwerpen
niederzulassen, nicht aber ein erbärmlicher Spion. Dem Herzog
schien Nichts leichter, als der Wahrheit in dieser Sache auf den
Grund zu kommen. Er ließ Rubens, der ihn jeden Tag besuchte,
sofort um eine Palette, Leinewand und Pinsel bitten und überließ
Brauer die Sorge, sich durch sein Werk zu rechtfertigen.


Während unser Maler sich den Kopf anstrengte, um einen
passenden Stoss zu finden, bemerkte er im Hofe, durch das Gitter
seines Gefängnisses hindurch, eine Gruppe spanischer Soldaten, die
auf den Fersen niedergekauert, mit jener spanischen Gravität, die auch
in die komischsten Körperstellungen eine gewisse Würde zu legen
weiß, Karten spielten. Ein alter Reitersmann, dessen breiter, nar-
bigter Mund nur noch zwei Zähne enthielt, lang und gelb wie die
Hauer eines vierzigjährigen Ebers, schien die Rolle deö Kampfrichters
in diesem unblutigen Streite zu spielen. Die Freude des Gewinnes,
die Angst des Verlustes, das Interesse, die Neugier der Spieler und
die umstehenden Zuschauer, das Alles stellte Brauer bald mit einer
unvergleichlichen Lebhaftigkeit der Einbildungskraft dar. In einer
Ecke sah man einen selten- 8»I6»t1o, in einer Stellung niedergekauert,
die über seine Beschäftigung keinen Zweifel zuließ, während sein
Gesicht so schmerzhaft komische Empfindungen ausdrückte, daß man
sich bei seinem Anblick unmöglich des Lachens enthalten konnte.
Dieses ganze Gemälde trug unverkennbar den Stempel des Genies
an sich und es lebte in demselben eine solche ungestüme Kraft, daß


8
[]

der Herzog ganz entzückt davon war und in aller Eile Rubens ru¬
fen ließ, um seine Meinung über das zu hören, was ihm ein Mei¬
sterwerk dünkte.


Kaum hatte Rubens die Augen auf das Gemälde geworfen,
als er entzückt ausrief: Metner Seele! Das ist von Brauer;
er allein vermag dieses Genre mit so viel Kraft und
so viel Schönheit zu malen! Auf die Frage des Herzogs,
wie viel dies Gemälde wohl werth sei, bot Rubens, ohne sich wei¬
ter zu besinnen, 600 Gulden dafür; dem Herzog aber war das
Ganze ein zu seltsames Abenteuer gewesen, als daß er hätte darein¬
willigen mögen, sich eines Meisterwerkes zu entäußern, das ihn an
Brauer und ihrer Beider Gefangenschaft in der Citadelle erinnerte.


Durch Rubens' Einfluß hörte Brauer's Gefangenschaft bald
auf. Rubens machte sich zu seinem Bürgen und führte den Befrei¬
ten aus dem Gefängniß in sein Haus, wo er ihm eine prachtvolle
und reichliche Gastfreundschaft anbot. Aber das Adlige im äußern
Benehmen und die Sittenstrenge, welche Rubens' Charakter aus¬
machten, konnten Brauer nicht zusagen. Gewöhnt an eine zügellose
Freiheit, an ein zwischen fürstlicher Verschwendung und einem jam¬
mervollen Elend abwechselndes Leben, war die geordnete, sestgeregelte
Lebensweise in Rubens' Haus ihm eine lastende Kette, von der er
sich zu befreien eifrig sehnte, um sein freies und tolles Zigeunerleben
wieder zu beginnen. Vergebens predigte ihm Rubens, vergebens
bemühte er sich ihn seinen Kneipenliebschaften und seinen tief in die
Nacht hineingehenden Gelagen zu entreißen: Alles blieb erfolglos.


Müde endlich dieser fortwährenden Ermahnungen verließ Brauer,
für den die edle und würdige Lebensweise Rubens' vielleicht ein na¬
gender Gewissensbiß, ein geheimer Vorwurf war, das Haus seines
edelmüthigen Wirthes; er hatte endlich eine Seele gefunden, welche
die seinige begriff, ein Herz, das zu dem seinigen paßte, wie ein
Schwert zur Scheide. Dieses sein anderes Ich, dessen Mängel und
Vorzüge ganz mit den seinigen übereinstimmten, — denn bei all
seiner Liederlichkeit verläugnete und verlor Brauer nie seine angebo¬
rene Gutmüthigkeit; darin stimmen alle Zeugnisse seiner Zeitgenossen
überein — war Craesbeck, ein einfacher, aus Brüssel gebürtiger
Bäcker, der bald, in Folge von Adrian Brauer's Unterricht, einen
ziemlichen Ruf als Maler sich erwarb.


[]

Unsere beiden Freunde hatten ihre gegenseitige Bekanntschaft im
Wirthshaus gemacht, wo Brauer seine Amsterdamer Lebensweise
wieder begonnen hatte und unter zerbrochenen Bierkrügen, zerschla¬
genen Köpfen, umgeworfenen Stühlen und unkeuschen Liebesabenteuern
zugleich Stoff und Inspiration für sein Talent suchte und sand.
Craesbeck war geschaffen, um Brauer zu begreifen: und bald wohnte
letzterer bei ihm, indem er ihm versprach, ihm zum Lohn seiner Gast¬
freundschaft Unterricht in seiner Kunst zu ertheilen, für welche der
Bäcker vorzügliche Anlagen hatte.


CraeSbeck nahm diese Bedingungen dankbar an und jeden Mor¬
gen, nachdem er seine Bäckerarbeit vollendet, arbeitete er mit Eifer
als Maler und zwar mir solchem Erfolg, daß er bald seinem Mei¬
ster, wenn auch nicht gleich, doch wenigstens nahe kam. Doch war
sein Strich nie weder so fein, noch so kühn wie der Brauer's und
in seinen Gemälden findet man stets etwas Gemeines, Plumpes,
Anekelndes, das Brauer nie, selbst in den liederlichsten Arbeiten sei¬
nes Talentes nicht, eigen war.


Craesbeck hatte eine sehr hübsche Frau, die anfangs Brauer
lange Zeit Vorwürfe gemacht hatte, er sei Schuld daran, daß ihr
Mann sein Geschäft vernachlässige und lieber schlechte Gemälde
pinsle; endlich aber wurde sie gegen ihren Gast freundlicher gesinnt
und ward ihm zuletzt so gewogen, daß sie alle Drei in voll¬
kommenster Eintracht lebten. Die bösen Zungen jener Zeit behaup¬
teten, Craesbeck theile mit Brauer Haus, Tisch und Frau: und so
abgeneigt wir auch sind, den Todten Böses nachzusagen, eingedenk
des alten Spruches: cle moi tuis nil nisi Iiene, so müssen Wir doch
eingestehen, daß wir uns nicht gut als Kämpen für die Tugend
der Bäckerfrau stellen können.


Das Leben, welches diese beiden Freunde einige Zeit lang führten,
ward endlich so scandalös, daß die Behörden sich darein mischten.
Aus dieser Zeit erzählt man auch folgende Anekdote: Craesbeck,
heißt es, durch das Gerede der Leute argwöhnisch geworden, wollte
sich über die Liebe seiner Gattin zu ihm Gewißheit verschaffen und
nahm zu einem originellen Mittel seine Zuflucht. Er malte sich
eines Tages eine schreckliche Wunde auf die Brust und ließ sich mit
aller Schwere auf den Fußboden des Zimmers fallen, indem er ein
herzzerreißendes Geschrei ausstieß. Seine erschrockene Frau eilt herbei,


8*
[]

schreit hoch auf, da sie ihn ganz blutig erblickt, und drückt ihren
Schmerz über seinen Verlust in so jammervollen Ausdrücken aus,
daß Craesbeck, von seiner Eifersucht geheilt, aufstand und zu ihr sagte:
„Still, Thörin! Ich habe dich nur prüfen und sehen wollen, ob
deine Liebe aufrichtig ist." Die Chronik jener Zeiten besagt jedoch
Nichts davon, ob die Bäckersfrau in Folge dieser Lehre minder
liebherzig gegen ihren Gast wurde.


Brauer, erdrückt von seiner Schulden Last, täglich eifriger von
den Gerichtsdienern und Häschern verfolgt, verließ Antwerpen, wie
er Amsterdam verlassen d. h. als es kein Wirthshaus mehr gab.
in dem er nicht seinen Credit erschöpft hatte. Von seinem lieder¬
lichen, ausschweifenden Leben schon körperlich erschöpft, ging er zu
seinem größten Unglück nach Paris, wo sein leichtes Talent ihn»
zwar Goldminen öffnete, wo er aber in noch größere Ercesse verfiel.
Das Leben war für ihn, seitdem er seines Talentes sich bewußt ge¬
worden, nur eine lange Wollust, eine fortwährende Trunkenheit
gewesen; aber er hatte den Becher nun bis auf die Hefe geleert
und da fand er das Gift. Als er nach einem Aufenthalt von eini¬
gen Monaten im Jahr 1640 nach Antwerpen zurückkehrte, trug er
die grausame Strafe seiner leichten Liebesverhältnisse in seinem Leibe
mit sich. Die Lebensquellen waren so erschöpft in ihm, daß er
zwei Tage, nachdem er ins Hospital gekommen, an Entkräftung da¬
selbst starb, allein in einer Ecke, ohne eine Hand, welche die seine
drückte, ohne einen Blick, der ihn tröstete, ohne ein Gebet und ohne
einen Grabstein, um einen Namen der Vergessenheit zu entreißen,
ver so schön und so strahlend hätte sein können!


So begrub das Elend, daS an Brauer's Wiege gewacht, ihn auch
mit seinen dürren und gierigen Fingern in dem Leichentuch, das er dem
Mitleid verdankte. Seine glühend sinnliche Natur, der es in Folge
seiner gänzlich vernachlässigten Erziehung an jenem Zügel fehlte,
den Moral und Religion Anderer Begierden auflegen, hatte ihn in
der Blüthe seiner Jahre als einen lebendigen Leichnam vor die
Thüren dieses traurigen Pantheons des Genies geworfen, das man
Hospital nennt.


Rubens erfuhr Brauer's Tod nur, um ihn zu beweinen. Er
ließ seinen Leichnam, der in die allgemeine Grube geworfen
worden, ausgraben und in der Carmeliterkirche beerdigen. Er


[]

hatte sogar den Entwurf zu einem Grabmal gezeichnet, das er ihm
errichten wollte; aber der Tod, der auch ihn kurz darauf hinraffte,
hinderte ihn an der Ausführung dieses Vorhabens, das seines Ge¬
rdes und seines Herzens gleich würdig war.


Brauer's Rathschläge und Lehren entwickelten und bildeten
David Teniers' des jüngeren Talent, der auch etwas von seiner
Manier annahm. — Die Eintönigkeit in Brauer's Gemälden ist
sehr leicht erklärt durch die geringe Mannigfaltigkeit der Gegenstände
und Personen, die er am Häufigsten vor Augen hatte. Es sind
gewöhnlich trunkene Bauern, die einander schlagen; Wundärzte,
welche andre Bauerlümmel verbinden; Trinker oder Spieler, die ein¬
ander Tische, Stühle und Bierkruge an den Kopf werfen; Libertins
in Orten der Liederlichkeit; Wachtstuben und dergleichen mehr.


Brauer's Pinselstrich war lebhast, glühend und geistreich; seine
Farbengebung ausgezeichnet und wahr, ohne alle Manier. Seine
Werke sind heutzutage sehr gesucht und werden sehr theuer bezahlt.


Schließlich noch einige Worte über Craesbeck, den Schüler und
Genossen Brauer's. Er ist sein bester Nachahmer, hat jedoch nie
des Meisters Feinheit im Ausdruck und Schönheit im Colorit erreicht.
Die gewöhnlichen Gegenstände der Gemälde Cracsbcck's sind ekeler¬
regend; eS sind Trinker, die sich übergeben; Zänkereien von Trun¬
kenbolden; und was vergleichen zurückstoßende Scenen mehr sind,
mit deren Rohheit uns selbst das schönste Talent nicht versöhnen
kann. Craesbeck hat oft sich selbst pvrtraitirt, hat sich aber immer
unter einem grotesken oder abschreckenden Anblick dargestellt, bald
mit einem Pflaster auf dem Auge, bald abscheuliche Gesichter Schrei,
derb, bald unerhört gähnend. Craesbeck war Brauer's gemeine
Copie.S)



[]

Briefe aus Se. Petersburg



Note: Der Kaiser und die Aristokratie. — Nikolaus und Alexander. — Der Senat
und die Bauern. — Die Complote. — Eine kaiserliche Familie. — Der
Großfürst und sein Oheim; die Großfürstin und ihre Tante. — Der Prinz
von Leuchtenberg. — Ein Aktenstück.

Fast alle europäischen Journale haben letzthin von Comploten
und Verschwörungen gesprochen, die, bei Gelegenheit deS letzten Uka-
ses zu Gunsten der russischen Leibeigenen, gegen das Leben des Kai¬
sers entstanden seien.


Hier haben wir nichts davon erfahren, wenigstens hat Niemand
davon gesprochen, weder in hohen, noch in niederen Gesellschaftskrei¬
sen. Freilich sind wir auch hier Leute der That, nicht der Rede;
das Land schweigt und denkt nicht im Entferntesten an Preßfretheit
und im Allgemeinen wird hier gehandelt, bevor man spricht. Eine
Sache muß ins Reich der Thatsachen gehören, ehe man hier davon
spricht, und selbst dann wird mit so viel Zurückhaltung davon ge¬
sprochen, daß oft vollkommenes Schweigen bedeutungsvoller wäre.
Das Wort ist hier offiziell. Und es ist auch gut so; denn bei
Gott! was würde-aus uns werden, wenn die Sachen anders stünden!
Wir würden in einer Atmosphäre von Comploten und Verschwörun¬
gen ersticken; denn diese sind in Rußland das ewig sich erneuernde
Haupt der Hydra. Unter der Frauenherrschaft verschwor man sich


[]

gegen die Günstlinge, um sie von der Höhe ihrer Macht herabzu--
schleudern in Sibiriens Eissteppen: man that ihnen, wie sie ihren
Vorgängern gethan; und oft begegnete ein nach Sibirien geschickter
Günstling auf halbem Wege dahin seinem, von ihm in die Knecht¬
schaft gesandten, in Folge seines Sturzes fröhlich zurückkehrenden
Feinde. Sibirien war gewissermaßen eine Zeit lang eine Glacii;re,
worin die gefallenen Minister frisch bewahrt wurden, bis der Au¬
genblick ihrer Brauchbarkeit wieder erschien: eine Art Pairskammer.
So war es, da Weiber regierten. Jede unter der Kaiserherrschaft
sind die Complote fürchterlicher; denn hier handelt es sich nicht mehr
blos darum, sie vom Thron zu stürzen und nach Sibirien zu schicken:
die Verschwörer zielen auf ihr Leben. So war eS unter Peter und
unter Paul; so unter Alerander amb so ist es noch unter Nikolaus:
und so wird es bleiben, so lange eS Aristokratie und Sklaverei in
Rußland geben wird. Denn das Volk, der Mittelstand, hat keinen
Theil an diesen Verbrechen: die russische Aristokratie wird dieses
schmachvolle Brandmal tragen, das die strenge Richterin, Geschichte,
ihrer Stirn ausbrennen wird: ein Brandmal, das um so unauslöschlicher
ist, als diese Verbrechen nicht in politischen oder religiösen Leidenschaften
ihren Beweggrund und mildernde Umstände gefunden. Der kälteste,
grausamste Egoismus war es stets und wird es stets bei den russischen
Aristokraten sein, der Verschwörungen gegen die Fürsten veranlaßt,
wenn sie ihrem Volke Gutes gethan haben oder thun wollen. Pe¬
ter III. war sür Friedrich den Großen enthusiasmirt; er wollte in
der russischen Regierungsweise und Politik die freisinnigen Grundsätze
und Ideen dieses glorreichen deutschen Fürsten einführen, und zum
Lohne dafür ward er ermordet. Paul hatte die französischen Ideen
und Napoleon, ihren unsterblichen Repräsentanten, liebgewonnen und
siehe da — Paul ward erstickt. Alerander, der den größeren Theil
seiner Regierungszeit außerhalb seines Reichs in der Mitte der eu¬
ropäischen Civilisation lebte, empfand natürlich den wohlthätige»
Einfluß europäischer Sitten und Gesetze. Er war während dergrv-
ßen Kriegsjahre Zeuge gewesen der Opfer, welche die Nationen ge-
bracht, um ihre nationale Unabhängigkeit und eine gesellschaftliche
Umgestaltung zu erkämpfen, und so ward er, der von Charakter
großmüthigen Herzens war, liberal gesinnt und beschloß seine Leib¬
eigenen zu emancipiren, seinem Volke Unterricht und Belehrung an-


[]

gedeihen zu lassen und sein weites Reich auf Institutionen zu begründen,
die der christlichen Staatsidee und des 19ten Jahrhunderts, das,
wenn auch unter den blutigen Auspicien der Napoleonischen, doch auch
einer neuen fruchtbringenden Aera begonnen, würdig wären. Daher
verschwor sich die Aristokratie unaufhörlich gegen das Leben Alerander's,
weil er freisinnig war; und selbst, als er später alle die großherzi¬
gen Eingebungen seiner Seele als leere Täuschungen und bedauerns-
werthe Irrthümer bei Seite warf und so allen Verschwörungen den
Grund benahm, selbst da hörten die Complote nicht auf. Und der¬
selbe dürre Egoismus ist es, der heutzutage und zwar mit noch harr-
näckigerem Eifer gegen Kaiser Nikolaus sich verschwört und zwar
nicht ohne Grund. Denn mit Ausnahme Peter's des Großen hat
noch kein russischer Ezar so lange auf dem Throne gesessen als
Nikolaus: er herrscht schon seit 16 Jahren, d. h. seit doppelt so
lange, als sein Bruder Alexander regiert hat, der von den 25 Jah¬
ren seiner Negierung nicht 8 in Rußland selbst zugebracht hat.


Während Alerander's Abwesenheit regierte die Aristokratie den
Staat, wie sie wollte; — nun aber wird Kaiser Nikolaus, persön¬
liche Macht täglich drohender für die Aristokratie. Er könnte zuletzt
die monarchische Gewalt vom Einfluß der Aristokraten befreien, in¬
dem er W Millionen Leibeigenen ihre Freiheit schenkte. Und das kann
die russische Aristokratie durchaus nicht wünschen; denn diese doppelte
Emancipation wäre für sie ein Todesstreich. Sie weiß dies gar
wohl, denn ihr schuldbewußtes Gewissen ruft ihr zu, daß sie weder
um den Thron noch um das Volk sich verdient gemacht: sie hat den
einen zu oft mit Blut befleckt und das andere zu lange unterdrückt.
Sie hat zu dem jetzigen blühenden Zustande Rußlands auf keine
Weise beigetragen: zu dem dreifachen Gebäude des Vaterlandes, der
Gesellschaft, des Staates hat sie keinen der Grundsteine gelegt; diese
sind ohne ihre Nothhilfe, ja, gegen ihren dawiderstrebenren Willen
begründet worden. Die russische Aristokratie hat nicht allein keine
geschichtliche Geltung, sondern sie ist auch in politischer und gesell¬
schaftlicher Beziehung eine Monstrosität, ein Unding, das durchaus
nicht vernünftig begründet ist, eben so wenig als die Burgfleckenherr-
schast in England. Das Princip ihrer Existenz hat weder in der
noch in jener Theorie seine Quelle; sie ist weder patriarchalisch, wie
bei de:r andern slavischen Völkern, noch lehnsherrlich, wie im Fen-


[]

dalsvstem, noch patricisch, wie im Alterthum; sie ist ein mir
durch rohe Gewalt, fast nach Art des Sklavenhandels, begründetes
Factum.


Der Kaiserthron hat sie stets nur durch ihren Verrath kennen
gelernt; obgleich man, streng genommen, ihrem Benehmen diesen
Namen nicht gut geben kann; denn Verrath setzt vorheriges Treue-
gelöbniß voraus; sie aber hat nie Treue angelobt; diese glänzende
Eigenschaft ist der russischen Aristokratie gänzlich unbekannt. Das
Volk hat von ihr nur Unterdrückung zu erfahren; eigentlich kennt
sie daS russische Volk gar nicht; es kennt nur seine Herrn, denen
es leibeigen ist, denen es wie ein todter Besitz angehört. Der Ge¬
schichte bleibt es als festbegründete Wahrheit erworben, daß man die
Kaiser ermordet, nicht um den Despotismus zu mildern, wie
man hier mit scheußlicher Ironie sich ausdrückt, sondern um die Be¬
freiung der Alleinherrschergewalt und des Volkes von der Aristokra¬
tie zu verhindern.


Obgleich der jetzt regierende Kaiser nicht sehr unternehmend ist
in Bezug auf große Staatsstreiche, obgleich es ihm an der nöthigen
Kühnheit mangelt, um eine in ihren Resultaten unberechenbare Re¬
form zu unternehmen, so fehlt es ihm doch weder an Fähigkeit noch
an Muth, weder an Willenskraft noch an Energie: die beiden letz¬
ten, von ihm erlassenen Ukase und die Umstände, von denen ihre
Bekanntmachung begleitet war, betreffend die Verhältnisse der
Leibeigenen zu ihren Herren, werden Ihnen darthun, daß diese
Würdigung seines Charakters richtig ist. Nachdem er nämlich den
ersten Mas schon an die Provtnzialgouverneure versandt hatte, be¬
gab er sich erst in den Senat, um dessen gewissermaßen nachträgliche
Beistimmung zu dem von ihm gefaßten Entschlüsse zu verlangen;
aber hier scheint sich eine so entschiedene Mißstimmung über das
Vorgegangene kund gegeben zu haben, daß der Kaiser einen zwei¬
ten Ukas erließ, worin er den ersten dergestalt modificirte, daß der
Zustand der russischen Bauern derselbe blieb, der er vor der Publi¬
kation beider Ukase gewesen! !


> Man darf sich jedoch auch die Bedeutung des ersten Ukases
nicht übertreiben; derselbe schaffte nicht etwa die Leibeigenschaft von
Grund aus ab, sondern gestaltete sie nur bedeutend um: er versetzte
die Bauern, welche Privateigenthum sind, ihren Herrn gegenüber


[]

in dieselbe Lage, in welcher sich die Domänialbauern der Krone
gegenüber befinden. Es ward ihnen weder persönliche Unabhängig¬
keit noch bürgerliche Freiheit noch Zulässigkeit zu öffentlichen Aem¬
tern, ja selbst nicht einmal die Erlaubniß gewährt, ihre Kinder in
solche Staatsschulen zu schicken, die einen höhern Rang als die Ele¬
mentarschulen haben: der Ukas erhob nur die Bauern aus dem Stande
arbeitender, an die Scholle gefesselter Leibeigenen, deren jeder für
den Eigenthümer einen Handelsgegenstand von etwa tausend Papier¬
rubeln (eben so viel Francs) Werth und gewöhnlichen Verkaufspreis
ausmacht, in den Stand von leibeigenen Pächtern, indem sie durch
dieses Factum der entmenschenden Herabwürdigung entzogen wurde,
daß man sie gleich den Negern verkaufen konnte.


Diese so gemäßigte und in allen Beziehungen weise und poli¬
tische Maßregel der Humanität hat im Senat einen solchen Sturm
erregt; und obgleich sie am Tage nach ihrer Erlassung zurückgenom¬
men wurde, hat sie dennoch unter den Adeligen eine ungeheure Auf¬
regung verursacht; denn diese nennen Alles, was nicht Leibeigenschaft
ist, Revolution, Demokratie, ja sogar Jakobinismus. Aber auch im
Bürgerstande hat dieser Ukas bedeutendes Aussehen erregt; denn
dieser ist zwar nicht gleich den Bauern vom Adel unterdrückt,
steht aber doch in einem sehr demüthigenden Verhältniß zu dem¬
selben. Die Emancipation der Bauern würde daher, indem sie
eine gewisse Demüthigung des Adels herbeiführte, für den Bürger¬
stand ein sehr glückliches Ereigniß sein; es wäre für ihn ein Denk¬
mal socialer und politischer Erhöhung. Daher der tiefe Eindruck,
den die Erscheinung des kaiserlichen Ukas auf ihn gemacht.


Der jetzt regierende Kaiser hat der Bürgerschaft eine ziemlich
starke Organisation gegeben: sie ist reich; denn alles bewegliche
Vermögen Rußlands, d. h. die großen Capitale, sind fast allein in
ihren Händen: sie ist eine Macht, auf die man im Falle der Noth
sich stützen könnte; aber sie allein vermag noch nichts zu erfüllen;
denn sie ist ohne allen Einfluß auf die Massen deö russischen Volks!
der Bauer kennt sie ganz und gar nicht: und in ihrer Mitte ist
noch zu wenig Gemeingeist, als daß sie die Initiative in irgend
etwas ergreifen könnte. Seit einigen Jahren jedoch ist der Gemein-
geist, der Sinn für das Allgemeine bedeutend im Bürgerstande wach
geworden; d. h. er murrt nicht etwa gegen das Bestehende oder


[]

verlangt eine Aenderung; denn Murren oder Verlangen wird hier
einer Rebellion gleichgeachtet: aber er hält fortwährend die Augen
auf den Kaiser gerichtet und erharrt von ihm einen Emancipations-
Ukas.


Die so häufig in Europa verbreiteten Gerüchte von Comploten,
welche durch die Journale eine so weite Oeffentlichkeit erhalten, läh-
men hier die Verschwörungen; diese Oeffentlichkeit entschädigt
hier den Kaiser reichlich für alles Böse, das sie ihm schon zugefügt,
und sie ist vielleicht einer der einflußreichsten Umstände, denen er
sein Leben und Rußland die Fortdauer und Negierung eines seiner
ausgezeichnetsten Fürsten verdanken wird. Die Ermordung des Kai¬
sers ist, wenn nicht ganz unmöglich, doch wenigstens überaus schwie¬
rig. Der Kaiser hat sein Auge auf Alles; kein äußerer Einfluß
hat irgend eine Wirkung auf ihn: er hat weder Hofleute noch
Günstlinge, deren Verrath man erkaufen könnte, sondern nur treu¬
ergebene, enthusiastische Diener und Freunde. Er kennt die Einen,
wie die Anderen gründlich. Die sehr geschickt organisirte Geheim¬
polizei, deren Hauptfaden Nikolaus selbst in Händen hat, überwacht
alle Schritte seiner Feinde. Die kaiserliche Familie ist ihrerseits auch
eine sehr wachsame Schildwache in der Nähe seiner Person; sie ist
zahlreich und ihm sehr ergeben; er ist für sie mehr Vater als
Kaiser und Staatsoberhaupt; keine Verschwörung könnte den Kai¬
ser und einen seiner vier Söhne einander verdächtig machen, wie
dies kurz vor Paul's Tode stattfand, dem Pahlen eingeredet hatte,
Alexander gehöre zu den Verschwörern, während er Alexander die
Ueberzeugung beizubringen gesucht, sein Vater Paul traue ihm nicht
und wolle ihm ein ähnliches Loos bereiten, wie Peter der Große
seinem Sohne Alexis, unglückseligen Angedenkens. Der Kaiser ist
der eigentliche Erzieher seiner Kinder; er spielte mit ihnen, da sie
noch klein waren; und später auch hörten sie nie auf, der Gegen¬
stand seiner väterlichen Sorgfalt zu sein. Ihre Erzieher sind nur
seine Gehilfen; nicht allein überwacht er die Erziehung des Gro߬
fürsten, sondern er leitet auch geistig bis in's Einzelne ihren Unter¬
richt. Als Vater und Gatte ist Nikolaus der glücklichste aller russi¬
schen Kaiser.


Auffallend ist jedoch in neuester Zeit, hinsichtlich der Stellung
des Kaisers zu seinem Schwiegersohn, dem Herzog von Leuchten-


[]

berg/ der Umstand, daß derselbe von der Hauptstadt fern bleibt,
unter dem Norwande, daß er bei seiner Brigade bleiben solle,
und andrerseits die Art, wie sich der Kaiser in einem Ukas
ausdrückt, den er in Betreff der Eisenbahn zwischen Moskau
und Petersburg an den Senat gerichtet. „Wir haben," heißt
es darin, „ein Comitv unter unserer unmittelbaren Oberauf¬
sicht und unter dem Präsidium unseres lieben Sohnes, des Gro߬
fürsten Cesarewicz, ernannt. Zu Mitgliedern dieses Cvmitv ernen¬
nen wirbelt Generalvirector der Brücken, Chaussven und öffent¬
lichen Bauten, die Minister der Finanzen und Domainen, unsere
Adjutanten, die Generallieutenants Benkendorf, Orlow, Lewachen;
den Generallieutenant Detrvönes, den Herzog von Leuchtenberg, den
Generalmajor Tschcwkin und den Stallmeister unserer vielgeliebten
Tochter, Olga Nicolajewna, Grafen Bobrvnski."


Wir haben dieses offizielle Aktenstück ganz mitgetheilt, weil die
Verschiedenheit der Ausdrücke auffällt, mit denen der darin erwähn¬
ten Familienglieder gedacht wird. Der Großfürst Thronfolger ist nur
«ins? Jul>le7.i,^ s^u, einfach unser lieber Sohn; die Großfürstin, die blos
beiläufig bei Gelegenheit ihres Stallmeisters erwähnt und —was wohl
bemerkenswerth ist—nicht Herzogin von Leuchtenberg genannt wird, die
Großfürstin ist u.lsxit lulüexrnm«?.-!, unsere meistgeliebte Tochter;
was den Herzog von Leuchtenberg betrifft, so ist er weder vielge-
liebt noch geliebt, ja er wird nicht einmal „unser Eidam" genannt;
der Kaiser stellt ihn den andern gewöhnlichen Mitgliedern des Co¬
mite's gleich. Seine Stellung in Petersburg gegenüber der kaiser¬
lichen Familie hat viele Aehnlichkeit mit der des Gemahls einer Kö¬
nigin, jedoch mit dem sehr bedeutenden Unterschiede, daß der Gemahl
einer Königin der Erste nach seiner Gattin ist, während der Herzog
der Letzte in der kaiserlichen Familie ist; ja fast weniger noch als
der Letzte, denn er wird eigentlich gar nicht als zur Familie
gehörig betrachtet. Nun berücksichtige man einerseits den Charak¬
ter der Großfürstin Olga, die ihrem Vater in allen Beziehun¬
gen gleicht, wie ein Tropfen Wasser dem andern; und denke
sich ihn, dem Kaiser und allen Gliedern der kaiserlichen Familie ge¬
genüber, diesen jungen Mann, erzogen in München, in dem zwar
auf seine Abstammung von den Wittelsbachern sehr stolzen, aber
sonst guten, einfachen und in seinem Benehmen sehr eingezogenen


[]

und bescheidenen bairischen Fürstenhause; man stelle auf die eine
Seite den Sohn Ellgen Beauharnais', deS NicekvnigS von Italien,
der stolz und voll Empfindung für den Ruhm seines erlauchten
Vaters ist, und auf der anderen Seite denke man sich das russische
Kaiserhaus und dessen Gefühl für seine priesterliche und politische
Größe Und man wird die Stellung jedenfalls sehr delicat finden.


Note: » » H

[]

Philipp II. und Granvella
(voll
E. E. v. Gerlache.)



Mail kann gewisse historische Stoffe, gewisse Epochen und Pe¬
rioden der Völkerentwickelung nicht oft genug beleuchten und durch
öffentliche Darstellung zum Gemeingut Aller machen. Es sind dieß
jene Zeiten, wo Völker für große, belebende Ideen der Religion oder
Politik sich erhoben und gewaltige Kämpfe durchstritten, Zeiten, deren
Fußtritt durch die Geschichte weithin leuchtet, und in deren tief nach¬
haltigen Gleisen die Nachwelt einhertritt. Unter diesen sind uns
Deutschen, — abgesehen von den letzten fünfzig Jahren — wenige
so vertraut als jener Zeitraum, da die vereinigten niederländischen
Provinzen gegen Spanien ihre religiöse und nationale Unabhängig¬
keit verfochten und sie nach fast achtzigjährigem Kampfe dem Coloß
der beiden Welten abrangen. Egmont, Don Carlos, der Abfall der
Niederlande, — sind gelesene und immer wieder gelesene Lieblings¬
bücher unsrer Nation und haben uns mit den Hauptfiguren jener
Epoche bekannt und vertraut gemacht. In neuerer Zeit, seit Belgien
durch eine Schilderhebung zur rechten Zeit Holland zur Entsagung
und die Großmächte zur Duldung vermocht hat, und sich eine lang
ersehnte Nationalität ertrotzte, ist man natürlich oft vergleichend auf
jene Zeiten zurückgekommen, deren Resultat ein nah-verwmidteö war,
die Trennung der katholischen und protestantischen Provinzen von
einander. Wir theilen in den folgenden Blättern aus einem der


[]

bedeutendsten Geschichtswerke der allerneuesten Zeit^) eine Charakte¬
ristik Philipps II. und seines vorzüglichsten Ministers in den Nie¬
derlanden, Anton Perrcnot's von Granvella den Lesern mit, weil
der Verfasser die schwierige Rolle eines Vertheidigers übernommen
und den König, den die deutsche Poesie einstimmig mit der Geschichts¬
schreibung mit schwarzen Schatten gezeichnet hat, in ein besseres
Licht zu bringen sich bemüht. Daß wir für die Gesinnung, welche
sich in diesen Aeußerungen kundgiebt, jede Complicität ablehnen,
brauchen wir wohl kaum zu sagen; nur wollen wir kurz den Stand¬
punkt andeuten, von dem aus wir diese Mittheilung gewürdigt zu
sehen wünschen. Wir sind nämlich der Ansicht, daß historische Dar¬
stellungen, selbst wenn sie so offenbar von dem Standpunkte einer
Partei aus geschrieben sind, wie es hier der Fall ist, doch von mehr¬
fachem Nutzen sind. Der unbefangene, unparteiische Geschichtsforscher
wird sie mit andern, von entgegengesetzten Ansichten ausgehenden
Darstellungen vergleichen und hierdurch fordernde Elemente zur Fest¬
stellung und zur Beurtheilung vieldeutiger Thatsachen gewinnen.
Für die Gegenwart erwächst aus solchen Werken ein doppelter Vor¬
theil. Die Kämpfer auf politischem und religiösem Gebiete erhalten
durch sie stets neue Waffen gegen ihre Gegner; denn alle Geschichts¬
epochen bieten ja Analogien und Aehnlichkeiten unter einander dar.
Die Zuschauer endlich, die außerhalb der Parteien oder unter ihnen



Note: Anm. d. Red.

[]

stehen, gewinnen in solchen geschichtlichen Werken ein sehr sicheres
Moment zur Charakterisierung und Beurtheilung der Richtung, wel¬
cher der Historiker angehört; denn die entfernte Geschichtsepoche
wird zum Medium, durch welches hindurch die Gesinnungen der
Parteien sich deutlich und klar abspiegeln zu einem Bilde, das nicht
getrübt ist von der Hitze des TageökampfeS, noch falsch gefärbt durch
künstlich Angeeignetes, womit die Parteien in den Streitigkeiten der
Gegenwart häufig ihre Kräfte zu verstärken suchen.



I.
Philipp it.


„Wenn man in den meisten belgischen Schriftstellern die Ge¬
schichte der Umwälzungen des 16. Jahrhunderts liest, meint man
protestantische und holländische Schriftsteller zu hören. Alle Lobes¬
erhebungen sind für die Insurgenten; sie allein haben die Rechte
deö Volks und seine Freiheiten vertheidigt. Nur deö Fürsten von
Nassau erhabene Vaterlandsliebe und Uneigennützigkeit sind bewund-
rungswerth. Die Bilderstürmer, selbst die Gueusen haben bei uns
Lobredner, Geschichtschreiber, Dichter und Romanschreiber gefunden.
Man betrachtet als eine schmachvolle Feigheit den Vertrag, durch
welchen endlich ein Theil der Niederlande wieder unter die Herr¬
schaft eines katholischen Königs kam, und doch würde es ohne die¬
sen Vertrag seit der Reformation kein Belgien mehr geben. Diejeni¬
gen unsrer Schriftsteller, welche diese Meinungen nicht theilen, haben
es nicht gewagt, ihnen offen zu widersprechen, aus Furcht, als
Helfershelfer d er Inquisition und des Despotismus
behandelt zu werden; denn heutzutage übt die unduldsame Presse,
die voll unwissender Vorurtheile ist, einen Einfluß aus, gegen den
sich zu erheben, nur sehr wenig Männer Muth genug besitzen. So
hat diese einseitige Darstellung drei Jahrhunderte hindurch bis auf
unsere Zeit herab sich fortpflanzen und behaupten können."


„Was mir den Muth verleiht, einige Betrachtungen über diese
so wichtige Epoche unsrer Geschichte hier niederzulegen, das sind die
neuen bei uns und im Auslande hierüber veröffentlichten Werke ;


[]

das sind die Original-Urkunden, die ich selbst in unsren Archiven
habe zu Rathe ziehen können, und mit deren Hülfe ich mich im
Stande glaube, viele irrige Behauptungen unserer Geschichtschreiber
zu berichtigen; das ist endlich die Größe der Ereignisse und Personen
die allein hinreichend wäre, die Aufmerksamkeit zu fesseln. In
der That, welche Namen! Granvella, Egmont, Wilhelm der Schweig,
same, Philipp II. und der schreckliche Herzog Alba! Wenn man
nun in dem Folgenden finden wird, daß ich gegen die aus alter
Ueberlieferung herrührenden, mit abergläubischer Scheu beibehaltenen
Meinungen vieler Leser anstoße, welche gern ganz fertige, ab¬
geschlossene Urtheile haben, so erwiedre ich, daß die Geschichte
nicht eine Art voraus abgemachter Form ist, vor welcher alle Be¬
weise des Gegentheils vergebens sind, wie es oberflächliche oder von
Leidenschaft verblendete Geister anzunehmen pflegen, sondern daß sie
eine Schule der Wissenschaft und strengen Wahrheit ist."


„Es ist bekannt, daß Philipp II. sich nie die Zuneigung der
Belgier gewonnen und sich auch nicht sehr darum bestrebt hat.
Man kann diesem König eine gewisse Geschicklichkeit und große Ge¬
wandtheit für die Geschäfte und einen starken Kopf, der die ver¬
schiedenen Theile seines weiten Reiches in ihrer Gesammtheit um¬
faßte, nicht streitig machen; aber in allem übrigen war er das
Gegenstück seines Vaters: kalt, zurückhaltend, hochmüthig, sich inner¬
halb der engen Gränzen der Etikette beschränkend, sich spanisch klei¬
dend, nur spanisch sprechend, stets, selbst in den Niederlanden, von
Spaniern umgeben. Die Belgier, gewöhnt mit ihren Fürsten ver¬
traulich umzugehen, glaubten sich von diesem verachtet») Karl V.,



9
[]

überzeugt, daß Nichts die Gegenwart des Herrn, „illa«, «nil ,x'»t»in
Il.tuot. »culos," deö hundertängigen Argus, ersetzen könne, war von
einer bewunderungswürdigen Thätigkeit; Philipp I >. dagegen wollte
Alles aus seinem Cabinete heraus lenken. Als er Belgien erst ein¬
mal verlassen hatte, sah mau ihn nie mehr in diesem Lande. Und
da er so diese Provinzen nicht kannte, so täuschte er sich über die
Mittel, sie zu regieren und in Ruhe zu halten. Aber man schildert
Philipp gemeiniglich als einen rachsüchtigen, unerbittlichen, aus
Charakter und Grundsatz unbeugsamen Despoten; und doch war
der Beginn seiner Negierung von zu großer Strenge so weit ent¬
fernt, daß im Gegentheil mehrere seiner Handlungen den harten
Tadel einer unzeitigen Nachgiebigkeit vollkommen verdienen. So
war eS ein erster Fehler, daß er seine Armee zurückberief, ohne sie
durch eine Macht zu ersetzen, welche hingereicht hätte, die Ruhe deö
Landes zu verbürgen, während der Protestantismus anwuchs und
von Tage zu Tage drohender ward. Es war ein zweiter, nicht
minder arger Fehler, daß er in Granvella'S Rücktritt aus dem
Staatsdienste willigte und den Schreiereien der Neider und Feinde
dieses Mannes nachgab, denen er lästig war, weil ihnen seine Ge¬
genwart imponirte. Diese beiden Fehler zogen als nothwendige
Folge einen dritten, noch gewichtigeren nach sich, der Alles verdarb,
nämlich die Sendung deS Herzogs von Alba in die Niederlande."


„Um die Politik Philipp's U. richtig zu würdigen, muß man
einen Blick auf den Zustand Europas um diese Zeit werfen. Der
Protestantismus hatte in einem großen Theile Deutschlands, Eng- »
lands und Frankreichs das Uebergewicht; von allen Seiten her de¬



Note: Anm. d. Bars.

[]

drohte er Belgien. Philipp konnte unmöglich so rasch die lebendi¬
gen Lehren der Geschichte und die Ueberlieferungen seiner Familie
vergessen. Und die Ehrfurcht, die er dem Andenken feines Vaters
gewidmet, verdoppelte noch den Haß, den er von Natur gegen die
Ketzerei hegte. Er konnte nicht vergessen, daß sich Karl's V. Leben
elendiglich in Bürgerkriegen mit seinen des Protestantismus halber
empörten Unterthanen verzehrt und daß er in diesen kleinen Strei¬
tigkeiten die Kräfte seines weiten Reiches und seines mächtigen
Geistes abgenutzt hatte; er konnte nicht vergessen, daß selbst seines
Vaters Ruhm fast daran zu Grunde gegangen wäre; daß um ein
Geringes der Sieger von Pavia, Tunis, Mühlberg, freilich durch
Krankheit auf ein Schmerzensbett gefesselt, in Folge eines infamen
Hinterhaltes als Gefangener Moritz von Sachsen in die Hände ge¬
fallen wäre, den er mit Wohlthaten überhäuft und auf den er in
Bezug der Ausführung seiner kriegerischen Pläne sich verlassen hatte.
Philipp erinnerte sich an alle Bündnisse der Protestanten Frankreichs
und Deutschlands und kam zu dem Schlüsse, daß kein Vertrag mit
der heuchlerischen, rebellischen, eidbrüchigen Ketzerei möglich sei und
daß man sie erdrücken müsse, wenn man nicht von ihr erdrückt wer¬
den wolle. Wenn Philipp tolerant gewesen wäre nach Art der
Philosophen unseres Jahrhunderts, welche behaupten, man müsse
einem Jeden dle Freiheit lassen, Gott aus seine Weise oder auch
gar nicht anzubeten; wenn er so gehandelt hätte gegenüber der glü¬
henden BekehrungSfucht der Sectirer, welche ihre Lehren durch Wort
und Schwert verbreiteten; — so wäre der Katholicismus aus seinen
Staaten für immer verschwunden! Philipp war der geborene Ver¬
theidiger der Religion, eben so sehr aus Interesse als aus Ueber¬
zeugung. Indem die Reformation die Einheit der Kirche zerstörte
und das Princip der Autorität in Glaubensangelegenheiten angriff,
traf sie das Christenthum er'ö Herz und durch Anwendung derselben
Regeln auf die bürgerliche Gesellschaft strebte sie nach einer vollstän¬
digen Umwälzung dieser letzteren."


„AIS die Reformation in die Niederlande eindrang, erzeigte
sie daselbst fast ganz dieselben Ercesse, die in einzelnen Theilen
Deutschlands durch Carlstadt, Storck und Münzer erregt wurden.
Man hat gewöhnlich behauptet/ Philipp habe von Anfang an die
Privilegien der Belgier unterdrücken wollen und dieser Plan habe


9-i-
[]

seine ganze Politik beherrscht. Im Gegentheil aber mußte es seine
größte Sorgen sein, seine eigenen Staaten zu beruhigen und alle Keime
der Zwietracht mit der Wurzel zu vertilgen, nicht aber neue hinein¬
zuwerfen. Zu einer Zeit nun, wo Glaubenssachen auf das Volk
einen so ungeheuren Einfluß hatten, war unstreitig eine Religions¬
verschiedenheit eine Hauptursache aller Unruhen. Ich glaube daher,
daß die Idee, unsre Nationalfreihciten durch Gewalt zu vernichten,
wenn Philipp überhaupt jemals hieran gedacht hat, ihm erst spater
und in Folge des Widerstandes kam, den die Insurgenten der Aus¬
führung seiner Pläne gegen die Ketzer entgegensetzten. Karl V.
hatte sehr strenge Edikte zur Unterdrückung des Protestantismus in
den Niederlanden ergehen lassen; in Deutschland jedoch behandelte
der Kaiser, besonders Anfangs, Luther und die Reichsfürsten, die
dessen Meinung angenommen hatten, mit vieler Mäßigung, weil er
ihres Beistandes bedürfte, um den Türken Widerstand zu leisten.
Philipp's Charakter aber ließ eine solche Mäßigung nicht zu. Ohne
Zaudern machte er sich zum Vertheidiger des von den meisten andern
Fürsten verfolgten oder verlassenen Katholicismus. Er war so über¬
zeugt und begeistert von dieser Sendung, daß, wie fein Biograph
Leti erzählt, da er sich einst in Todesgefahr befand und die Aerzte
seiner außerordentlichen Schwäche halber nicht wagten, ihm zur
Ader zu lassen, er ihnen sagte: „Laßt kühn zur Ader; fürchtet
Nichts; die Lage der Kirche erlaubt mir nicht zu sterben, weder an
dieser Krankheit noch an diesem Aderlaß." .... Wenn Philipp
dem Beispiel Heinrichs VIII. in England gefolgt wäre, so war
ganz Europa protestantisch. Und sicher, wenn er lediglich die Ver¬
größerung seiner Macht im Sinne gehabt hätte, so mußte er Dieses
Beispiel annehmen; denn kein Fürst hat den Despotismus so weit
getrieben, als Heinrich, der zugleich der Pabst und der Alleinherr¬
scher Englands war. . . . Philipp verfolgte die Ketzerei, so weit
sein Arm sie nur zu erreichen vermochte. Es war nicht seine Schuld,
wenn er sie nicht in Uebereinstimmung mit seiner Gemahlin, der
Königin Maria, auch in England vernichtete. Er unterstützte der
Ligue, welche den Katholicismus in Frankreich vertheidigte, und ließ
Heinrich IV. kein andres Mittel, diese zu zerstören, als Abschwö¬
rung des Calvinismus. Bet solchen Grundsätzen kann man wohl
glauben, daß er nicht sehr geneigt war, die Reformation in seinen


[]

eigenen Staaten zu ertragen; und doch wollte er zuerst mit den
gelindesten Heilmitteln es versuchen."


„Mehrere unserer belgischen Schriftsteller schildern Philipp Is.
als einen Tyrannen, der sich mit Wollust in Menschenblut badete,
als einen Fürsten, der nur Schaffst und Scheiterhaufen träumte.
Wir wollen diesen einen Geschichtschreiber entgegenstellen, den man
der Parteilichkeit für Philipp II. gewiß nicht beschuldigen wird.
Es ist dieß H. Groen van Prinsterer, Staatsrath in solian--
dischen Diensten, ein sehr eifriger und gläubiger Protestant und
der seinem Lande und dem Hause Nassau, dessen Lob er bet jeder
Gelegenheit singt, sehr ergeben ist. Man wird diesem Manne ge¬
wiß nicht den Vorwurf machen, daß er Philipp II., dem größten
Feinde seines Landes und des nassauischen Hauses schmeichelt. Hören
wir nun seine Worte in seinem Werke, Correspondenz des
Hauses Oranien-Nassau: „Philipp war nicht in allen Be¬
ziehungen unlenksam und hart; ja man findet sogar in seinem
„Benehmen zuweilen Beweise von Mäßigung. Seine Antwort auf
„einen Brief Wilhelm's von Oranien vom 14. März 1563, in
„welcher er (bei Gelegenheit der Angebereien gegen Granvella) sagt:
,,„Es ist nicht meine Gewohnheit, einem meiner Diener
„ohne Ursache nahe zu treten,"" trägt keine Spur von Bitter¬
keit an sich. Er entließ den Cardinal Granvella; er nahm den
„Grafen Egmont gut auf; und obgleich manche seiner Protestatio-
„nen ohne Zweifel nicht sehr aufrichtig waren, so ist man darum
„noch nicht berechtigt, überall Falschheit anzunehmen. Viele Aus¬
drücke in den Briefen von HopperuS scheinen anzuzeigen, daß der
„König zur Milde geneigt war, und Philipp selbst schreibt 1567 an
„den Kaiser Maximilian: er beharre noch immer in den Ge¬
fühlen der Sanftmuth und des Wohlwollens, die der
„Kaiser an ihm kenne. Er ist mit Tiber und Nero ver¬
glichen worden; er ist der Dämon des Südens beigenannt
„worden; aber alle diese Epitheta bezeichnen Nichts und sind
„ungerecht."


„Hören wir nun andre zeitgenössische Stimmen. DaS Kapitel
„des goldnen Vließes lobte ihn, „daß er sei barmherzig, leut¬
selig, großmüthig, demüthig, freigebig und sehr gerechtigkettslie-
„heut." Der Fürst von Oranien selbst nannte ihn (vor selner Ein-


[]

„young): „einen sa n se e n und von Natur gutmüthigen Fürsten."
„Lanoue, ein eifriger Calvinist, versichert, daß Se. katholische Maje¬
stät „begabt war mit einer großen Sanftmuth und täglich Ve¬
rweise davon ablegte." Man vergleiche nun alle diese Lobeserhe¬
bungen mit den fürchterlichen Anklagen, die der Fürst von Oranien
in seiner Apologie gegen Philipp erhebt und dann frage man
sich, wo die Wahrheit ist? Denn es ist durch Thatsachen erwiesen,
daß er sehr häufig Beweise von Seelengröße, selbst von Menschlich¬
keit gab. Ich will hier einige ohne alle Auswahl anführen. Die
junge Elisabeth von England, die sich später als seine Todfeindin
zeigte, wäre als Opfer des Mißtrauens der Königin Maria gefallen,
wäre nicht die gewichtige Dazwischenkunft Philipps II. gewesen,
der bei seiner Gemahlin sich ihre Gnade ausbat. Bei der Einnahme
von Se. Quentin that er Alles, was in seinen Kräften stand, um
den Einwohnern die Gräuel einer Plünderung zu ersparen, eine Art
von Mäßigung, die zu jener Zeit überaus selten war. Aus seiner
Korrespondenz mit Margarethe von Parma, der Regentin der Nie¬
derlande, ersieht man, daß er Noircarmes, dem Gouverneur des
Hennegau, nicht erlauben wollte, Valenciennes gewaltsam zu erobern,
obgleich es voll protestantischer Rebellen war, weil er die Folgen
eines Sturmes fürchtete, unter welchen die Unschuldigen und Schul¬
digen in gleichem Maße leiden könnten. Zwar wurde Valenciennes
doch erstürmt, aber in Folge ausdrücklicher Befehle deö Königs
fanden weder Niedermctzlungen noch Plünderungen, noch irgend
Beleidigungen gegen die Besiegten Statt."


„Leti, der das Leben dieses Fürsten im Allgemeinen mit sehr
„vieler Strenge beschrieben hat, entwirft folgendes Gemälde von
„seiner Regierung, das mit dem heutigen konstitutionellen Spanien
„zu vergleichen wohl von nicht geringem Interesse wäre. „Mitten
„unter den Kriegen, welche die Christenheit zerfleischten, waren es
„Spanien und die Besitzungen des katholischen Königs allein, die
„durch die Sorgfalt und den Muth dieses Monarchen eines tiefen
„Friedens genossen. Es herrschte daselbst eine so große Sicherheit,
„daß man nicht bloß am hellen Mittag, sondern auch um Mitter¬
nacht eine Börse in offener Hand tragen konnte, ohne die Räuber
„zu fürchten. Die andern Nationen, weit entfernt, sich eines ähn¬
lichen Glückes rühmen zu können, befanden sich in einem unsäglich


[]

„trostlosen Zustande, in altem Elend und Gräuel des Krieges.
„Griechenland, die Tartarei, Ungarn, Böhmen, Siebenbürgen, Polen,
„Deutschland, Frankreich, Holland, Seeland, Schottland und mehrere
„Theile Italiens befanden sich in diesem jammervollen Zustande. ...
„Die von ihren Herrn mißhandelten Bedienten, die von ihren
„Gutsherrn unterdrückten Vasallen, die unglücklichen Schlachtopfer
„der Tyrannei der Mächtigen, die Gläubiger, denen man ihre
„Schulden nicht bezahlen wollte, — alle fanden eine sichere Stütze
„an Seiner Majestät in Person, in seinem Rath, in seiner Kanzlei
„und in seinen Gerichtshöfen. Wußte er, daß ein Grand von
„Spanien der Schuldner eines Handwerkers sei, so schickte er, —
„und das ist ein Beweis seiner Gerechtigkeiöliebe—ohne des Gläu¬
bigers Rang und Würde in Betracht zu ziehen, ohne Murren zu
„befürchten, einen seiner Officiere, um die in Rede stehende Summe
„zu holen, mochte es sich auch nur um eine Schuld von 4—5 Thalern
„handeln 5). Die Granden von Spanien und die Adligen von der
„höchsten Abkunft waren dermaßen unterworfen, daß sie einander
„die Ehre streitig machten, einen Häscher gut zu behandeln, der
„von Seiten der Gerechtigkeit kam, um irgend einen Auftrag zu
„vollziehen. ...... Ost ereignete es sich, daß ein armer Geist--
„licher, der gelehrt und fromm, aber unbekannt, tief versteckt im
„Innern einer Provinz lebte, fern von der Welt und dem Hofe,
„plötzlich die Nachricht seiner Ernennung zu einem Canonicat, einer
„Prälatur, einem Bisthum erhielt, ohne daß er errathen konnte,
„woher ihm dies Glück kam. Aber sein für jeden Andern verbor¬
genes Verdienst war den forschenden Blicken Philipp'S nicht ent¬
gangen und seine Erhöhung war nur ein Beweis mehr von der
„strengen und umsichtigen Verwaltung deö Königs." . . . .


„Eine tiefe Weisheit leitete alle seine Handlungen und sie war
„der unermeßliche Schatz, in dein er fortwährend Hülfsmittel fand,
„um während so langer Zeit, als er herrschte, Spanien, Indien,



Note: Anm. d. Berf.

[]

„Italien und die Niederlande mit stets gleicher Gemüthsruhe zu re¬
agieren. Obgleich in seinem Palaste in Madrid eingeschlossen, ort-
„rede er doch alle Angelegenheiten zu Lande und zur See, in Krieg
„und Frieden, ja man kann sogar sagen, in der ganzen Welt, denn
es gab keinen Herrscher, der nicht entweder sein Verbündeter oder
„sein Feind war. Er widmete seine Sorgfalt der Leitung so
„vieler verschiedenen Königreiche, ohne daß die ungeheure Entfernung
„der Orte auch nur die geringste Unregelmäßigkeit, die mindeste
„Störung in seinen Berathungen verursachte, ohne daß ihn die von
„den Verhandlungen und dem ganzen Getriebe der Politik unzer¬
trennlichen Schwierigkeiten und Hemmnisse in irgend einer Art be¬
unruhigten. Die Menge der Unternehmungen, die er leitete,
„schwachem sein Gedächtniß nie; niemals schien er von diesem Chaos
„von Geschäften ermüdet oder angeekelt: er hatte von allen seinen
„Angelegenheiten eine jede in's Besondre, aus eine so genaue, so
„streng geschiedene Weise inne, daß er die Einzelheiten derselben ent-
„wickelte, als hätte er nur diese eine im Kopfe gehabt."


„So weit Leti, dem wir jedoch, wenn er auch im Ganzen
vollkommen Recht hat, in so weit widersprechen müssen, als wir
der Meinung sind, daß, so groß auch Philipp'S Genie gewesen sein
mag, doch sein Widerwillen, sein Cabinet zu verlassen und die Art
von Abscheu, die er gegen alle körperliche Bewegung hatte, so wie
seine Abneigung gegen Reisen, viel dazu beigetragen haben, seine
Geschäfte zu verwickeln, und daß der letztere Umstand besonders in den
Niederlanden ihm verderblich war, indem durch diese Abwesenheit
hauptsächlich der Verlust eines Theils derselben herbeigeführt
wurde."


„Philipp, der Sieger von Gravelines und Se. Quentin, der
Beschützer der Ligue, ist von französischen, katholischen Geschicht¬
schreibern sehr schlecht behandelt worden; man sehe unter andern
den Fortsetzer von Fleury'ö Kirchengeschichte und man wird erstau¬
nen, alle abgeschmackten Verleumdungen seiner Feinde da wiederholt
zu finden."


„Und doch steht es fest," sagt Ferreras in seiner allgemeinen
„Geschichte Spaniens, „daß Philipp in die katholische Ligue nur
„aus wahrem Eifer für die katholische Religion eintrat, um zu ver¬
hindern, daß die Krone Frankreichs einem Kehersürsten anheimfalle,


[]

„und aus Furcht, es möchte mit diesem Königreiche gehen wie mit
„England, Dänemark und Schweden, in welchen Ländern nach dem
„Beispiel der Herrscher auch die Völker die katholische Religion
„abgeschworen hatten. Daher muß ihm das katholische Frankreich
„für die Truppen und das Geld, welches er zur Unterstützung der
„Ligue verwandt, großen Dank wissen, weil ohne ihn König
„Heinrich IV. vielleicht nie in den Schooß der römischen Kirche
„gekommen wäre..... Jedoch kann man nicht umhin, einzuge--
„stehen, daß er in der Folge den Eifer, mit dem er sich für die
„Ligue erklärt, verdunkelt hat, indem er sich zu sehr bestrebte, seiner
„Tochter Elisabeth Clara Eugenie die Krone Frankreichs auf's
„Haupt zu setzen, entweder durch Geltendmachung des eingebildeten
„Rechts der Mutter dieser Prinzessin oder durch ihre Vermählung
„mit dem Prinzen, der bestimmt war, dereinst diese Krone zu
„tragen." ....


„Wer weiß nicht," sagt der Bischof von Namur, Jakob Bla-
sens in seiner am letzten Tage des JahreS 1598 in der Se. Gudula-
Kirche zu Brüssel gehaltenen Leichenpredigt auf Philipp
II. — „Wer weiß eS nicht, daß die allerchristlichsten Könige von
Frankreich schon lange den ruchlosen, vatermörderischen Waffen ihrer
rebellischen hugenottischen Unterthanen erlegen wären, wenn nicht
dieser Monarch ihnen zu Hilfe gekommen wäre, ohne hierin etwas
zu sparen? Es bezeugen dies die Tage von Dreur, von Se. Denis,
von Moncontour, die Belagerung von Castel-Hvrauld, um Poitiers
zu entsetzen! Zeugen sind dessen die erlauchten Herren Grasen von




Note: Anm. d. Red.

[]

Arenberg, von Mansfeld uno so viele andere Edelleute, Haupt-
leute uno Soldaten, sowohl aus diesen Provinzen, als aus Spa¬
nien, welche alle von dem allerkalholischsten König dem allerchrist-
lichsten, von den Waffen und Gewaltthaten der Ketzer fast erdrückten
Königreich zu Hilfe gesandt wurden! Und weshalb hat er dies
gethan? Wollte er etwa König von Frankreich werden und sich
einen fremden Staat aneignen, wie dies eben so unverschämter als
unsinniger Weise verleumderisch von denen behauptet wird, die
nichts zu thun wissen, als zu lügen und zu verleumden? Wahrlich
nicht deshalb, that er es; denn König Karl IX. lebte ja noch und die
Königin Maria war hoffnungsreich an Kindern und Erben; es
lebten noch zwei Brüder des Königs, jung und gesund, die Herzoge
von Anjou und Alm«.wu. Weshalb denn also hat er eS gethan?
Weil er als ein durchaus christlicher Fürst nie den Streit Jesu
Christi verlassen wollte, wo eS auch immer war; weil er als der
allerkathvlischste König der katholischen Kirche helfen und sie aufrecht
erhalten und unterstützen wollte, wo sie auch immer von ihren Fein¬
den angegriffen und bedrängt wurde. Und weil er dem überaus
religiösen Hause Oesterreich entsprossen war, wollte er von der Fröm¬
migkeit und dem glühenden Eifer seiner erlauchten Ahnen nicht
nachlassen. Und weil er ein weiser Fürst war, sah er sehr wohl
ein, daß es kein verderblicheres Gift, keine tätlichere Pest und nichts
vor Gott Abscheulicheres und dem Staate Verderblicheres giebt, als
die Ketzerei . .


„Und wo sind die Satzungen und Constitutionen der Kirche,
besonders des Heiligen-Concils von Trident, besser gehalten und
beobachtet worden, als in den Königreichen, Ländern und Pro¬
vinzen dieses Monarchen? Und mit welcher Unterwürfigkeit, De¬
muth und Frömmigkeit, mit welchem Eifer und Fleiß hat er. die
Wiederaussöhnung deS Königreichs England mit dem heiligen Stuhl
bewerkstelligt, sobald er durch Heirath König daselbst geworden? —
Und damit nicht zufrieden, hat er Bischöfe, Priester und Mönche
verschiedener Orden nach Indien, Mexico, Florida, Peru und anders¬
wohin gesandt und hat daselbst viele Kirchen, Klöster, Collegien der
Väter der Gesellschaft Jesu, so wie Schulen begründet und sie er¬
bauen lassen, damit in diesen Gegenden unsere heilige Religion um
so besser und ausgebreiteter sich fortpflanze und die Kenntniß und


[]

Anbetung Gottes zum Heil ihrer Bewohner sich verbreite . . . Und
er zuerst hat bei unserem heiligen Vater, dem Pabst, die Errichtung
und Einsetzung 13 neuer Bisthümer und dreier Erzbisthümer in
unseren Provinzen zu Wege gebracht, und er hat darum nachge¬
sucht, daß diese Bischofssitze an wachsame Hirten und an Personen
verliehen würden, die in der Gelehrsamkeit sich auszeichneten und ein
Muster religiösen Lebenswandels wären. . . . Und damit noch nicht
zufrieden, hat er den Eifer unserer Ahnen nachgeahmt, die den Apo¬
stelzeiten näher standen, und hat gleich diesen Schulen errichtet und
begründet, um die Schüler darin das Christenthum und auch an¬
dere Wissenschaften zu lehren, und ihnen so Waffen gegen die Feinde
des Glaubens, sowohl Ungläubige, als Ketzer, in die Hände zu ge¬
ben. ... So hat König Philipp II. die Universität Donay gegrün¬
det: er hat ein großes und edles Collegium in seinem eigenen Hause
in besagter Stadt eingerichtet; sodann hat er errichtet und begründet
mehrere Seminarien sowohl an dieser Universität, als auch an der von
Löwen, und in Spanien, in Valladolid, und in Se. Omer in Artois
für die armen ausgewanderten katholischen Engländer.... Und wenn
David mehrere Psalmen und Gesänge verfaßt und geschrieben, so hat
ihn dieser Fürst nicht übel nachgeahmt, indem er uns nicht blos die
Psalmen, sondern die ganze heilige Schrift verschafft hat, gereinigt
von der Spreu der Irrthümer, welche der Teufel durch seine Diener
hineiugesäct hatte. Gleichermaßen hat er die Buchdruckerei reinigen
lassen, diese Säugamme der Wissenschaften und Künste, und darum
schätzte er so hoch diesen Meister der Buchdrucker unseres Zeitalters,
Plantin, dessen er sich bediente, um von Neuem erscheinen zu lassen
diese herrliche Complutcnsische oder Alcala'sche Bibel, ursprünglich
eine Erfindung des großen Cardinals Zunenes von Toledo, die aber
in unserer Zeit durch den Fleiß des großen Gelehrten Urias Mon-
tanus und anderer hochgelahrten Theologen, welche auf den Befehl
des Königs zu dieser Arbeit verwendet und berufen wurden, bedeu¬
tend verbessert und vermehrt worden ist. . . ."


„ES handelt sich heutzutage für die unparteiische Geschichts¬
forschung nicht darum, Philipp II. zu rechtfertigen, noch ihn anzukla¬
gen, sondern sein Benehmen nach den Thatsachen und Meinungen seines
Zeitalters zu erklären. Philipp hatte, als er das Scepter aus den
Händen seines Vaters übernahm, durch feierlichen Eid versprochen,


[]

die Religion gegen ihre Feinde zu vertheidigen. Als katholischer
König glaubte er, Gott für das Heil seiner Unterthanen verantwort¬
lich zu sein: die Sectirer waren in seinen Augen schlimmere Ver¬
brecher als Giftmischer und Mörder, weil sie die Seelen tödteten:
sein Mitleid ward nur zu Gunsten der Schlachtopfer, nicht der
Schuldigen rege und seine Strenge ward durch seine Frömmigkeit
selbst gereizt. Ich weiß wohl, daß diese Ideen mit den Grundsätzen
religiöser Duldung oder Gleichgiltigkeit, die jetzt herrschen, nicht
übereinstimmen; daß ein solcher König nach dem Urtheil derer,
welche die Freiheit und Unverletzlichkeit der Glaubensansichten pro-
clamiren, nur ein Verfolger und Tyrann sein kann; aber ich wie¬
derhole auch nochmals, daß in den Augen seiner Zeitgenossen,
welche die protestantische Jnsurrection und die aus derselben für
Religion und Staat erwachsenden Gefahren selbst mit ansahen,
Philipp keineswegs in diesem Lichte erschien."


„Jene Zeit konnte ihm den Vorwurf der Grausamkeit um so
weniger machen, da die Grausamkeit leider eins der unläugbaren
Charakterzeichen Mes unglücklichen Jahrhunderts war und alle Par¬
teien in Politik und Religion sich damit befleckten. Ich erinnere
nur an Calvin's Traktat über die von ihm mit einem schrecklichen
Raffinement von Grausamkeit veranstaltete Verbrennung des un¬
glücklichen Server, und an die abscheulichen Grausamkeiten, welche
die calvinistischen Generale Sonnoy und Lumep gegen arme hollän¬
dische Bauern, friedliche und harmlose Katholiken begingen. Selbst
die aufgeklärtesten Geister jener Zeit litten an diesem Uebel. So giebt
Granvella, der seinen persönlichen Feinden sehr leicht verzieh, dein
König Philipp den Rath, er solle auf Oranien's Kopf einen
Preis setzen, weil, wie er sagt, „man demjenigen, der gegen
leinen Fürsten das Schwert gezogen, weder Schonung noch Mitleid
schuldig ist."


„Nach dem Geiste dieser Zeit muß also auch Philipp II. und
seine Regierung beurtheilt werden; denn Niemand steht außer sei¬
ner Zeit."


[]

II.
Anton Perrenot von Granvella^).


„Anton Perrenot von Granvella ist einer jener Männer, welche
die Parteien so verschieden beurtheilt haben, daß man noch heute
über die Rolle nicht einig ist, die er in den Uneinigkeiten spielte,
welche unter seiner Verwaltung in Belgien ausbrachen und nachher
in offenen Krieg ausarteten. Von Jugend auf in der trefflichen
Schule Carl's V. gebildet, der hohe Fähigkeiten in ihm erkannte,
ging er in den Dienst Philipp's über, der, nachdem er ihn seiner¬
seits ebenfalls geprüft, ihm zuletzt das vollkommenste Vertrauen
schenkte. Er übertraf seinen Vater, einen der großen Staatsmänner
jener Zeit, an Talenten und Berühmtheit. In seiner Jugend wohnte
er den Reichstagen von Worms und Regensburg und dem Triden-
tinischen Concil (1543) bei, wo er mit vieler Energie und Politik
Franz I. schilderte, den unzertrennbaren Bundesgenossen der Prote¬
stanten und Türken, während die Christenheit ringsumher von Stür¬
men zerrüttet wurde; unter schwierigen Verhältnissen schloß er später
den Vertrag von Passau ab; mit großer Geschicklichkeit leitete er
von fern die Heirath Philipp's von Spanien mir der Erbin des
englischen Thrones; und er war es, der im Rainen seines neuen
Herrn Frankreich die Bedingungen des Vertrages von Chatecm-
Cambrvsis dictirte. Er war ein Mann von unersättlicher Thätig¬
kett und von solcher Körper- und Geisteskraft, daß er im Nothfalle
Tag und Nacht ununterbrochen arbeiten konnte, ohne Ruhe oder Speise
zu genießen: dies kam ihm übrigens mit Karl V. mehrere Male
zu, denn dieser brauchte Werkzeuge, die ihm selbst glichen. Er war
stets in Nachdenken begriffen oder mit Schreiben beschäftigt, wie dies
seine wunderbare Correspondenz beweist. Strada sagt, er habe eine



Note: Anm. d. Red.

[]

so gefügige Natur besessen, daß er mit einem spanischen Fürsten sich
ganz zum Spanier machte, und er sei von so durchdringendem Geist
gewesen, daß er alle Gedanken Philipp'S in Voraus errieth: er
habe sich aber um diesem auf seine Macht sehr eifersüchtigen Fürsten
seine Kraft zu verheimlichen, damit begnügt, ihm die Angelegenhei¬
ten darzustellen und von allen Seiten zu beleuchten, ohne daß er
daraus Schlüsse zu ziehen schien, so daß er sich scheinbar stets be¬
schränkte, die Entscheidungen des Herrn wie göttliche Inspirationen
anzunehmen und blindlings zu ergreifen, während sie in Wahrheit
von ihm herbeigeführt worden warm. Dasselbe Verfahren habe er
mit der Regentin Margaretha von Parma befolgt und so sei es ihm
gelungen, sich stets, selbst in den mehrfach schwierigen Lagen, in de¬
nen er sich befand, sich in der Gunst seiner Herrn zu erhalten. So
viel ist sicher, Granvella war ein Mann von außerordentlicher Ge-
schicklichkeit; sehr unterrichtet in allen Staatsangelegenheiten, beson¬
ders in den die Niederlande betreffenden: daher er auch nie in
Verlegenheit geriet!), sondern für Alles Aushilfe fand. Er besaß,
was man , damals Staatsgeheimnisse nannte. Was heut¬
zutage, unter der Herrschaft der Oeffentlichkeit, eine Art Unsinn
scheinen würde, war unter einer unbeschränkten Herrschaft, die so
viele verschiedene Nationen umfaßte und so complkirte Details ent¬
hielt, in der That ein großes Geheimniß. Seine Feinde sagten, er
sei ehrgeizig und habsüchtig und liebe den Lurus und die Vergnü¬
gungen mehr, als einem Priester zukomme. Sie warfen ihm ferner
vor, daß er sich zu anmaßend und zu stolz auf seine Macht zeige,
er, der Sohn eines Emporkömmlings, gegenüber dem hohen Adel
der Niederlande, der damals um so weniger geduldig war, je schlech¬
ter er behandelt wurde. Aber ohne behaupten zu wollen, daß Gran¬
vella ganz fehlerfrei war, kann man versichern, daß sein Hauptver¬
brechen darin bestand, daß er sich zu allen Zeilen und an allen Or¬
ten den Comploten der Feinde des Staats entgegenstemmte und
dieselben durch seine Wachsamkeit, seine Einsicht und seine Festigkeit
hinderte und schreckte."



„Granvella in seiner Zurückgezogenheit, wie, da er noch die
Macht in Händen hatte, machte von seinen ungeheuren Einkünften


[]

und seinem bedeutendem Einfluß nur den edelsten Gebrauch. Durch
reichliche Unterstützungen ermuthigte er Künstler, Gelehrte und
Schriftsteller. Der junge Justus Lipstus, dessen Talent er beim
Beginn seiner Laufbahn errathen, war seinSecretair: Sifried Petri
und Stephan Pighius waren seine Bibliothekare. Unter seiner Pro-
tection wurden in der Magistratur die berühmten Rechtsgelehrten
Pack und Damhoudere, und in den Nathsversammlungen des Kö¬
nigs zwei der ausgezeichnetsten Staatsmänner jener Zeit, Viglius
und HopperuS, erzogen. Granvella beschäftigte sich nicht allein mit
Politik und Literatur, sondern auch mit Astronomie, Physik, Arznei-
kunde und Naturwissenschaften. Sein ausgedehnter und feuriger
Geist umfaßte Alles. Er stand mir den berühmtesten Männern aller
Länder in Verbindung und viele derselben erhielten von ihm oder
durch seine Vermittlung Stellen, ehrenvolle Auszeichnungen und
Pensionen: man kann die Zahl derselben darnach messen, daß ihm,
wie man versichert, mehr als Jot) Werke dedicirt worden sind. Er
beschützte die Altl in Italien und Plantin, der Belgien eben so viel
Ehre machte, alö die Atti ihrem Lande. Gleich allen Männern
von großen Absichten arbeitete er für die Zukunft; er stiftete an vielen
Orten Museen, Gymnasien und öffentliche Bibliotheken."


„Niemand ist unter uns mehr verleumdet worden als Gran-
vella, und doch hat Niemand mehr als er sich bemüht, den Belgiern
schreckliches Trübsal zu ersparen. Sein Jahrhundert begriff ihn
nicht, weil er mitten unter den wüthendsten politischen Leidenschaften
lebte und gezwungen war, gegen sie zu kämpfen. Granvella hat
alle protestantischen und den größten Theil der ausländischen Schrift¬
steller gegen sich gehabt, weil er voll Eifer für die von allen Seiten
angegriffenen Interessen der Religion und seines Fürsten war. Und
doch war er weder fanatisch, noch grausam, eine seltene Erscheinung
zu jener Zeit. Aus Charakter sowohl als aus Politik zeigte er sich
als einen Gegner gewaltsamer Maßregeln und unter Andern: der
spanischen Inquisition. In der Angelegenheit des BajaniömuS legte
er einen Beweis seiner Sanft- und Langmuth ab, indem er sie ohne
Geräusch ersticken wollte. Obgleich er alle Pläne des Schweigsa¬
men, seines Todfeindes, durchdrungen und entlarvt hatte, wollte er
ihn doch nicht durchaus verderben; sondern er verlangte nur,
wie dies seine Korrespondenz mit Philipp beweist, daß man ihn


[]

aus dem Lande entferne, wäre es auch um den Preis eines Vice--
Königthums. Nicht den Belgiern also kommt es zu, ihre Stimmen
mit denen der Verkleinerer Grcmvella's zu verbinden. „Die Belgier
dürfen nie vergessen/' sagt der Präsident Neuy, „was sie den bei¬
den Perrenots verdanken; ihr Ministerium war ein goldenes Zeitalter
für diese Provinzen."


[]

T a g e b u eh.



i.
Brief aus Paris.


Note: Da» Testament de» Herzogs von Orleans. — Die Wahlen. — Zwölf Stimmen
und zwölf Stamme. — Guizot'S goldcnstrahlcnde Sonne. — Jeremias auf den
Trümmern von Paris. — Ein Supplement zu Aristophanes' Fröschen. — Ein
moderner Achill, aber mit unvcrwnndendcr Zuna,e. — Ccrflieer und Meyerbeer.—
Ker<I)!»!ri eupil». — Heinrich von EichcnfelS und der Graf von Pari». —
ZuknnstS-Politik der französischen Juden. — Cremicnr und seine Damascenerklinge.
— Geistreiche BcrtheidiguugSmcthodc, nicht ->d iullixuato, sondern ub iuäiAu».

Der Herzog von Orleans hat Frankreich ein reiches Testament zurückge¬
lassen. Zwar werden Sie in den französischen Journalen vergebens die einzel¬
nen Punkte desselben suchen; denn die Franzosen haben es nicht verstanden:
wir Deutschen aber verstehen es. „Nur ein Mal raffte sich der Herzog aus
seiner Agonie auf," — werden Sie in allen Berichten über seinen Tod fin¬
den — „er schien sprechen zu wollen, verfiel aber sogleich in ein Delirium und
stammelte einige deutsche Worte- „macht die Thür zu, es ist draußen Feuer." *)
Die letzten Worte des französischen Thronerben waren deutsch: der ahnende
Geist der Geschichte gab hier einen wunderbaren Fingerzeig für die Zukunft.
Welche Ereignisse, welche ungeheuere Weltveränderung der Tod des ältesten
Sohnes Louis Philipp's herbeiführen kann, weiß Jedermann. Wird Frank¬
reich seine letzten Worte sich zu Herzen nehmen? Da draußen steht der junge
Herzog von Bordeaux, umgeben von seinen Partisanen, die triumphirende und
hoffende Blicke mit den Legitimisten wechseln; Rußland sucht einen neuen



10
[]

Schwiegersohn — wird Frankreich an den schwachen Wurzeln der Julidynastie
rütteln? Macht die Thüre zu, es ist draußen Feuer. Und Euch vor Allen,
ihr Republikaner, mit den kriegerischen Gedanken, mit den rheinlustigen
Ideen, Euch vor Allen sollte dieser Ruf zu Herzen gehen. Bewacht die Frei¬
heit Frankreichs im Innern Eures Vaterlandes, umringt seinen heiligen Heerd
als eine kräftige Schaar und die Völker Europa's werden es Euch Dank wis¬
sen; aber reißt nicht mit übermüthigen Händen die Thüren Frankreichs auf;
denn es ist draußen Feuer."


Ich habe mir vorgenommen, so wenig als möglich die Politik in meinen
Briefen an Sie zu berühren; allein „wessen das Herz voll ist, dessen geht der
Mund über," sagt ein deutsches Sprichwort. Mögen Andere Ihnen über die
neuen Stücke für die Boulevardtheater, über die langweilig-klassischen Reden
in der Akademie, über Eugöne Sue's neueste Romane berichten; ich meiner¬
seits gehöre nicht zu den großen Geistern, welche ruhig die Mährchen der tau¬
send und einen Nacht lesen, während der Brand die Stadt verheert; ich besitze
nicht den Geist des Archimedes, der, während der Feind in der Nähe mit
Feuer und Schwert wüthet, sich ruhig seinen Cirkeln überläßt. Das Resultat
der französischen Wahlen ist doch etwas wichtiger für die Ereignisse der Zu¬
kunft, als das Resultat der Badischen Kammerwahlen. Mit aller Hochachtung
vor Itzstein: der silberne Ehrenbecher, den man ihm überreicht hat, wird kein
so bitteres Getränke für die Regierung enthalten, als die Urne, aus welcher
der Stimmzettel gezogen wurde, der die Herren Marie und Earnot, zwei ent¬
schiedene Republikaner, zu Repräsentanten von Frankreich macht. Man täusche sich
nicht: die zwölf Oppositionsmitglieder, welche die Stadt Paris wählte, sind eine
furchtbare Besatzung für die Festungemauern, welche Louis Philipp bauen läßt:
und wenn einst die Mauern von Jericho vor dem Tone der Hörner, welche die
zwölf Stämme von außen ertönen ließen, niederstürzten, so könnte hier leicht
der Fall eintreten, daß zwölf Stimmen, die von innen ertönen, noch größere
Risse hervorbringen. Das Geschäft eines politischen Propheten ist sehr undank¬
bar und ich überlasse es jedem Andern, das Gewitter zu prophezeihen, welches
die Sonne Guizot's, trotz ihrer goldenen Strahlen, in deren Versendung sie
nicht allzusparsam war, nicht zerstreuen konnte. Ich will dem getauften Jere-
mias, dem Herrn Baron von Eckstein, nicht ins Handwerk greifen und, aus
den Trümmern von Paris sitzend, Klagelieder in "die Allgemeine Zeitung wei¬
nen. Seitdem fast jede Stadt ihre eigene Börse besitzt, braucht man ja nur
die Bewegung der Frösche daselbst zu beobachten und man erspart jeden an¬
dern politischen Barometer. Der Pariser Froschteich gegenüber dem Vaude-


[]

villetheatcr bst einen wunderbaren Anblick den Tag nach der Wahl: grüne
Froschgesichter überall Sind doch fünf der Ihrigen auf's Trockene gekommen:
fünf Bankiers mit konservativen Geldsäcken. Und darunter Fould, Benoit
Fould, der große Eisenvahnseind, der conservative Freund der langsamen Fvrt-
schrittswege. Zwar hat man seinen Bruder gewählt, den Achill „mit den un¬
nahbaren Händen;" aber Achilles Fould hat mit seinem großen griechischen Na¬
mensbruder das gemein, daß auch er an einer Stelle sterblich ist; leider ist es
nicht die Ferse, sondern die Zunge. Der neue ministerielle Deputirte aus dem
dem Stamm der Mos-nten (dieses Wort wurde in Dänemark erfunden; Mosaiken
statt Juden ist eine großartige Erfindung, die eines Privilegiums auf30 Jahre
werth ist) hat den kleinen Fehler, daß er stottert und bei jedem Worte mit
der Zunge anstößt: das Ministerium scheint jedoch daran keinen Anstoß genom¬
men zu haben; denn ihm ist es weniger darum zu thun, daß man spreche,
als daß man schweige. Herr Achilles Fould wird es ganz Frankreich beweisen, wie
Unrecht man seinen Glaubensgenossen thut, wenn man sie anklagt, überall das
große Wort führen zu wollen: er wird vielmehr als ein Muster der Schweig¬
samkeit mit dem heiligen Johannes von Nepomuk concurriren. Ob sein neu
erwählter College und Glaubensgenosse, Herr Cerfbecr, auch in die Kammer
als Papageno mit dem Schloß am Munde und dem ewigen dem, dem tre¬
ten wird, ist noch nicht vorauszusagen: das Programm, das Herr Cerfbeer den
Wählern vorlegte, ist so unarticulirt gewesen, daß beide Parteien ihn zu den
Ihrigen zählten: die Conservativen und die Opposition, beide nennen unter
den, neuerwählten Deputirten ihrer Meinung Herrn Cerfbecr. Da der neue
Deputirte einen zusammengesetzten Namen führt, so wird er denselben wahr¬
scheinlich so zu theilen wissen, daß er der einen Partei den Cerf, der andern
den Bären anhängen wird. Die Cerfbeers bestehen, wie die Meyerbeers, aus
drei Brüdern; der eine, jetzt zum Deputirten erwählt, ist Oberstlieutenant und
Bureauchef im Kriegsministcrio; der zweite ist Sous-Intendant, gleichfalls
beim Militair, und der dritte endlich ist Schriftsteller und der famose Ueber-
setzer der Kinderschriften unseres Canonicus von Schmid. „Die Ostereier, wie
Heinrich von Eichenfels zur Erkenntniß Gottes kam, und die Geschichte der
heiligen Genoveva" werden durch eine israelitische Feder,'dem jungen Thronerben
von Frankreich (die Uebersetzungen sind dem Grafen von Paris gewidmet) dio
Principien des katholischen Glaubens einflößen; was eine sichere Garantie sei¬
nes Kosmopolitismus ist. Es ist dies eine Vorsichtsmaßregel, welche die
französischen Juden anwenden, damit, wenn dieser junge Prinz zur Regierung
kommt, er nicht aus Hochachtung für die alte Religion und die mannigfalli-


[]

eigen Schicksale der mosaischen Glaubensgenossen ihnen das Bürgerrecht nehme,
wie dies in Preußen mit so cousequenter Motivirung der Fall sein soll. Die
französischenJuden haben jetzt drei Deputirte in der Kammer, die beiden erwähnten
und den Herrn Crvmieux; letzterer gehört der Opposition an ; und diese scheint von
der Damasc c n erklin ge seiner Beredsamkeit große Thaten zu erwarten. Herr
Crvmicur hatte sich bisher darauf beschränkt, in den Processen der Oppositions-
Journalc dieselben vor den Tribunalen stets so zu vertheidigen, daß sie zu
einem Jahr Gefängniß und zu einigen wenigen Hunderten oder Tausenden
von Francs Strafe verurtheilt wurden. Dabei hatte dieser Advocat immer
eine glückliche Bertheidigungsmcthodc. Wenn man den Charivari vor Gericht
belangte, so kam der Anwalt Crvmieur und sagte: „Wie könnt Ihr doch so
wahnsinnig sein, meinen Clienten so ernsthaft anzuklagen: es ist ja lauter
dummes Zeug, was er schreibt, ohne allen Werth, nichts als Spaß und Pos¬
senreißer«, um das sich kein Mensch kümmert, das also auch nicht gefähr¬
lich sein kann." Welche Methode dieser Redner in seiner Kammerwirksamkeit
entwickeln wird, ist noch unbekannt.


Doch genug hiervon: will mir doch der scherzende Ton heute nicht recht
gelingen: die Todtenglocken hallen von Neuilly herüber so dumpf ins Ohr und
rufen mir immer wieder das blutige Bild des armen Herzogs von Orleans
vor die Augen. Ich hätte es wahrlich nie gedacht, daß die Pariser Bevölke¬
rung so lange traurig sein könne, als sie es dies Mal zeigt: freilich gilt ein
guter Theil dieser Trauer mehr den rein menschlichen, den Familicnbezichungen,
dem greisen Bater, der thränenreichen Mutter, als dem Thronerben als sol¬
chen; aber auch in seiner Persönlichkeit wird der Herzog sehr viel betrauert;
denn es ist nicht zu leugnen, er war beliebt beim Volke, das in seiner energi¬
schen Sprache von ihm sagte: bravo xareon, pss ilier. Und auch das Mili-
tair, das ihn zum großen Theil vor Antwerpen und bei seinem mehrmaligen
Aufenthalte in Afrika kennen zu lernen Gelegenheit hatte, — und man weiß
wohl, des Soldaten Urtheil ist streng und ungetrübt; er verlangt, daß man mit
seiner Person zahle, sei man Prinz oder Trainknecht, — auch die Truppen
bedauern ihn! sie hatten ihn in ihrer pittoresken Redeweise einen el^us trou-
xier genannt. Kurz er war in allen Klassen Iber Gesellschaft beliebt; denn
für die Höherstehenden besaß er eine so anmuthige ILiebenswürdigkcit und Herz¬
lichkeit, daß man nicht lange in seiner Nähe sein konnte, ohne ihn wahrhaft
lieb zu gewinnen. Ich will Sie zum Beweise dieses seines überaus feinen,
gemessenen und doch die Gemüthlichkeit gewinnenden Benehmens nur daran
erinnern, welche wohlwollende Aufnahme er sich am Berliner Hofe zu ver-


[]

schaffen wußte, dessen Gesinnungen ihn nur eine kalte höfliche Behandlung er¬
warten ließen, wie man sie ihm auch in der That Anfangs zugedacht hatte,
die aber sehr durch das Wohlgefallen, das der verstorbene König an ihm
fand und öffentlich bezeigte, umgewandelt ward*). Die erste Stufe zu dieser
Popularität und Beliebtheit in Frankreich hatte übrigens sein Vater für ihn
und seine Brüder durch ihre weise Erziehung in den öffentlichen Collegien gelegt,
die sie mit vieler Auszeichnung besuchten. Es machte damals ein ungeheures
Aufsehen, daß ein Prinz von Geblüt sich mitten unter den Söhnen einfacher Bür¬
ger auf den Bänken des Collvge Henri IV. hinsetzte: — er hatte nicht etwa,
gleich den adligen Studenten in Göttingen, einen abgesonderten, erhöhten Platz:
— heutzutage aber sind die Pariser schon daran gewöhnt, daß sie die Prinzen
(jetzt nur noch den jüngsten) in ihrer Kutsche in Begleitung ihres Erziehers
an den Thüren der Collegien ankommen sehen. So war es auch mit dem
jetzigen Herzog von Orleans, damals noch Herzog von Chartres. Aber ein
Mal außer der Kutsche hörte er völlig auf Prinz zu, sein und wurde nun der
Kamerad seiner Mitschüler. Daß er übrigens die im College ihm gewordenen
Auszeichnungen des Fleißes wirklich verdient hat, darauf kann man sich ver¬
lassen; denn im Gegentheile würden seine Mitschüler ein stärkeres Geschrei dar¬
über erhoben haben, als die Oppositionsjournale anstimmten, da er, nachdem
er im Feuer von Antwerpen und Mascara unzweifelhafte Proben seines Muthes
abgelegt hatte, zum Generallieutenant ernannt wurde. ,


Und doch hatte es dem Herzog weder an theoretischer noch an praktischer
Bildung für den Militairstand gefehlt; denn neben der Erziehung, die er im Col¬
lege erhielt, ward ihm privatim von den bedeutendsten Lehrern ein anhalten¬
der Unterricht in Geschichte, Geographie, Mathematik, Naturwissenschaften und
den anderen Grundlagen militärischer Bildung ertheilt. Und als er dann,
noch ein Knabe, nach den Sitten und Bräuchen des alten Hofes zum
Obersten des ersten Husaren-Regiments ernannt worden war, — sein Bater
war Colonel-General aller Husaren-Regimenter des Königreichs — gab ihm



[]

letzterer in dem damaligen Oberst, nachmaligen General Baudrand, einem
höchst verdienstvollen, aber von der Restauration zur Unthätigkeit verdammten
Offizier, einen trefflichen Lehrer der praktischen Kriegskunst, einen überwachenden
Freund. Und daß er dessen Lehren und' Rathschläge wirklich benutzt, hat er
glänzend dargethan, da ihm die Gelegenheit gegeben ward. Seine Kamera¬
den haben ihn in Antwerpen und bei Mascara, in den Engpässen der eisernen
Pforten und auf den Höhen von Muzaja eben so sehr als tapfern Krieger und
sachkundigen Befehlshaber kennen gelernt, wie sie ihn im Frieden als gefälli¬
gen, theilnehmenden, stets zur Hülfe bereiten Freund liebgewonnen hatten.


Merkwürdig bleibt es zur Charakterisirung Louis Philippe's, wie er — eine
Revolution sei es nun vorbereitend oder voraussehend — seinen Sohn zum Re¬
gieren erzog. Denn neben seinen militärischen Beschäftigungen verfolgte er
während der letzten Rcstaurations - Jahre eifrig das Studium der Rechts¬
wissenschaft und der Berwaltungskunst; ja er ließ sich sogar von dem ältere»
Dupin einige Rathschläge und Regeln über die Kunst der Improvisation erthei¬
len, gleichsam als ahne er, daß ihm die Zukunft vorbehalte, öfters öffentlich
zu sprechen.


Im Jahre 1829 unternahm er in Gesellschaft seines Vaters eine Reise
nach England und Schottland: in seinem Erziehungssysteme sollten nämlich
nach dem Plane seines Baders Reisen durch das ganze cultivirte Europa, ja
sogar nach Nordamerika, behufs eines selbständigen Studiums der dortigen
Bersassung, den Schlußstein und Uebergangspunkt zum reiferen, männlichen
Alter bilden. Bon dieser Reise zurückgekehrt, erhielt er von dem Hofe, dem die
Familie Orleans wegen der vom Volke ihr geschenkten Theilnahme und Auf¬
merksamkeit anfing lästig und verdächtig zu werden, den Befehl nach Lüneville
zu gehen, um das Commando seines Regiments zu übernehmen. Diese Zeit
war eine schwierige für ihn, weil es einer außerordentlichen Klugheit und Vor¬
sicht bedürfte, um dem argwöhnischen Hofe keinen Anstoß zu geben.


Als die Juli-Revolution ausbrach, stand er mit seinem Regimente in
Joignu. Natürlich beunruhigte ihn das Schicksal seiner Familie, die er in Paris
wußte, sehr: er eilte daher nach Paris, ward aber an der Barriere angehalten
und mußte erst durch einen Offizier der Nationalgarde vom Hotel de Wille
sich Erlaubniß zum Eingang in Paris holen lassen, von der er jedoch, da
ihm indeß Renseignements über die Wichtigkeit der Borgänge in der Residenz
zugekommen waren, keinen Gebrauch machte. Er eilte vielmehr nach Joigny
zurück, um mit seinem Regimente am 3. August in Paris einzuziehen.


Von dieser Epoche an gehörte sein Leben der Oeffentlichkeit an; ich will


[]

also hier Nichts weiter erwähnen und nur noch schließlich bemerken, daß zu
seiner Popularität seit 1830 besonders seine wirklich sehr ausgebreitete Wohl¬
thätigkeit und vorzüglich der Muth und die Theilnahme am öffentlichen Elend
beitrugen, die er, als die Cholera in- Paris wüthete, durch seine Besuche in
den Hospitälern bewies.


8it el terra, levis! Und möge seine Beliebtheit als ein schützender Genius
um das Haupt seines unmündigen Sohnes schweben.


Note: Philipp P.55.

2.
Plaudereien.


Die Augsburger Allgemeine Zeitung ward vor Kurzem das Opfer einer
seltsamen Mystifikation. Man erinnert sich vielleicht noch an die Romane des
seligen Kotzebue, welche nach aufgegebenen Worten geschrieben sind. Nun ist
eine Gesellschaft Spaßvogel, worunter ein Correspondent der Augsburger, auf
den Einfall gekommen, das Lob Berlins nach aufgegebenen Worten zu com-
poniren. Der erwähnte Correspondent, ein geschickter Kopf, übernahm es,
eine Correspondenz dieser Art in die Spalten serner Augsburger Freundin
einzuschmuggeln. Es wurden hierauf die Worte bestimmt: Belle-Alliance,
Revolutionsplatz, Constitutionshügel, Constitutionsstein, Handschreiben, Selbst¬
herrscher, Harun-al-Raschid, Wulkinitz, Kceidestrich, Glimmstengel, Raben-
stein, Turnstraße, Galgen und Rad, Köpeniker Kartoffelfeld, Walhalla, Zehner¬
klasse, cltvva! ass äsux morales, Tcllurisch-Coswisch, Frauenstrumpfband,
Geistliche, Urthat der Offenbarung, Logos, Hegelianer, Iso rü^iens, Muster¬
reiter aus Barmer, Laternen, Fenster Chateaubriand, Scparatvotum, Selbstbe¬
wußtsein, Gottesbcwußtscin, gensr-uio avcznivoc!^ Schelling, Schuhe, Sohlen,
Mäcenatin, Ole Bull, Lißt, Bettina, Carriere, Thorwaldsen, Betschwestern,
Christus, Apostel, Nonne von Dülmen, Urevangelium, Helldunkel, Somnambule,
Rahel, Messias, Heine, Evangelium, Tricolore, Se. Simonianer, tsmmv librs,
Spiridion. Auf welche wahrhaft bewunderungswürdige Weise dieser Spaß in
Scene gesetzt wurde, kann Jedermann in Ur. 190 der Allge. Zeit, nachlesen;
wir wollen nur den kostbaren Eingang citiren: „Berlin am Bette-Alliancc-
Tage. Während der am Rcvolutionsplatzc refidirende König und die
am Constitutionshügel und am Constitutionösteine wohnenden Kö-


[]

niginncn sich von Zeit zu Zeit durch Handschreiben über Mordanfälle und
nächtliche UcberMe gegenseitig trösten und nur mit Bedeckung und Leibwache
ausfahren, reitet und wandelt unser Selbstherrscher, wie sei» hochseliger
Vater, ost ohne alle Begleitung und unbemerkt durch Stadt und Land; ja er
soll sogar durch nächtliche Runden wie Harun-al-Raschid :c. n.



N. Weilt.

Der piquante Korrespondent der „Zeitung für die elegante Welt" ist im
Begriff, die theatralische Laufbahn zu betreten. Im Besitze einer klangvollen
und angenehmen Tenorstimme und die Erfahrungen benutzend, welche er in
Paris durch den Gesangunterricht bei einem guten Meister, so wie durch den
steten Besuch der italienischen und der großen Oper sich erworben, will er auf
einer deutschen Bühne debütiren.


Die Juden in Preuße».

Bei Gelegenheit der Zeitungsdiscussioncn über die preußischen Juden, denen
man, „in ihrem Interesse," Korporationen geben will, erinnern wir
uns einer alten Anekdote: König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, bekannt¬
lich ein strenger Fürst, bemerkte vom Garten seines Schlosses aus zwei Juden,
die seiner kaum ansichtig wurden, als sie sich eilends im benachbarten Gebüsch
verbargen. Der König schritt zornig aus sie zu und fragte, als er sie gerufen hatte:
„Warum flüchtet Ihr Euch"!" — „Wir fürchten uns,. Eure Majestät."—„Ihr
sollt Euch aber nicht vor mir fürchten," rief der König, indem er mit seinem
spanischen Rohr höchst eigenhändig auf sie losschlug, „lieben sollt Ihr mich,
lieben!"




Note: Druck von Friedrich Andrn in Leipzig.
[]

Großstädtische Fragen von einem Lebemann.



I.
Darf man den Diebstahl ermuthigen'!



ÄRelche Zweifel mich so mancher Leser, wenn er die Ueberschrift
dieses Aufsatzes erblickt, an der Moralität des Verfassers hegen
wird, — diesem Uebelstande sehe ich mich im Bewußtsein meines
ruhigen Gewissens und des Nutzens, den ich zu stiften beabsichtige,
mit unerschütterlichem Muthe aus. Bin ich doch fest überzeugt,
nicht der einzige ehrliche Mann zu sein, der durch die Fortschritte
der Civilisation in den großen Städten gezwungen worden ist, sich diese
Frage vorzulegen und das vielleicht mehr als einmal im Laufe
eines einzigen Tages. Wohlverstanden übrigens, ich rede nur von
großen Städten, denn die kleinstädtischen Sitten sind mir nicht so
durch eigene Erfahrung vertraut geworden, als die der großen. Ich
lebe nämlich theils von einer kleinen Leibrente, theils vom Ertrage
schriftstellerischer Arbeiten seit einer Reihe von Jahren in Berlin,
kenne aber durch früheren Aufenthalt und durch mehrfache Besuche
auch Leipzig, Stuttgart, Wien und Paris. Wollen mir nun die
geehrten Leser erlauben, ihnen einige meiner Erfahrungen von den
Schattenseiten des großstädtischen Lebens zu erzählen, so kann ich


II
[]

hoffen, daß einer oder der andere derselben vielleicht einen praktischen
Nutzen ans meinem Geplauder ziehen wird.


Ich komme also auf meine obige Frage zurück: Darf man den
Diebstahl ermuthigen? Moral und Religion antworten rasch: Nein;
Dame Praris aber thut uns dar, daß es freilich sehr leichr ist, dieses
Nein zu sagen, aber sehr schwer, ja oft fast unmöglich ist, darnach
zu handeln. Einige Beispiele werden dies leicht beweisen.


Seit einigen Monaten habe ich einen Neffen bet mir, der hier
seinen Gymnasial-Kursus durchmacht; das Essen aus den Speise-
häusern will mir ohnedies nie recht behagen: ich habe mich also
entschlossen, eigenes Haus zu fuhren und habe zu dem Behufe eine
Haushälterin angenommen, welche zugleich auch Köchin ist. Nun
wird man mir hier vielleicht von vorn herein einwerfen, eine Haus¬
hälterin sei ein personisicirtes Unglück; zugegeben, aber ich habe sicher¬
lich nicht wenig Unglücksgenossen, bin also in keinem ausnahms-
weisen Zustand. Da ich nicht täglich und stündlich mit Geldforde-,
ringen belästigt sein wollte, so hatte ich Bäcker, Fleischer, Specerei-
waarenhändler:c. autorisüt, meiner Haushälterin, an deren Ehrlich¬
keit zu zweifeln ich keinen Grund hatte, sämmtlichen Bedarf aus
monatlichen Credit zu liefern. Nun denke man sich mein Erstaunen,
als mir am Ende des ersten Monats Rechnungen für nichts, als
Eßwaaren eingeliefert wurden, deren Betrag sich auf nicht weniger,
als einige sechzig Thaler belief! Ich erschrack. Acht und sechzig
Thaler für drei Personen — die Haushälterin mit inbegriffen, —
die täglich nur drei Mahlzeiten in anständig bürgerlicher Art zu sich
nahmen! DaS ging über meine Begriffe. Ich glaubte an eine über¬
triebene Beutelschnciderei Seitens der Liefernden, aber einige Blicke
auf die Rechnungen einer und aus die polizeilich veröffentlichten
Brod- und Fleischtaren andrer Seits überzeugten mich, daß die
Preise nicht höher, als billig, daß aber die Massen des Verzehrten
enorm waren. Nun erschrack ich noch mehr; denn ich fing an zu
befürchten, mein Neffe oder ich litten, uns selbst unbewußt, an der
Auszehrung und äßen daher ungemein stark. Aber auch von dieser
Angst ward ich bald befreit, indem ich durch einen Zufall der Quelle
meiner enormen Rechnung auf die Spur kam; eS war diese Quelle
oder vielmehr dieser für mich unausfüllbare Abgrund die Mitesser-
fchaft der drei Kinder meiner Haushälterin, die sich für unverhei-


[]

rathet ausgegeben hatte. Natürlich erhielt sie sofort ihren Abschied ;
meine Rechnung aber mußte ich bezahlen. Die neue Köchin, die
ich annahm, und vom deren unehelichen Stande ich mich vorher
durch polizeiliche Nachfrage überzeugt hatte, — ja, was hatte ich mit
ihr gewonnen? Ihre Vorgängerin, so wie Bäcker, Fleischer ze. hatten
ihr als Maßstab meines Bedarfes die Rechnungen des vorigen
Monats angegeben; und da sie bald entdeckte, um wie viel diese
meinen eigentlichen Bedarf übertrafen, so glaubte sie ihrem Bruder
und ihrem Liebhaber, — sie war dazu noch jung genug — einen
Platz an meiner Tafel einräumen zu können, so daß meine Rech¬
nung vom zweiten Monate sich von der des ersten nicht um zwei
Thaler unterschied. Ich wechselte wiederum und glaubte nun, eine
untadelhaste Wahl getroffen zu haben, indem ich eine, von einer
achtbaren Familie mir empfohlene, kinderlose und ziemlich bejahrte,
also lieb'haberlose Wittwe in meinen Dienst nahm: aber
'


Inenut. in Ka)'I!lui, rin vult pleno Llmr^Iziliii.
Meine neue Haushälterin glaubte um der Ehre des Hauses
willen nicht viel weniger, als ihre Vorgängerinnen brauchen zu
dürfen; mir wandte sie den Ueberschuß lediglich auf ihre eigene Per¬
son, da sie überaus genäschig und leckerhaft war und die Gelegen¬
heit sich ihr so reichlich darbot, sich und einigen von Zeit zu Zeit
zu einer Caffeevisite eingeladenen Freundinnen ein kleines b«mo
zu thun.


So hatte ich denn durch dreimaligen Wechsel nichts gewonnen,
als daß der Diebstahl in meinem Hause durch den Gebrauch gehei¬
ligt worden und fast Gesetzeskraft gewonnen hat; dergestalt, daß
ich jetzt, da ich die fünfte Haushälterin habe, froh bin, meine Mo¬
nats-Rechnung für Eßwaaren auf acht bis neun und fünfzig Tha¬
ler reducirt zu sehen. Nun frage ich, heißt das nicht den Diebstahl
ermuthigen? Denn wenn ich auch die Diebinnen nicht autorisire,
so ertrage ich ihr Unwesen doch; und wer müßte nicht am Ende
an meiner Stelle das Nämliche thun? Und für den Dieb, wie für
die Bestohlenen kommt es am Ende aus Eins heraus, ob man den
Diebstahl erlaubt oder blos erträgt.


Wollen Sie ein zweites Beispiel haben, mein lieber Leser? Ich
stehe Ihnen zu Diensten. Ich hatte jüngst bei anhaltend schlechtem
Wetter einen dringenden Besuch bei einem am andern Ende von


11»
[]

Berlin wohnenden Freund zu machen, nahm also, um zurückfahren zu
können, einen Fiaker auf eine Stunde. Gut, aber nicht für mich,
sondern für meinen Kutscher; denn dieser richtet sich seine Fahrt
darnach ein, d. h. er fährt wo möglich noch langsamer als ein
Charlottenburger Landwagen. Seinen Weg nimmt er nicht gerade¬
aus oder in der kürzesten Linie, nein, er schlägt vielmehr eine Rich¬
tung ein, in welcher er sicher ist, entweder ein großes Gedränge zu
finden, so daß er zu noch langsamerem Fahren genöthigt ist, oder
auf Straßen zu stoßen, in denen man pflastert, so daß er umkeh¬
ren muß. Endlich kann er nicht mehr ausweichen, er muß gerade
er die Straße einbiegen, an deren Ende ich zu thun habe; daß ich
überaus prcssirr bin lind meinen Freund verfehlt zu haben befürchte,
kann er mir vom Gesichte ablesen, folglich fährt er wo möglich noch
langsamer als zuvor. Ich steige aus, und siehe da, mein Freund
ist eben ausgegangen. Wüthend, ihn durch die Schuld des Kut¬
schers verfehl! zu haben, steige ich wieder in den Wagen, indem ich
meinem Automcdon seine Langsamkeit heftig vorwerfe und ihm schnelle
Rückkehr anempfehle. Er aber, der wohl voraussieht, daß er nun
kein Trinkgeld bekommen wird, sucht sich zu entschävigen; d. h. er
nimmt sich zum Rückweg wo möglich noch mehr Zeit, als zum
Hinweg, so daß, als ich endlich nach Hause komme und ihm die
Taxe für eine Stunde bezahlen will, er mir unwiderleglich darthut,
daß ich ihm i .r zwei Stunden zu bezahlen habe, und dabei ist er
noch gütig genug; denn er berechnet mir nicht, daß seine Uhr um
mehr, als eine Viertelstunde zurückgeht. Was sollte ich nun thun?
Ich konnte den Kutscher zwingen, mit mir zum Polizei-Commissair
des Viertels zu gehen, werden Sie mir einwenden, geehrter Leser.
Aber bedenken Sie nur ein wenig folgende Dinge: erstens fuhr der
Kutscher hin, denn er darf nach Polizeireglement seinen Wagen
nicht allein lassen, während ich im Regen zu Fuße gehen mußte,
da ich ihm für diese Fahrt nicht bezahlte; sodann ist es, die Höflich¬
keit der Herrn Polizei-Commissaire in allen Ehren gehalten, immer
noch kein Vergnügen, mit ihnen zu thun haben; noch weniger an¬
genehm ist eS, sich in lange Streitigkeiten mit einem groben Kut-
cher selbst in Gegenwart der Polizei einzulassen und endlich vor-
sauSgesetzt, ich hätte alle diese Rücksichten so wie meinen Zeitverlust
unbeachtet gelassen, so war des ja noch gar nicht sicher, daß ich


[]

nicht aus dem Regen in die Traufe geriet!), d. h. vom Commissair
Unrecht erhielt, und alsdann dem Kutscher obendrein noch eine
Entschädigung für die ihm verursachte Versäumniß zu zahlen daS
Vergnügen hatte. Was blieb mir also übrig, als dem Kutscher
seinen Willen zu thun und den verlangte Thaler zu geben? Er
konnte jetzt sein Trinkgeld entbehren; er hatte Ueberschuß genug,
um sich einen Rausch zu trinken. Und ich — nun ich war eben
wieder um einen halben Thaler mit sehenden Augen bestohlen und
mußte es eben dulden.


Zu diesen einzelnen Fällen, wo ich den Diebstahl ertragen
mußte, kann ich noch hundert andre, Jedermann betreffende hinzufü¬
gen, die sich in allen großen Städten wiederholen. Wehe dem un¬
glücklichen jungen Manne, der sich seine Bedürfnisse allein einkaufen
muß; er kann sicher sein, Alles nicht allein theurer zu bezahlen, als
jeder Andre, sondern noch dazu die schlechteste Waare zu erhalten.
Habe ich doch letzthin eines Morgens ein Halstuch eingekauft und
sofort umgebunden, dessen Grund dunkelblau war; als ich es am
Abend — der Tag war ziemlich heiß gewesen und ich hatte etwas
stark geschwitzt — wieder ablegte, hatte es chamäleonartig seine Farbe
geändert und war aus dunkelblau hellgelb geworden. Mein Hals
mußte den Tag über, während diese Metamorphose stellenweise vor-
ging, zebraartig ausgesehen haben. So wird man in allen Dingen
bestohlen; man glaubt, ein seidenes Taschentuch zu kaufen, und hat
ein halb baumwollenes; ein Hut, den man heute für neu bezahlt,
zeigt sich nach acht Tagen als ein aller, dem nur Walze und Bügel--
eisen einen ephemeren Glanz verliehen hatten; statt auf Leversohlen
geht man auf Holz und Pappendeckel. Ich bestellte jüngst bei einem
Tischler ein festes, eichenes Büchergestell; nachdem ich es etwa vier
Wochen hatte, fallt es meiner Haushälterin ein, es mit heißem
Wasser zu reinigen: was stellte sich aber als Resultat heraus? Daß
der Tischler ein finsteres Gestell geliefert hatte, dem er vermittelst
Leim und Politur das Ansehen eines eichenen zu geben gewußt.
So wird man überall betrogen; nur in Einem betrübt Sie kein
Kaufmann, lieber Leser; alle fordern den richtigen Preis, den Preis
für solide Waare von bester Qualität.


Einer meiner Bekannten, voll Verdruß, stets betrogen zu sein,
und der sich doch durchaus nicht entschließen konnte, zu handelt!«


[]

hatte sich wenigstens eine Lift ausgesonnen, wodurch er alle Kauf¬
leute ihrer Seits zur Verzweiflung brachte. Wenn man ihm für
irgend einen Gegenstand einen hohen, unverschämten Preis abgefor¬
dert hatte, so bezahlte er erst, ohne ein Wort zu sagen; wenn er
dann den Gegenstand an sich nahm; so stellte er sich, als betrachtete
er ihn jetzt erst genauer und sagte dann regelmässig: Wahrhaftig,
spottwohlfeil eingekauft; ich glaubte sicher, daS würde mich einen,
zwei u. s w. Thaler mehr kosten. — Alle Kaufleute natürlich ge-
riethen darüber außer sich; denn diese ein oder zwei Thaler hätten
sie ja mehr fordern können.


So herrscht der Diebstahl überall, wo man zwei Dinge gegen ein^
ander umtauscht; der Diebstahl, ein moderner Proteus, hüllt sich in
hundert verkleidende Formen, nimmt tausend verführerische Außenseiten
an und überall stoßen wir auf ihn, in unsern Kleidern, in unsern Nah¬
rungsmitteln, ja sogar in unsern geistigen Vergnügungen. Er hat,
besonders für letztere Beziehung, in neuester Zeit sich eine eigene
literarische Form angeeignet, die ganz besonders für ihn erfunden
worden ist, denProspectus und die Annonce, deren Succursel
die Reclame ist. Einige Beispiele werden auch hier genügen.


Ein Buchhändler kündigt ein Werk unter dem Namen eines
durch frühere Schriften vortheilhaft bekannten Schriftstellers an:
man kauft eS also auf Treue und Glauben. Aber welche Täuschung!
Beim Lesen entdeckt man gar bald, daß der Schriftsteller zu diesem
Werke nichts als seinen Namen, höchstens eine Vorrede von einigen
Seiten, hergegeben. Das elende Machwerk ist eigentlich von irgend
einem erbärmlichen, unwissenden Pedanten geschrieben, der weder
Geist noch Styl hat. Sei nun der erste Betrüger hier der
Schriftsteller selbst oder sei er nur bloßer Mitschuldiger des buch-
händlerischen Betrugs: der Käufer bleibt bestohlen und betrogen.


In einem Dutzend der verschiedensten deutschen Blätter liest
man das Lob dieses oder jenes Schauspielers, Sängers:e., den end¬
lich, nachdem er die Triumphbahn seiner Gastreisen glorreich ge¬
schlossen, die Theaterdirection Deines Aufenthaltsortes, lieber Leser,
engagirt. Du in deiner Ehrlichkeit abonnirst von Neuem auf
einen Winter, weil Du, wie unzufrieden Du auch sonst mit der
Bühne Deiner Stadt bist, doch nun wenigstens hoffen darfst, einen
guten Liebhaber zu sehen, oder einen guten Tenor zu hören; denn


[]

die vielen, von einander gänzlich unabhängigen Blätter, in denen Du
sein Lob gelesen, können doch unmöglich alle gelogen haben. Aber
geh! schon die erste Vorstellung enttäuscht Dich, und dem Räthsel
des Lobes nachspürend, erkennst Du, daß das Engagement des in
Rede stehenden Subjects schon vor seinem Triumphzuge von der
Direction abgeschlossen war und daß alle diese so gut bezahlten Lob¬
reden nur ein Manoeuvre der Direction waren, um die so oft be¬
trogenen Abonnenten noch ein Mal anzulocken.


Aber beschränkte sich der Diebstahl wenigstens noch darauf, uns
nur unser Geld zu nehmen! Er wird leider, — so weit sührt die
Gewinnsucht — zum Mord, zur Vergiftung. Wie wenige von
den Dingen, die wir täglich brauchen, verkauft man uns in ihrem
natürlichen Zustande! Die Weine z. B. werden, um ihnen ihre
Herbe zu benehmen, mit Bleioxyd, einem Gift, versetzt; um sie rother
und schmackhafter zumachen, wird etwas Alaun hinzugethan: gefärbt
werden sie mit tausenderlei Dingen, die alle der Gesundheit mehr
oder weniger nachtheilig sind. Der Weinessig ist mit verdünnter
Vitriolsäure vermischt, deren Folgen wir an unsern Zähnen ver¬
spüren, so daß ein Mund voll Salat sonderbarerweise dieselbe Wir¬
kung haben kann, wie ein tüchtiger Faustschlag. Der Specerciwaa-
renhändler, scheinbar der unschuldigste Mensch von der Welt, ist nicht
nur Taschenspieler, — sage Betrüger — sondern auch Chemiker —
sage Vergifter. Mit seinen krummen, groben Fingern führt er
Kunststücke aus, die eines Bosco würdig sind; denn, ohne daß seine
Wagschalen oder Gewichte falsch sind, weiß er doch am Gewicht zu
gewinnen durch die Art, wie er die Wage hält oder die Waaren
auf die Wagschale legt; seine Maße für Flüssigkeiten sind sorgfäl¬
tig gestempelt; er weiß aber so geschickt einzugicßen, daß er stets im
Gewinne bleibt. Der Arme, der aus Noth oder der Junggeselle,
der aus Bequemlichkeit seinen Caffee gemalen einkauft, kann sicher
sein, die Hälfte Cichorie zu haben : der Zucker ist in eine Art blei-
vder zinkhaltigen Papiers eingepackt, wodurch an jedem Hut, den
er im Ganzen verkauft, ein halbes Pfund wenigstens gewonnen
wird. Aber alle diese Betrügereien sind wenigstens nur unsrer
Börse nachtheilig: was sollen wir aber gegen folgende Vergif¬
tungen thun?


Dvcse lieben Specereiwaarenhändler mischen unter das Küchen-


[]

Salz gesiebter Gyps, wovon man den Stein bekommen kann, zu¬
weilen selbst Jod, ein offenbares Gift, beides sehr schwer in'S Ge-
wicht fallende Dinge^). Statt Olivenöl verkaufen sie eine Mischung
von Mohnöl; unter den Farinzucker mischen sie nicht bloß Runkel¬
rüben- — oder Kartoffelzucker, der doppelt so schwer ist, aber halb
so wenig Zuckergehalt hat, sondern auch häufig Kreide und ähnliche
Stoffe. Statt Soda und Potasche verkaufen diese Herrn ordinäres
Küchensalz, bei welcher einfachen Operation sie mehr als das Dop¬
pelte gewinnen. Ihre Chocolade besteht aus einem Zehntel Cacao
und neun Zehnteln rohem Fannzucker und geröstetem Gerstenmehl.
Ihre Seife wiegt doppelt, weil sie mit Salzwasser angefeuchtet ist;
ihr Branntewein ist erst durch Wasser seines Alcohvlgehaltes beraubt
und dann durch Gewürzinfusionen zu einem brennenden, die Ein¬
geweide zerreißenden Höllentranke umfabricirt worden. Doch ge¬
nug von diesen Leuten: sie sind nicht die einzigen, die uns bestehlen
und zugleich vergiften; ihre Genossen verdienen ebenfalls genannt zu
werden, damit man zu der Erkenntniß komme, ein wie unheilbar
tief zehrender Krebsschaden in unsrem socialen Leben dieser Mangel
an Ehrlichkeit ist und wie sehr es Noth thut, auf radicale Besse¬
rungsmittel zu denken.


Die Gemüsehändlerinnen sind wahre Giftmischerinnen; denn
um ihren mehrere Tage alten Waaren den Anschein von frischen zu
verleihen, wissen sie dieselben sehr schön grün zu färben; aber wie?
Nun, in kupfernen Gefäßen erzeugt sich ja so leicht Grünspan: man
lasse nur eine Nacht in freier Lust ein Gefäß mit Wasser stehen
und werfe allenfalls, um seiner Sache ganz sicher zu sein, einige
Kupfermünzen hinein; am andern Morgen lege man einige Stun¬
den den Kohl, Spinat oder andres Gemüse in dieses Gefäß mit
Wasser, und es erhält aus der Außenseite das schönste Grün.


Die Bäcker ihrerseits begnügen sich nicht, Bohnen- und Kar¬
toffelmehl unter das Weizenmehl zu mischen und ihrem Brod nicht
das vorschriftsmäßige Gewicht zu geben: nein, sie haben auch so



[]

viel Genie gelernt, daß sie ihrem Weißbrod von schlechterem Mehl
durch gewisse metallische Beimischungen (blauer Vitriol) die schönste
weiße Farbe zu verleihen im Stande sind.


Die Conditoren und die Liqueur-Fabrikanten — beide bedienen
sich zur Färbung ihrer Bonbons und Liqueure so offenbar giftiger
Stoffe, daß in mehreren europäischen Staaten schon wiederholte
Verbote gegen diesen Unfug erlassen worden sind, weil sich die nach¬
theiligsten Folgen für die Gesundheit daraus ergeben haben. Aber
was hilft's?


Doch! hören wir endlich auf, unsre Leser durch diese Liste von
Mißthaten zu erschrecken, die im täglichen Leben sich nur allzuhäufig
erneuern; können wir ja doch nicht Alles sagen und wäre ja selbst
Alles noch nicht genug. Denn jeder Tag bringt uns neue Spitz¬
bübereien, neue Verfälschungen, neue Betrügereien; und zum traurigen
Gegentheil der Bienen, die selbst aus Gift Honig saugen, findet der
Betrug in jeder neuen Entdeckung oder Erfahrung der Wissenschaften,
die von arbeitsamen Geistern zum Vortheil der Menschheit gemacht
wird, nur einen neuen Stoff für sein schmutziges Gewerbe.


Fragt uns nun aber der Leser: „Wie? Giebt es denn gar
kein Mittel, sich diesen Diebstählen und Vergiftungen zu entziehen
oder entgegenzusetzen?" — so ist es unsre Pflicht, ihm die Mittel
anzugeben, nämlich Wissenschaft und Gesetz, ihm aber auch
deren Unwirksamkeit und Schattenseiten darzulegen.


Die Wissenschaft! Ja, also muß zunächst Jedermann Chemiker
und Physiker von Stande sein; denn nur alsdann kennt und besitzt man
alle Reagentien und alle Apparate und Maschinen, mittelst deren
mai? jene Verfälschungen ermitteln kann. Zum Nutzen und From¬
men meiner Leser, die nicht Chemiker sind, will ich ihnen einige
dieser Mittel Hieher schreiben»).'


Durch salpetersauren Baryt erkennt man die kleinsten Theilchen
Schwefelsäure und Vitriol, die sich in Wein, Weinessig, Küchensalz
und Brod vorfinden. Gleichermaßen braucht man nur, um den Alaun



Note: Anm. d. Verf.

[]

im Weine zu erkennen, ihn durch Ammoniak zu präcipitiren, jedoch
muß er vorher durch Chlor entfärbt worden sein. Ganz einfache
Sachen.


Ein Alcalometer zeigt deutlich, wie viel wirkliches Alkali sich
in der Soda oder Potasche befindet, deren eigentlichen Werth und
Verkaufspreis man hiedurch auf'S Leichteste bestimmen kann. Wer
besitzt nicht einen Alcalometer?


Durch Salpetersäure oder salpetrige Säure, lieber Leser, entdeckst
Du, wenn sich auch nur ein Hunderttheil Mohnöl in's speisest ein¬
geschlichen; ehe man also einen Salat zubereitet, versehe man sich
wohl mit salpetersauren Baryt zur Prüfung des Weinessigs, und
mit Salpetersäure zur Prüfung des Oels. Wer nicht Zeit zu die¬
sen chemischen Uebungen hat, oder die armen Leute, denen es an
Geld fehlt, — ja, die müssen sich nun einmal entschließen, die Sa¬
chen so zu brauchen, wie sie sind.


Die Bleisalze und Bleioryde, mit denen man Bonbons und
Weine versetzt, offenbaren sich sofort, sobald man sie mit geschwefel¬
tem Wasserstoffgas, oder wie eS auch heißt, mit schwefelwässriger
Säure in Berührung bringt. Euren lieben Kleinen, meine verehr¬
ten Leserinnen, hängt nur, sobald sie ein Jahr alt sind, ein Fläsch-
chen mit besagter Säure um und lehrt sie den Gebrauch derselben;
denn sobald Ihr sie in's Freie schickt, sind sie jeden Augenblick, und
je niedlicher sie sind, desto häufiger der Gefahr ausgesetzt, daß man
ihnen Bonbons und anderes Zuckerzeug giebt.


Wollen sorgsame Hausfrauen dem Gemüse seine falsche, durch
Grünspan bewirkte Farbe entreißen, so brauchen sie nur Salmiak
anzuwenden, ein überaus wirksames Mittel, dessen Kraft sich jedoch
auch sehr häufig dahin äußert, daß die Personen, welche eS anwen¬
den, ersticken.


Vermöge eines guten Mikroskops kann man in seinem Brode
das Weizenmehl ganz genau vom Kartoffel- und Bohnenmehl un¬
terscheiden; eben so auch erkennt man die Mischtheile des Zuckers;
denn der Rohrzucker krystallisirt sich nadelförmig, Kartoffelzucker aber
in der Form von Hirfekörnern. Man fühlt sich gewiß sehr getrö¬
stet, wenn man dies gesehen; nur ist Schade, daß durch das Mikro¬
skop das Bohnenmehl nicht nährend und der Kartoffelzucker nicht
süßer wird.


[]

Mit seinem Galaktometer »der Milchmesser kann jeder gebildete
Leser, dem der Gebrauch dieses Instruments sicherlich geläufig ist,
seiner Milchfrau den ärgsten Schabernack spiele», indem er untrüg¬
lich erkennt, wie viel Wasser- und wie viel Rahmtheile seine Milch
enthält. — Die Milchfrau wird freilich darum nicht weniger Was¬
ser hineinschütten und der Leser nicht weniger fortfahren, diese Milch
zu trinken ; denn woher will er sich in einer großen Stadt andere
oder bessere verschaffen?


Einer oder der andere meiner bejahrteren Leser hat vielleicht
das Unglück, von seinen Reisen oder Feldzügen her gleich mir an
rheumatischen und gichtischen Anfällen zu leiden, und kauft daher
Flanell ein, um durch ein gleichmäßig warmes Camisol sich vor Er¬
kältungen zu hüten. Nun ist aber die Kette des Flanells, den man
meisthin bei den Kaufleuten antrifft, von Baumwolle und diese
taugt gerade zu Rheumatismen nichts, weil sie eine zu starke Er¬
hitzung hervorruft. Will man sich nun überzeugen, ob der Flanell rein
wollen ist, so braucht man ihn nur in einer Potaschauflösung von
12 Graden zu kochen: die Wolle wird sich dann auflösen, um Seife
zu bilden, während die Baumwolle kaum angegriffen sein wird, —
Den größten Vortheil von diesem Verfahren hat freilich der Kauf¬
mann, denn unser erstes Stück Flanell ist im Kessel geblieben und
kann höchstens als Seife zum Rasiren benutzt werden, so daß wir
nothwendig ein zweites Stück Flanell kaufen müssen.


Es würde doch wirklich ein unerhörter Zufall sein und ist da¬
her kaum anzunehmen, daß Sie, meine werthen Leser, von all
den Säuren und Apparaten, die ich Ihnen hier aufgezählt habe,
wozu Sie noch genaue Wagen und Apolhekergewichte hinzufügen
mögen, gar nichts vorräthig haben sollten. Denn ich habe wirklich
nur die allereinfachsten Mittel angegeben, kein complicirtereS, wie
z. B. die Erkennung der verschiedenen Oele durch die verschiedenen
Grade, in welchen sie Electricitätsleiter sind, zu welchem Behufe man
nothwendigerweise sein Oel erst zu einem Professor der Physik Schil-
ler müßte, ehe man einen Salat bereiten kann. Sollten Sie also,
trotz ihrer Einfachheit, von den angegebenen Mitteln der Wissenschaft
keinen Gebrauch machen können oder wollen, so bleibt Ihnen nur
noch die Zuflucht zum Gesetz übrig. Sie können sich, liebe Leser,
an den Polizeicommissair wenden, wenn Sie in Berlin wohnen oder


[]

anderswo, wie in Paris und wo französische Gesetzgebung gilt, an
den Friedensrichter. Nun wir wollen auch diese Mittel etwas ge¬
nauer betrachten.


Meine persönliche Meinung über den Erfolg und die Annehm¬
lichkeit eines Besuchs beim Polizei-Commissair habe ich schon oben
dargelegt, kann also hier darüber hinausgehen und will daher nur
noch einige Worte über den Friedensrichter sprechen. Ich kenne
auch diese Herren aus eigener Erfahrung.


Es ist freilich etwas hart, daß man, um ohne Furcht vor
Vergiftung einen Salat essen oder seinen Kindern eine Düte
Zuckerwerk geben zu können, zur Gerechtigkeit seine Zuflucht nehmen,
also Lauferei, einen Proceß haben muß: doch einmal entschließt man
sich dazu: man will Alles kennen lernen. Wir befinden uns nun
vor einem Friedensgericht irgend eines Pariser Arrondissements, waS
gerade nicht der liebenswürdigste Aufenthalt ist: ehe die Reihe an
unseren Proceß kommt, haben wir Zeit genug, die Richter und die
Parteien kennen zu lernen.


Der Friedensrichter ist gewöhnlich ein dicker Mann, der sich in
seinem erhabenen Berufe, die Gerechtigkeit zu spenden, sehr gelang¬
weilt fühlt; ein Menschenfeind in seiner Art, insofern er stets mit
zwei Spitzbuben zu thun zu haben glaubt, minder aufgelegt, Vernunft-
gründe anzuhören, als man zu glauben berechtigt ist, ungestüm, ge¬
mein in seinen Ausdrücken und stets pressirt, stets eilig.


Die Parteien, zwischen denen eS sich gewöhnlich um erbärmliche
Kleinigkeiten handelt — was freilich nicht geeignet ist, den Richter
gut gelaunt zu machen, — sind meistentheils von einer Atmosphäre
umringt, die weder nach Patchvuli, noch nach Veilchen riecht, son-
dern nach alten, halb faulen Trödellumpen. Der Gefammtanblick
des Gerichtshofes ist also nicht sehr imponirend. Werfen wir nun
einen Blick aus seinen Nutzen. Der Richter, der im Schweiße sei¬
nes Angesichts die allerdümmsten und allererbärmlichsten und gemein¬
sten Diskussionen mit anhören muß, löst diesen Gordischen Knoten
in den meisten Fällen auf Alerandrische Weise: er giebt abwechselnd
bald dem Kläger, bald dem Beklagten Recht, wie ihn seine Unge¬
duld gerade inspirirt. Wir sehen also, daß, wenn Gerechtigkeit und
Wahrheit von dem übrigen Theil der Erde verbannt wären, . . .


[]

man sie nicht gerade vor einem FriedcnSgerichte wiederfinden
würde.


Doch die Reihe ist nun endlich an uns gekommen, lieber Leser.
Als ein ehrlicher, gebildeter Mensch setzest Du Deine Sache mit aller
Mäßigung auseinander: aber nun hat Dein Gegner das Wort
und Du wirst in Folge seiner Catilinaria oder Philippika der ärgste
Bösewicht dieser Erde, so daß der Richter erschüttert ist, Du aber,
wie vom Anblick des MedusenhaupteS, erstarrt bist vom Anblick der
Ströme von Beredsamkeit, die dem Munde eines Krämers, wenn
auch nicht Honig gleich, entfließen. Nun fordert Dich der Richter
auf, den streitigen Gegenstand darzubringen. Der aber ist entweder
verbraucht und dann, magst Du vergiftet sein, Hort Dein Recht auf;
oder Du hast ihn nicht mitgebracht, dein Proceß wird also auf 8 Tage
verschoben; oder Du hast ihn mitgebracht, es fehlt aber dem Richter
an den oben aufgezählten NerificationSmilteln und er erklärt sich für
incompetent, oder, endlich der Gegenstand kann nicht transportirt
werden, der Richter ordnet also eine Besichtigung durch Sachverstän¬
dige an und Dein Prozeß . . . wird am Se. Nimmermehrstage
gerichtet werden. Welcher von diesen 4 Fällen auch der Deinige
ist, Du hast Deinen Tag unnütz hingebracht und nicht einmal Dei¬
nen Prozeß gewonnen.


Ich glaube, jeder gebildete Mensch, also alle meine Leser, wer¬
den an einer solchen gerichtlichen Erfahrung genug haben. Was
ist aber das nothwendige Resultat hiervon? daß man alle diese
Räubereien erduldet und dadurch ermuthigt.- So also sehen Sie
wohl, meine geehrten Leser, wie schwer die Beantwortung der Frage
ist, welche die Ueberschrift dieser Seiten gebildet hat.


II-
Was kostet jede Minute unseres Lebens?


Wie meinen Sie das? — wird man nach Lesung dieser Ueber-
schuft fragen. Ist von süßen Täuschungen und bitteren Enttäu¬
schungen die Rede, von Illusionen und Phantasiebildern, von Haa¬
ren und Zähnen, kurz von all dem die Rede, was im Laufe der


[]

Jahre und Monate, der Tage, Stunden und Minuten uns verlässt?
Keineswegs, lieber Leser! — Ich will nicht von all diesen abgedro¬
schenen Gemeinplätzen hier sprechen? Was geht mich die moralische
Welt an! Dazu bin ich viel zu prosaisch und positiv. Sollte ich in
meinen Jahren etwa noch Klagelieder singen über diesen Kranz von
eingebildeten Blumen, den die Dichter erfunden haben, um das
Haupt der Menschen damit zu zieren, wenn er in'ö Leben eintritt!
Soll ich Jeremiaden darüber anstimmen, wie theuer unsrem Herzen
und unsrem Geist die Erfahrung zu stehen kommt, diese lange Rei¬
henfolge immer neuer Dummheiten! Soll ich Elegien weinen
darüber, daß der Mensch vergeht, obgleich er in seinen Kindern und
Enkeln von Neuem auflebt! (Beiläufig bemerkt, ist Letzteres für die
Menschen doch nicht ganz dasselbe und mancher gar zu lebenslustige
würde die Seelenwanderung vorziehen). Nein und abermals nein,
mein lieber Leser! Von all diesen Dingen will ich in diesen aus¬
drücklich zu Deiner Unterhaltung lob Belehrung geschriebenen Zei¬
len nicht sprechen. Lassen wir ruhig die Begierden, Kräfte und
Leidenschaften im Menschen ersterben, je nachdem er seine Jugend
erlebt hat! Lassen wir ihn eine nach der andern seine Illusionen,
seine Hoffnungen, all die leeren Spiegelbilder seines Herzens und
Geistes verlieren! Sehen wir ruhig zu, wie die Liebe von ihm hin¬
wegfliegt, wie die Freundschaft wankend wird, und wie seine Zähne
desgleichen thun, wie sein Bart erst grau und dann weiß wird, wie
seine Haare bleichen und ausfallen! Kurz, lassen wir ihn in seinem
ganzen physischen und moralischen Wesen nach und nach den Einfluß
des großen Naturgesetzes aller Dinge empfinden, die gewesen
sind und die alle mit Nicht mehr sein enden werden. . . . Sagt
man doch, die Welt selbst werde kein anderes Ende nehmen. . . .
Es wird dazu, so heißt es, nur eines Posaunenstvßeö bedürfen.
Frage: was wird nach dem Weltenuntergang aus dieser Posaune?


Also, wohl verstanden, es wird hier nicht die Rede sein von
dem, was das Leben uns an Seele und Körper kostet, — sondern
ganz einfach von dem, was es uns an baarem Gelde kostet. Ich
will hier einmal den Versuch machen, aus Quittungen über Haus¬
miethe, aus Rechnungen von Schneider und Schuhmacher, von
Waschfrau und Apotheker u. dergl. mehr ein — nun sei es auch
nur, ein Feuilleton zu machen.


[]

In den zahlreichen gesellschaftlichen Abtheilungen aus den ver¬
schiedenen Klassen der Welt, will ich mir, eingedenk der Horazischen
»ni-on, no(Il«erit»8, eine Person auswählen, die entweder durch vä¬
terliches Erbtheil oder als Ertrag ihrer täglichen Arbeit zu den
mittelbegüterten gehört, welche eine Einnahme von 1800 Thalern,
sage 15,0 Thaler monatlich, genießen. Wir wollen nun im Folgen¬
den sehen, wie dieser Einnahme von den Ausgaben das Gleich¬
gewicht gehalten wird. Vorauszusetzen ist dabei noch, daß von ei¬
nem Gar^on die Rede ist.


Die Erfahrung hat unwiderleglich dargethan, daß die materiel¬
len Nothwendigkeiten des Lebens bestehen in: Wohnung, Nah¬
rung, Kleidung, Bedienung und Gesundheitspflege. Für
moralische Nothwendigkeiten halten wir, bei dem Rentier: eine Ar¬
beit, die ihn hindert, an Spleen oder Langeweile zu sterben; bei dem
vom Ertrag seiner Arbeit Lebenden: geistiges Amüsement. Für
Beide gehört hieher noch fortschreitende Belehrung.


Nehmen wir nun die materiellen Nothwendigkeiten, deren Zahl
gewiß Niemand für übertrieben halten wird, eine nach der andern
in Bezug auf den Kostenpunkt vor. Zunächst also kommt:


Die Wohnung.


Für einen Junggesellen, der auf 18it0 Thaler Einnahme rech¬
nen kann, ist es weise und passend zugleich, eine Wohnung für
180 Thaler zu miethen ; denn ein Grundsatz der häuslichen Oeko-
nomie lautet dahin, der Miethzins solle sich auf ein Zehntel der
Einnahme belaufen. Eine Wohnung also für 180 Thaler jährlich,
das macht fünfzehn monatlich, also 15 Silbergroschen täglich, oder
7^ Pfennig stündlich. Die Unmöglichkeit, diese Zahl noch zu dividi-
ren, verbietet uns die Theilung für den Augenblick bis auf die
Minute fortzusetzen: wir wollen diese daher erst dann anwenden,
wenn mehrere Posten addirt eine durch 60 theilbare Summe dar¬
stellen werden. Um aber auf unsere Wohnung zurückzukommen:
man kann doch nicht innerhalb der 4 nackten Wände wohnen, und
hat man eine Wohnung für 180 Thaler, so muß man auch daran
denken, sie passend und mit einigem Comfort auszumeublircn, um
dieses jammervolle Dasein besser ertragen zu können. Nun nehme
ich an, daß, um eine Wohnung von 4 Zimmern — Wohnung, Sa¬
lon, Studirzimmer und Bibliothek, Schlafcabinet — einigermaßen


[]

anständig mit Meubles zu versehen, man zwischen KW Thaler
beauchen würde. Da wir aber unser Grundcapital nicht verringern
wollen, so begnügen wir uns in dieser Berechnung, nur die Zinsen
zu 5sZ zu veranschlagen und sie der Ausgabe für die Wohnung hin¬
zuzufügen, so daß diese uns jetzt jährlich um 30 Thaler theurer zu
stehen kommt. Dieser Zuschuß, gehörig vertheilt, giebt für den Mo-
nat 2^ Thaler, also täglich 2^ Silbergroschen und stündlich ^ Pfen¬
nig. Rechnen wir dies zu den obigen 7^ Pfennig, so erhalten wir
Pfennig, eine Summe, die wir hiermit als stündliche Ausgabe
für Wohnung und Meubles notiren wollen, worin wir übrigens
auch die Heizung für den Winter einbegriffen zu sehen wünschen,
obgleich wir bisher nicht davon gesprochen.


Geben wir also zu etwas Anderem über. Doch halt! Mein
Mobiliar dauert nicht ewig; es muß von Zeit zu Zeit reparirt
werden und durchschnittlich schafft man eigentlich alle zehn Jahre
neue Meubles an: dies muß also mit veranschlagt werden. Nun
wir wollen sehen, wie wir dies machen. Ein Capital zu Zin¬
sen verdoppelt sich in 20 Jahren, wachst also in 10 Jahren um die
Hälfte seines Betrages. Wenden wir diesen Grundsatz im umge¬
kehrten Sinne an, so ist es klar, daß, wenn mich meine Meubles,
als nur zu 5<Z auf meiner Einnahme lastendes Kapital, stündlich
1^ Pfennig gekostet haben, sie bei einer Erneuerung von zehn zu
zehn Jahren das Doppelte kosten werden. Zu obigen Pfennigen
muß ich also noch 1^ Pfennig hinzufügen: in Summa also 11 Pfen¬
nige, und nun denke ich, wird über diesen Punkt nichts mehr zu
sagen sein. Werfen wir also als ersten Posten vus: eine Stunde un¬
ter Dach und Fach, eine Stunde in seiner meublirten Wohnung
kostet unser Individuum.........10 Pfennige.


Das zweite unabweisbare Bedürfniß eines jeden Menschen ist:
Nahrung. Ich muß gestehen, dieser Punkt ist einer größeren
Willkür unterworfen, als der voriges aber ich hoffe auch hier daS
rechte Verhältniß zu treffen und mich init Dir, lieber Leser, zu eini¬
gen. Nicht wahr, für ^ Thaler kann man recht anständig überall
zu Mittag essen?


Wenn wir Frühstück und Abendbrod zusammen auf 10 Silber-
groschen berechnen, so haben wir wohl auch daS Gehörige angenom¬
men, und so kann also auch unser Gar^on seine Lebenskräfte täglich


[]

für 25 Silbergroschen stärken und erneuern. Hier haben wir leichte
Theilung: die Stunde ergiebt 1 Silbergroschen und ^ Pfennig. Von
kleinen Extraausgaben in diesem Punkt werden wir später unter
einer andern Rubrik sprechen: setzen wir also als zweiten Posten aus:
Nahrung kostet stündlich.........12^ Pfennige.


Wir haben als dritte materielle Nothwendigkeit die Kleidung
angesetzt und sind hiermit zu einem noch vielmehr der Willkür je¬
des Einzelnen anheimgestellten Punkt gekommen. Jedermann kleidet
sich nach seiner Einsicht: die Einen mit Sorglosigkeit, die Andern
mit vieler Sorgfalt; wir müssen also auch hier, wie bisher, einen
mittlern Durchschnitt annehmen. Da jedoch jedenfalls dieser Artikel
überaus elastisch ist, so muß ich diejenigen meiner geehrten Leser,
welche mit meinen Angaben nicht übereinstimmen, ersuchen, die Berech¬
nung, die wir hier gemeinsam anstellen, nach ihren Ansichten von der
Sache zu modificiren, vorausgesetzt nämlich, es liegt ihnen etwas
daran, das Resultat dieses Feuilletons zu finden.


Fangen wir nun mit unserem Menschen von oben an, d. h.
mit dem Kopfe und bekleiden ihn bis zum Fuße, so werden wir ihn
ganz und gar durchgenommen haben.


— Hut.


Man muß wenigstens 2 zugleich haben, also 4 im Laufe des
Jahres. Da man noch nicht dahin gekommen ist, irgend ein Me¬
tall so weit zu bearbeiten, daß man Hüte daraus verfertigen, also
die gebrauchten umschmelzen kann, so läßt sich von alten Hüten kein
Gebrauch weiter machen: höchstens kann man Filzfohlen daraus
schneiden, um sich im Winter vor feuchten Füßen zu schützen. Man
muß also nothwendig jedes Jahr 4 Hüte haben; sollte auch einer
oder der andere meiner Leser von übertriebenen Lurus sprechen, so
ist doch mein Genüssen ganz ruhig und kann ich diesen Vorwurf
nicht allein ablehnen, sondern auch widerlegen.


Mögen meine geistreichen Leser nur gefälligst daran denken,
um wie viel Hüte man in Kaffeehäusern, Konditoreien und andern
öffentlichen Orten bestohlen wird, wie viel im Gedränge zerdrückt,
wie viel im Theater plattgedrückt werden; mögen sie bedenken, wie
oft die äußern Ränder eines sonst noch sehr brauchbaren Hutes durch
das viele Grüßen so abgenutzt sind, daß man den Hut cassiren muß;
wie oft man durch einen Platzregen überrascht wird, ohne mit einem


12
[]

Regenschirm versehen zu sein. Diese und noch manche andere Uebel¬
stände berechtigen also zu dem Schluß, daß kein Gar^-on, der anstän¬
dig seinen Kops, bedeckt haben will, weniger als die oben angegeben«
Zahl von vier Hüten haben darf, worunter dann einer grau, weiß
oder sonst nach Belieben sein kann. So sind mir also für Hüte
15 Thaler jährlich zugestanden.


Nun bitte ich, mir zu sagen, ob Jemand es für eine übertrie¬
bene Forderung hält, wenn ich für Käppchen, Reisemützen u.s.w., mit
einem Worte, für alle Arten Kopfbedeckungen im Hause, oder, wo man
vom Hute incommodirt wird, noch 3 Thaler jährlich verlange? Ge¬
wiß nicht zu viel, also in Summa sür Kopfbedeckungen jährlich
18 Thaler, macht monatlich 1^ Thaler, täglich 1^ Silbergroschen;
für die Stunde müßten wir hier einen bloßen Pfennigbruch ansetzen:
wir wollen also warten, bis der nächste Betrag uns zu ganzen
Pfennigen verhilft, um so mehr, da wir vorher noch einer Einwen¬
dung begegnen müssen, die man gegen dieses Kapitel unseres Bud¬
gets zu erheben nicht unterlassen wird. Man kann mir nämlich
einwerfen, da ich sür den Tag 24 Stunden annehme, man aber
wenigstens während eines Drittels dieser Zeit seiner Kopfbedeckung
sich nicht bedient; — denn etwaige Schlafmützen gehören unter das
Kapitel: Leibwäsche — so müßte ich die Basis meiner Berechnung
ändern. Sehr scharfsinnig und wahr, dem Anschein nach, und in
Wahrheit doch falsch ; denn, wenn wir auch zugestehen müssen, daß
wir während unseres Schlafes weder Hut noch Käppchen brauchen,
so wird jeder aufmerksame Leser uns dagegen Recht geben, wenn
wir behaupte!?, daß die in Rede stehenden Gegenstände in den Ecken,
in die man sie hinwirft, auf oder unter den Meubles, wo man sie
dem Staube aussetzt, eben so viel leiden und um eben so viel sich
verschlechtern und daß ihr Dienstalter, das sie zu endlichem Ruhestand
berechtigt, während sie im Staube rollen, eben so fortschreitet, als
wenn sie unsere Häupter bedeckten.


. Ohne den Kopf zu verlassen, haben wir unter dem Hute die
Haare, folglich ihre Abmähung und Frisur zu besprechen. Etwas
weiter unten haben wir dann den Bart. Bei diesen beiden Gegen¬
ständen, besonders aber bei letzterem, ist eigentlich das Nichtdasein
kostspieliger als das Dasein.


Doch zur Sache. Wer von seinem Barbier sorgsam bedient


[]

sein will und ihm nicht allein die Sorge anvertraut, ihn täglich
von dem Haarüberschuß zu befreien, den die Mode nicht in unsern
Gesichtern dulden will, sondern ihn auch mit der Aufsicht über ge¬
höriges Wachsthum oder vielmehr rechtzeitige Verminderung und
schönes, möglichst künstlerisches Aussehen des Haupthaares beamtet,
kann dieser wichtigen Person nicht weniger als 1.^- Thaler monatlich
geben. Und es ist auch wohl nicht zu viel für tägliches Rasiren
und Frisiren und monatliche Wollschur. Nasirt man sich selbst, so
giebt man diese Summe schon allein in ToileMntischchen, Rasirmes-
fern, Schleifsteinen, Seifen und tausend andern Dingen aus. Nun
kann wohl einer oder der andere meiner Leser von der Natur
so günstig bedacht sein, daß sein stets gelocktes oder lockendes — nicht
blos sich selbst, sondern auch Damenbewunderung — ihn den Fri¬
seur entbehren läßt: aber die Natur kann ihm, was sie so reichlich
giebt, nicht auch selbst nehmen, und kein junger Mann findet wohl
im Laufe eines Jahres so viel Gelegenheit, zarte Liebespfänder
auszutheilen, daß er hierdurch stets von einer gehörigen Anzahl Locken
befreit würde. Also bleibt immer noch eine Ausgabe für Haarschnei-
den: rechne man für diese Haare noch dazu, was sie an Pommaden,
Macassar- und anderen Oelen und sonstigen Schönheitsartikeln be¬
dürfen, so wird der Totalbetrag darthun, daß meine obige Annahme
von 1.^ Thaler monatlich für sämmtliche, das Haar betreffende Aus¬
gaben durchaus gemäßigt ist. Diese Thaler monatlicher Ausgabe
machen 1^- Silbergroschen täglicher, und da wir hier wiederum auf
fernere Unteilbarkeit stoßen, so wollen wir die tägliche Ausgabe von
l ^ Silbergroschen für den Hut dazu schlagen, so daß wir für Alles,
was den Kopf betrifft, einen Totalbetrag von täglich 3 Silbergro¬
schen erhalten, somit diesen Posten für eine Stunde auswerfen kön¬
nen mit...............1ä Pfennig.


Wir wollen nun vom Kopf zum Leibe hinabsteigen. Dem Le¬
ser bleibt es immer unbenommen, unsere Rechnungen nach seinem
Belieben umzuändern, wenn die Grundlagen der meinigen ihm nicht
hinlänglich vernünftig scheinen oder ihn in seinen Gewohnheiten verletzen.


Wir wollen einmal sehen. Zwei Klciver —Fracks oder Röcke —
jährlich, ist das zu viel oder zu wenig? Ja, wird man allgemein mir
zugeben, das hängt davon ab, wie sorgfältig man damit umgeht.
Trotz dem wird der ältere Theil meiner Leser es für zu viel, der


12»
[]

jüngere für zu wenig halten: da ich nun diese beiden Ertreme nicht
zu vermitteln weiß, so beharre ich auf meinem, wie ich glaube, ge-
mäßigten Ansätze. Den einen Winter läßt man sich einen Paletot
machen, den nächsten einen wattirter Oberrock; den einen Sommer
braucht man einen neuen Frack; dafür giebt eS den nächsten einen
Sommerrock. Nun sieht natürlich Jedermann ein, daß hiermit nicht
gesagt sein soll, keins dieser Kleider solle länger als ein ^ Jahr
aushalten: im Gegentheil wird darauf gerechnet, daß, wenn man
jährlich zwei neue Kleidungsstücke anschafft, durchschnittlich eine Gar¬
derobe von sechs, mehr oder minder stattlichen Oberkleidern neben
einander im Dienste sein kann. Das ist im Ganzen, wie ich glaube,
eine vernunftgemäße Annahme. Ich berechne nun diese zwei Ober-
Neider auf 8V Thaler jährlich. Ferner nehme ich eS auf
mich, die Anzahl der Beinkleider auf vier festzustellen, zwei von Tuch,
zwei von irgend einem andern Stoffe für den Sommer; auch hier
wird vorausgesetzt, daß die Beinkleider vom vergangenen Jahr noch
brauchbar sind; denn man macht ja, wenn ^man sie ein oder zwei
Dutzend Male getragen, noch nicht Zunder daraus. ' Diese vier
Beinkleider also, worunter zwei tuchene, will ich mit 40 Thalern
berechnen. Meine und manches Andern Erfahrung verlangt viel¬
leicht etwas mehr; doch ich will hierin nichts ändern, weil viele
Leser die Summe ohnedieß zu hoch angesetzt finden werden.


Unter derselben Voraussetzung, wie bei den andern Kleidungs¬
stücken (nämlich des Gebrauchs der vorjährigen) sind vier Westen
auch eine bescheidene Annahme. Da sind also 30 Thaler den
obigen 80 und 40 Thalern hinzuzufügen; oder zusammen 150 Tha¬
ler. Nun habe ich zwar Winterwesten und Ballwesten gekannt, von
denen man noch nicht die eine Hälfte für 25, Thaler hätte chaben
können; das sind aber außerordentliche Fälle, die im Laufe der gewöhn¬
lichen und vernünftigen Dinge keine Berücksichtigung finden können.


Nun wollen wir noch für Ausbesserungen, neue Sammtkragen,
neue Knöpfe, neues Futter, Aufbügeln, neue Taschen einsetzen, Flek-
kcnauSmachen und all dergleichen Dinge etwa 30 Thaler jährlich
rechnen, und wir erhalten dann als Totalsumme für alles die Klei¬
dung Betreffende einen Jahresbetrag von 180 Thalern, gerade so
viel, als uns die Hausmiethe kostet, also stündlich kostet unsere
Kleidung.........7z Pfennig.


[]

NotiUisne. Wie man mit weniger sich anständig kleiden kann,
begreife ich nicht gut. Und die Halsbinden? Und die Halstücher?
Und die Leibwüsche? Und die Taschentücher? Und die Handschuhe?
(O! die Handschuhe!) Kurz Alles, was man in die Fächer seiner
Kommode legt.


Nun, berechnen wir Leibwäsche, Hemden, Unterhosen, Taschen¬
tücher, Halstücher, Strümpfe, kurz Alles, was man der Wasch¬
frau giebt, in Bausch und Bogen, und es wird für Jemanden, der
erträgliches Leinen am Leibe haben will, eine Summe von 45 Tha¬
ler jährlichen Verbrauches gewiß nicht zu viel sein. Die Waschfrau
wird, wenn man zeitweilige Ausbesserungen mit veranschlagt, wohl
auch über 2 Thaler monatlich kosten, so daß wir im Ganzen für
Wäsche und deren Unterhalt jährlich 72 Thaler ansehen können,
was für den Monat 6 Thaler, für den Tag 6 Silbergroschen macht.
Die Kosten unserer Wäsche für eine Stunde belaufen sich also
auf................3 Pfennige.


Die Handschuhe!!!


Ich muß gestehen, dies ist von allen willkürlichen Sachen viel¬
leicht die'allerwillkürlichstc. Es giebt eine ganze Menge sehr acht¬
barer Leute und die ihre gesellschaftliche Stellung vollkommen würdig
ausfüllen, welche keine anderen Handschuhe kennen, als . . . ihre
Taschen. Andere, eben so achtbare und würdigem. . . . kaufen bald
hier, bald da ein Paar, bald von der, bald von jener Farbe, meist
schwarz: diese Gattung Leute werden diese Ausgabe weder als eine
regelmäßige, noch als eine nothwendige betrachten und sie daber keiner
Stelle in ihrem Budget würdig halten. Es giebt aber auch Leute
(immerhin sehr achtbare und ehrenwerthe...), welche finden, daß die
Hand eben so nothwendig beschuht sein muß wie der Fuß. Ja,
Einige gehen in der Sorge hiefiir sehr weit; noch Andere treiben
es bis zum ruinirenden Fanatismus. Eben so giebt es aber eine
Klasse wohlanständiger Leute, — und an diese wollen wir uns mit
unserer Berechnung' halten, weil wir selbst derselben, wie wir
glauben, temperirten Ansicht sind — welche der Meinung sind, daß
schwarze Handschuhe für tägliche Geschäfte und Ausgänge oder Pro-
menaden, und gelbe Glacehandschuhe für den Sonntag oder für Be-
suche für die Ehre eines Gar?on, der sich zu präsenttren liebt, hin¬
reichend sind. Diese haben also monatlich vier Paar schwarze


[]

Handschuhe zu ^ Thaler und sechs Paar von hellgelber oder sonst
leicht schmutzender Farbe zu G Thaler das Paar, was eine monatliche
Ausgabe von 6 Thalern constituirt, somit eine tägliche von 6 Silber-
groschen und zu einem stündlichen Ansatz von ... 3 Pfennigen
hinlänglich berechtigt.


— Aha! hier habe ich Sie nun ertappt! — höre ich diejenigen
meiner Leser ausrufen, welche die Geduld gehabt haben, mir soweit
in meinen logischen und mathematischen Deduktionen zu folgen, —
schläft man er Handschuhen? Weshalb also eine Ausgabe für
die sämmtlichen 24 Tagesstunden vertheilen, welche höchstens auf 16
derselben Anwendung findet? Und auch das kaum; denn ißt, trinkt,
schreibt u. s. w. man mit Handschuhen? Trägt man sie, wenn man
zu Haus ist?


— Ja, mein gestrenger Leser, in Wahrheit, Du hast nicht Un¬
recht. Man schläft freilich nicht in strohfarbenen Handschuhen (aus¬
genommen in gewissen Concerten, oder zuweilen im Theater, oder
während einer Akademicfeierlichkeit); eben so wenig treibt man seine
täglichen Verrichtungen behandschuht, und in so fern ist meine Ein-
theilung nicht ganz streng richtig. Aber, während man keine
Handschuhe trägt, beschmuzt man sich die Hände und Nägel, muß
also erstere waschen, letztere abschneiden, feilen, bürsten in. Berechnet
man nun den Verbrauch von Seife, Handtüchern, Scheeren, Nagel¬
bürsten :c., so könnten wir . . . Nun, nicht wahr, lieber Leser, Sie
bewilligen meinen obigen Ansatz, damit ich nur nicht noch mehr
fordere?


Um nun die kostspieligen Ausgaben des Artikels Anzug zu
beenden, bleibt uns nur noch übrig, unser Individuum auf einen
respektablen Fuß zu stellen, d. h. für seine Fußbekleidung zu sorgen.


Die Einen gehen gerade, die Anderen einwärts oder auswärts,
oder treten ihre Stiefeln krumm: natürlich also brauchen die Einen
weniger, die Andern mehr. Die Einen machen sich gern viel Be¬
wegung, Andere sind durch ihren Stand zum Tage- oder stunden¬
langen Sitzen verdammt, und solcher Verschiedenheiten, die auf diesen
Artikel Einfluß haben, giebt es noch unzählige. Seit einigen Jah¬
ren hat man das lacktrte Leder erfunden; es kostet mehr und hält
weniger aus, als das gewöhnliche. Um dieses Leder zu verbrauchen,
hat man allerhand niedliche Sttefelchen, Brodequinö :c. von Seide,


[]

Wolle, Leinen u. s. w. erfunden, die ebenfalls kostspielig und unsolid
sind. Es ist also überaus schwer, hier eine für Jedermann passende
Summe anzunehmen, und wir müssen unsere Leser immer wieder
bitten, ihre eigenen Ansichten und Berechnungen den unsrigen zu
substituiren. Ich will jedoch einen durchschnittlichen Verbrauch von
sechs Paar Stiefeln jährlich, einfachen, gewöhnlichen Stiefeln, an¬
nehmen; dazu dann 4 Paar jener verschiedenartigen lackirten, seide¬
nen oder sonstigen Luxusartikel, worunter ich auch die EscarpinS
für den Ball mit einbegriffen haben will. Das Alles veranschlage ich
auf 48 Thaler jährlich, was 4 Thaler monatlich und 4 Silbergro¬
schen täglich ergiebt. Eine Stunde also, die wir auf unsern Füßen
zubringen, kostet uns...........2 Pfennige.


Gott sei Dank, nun haben wir unser Individuum von Kopf
bis auf den Fuß höchst anständig bekleidet, nachdem wir ihn vorher
unter Dach und Fach gebracht und ihm zu essen gegeben haben, und
das Alles kostet ihn nur . . . Halt! wir sind noch nicht fertig: ein
Mensch, der nach dem bisher angegebenen Verhältnisse wohnt, speist
und sich kleidet, macht wedcy sein Bett allein, noch kehrt er selbst sein
Zimmer, noch schüttelt er seinen Teppich selbst aus, noch putzt er
seine Stiefeln, noch klopft er seine Kleider selbst aus :c. Er hat
also irgend einen dienstbaren Geist, der einige Stunden seines Tages
darauf verwendet, all diese häuslichen Bedürfnisse des gnädigen
Herrn zu befriedigen, der unter Andern auch sein Frühstück bereitet,
die nothwendigen Einkäufe macht u. f. w. Was dieses Individuum
an Lohn, so wie an abgelegten Kleidungsstücken, abgegriffenem Hü¬
ten, durchgelaufenen Stiefeln u. s. w. erhält, kann auf monatlich
4 Thaler angeschlagen werden. Eben so hoch kann man durchschnitt¬
lich dasjenige berechnen, was, im Gegensatz zu den Feudalzeiten, der
Diener an Diener-Recht von seinem gnädigen Herrn erhebt,
d- h. die kleinen Markt- oder Schwänzelpfennige, oder wie man
sonst die Uebertheuerungen der Diener bei allen Einkäufen auf Rech¬
nung ihrer Herrn in den verschiedenen Welttheilen nennt. In
Summa also kostet unser dienstbares Wesen monatlich 8 Thaler oder
täglich 8 Silbergroschen. Unsere Bequemlichkeit, unsere Herrschaft¬
lichkett verlangt also eine stündliche Ausgabe von . 4 Pfennigen.


Ich habe oben unter den materiellen Lebensbedürfnissen auch
die Gesundheitspflege aufgezählt: dagegen wird, wie ich hoffe, selbst


[]

derjenige Theil meiner Leser nichts einzuwenden haben, der alle
meine bisherigen Berechnungen zu chikaniren Lust hätte. Wir wol¬
len also diesen Punkt weiter entwickeln.


Die Unterhaltung der Gesundheit, die man besitzt, erfordert:


Eine vollkommene Reinlichkeit — also wenigstens ein Bad
wöchentlich und tägliche Flußbäder im Sommer. Ferner ist nöthig,
daß man trinke, wenn man Durst hat, — esse, wenn man hungrig
ist, — sich erfrische, wenn man erhitzt ist, - sich erwärme, wenn
man friert. Um nun das körperliche Gleichgewicht in solchen Be¬
ziehungen herzustellen, giebt es eine Menge Orte, wohin man sich
begeben kann, wenn man nicht gerade in seine eigene Behausung
gehen will: man geht freilich in jene Anstalten, die Kaffeehäuser,
Conditoreien, Estaminets u. s. w. heißen, zuweilen auch, ohne daß
unser Körper einer Wiederherstellung des Gleichgewichts bedarf, und
derangirt dasselbe im Gegentheil dadurch ... das geht uns aber
hier nichts an.


Die Nothwendigkeit, sich durch körperliche Uebungen in gutem
Gesundheitszustand zu erhalten, wird nun den Einen oder den An¬
dern aus meinem werthen Leserkreise bewegen, entweder täglich eine
Stunde auszureiten, oder eine Stunde den Fechtboden zu besuchen,
oder zu schwimmen und was dergleichen Ercrcitien mehr sind.


Alle diese Dinge nun veranlassen zu Ausgaben, deren Berech¬
nung schwierig ist, die wir jedoch versuchen wollen. Im Sommer
Abends ein Glas Eis oder Sorbet, im Winter einige Flaschen Bier
oder eine halbe Flasche Wein; nach Tisch zur Beförderung der Ver¬
dauung ein Glas Zuckerwasser oder eine Tasse Caffee, nebst einer
Cigarre; vor Tisch, um den Appetit zu reizen, ein kleiner Bittrer;
ein Paar Pastetchen beim Conditor, um eine gewisse sich bemerkbar
machende Leere des Magens zwischen einer Mahlzeit und der an¬
dern auszufüllen, sodann eine Stunde in der Reitbahn oder auf dem
Fechtboden oder in der Schwimmschule, — das Alles etwa zu 18 Thalern
monatlich berechnet, ist wohl nicht zu viel. Und ist die Summe
selbst für die Erhaltung der lieben Gesundheit etwa zu stark? Doch
auch nicht. Die liebe Gesundheit kostet also in ihrem normalen
Zustande und um diesen zu erhalten, täglich 18 Silbergroschen oder
stündlich........9 Pfennige.


Trotz all dieser Ausgaben, — oder vielleicht zum Theil wegen


[]

derselben, wird mancher Spötter sagen — gefällt es unsrer lieben
Gesundheit zuweilen, sich zu derangiren; wir müssen dann zum Arzt
und Apotheker unsre Zuflucht nehmen und diese Herrn, nebst dem
Gefolge ihrer Tränkchen, Pulver :e. in. kosten ein Jahr ums andre
gerechnet, etwa 24 Thaler, monatlich also 2 Thlr., täglich 2 Sgr.
oder stündlich ........ I Pf.


Solchergestalt kosten also die Mittel zur Erhaltung unsrer Ge¬
sundheit 9 mal so viel als die zur Wiederherstellung derselben: und
doch mißbrauchen wir die ersteren gar oft, während man von der
letzteren selten einen andern, als einen überaus mäßigen Gebrauch
machen sieht. Freilich sind jene auch sehr angenehm, letztere dagegen
meist bitter und gesalzen.


Wir haben also nun enolich den Menschen in all den mate¬
riellen Bedürfnissen betrachtet, die seine sterbliche Hülle erfordert.
Er wohnt anständig, ißt und trinkt gut, trägt schone Kleider, wird
— je nachdem ihn das Glück begünstigt — gut oder schlecht bedient
und befindet sich leiblich wohl. . . . Was fehlt ihm nun noch?


Keiner meiner Leser, das bin ich vorauszusetzen berechtigt, wird
mir antworten: Nichts; im Gegentheil glaube ich fast annehmen
zu dürfen, daß der größere Theil derselben mich hier ungeduldig
erwartet, indem ich jetzt nothwendig in den 2ten Theil meiner Be¬
rechnung eingehen muß, der die moralischen Bedürfnisse betrifft, die
wir unter geistiges Amüsement und fortschreitende Beleh¬
rung oben classificirt haben. Denn daS kann billigerweise Niemand
verlangen, daß wir berechnen sollen, was einen Rentier irgend eine
tägliche Beschäftigung kosten kann, der er sich außer dem Gebiete
der Belehrung vielleicht ergiebt, etwa Actionnair eines Theaters,
Journals oder einer Eisenbahn zu sein u. s. w. Das streift
in's commercielle Gebiet, denn das erfordert eine Capitaleinlage und
bringt auch wieder Capitalien, das geht uns also nichts an.


Belehrung also! Darin ist wohl Jedermann mit mir einver¬
standen, daß die Erziehung, die uns in Elementarschulen unter der
Herrschaft der Magister-Bakel, in Gymnasien unter der Tyran¬
nei der Strafarbeiten und deS Arrestes, auf Universitäten unter der
drohenden Angst des Staatseramens zu Theil wird, zwar sehr
wesentliche Bestandtheile einer vollständigen Erziehung sind, aber
nothwendig noch ein Complement erfordern, das uns erst durch den


[]

Besuch der Welt, durch die tägliche Berührung mit der Gesellschaft
wird. Ferner giebt es wohl keinen jungen Mann in den Zwanziger
Jahren, der nicht noch irgend einen Lehrer oder Professor in seinem
Solde hat, sei eS für eine neuere Sprache, sei es für eine Kunst.
Diese Studien, besonders im letzteren Falle (wie Musik, Maleret)
verursachen bedeutende Ausgaben. Die Lectüre, das Studium, die
Literatur, dieser letzte duftende Firniß einer vollständigen Erziehung,
kostet Geld; man muß sich nach und nach eine Bibliothek anschaffen,
man abonnirt auf eine oder die andre literarische oder künstlerische
Zeitschrift.


Amüsement! Ja, da weiß ich weder Maß noch Ziel, denn
dies ist das elastischste Wort, das ich kenne. Amüsiren? Ja, was
versteht man darunter? Theater und Concerte besuchen? Ja daS
ist fast mehr ein Bestandtheil jenes obenerwähnten Complemcnts
unsrer gesellschaftlichen Erziehung. Also Bälle, Gesellschaften,
Reisen? . . ,


Wo soll ich hier eine Grenzlinie finden, die mir erlaubt, eine
bestimmte Zahl anzusetzen. Meine verehrten Leser werden wohl mit
mir einsehen, wie unmöglich hier die mathematische Genauigkeit wird,
deren ich mich in meinen bisherigen Berechnungen beflissen habe.
Um aber zu irgend einem Resultat zu kommen, bleibt mir nur fol¬
gendes Verfahren übrig. Ich will den Totalbetrag aller bisher
sür'S Budget der materiellen Bedürfnisse votirten Summen berechne»,
wodurch zugleich der von unsern Lesern vielleicht längst ersehnte
Schluß unsres Artikels herbeigeführt wird. Was dann diese Summe
von der jährlichen Einnahme von 1800 Thalern, die wir als Basis
unsrer Berechnungen gelegt, noch übrig läßt, — das kann für die
beiden Capitel der Belehrung und des Amüsements verwandt wer¬
den, wenn man nicht noch etwa Prämien für Feuerassecuranz, für
Lebensversicherung in, und Oekonomien für die Zukunft davon ab¬
zuziehen hat.


Schließen wir also unsre Bilanz. Wir hatten angesetzt:


[]
  • Jährlich.Stündlich.
  • 180 Thaler. ^
  • 2.^-
    F. Meubles und Heizung . .. 60 -'
  • F. Nahrung ........ 300 -1^
  • F. Bedeckung und Pflege dcsHauptcS 36 -11 ->>
  • F. Kleidungsstücke...... 180 -?2 -
  • . 72 -s -
  • . 72 -3 -
  • . 48 -2 -
  • 96 -4 -
    '
  • . 296 -9
  • . 241 -
  • Summa1284 Thaler. ,5SZ Pfennige

Rechnen wir für Wohlthätigkeitshandlungen aller Art und
etwaige Ausgaben, die wir vergessen haben, wie z. B. Tabak und
Cigarren ze. etwa so viel, daß die 1400 Thaler voll werden, also
noch 116 Thaler jährlich, was monatlich etwa 9z Thaler, täglich
also 9Z Silbergroschen oder stündlich fast 5 Pfennige giebt, — so
erhalten wir folgendes Doppelresultat:


Von unsrem Einkommen von 18W Thalern können wir etwa
4V0 auf unsre geistige Belehrung und Unterhaltung verwenden;
alle übrigen Bedürfnisse unsres Lebens kommen uns stündlich auf
53z und nachträglich noch auf 5,, also zusammen auf 58z Pfennige
zu stehen; oder wenn wir die Frage in der Ueberschrift dieses Auf¬
satzes beantworten wollen: die Minute unsres Lebens kostet uns
nicht ganz einen Pfennig.


[]

Aus dem Studienhefte eines Musikers



Neben den unendlich vielen Gegenständen, welche in unsrem alten
Erdtheil das Interesse aller Civilisirten in Anspruch nehmen, ist seit"
einigen Jahren ein neuer aufgetreten, der, wenn auch zu allen Zei¬
ten ein Gegenstand der Theilnahme, doch nie in einem so hohen
Grade und so lebhast dieselbe sich zu erringen gewußt hat. China,
das ungeheure Mittelreich, das in uralt-conservativer Staatsweisheit
allen Eindruck fremder Sitten und Gebräuche sich fern zu halten
und seine eignen in ungeänderter Einfachheit zu bewahren verstanden
hat; China, das durch diesen allen Fortschritt hemmenden Geist von
der rastlosen, unruhig vordringenden Europäischen Bildung wirk¬
samer geschieden wird, als durch seine Mauer von vergoldetem Por¬
cellan, — es ist uns nun plötzlich durch den hartnäckigen, jahrelan¬
gen Widerstand, den eS dem um sich greifenden commerciellen und
politischen, mit Opium und Pulver bewaffneten Erobcrungsgcist
Englands entgegensetzt, unendlich näher getreten- es ist eine Aktua¬
lität geworden. Durch die Wichtigkeit, welche der Ausgang deS
anglo-chinesischen Krieges, es mögen die eisernen Würfel fallen, wie
sie wollen, für das europäische Staatenleben haben kann; durch die
Aussicht, der europäischen Civilisation in China neue Ausgangs¬
punkte zu eröffnen und ihrer Thätigkeit ein zwar nicht jungfräuliches,
aber doch lange brach gelegenes Feld anzuweisen — durch dieß und
unendlich viele andre Dinge, deren Erörterung uns hier zu weit
seitab führen würde, hat China in unserem Vorstellungskreise einen


[]

bedeutend vorteilhafterer Platz gewonnen. Wir hören auf, oder
sollten eS wenigstens thun, die Chinesen für die überaus lächerlichen
Personen zu halten, zu denen sie bisher ein unbegründetes Volksvor¬
urtheil gestempelt. Alles, was zur Gewinnung einer richtigen Idee
von der Verstandes- und Geistes-Bildung dieses so bedeutenden
Volkes beitragen kann, hat daher den Werth einer culturhistorischen
Studie, von welchem Standpunkte aus auch die folgenden Seiten
über die chinesische Musik angesehen und beurtheilt sein wollen.
Da sie obendrein auch noch das Interesse einer Tageöneuigkeit ha¬
ben, so glauben wir den Lesern dieser Blätter keine unpassende noch
unwillkommne Gabe damit zu bieten.


Die Chinesen schreiben der Musik einen sehr alten Ursprung
zu. Sie nennen als deren Erfinder Fo-Hi, ihren ersten Fürsten;
nach Einigen ein Zeitgenosse Noah'S, nach andern Noah selbst.
Fo-Hi hatte eine schone Lyra und eine Guitarre gebaut, welche eine
erhabene Harmonie hervorbrachten, die Leidenschaften bändigten, den
Menschen tugendhaft machten und ihn bis zu den himmlischen Klar¬
heiten emporhoben. Nicht minder geschickt als Orpheus und
Amphion, entlockten die chinesischen Musiker-Philosophen ihren In¬
strumenten Töne, wodurch sie die wilden Thiere zu zähmen und die
Sitten der Menschen, welche oft noch wilder, als die Bestien waren,
zu mildern vermochten. „Wenn ich die klangvollen Steine meines
King ertönen lasse, reihen sich die Thiere um mich her und hüpfen
vor Freude." So sprach der berühmte Könnet mehr als tausend
Jahre vor der Geburt des thrakischen Sängers. Nach der Meinung
der gelehrten Chinesen aller Zeiten, hatte die alte Musik die Macht,
die höheren Geister des Himmels zum Niedersteigen auf die Erde
zu bewegen; sie konnte die Schatten der verblichenen Menschen aus
der Gruft'emporbannensie flößte den Menschen die Liebe zur Tu¬
gend ein und kräftigte sie in der Ausübung ihrer Pflichten. „Will
man wissen, ob ein Königreich gut regiert wird, ob die Sitten der
Bewohner gut oder schlecht sind, so prüfe man die bei ihnen herrschende
Musik." So sprach Confucius, der hei.lige Lehrer, der Weise,
wie ihn die Chinesen per «-xceüencv nennen, lange vor Plato, der
unwissentlich nur seine Worte wiederholte. Man erzählt übrigens
von demselben chinesischen Philosophen, daß, nachdem er eines Tages
auf einer seiner Reisen ein von dem großen Könnet componirteS


[]

Musikstück gehört, dieses einen solchen Eindruck auf ihn gemacht,
daß er länger als drei Monate an nichts Andres zu denken ver¬
mochte, und daß während dieser Zeit selbst die ausgesuchtesten Ge¬
richte nicht im Stande waren, seinem Geschmacke Beifall abzuge¬
winnen. .... Nachdem Hoangti das Reich erobert hatte, wollte
er auf die langen Kriege, welche seine Unterthanen ertragen hatten,
die Wohlthaten des Friedens folgen lassen und denselben sichern, in¬
dem er die schönen Künste und deren Cultur in seinem Reiche be¬
förderte. Er ließ daher Ling-Lun, einen der Großen seines Hofes,
rufen und bat ihn, eine Theorie der Musik auszuarbeiten, indem er
ihm bemerkte, daß falls jener diesem Wunsche nachzukommen unter¬
ließe, er sich in die harte Nothwendigkeit verseht sehen würde, ihm
Zunge und Ohren abschneiven zu lassen. Ling-Lun wurden durch
dieses letzte Argument seines huldvoller Kaisers alle Einwendungen
erspart, die er gegen diesen Auftrag machen wollte, so wie alle Be¬
merkungen über die Schwierigkeit, eine Wissenschaft zu begründen,
deren Theorie so verwickelt sei. Er beschloß also die Elemente der
Kunst zu studiren und trat zu diesem Behufe eine lange Reise an.


Er hatte sich vom Hofe zunächst in die Gegend von Si-jung
im Nordwesten von China begeben. Hier wachsen aus einem hohen
Gebirg die schönsten Bambusrohre. Nun ist der Bambus bekannt»
lich in seiner Länge durch mehrere Knoten zertheilt, wodurch jedes
Rohr in eben so viele, mit einander nicht in Zusammenhang stehende
Röhre getheilt wird. Ling-Lun erging sich im Gebirge, beschäftigt mit
den Gedanken, wie er seine Zunge und Ohren behalten könne; denn
er hatte die Schwachheit, auf diese Theile seines Kopfes viel zu hal¬
ten. Vergebens aber strengte er sein Gehirn an; er sand auch nicht
eine einzige Idee. Die Nothwendigkeit, Genie zu haben, machte ihn
natürlich zum Dummkopf. Während er so betrübt ging, brach er
ein Bambusrohr ab, schnitt zwischen zwei Knoten eine der Rohren
ab, aus denen der Stab bestand, reinigte diese Röhre von ihrem
Marke und blies sodann hinein; — Alles aus Zerstreuung. Man
denke sich sein Erstaunen, als er dem Rohre einen Ton entlockte, der
ihm den Ton seiner Stimme vollkommen zu gleichen schien. Ling-
Lun wandte sein Gesicht nach Norden, und warf sich zur Erde, um
die Gottheit dankbar anzubeten. Kaum hatte er nach der ersten Ent¬
deckung sich zwanzig Schritte weiter bewegt, als er sich in der Nähe


[]

des Ortes befand, wo die Quelle deö Flusses Hoang-Ho entspringt.
Das Wasser quoll mit Kraft aus dem Gebirge hervor und das
Geräusch, welches sein Brausen hervorbrachte, war wunderbarer
Weise im Einklang mit dem Tone, den er dem Bambusrohre ent¬
lockt hatte. „Dieses also," rief er entzückt, „ist der Grundton der
Natur; von diesem müssen alle anderen Tone entspringenI Aber"—
uno hier begann eine neue Sorgcnreihe für ihn — „auf welche
Weise kann dieß geschehen?"


Um hierüber behaglicher sich einem reiflicher Nachdenken zu
überlassen, legte sich Ling-Lun im Schatten eines Baumes nieder,
und von der Anstrengung seiner körperlichen und geistigen Thätig¬
keit gleich sehr ermüdet, schlief er ein. Aber sein Schlaf war un¬
ruhig und dauerte nur kurz; denn ihn quälte ein Traum, in wel¬
chem er lange Reihen von Ohren und Zungen an sich vorbeiziehen
sah. Von diesem peinlichen Eindruck ward er durch einen andern
überaus angenehmen erlöst. Der wunderbare Vogel Toung-Hoang
nämlich hatte sich mit seinem Weibchen auf die Zweige des Bau¬
mes, unter welchem er ruhte, niedergelassen. Nach einem Aberglau¬
ben der Chinesen zeigt sich dieser Vogel den Menschen nur, um
ihnen eine Wohlthat des Himmels zu verkünden. Sobald er be¬
merkte, Ling-Lun sei bereit ihn anzuhören, schlug er drei Mal mit
seinen Flügeln und ließ dann zugleich mit seinem Weibchen die ent¬
zückendsten Töne selner Stimme laut werden. Alle andern Vögel
verstummten, die Jnsecten hörten auf zu Sumsen und die ganze Na¬
tur schien schweigend zu lauschen. Ling-Lun war außer sich vor
Vergnügen, wußte aber bald seinen Enthusiasmus so weit zu be¬
herrschen, daß er, sich gänzlich seiner Rolle als Beobachter über¬
lassen konnte. Bei aufmerksamem Zuhören unterschied er sehr bald
in dem Gezwitscher der beiden Vögel zwölf Tone, von denen das
Männchen und das Weibchen, jedes sechs, hören ließen. Das Selt¬
samste bei der Sache war, daß der erste Ton, den das Männchen
von sich gab, mit der Stimme Ling-Lun'S, dem Tone des Bambus
und dem Geräusch der Quelle des Flusses H o arg-h o übereinstimmte.
Ling-Lun schloß hieraus ein zweites Mal, daß dies der Grundron
sei und daß man von diesem ausgehen müsse, um die übrigen und
das ganze musikalische System zu finden. Er kehrte nun zu dem
Gebirge zurück, wo die Bambus wuchsen und schnitt sich zwölf


[]

Röhren von verschiedener Größe, indem er sinnig und richtig annahm,
daß er durch diese Röhren die zwölf Töne erhalten würde, die er
aus dem Munde des Vogels Toung-Hoang gehört. Da er in
der That so glücklich war, dieses Resultat zu erhalten, so kehrte er zu
dem liebenswürdigsten Hoang-ki zurück, um ihm seine Entdeckung mit¬
zutheilen. Nicht allein bewahrte somit Ling-Lun seine Zunge und
Ohren, sondern er erhielt auch zur Belohnung ein Geschenk, be¬
stehend in den jährlichen Einkünften dreier Städte.


Die Tonleiter der Chinesen besteht aus zwölf Tönen, die durch
das Intervall eines halben Tones von einander getrennt sind. Man
begreift leicht, daß eine aus solchen Elementen gebildete Musik mit
unserer europäischen Kunst wenig Analogien haben kann.


Wir würden daher auch wohl nur sehr wenig Vergnügen ha¬
ben, wenn wir die Lieblingsarien der Chinesen hörten, während
diese ihrerseits in den Melodien, welchen wir unsern Beifall schen¬
ken, nichts Anziehendes finden können. Pater Amyot, einer der
Missionaire, welche um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts sich
in China aufhielten, war ein ziemlicher Musiker; er spielte die Flöte,
ja sogar das Clavier. Er hatte nun den Versuch gemacht, mehre¬
ren sehr gebildeten Chinesen, die er zu sich geladen, die Ueberzeu¬
gung beizubringen, daß die europäische Musik der von Ling-Lun er¬
fundenen bei weitem überlegen sei. Zu diesem Behufe spielte er
ihnen einige Stücke von Couperin und Vlaret, zwei berühmten Com-
ponisten jener Zeit, vor, ohne jedoch bei seinen Zuhörern den ge¬
wünschten Zweck zu erreichen. Nachdem sie ihm nämlich mit vieler
Aufmerksamkeit zugehört hatten, drückten sie ihm höflich ihr Bedauern
darüber aus, daß sie unmöglich seiner Meinung sein könnten. „Da
Eure Melodien nicht für unsere Ohren, noch unsere Ohren für
Eure Melodien geschaffen sind, so kann man sich durchaus nicht
wundern, daß wir die Schönheiten derselben nicht empfinden. Die
Töne unserer Musik dringen uns zu Herzen, sprechen uns zur Seele.
Wir fühlen, wir begreifen sie; was Ihr uns aber vorspielt, macht
durchaus keinen Eindruck auf uns." Pater Amyot konnte sie in
seinem Gewissen über diese Sprache nicht tadeln; denn, sagte er zu
sich selbst, die Musik ist die Sprache des Gefühls, alle unsere Lei¬
denschaften haben ihre eigene Sprache; Musik also muß, um gut zu


[]

sein, mit den Empfindungen, die sie ausdrücken will, im Einklang
stehen.


Auch in neuerer Zeit haben die Chinesen, im Betreff der Vor¬
züge ihrer Musik vor der europäischen, dieselbe Meinung an den
Tag gelegt, wie diese Chinesen des siebzehnten Jahrhunderts. Lord
Macartney, einer der letzten Diplomaten, die England nach China
gesandt — unseren deutschen Lesern aus Van der Velde hinlänglich
bekannt — hatte zur Vermehrung des Glanzes seiner Gesandtschaft
ein Gefolge von europäischer Militairmusik mitgenommen und ließ
dasselbe häufig vor den höheren Beamten, mit Venen er in Berüh¬
rung kam, Stücke erecutircn. Er erhielt jedoch eben keinen bessern
Erfolg als Pater Amyot.


Die englischen Offiziere ihrerseits, welche zur Ambassade gehört
hatten, bezeugten bei ihrer Rückkehr nach England einen großen
Abscheu gegen die chinesischen Melodien und Instrumente. Sie
hatten das Theater besucht, um einer zu ihren Ehren gegebenen
Vorstellung beizuwohnen; aber kaum hatte das Orchester die ersten
Accorde gespielt, so suchte einer nach dem andern einen Vorwand,
um sich möglichst bald zu empfehlen. Als sie wieder in Europa
waren, sagten sie, tausend Petarden und schlecht geblasene Trompe¬
ten, die man zugleich hörte, das wäre am Besten im Stande, eine
richtige Idee von chinesischer Musik zu geben. Die militairischen,
wie die Theaterorchester dieses Volkes waren nach ihrer Schilderung
abscheulich. In diesem Urtheil aber haben die Herren Engländer,
obgleich sie sich einbilden, die äußersten Grenzen der Bildung erreicht
zu haben, doch »veniger gesunden Menschenverstand an den Tag ge¬
legt, als die Chinesen, diese Halb-Barbaren, nach englischer Benen¬
nung. Wie eS diese hundert Jahre früher zum Pater Amyot ge¬
sagt hatten, in der Musik hängt Alles von den verschiedenen Ge¬
wohnheiten des Ohres ab.


So stabil auch China im Ganzen ist und besonders nach au¬
ßen hin erscheint, so hat doch hier, wie anderwärts, die Musik ihre
Revolutionen durchgemacht. Da jedes Kaiserhaus die Leistungen der
vorigen Dynastie überbieten wollte, so wurden dadurch sowohl in
der Feststellung der Tonleiter, als in der Form der Instrumente
mehrere Veränderungen eingeführt; aber diese UmgestaltltNgen fanden
vor dem Richterstuhl des Volksgeschmacks, dem die älteren Gebräuche


13
[]

unendlich theuer und werth sind, keinen Beifall. Endlich unternahm
es der Kaiser Thal An, den hierin alle bedeutenden Gelehrten des
Kaiserreichs unterstützten, der Musik ihren alten Glanz wiederzuge¬
ben, indem er sie so wieder herstellte, wie sie anfangs gewesen war.


Um die mathematischen Verhältnisse der zwölf Töne der Ton¬
leiter auf eine unabänderliche Weise festzustellen und zu bewahren,
machte ein sehr achtungswerther Chinese, dessen Namen aber nicht
bis zu uns gedrungen ist, den Vorschlag, zwölf Glocken zu gießen,
deren Vereinigung eine Muster-Tonleiter bilden sollte. Die Idee
fand höhern Orts Beifall und ward also in's Werk gesetzt.


Ist es nicht dasselbe, was man heutzutage verlangt, indem man
alle Völker Europas zur Annahme eines einzigen, allgemein gelten¬
den Stimmumfanges zu bewegen sucht? So wurden denn Samm¬
lungen von Glocken von einem genau berechneten Klang gegossen
und in gewissen öffentlichen Anstalten hingestellt, damit Jedermann
hingehen könne, sein Instrument nach den Tönen zu reguliren,
welche diese Glocken von sich gaben. Gegen das Ende der Dynastie
Tang war bei Gelegenheit der Empörung des Ryan-in-ehalt und
deö Che-fe-mung der Kaiser aus seiner Hauptstadt entflohen, sein
Palast geplündert, die Instrumente zerstört und die Musterglocken
von den Orten, wo man sie aufbewahrte, weggeführt worden, um
sie in Kriegswaffen zu verwandeln. DaS war der empfindlichste
Verlust für die Chinesen. Man denke sich einmal, welche Verwirrung
plötzlich in unserem modernen gesellschaftlichen Leben eintreten würde,
wenn durch irgend ein unvorhergesehenes Ereigniß man sich der
Mittel beraubt sähe, die Zeiteintheilung dermaßen zu bestimmen, daß
die Stunde für Alle eine und dieselbe sei! Man stelle sich das ent¬
setzliche Chaos vor, in das wir verfallen würden, wenn Taschen-
und Pendeluhren jede ihren eigenen Gang zu gehen beliebten, ohne
daß wir im Stande wären, sie unter einander in Einklang zu brin¬
gen! Fast eben so bedauernswert!) war die Lage des chinesischen
Volks, als es sich der Mittel beraubt sah, sein Gong, King und
Ehe gleichmäßig nach einem feststehenden Stimmumfang zu reguli-
ren. Denn dieses achtungswerthe Volk betrachtete die Musik nicht,
wie dies bei uns noch so häufig der Fall ist, als eine frivole, nutz¬
lose Kunst, sondern es sah sie an als die Universalwissenschaft, als
die Wissenschaft aller Wissenschaften, als diejenige, welche allen


[]

andern zum Ausgangspunkt und zum VergleichungSmittel diente.
Er wurden daher in die Tartarei, wohin die ersehnten Glocken
transportirt worden waren, Deputationen gesandt und der Tag, an
welchem eine der dem Heiligthume entrissenen Sammlungen wieder
in die Hauptstadt zurückkehrte, nachdem man sie mit Gold im wört¬
lichen Sinne aufgewogen, ward als ein Tag öffentlicher Freude
angesetzt.


Die Chinesen kennen acht Arten tönender Körper: das Metall,
den Stein, die Seide, das Bambusrohr, den Kürbis, gebrannte Ton-
erde, die Haut der Thiere und das Holz. Vermittelst dieser
Bestandtheile bauen sie ihre musikalischen Instrumente, deren sie drei
Arten haben, Blase-, Saiten- und Schlag-Instrumente. Der ge¬
lehrte Gerelli Careri, welcher im Jahre l6W China bereiste, theilt
uns das Resultat seiner Beobachtungen über den Gegenstand dieses
Aufsatzes in folgenden Worten mit: „Die Instrumente der chine¬
sischen Musik sind von den unsrigen sowohl in Betreff der Form,
als in Betreff der Art, darauf zu spielen, gänzlich verschieben. Sie
sind aus Bronce, Steinen und Thierhäuten verfertigt, welche
letztere auf mannigfache Art ausgespannt sind. Man findet Arte»
von Lauten und Violinen mit einer, drei und sieben Saiten. Ein
andres, weit älteres Instrument hat einige Analogie mit unserer
Harfe; aber die Saiten sind weder aus Thierdärmen, noch aus
Metall, sondern aus gesponnener Seide verfertigt. Aber waS
ist das für eine Musik, welche nicht die. geringste Verschiedenheit
in der Tonalilät besitzt, welche zwischen den verschiedenen Stimmen
keinen Unterschied macht und der es an den Nuancen fehlt, in
denen der vorzüglichste Reiz der Kunst liegt. Man findet nie auch
nur die geringste Spur von Harmonie; man Hort zuweilen hundert
Musiker dieselbe Note ganze Minuten lang spielen oder singen,
ohne daß sie das Bedürfniß zu verspüren scheinen, einen andern
Ton anzustimmen."


Die Chinesen besitzen ein Instrument, das einige Aehnlichkeit
mit der Orgel hat. So unbeholfen und roh es auch ist, so ist es doch
nach denselben Principien, wie die Orgel, gebaut. Es besteht aus
dreizehn, neunzehn oder vierundzwanzig Bambusröhren, die an
einander gebunden sind; wer darauf spielt, bläst in ein Mundstück
uno die Lust wird in einen Behälter getrieben, von wo aus sie


Is-i-
[]

sich den Röhren mittheilt, nach Maßstab, daß die Finger, welche
die Mündungen zuhalten, sich in die Höhe heben, um der Luft
freien Durchzug zu gestatten. Diese kleine Orgel heißt Cheny.
Diejenigen, welche darauf spielen, lassen gewöhnlich nur Melodien
hören; in wenigen, sehr seltenen Fällen jedoch spielen sie eine Be¬
gleitung zum Gesang, die aber, für europäische Ohren wenigstens,
mit dem GesangeSton durchaus keine Verwandtschaft hat. Nie
aber hört man sie Harmonieverbindungcn, d. h. Accorde oder
Intervalle spielen.


Die Chinesen haben übrigens über die Pflichten eines Musikers
in der Ausübung seiner Functionen ganz eigenthümliche, ihnen allein
angehörende Ideen. Ein Schriftsteller, der von der Kunst, das
Kilt zu spielen, handelt, drückt sich folgendermaßen aus: „Diejeni¬
gen, welche ihm Töne entlocken wollen, die fähig sind, das Ohr
zu rühren, müssen ein ernstes Aeußere und ein wohl geregeltes
Benehmen sich alieignen." Der Kaiser Thal-An stellt in einem
eigenhändig von ihm niedergesehriebenen Musiktraktat eine dieser
Aeußerung ähnliche Meinung auf, inoem er sagt: „Diejenigen,
welche Ehe spielen wollen, müssen ihre Leidenschaften in sich er-
tödtet haben und im Grunve ihres Herzens die Liebe zur Tugend
unterhalten; sonst werden sie dem Instrumente nur unfruchtbare
Töne entlocken, welche uns nicht zu rühren vermögen." Wer in
diesen Grundsätzen auch nicht das Zeichen einer sehr weit vorgeschrittenen
musikalischen Ausbildung erblicken will, wird doch wenigstens ihren
hohen moralischen Werth anerkennen müssen.


Die Instrumente, von denen wir bisher gesprochen, sind nicht
die einzigen, welche die Chinesen besitzen. Sie haben auch noch
eine Art Viola, die mit seidnen Saiten versehen ist, und auf der
man mit einem Bogen spielt. Pater Scncvo. Verfasser einer Reise
durch Asien, spricht sehr lobend von dem Effect, welchen diese In¬
strumente hervorbringen, wenn sie von einem geschickten Musiker
gespielt werden. Burney giebt uns die Betreibung eines chinesi¬
schen Instruments, daS er in Paris beim Abb« Arnaud gesehen,
welchem es gehörte; es bestand aus einer gewissen Anzahl Holz¬
platten, die aber so klangvoll waren, als wären sie von Metall
gewesen, und die quer über ein hohles Gefäß gelegt waren, das
seiner Form nach einem Schiffskiel ähnlich war. Es hatte einen


[]

Tonumfang von zwei Octaven. Die chinesischen Damen spielen
gewöhnlich auf Blaseinstrumenten, wie z. B. Flöte und Flageolet.
Das Lieblingsinstrument der Männer hat am Meisten Aehnlichkeit
mit einer Guitarre. Wir wollen der Vollständigkeit halber noch
hinzufügen, daß das älteste Instrument der Chinesen, Namens
Bisem, die Form eines von 5 Löchern durchbohrten Eies hat,
wobei das Mundloch nicht mitgezählt ist. Pater Amyot behauptet,
Spuren seiner Eristenz MM Jahre vor Christus entdeckt zu haben.
Die religiöse Musik der Chinesen besteht hauptsächlich aus Pauken
und Glocken von allen Dimensionen.


Durch ein sonderbares Zusammentreffen ist die Tonleiter der
Chinesen fast dieselbe, deren man sich bedient, um die schottischen
Nationalmelodicn zu schreiben. Man hat sich davon überzeugt,
indem man die Gelegenheit hatte, einige Melodien zu prüfen,
welche von Reisenden, die das Mittelreich besucht haben, in euro¬
päischer Notenschrift mitgetheilt worden sind. Burney, der als
Engländer die schottischen Melodien gekannt hat, also eine Au¬
torität in diesem Punkte ist, hat zuerst auf diese Aehnlichkeit auf¬
merksam gemacht. Seiner Meinung nach ist die chinesische Ton¬
leiter durchaus dieselbe wie die schottische. Jedoch will er damit nicht
sagen, daß eine dieser Nationen ihr System der andern entlehnt
habe, was gegen alle Wahrscheinlichkeit ist, da die beiden Völker
unmöglich in Beziehungen zu einander gerathen sein können.
Dem englischen Schriftsteller jcheint nur diese Uebereinstimmung das
hohe Alter beider Systeme anzuzeigen. Er glaubt auch, daß diese
Gesänge weit natürlicher sind, als sie beim ersten Anblick scheinen;
und da sie ferner viel Aehnlichkeit mit den alten griechischen Melodien
haben, so kann man, seiner Ansicht nach, hieraus schließen, daß
diese Musik der Natur der Völker angemessen ist, so lange sie die
Einfachheit ihrer Sitten bewahren und die Kunst noch in ihrer
Kindheit ist.


Im chinesischen Drama spielt die Musik eine ziemlich bedeutende
Rolle: der Dichter ruft diese Kunst zu Hülse, wenn er den Paro-
rysmus der Leidenschaft erreichen will, und sucht durch sie den Sinn
der Worte zu verstärken. Auch bildet die Musik allein eine beson¬
dere Art von Schauspiel Sir. George Stauntsn erzählt, daß die
Gesandtschaft, zu der er gehörte, zu Taru in Cochinchina der Vor-


[]

Stellung einer historischen Oper beiwohnte, in welcher die Recitative,
Arien und Chöre eben so regelmäßig sich einfanden, wie in einer
italienischen Oper. Er fügt hinzu, daß es unter den Darstellerin¬
nen einige recht erträgliche Sängerinnen gab. Ueberhaupt fällt
dieser Reisende ein sehr günstiges Urtheil über die chinesische Musik.
Wenn man ihm vollkommen Glauben beimessen darf, so besitzt dieses
Boll eine große Anzahl verschiedener Instrumente, die nach denselben
Principien gebaut und dieselben Wirkungen hervorzubringen bestimmt
und im Stande sind, wie unsere europäischen. „Zu Zhe-Hol,"
sagte er, „habe ich Sänger gehört, die ihre Stimmen so zu beherr¬
schen verstanden, daß sie von fern Harmonikatönen glichen und daß
mehrere unter den Gentlemen der Gesandtschaft, welche im Punkte
der Musik competente Richter abgeben konnten, von ihrem Gesang
ganz entzückt waren." Man darf, ohne der Wahrheit zu nahe zu
treten, annehmen, daß diese Meinung etwas zu nachsichtig und guil-
feig ist, aber man ist zugleich berechtigt, zwischen diesem vortheilhaf-
ten Urtheil, das offenbar übertrieben ist, und dem andrerseits allzu¬
verächtlichen Ausspruch von gar zu gestrengen Richtern über die chine¬
sische Musik, einen mittlern Standpunkt anzunehmen.


Bei allen ihren Festen verwenden die Chinesen Musiker, sie
haben herumziehende Musikanten, ziemlich nach Art der alten
Troubadours, welche, von Provinz zu Provinz ziehen, überall an¬
gehalten und überall spielend. Ebenso hat die Musik an allen öf¬
fentlichen Ceremonien ihren Antheil und es würde in den Augen
der Chinesen kein Fest vollständig sein, an dem nicht Musiker sich
auf Chen» und King vernehmen ließen.


Eine kurze Zeit lang waren die Chinesen nahe daran, ihrer
Nativnalmusik zu entsagen, um sich die europäische anzueignen.
Zur Zeit nämlich, als Lord Macartney als Abgeordneter des Kö¬
nigs von England seine große Reise durch China und die Tartarei
machte, wurden die einheimischen Musiker von der Wirkung der
Stücke ergriffen, welche die im Gefolge der Gesandtschaft befindliche
Musiktruppe spielte. Der Musikdirektor der kaiserlichen Kapelle kam
zu Sr. Excellenz, dem Gesandten, und bezeugte ihm von Seiten Sr.
Maj. den Wunsch, Zeichnungen der Instrumente von englischer Fa¬
brik zu erhalten.. Nachdem ihm die Erlaubniß hierzu ohne Mühe
geworden, schickte er Maler zum Gesandten, welche große Blätter


[]

auf dem Fußboden ausbreiteten, die Klarinetten, Flöten, Fagotte
und Hörner darauf legten und dann mit ihren Pinseln die Figuren
dieser Instrumente nachmalten, indem sie alle Oeffnungen maßen
und die geringsten Kleinigkeiten bemerkten. Der Kapellmeister er«
klärte, eS sei seine Absicht, Ähnliche Instrumente durch chinesische
Arbeiter anfertigen zu lassen, um sie dann ihrem Musiksystem anzu¬
bequemen; mag es nun aber den Arbeitern nicht gelungen sein, sie zu
fabriziren, oder mögen die Musiker sie nach kurzer LehrlingSzeit bald
überdrüßig geworden sein, die alte chinesische Musik gewann rasch
wieder die Oberhand.


Sollten wir durch die neueste Expedition der Engländer einige
Aenderungen oder sonstiges Interessante über diesen oder andere
Punkte der chinesischen Musik erfahren, so werden wir, wenn wir
den Dank der Leser damit zu verdienen hoffen können, es mitzutheilen
nicht unterlassen.


Note: x. X.

[]

An Ludwig Philipp")



Wenn jahrelang die kühne Heldenhand
Dem dunklen Schicksal kämpfend widerstand,
Wenn schon vom Ziele träumt der Menschcnwitz,
Da aus der heitern Höhe schlägt ein Blitz!
Die dunkle Truhe schaust Du gramerfüllt,
Die Deines Erstgebornen Staub umhüllt,
Und mancher Funke, der sich kaum verbarg,
Kann bald entlodern über diesem Sarg.
Mit Staunen sah man Dich, der oft genug,
Wie Keiner sonst, die schwersten Loose trug.
Die Todespfeile schwirrten jederzeit
An Deiner Schläfe hin — Du warst gefeit!
Den Neid der Fürsten und des Volkes Wuth,
Der Zwietracht grimmig angeschürte Glut,
Des Hasses Flüche wie deö Kampfes Joch,
Sie alle trugst Du, und Du standest doch!
Vom höchsten Stamme wärest Du gezeugt,
Doch diese Zeit hat manchen Stamm gebeugt.
Halbjüngling warst Du noch, da zaubervoll
Der jungen Freiheit Stegcsruf erscholl;
Die Jubelkunde von der neuen Zeit
Und von gesunkner Fürstenherrlichkeit,
Die hohe Lehre, der Ihr dienen müßt, —
Dir kam sie an des Vaters Blutgerüst!


[]
Noch standest Du in Frankreichs Heldenchor,
Als siegreich flatterte das Tricvlor;
Doch bald hast Du in ruheloser Flucht,
Dein Haupt zu betten, einen Stein gesucht.
Am Fürstenhöfe wie im Bürgerhaus,
Scheu rüstest Du von Deinen Fahrten aus;
Im Alpenhorst wie in der neuen Welt,
O Vielgeprüfter, schlugst Du auf Dein Zelt.
Da schautest Du in ihrer Nichtigkeit
Die Scheintrophäen alt- und neuer Zeit;
Du sahest tiefer in das Weltgeschick,
Und jede Täuschung schwand vor Deinen Blick.
Im Städtchen, wo Du hieltest kurze Ruh,
Im alten Klosterraum, erklärtest Du
Die Weltenkugel Deinem Schüler!)auf;
Du thatest wohl! Du kennest ihren Laus.
Als nun erschienen war Dein großer Tag,
Da zeigtest Du, was Menschenkunst vermag.
Du schafftest ruhelos in That und Wort,
Und rechnetest und harrest immerfort;
Du glaubtest, wenn Dein Werk Du angeschaut,
Es sür ein Menschenalter doch gebaut, ^—
Und da Du ruhen wolltest, trifft der Schlag
Vernichtend auf Dein Haus am hellen Tag!
Da wurden Viele wohl vom Schmerz erfaßt,
Die Dich als Mann gefürchtet und gehaßt;
Und Manchem eine Thräne still entfloß,
Der nie um einen König sie vergoß.
Wohl magst Du, jeder Erdenlust beraubt,
Zur Grube tragen Dein gebeugtes Haupt,
Da von der Pferde Huf zu dieser Frist
Die schönste Hoffnung Dir zertreten ist.

[]
Wir aber sehn des großen Geistes Hauch, ^
Wie überall, in der Zerstörung auch;
Dein ganz Gebäude sank vor diesem Stoß,
Und wenn Du selbst auch bliebest thränenlos!
Zum höchsten Ziele geht das Volk empor;
Kein Mächtiger zieht ihm Systeme vor.
Der Menschengeist, der jede Fessel bricht, —
Erkern' eS nur! — er trägt auch Deine nicht.

Note: Tlieod. Creizenach.

[]

T a g e b u es.



i.


Was sagen Sie dazu, lieber Kurcmda, daß ich nach so langem Stillschwei¬
gen jetzt auf einmal aus Ostende an Sie schreibe, mithin an Ihnen vorübergc-
reist bin? Allein, wissen Sie, ich wollte gern als ganz genehmer Mensch nach
Brüssel und zu Ihnen kommen. Ist es nicht höchst unanständig, daß man ei¬
nen Unterleib haben muß? Vom Oberleibe will ich nichts sagen, der ist schon
nobler. Wie fatal aber, daß ein menschlicher Königswille ein eine solche Na-
deas-corpus-^ete gebunden ist, an ein solches Unter- und Oberhaus! Mein
Oberhaus hat es immer rechtschaffen mit mir gehalten, wie es Oberhäusern
und ersten Kammern so wohl ansteht. Die Luft der deutschen Berge und die
Freiheit des deutschen Bundes athmet meine Brust breit und ohne Hüsteln.
Aber das fatale Unterhaus! Stolz auf sein eigenes Nervengeflecht, dem die
Aerzte vollends den hochmüthigen Namen des Sonncngcflechts beilegen, hat
es sich mehr und mehr unabhängig machen wollen. Ich habe das Meer zu
Hülfe rufen müssen, denn ich bin einer der Könige, die sich nicht selbst zu
helfen wissen. Und siehe, das deutsche Meer hat sich nicht für incompetent er¬
klärt, sondern mit den hundert Schauergeißeln seiner Flutwellen hat es den
eigenwilligen Unterleib gepeitscht und die Pulse schlagen wieder geregelter.


Aber was soll ich Ihnen nun von Ostende sagen? Sie kennen es ja besser,
als ich. In 4 Stunden ist man von Brüssel hier und wie oft mögen Sie
schon hier gewesen sein! — Ich wandle gern am feuchten Strande zwischen
den anstürmenden Fluten und den Menschen, die hoch oben auf dem schöne«


[]

Steindämme hin und her rennen. Ich gestehe Ihnen, die Wogen sind mir
eigentlich neuer und näher als die Menschen. Dies Rauschen der Wasser,
dies Donnern der zusammenstürzenden Fluten ist mir eine Sprache, die ich,
wie ein Kind, — mit dem Gefühle zu verstehen suche. Oben auf dem Damme
aber höre ich nur Englisch, Französisch und—Gottlob, auch viel Deutsch. Ja
doch, ihr lieben Deutschen, thut euch nur überall recht hervor, auch mit kran¬
ker Milz, damit ihr lernt so mißvergnügt auszusehen wie die Engländer. Und
unter den lieben Landsleuten sehe ich auch einen hoch und hübsch gewachsenen,
einen deutsch gewachsenen Mann wandeln, der nach etwas aussieht. Er trägt
den Stock gewöhnlich in der Linken, an der Schulter ausgestreckt. Wer er
ist? El, hinter ihm bleiben die einheimischen Frauen in ihren langen, dunkle»
Kapuzinermänteln und die Männer in den langen Kamisölen stehen und flü¬
stern einander in ihrem ehrerbietigsten Flämisch zu: „Hat is den Broeder
van ouzcn Koning! Ja, es ist der Herzog von Coburg! Das Heer der
deutschen Badegäste hat seinen Herzog hier und er theilt seine Leiden mit ih¬
nen. Auch er appellirt an das competente deutsche Meer, an die Austrägal-
Jnstanz der Flutwellen. Da träumt man denn augenblicklich, dies Nieder¬
land gehöre wieder zum deutschen Reich und Ostende sei das eigentliche West¬
ende unseres großen Vaterlandes! In diesen Flamändern regt sich ja so gar
sehr der Stolz, ihre alte Sprache wieder geltend zu machen, ihr — Platt¬
deutsch. Und könnte es denn diesem einst so gesunden und mit uns einigen
Unterleib? Deutschlands nicht gehen, wie manchem, der hier die Cur braucht,
daß er, von den Wellen des deutschen Meeres richtig getroffen, zur Einigkeit
mit dem Oberleibe genese und das Herz zwischen Niederland und Hochland
regelmäßig schlage? — Vielleicht, wenn die Cölner Domthürmc fertig sind,
geht mit den 3 riesigen Rosen, mit denen sie endigen, die richtige Erkenntniß
darüber auf, wie aus Thürmchen sich die Thürme c-rheben. Sind nicht be¬
reits die Stimmen unseres Vaterlandes Strebepfeiler zu einem Dome?
O, und eS fehlt uns nur die rechte Erkenntniß zu unserem nationalen
Willen.


Sie sehen, lieber Kuranda, man kann sich dermalen auch nicht einmal am
Meere vor dem Nationalschnupfcn des Deutschthums oder Deutschthums be¬
wahren. Man kriegt ihn von Königsberg herab bis sicher, wo Ihr König
badet, bis zu diesen in den Strand gerammten Baumpfählen, die mit tausend
schwarzen Muscheln und tausendmaltausend weißgrauen Muschelchen überwach¬
sen sind.


Der Sommer ist dem Baden ziemlich günstig. Nach Gewittern, kalten,


[]

stürmischen Winden und raschen Regengüssen sich bisher der heitere Him¬
mel stets wieder schnell eingefunden. Die Badegäste vermehren sich auch tag»
lich. Immer neue Gesichter gehen an Einem vorüber und erkennte man sie nicht
an ihren, vor dem Meere staunenden Blicken als Ankömmlinge, so ließe uns
der Troß des Wassergcsindcls keinen Zweifel, das sich um die Wandelnden
schaart, um einander als Badcwcirtcr oder Badewcibcr mit Empfehlungen zu
überbieten, bis sie mit einander uneinig werden und in Zanken und Schim¬
pfen ausbrechen. In den heitern und heißen Stunden findet die Gesellschaft
keinen Platz mehr in dem alten Gebäude mit den 2 Pavillons oder mit der
Halle und auf dem Zcltaltane über derselben, die der neue Anbau bietet, der
kurz vor meiner Ankunft eröffnet und festlich eingeweiht worden ist. Mor,
gens aber und Abends entfaltet sich der ganze Reichthum der Gesellschaft in
knospenden, frischen und welken Blättern. Man wandelt auf dem Wall und
Hafcndamm, oder setzt sich hinab auf den feuchten Sand der Ebbe. Diese
Feuchtigkeit wird nicht gescheut, sondern gesucht. Ebenso wird es auch von
den zartesten Damen dem Seewinde, weil er so gesund ist, nachgesehen, daß er
manchmal gar verwegen wird und nicht blos das verborgene Schöne entfaltet,
sondern auch die versteckte Schiefe verräth. Damit er es aber nicht zu toll
mache, drohen ihm die Damen unter der Robe hervor mit der männlichen
Rüstung langer Beinkleider. Doch Viele achten auf diesen Verkehr zwischen
dem Winde und den Wandelnden wenig. UndMvcnn das ewig-geheimnisivoll-
unruhige Meer den träumerischen Menschen unwiderstehlich anzieht, so wird
es für heiter umherschweifende Blicke oft auch zur Schaubühne, wo man Män¬
ner und Frauen, Badeweibcr und Kinder, oder einzelne Mädchenchöre in den
Wogen hüpfen und kämpfen, untersinken und auftauchen sieht. Man genießt
lachend die Lust mit, die man für sich selbst schon abgethan hat oder zu der
man noch das Stichwort seiner Wadestunde erwartet. Der sanfte und weit
absinkende Strand begünstigt das Baden zu jeder Stunde des Tages. Man
richtet sich nur nach seinen Mahlzeiten und nur diejenigen, die gern mit der
Flut baden, richten die Mahlzeit nach den wechselnden Stunden der ankom¬
menden Gewässer.


Das Meer übt eine größere Souverainetät über die Badenden aus, als die
Heilquellen im Gebirge zu thun pflegen. Um diese bekümmert man sich in
der Regel nur beim Lever des Trinkens und bei den Privataudienzen in der
Badewanne- Die See ist eine strengere Gebieterin: sie will keine Huldigungen,
keine Zerstreuungen und Vergnügungen neben sich dulden. Man soll seine
meiste Zeit am Gestade zubringen, im säuselnden und stürmenden Anhauche


[]

des Meeres athmen, um destaAicfcr zu genesen. — Die Mahlzeiten rufen freilich
in die Hotels zurück, und da die französische Küche sehr eitel und eifersüchtig ist,
so hält sie ihre Gäste mit den vorgenommenen Servietten über Gebühr lange
fest- offenbar nur, um das Meer zu ärgern und ihm einen Possen zu spie¬
len. Die anderen gewöhnlichen Vergnügungen ziehen sich aber respectvoll in
die späte Nacht zurück, — die einzelnen Bälle, die im Stadthause gehalten
werden, und das französische Theater des Herrn Piccolo, das sich in einer
großen Bretterbude an den Festungswall andrückt. Bon Glücksspiel ist keine
Rede, wahrscheinlich weil das Meer zu nahe ist, in welches sich der verzwei¬
felnde Spieler stürzen könnten.


Note: H. Koenig. *)

2.


« Aus Wien.
(Bruchstück ans einem Privatschrcibrn.)

— „--So ist Alles auseinandergesprengt. Ischl hat die meisten
angezogen-, es ist aber auch der reizendste Ort, dem jede Hypochondrie unter¬
liegen must. Deinhnrdstein ist nach London gereist, Zcdliz schweift am Rheine
umher, Fränkl lebt in Baden. Die Sonnenhitze hat Alles ausgetrockner; die
Luft, die Stadt, die Theater, die Gesellschaften — nur die Literatur kam,
nicht auf's Trockne kommen.


Einer Lügennachricht, die sich in den deutschen Zeitungen verbreitet hat,
sollten Sie in Ihrem Blatte widersprechen. Ich weiß nicht, welches Journal
zuerst die Meldung aus Miinchen sich machen ließ, die baiersche Regierung
habe auf Veranlassung des ösWchischen Cabinets den Freiherr» von Hormayr



[]

aus dem Staatsdienste entlassen. Ich kann Ihnen die vollständige Versicherung
geben, daß jedes Wort dieser Nachricht eine W?e ist.


Die Lebensbilder aus dem Befreiungskriege und die Bemerkungen über
den Fürsten Metternich und den seligen Kaiser Franz, die sich darin befinden,
haben hier allerdings großen Spektakel gemacht — nichts desto weniger ist von
Seiten unseres Cabiners auch nicht mit einer Note Erwähnung hierüber ge¬
schehen. Wenn Ihnen der Name *** eine hinreichende Bürgschaft ist, so
kann ich Ihnen sagen, daß ich aus seinem eignen Munde diese Versicherung
erhielt. Da Fürst Metternich persönlich in dein Buche beleidigt ist, so ist es
bei dem bekannten Stolze unseres Eabinets schon von vorn herein unwahr¬
scheinlich, daß man einen solchen Schritt thun werde. Der Hergang der Sache
ist dieser. Die baiersche Gesandtschaft in Wien hat in einer Depesche über den
peinlichen Eindruck berichtet, den das Hormayrsche Buch hier bei Hofe gemacht.
Ein vielgenannter venerischer Staatsmann hat hierauf zu dem Könige geäußert,
daß eS unstatthaft sei, Herrn von Hormayr seinen diplomatischen Charakter zu
lassen, da er einen der Führer der Diplomatie beleidigt habe. Der König
billigte diese Ansicht. Herr von Hormayer wurde somit keineswegs aus dem
Staatsdienste entfernt, sondern er hörte nur aus, eine diplomarische Stellung
zu behalten. Die ganze Maßregel geschah aus jener Etiquette, welche der
«s>>r!c <Je oc>r>>K vorschrieb. — Die östreichische Regierung hat sich nicht darein
gemischt. In einer Ihrer letzten Nummern, die mir zu Gesicht- kamen, hatten
Sie einen komischen Druckfehler. Sie meldeten, daß Anastasius Grün ein komi¬
sches Gedicht: die Nibelungen im Frack herausgeben werde. Es soll heißen
die Hegelingen im Frack*). Dieß erinnert mich an eine wiener Correspondenz
in einer leipziger Zeitung, wo ein Verehrer Saphir's die Meldung machte,
Saphir könnte in Wien nicht so sprechen, wie er wollte, weil er einen Kappaun
im Munde habe. Der Korrespondent schrieb wahrscheinlich einen Kappzaum
Note: D. Red. und der Setzer machte einen Kappauner daraus.---


Die Bücher um Gotteswillen.

Der Cölner Dombau und die Hamburger Überschwemmung haben uns mit
einer neuen Literaturclasse heimgesucht- Die um Gotteswillen-Literatur I Ohne
die wohlmeinenden Absichten der Herausgeber von dergleichen Albums, Gcdcnk-
büchern, Dombaustcinen in., welche das Publikum zum Besten der Uebcr-
schwemmtcn in Hamburg und der dachlosen, steinernen Waisen in Eoln kaufen
soll, im Mindesten zu verkennen, müssen wir doch aus den Nachtheil aufmerk¬
sam machen, welchen sie denjenigen bringen, denen sie zum Vortheile gereichen
sollen. Wie Mancher, der im Stande ist, einen bedeutenden direkten Geld¬
beitrag zu liefern, glaubt der Wohlthätigkeitspflicht genügt zu haben, wenn
er einen oder zwei Thaler für ein solches Buch ausgiebt. Die Unbemittel¬
ten sind es nicht, welche solche Bücher kaufen. Den Bemittelten aber giebt
man dadurch eine Gelegenheit, ihr Gewissen allzuwohlfcil zu beschwichtigen.'Zu¬
dem darf man nicht vergessen, wie viel die Druck-, Satz- und andern Kosten der
Ausstattung von dem eingehenden Capital absorbiren. Lasse man lieber den
guten Willen seinen eignen Weg gehen— das -Ziel wird eher erreicht werden.


Note: B-

Heinrich Scheerer.

„Die Ultras in Kirche und Staat und die katholische Opposition in Deutsch¬
land" von H. Scheerer — eine Brochüre, die zwar nicht befriedigend, aber a,v-



[]

regend wirkt, hat eine zweite.Auflage erlebt. Bon demselben Verfasser werden
zwei Bände „Bunte Bilder aus dem Wanderleben" angekündigt, eine Samm¬
lung interessanter Charakteristiken und Reiseskizzen, deren Bekanntschaft das
Lesepublikum theilweise bereits im Morgenblatte, in der Zeitung für die elegante
Welt, in Ost und West, in Telegraph ?c. gemacht hat.


Ein Epigramm von Zedliz,

Der Dichter der Todtenkränze, der während der letzten Wochen in Cöln
sich aufhielt, hat in einem dortigen Blatte folgendes boshafte Epigramm gegen
Herwegh drucken lassen:


Herwegh und Gott.
„Denn wer wie ich mit Nott gegrollt,
„Darf auch mit einem König grollen,"

Daß Dir Herwegh also grollet, Gott wie bist Du zu beklagen.
Wie wirst Du in Deinen Höhen solche» Zorn wohl ertragen!
Wenn er mit den'Königen fertig, sie erlegen sind dem Recken'
Wehe dann Gott dem Allmächtigen, möcht'in seiner Haut nicht stecken.

Deutsche Kunstschulen.

Der Akademie in Berlin stehen mannigfache Reformationen bevor. Unter
andern sollen die Schüler wieder, wie bei den alten Malern in nähere Ver¬
bindung zu ihrem Meister treten, wie dieses in Holland und Belgien noch
immer der Fall ist. — Aus Prag wird den Werken des dortigen Akademie?
Direktors Rüben große Anerkennung gezollt. Die Münchener Jahrbücher
sprechen weitläufig über ihn.


Der Graf von Nassau.

Man schreibt aus Berlin: Eine Biographie des ehemaligen Königs von
Holland, welche eine hiesige Buchhandlung dem Drucke übergeben hat, wird i»
Kurzem erscheinen. Sie soll reich an vielfachen, höchst interessanten Anekdoten
sein, die, wenn sie der Censur nicht unterliegen, Aufsehen erregen werden, um
so mehr, da sie authentisch sind und das Buch einen Mann zum Verfasser
hat, der hierin eine Autorität ist. In der That giebt es wenige Männer,
die ein bewegteres Leben hinter sich haben, als der Graf von Nassau und wenige
solche Charaktere, die ihrem eisernen Willen gegenüber keine Hindernisse, keine
Opfer zu schwer finden. Ein König, der die eine Hälfte seines Reichs durch
eine Revolution verliert, und der anderen Hälfte i» seinem siebenzigsten
Jahre entsagt, aus Liebe zu einer Dame, der er die Hand am Altare reicht,
obschon sie ein Rang tief unter ihm steht, obschon ihr Glaubcnöbckcnittnifi nicht
das seinige ist, obschon er seinem ehemaligen Volke dadurch den Rücken zu¬
wendet. Was übrigens die Zeitungen von der Ansiedelung des früheren Königs
von Holland in Schlesien sprachen, ist unwahr. Der königliche Graf geht
sicher nach dem Haag zurück. Einige Mißverständnisse, welche in der Familie
herrschten, sind durch die reiche Mitgift, welche der Prinzessin Sophie von
ihrem Großvater zugesagt wurde — applcmict worden. Der Graf von Nassau
gilt für den reichsten Privatmann auf dem ganzen Continent.—



Note: Druck von Fri abrich Andrä in Leipzig.
[]

Bilder aus dem deutschen Universitätsleben.
(Bon
Ed. Müller,)


l.
Deutsche Studentenwelt.



3Rom Frau von Stael an bis auf den Akademiker Victor
Hugo ist Vielerlei über Deutschland geschrieben worden. Wir ha¬
ben viele Schmeicheleien ertragen müssen, wir konnten dieselben mit
dem besten Willen nicht von uns abwehren; man hat uns manchen
bittern Kelch eingeschüttet, und wir haben auch da der Nagelprobe
uns nicht entzogen. Am schwierigsten mag es wohl dem Reisenden
über'in Rhein und Kanal her werden, sich in ein Element unserer
bunt zusammengesetzten gesellschaftlichen Welt zu finden, wofür er
in seinem Lande nichts Analoges hat, ich meine den deutschen Stu¬
denten oder Burschen. So ist es französischen Beobachtern begegnet,
- den Studenten mit dem wandernden Handwerker zu verwechseln,
ein ungeheurer Irrthum,' der in das Bild des Ersteren Züge ge¬
bracht hat, die vollkommen das ausdrücken, was er nicht ist. Man
stellt den Studenten viel zu niedrig, man verkennt das Gefühl, das
er in sich trägt, die Bedeutung, die er in selner Sphäre sich giebt,
wenn man ihn für nichts weiter als einen abenteuerlichen Sonder¬
ling nimmt. Er ist nicht ein bloßes Residuum der Vorzeit, eine


14
[]

überlebende Cunosität, ein Rebell, dem die neue, glatte, alles Her¬
vorstechende übertünchende Bildung den Garaus machen müßte. Nein,
trotz Allem, was man über den Verfall des Studentenstaates sagt,
und über die nothwendige, schon begonnene Einschmiegung diese?
Armtniussohnes in unsere polirten Salons: ich glaube, daß der
Student mehr als eine flüchtige Gegenwart vor sich hat ; und wenn
ich es unbedenklich zugebe, daß ihm eine Metamorphose bevorsteht,
so hüte ich mich doch zu glauben, daß Er, der die reine, lebens¬
lustige, im Hochgefühl ihrer Unabhä! ugkeit aufstrebende Jugend'vor¬
stellt, zum Verschwinde» in einer Alles ehrenden Gesellschaftsform
verdammt sei. Denn das ist die eigenste Natur des Burschen, sich
nicht „unterdrücken" zu lassen; sein Muth ist so elastisch, das senden^
lische Princip hat eine solche Reproductionskraft, daß immerhin
der Pflug einer amberartigen Kultur darüber hinwegfurchen kann,
ohne ihn zu zermalmen; nach ein Paar Triennien wird er lachend,
gerüstet, unsterblichkeitsfroh wieder aus dein Schutt jener Kultur
auftauchen.


Ich habe einen Studiengefährten gehabt, der lange mein Haus-
bursche war, welchen Uebelwollende fälschlich für ein crcmplarisches
„Kameel" ausgaben. Der Mann machte durchaus kein Aufsehen,
aber er gehörte nichts desto weniger unter die fidelsten Studiosen,
und wirkte für sein Seelenheil eben so gut wie die Helden des Fecht¬
bodens und der Commerße. In der Stille genoß er d.e geselligen
und Herzensfreuden des akademischen Nomantismus. Er war
kein Schwärmer, kein Eiferer und junghegelscher Revolutionär, son¬
dern ein loyaler, gewissenhafter Charakter, ein festgläubiger, conser-
»ativer Bruder Studio, ein deutsches stilles Wasser, wie nur je eins
den Meerschaum angeraucht und den Wechsel, über den letzten Heller
hinaus, an den Mann gebracht hat. Er studirte die Gottesgelehrt¬
heit, und man mußte zugeben, daß er seinem Gott treuergeben war.
Er haßte alles Excentrische, nie hat man ihn in die Todtenkammer
geschleppt; er war ein Weiser, und alle Welt weiß und kann es
alltäglich Probiren, daß der rechte Weise nicht der schlechteste Zecher
ist. Er war ein höchst honoriges Haus, ein tiefes, besonnenes,
verträgliches Gemüth, das sich nur einmal in seinem Leben geschla¬
gen , aber dann auch seinem Widerpart das Steuerruder schrägweg
aus dem Angesicht gehauen. Er bewahrheitete den Satz, zu dem


[]

wir vielleicht Alle als Beleg dienen müssen, daß des Menschen Leben
nur eine Spanne mißt. „Braucht es denn mehr?" pflegte er ohne
Lächeln zu sagen. „Ich für mein Theil habe kein Gelüsten über
diese faßbare, ebene Linie hinauszuschweifen, in welche die Götter
mich gebannt haben. Von Lüneburg bis nach Göttingen, und von
Göttingen wieder zurück über Seesen nach Lüneburg, das ist meine
Lebenslinie, die fürmich ausreicht, und für die ich auch ausreichen werde."
Ich könnte ihn um diesen engen Gesichtskreis beneiden. Liegt nicht ein gan¬
zer Menschenlebenslauf in diesen Paar Ortsnamen ? Geburt, Jünglings¬
freiheit und Dienst, das ist Alles und ist genug. Weiter bringt eS kein
Mensch, singt Göthe, der den' ganzen menschlichen Beruf auf fünf
natürliche Dinge beschränkt. „In dieser Gegend, in diesem Haus,
Zimmer und Sessel," argumentirte mein Theolog, „bin ich bei mir
selbst, ein vernünftiges, bewußtes Wesen, überall sonst bin ich ein
fahrender, zweckloser Tourist, ein Ungeheuer wie Faust, ohne Herz
und Wurzeln, een Hausirer, der um elenden Kram und Tand sich
in den Tod rennt. Glück ist Nuhe! Zwischen dem Lüneburger
Bl.insfeld und dem Hanstein an der Werra, zwischen den Heidschnucken,
meinen Landsleuten, und den Eichsfeldern liegen alle Höhen und
Tiefen, die mein Auge jemals geschaut, alle Fluren, die mein brau¬
ner Ziegcnhainer geschlagen, alle Wasser, die mein Nuder gepeitscht
hat. Die Essigweinberge bet Witzenhausen sind für mich Nhcin-
und Moselberge, Tokayer- und Champagnerland. Soll ich noch
einmal in's Weite, so lasse ich die Schweiz und Italien, ja selbst
Belgien, wohin jetzt eine rasende Mode alle Welt treibt, zur Seite
liegen und pflanze meinen Pilgerstab in den deutschen Musensitzen
auf, um mich mit Hand und Blick zu versichern, ob der alte Eichen-
stamm akademischer Hoheit und Lust noch florirt." Mein Freund
war zu seiner Zeit, obschon ohne Parteifarben, ohne Abzeichen, als
ein simpler Mann deS Volks, im höchsten Grade für die Bräuche
der Studentenrepublik begeistert, wie nur ein Ma^on an Hammer
und Schurz hängen kann. Glaubte er, was man uns jetzt in die
Ohren schreit, daß das goldne Zeitalter deutschen Burschenreichs ver¬
lebt sei, so würde er an dem Heil der Menschheit grade so irre
werden, wie ein französischer Premier, der die Majorität sich durch
die Finger gleiten fühlt. Gegenwärtig ist er der treuste, schwitzendste,
hannoverischste Staatsdiener von der Welt; alle Göttinger Schwin-


14-i-
[]

delperioden haben seinen germanischen Knochenbau nicht verrenkt;
alle seine Ideale hat er beibehalten, sie sind jetzt so solid und häm¬
merbar geworden, wie lcgirtes Gold. Gleich einem gekrönten Haupte
sieht er sein Amt, das ihm ein Königliches Konsistorium verlieh,
als eine Gabe Gottes an; alle Freiheitsbegriffe, alles, was
Posa zu seiner Zeit denken, sagen und schreiben durfte, trägt er
noch unverbraucht in seinem Busen; wie bei Tausenden seiner Ge¬
nossen, ist das Alles in ihm so kernig geworden, so zu Stammholz
erwachsen, daß fürderhin sich daran nichts biegen und brechen, ge¬
schweige denn vom Platze rücken läßt.


Es ist eine hundertjährige Erfahrung, daß Jeder, der sich recht
mit „Muth und Kraft" in das Studentenleben eingetaucht hat,
Hintennach der regulärste Mensch wird, den der Staatsmechanismus
sich wünschen kann/ Doch wird er in keiner der Maskirungen,
welche uns die Gesellschaft aufzwingt, als Beamter, Arzt, Advocctt,
Schriftsteller, Schauspieler oder Soldat, seine studentische Abkunft
und Taufe völlig verwischen. Meine Leser können es mir glauben,
daß ich es einem Buche, einem Gedicht, Drama u. tgi. auf ein
Haar anmerke, ob der Verfasser innerlich den Fuchs überwunden hat.
Die Blüthezeit unserer Literatur war, als sie jn ihren Burschen¬
jahren stand, damals, als Schiller im Carcer meditirte, als Göthe
um Straßburg Lieder dichtete, wie später, als Körner, ein anderer
Alexander, den Homer im Tornister, sich mit dem Degen gürtete.
Die studentische Republik duldet keine Vorurtheile des Standes und
der Geburt; für den Studiosen giebt es kein Blendwerk des Titels,
der Hofgunst; er kennt nichts Jmponirendcs. Die Welt theilt
er in zwei Hälften; das Gemeine, das er verachtet, die Philister¬
welt, Pudel und Polizei, diesen schlammigen Theil und Bodensatz
des Menschenseins, gegen den er im ewigen Kriege in einem be¬
festigten Lager liegt; dem gegenüber die anlächelnde, glänzende Zan'
derweil, die er als die seinige sich aufbaut, diese erwählte Göttin
seines Herzens, Ehre, Liebe, Kameradschaft, Wein und Laune. Mit
der Erlangung des akademischen Bürgerrechts, woran er noch
eine Masse anderer Rechte knüpft, durchdringt den Jüngling ein
Hochgefühl der Unabhängigkeit, eine weltherrschastliche Festagslust, die
selbst einen alternden Busen noch in der Rückerinnerung aufflackern
macht. Er nimmt mit jenem Freibrief die GewtWet'r, oder doch de


[]

Glauben hin, daß er mündig, ein selbstbcratheuver und beschließen-
der Bürger ist, daß die Kerkerwände der Schulzucht, des Preßzwan¬
ges gebrochen, daß er aus einem „Pennal," aus einer Fedcrbüchse,
ein ganzer Kerl geworden. Die Stelle, auf die ein Student von reinem
Schrot und Korn sich hinderte, hat nirgends als auf dem Throne
ihres Gleichen. Ein Schriftsteller, der Student war, wird daher
mit Schiller, selbst im Galakleid der Censur, mit „Männerstolz vor
Königsthronen" auftreten. In ihm glüht ein prometheischer Funken,
der, wenn auch vermittelst eines langen Rohrs, doch ursprünglich
von Jupiters Herde abstammt. Um es kurz zu sagen, das Haupt-
requisit eines Burschen comme-it-faut ist die Todesverachtung.
Mit Todesverachtung geht er ins Colleg, mit Todesverachtung
schwärzt er die Collegia, mit Todesverachtung tritt er auf die Mensur,
stellt er sich vor die weißen Protvkollbogen des Senates. Todes¬
verachtung erhellt ihm die schwarzen Tage des Carzcrs und macht
sie zu poesievollen, denkwürdigen Jntermezzos seines handelnden öffent¬
lichen Daseins. Mit Todesverachtung hört er das Pochen der
Manichäer an der Thür, ohne daraus zu antworten; mit Todesver¬
achtung spornt er den Frohndiener des Hochschülers, den Micthgaul,
und wirft vom Stadtthor aus den letzten Handkuß in die dunkelnden
Straßen nach. Mit Todesverachtung endlich geht, steht oder fällt
der Musensohn im Eramen und so ist er noch mehr als hinlänglich
vorbereitet, um ohne Angst und Grauen dem Tode selbst in die
Sense zu fallen.


Dieses Götterbewußtsein soll ein Autor haben, der sich auf das
Schlachtfeld der Öffentlichkeit wagt. Wie oft begegnet mir ein Ver¬
sasser, der Professor geworden ist, ohne als Student, — nicht gedient,
sondern commandirt zu haben. Einem solchen mangelt es an einem
schlagenden und eigenwilligen Urtheil; über Politik, Nationalliebe
und Haß, über Kunst, Poesie und Gesellschaft, worüber in un¬
serm Jahrhundert jeder Theatersousfleur eine Stimme hat, wird
er nimmer frische Luft schöpfen. Sein Professorenverstand haftet an
den Bänken, seine Phantasie ist auf das Katheder genagelt, er hat
nicht gelernt, als „flotter" Bursch über alle Eitelkeit des Wissens
und Erlernens Hinwegzusegeln. Ein Historiker zumal, der jedes
andre als das Lampenlicht scheut, dem vor allen neuen Dingen und
Thaten schaudert, der ist auf jeden Fall und in aller Weise ein


[]

„Kameel," ein Pflastertreter geblieben; nie bat er, eS sei denn aus
heisrer Kehle, das luthersche Kern- und Stammlied: „Wer nicht
liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebelang"
mit angestimmt. Ein Poet, oder Novellist, der uns mit grasser
Anatomie die Falten eines Panser Dirnenherzens, die Philosophie
eines italienischen Taugenichtses auseinanderlegt, ein Damenscribent,
der mit Gist, Dolch und Treuebruch durch die polirten Salons
spaziert, wie kann ein solcher nihilominus eine honorige Studenten¬
haut, wenn es nicht eine geborgte war, getragen haben? Gott
weiß, unter welchem Ladentisch er seine ersten Musterrollen einmemo--
rire; ich weiß nur dies, daß er nie einen zweischneidigen Schläger
in der Faust gewiegt, daß nie ein Landesvaterstoß seine Kappe ge¬
lüftet hat. Eine leichte Sache ist es auch, einen Dramatiker zu
erkennen, der auf der Schaubühne eines Musensitzes, wo Jedermann
Held ist, mit agirt hat, und denjenigen, welcher von Kindesbeinen
an unter Komödianten und Komödiantinnen, Lobhudlern und feilen
Witzbolden sich umhergetrieben. Dem ersten wird immer eine Ader
von Götz, von Karl Moor, Posa, Hamlet, Faust mit einfließen, zum
allermtndesten eine Dosis Fiesko oder Verrina, Zrini, Tell und
Jungfrau von Orleans. Bei dem letzten hingegen haben wir
galante und teufelhafte Machinationen, Blutschuld, Bankerotte, Spie¬
ler, Satane oder verdüsterte Engel. Der ehemalige Musensohn
schreibt, auch wenn er den Musen ex nlkiciu und um Profit dient,
kühn und markig, aus dem Drang der Seele, der bloß studirte und
gebildete Mann arbeitet sein, gleißend, scharf; jener wird ein Denker
und, was fast das nämliche ist, ein Behaupter, dieser wird ein
Raisonneur; der erste wird bald ein Demokrat, bald ein Anhänger
der reinen Monarchie, nie aber ein Aristokrat, am wenigsten einer
des Geldes^ er wird, während der andere alle Vortheile mit einan¬
der und mit dem seinigen zu vereinen suchen wird, immer nur Einem
Herrn dienen, dem Fürsten, seiner Idee, seinem Gott.


Nirgends finden sich so viele Originale, wie in den Universitäts¬
städten. Die pure, ja die plumpste Eigenartigkeit ist das Element
der Burschenvegetation. Nur Ein Gesetz gilt unter diesem freien
Volke: erlaubt ist Alles, was sich macht, — ein ungleich tiefsin¬
nigeres, männlicheres Wort als das Göthesche: erlaubt ist Alles
was sich schickt! Nur der gelenke Hofmann und Geheimerath


[]

konnte so reden. O wie vieles kann im Fall sein, zu den Dingen,
die sich nicht schicken, zu gehören, z. B, die Wahrheit! Allein, was
taugt, das macht sich auch, im schlimmsten Fall macht sich Alles,
was Einer herzhaft will. Um aber zu wissen, was, burschikos zu
reden, sich macht, dazu gehört Takt, Erfahrung, Studium, Genie.
Im öffentlichen Verkehr unterliegt das Wassichmacht eben so viel
Observanz und Ceremonie! als die Hofsitte, und zugleich ist darin
ebensoviel Ungebundenheit, ein so göttliches In,l»lAvrv ^mia, und
so unendlich vielerlei Abarten, wie bei einem Faschingstrupp. Der
Neuling läßt sich in diesen Dingen lange vom Strome der Zeit und
Volkssitte leiten; der mehr gewiegte geht seiner eigenen Inspiration
»ach; er ergiebt sich seinem markanten Naturell, wodurch er Alles
adelt und in Mode bringt, was die Stimme in seinem Innern ihm
einflößt. Ich war mit einem Mathematiker bekannt, der seinen
Hund per Sie anredete und sämmtliches dienende Personal deS
Städtchens bis auf die Pedelle mit Schul) und Stock per Du. Der
Hund ließ sich die Höflichkeit mit naiver Undankbarkeit gefallen, die
menschliche Bedienung — that es eben auch. Derselbe Menschen-,
freund überließ seinen Mittagstisch wochenlang der Hausmagd und
ihren Mitessern und nährte sich selbst, gleich den Bewohnern der
Wolken und des Olymp, von nichts Anderem, als Wein und Tabak.
Das Alles machte sich, so lange es eben vorhielt; es war das eine
eigene Art, die ihm unbemäkelt blieb.


Der Musikunterricht in Elementarschulen
in Deutschland und Frankreich.



Die Franzosen und Engländer, welche Deutschland durchreisen,
sind immer vor Erstaunen außer sich über die musikalische Fähig¬
kett der deutschen Nation, in's Besondre aber das Gefühl für Har«


[]

.^r, .v»..,, ... ven deutschen Gauen so heimisch scheint, daß vom
Rhein bis zur Donau, von der Mündung der Elbe bis zu den
Quellen der Spree es selten ein Dorf giebt, wo die Einwohner
nicht nach dem bloßen Gehör chorartig zu singen pflegen. Die Or¬
ganisation des deutschen Gehörs unterscheidet sich sogar zu seinem
Vortheile von dem italienischen. Auch in Italien singt das Volk,
aber dieser Volksgesang ist ziemlich roh und immer unis>amo. Die
Natur scheint zu Gunsten der Deutschen eine großmüthige Anstrengung
gemacht zu haben, indem sie dieselben von Jugend auf mit einer
glücklichen Fähigkeit für eine Kunst begabte, deren Erlernung anderen
Nationen so viele Schwierigkeiten kostet.


Andrer Seits aber ist es wett wichtiger, die Institute zu unter¬
suchen, welche diese Entwickelung der musikalischen Kraft in Deutsch¬
land begünstigen, und das Geheimniß zu belauschen, welches auch
in andern Ländern dieselbe Wirkung hervorbringen möchte, wenn man
es kennen würde.


So wie es in Deutschland kaum einen Flecken, ja kaum ein
kleines Dorf giebt, das nicht seine öffentliche Schule besitzt, so giebt
es auch unter diesen Schulen nur wenige, in welchen die Musik
nicht einen Bestandtheil des Elementarunterrichtes ausmacht. Der
Schulmeister fuhrt oftmals keinen andern Namen, als den eines
Cantors d h. eines Kirchensängers, eines Lehrers und Leiters
des Gesanges. In dem protestantischen Theile von Deutschland
ist dieser Gesang, den man den Kindern schon in ihren ersten Jah¬
ren lehrt, kein andrer, als der Eh oral d. h. die Kirchenlieder und
Psalmen, weil nach lutherischem Ritus die ganze Kirchengemeinde
ihre Stimme mit der des Cantors vereinigen soll, um das Lob
Gottes zu singen.


In Baiern, Oesterreich, Böhmen, wo die katholische Religion
die herrschende ist, war die Organisation des Unterrichts früher eine
andere; denn alle Schulen befanden sich in den zahlreichen Klöstern,
von welchen der Boden des Landes bedeckt war. Auch hier ward
Musik-Unterricht ertheilt, und alle Kinder, die eine schöne Stimme
besaßen, wurden zum Kirchenchor zugelassen, wo sie eine mehr in's
Einzelne gehende, weiter vordringende musikalische Erziehung erhielten.
Fast in allen Abteien war jeden Tag Messe, Vesper und Salus
mit Musik. Die meisten Einwohner und Kinder wohnten diesem


[]

dreimaligen Gottesdienste bei; die Gewohnheit, eine harmonische
Musik zu hören, bildete ihr Gehör und ihren Geschmack aus. Als
nun die mannigfachen Klosteraufhebungen, die seit der Negierung
Joseph's II. in diesen Gegenden eintraten, die Bevölkerungen
einer großen Anzahl von Gemeinden des' Elementarunterrichts
beraubt hatten, mußte man diese Lücke durch Errichtung speci¬
eller Schulen ausfüllen, derer leider! etwas allzulangsame Organi¬
sation die Musik eine Zeit lang in eine nicht sehr günstige Lage
versetzt hat. Seit etwa fünfzehn Jahren jedoch haben auch diese
Schulen bedeutende Fortschritte gemacht. Eine zahllose Menge von
drei- und vierstimmigen Volks-Gesängen ist durch den Druck ver¬
öffentlicht worden, und diese Gesänge sind für diejenigen, für welche
sie einen Gegenstand des Unterrichts und Studiums ausmachen,
zugleich ein anziehender Genuß geworden.


Das sechzehnte Jahrhundert, diese Zeit der großen Dinge, diese
Zeit, in welcher in ganz Europa alle geistige Thätigkeit einen so
hohen Aufschwung nahm, war aber auch für die Cultur der Musik
eine der fruchtbarsten und bedeutsamsten Epochen. Vom Anfange
dieses Jahrhunderts datirt die schöne Organisation des Unterrichts
in dieser Kunst in Deutschland, das in dieser Beziehung es stets
allen andern Ländern Europas zuvorgethan hat. Sobald durch
Luther die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf die Nothwendig¬
keit hingelenkt worden war, den Gebrauch des Gesanges in den
evangelischen Kirchen allgemeiner zu machen, war es die erste, an¬
gelegentlichste Sorge einiger Gelehrten, einige Abhandlungen, ent¬
haltend die Elemente der Musik, für die öffentlichen Schulen zu
schreiben. Unter diesen ersten Verfassern musikalischer Elementar¬
bücher zeichnen sich vorzüglich aus: Georg Rhau, Nicolaus Listen,
Heinrich und Gregor Faber. Der Umstand, daß ihre Bücher in
einem Zeitraum von etwa vierzig Jahren wohl zehn bis zwölf
Auflagen erlebten, welche sämmtlich vergriffen wurden, giebt den
besten Beweis dafür ab, welche bewundrungswürdige Thätigkeit in
Bezug auf musikalischen Unterricht in jenen ersten Zeiten der Refor¬
mation in den lutherischen Schulen herrschte. Diese Bücher, die
sämmtlich in lateinischer Sprache, »6 usum oder in ^ratiiun 8du<liosit<z
z>iventuÜ8, geschrieben waren, behandelten die in jener Zeit gebräuch¬
liche Solmisation und Notation. Da nun die Systeme jener Zeit


[]

in diesen beiden Punkten jetzt gänzlich verlassen worden sind, so sind
dadurch die Werke Faber's, Rhau's und Listen's ganz unnütz ge¬
worden und man findet sie nur noch in den Bibliotheken einiger
wenigen Gelehrten, als Denkmäler der Kunst der Vergangenheit.
Doch ist es zu bedauern, daß die Methoden, die in den verschiedenen
Epochen der Umgestaltung oder des Fortschrittes einander gefolgt
sind, nicht für den Elementarunterricht in der Musik die einfache
Form dieser Lehrbücher beibehalten haben. Aber schon gegen Ende des
sechzehnten Jahrhunderts machten die Elementarbücher von Schneegaß,
Crusius und Magiri Ansprüche auf strenger wissenschaftliche Formen.
Ein um dieselbe Zeit ausbrechender Streit über einen sehr wichtigen
Punkt in der Musik trug vollends dazu bei, daß die Methoden des
musikalischen Elementarunterrichts ohne Vervollkommnung und Fort¬
schritt blieben. Wir müssen über diesen Streit um so mehr einige
Worte sagen, weil man dadurch zugleich die Ursachen kennen lernt,
welche jene oben erwähnten ältesten Traktate für den musikalischen
Unterricht unbrauchbar gemacht haben..


Es ist wohl als allgemein bekannt anzunehmen, daß Guido
von Arezzo im eilften Jahrhundert statt der beiden getrennten Tetra¬
chorde der Griechen, welche vereint die Octave bildeten und das
ewige Gesetz einer jeden vernünftigen Tonleiter, so wie aller auf
natürliche Verhältnisse gegründeten Musik sind, ein Herachord, d. h.
eine Tonleiter von sechs Noten einführte und dieselben nach den
Anfangssylben eines Hymnus an Johannes den Täufer benannte,
worin sie sich zufällig in ihrer natürlichen Reihenfolge vorfanden.
Es waren dies die Noten; ut, re, mi, tu, sol, 1». Wie falsch diese
Methode auch war, — denn da diese wenigen Töne nur eine sehr
geringe Melodie enthielten, so sah man sich bald genöthigt, unter
einem Namen mehrere Tone zu verstehen, was unendliche Verwirr¬
ungen herbeiführte, — so behauptete sie sich dennoch länger als
fünfhundert Jahre. Von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts
an aber beginnt ein hartnäckiger Kampf dagegen, der bis in den
Anfang des achtzehnten hinabdauerte, sVuttstedt und Matthesoül
aber natürlich mit dem Sieg der vernünftigen Solmisation, welche
auf die Octave sich gründet, endigte. Die Hauptstreiter in diesem
Kampfe waren Belgier, nämlich Anselm von Flandern, Hubert
Waelrant, der gelehrte PuteanuS; in Deutschland im Anfang des


[]

siebenzehnten Jahrhunderts Ralwitz; in Spanien Peter von Arena
lind in Frankreich Jean Lemairc.


Durch diese Streitigkeiten nun und ihre lange Dauer ward
die Aufmerksamkeit der Gelehrten für lange Zeit von einer sorgfälti¬
gen Vervollkommnung der Elementarmethoden abgewandt worden.
Denn man muß doch wohl erst über eine Doctrin selbst einig sein,
ehe man sich mit ihrer mehr oder minder deutlichen Darstellung be¬
schäftigen kann. Zu derselben Zeit übrigens, wo jener Streit über
die Solmisation, diesen so wichtigen Theil der musikalischen Elemente,
geführt wurde, erlitt auch die Notenschrift nicht minder durchgreifende
Veränderungen. Die seit mehreren Jahrhunderten in Gebrauch ge¬
wesene Notenschrift war dermaßen mit unnützen Schwierigkeiten
überladen, daß seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts alle
vernünftigen Köpfe zu der Einsicht gelangten, es sei in der Hyero-
glyphenschrift der Töne ein Reform unerläßlich nothwendig, da
einige Fälle selbst für die sachkundigsten Musiker Gelegenheit zu Irr-
thümern gaben. Diese Reform dauerte lange und man erreichte das
Ziel erst nach mancherlei umhertastenden Versuchen. Streng ge¬
nommen kann man sagen, daß das Notensystem, wie wir es heutzu¬
tage haben, wenigstens in Bezug auf gewisse Einzelnheiten nicht
vor 175« festgestellt wurde.


In diesen beiden theoretischen Umwälzungen nun muß man die
Ursachen der seltsamen Widersprüche suchen, welche in den Grund¬
sätzen einiger im 17. Jahrhundert erschienenen Elementartractate
vorhanden sind. Aus denselben Gründen mangelte es natürlich dem
theoretischen Unterrichte an Einheit der Doctrin und an Klarheit
und Methode der Darstellung; der praktische Unterricht aber war in
den Schulen Deutschlands in gutem Bestände und das Volk erhielt
fortwährend in den Elementarschulen eine musikalische Erziehung,
welche das Gefühl der Harmonie in ihm entwickelte.


Leider nicht so war eS in Frankreich und den Niederlanden;
hier gab es eigentlich keine musikalische Erziehung. Einige Kinder
zwar, die als Chorknaben in die Musikschulen der Kathedral- und
Stiftskirchen aufgenommen wurden, lernten daselbst das Lesen der
Musik und wurden ihnen einige Begriffe von Gesang und die ersten
Principien des Generalbasses beigebracht; aber diese nur der Musik
gewidmeten Schulen, in denen diese Kinder erzogen wurden, konnten


[]

nicht als öffentliche, Jedermann zugängliche Schulanstalten betrachtet
werden: dem eigentlichen Volke blieben auch die einfachsten Begriffe
der Kunst fremd. Diese vollständige Unwissenheit nun war ein gro¬
ßer Nachtheil, nicht blos in Bezug auf die Kunst selbst, sondern auch
wegen des heilsamen Einflusses, den die Musik auf die Sitten aus¬
übt. Es ist dieser wohlthätige Einfluß der Musik auf die sittliche
Ausbildung der Völker zu oft und mit zu beredten Worten von großen
Philosophen und Staatsmännern der alten und neuen Zeiten aner¬
kannt und geschildert worden, als daß wir noch nöthig haben sollten,
hier weiter darauf einzugehen. Trotz dessen aber hat das gewöhn¬
liche Vorurtheil, wodurch dieser Kunst kein anderer Zweck als der
einer geistigen Zerstreuung gegeben wird, fortwährend seine Herr¬
schaft über die öffentliche Meinung behauptet und manche Regierun¬
gen selbst scheinen es getheilt zu haben, indem sie die Musik nicht
in den Kreis des Elementarunterrichts mit aufnahmen. Die Grün¬
dung einiger speziellen Musikschulen in Frankreich, Belgien, Spanien
und Italien widerlegt unsere Behauptung nicht; denn die natürliche Be¬
stimmung dieser Schulen ist, Künstler zu bilden, ihre Anzahl zu ver¬
mehren und sie in der Ausübung ihrer Kunst geschickter zu machen,
als sie durch Privaterziehung werden könnten. Ein ferneres Resul¬
tat des Daseins solcher Schulen ist, daß in gewissen Gesellschaften
der Geschmack an Musik ausgebreiteter wird; gäbe es aber deren auch
in jeder Stadt, so würden sie dennoch immer nur einen Auönahms-
unterricht bilden, weil es dem Willen jedes einzelnen Individuums
überlassen ist, daselbst Belehrung zu suchen oder nicht. Damit
der Elementarunterricht in der Musik wahrhaft volksthümlich sei,
darf er nicht vom Unterricht in den Anfangsgründen der socialen
Kenntnisse, d. h. der ersten Elemente des Lesens und Schreibens
getrennt werden: er muß für die Kinder ein Begleiter der ersten
moralischen und religiösen Belehrung sein, welche ihnen zu Theil
wird.


In den letzten Jahren des französischen Kaiserreichs und im
Anfang der Restaurationsperiode schienen einige Geistliche erkannt
zu haben, welch' nützlichen Bundesgenossen der religiöse Unterricht
in der Musik finden kann; denn in einigen Kirchen von Paris und
Südfrankreich lehrte man den Kindern geistliche Lieder nach einfachen
und bekannten Melodien singen. Diese Lieder, von denen man


[]

mehrere Sammlungen nebst der dazu gehörigen Musik hat drucken
lassen, wurden jeden Tag vor und nach dem Katechismusunterrichl
gesungen. ES wäre wünschenswert!) gewesen, wenn man eine grö¬
ßere Sorgfalt darauf verwendet hätte, daß die Kinder richrig into-
nirten, und wenn man sie gewöhnt hätte, die Töne sanfter und,
minder aus der Kehle hervorzusingen; doch, wie mangelhaft dieser
Unterricht auch war, trug er dennoch schon einige Früchte, und man
darf sich wohl darüber wundern, daß die höheren geistlichen Behör¬
den diesem praktischen Mittel zur moralischen Vervollkommnung des
Volkes nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben.


Im Jahre 1819 trat in Paris eine Gesellschaft zur Verbesserung
des Elementarunterrichts zusammen. Unter den Gegenständen, wel¬
chen diese Gesellschaft ihr Augenmerk widmete, war auch die Musik
nicht vergessen worden: vielmehr machte Baron Gercuwo, einer ihrer
Begründer, am 23. Juni desselben Jahres einen hierauf Bezug
haben den Antrag, indem er der Gesellschaft die Prüfung folgender
beiden Fragen vorschlug:


  • 1) Würde es nicht passend sein, dem Unterricht in
    unseren Schulen einige Uebungen in Musik und
    Gesang beizugesellen?
  • 2) In diesem Falle, welche Ausdehnung, welche Me¬
    thode, welche Form und welche Zeit müßte man die¬
    sen Uebungen geben, damit sie mit dem ganzen
    Unterrichtssystem in Einklang ständen?

Diese beiden Fragen wurden einer besondern Commission zur
Prüfung übergeben: die erste wurde einstimmig bejahend beantwor¬
tet. Das Resultat der zweiten war die Annahme einer Methode,
die Herr Boauillon Vilhem, Professor der Musik in Paris, erdacht
und mit der man in einem der Kollegien dieser Stadt im Jahre
1814 einige erste Versuche gemacht hatte. Wir werden über diese
Methode weiter unten sprechen. Nach dem Bericht, den Herr Jomard
am 17. August 1819 im Namen dieser Commission abstattete, nahm
die Gesellschaft deren Beschlüsse an. Diese Epoche ist bemerkens¬
werth, weil von dieser Zeit der Gedanke datirt, in Frankreich die
Musik in die Reihe der Gegenstände des Elementarunterrichts ein¬
zuführen; ein Gedanke, der in theilweisen Versuchen langsam, aber
ausdauernd gereist wurde und der endlich dazu geführt hat, daß


[]

nach achtzehn Probejahren das Princip von dem l'einholt rc>v>«l ä<-
i'iuditruction pu^liPie angenommen wurde.


Die Anwendung dieses Grundsatzesund seine consequente Durch¬
führung bietet freilich große Schwierigkeiten dar, so daß man nur
auf einen sehr langsamen Erfolg dieser Neuerung rechnen darf.
Schon das erste Hemmniß ist die Seltenheit von Lehrern, die im
Stande sind, zugleich die Anfangsgründe des Lesens, Schreibens,
Rechnens und der Musik zu lehren und die letzteren praktisch beim
Gesänge anzuwenden. Es wird eine Reihe von Jahren erforderlich
sein, bis es möglich wird, die Wohlthaten dieses Systems auf alle
Gemeinden auszudehnen, welche eine Elementarschule besitzen. Glück¬
liche Versuche mit dem musikalischen Unterricht hat man in neuerer
Zeit in mehreren der Kiel ut inderb ewas ran statten gemacht.
Der Unterricht war daselbst rein praktisch und bestand darin, die
Stimme der Kinder zu üben, indem man sie einfache Liedchen uni-
smio singen ließ; je mehr aber man durch die Erfahrung über die
Unterrichtsmittel aufgeklärt worden ist, desto mehr vorzuschreiten hat
man gewagt: man fing an, den jungen Zöglingen einige Begriffe
von den Principien der Musik zu geben und sie daran zu gewöhnen,
dieselben Melodien nach zwei- oder dreistimmigem Satze zu singen.
Wir haben in mehreren Städten Kinder, von denen das älteste kaum
sieben Jahre alt sein mochte, im Chor auf sehr befriedigende Weife
einige von jenen zwei- und dreistimmigen Melodien singen hören,
von denen neuerdings in mehreren Ländern Sammlungen zum Ge¬
brauch dieser Kleinkinderschulen verössemlicht worden sind. Da diese
Kinder früher oder später in Elementarschulen übergehen, wo ihnen
in ihrem vorgerückteren Alter angemessener höherer Unterricht ertheilt
wird, so erleichtern sie die Arbeit deö Lehrers bedeutend durch die
Kenntniß der Anfangsgründe der Musik, die sie in jenen Kleinkin¬
derschulen spielend erworben haben.


Eine zweite, nicht minder bedeutende Schwierigkeit bietet die
Wahl der Methoden oder vielmehr der einzigen Methode, die man
annehmen muß, um eine Kunst, deren Grundbegriffe so complicirter
Natur sind, der Fassungskraft und Erkenntniß aller Welt zugänglich
zu machen. Seit der Mitte des 18ten Jahrhunderts, wo die Grund¬
sätze des Notensystems und der Solmisation so festgestellt worden
sind, wie wir sie bis auf unbedeutende Aenderungen noch heute an-


[]

erkennen, sind eine Anzahl von Werken über die Anfangsgründe der
Musik, von musikalischen Grammatiker und von Solfeggien in allen
Ländern und Sprachen Europas erschienen. Den meisten dieser
Werke fehlt das Verdienst einer originellen Abfassung; es ist im
Gegentheil erwiesen, daß die Verfasser derselben nicht einmal immer
eingesehen haben, mit wie viel Schwierigkeiten die Arbeit verknüpft
sei, der sie sich unterzogen. Sie schreiben alle von einander ab,
wenn auch nicht in den einzelnen Ausdrücken, doch in der Classifici-
rung der Gegenstände und in dem Sinne der Erklärungen, die sie
geben. Was andrerseits diejenigen Bücher betrifft, die von einem
selbständigen Nachdenken zeugen und einen wirklichen Werth haben,
so ist ihr Gegenstand meist entweder der Selbstunterricht oder der
in speciellen Musikschulen. Nun kann aber ein Lehrsystem, dessen
Bestimmung es ist, junge Künstler bis zur vollständigen Kenntniß
alles dessen zu bringen, was ein Musiker wissen muß, um seine
Kunst vollständig inne zu haben, in einem Elementarunterricht für
größere Volksmassen nicht mit Aussicht auf Erfolg angewandt wer¬
den; denn die Mittel, deren sich dieser letztere Unterricht bedienen
soll, müssen hauptsächlich das Verdienst einer großen Einfachheit ha¬
ben, und das Resultat des Unterrichts selbst soll kein anderes sein,
als Jedermann in den Stand zu setzen, einfache und leicht flugbare
Melodien oder eine der begleitenden Stimmen zu lesen und zu sin¬
gen. Was darüber hinausgeht, liegt schon nicht mehr im Bereiche
des elementaren und volksthümlichen Unterrichts, sondern gehört der
künstlerischen Ausbildung an und diese ist nicht Gegenstand unseres
Aussatzes.


Seit etwa vierzig Jahren haben einige ausgezeichnete Männer
sich vorzüglich und speciell mit Systemen musikalischen Unterrichts
beschäftigt, die man für mehr oder minder beträchtliche Schülermasfen
anwenden kann. Nur diesen Systemen wollen wir hier unser Au¬
genmerk widmen. Wir wollen diejenigen darunter, welchen am
meisten Erfolg zu Theil geworden und die deshalb unsere Aufmerk¬
samkeit und Theilnahme besonders verdienen, genauer prüfen.


An die Spitze aller jener verdienstvollen Männer, welche dem
Musikunterricht den Charakter größerer Allgemeinheit zu geben ge¬
sucht haben, muß man den berühmten Pestalozzi stellen, dessen ganzes
Leben der sittlichen Vervollkommnung des Volkes gewidmet war.


[]

In der von ihm begründeten Musterschule ging sein Streben be¬
kanntlich weniger dahin, seinen Zöglingen ausgedehnte und positive
Kenntnisse zu geben, als vielmehr sie zu deren Erwerbung nach
Verhältniß ihrer natürlichen Bestimmung fähig zu machen, und
hauptsächlich ihnen die Elemente zu einem glücklichen Leben zu ver¬
schaffen, in welche Stellung sie auch das Schicksal späterhin brin¬
gen möge. Pestalozzi selbst besaß, was Musik anbelangte, nur ein
sehr beschränktes Wissen; er nahm daher Behufs der Anwendung
seiner allgemeinen Grundsätze für den Unterricht in dieser Kunst zu
Musikern von Professton seine Zuflucht. Seine Ansichten hatte er
zuerst in seinem eben so berühmten als originellen VolkSroman
„Lienhardt und Gertrud" (1781, 4 Bde.) auseinandergesetzt; später
gab er Erklärungen über die Art und Weise, wie seine Principien
aus alle Zweige der Erziehung anzuwenden seien, in dem in seiner
Einfachheit bewunderungswürdigem Buche: „Wie Gertrud ihre Kin¬
der lehrt" (1801) gleichsam in dem fünften Bande des obigen Wer¬
kes. Der Erfolg dieser Werke war ein günstiger, insofern sich da¬
durch einige gleich Pestalozzi von der Nothwendigkeit, die sittliche
Lage des Volkes zu verbessern, überzeugte Männer an ihn anschlös¬
sen, deren tüchtige Kenntnisse in verschiedenen Fächern ihm die
nöthigen Hülfsmittel zur Realisirung seiner wohlthätigen Jveen boten.
Unter den Lehrern, die seiner Methode ganz beitraten, war es
Michel Traugott Pfeiffer aus Würzburg, der in dem von Pestalozzi
im Jahre 1804 im Schlosse von Uverdon gegründeten Institute
den musikalischen Unterricht übernahm.


Nach Pestalozzi's Ansichten mußte in den Grundanfängen der
Künste und Wissenschaften alles Verwickelte vermieden werden und
Alles, was nicht durch irgend ein Verwandtschafts- oder Aehnlich-
keits-Band zu einem gleichartigen Ganzen sich abrundete, mußte im
Unterricht völlig von einander getrennt werden. Nach dieser Grund¬
idee theilte Pfeiffer den musikalischen Eursus in der Uverdoner Er¬
ziehungsanstalt in drei Hauptabtheilungen. Die erste, unter dem
Namen der rhythmischen, enthielt Alles, was auf das musika¬
lische Zeitmaß, auf die Dauer der Töne und Pausen Bezug hat,
nebst allen daraus folgenden Combinationen. Die zweite, deren
Gegenstand die Bestimmung der verschiedenen Jntonationsstufen und
hre Vorstellungen in verschiedenen Gesangeöarten war, hieß die


[]

melodische; die dritte endlich, deren Namen nicht ganz bezeichnend
war, — sie hieß.die dynamische, — behandelte die Töne in den
verschiedenen Graden ihrer Intensität und in den Zeichen, welche die
Modificationen dieser Intensität darstellen. In einer vierten Abthei¬
lung fanden sich die drei ersten zusammen unter dem Namen Wis¬
senschaft der Notation; die Schüler wurden darin geübt, die
Zeichen der Töne zugleich in ihrer Dauer, ihrer Intonation und
ihrer Intensität zu erfassen. Es waren hier die Uebungen im No¬
tenlesen und im Solfeggiren vereinigt. Eine fünfte Abtheilung
endlich hatte die Bestimmung, die Schüler darin zu üben, die Melo¬
dien mit untergelegten Worten zu singen.


Im Jahre 1810 wurden die Elemente von Pfeiffer's Arbeit zu¬
sammengestellt und geordnet durch Naegeli ans Zürich, einen
durch seine Kenntnisse, so wie durch seinen originellen Geist ausge¬
zeichneten Musiker. Er bildete daraus einen starken Quartband,
der jedoch nicht etwa ein Handbuch für Schüler, sondern ein Leit¬
faden für Lehrer ist. Dieses Werk entsprach jedoch der Erwartung
des Publikums nicht und schien auch Pestalozzi'ö Ansichten nicht zu
realisiren; denn, wenn man auch der von Pfeiffer und Naegeli ein¬
geführten Trennung der verschiedenen Theile des Musikunterrichts
Lob und Beifall nicht versagen kann, so muß man doch auch einge-
stehen, daß die Richtung, die sie in den einzelnen Theilen eingeschla¬
gen haben, für einen Elementarunterricht nicht praktisch genug ist
und daß sie bei Auseinandersetzung der Principien zu sehr in's Ein¬
zelne eingegangen sind.


Zu derselben Zeit, da Naegeli'ö Musik- und Gesangs-Methode
erschien, veröffentlichte der Preußische Ober-Schulrath Zeller in
Königsberg eine Elementarmethode für Musik unter dem Titel
„Ein Versuch zur Beförderung der Nationalerziehung in Preußen."
Dieses Werk, das einen geringeren Erfolg gehabt zu haben scheint,
als es verdient, enthält gute Ideen über den Unterricht in dieser
Kunst in Bezug auf Volksmassen; man kann aber nicht ohne Grund
dem Verfasser vorwerfen, daß er seine», Buche eine für volksthüm-
liche Anwendung, wozu es doch bestimmt war, allzu philosophische
Form gegeben hat.


Im Jahre 1813 erschien von Natorp, Preußischem Ober-Con-
sistorialrath, einem der gelehrtesten Männer Deutschlands in Betreff


15
[]

des ChoralgesangS der reformirten Kirche, ein erster Theil einer
„Einleitung zum Gesangs-Unterricht, zum Gebrauch der Volksschule
lehrer." Dieses Werk ist in seiner Darstellungsmethode einfacher,
als alle früheren. Das System, das Natvrp darin annimmt, ist
zwar dasselbe, das Pfeiffer im Pestalozzischen Institut eingeführt;
aber eS ist bedeutend verbessert und vereinfacht. Er theilt zwar auch
mit Pfeiffer und Nnegeli den Unterricht in drei Hauptabtheilungen,
denen er ebenfalls den Namen der rhythmischen, melodischen
und dynamischen giebt; aber er hält diesen Abtheilungen alle
Einzelnheiten einer zu weit entwickelten Theorie fern und läßt dem
Unterricht nur die einfachsten und zur Erlernung des Gesanges in
den Elementarschulen unentbehrlichsten Grundbestandtheile. In Be¬
treff der Notenschrift, die von einigen neuerem als eine Hauptquelle
der Schwierigkeiten in der Musik betrachtet wird, will Natorp zur
Bezeichnung der Stufen der Tonleiter Ziffern angewandt wissen, die
ober- oder unterhalb einer einzigen Linie stehen und die nach Ver¬
hältniß ihrer Größe eine bestimmte, genau geschiedene Bedeutung an¬
nehmen. Die Dauer der Töne soll durch Zeichen dargestellt werden,
welche man dem gewöhnlichen Notensystem entlehnt und mit den
Ziffern combinirt.


Dieses System, die Intonationen der Musik durch Ziffern dar¬
zustellen, war nichts Neues; denn man findet Beispiele davon in
allen Tabulaturen für gewisse Arten von Saiteninstrumenten.


Im Jahre 1677 hatte Pater Souhaitly diese Idee für ein
Notensystem des Kirchengesangs von Neuem angewandt, und sie
dann auf die Musik ausgedehnt; und lange Zeit hernach hatte I.
I. Rousseau ebenfalls vermittelst der Zahlzeichen ein anderes System
combinirt. DasNatorp'sche aber, zumTheil derZeller'schen Methode ent¬
lehnt, aber in die Augen springender, besser combinirt und vollstän¬
diger, als das von Souhaitty, und bequemer für den Gebrauch als
das Rousseau's, fand von vorn herein mehr Beifall, als diese bei¬
den. Denn das oben erwähnte Werk, das für den ersten Elemen-
tarcursus bestimmt ist, erlebte innerhalb zwölf Jahre fünf Auflagen,
so wie noch ein zweiter, höherer Cursus, der zum ersten Male im
Jahre 4820 erschien, mehrere Male aufgelegt wurde. Natorp be¬
schränkte sich übrigens nicht darauf, den Lehrern Leitfaden in die
Hände zu geben, sondern, um auch der Intelligenz der Schüler zu


[]

Hülfe zu kommen, veröffentlichte er nach und nach, zum Gebrauch
der letzteren, die Handbücher der beiden Curse. Das Verdienst der
Erfindung dieser Methode gebührt in Waljrheit nicht Natorp, da
sie nur eine Combination der Methoden Zeller's und Naegeli's ist ;
aber er hat sich gewissermaßen die Rechte des Erfinders erworben,
indem er durch die Einfachheit, die er in dieselbe einführte, erst
ihren Erfolg begründet hat.


Das System, an die Stelle der Noten Ziffern zusetzen, ward
von 181» an Gegenstand der Aufmerksamkeit mehrerer Schul¬
lehrer; es fand aber auch Gegner und so begann von diesem Zeit¬
punkte an eine Art Kampf zwischen den Anhängern dieses Noten¬
systems und denen des gewöhnlichen. Die Professoren Glaeser,
Winkelmeyer u. a. ließen un Jahr 1821 musikalische Handbücher
zum Gebrauch der Elementarschulen erscheinen, in denen sie das
Natorp'sche System befolgten. Dagegen wollten die Herren Laetsch,
Lehrer am Seminar von Jenkau bei Danzig, und Kühler, Musik¬
lehrer am Königlichen Waisenhaus zu Stuttgart das gewöhnliche
Notensystem für den Unterricht beibehalten wissen, indem sie es sür
die Naegeli'sche Eintheilung in drei Hauptstudienzweige anwendbar
machten; sie veröffentlichten Methoden, die auf dieses System be¬
gründet waren. Die Schulen des Königreichs Würtemberg befolgen
jetzt die Methode des Herrn Kühler, die zu Stuttgart im Jahr 1826
erschienen ist.


Herr Heinroth, Doctor der Philosophie und Musik-Director
an ver Universität zu Göttingen, (wo er seit 1818 der Nachfolger
Forkel's, des berühmten Geschichtsschreibers der Musik ist) machte um
dieselbe Zeit ein gemischtes System bekannt. Vor seiner Berufung nach
Göttingen hatte Heinroth, der eigentlich protestantischer Geistlicher
ist, den Musikunterricht an dem bekannten jüdischen Erziehungsinsti¬
tut, der Jacobsonschule zu Seesen, geleitet. Hier hatte er die ersten
Grundlagen seines Systems gebaut, das, analog dem Naegeli'schen
in Bezug auf Theilung der Studien, von allen anderen sich durch
die Erfindung einer speciell zum Gebrauch der Volksschulen bestimm¬
ten Notenschrift unterschied, welche ihr Urheber, „Vervollkommnete
Notenschrift" nannte. Seitdem er 1818 nach Göttingen berufen
ward, beschäftigte er sich anhaltender mit Aufsuchung der Mittel zur
Erleichterung des Studiums des Choralgesanges; und um die


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[]

Aufmerksamkeit des größeren Publikums auf die von ihm erdachte
Notation hinzulenken, ließ er ein kleines Werkchen unter dem Titel:
„Volksnote oder vereinfachte Tonschrist" erscheinen. Ueberzeugt, daß
eine specielle Notenschrift der Notation durch Ziffern bedeutend vorzu¬
ziehen sei, griff er diese letztere in Journalarlikeln und Brochüren
Mehrfach an, was natürlich von Seiten der Anhänger der Ziffer¬
notation Entgegnungen hervorrief, worauf er replicirte. Das Resul¬
tat des Streites war, daß jeder bei seinem System behmrte; das des
Göttinger Professors aber, dessen Gesammtheit er in seinem Werke
„Methode für den Gesangs - Unterricht in höheren und niederen
Schulen" der Oeffentlichkeit übergeben hatte, ist seitdem fast in allen
Hannover'sehen Schulen eingeführt worden.


Suchen wir uns nun ein Gesammtbild des Musikunterrichts
in den deutschen Elementarschulen zu verschaffen, so sehen wir zu¬
nächst, daß dieser Unterricht in den verschiedenen Theilen dieses wei¬
ten Landes allgemein organisirt ist; daß die Eintheilung der seu--
bien daselbst fast gleichförmig ist und daß drei Notenschrists-Systeme,
nach Verschiedenheit der Loyalitäten, neben einander bestehen. Jedoch
scheint dieser letztere Stand der Dinge nicht definitiv zu sein, und
man ist zu der Vermuthung berechtigt, daß früher oder später eine
Verschmelzung der verschiedenen Systeme stattfinden und eine Gleich¬
förmigkeit des Unterrichts eintreten wird. Seit sechs Jahren erscheint
sogar in Breslau ein pädagogisch-musikalisches Blatt, I5revu'it, das
diesen Zweck verfolgt. Die Mitarbeiter dieser Zeitschrift besitzen
daS für ihre Aufgabe erforderliche ernste Wissen. Ihre Berichte,
Recensionen und Kritiken über die von Tag zu Tag in Deutschland
sieh mehrenden Werke über musikalische Methoden sind mit vieler Gründ¬
lichkeit gearbeitet, und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie zuletzt
alle denkenden Geister zu ihrer Ueberzeugung herbeibnngen werden.


In Erwartung dieses Zeitpunktes der Vereinigung aller Systeme
in ein einziges kann man versichern, daß die Praxis der Kunst in
allen Schulen Deutschlands im Allgemeinen auf einem sehr erfreu¬
lichen Fuße sich befindet. Die zahllose Menge religiöser und weit>
licher Lieder, die seit dreißig Jahren zum Gebrauch dieser Schulen
verfaßt und componirt worden sind, haben das Volk ungeheure Fort¬
schritte im Gefühl für Harmonie zu machen veranlaßt. Die Bevölke¬
rung Deutschlands, deren Gewohnheiten viel sanfter, ruhiger und


[]

glücklicher sind, als die der Franzosen und Belgier, ergiebt sich sehr
oft einer Ergötzung, die nur in Chorgesängen besteht. Daher domin
es, daß eS bei gewissen Volksfesten weder selten noch schwer ist,
Chöre von ^12—Sängern, ja noch mehr, — beim Mainzer
Guttenbergssest waren dttvl) Männerstimmen vereint — zusammen-
anbringen, die sämmtlich geübte Stimmen haben und genug musika¬
lische Kenntnisse besitzen, um die ihnen anvertraute Musik gehörig
vorzutragen.


Um nun unsre Untersuchung über die verschiedenen Unterrichts-
Methoden für Musik in ihrer Anwendung für Volksschulen vollsM-
big zu machen, bleibt uns noch zu prüfen übrig, was man hiefür
in Frankreich seit etwa 25 Jahren gethan hat. Erst nach dieser
Prüfung wird es uns erlaubt sein, unsre eigene Meinung, Betreffs
der Wahl unter allen diesen Methoden, abzugeben. Diejenigen,
welche in Paris den entschiedensten Beifall gefunden, sind Vie N«-.-
t!w,to col!c«re!into von Choron, die Methode des gleichzeitigen Un¬
terrichts, erfunden von Massimino, der Meloplast von Gaur, die
harmonische Lyra von Pastou und endlich die Methode des
Herrn Boauillon Wilden.


Mit Ausnahme von Herrn Wilden scheint keiner unter den
Urhebern dieser verschiedenen Methoden sich eine Erleichterung des
volkstümlichen Musikunterrichts zur eigentlichen Aufgabe gemacht
zu haben; es scheinen sie vielmehr in allen Forschungen und Arbeiten
Rücksichten andrer Art geleitet zu haben. Das Pariser Musik-Con-
servatoire hatte, indem es die Elementarwerke für den speciellen
Musikunterricht vervollkommnete, zu tüchtigeren Studien gezwungen
und dadurch geschicktere Musiker gebildet, als die der früheren Ge¬
nerationen waren. Diese kräftige musikalische Erziehung aber, die
man im Conservatoire erhielt, fand man eben auch nur da und nir¬
gend anderswo. In den Provinzen gab es keine Schulen, keinen
gemeinsamen Unterricht; Privatunterricht war das einzige Mittel,
das den Belehrungslustigen daselbst zu Gebote stand, und die
welche denselben ertheilten, waren meistentheils arme Künstler, denen,
es an Methode fehlte und welche der Literatur und den Fortschrit¬
ten ihrer Kunst in Folge ihrer beschränkten äußern Mittel gänzlich
fremd blieben. So erwarben denn die jungen Leute aus beiden
Geschlechtern, da sie nur den erbärmlichen Unterricht dieser oft selbst


[]

lehrbedürftigen Lehrer genossen, nur eine vorübergehende Kenntniß der
Kunst, und kaum war die Zeit des eigentlichen Unterrichts für sie
verflossen, so beeilten sie sich, das Wenige, das sie gelernt hatten,
vollends zu vergessen, so daß von Generation zu Generation Alles,
was nicht Künstler von Stande war, in tiefer Unkennmiß der Kunst
und in voller Gleichgültigkeit gegen dieselbe befangen blieb.


Indessen hatte die städtische Obrigkeit einiger Städte Frankreichs
die Einsicht erlangt, von welchem Nutzen die Musik in der öffent¬
lichen Erziehung sei und es waren demzufolge in den letzten Jahren
der Kaiserherrschaft in Lille, Douai, Metz, Straßburg und Toulouse
einige, wenn auch nur mit schwachen Hülfsmitteln ausgestattete
Schulen begründet worden. Obgleich dieselben im Allgemeinen mehr
dem althergebrachten Schlendrian der Lehrer überlassen blieben, als
daß eine wirkliche Methode in ihnen angewandt wurde, so waren
sie doch nicht ohne erfreuliches Resultat geblieben in Folge des
Wetteifers, der in einer Mehreren gemeinschaftlichen Erziehung sich
nie geltend zu machen unterläßt.


Unter diesen Umständen begannen fast zu gleicher Zeit alle die
Urheber der oben aufgezählten Methoden Hand aus Werk zu legen.
Choron ist der erste von ihnen, mit dem wir uns beschäftigen müssen,
weil er, ohne gerade die Einführung der Musik in den Elementar¬
unterricht beabsichtigt zu haben, doch sich speciell mit einer der Sachen
beschäftigte, welche bestimmt sind, darin ihren größten Erfolg zu finden,
nämlich mit der Entwickelung des Gefühls für Harmonie. Durch
eine Intrigue im Jahre 1816 der Operndirection beraubt, beschäf¬
tigte er sich in seiner gezwungenen Muße damit, ein System zur
Errichtung einer Musikschule auszudenken, in welcher der Schüler,
in fortschreitender Methode, vermittelst vierstimmig gesetzter Lectionen,
auf alle Arten von Schwierigkeiten eingeübt werden sollte. Gleich
den deutschen Meistern, von denen wir oben gesprochen, siel es auch
Choron auf, daß das Reinheitsgefühl und das Taktgefühl eins vom
andern gänzlich unabhängig sind, und, gleich ihnen, zog auch er
daraus den Schluß, daß man beim Unterricht die Begriffe, welche
diese Dinge betreffen, von einander trennen müsse. Hievon ging er
dann zu der Nothwendigkeit der Steigerung der Schwierigkeiten über
und schuf sich ein System Betreffs dieser Gradation, welches darin
bestand, Solfeggien drei- oder vierstimmig so zu combiniren, daß eine


[]

jede dieser Vier Stimmen eine verschiedene Stufe in der Reihenfolge
dieser Schwierigkeiten darbot. Dergestalt war seine Schule in vier
Classen eingetheilt, von denen jede einen verschiedenen Grad des
Fortschrittes darstellte. Diesem Unrerrichtssystem gab er den Namen
der Uetliuäv cviicert-uit«, und wandte es bet einer großen Anzahl
Kinder an, die er in Chöre vereinigt und zumeist aus den Ärmeren
Classen und den Armenschnlen ausgewählt hatte.


Die NetKoilv concert.uns ist für vier gleiche Stimmen geschrieben:
sie ist in I3K Lecttonen eingetheilt, in welchen alle Combinationen des
Zeitmaßes, der Takte und Töne enthalten sind. Der eine dieser Theile
behandelt nur einfache oder punktirte, ganze und halbe Noten, d. h.
die Wurzel der geraden und Tripel-Taktarten. Er ist für die un¬
erfahrensten Zöglinge bestimmt, aus denen Choron seine erste Classe
gebildet hatte. Der für die Zöglinge der zweiten Classe bestimmte
Theil behandelt die einfachen Abtheilungen der geraden und Tripel-
Taktarten. Und so steigern sich für die Zöglinge der dritten und vierten
Classen die Schwierigkeiten, indem der Werth der zu singenden No,
ten immer geringer wird. Dieselbe Steigerungsmethode ist auf die
Töne und die verschiednen Schlüssel angewandt.


Was die äußere Einrichtung dieses Unterrichts betrifft, so wollte
Choron, man solle sämmtliche Schüler, die man bilden wolle, sei
ihre Anzahl auch noch so groß, in vier Classen eintheilen und als
Eintheilungsgrund die Stufe geistiger Ausbildung oder die Höhe
musikalischer Kenntnisse der Einzelnen annehmen. Jeder Schüler in
Besitz eines Büchelchcns der Not!>o<1e concvrt-ente, sang die Stimme
der Classe, zu welcher er gehörte, bis man erkannte, daß seine Bil¬
dung weit genug vorgeschritten sei, um ihn in eine höhere Classe
übergehen zu lassen. Unterlehrer oder Pultaufseher dirigirten die
andern Zöglinge. Der Lehrer saß am Picmoz er gab das Zeichen
und ein- bis zweihundert Kinder begannen die vierstimmige Lection,
welche gerade einstudirt werden sollte. Wenn die Aufhetzer einen
Zögling bemerkten, der nicht Takt hielt oder nicht richtig intonirte,
so hielten alle inne, man ließ den einen allein üben, und wenn er
es so weit gebracht hatte, daß er mit Genauigkeit sang, dann fing
man das Ensemble wieder an.


So war die Nvtlw'it! come'-i tunto beschaffen, die ihren Erfin¬
der nicht überlebt zu haben scheint. Choron jedoch hatte schöne


[]

Erfolge dadurch erhalten, daß er sie auf eine große Anzahl von
Schülern anwandte. Aber weder darf man sich diese Resultate als
gar zu vortheilhaft vorstellen, noch sie als die eines wahrhaft volks-
thttmlichcn Unterrichts betrachten. Die Schwierigkeiten, deren Ueber¬
windung vermittelst der Methode man sich vornahm, waren zu groß,
als daß alle Zöglinge hätten darüber hinwegkommen können. Im
Gegentheil war der größere Theil derselben durch diese Schwierig¬
keiten abgeschreckt und verließ den Cursus nach mehr oder minder
langen, unnützen Versuchen. Der Zweck des Gründers der Ne-
ltx)it<z conci-reimte! war, auserlesene Schüler zu bilden und, seiner
Meinung nach, mußte er auf beträchtliche Massen von Kindern ope-
riren können, um durch successive Ausscheidungen zur Wahl von
Individuen zu gelangen, aus denen er sich ausgezeichnete Künstler,
zu machen vornahm, weil er ihrer bedürfte, um seine Pläne zur
Verbesserung der Kirchenmusik in'ö Werk zu setzen. Im Ganzen
genommen war die NotKcxIk nouvel diente im Grunde nichts Anderes,
als die mehrstimmigen Gesangsübungen, die in den deutschen Schulen
gebräuchlich sind: sie war aber aus ein zu weit vorgeschrittenes Beleh-
nmgs- und Kenntniß-System gegründet, als daß sie im Unterricht
von Volksmassen angewandt werden könnte.


Um das Jahr ,1816, also gerade zur Zeit, wo Choron die
ersten Versuche mit selner Methode machte, eröffnete Herr Masstmino,
ein Musiker aus Piemont, einen Musik-Cursus in Paris, der auf
eine Methode gemeinschaftlichen Unterrichts gegründet war und an¬
fangs, so lang er neu war, großen Beifall fand. Diese Methode
l'esteht darin, daß man einer gewissen Anzahl von Schülern eine
Lection dictirt, die sie auf Schiefertafeln schreiben, auf welche man
die fünf Notenlinten gezogen hat. Die Lection, anfangs ganz ein¬
fach, wird stufenweise schwieriger. Wenn diese Arbeit vollendet ist,
so ruft der Lehrer jeden einzelnen Schüler zu sich, läßt ihn die
Lection singen und die Fehler verbessern, die er etwa beim Nie¬
derschreiben dessen, was dictirt worden, gemacht hat. Wenn
diese Verbesserungen bei Allen geschehen sind, so vereinigen sich alle
Stimmen, um diese Lection zu singen, die man so oft von Neuem
anfängt, bis sie zur vollkommenen Zufriedenheit des Lehrers gesun¬
gen wird.


Man sieht, daß es sich hier von der Lancaster'schen Methode


[]

handelt, wo man durch das Schreiben das Lesen lernt; daher hat
man, obgleich dieß nicht ganz passend ist, dem Verfahren Massi-
mino'öden Namen des wechselseitigen Musikunterrichts ge¬
geben. Dieß ist aber falsch. Denn, obzwar es Aufseher in der
Schule giebt und diese Aufseher eine gewisse Anzahl Schüler dirigi-
ren, so lehren sie doch in der That nicht, da sie selbst von dem Lehrer
geleitet werden, welcher eine Lection für Alle dictirt. Der Unterricht
ist gleichzeitig, nicht wechselseitig. Diese Methode hat etwas Ver¬
lockendes, ja sogar etwas Nützliches. Jedermann weiß, wie oft es
vorkommt, daß es einem Zögling sehr schwer wird, den Namen einer
Note zu finden, wenn er den ihr entsprechenden Ton hört und
mit Schnelligkeit und Bestimmtheit ihren Werth und ihre Dauer
anzugeben, obgleich er geschriebene Noten ziemlich geläufig liest.
Diese Schwierigkeit entspringt aus einer Trägheit des Geistes, den
nichts zum Nachdenken geneigt macht, wenn er nicht dazu gezwungen
ist. Eine Uebung also, welche das Gedächtniß für die Töne und
das Maß ihrer Dauer entwickelt und stärkt, ist überaus nützlich.
Dieses darf aber nur eine Nebensache sein in dem allgemeinen Un¬
terricht, den der Schüler empfängt und diese Nebensache muß der
Kenntniß der Grundlehren und ihrer Anwendung in der Solmisation
nachfolgen, nicht aber vorausgehen. Wir werden Gelegenheit haben,
auf diesen Gegenstand zurückzukommen, wenn wir von der Methode
des Herrn Boquillon Wilden sprechen werden. Hier wollen wir
uns nur noch die Bemerkung erlauben, daß ein jedes System, wozu
ein großer Apparat von Mitteln erforderlich ist, in kleinen Schulen,
wie die von Flecken und Dörfern, nur sehr schwer in Anwendung
gebracht werden kann. Die größte Einfachheit ist das vorzüglichste
Verdienst in der Organisation solcher Schulen. Aber in Schulen,
die speciell für Musik bestimmt sind, also schon einen höheren Grad
einnehmen, wird man, wie wir glauben, diese Uebung, Musik zu
dictiren, stets von vielem Nutzen begleitet sehen. — Massimino
hatte, wie wir schon sagten, anfangs das Glück, eine Modesache zu
sein, so daß mehrere selner Surfe sehr zahlreich besucht waren; spä¬
ter ist ihm diese wandelbare Göttin ungetreu worden. Er hat jedoch
seitdem in mehreren öffentlichen Schulanstalten, zuletzt im Königlichen
Erziehungs-Haus von Se. Denis, nahe bei Paris, seine Methode
mit Erfolg und Nutzen angewandt.


[]

Durch die ersten Anstalten, in welchen dieser gemeinschaftliche
Unterricht ertheilt worden, hatte die öffentliche Meinung einen Anlauf
zu Gunsten der Musik genommen und zugleich war dadurch auch
die Aufmerksamkeit mehrerer Künstler und Gelehrten auf Untersuch¬
ungen hingelenkt worden, wie man Methoden ausfinden könne, um
das Studium dieser Kunst zu erleichtern. Bewogen von den glück¬
lichen Erfolgen Chorvn'S und Massimino'S, combinirte Pierre Gaur,
ehemaliger Zögling der polytechnischen Schule und Lehrer an der
Königlichen Taubstummenanstalt in Bordeaux, im Jahre 1817 die
Elemente eines Systems, zu dem er die erste Idee in einem lange
vorher von einem Musiker, Namens Jacob, veröffentlichten theoreti¬
schen Werk über Musik gefunden halte: er nannte es Meloplast.
Ihm war die Schwierigkeit (die er sich vielleicht auch etwas zu
groß dachte) aufgefallen, welche die Zöglinge empfinden, die Idee
der Töne mit den Zeichen zu verbinden, welche sie vorstellen, so wie
er auch bemerkt hatte, welche Verlegenheit dem Leser diese Häufung
von Zeichen verursacht: er hatte sich daher zum Gegenstand seiner
Forschungen gemacht, dem Anfänger die praktische Kenntniß der
Intervalle nach einem gegebenen Tone zu erleichtern und Musik
lesen zu lehren, ohne Noten und Schlüssel. Gaur veröffentlichte
im Jahre 1818 eine Analyse seiner Principien, unter dem Titel:
„Darstellung einer neuen Methode für den Musikunterricht."


Der Gaur'sche Meloplast ist eine Tafel, auf welche man Li¬
nien nach Art der gewöhnlichen Notenlinien gezeichnet hat, nebst
kleineren Zusatzlinien ober- und unterhalb der andern, zur Darstel¬
lung der tiefen und hohen Töne. Gaur nimmt an, daß die Töne
der Tonleiter durch Linien dargestellt werden und durch die Zwischen--
räume, die sie zwischen einander bilden, und da er am Anfang der
Notenlinien keinen Schlüssel setzt, so kann der Lehrer jede Linie oder
jeden Zwischenraum nach Belieben ut, 5a, sol etc. nennen. Der
Lehrer hält ein Stäbchen in den Händen, mit dem er über die
Notenlinien hinfährt; dieses Stäbchen stellt die Noten vor und da
die Tonica gegeben ist, so zeigt man dem Schüler, dessen Stimme
diesen Bewegungen folgt, damit den Ton an, den er anstimmen soll.
Um die Intonation zu erleichtern, will Gaur, daß man den Zöglin¬
gen mit dem Stäbchen nur solche Melodien anzeige, die sie schon
kennen, so daß auf diese Art die Kenntniß der Intonation früher


[]

erlangt wird, als die Kenntniß des Zeichens, welches sie darstellt,
während in der gewöhnlichen Methode die Wissenschaft des Zeichens
der deS Tones vorangeht. In der praktischen Anwendung erfordert
dies eine lange Gewohnheit. Es ist auch in dieser Idee etwas
wahrhaft Nützliches enthalten, das mit Vortheil in alle Systeme des
musikalischen Unterrichts eingeführt werden könnte. Jacotot hat das
Verdienst dieser Methode begriffen, indem er daraus die Grundlage
seines allgemeinen Unterrichts, in seiner Anwendung aus Musik, ge¬
macht hat.


Der Hauptfehler des Meloplast, so wie der Natorp'schen und
aller andern ähnlichen Systeme ist der, daß man am Ende doch dazu
kommen muß, den Zöglingen Musik zu zeigen, die auf gewöhnliche
Art geschrieben, also mit all den Zeichen belastet ist, deren Kenntniß
man ihnen nicht hat zu Theil werden lassen, deren Gebrauch ein
Geheimniß für sie ist, und deren verwickeltes Aussehen mit den ein¬
fachen Ideen, an welche sie gewöhnt worden sind, in keinem Zusam¬
menhange steht. Da offenbart sich dann eine unwiderlegliche
Wahrheit, daß man nämlich etwas gelernt hat, was als Einleitung
in die Musik dienen kann, was aber nicht die Musik selbst ist.


Diese und mehrere andere gegen den Meloplast erhobenen Ein¬
wendungen sind von Galen's Zöglingen und Nachfolgern, den Herrn
Alap Lemaine, Ine u. A. begriffen worden. Dieselben haben daher,
indem sie den Gebrauch der von ihrem Lehrer erfundenen Methode
in den zu Paris und anderen Provinzialstädten errichteten Anstalten
beibehielten, doch verschiedene Modifikationen eingeführt.


Herr Pastou, ehemaliger Violinist am l'Ktj-ters italio», hat
unter dem Namen „die Methode der harmonischen Lyra" ein dem
System des Meloplast ähnliches bekannt gemacht; es wird jedoch
in demselben die Kenntniß der musikalischen Zeichen den Schülern
unmittelbarer mitgetheilt. Nachdem der Erfinder vieser Methode meh¬
rere Jahre hindurch öffentlichen und Privat-Cursus in derselben er¬
theilt, ist er in neuester Zeit zugelassen worden, einen Versuch damit
im Conservatoire zu machen: wir wissen jedoch bisher noch nicht,
wie derselbe ausgefallen ist.


Man kann jedoch all die Schulen, welche nach diesen bisher
auseinandergesetzten Systemen seit mehr als zwanzig Jahren errichtet


[]

worden sind, keineswegs als Anstalten für den Volksunterricht be¬
trachten. Ihr Verdienst besteht darin, daß sie neben dem höheren
Unterrichte der Specialschulen und neben den meist unfruchtbare!;
Lehren des Privatunterrichts, einen Mehreren zugänglichen und mitt¬
lern Unterricht gestellt haben, der durch die Entwicklung des Wett¬
eifers, durch die niedrigen Curse und durch das Anlockende gewisser
mechanischen Verfahrungsarten, mit denen man der Intelligenz zu
Hülfe gekommen, den Geschmack an der Kunst weiter verbreitet und
die Anzahl der Individuen, welche Begriffe davon haben, vermehrt
hat. Hierdurch haben diese Schulen der sittlichen Vervollkommnung
der Gesellschaft außerordentliche Dienste geleistet und haben die Ein¬
führung der Musik in den Elementar- und Volksunterricht vor¬
bereitet.


Wir kommen nun zu einem System, bei dessen Abfassung man
diesen letzten Gegenstand specieller im Auge hatte, und das seit un¬
gefähr zwanzig Jahren praktische Anwendung gefunden hat. ES
handelt sich von der Methode des B. Wilden, Director des Gesang¬
unterrichts in den Elementarschulen von Paris, Gesanglehrer nach
seiner Methode an der polytechnischen Schule und Professor am kö¬
niglichen College lleiiri IV. Wir haben oben gesehen, daß diese
Methode im Jahre 1819 von einer zur Verbesserung des Elemen-
tarunterrichts gegründeten Gesellschaft angenommen worden ist. Nach
einem ersten, ungefähr mit fünfzig Kindern gemachten Versuche
wurde sie in einem größeren Maßstabe in einer unentgeltlichen
Schule angewandt, die in Paris uno 8t. av Le-tuo-us ge¬
gründet worden war. Hier wurden mehrere hundert Kinder im
Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet und zwar nach dem Ver¬
fahren der Bell-Lancasterschen Methode des wechselseitigen Unter¬
richts. Es war also gewissermaßen unumgänglich nöthig, die
Methode des Herrn Wilden mit der, die man in den andern Unter¬
richtszweigen in dieser Anstalt befolgte, in Uebereinstimmung zu
bringen, damit die Regelmäßigkeit in den Bewegungen der Zöglinge
nicht gestört werde. Daher rührt die Masse von Manoeuvres, die
Herr Wilden in dem Abriß seiner Methode auseinandersetzt: Ma-
noeuvres, die mehr oder minder kindisch sind, und deren Anwendung
uns mehr zu schaden als zu nützen scheint, insofern dadurch die Auf¬
merksamkeit der Zöglinge von dem Hauptgegenstand abgelenkt und


[]

auf Nebendinge hingewiesen wird, die für den eigentlichen Unterricht
keinen Werth haben. Es scheinen uns jedoch die Grundlagen dieser
Methode weniger in diesen Nebendingen und in der Hierarchie der
verschiedenen Klassen und Abstufungen von Aufsehern zu liegen,
eben so wenig, als in einigen der musikalischen Uebungen, die in
der Methode angegeben sind, wie z. B. die Wiederholung gewisser
Gesangsphrasen, die von einigen Schülern in Nachahmung dessen
geschieht, was Andere gethan. Nein, wir glauben nicht, daß das
Unterscheidende dieser Methode in Sachen liegt, deren Nothwendigkeit
für den Unterricht der Kunst an und für sich keine Gründe zu be¬
weisen vermögen, sondern wir halten vielmehr die Vereinigung
gewisser wichtigen Thatsachen, die wir einzeln schon in anderen
Systemen bemerkt haben, für das Charakteristische in Herrn Wilden'S
System.


Die erste Grundlage der Methode dieses Professors ist: erst
eine Trennung im Unterricht des Rhythmus und der Intonation und
sodann ihre Vereinigung im elementaren Gesang. Es ist dies nur
eine Nachbildung des im Jahr »804 von Pfeiffer im Pestalozzi'schen
Institute eingeführten, von Naegeli im Jahr öffentlich bekannt
gemachten Systems, das in den meisten deutschen Schulen mit ver¬
schiedenen Aenderungen im Notirungssystem angewandt wird. In
der That ist und bleibt diese Grundlage die einzig vernunftgemäße
für die Studieneintheilung. Der Unterricht in diesem Theile, der bis
zu einer durch Uebung vervollständigten Kenntniß entwickelt wird, dit«
det das, was Herr Wilden den ersten Grad des musikalischen Untere
riches nennt.


Die zweite Grundlage der Methode ist däs.Schreiben von
dictirter Musik auf Schiefertafeln. Hier also finden wir das Masst-
mino'sche System, woran nur einige Aenderungen Betreffs der inne¬
ren Schuleinrichtung gemacht sind.


Die dritte Grundlage ist die Bildung von Tonleitern und in
der Folge die Kenntniß der Schlüssel und der Transpositionen ver¬
mittelst eines imlicuteiir on'-si, einer Tafel, auf welcher bewegliche
Schlüssel und Noten dem Zöglinge die Bildung und Umbildung der
Tonleitern deutlich darstellen. Es ist dies nur eine Modifieirung des
Gaur'schen Meloplast.


»


[]

Allgemeine Gesangsübungen, die sich jeden Tag wiederholen,
vervollständigen die Erziehung der Zöglinge. Die Wilden'sche Me¬
thode ist, wie man sehen kann, in einem System des Eclecticismus
verfaßt; er hat sich von den anderen Methoden Alles angeeignet,
wovon er glaubte, daß es zu den Fortschritten der Zöglinge beitrage,
indem er das, was er entlehnte, nach seinen eigenen Ideen und
nach den Anforderungen und Systemen des gegenseitigen Unterrichts
modificirte, innerhalb des letzteren seine Methode ihre Anwendung
zu finden bestimmt war. Eine ausgebreitete Kenntniß des Unterrichts
und der Kunst, ein lebhaftes Verlangen, Nutzen zu stiften, und viel
Beharrlichkeit in der Ausführung seiner Arbeit haben Herrn Wilden
Erfolge zu Wege gebracht, welche über die guten Resultate seiner
Methode keinen Zweifel zu hegen erlauben. Aehnliche Cursus, wie
die in der Musterschule der Straße Se. Jean de Beauvais, sind in
den verschiedenen Stadtvierteln von Paris eröffnet worden und ha--
ben überall glücklichen Erfolg gehabt. In mehreren anderen großen
Städten und in gewissen von der Negierung abhängigen Schul¬
anstalten hat diese Methode gleich gute Früchte getragen.


Es möchte also das Ansehen haben, als wäre die Frage, welche
Methode man für den Elementarunterricht in der Musik wählen
solle, durch die Resultate, welche Herr Wilden mit der seinigen
erhalten, vollkommen entschieden. Jedoch wir sind der Meinung,
daß dies für die Masse der kleinen Lokalitäten, der Flecken und
Dörfer, welche in allen Ländern 99 Hunderttheile der Bevölkerung
ausmachen, nicht der Fall ist. Es ständen da der allgemeinen Verbrei¬
tung dieser Methode große, fast unübersteigbare Hindernisse entge-
gegen. Sie erfordert ein zu großes Local, ein zu beträchtliches und
für die Hülfsquellen der kleinen Gemeinden zu kostspieliges Mate¬
rial, endlich einen unnützen Apparat von Vorrichtungen, die man
übrigens auf dem Lande nur sehr schwer treffen könnte, weil da
durchschnittlich die Intelligenz minder vorgeschritten ist und das Er¬
fassen langsamer vor sich geht, als in den großen Städten. Ueber¬
haupt, je complicirter die Elemente eines Systems sind, desto gerin¬
ger ist seine Anwendbarkeit auf den Volksunterricht, in dem stets die
größte Einfachheit herrschen muß.


ES ist uns bisher für Belgien und Frankreich die Frage, welche wir
uns im Anfang dieses Artikels gestellt, welche Methode am meisten


[]

mit Nutzen im Elementarunterricht für Musik angewandt werden
kann, eigentlich ungelöst geblieben. Wir glauben aber, daß nach der
gründlichen Prüfung, die wir mit allen bekannten Systemen vorge¬
nommen, eS uns nicht allzuschwer fallen wird, eine Lösung zu finden.
Ein Resultat dieser Prüfung ist sür uns die von allen Meistern an¬
erkannte Nothwendigkeit, die Gegenstände des Unterrichts von einan¬
der zu trennen. Der Schullehrer wird also seine Zöglinge Alles
lehren, was das musikalische Zeitmaß betrifft, den Werth der Zei¬
chen, welche die Dauer anzeigen und die Combinationen der Rhyth¬
men. Einige hierauf Bezug habende Wandtafeln oder auch nur eine
einzige schwarze Wandtafel, mit Notenlinien, worauf der Lehrer seine
Lectionen schreibt, werden Schülern zu ihren Uebungen dienen. Wenn
sie nun hierüber vollkommen Belehrung erhalten haben, so wird man,
indem man dasselbe Verfahren befolgt, zur Intonation übergehen.
Sodann wird man die erworbenen Kenntnisse in einer gewissen An¬
zahl von Solfegg-Lectionen vereinigen. Die kleinen Kinder werden
keine andere Belehrung als den mündlichen Unterricht des Lehrers
haben: denjenigen, welche lesen können, wird man einen Katechis¬
mus der musikalischen Grundsätze in die Hände geben, der so einfach
und kurz als möglich sein muß. Am Vormittag eines jeden Tages
wird der Lehrer die Grundsätze und ihre Anwendung eine halbe
Stunde lang erklären. Am Nachmittag wird er eben so lange die¬
jenigen Schüler, welche den Katechismus haben, über das ausfragen,
was er sie am Vormittag gelehrt hat.


Die zweite Hälfte der vor- und nachmittägigen Lection wird
zum praktischen Gesang zu verwenden sein. In der ersten Zeit wird
der Lehrer eine ganz einfache Melodie auf die Tafel schreiben: er
selbst wird sie singen, indem er mit einem Stäbchen auf jedes Zei¬
chen in dem Augenblicke, da er es singt, auf die Tafel zeigt und
wird so Phrase nach Phrase dem Gedächtniß seiner Schüler ein¬
prägen, sodann wird er sie alle zusammen im Chor singen lassen.
Wenn sie weiter fortgeschritten sein werden, werden sie kleine zwei-
oder dreistimmige Stücke singen, wie man ihrer in Deutschland eine
Menge von Sammlungen in kleinem Format besitzt, deren einzelne
Blätter auf Pappendeckel oder Holz aufgeklebt werden können.


So muß die musikalische Erziehung des Volkes beschaffen sein.
Und man glaube ja nicht, daß es sich hier um eine neue Methode


[]

handelt; diejenige, die wir eben auseinandergesetzt, ist eine praktische
Methode, wie sie in ganz Deutschland befolgt wird und die von
allem Systemsgeist fern ist. Wenn es möglich wäre, sie überall zu
gleicher Zeit einzuführen, so kann man behaupten, daß binnen drei¬
ßig Jahren es in Belgien und Frankreich unter zehn Individuen nicht
eins geben würde, das nicht eine praktische Kenntniß der Musik
haben und im Stande sein würde, seine Stimme in einem Chor zu
singen.


[]

T a g e b u es.



l.
Briefe aus Brüssel.


Es giebt wohl wenig Städte in Europa, wo die Gesellschaft so viele
Factoren zählt, als hier. Ich habe Städte gesehen, welche 3, 4, 8 Mal so viel
Einwohner zählen als Brüssel, und in welchen das Leben einen bei weitem ein¬
heitlicheren Charakter trägt. Paris, London, Neapel zählen gewiß mehr Fremde
als Brüssel; aber sie verlieren sich in den weiten Falten der Gesammtheit: es
bleibt immer eine englische, eine französische, eine italienische Stadt. Dies ist kei¬
neswegs der Fall mit Brüssel. Wenn man sonst den Charakter eines Landes in
der Hauptstadt am leichtesten studiren kann, so ist es hier gerade umgekehrt:
nirgends lernt man Belgien weniger kennen, als in Brüssel selbst. In einer
einzigen Beziehung kann man die Stadt Brüssel als die Repräsentantin Bel¬
giens gelten lassen, insoweit nämlich Belgien ein Grenzland ist und als solches
die gemischtesten Elemente von Bevölkerung vereint. Dies spiegelt sich in der
Hauptstadt bis zum Uebermaße ab: es finden sich hier keine fünf Häuser neben
einander, in welchen die Bewohner ein und derselben Nation angehörten. Das
eine Haus ist von einem Flamänder bewohnt, das andere von einem Wallonen,
das dritte von einem Deutschen, das vierte von einem Engländer, das fünfte
von einem Holländer und das sechste, siebente und achte von Franzosen. Brüs¬
sel, das zur Zeit der holländischen Regierung an 73,000 Einwohner zählt, hat
jetzt mit Inbegriff seiner Vorstädte eine Bevölkerung von »30,000 Seelen.
Diesen Zuwachs bilden meist die Fremden, die sich seit 1830 hier niedergelassen.
Der lange Frieden hat allerdings fast jede größere Stadt Europas mit neuen
Bauten und Bergrößerungen beschenkt, doch nirgends in so hohem Grade wie


!6
[]

hier; nicht nur, daß in dem ganzen Umkreise der Stadt ganze Straßenrcihen
»en angelegt werden- der Speculationsgeist, die Industrie, die grofien Kapita¬
listen haben hier noch die Ausführung einer eigenthümlichen Idee übernommen,
welche in Deutschland unerhört und beispiellos ist. Zwei Gesellschaften bauen
auf ihre Kosten zwei neue Vorstädte, das Quartier Leopold und das Quartier
Louise. Die erstere dieser beiden Vorstädte baut die 8oeivt6 gönörals ,>our
lÄvni'iLf"- I'in'lnsel'i« nationale: diese Gesellschaft hat einen großen Kreis von
Terrains im Osten der Stadt dicht vor dem Thore angekauft, um letztere an
einzelne Baulustige wieder zu verkaufen. Um dieser neu zu construirenden
Glatt eine gewisse Bevölkerung zu sichern, hat die Gesellschaft nicht nur selbst
eine Reihe von Häusern gebaut, sondern sie hat auch öffentliche Gebäude auf¬
führen lassen, wie sie nur eine vollständig organisirte große Stadt besitzt, hier¬
unter namentlich eine großartige, prachtvoll im herrlichsten Style angelegte
Kirche, welche vor Kurzem von dem Cardinal Erzbischof von Mecheln in eig¬
ner Person eingesegnet wurde. Diese Art von specu-lation hat für den Frem¬
den etwas Unheimliches und Ahnungsvolles: es wird einem in der That ganz
absonderlich zu Muthe, wenn man plötzlich in eine andere Stadt versetzt wird,
mit Häusern , Kirche, Markt, deren Fenster im Sonnenschein glitzern, deren
weiße Mauern den Blick blenden, die aber ganz leer steht, in deren Innern
noch kein Mensch sich regt und die ganz der Zukunft noch angehört, wie eine
neue Wiege, oder vielleicht auch wie ein neuer Sarg. Diese kecke Sicherheit,
mit welcher man auf das Morgen rechnet, erscheint fast frevelhaft und man
zittert, ob nicht das boshafte Schicksal, ergrimmt über den Eingriff und die
Anmaßung der Menschen, ihnen einen bösen Strich durch die Rechnung ziehen
und das so tiefsinnig Combinirte durch einen einzigen Unglücksstreich in seiner
Entwicklung hemmen und zerstören wird. Ein einziger Hauch des Krieges, eine
einzige Wolke am politischen Himmel, — und all diese schönen Häuser blieben
wie ein ausgeklasencs El, wie ein unverschuldetes Pompeji, öde und leer. Und
bedenken denn diese Männer, die so große Capitalien in solchen Unternehmungen
wagen, nicht den Fall eines Krieges und die damit verbundenen Folgen? Wohl;
aber diese Herren raisonniren folgendergesialt: Ein Krieg in Europa kann bei
dem jetzigen Zustande der Artilleriekunst unmöglich lange dauern, namentlich
auf einem Boden wie Belgien, wo die Transportwege die feindlichen Massen
so rasch gegen einander führen, daß die Entscheidung des Waffcnglücks in einigen
Wochen, ja vielleicht in wenigen Tagen erfolgen muß. Wie dieses sich auch
wende, immer wird Brüssel die Brücke des europäischen Verkehrs zwischen
England, Frankreich und Deutschland bleiben. Die fremden Ansiedler, welche


[]

das üppige, wohlfeile, bequeme und freie Leben Belgiens herbeilockt, werden
auch in Zukunft nicht fehlen. Bedenkt man, daß die Fahrt von London nach
Brüssel in nur zwölf Stunden und für die geringe Summe von vier Thalern
zurückgelegt werden kann, daß man von Cöln hierher kaum so viel bedarf und
von Paris hierher nur das Doppelte braucht—natürlich überall die wohlfeilste
Reiseart angenommen — so wird man leicht begreifen, wie so dieser Zuwachs
an Fremden mit jedem Tage sich vermehrt und worauf da» Vertrauen der
Spekulanten begründet ist. — Man kann im Ganzen annehmen, daß nur die
kleinere Hälfte der Einwohner Brüssels aus eigentlichen Brabantern besteht;
die andere, bei weitem größere Hälfte besteht aus flandrischen und wallonischen
Belgiern, und aus den Fremden, unter welchen man ungefähr 20,000 Fran¬
zosen annimmt, 10,000 Deutsche, 4—5000 Engländer und ein kleines Häuflein
Holländer, welche aus langer Gewohnheit oder aus Geschäftsnöthigung nach
der Revolution hier zurückgeblieben sind. Die verschiedenen Lebensweisen,
die sich durch die Verschiedenheit der nationalen Neigungen herausstellen, geben
Brüssel seine Mannichfaltigkeit. Der Brabanter, wie überhaupt der Flamän-
der zeichnet sich durch einen besondern Geist der Gleichheit aus, der in den
belgischen Provinzen weit älter ist, als der Begriff der vgalitv, den die fran¬
zösische Revolution geschaffen. Die Macht der Städte und Zünfte, welche die¬
sen Provinzen ihren alten Reichthum brachte, gab dem Bürger ein Bewußtsein
seiner Würde, welche der Adel achten mußte: die Eifersucht zwischen Adel und
Bürgerschaft in der Blüthezeit der deutschen Städte und welche so oft den Ruin
derselben herbeigeführt, kam hier aus dem wichtigen Grunde nicht zur gefähr¬
lichen Entwicklung, weil die belgischen Provinzen oft unter fremder Herrschaft
standen, gegen welche die städtische, wie die aristokratische Macht sich brüderlich
verbinden mußten, um ihre Privilegien aufrecht zu erhalten. Dieses gcgensei-
scitige Verhältniß hatte sich durch die Zeit so tief eingewurzelt, daß noch heute,
wo doch der Adel als politische Körperschaft hier keinen Bestand mehr hat,
wo er alle Lasten und Pflichten in Bezug auf Steuer, Militärdienst :c. ganz
gleich mit dem Bürger tragen muß und durch seine Geburt zu keinem Vorzug
berechtigt ist, er dennoch social noch immer einer großen Hochachtung und Po¬
pularität genießt, die er sich wohl hütet, durch Stolz und Abgeschiedenheit zu
verspielen. In den ersten Jahren nach dem Ausbruche der Revolution, als die
Bürger — und leider auch die Pöbelmacht eine der Aristokratie gefährliche
Stellung gewann, zogen sich einige der bedeutendsten Häupter von der gesell¬
schaftlichen Bühne zurück. Es geschah dies bei weitem weniger aus Anhänglichkeit
für das oranische Haus, als aus Furcht vor pöbelhafter Uebergriffen und der


16»
[]

Ungewißheit der neuen Stellung. Der Herzog von Aremberg lebte auf diese
Weise mit seiner Familie durch 10 Jahre in der strengsten Zurückgezogenheit
und erst im vorletzten Winter öffnete er zum ersten Male seine Salons der
größeren Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist trotz aller ihrer hocharistokratischcn
Elemente doch bei weitem nicht so erclusiv, wie die der alten Aristokratie in
der I?aut>aurx 8t. Ksrmain. Die Salons des Herzogs von Aremverg, des
Prince de Ligne, des Herzogs von Ursel, des Marquis von Trösigny, des
Herzogs von Beaufort u. s. w. sind zwar wie natürlich der Mittelpunkt des
alten, einheimischen und fremden Adels und es ist sogar hier bei weitem schwe¬
rer Zutritt zu erhalten, als zu den Bälle» und Soireen des Hofes; dennoch
tragen diese Gesellschaften nicht den Charakter jener hochmüthigen Abgeschlos¬
senheit, der unsern lieben deutschen Adels-Zusammenkimftcn eigen ist. Man
findet hier nicht nur den männlichen Theil der bürgerlichen Sommitäten, son¬
dern auch ihre Damen; Etwas, das in Deutschland, bei den halblibcralen Ari¬
stokraten, welche Künstler, Gelehrte ?c. in ihren Salons empfangen, nie der
Fall ist. Andrerseits verschmäht der hiesige Adel nicht nur das Haus des
Bürgerlichen nicht, sondern auch nicht einmal seine öffentlichen, bisweilen sogar
seine ordinairen Vereinigungspunkte zu besuchen. Weit wichtiger für das Ra-
tionallebcn ist übrigens der Geist der Gleichheit unter der Bürgerklasse selbst. Die
lächerliche Vornehmheit, mit welcher in Deutschland die militärische, büreaukra¬
tische und finanzielle Welt von den übrigen Klassen sich abscheidet, kennt man
hier kaum dem Namen nach. In den Cafüs und Estaminets findet man den
höheren Militair- und Civilbeamten, den reichen Kaufmann und Industriellen
in vollständiger Vertraulichkeit an demselben Tische sitzen, an welchem der ehr¬
same Tischlermeister in seiner Blouse sitzt. Die kurze, weiße, thönerne Tabaks¬
pfeife und das längliche Bierglas, welches einen Hauptbestandtheil der Tcniers-
schcn Gemälde bildet, spielen noch heute dieselbe Rolle, wie zu den Zeiten
Albert's und Jsabella's. In der Kirche, auf dem Stadthause und in dem Esta¬
minet sind alle Belgier einander gleich: es sind dies die drei Hauptgebäude,
aus welchen alle Bewegungen und Nationaläußerungen dieses Volkes hervor¬
gegangen sind. Des Morgens die Kirche, des Mittags das Stadthaus, des
Abends das Estaminet: das sind die drei Lebenspunkte, deren verschiedene Zu¬
sammensetzung die ganze Geschichte dieses Volkes hervorgebracht hat. Der Priester,
der Schöffe, der Journalist finden da ihr Feld, ihre Tribüne. Zur Zeit, als
der gedruckte Journalismus noch nicht eristirte, wurde er im Estaminet münd¬
lich betrieben: hier predigten die Vonckiften und Bandernootistcn während
der Zeit der Brabanter Revolution gegen Oesterreich; hier wurden an jedem


[]

Abend die Angriffe gegen die holländischen Truppen im Jahre 1830 geordnet.
Hier versammeln sich noch in diesem Augenblicke die Wahlcomitös in geschlos¬
senen und offenen Gesellschaften. Diese EstaminetS sind so zahlreich und von
solcher politischen Bedeutung, daß um das Rathhaus herum mehr als vierzig der¬
selben gezählt werden, von denen einige wie z. B. das Raison <Zvs Ur-isseur«
über 500 Menschen an jedem Abend in dem Saale zu ebener Erde vereini¬
gen, während anderswo, wie z. B. im obern Stock des erwähnten Estaminets,
ein abgeschlossener Saal sich befindet, in welchem ein Theil der Liberalen seine
Versammlungen hält. Hier hält der Volksgeist offene Tafel und den Regie¬
renden wird es leicht, seinen Willen und seine Neigungen kennen zu lernen.
Note: K. Ich komme ausführlicher hierauf zurück.


Aus Leipzig.


Note: Alte Weiber. — Der Sohn der Wildnis-. — Gichkow'S Werner. — Italienische Oper/
Hinrichtungen. — Eisenbahnen.

Bekanntlich war das Jahr 1842 längst von Kalendermachern und alten
Weibern als ein unglückliches und erei'gmßvolles angemeldet worden. Die teil¬
weise wunderbare Erfüllung dieser Weissagungen könnte Einen wirklich bekeh¬
ren; und es ist daher kein Wunder, wenn viele Staatsmänner im Norden und
Süden alte Weiber werden und ihre Bekehrung zu allerhand altem Glauben und
Aberglauben durch politische und religiöse Anachronismen bethätigen wollen, die
sie „organisch-historisch-christlich-germanisch-indischen" Fortschritt nennen
Merkwürdiger Weise bestehen die Projecte dieser historisch-organischen Partei
aus lauter unorganischen, gemachtem Zeug, das sich nicht halten kann; und es
offenbart sich immer mehr, daß eben das, wozu die Zeit drängt, das natürlich
Werdende und Historische ist. Dinge, die sich von selbst verstehen; aber das
Einfachste und Vernünftigste wollen gewisse Köpfe nie anerkennen, weil eS zu
verständlich und dem Volksverstand zugänglich ist. Die Zumuthungen. dieser
Leute kommen mir vor, als wollte mir Jemand einreden, ich habe kein histo¬
risches Recht, schon jetzt aus die Welt gekommen zu sein, indem zwischen mei-



[]

nem Großvater und meinem Vater noch eine Uebergangsperson fehle und ich
— um einen irischen Bull zu machen —> eigentlich der Urenkel und nicht der
Enkel meines Großvaters sein sollte. Mit derselben Logik sagt man uns in's
Gesicht, wir wären für unsere Zeit zu human, zu aufgeklärt, zu reif, das
könne nicht mit natürlichen Dingen zugegangen sein, und wir sollten daher
noch einmal vergessen, was wir wissen, und werden, was wir gewesen sind.
Doch lassen wir die Doctrinairc. — Das Jahr 1842 war bis jetzt sehr creig-
nißvoll. Abgesehen von den Welthändeln, bei denen Leipzig Zuschauer im
ersten Rang ist — von den Feuersbrünsten und Erdbeben, Revolutionen
und Verschwörungen — haben sich auch hier mannichfache Erscheinungen ge¬
jagt, so daß mein Bericht nur ein kurzes, unvollständiges Resümv sein wird.
Sie haben gewiß von den Erfolgen gehört, die Halm's „Sohn der Wild¬
niß" auf den meisten deutschen Bühnen hatte, obgleich die Kritik fast in ganz
Deutschland den Stab über dieses Drama gebrochen hat. Ich glaube, die
Kritik ist zu weit gegangen. Halm ist mehr als irgend ein östreichischer Poet
Vertreter der modernen Wiener Bildung; von diesem Gesichtspunkt aus hat
man den „Sohn der Wildniß" zu betrachten. Es ist wahr, dieser Ingomar ist
kein Sohn der Wildniß, so wenig wie Massilia eine griechische Pflanzstadt und
Parthenia ein Ausdruck griechischer Cultur ist. Das Thun dieser Helden und
Heldinnen steht im geraden Widerspruch mit ihren Reden. Ingomar ist ein
Wiener Stutzer, der den Wilden spielt; denn ein wahrhafter Mann und Na¬
turmensch würde selbst einer Iphigenia Ehrfurcht einflößen, wo sie ihn nicht
lieben kann, keinesfalls aber mit sich spielen lassen, ihr wie ein Galanthom sich
zu Füßen setzen und — ich möchte sagen — Hut und Shawl halten. Parthenia
ist ein liebes Wiener Putzmachermädchen, welches fleißig das Burgtheater be¬
sucht hat, und weiß, wie man sich einen Liebhaber erzieht. Die durchschnitt¬
liche Wiener Bildung verwechselt noch gern Liebe mit Galanterie, Cultur mit
Artigkeit und 'hat überhaupt von vielen Dingen, z. B- von Naturfreiheit,
Heidenthum u. s. w. gerade solche Vorstellungen, wie ein Kind von den Herr¬
lichkeiten, die es in seiner Bilderfibel abgemalt sieht. Und doch möchte man
so gern auch einmal frei, naturwüchsig, Sturm- und drangvoll sein! Wie rüh¬
rend ist nun das Bemühn, alle diese Begeisterungen, Leidenschaften und Tugen¬
den, die man dem Namen nach kennt, aber nie in sich gefühlt hat, anzunehmen!
Wie rührend diese Armuth, die sich durch äußerliches Anklammern an gewisse
stereotype, gleichsam aus den Lehrbüchern zusammengeholte Phrasen helfen
will! Myron erklärt dem Sohn der Wildniß die Civilisation: „Wir sind ein
^ekel bauend Volk!" Parthenia definirt dem Wilden, ich glaube nach Bouter-


[]

weck's Aesthetik, was schön sei und daßdas Schönenichtzu nützen brauche. Jngomae
selbst ist so hupcrnaiv, daß er nicht weiß, was ein Kranz ist. „Aus Liebe
frein ? Wie macht Ihr das?" fragt er. Doch verräth sich bald darauf die
Maskerade und er vergleicht die Liebe mit einem tiefen See, in dessen Grund
er sich versenken möchte. Offenbar hat sich der Dichter hier einen falschen
Begriff von dem Sohn eines Naturvolkes gemacht. Ich will nicht weiter
gehen. Wie gesagt, es scheint mir fast, als wäre dies die Sprache, welche der
Dichter reden mußte, um auf das Wiener Publikum Eindruck zu mache».
Das Stück ist für Wiener oder Weiber geschrieben. Süß einschmeichelnd, ge¬
müthlich und phantasiereich ist die Diction; der technische Bau verräth einen
Bühncnkcnner und einzelne Scenen sind so effectvoll und wirklich schwunghaft,
daß sie selbst den ernstem Zuschauer bewegen. Daraus und aus dem treffliche^
Spiel der Mine. Rettich erkläre ich mir die außerordentlichen Erfolge des Stückes.
Trotz oder vielleicht wegen der unwillkürlichen Komik, die das Stück bei der
Aufführung entwickelt, sah man es hier mehrmals mit Vergnügen. Man nahm
es auf wie einen gutmüthigen Wiener, den man lieb gewinnt, während man
herzlich über ihn lachen muß. — In Berlin hat der Sohn der Wildniß sogar
Furore gemacht, ein Beweis, daß zwischen Wien und Berlin eine größere
Aehnlichkeit herrschen muß, als man zugeben will.


Und Gutzkows „Werner?" Rede mir Einer noch von der Theilnahme
des Volkes, vom Aufschwung des Dramas! Aeußere Verhältnisse sind es, die
heutzutage das Glück einer dramatischen Dichtung machen. Gutzkow's Werner,
obgleich mit allerhand alten Kotzebue „Ifflandischen Elementen versetzt, steht
in mancher Hinsicht so hoch über dem Sohn der Wildniß, wie der Denker
über dem gefühlvollen Declamator. Die Aufführung ging aber beinahe spur¬
los vorüber. Erstens war es dem Publikum nicht mehr neu genug, zweitens
war es zu heiß, drittens ging man lieber in die italienische Oper. Der Büh¬
nendichter dient heutzutage, wie das Bühneninstitut selber, der Gelegenheit
und dem Vergnügen des Publikums im gewöhnlichsten Sinne des Wortes.
Ich fürchte, daß Alles, was die Journale seit zwei oder drei Jahren über
den Aufschwung des deutschen Dramas phantasirt und raisonnirt haben,
lange noch zu den i>iis clvsi-keins gehören wird. — Eine italienische
Operngesellschaft aus Kopenhagen zieht jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich. Das Fremdartige der Erscheinung, ivor zwei Jahren waren zum
letzten Mal italienische Sänger hier) das lebhafte Spiel und die hübschen
Gestalten locken das Publikum in das enge, fürchterlich schwüle Haus. Die
sächsische Artigkeit wird von den Gästen gewiß überall gepriesen werden. Man


[]

betäubt sie mit Beifallklatschen und Hervorruft», als wollte man sie dadurch
für die, wie es heißt, karge» Einnahmen entschädigen. Rossini's Barbier von
Sevilla hat wieder seine ewige Jugend bewährt; Wellini's und Donizetti'ö
Syrupsüßigkeiten aber grimmen im Bauch. —


Ein anderes Schauspiel, unter freiem Himmel bei Gohlis aufgeführt, hat
über fünf und zwanzig Tausend Menschen versammelt: die Hinrichtung eines,
zwanzigjährigen Unholds, der seine schwangere Geliebte auf ncufranzösisch
romantische Weise umgebracht hatte. Nach der Messe verspricht man uns
noch ein solches Schauspiel und zwar auf dem Leipziger Markte! Inzwischen
aber ist wieder ein Mord vorgefallen; und es scheint fast, als ob mit den
Hinrichtungen sich das Gelüste nach Blut unter den Verlornen Söhnen der>
menschlichen Gesellschaft steigerte. — Anfang kommenden Monats wird die
Eisenbahn bis Altenburg eröffnet und Leipzig streckt seine eisernen Fühlhörner
dann auch bald in's Baierland hinein. — Von Politik und Publicistik das
nächste Mal. _


Neueste Literatur.


^-H^ - I.
Die Münchener Jahrbücher für bildend« Künste

Während das Cotta'sche Kunstblatt einen Redactionswechsel erlebt, welcher
einen frischeren Aufschwung dieses Instituts erwarten läßt, treten andrerseits
R. Marggrasss Jahrbücher ihren 2ten Jahrgang in erweiterter Form an.
Statt der Unregelmäßigkeit, mit welcher bisher die Lieferungen der Jahr¬
bücher erschienen, werden sie von nun an in vierteljährigen Heften aus¬
gegeben. Sehen wir hierin den erfreulichen Beweis, daß dieses tüchtige
und bedeutende Organ deutscher Kunstinteressen einen festen Fuß im Publikum
gesaßt hat: sehen wir hierin das schöne Aelchen, daß, während Deutschland sei¬
ner politischen Großjährigkeit mit immer entschiedeneren Schritten entgegen¬
geht, es auch aus dem Gebiete der Kunst das nachholt, was es in jahrelanger
Apathie vernachlässigt hat. So wahr ist es, daß ein tiefer, stiller Zusammen¬
hang zwischen dem Kunstleben und dem politischen Bewußtsein einer Nation
eristirt. Daß ein so ernstes Institut, wie die Münchener Jahrbücher, Wurzeln
schlagen kann, spricht lauter für den Triumph, den die Kunst in Deutschland
feiert, als der ganze Flitterenthusiasmus, mit dem der Haufe den SicgeSwagen



[]

eines Ivfingrigen Pianisten und einer lObeinigen Tänzerin zieht. Hören wir
hierüber Marggraff selbst sprechen:


„Was die Stellung des Publikums der Kunst gegenüber betrifft, so er¬
scheint sie in vielen Stücken anders, als sie es noch etwa vor 10 Jahren war.
Allerdings können wir nicht leugnen, durch die Vervielfältigung und Verbesse¬
rung der verschiedenen Anstalten zur Erhaltung, Fortpflanzung und Verbrei¬
tung der Kunst, durch die zweckmäßige Ergänzung, Feststellung und Freigebung
der öffentlichen Kunstsammlungen; durch die alle Kreise und Stände des Volks
eng einschließenden, mit ihrer Wirksamkeit über größere und kleinere Ortschaf¬
ten sich verbreitenden Kunstvereine und die von ihnen geförderten und veran¬
laßten Kunstausstellungen; durch die regsamere Thätigkeit im Gebiete der ver¬
vielfältigenden Künste des Kupferstichs, des Holzschnitts und der Lithographie und
die hieran sich knüpfende gesteigerte Unternehmungslust der Kunsthändler; endlich
durch die zum Theil in Folge der erwähnten Verhältnisse herbeigeführte Ver¬
mehrung der Künstler und hierunter die entstehenden Kunstwerke selbst, hat
sich die Liebe zur Kunst und der Sinn dafür in einem Maße aller Gemüther
bemächtigt, daß wir berechtigt sind, sowohl in Bezug der Vermehrung als des
künstlerischen Werthes der Productionen noch höhere Erfolge von der Zukunft
zu erwarten."


,,Man drängt sich zur Theilnahme an den Kunstvcrei'nen und unsere Zeit
würde die Benennung des Zeitalters der Denkmäler nicht verdienen, wollte das
Volk jetzt, wie in den beiden letzten Jahrhunderten, nur.seinen Fürsten es über¬
lassen, berühmten Männern Monumente zu errichten. Die früher unter Verschluß
gehaltenen oder auf Wucher verliehenen Privatmittel verwendet man jetzt wieder
lieber auf den Erwerb von Kunstgcgenständen, mit deren beweglichem Schmuck
man so brillant als möglich sein Local zu verzieren sucht, während Einzelne,
schon in größerer Zahl, als früher, auch der monumentalen Malerei und Bild¬
nern Gelegenheit geben, bei der Errichtung neuer Wohngebäude und Land¬
häuser mit der Architektur in unmittelbare, gemeinsame Wirksamkeit zu
treten."


Die deutsche,» Tosch-nlckchcr und ti« Wcltzegende» »°n Chlodwig.

Die Literatur der deutschen Taschenbücher ist in letzterer Zeit aus eine be¬
deutende Apathie im Publikum gestoßen. Ihre nächste Bestimmung, als Neu¬
jahrsgeschenke oder sonstige Galanteriebezeugung auf die vtagöre einer Dame


[]

niedergelegt zu werden, hat mannichfache Nebenbuhler erhalten. Die deutsche
Industrie hat tausend kleine Bijouterien erfunden, welche der galante Ehemann,
der zärtliche Liebhaber nur mit vielem Aufwande aus Paris herbeischaffen
konnte. Die deutsche Artigkeit hat nun nicht mehr nöthig, in der monotonen
Form eines Taschenbuchs „für Liebe und Freundschaft" ihre Reujahrs- und
Wcihnachtsgrüße dem zarten Geschlechte zu übersenden. Andrerseits haben die
illustrirten Bücher in Quart und Großoctav die kleinen liliputanischen Schwärme
aus ihren Niederlassungen verdrängt. So muß denn die fliegende Literatur
der kleinen Novellen, Balladen und Sonnette einen andern Bienenkorb suchen,
um ihren Honig, der leider oft allzusüß ist, zu bereiten. Die bei Meyer in
Cottbus erscheinenden „Weltgegenden" scheinen aus einem solchen Motiv her¬
vorgegangen zu sein. Der Titel ist ungeschickt gewählt und steht zu dem In¬
halt in gar keiner Beziehung. Allein es findet hier der nicht gewöhnliche Um¬
stand statt, daß der Inhalt besser als der Titel ist. Die literarische Gesell¬
schaft, die man hier trifft, ist eine gute: die meisten unserer besten Erzähler
und einige achtbare Lyriker liefern das Material. Das letzte Heft, welches
uns in die Hände gekommen, enthält werthvolle Beiträge von Wilibold Alexis
und Robert Heller, eine humoristische Epistel von Adolph Peters, Schilderun¬
gen aus München von Heinrich Scheerer, Gedickte von Dingelstedt, Friedrich
von Sattel und Richard Morning. Letzterer hat auch eine Charakteristik von
Anastasius Grün geliefert, die werthvoller wäre, wenn sie kürzer sein möchte.
Die bescheidene Aufgabe, „eine Sammlung schöngeistiger Produkte der beliebte¬
sten und berühmtesten Schriftsteller Deutschlands zu liefern," erfüllte der Her¬
ausgeber auf eine ehrenvolle Weise: ob jedoch eine solche Aufgabe, die ohne alle
Tendenz, ohne irgend einen bestimmten Literatur- und Culturzweck in'6 Auge zu
fassen, die Materialien zufällig aneinanderreiht, an der Zeit ist? Ob ein Un¬
ternehmen, das mit nicht unbedeutendem Aufwand von materiellen Mitteln und
mit so tüchtiger Unterstützung literarischer Capacitäten in's Leben gesetzt wird,
nicht tiefere Spuren zu graben hätte? Dies ist eine Frage, die wir nicht zu
Gunsten dieser literarischen Erscheinung beantworten können.'


Note: I' 5>

S <h e l I i n g.

Bisher haben wir gar oft über viele unserer deutschen politischen und
diplomatischen Persönlichkeiten die besten Aufschlüsse in französischen und eng¬
lischen Büchern und Journalen suchen müssen. Jetzt scheint es, daß wir auch


[]

die Nachrichten über unsere literarischen und wissenschaftlichen Autoritäten in
fremden Sprachen werden lesen müssen. Aus dem kürzlich von Armand
Sandes über die Philosophie Spinoza's und ihre Fortsetzung in Deutschland
veröffentlichten Werke erfahren wir zum ersten Male Schelling's Vorhaben
über die Publikation seiner Werke. Aus einem dort angeführten Briefe Neander's
sind nämlich folgende Bücher von Schelling zu erwarten, welche die Darstellung
seines neuen Systems vollständig enthalten sollen. 1) Die Einleitung in
Form einer Geschichte der Philosophie seit Descartes; 2) positive Philosophie;
») Philosophie der Offenbarung; 4) Philosophie der Mythologie; und S) Na¬
turphilosophie. Das erste dieser Werke ist bereits ganz vollendet, doch soll es
nur mit den folgenden dreien zusammen veröffentlicht werden; das fünfte soll
erst nach Schelling's Tod erscheinen. Diese Aufschlüsse über Schelling's Thä¬
tigkeit erhält man in Berlin aus einem in Paris erschienenen Buche- Der
große Philosoph, der gegen seine Hypochondrie den Sprudel in Carlsbad zu
Hülfe zu rufen denkt, scheint wenig Vertrauen zu den Berlinern zu haben.
Diejenigen, welche Schelling nicht persönlich kennen, erinnern wir an die kleine
Silhouette, welche Lewald von ihm gab. „Auch einen kleinen Mann bemerkte
ich oft," heißt es in dessen Panorama von München, „gewöhnlich im braunen
Ueberrocke, ein Band im Knopfloche, runden Hut, die Hände auf dem Rücken,
einen Regenschirm haltend. Es lag nichts Ueberraschendes in der Erscheinung
und doch etwas Anziehendes. Ich hatte mir den Mann oft angesehen, ohne
zu wissen, warum, und mir so sein Bild tief eingeprägt. Unter einer mäßigen
Stirn, von dünnem, grauem Haar umsäumt, zwei kleine graue Augen von
mattem Ausdrucke; doch lag Poesie in dem Blicke und dieß verrieth den Dich¬
ter mehr, als die Stirn den Denker verrathen hätte. Eine kleine, dünne Nase,
die man seit undenklichen Zeiten ü, I-» Koxolane zu nennen pflegt, d. h. die
Spitze etwas nach oben gekehrt, wie sie das Profil von Sokrates und Pitt
auszeichnete. Neben dieser Nase, auf der Wange, eine Warze. Der Raum
zwischen Nase und Mund breit, und dieser weit, schön gezogen, dabei weniger
thierisch, als beredt erscheinend, das Kinn endlich kurz, etwas hervorstehend.
Der Schritt dieses Mannes fest auftretend, sehr gleichmäßig. Dieß ist Schelling,
der in seinen Vorlesungen keinen Berliner hospitiren lassen
will, Jacobi öffentlich auf dem Katheder einen lmdövils schalt und Hegel'S
Philosophie ein Mondkalb nannte.,,


[]

Theater - Notizen.


Note: Dramcntitel. — Da.' letzt- König. — schadest, Fra Diavolo und David Strauß. —
Dem. Rachel in Brüssel. — Sir Wer» zu 8 Franc». — Gaunerei I» I^ilipul.

Wenn man das Gedränge von neuen Stücken sieht, mit welchen der letzte
Meßkatalog vollgestopft ist, so sollte man glauben, ein neues dramatisches
Jahrhundert sei für Deutschland angebrochen, und unsre Dichter haben nicht
bloß unsre Bühne, sondern alle Theater von ganz Europa zu versehen. Und
welche Titel! Wenn unsre deutschen Regisseure nicht gar so lescfaul und zähe
wären, — hier müßten sie anbeißen. Da ist z. B. bei Brockhaus ein Drama
erschienen: Der letzte König! Das ist ein Bissen, Ihr casselustigen Direk¬
toren, der zieht! Republikaner und Royalisten, Konstitutionelle und Absolutisten,
— wenn Ihr ihnen den letzten König beim Lampenlichte zeigt, so müßt Ihr
Wachen vor die Thür stellen, um den Andrang zu hemmen. Wie er nur
aussehen mag, der arme Mann? fragt man unter einander. Bleich mit
sceptermüden Händen und gramgeblcichtem Gesicht oder mit neronisch funkeln¬
den Augen? Oder wirft er selbst die Krone vom Haupte und springt hinab
von seiner Höhe, um ein Gleicher zu sein mit Gleichen?


Der rheinischen Journale machen einen gewaltigen Lärm, weil die Erhe¬
best in Aachen den Fra Diavolo gesungen „und dabei mit der Lorgnette in die
Logen hineinsah." Seit wann sind denn die Rheinländer so prüde? Wäh¬
rend die Schebest in Aachen spielte, blieb David Strauß in Cöln. Hätte eS
den rheinischen Zeitungen nicht besser angestanden, wenn sie aus Rücksicht
für einen gefeierten Schriftsteller, der als Gast unter ihnen weilt, auf einige
boshafte Bemerkungen verzichtet hätten.


Die Rachel ist von London zurück, wo sie dies Mal nicht die reiche Erndte
gemacht hat, welche sie erwartete. Um so zufriedener kann sie mit Brüssel sein,
wo sie bei erhöhten Preisen spielte. In jeder Borstellung eine Einnahme von
2000 Thalern! Ein lustiger Kopf hat ausgerechnet, daß jeder Bers in den
Horaces der Rachel i>«-r Vorstellung 8 Francs eintrug, darunter findet sich
auch ein Bers, der aus einem einzigen Iielas! besteht.


Einer neuen Art Diebstahl geben die französischen Theater das Leben.
Bei außergewöhnlichen Borstellungen wird die Casse bekanntlich schon vom
frühen Morgen an belagert und die Spätkommenden kaufen Leuten, die hier¬
aus eine Industrie machen, entweder ihren Platz ab, um selbst sich dahin zu
pflanzen, oder, was noch häusiger der Fall ist, sie werfen ihnen das Geld zu,
um einen Platz für Loge oder Sperrsitz nehmen zu lassen. Dadurch ergiebt
sich nun eine Art Gaunerei, die Z» w I.ilixut genannt wird. Man wirft einem


[]

solchen Platzhalter 20 Francs zu, um zwei Billete zu kaufen und giebt genau
aus ihn Acht. Wirklich sieht man ihn alle Anstrengungen machen, um zur
Casse vorzudringen, und auch dabei läßt man ihn noch nicht aus den Augen.
Und doch ist er plötzlich verschwunden. Er hat sich nämlich unmerklich immer
mehr und mehr gebückt, bis er endlich mit dem Kopf untertaucht, und nun
durch die Beine der übrigen Menge durchschlüpft. Einige Uhren und Börsen,
die er auf diesem Wege findet, verschmäht er natürlich nicht. Und seid Ihr
so glücklich, ihn am andern Morgen zu treffen, so bedauert er unendlich,
gestern, nachdem es ihm gelungen die Billete zu kaufen, Euch trotz allen Su¬
chen« nicht getroffen zu haben. Es hat ihn dieß Suchen zwei Stunden Zeit
gekostet und er hält den Hut hin und bittet um Entschädigung.



V-iuernfeld'S neueste« Lustspiel.

Hat Bauernfcld seinen Einfluß auf das Burgtheater in dem Grade ver¬
loren, daß er ein neues Stück nicht früher, als in der Mitte des Juni, d. h.
in der unglücklichsten Theaterzeit, kurz vor Eintreten der Ferien, wo ganz
Wien aus dem Lande ist, zur Aufführung bringen konnte? War Deinhard-
stein ein freundlicherer Gönner der Bauernftld'schen Lustspiele, als Holbein?
Der Titel, welchen das Stück führt, „Industrie und Herz," ist eben auch nicht
glücklich. „Herz und Welt," „Industrie und Herz," — das sieht einander so
ähnlich! Der Inhalt? Wir wollen ihn nicht erzählen: der Leser würde sagen:
das ist ja ein alter Bekannter. Ohnehin besteht der Reiz der Baucrnfeld'schen
Stücke nur im Dialog, und im Interesse des Verfassers mögen wir das Ske¬
lett nicht ohne das Fleisch zeigen. Die Wiener Journale berichte», man habe
Herrn Bauernfeld mehrere Male hervorgerufen. — . — . Einer unserer
Freunde schreibt uns aus Wien: „Holbein ist nicht sehr beliebt, weder beim
Publikum noch bei den Schauspielern. Zwar ist sein Streben nach heilsamen
Reformen, besonders hinsichtlich des Finanziellen, höchst rühmlich; allein dies
reicht für seine Stellung nicht aus: es bedarf hier einer geistreichen, gewand¬
ten, lebensvollen Auffassung des Zwecks und der dargebotenen Mittel. Bis
jetzt haben nur zwei Stücke unter seinerLeitung gefallen: „das Glas Wasser"
und „der Sohn der Wildniß." — Es scheint, als ob unser Freund jener Vor¬
stellung, in welcher Bauernfcld dreimal hervorgerufen wurde, nicht beigewohnt
habe. — . — .


[]
Die österreichischen Lottospielcr.

In Oesterreich, wo die kleine Lotterie oder das sogenannte Zahlen-Lotto
noch gäng und gäbe ist, wird damit so mancher Volksaberglaube genährt, den
zu belauschen nicht ohne Interesse ist. Um im Traume die Zahlen und deren
Combinationen zu Amber, Ternen u. s. w. zu sehen, welche herauskommen,
vergißt man nie, ehe man einschläft, den kleinen Finger der linken Hand in
die rechte zu legen. Um aber aus der Menge Zahlen, die man alsdann im
Traume sieht, den rechten Treffer herauszufinden, verfährt man folgenderma¬
ßen: Man sucht sich die Nummern in's Gedächtniß zurückzurufen, die am stärk¬
sten erschienen, und schreibt diese auf kleine Papierstreifen, die man mit der
Schrift noch dem Boden in eine Holzschachtel legt; dazu sperrt man eine Abends
gefangene Spinne; denn Abendspinn' bringt Gewinn. Nachtstun¬
den nimmt man nun die Schachtel wieder zur Hand und diejenigen Papier¬
chen, welche durch die Spinne umgedreht worden sind, enthalten die Nummern,
auf welche man setzen muß, denn diese kommen ganz gewiß heraus. Nur muß
man noch die geheimnißvolle Kunst der Combination zu Amber, Ternen in.
verstehen. Der gemeine Mann glaubt hieran so fest, daß, wenn eine so ge¬
wählte Nummer dennoch nicht gewinnt, er rcvolutionair genug ist, die Regie¬
rung eines Betrugs zu beschuldigen, indem er sagt- „man hat die Nummern,
weil sie, als sehr stark besetzt, ungeheure Summen gewonnen hätten, gar nicht
in's Rad gethan."


Die Gerant« der französischen Journale.

Der Titel Giraud klingt in Deutschland sehr vornehm; in Frankreich
zwinkert man dabei mit den Augen. Die Gazette de France z. B. ist in die¬
sem Monat in der Person ihres Gerant zu einem Jahr Gefängnißstrafe und
I2V0V Francs Geldbuße verurtheilt worden; wer ist nun dieser Gerant? Sein
Name ist Paul Aubry; sein Stand ist--Tagelöhner und Austräger des
Journals, bei welchem er als Gerant fungirt. Derselbe ist in diesem Doppel¬
amte der Nachfolger seines Vaters, Aubry Foucault, der bereits früher in
Folge eines ähnlichen Preßprocesses eingesteckt wurde und seine Strafe noch
nicht abgesessen hat.


[]
Ein Gedicht »onSenau.

Lenau, der in letzter Zeit ziemlich still geworden, hat in Fränkl's Sonn-
tagsblättern ein kleines Gedicht „der Räuber im Bakony" drucken lassen, wel¬
ches in einer einzigen Pointe die tiefste Wunde unserer gesellschaftlichen Zustände,
den ganzen Kampf der Armen gegen die Besitzenden, aus welchem der Commu¬
nismus und der Chartismus hervorgewachsen, trifft. Wir theilen es hier mit:


Der Eichenwald im Winde rauscht,
Im Schatten still der Räuber lauscht,
Ob nicht ein Wagen auf der Bahn
Fern rollt heran.
Der Räuber ist ein Schweinehirt,
Die Heerde grunzend wühlt und irrt
Im Wald herum, der Räuber steht
Am Baum und späht.
Er hält den Stock mit scharfem Beil
In brauner Faust, den Todeskcil.
Worauf der Hirt im Wurfe schnellt
Sein Beil, das fällt.
Wählt aus der Heerd' er sich ein Stück,
So fliegt die Hacke in's Genick,
Und lautlos sinkt der Eichelmast
Entseelter Gast.
Und ist's ein Mensch mit Geld und Gut,
So meint der Hirt: es ist sein Blut
Nicht anders, auch nur roth und warm,
Und ich bin arm.

Officielle Kritik in Berlin.

Die fgtale Stellung, in welche der Kunsthistoriker Franz Kugler in neue¬
ster Zeit gerathen ist, kommt einzig und allein aus der Vernachlässigung der
alten Regel: Erst freie die Tochter, dann werbe beim Vater. Franz Kugler
hat zuerst beim Vater geworben und hat nun von der Tochter einen Korb
bekommen. Es wird Jeden, der die werthvollen Schriften Kugler's kennt, un¬
angenehm berühren, daß der Senat der Kunstakademie ihm die Aufnahme ver¬
weigerte ; und dennoch muß man diesem Schritte der Akademie allgemeinen Bei


[]

fall zuklatschen. Sonderbare Verhältnisse in Berlin! Auf der einen Seite
soll eine Gerichtsbehörde darüber urtheilen, was in Hoffmann von Fallersleben's
Gedichten in die Reihe der Poesie gehört und was nicht; auf der andern
Seite creirt die politische Behörde Mitglieder von Kunstakademien! Man
hat in neuester Zeit viel von der Redactionsveränderung des Cotta'schen Litera¬
tur- und Kunstblattes gesprochen. Herr von Cotta hätte nur die beiden In¬
stitute nach Berlin verlegen dürft«: die Behörden hätten sie vielleicht gratis
redigirt.


Wie man die Kinder erzieht.

Wir wollen ein wenig von der Erziehung der Kinder sprechen — sagt
Alphons Karr. Man schließt etwa sechzig Knaben in einem Zimmer ein; man
hält sie ab, Ball und Reifen zu spielen, was ihrem Alter angemessene Spiele
sind, damit sie sich eine classische Bildung erwerben, etwas, was dem reisen
Mannesalter zur Erholung dient.


So läßt man sie acht Jahre in Langeweile, Verdruß, Thränen und Ent¬
behrungen hinbringen, — damit sie eine Sprache lernen, die kein Mensch auf
Gottes weiter Erde spricht. Der Zweck dieser Erziehung und das Resultat
dieser acht traurigen Arbeitsjahre ist, — daß man in einem Alter von zwanzig
Jahren eine geringere Geschicklichkeit in dieser Sprache besitzt, als ein jun¬
ger Römerknabe von sechs Jahren. Man hat es sonderbar gefunden, daß Cato
im vorgerückteren Lebensalter sich einfallen ließ. Griechisch zu lernen. — Ich
halte es für viel sonderbarer, daß man die arme Jugend zwingt, Lateinisch zu
lernen. — Cato lernte Griechisch, weil er Lust hatte, es zu kennen, — und
übrigens gab es damals noch Griechen. Die Erziehung beruht gänzlich in der
Sprache; — man wird den Knaben belohnen, der die Ausschweifung in einem
schönen Style schildern wird; derjenige dagegen, der in barbarischer Schreib¬
art die edelsten und reinsten Gesinnungen ausdrücken würde, erhielte sicherlich
eine Strafarbeit oder Arrest.


Man läßt die Jugend nichts als Schilderungen republikanischer Sitten und
Tugenden übersetzen; — man spricht ihnen acht Jahre lang nur von der Re¬
publik; man lehrt sie Brutus bewundern. Andrerseits — lehrt man sie nur
schöne Prosa und Verse schreiben- Nachher sterben die Dichter vor Hunger
in einer Dachkammer, und diejenigen, die allzurepublikanisch sind, sterben —
auf der Gasse, oder im Kerker. Daher besteht auch das ganze Wesen dieser
Knaben, wenn sie Männer geworden sind, nur in Worten.


[]

Reiche Thränen - Armes Volk.


Eine literarisch-sociale Epistel.



ist eine schöne Sache um die Empfindsamkeit. Nur ist
eS zu bedauern, daß man in dieser lieben Welt oft unnützerweise
einen sehr starken Verbrauch davon macht. Ich wünschte, diese plötz¬
lichen Rührungen, von denen wir bei jeder Gelegenheit ergriffen
werden, hätten einen Zweck, dann wäre nicht unser Heiz eben so rasch
trocken, als unsere Augen. Möchte man begreisen, daß die Thränen
das Samenkorn der biblischen Parabel sind, und daß es also unsin¬
nig ist, sie auf dürren Fels zu säen, wo sie keine Keime treiben können,
man würde sich alsdann mäßiger hierin bezeugen und unsere Theil¬
nahme an fremdem Unglück wäre dann nicht blos eine krankhafte
Schwäche unserer Thränendrüsen.


Ich weiß wahrhaftig nicht, warum man ein so heftiges Geschrei
über die Herzensdürre und den mitleidsloser Egoismus unserer Zeit
anstimme. Ich denke im Gegentheil, daß es ihr an Empfindsamkeit
durchaus nicht fehlt und fordere Jedermann heraus, mir in der
Geschichte einen Zeitraum aufzufinden, in dem mehr Thränen ver¬
gossen worden sind, als in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren.
In einer periodischen Schrift habe ich letzthin eine Berechnung ge¬
funden, welche den armen, von Herbst- und Frühlingsregen und
vom Winterschnee durchnäßten Fußgängern unwiderleglich bewies,


17
[]

daß sie im Laufe von sechs Herbst- und Wintermonaten doch nur
etwa zehn Zoll Wasser auf die Köpfe bekommen haben. Ich wünschte,
die Verfasser dieser Berechnung hätten sich in ihren Mußestunden
dem Studium der moralischen Feuchtigkeitsmessung ergeben: — wir
würden ihnen zu ihrer Genugthuung erlauben, hiefür eine neue
Wissenschaft, Laerymo-Hygro-metrie, zu erschaffen — und ich bin über¬
zeugt, das Resultat einer solchen Berechnung würde meine Behaup¬
tung nur allzusehr bestätigen.


Wollte ich hier alle jene Menschenklassen mustern, die cor-im
jo>nie> weinen und in einer zur Schau getragenen Empfindsamkeit
einen gewissen Ruhm suchen, so würde dieser Aussatz eine unabseh¬
bare Länge erhalten. Von dem tugendhaften Menschenfreunde an,
welcher wegen der unerschöpflichen Kraft seiner Thränendrüsen und
wegen des reichlichen Gebrauchs, den er bei feierlichen Gelegenheiten
davon zu machen weiß, das Glück hat, zum Vorstand aller sogenann¬
ten Wohlthätigkeitsgcsettschasten erwählt zu werden, bis zu dem be¬
scheidenen Verfasser rührender Kinderschriftcn, der zu Weihnachten
und Neujahr vor Glück stille Thränen vergießt in einer dunklen
Ecke des Ladens seines Verlegers, wo die Mütter und Erzieherinnen
zahlreich sich einfinden, um seine Bücher zu kaufen, — alle Weinen¬
den, die zwischen diesen beiden Polen liegen, aufzuzählen, wäre eine
Arbeit, bei der einer Herkuleöbrust der Athem ausginge. Und was
hätte ich nicht zu thun, wenn ich, um meinem Aufsatze ein wissenschaft¬
liches Ansehen zu geben und meine Eigenschaft als systematischer Deut¬
scher nicht zu verläugnen, die Thränen in Abtheilungen bringen
wollte?


Es giebt Leute, welche bei dem allergemeinsten Ereignisse ihres
hausbacken-prosaischen Lebens Thränenströme vergießen. Ich bin
überzeugt, daß Jedermann schon, nicht ein, sondern unzählige Male,
guten, dickbäuchigen Familienvätern begegnet ist, deren Wangen so
glatt sind, so von Gesundheit strotzen, so heiter erglänzen, daß man
darauf schwören möchte, sie seien nie von Thränen durchfurcht wor¬
den. Aber wie trügerisch ist dieser Schein! Man beobachte sie nur
und man wird sehen, wie schnell die Fluth, die von ihren Gefühlen
emporgetrieben wird, ihr Auge netzt. Sie verheirathen heute, nicht
ihre erste, nein, ihre fünfte Tochter — also weinen sie. — Ein klei¬
nes Geschäft zwingt sie, den Kirchthurm ihres Geburth- und Wohnorts


[]

auf einige Tage zu verlassen und kaum vermögen sie vor Schmerz
alls den Armen ihrer schluchzenden Familie sich zu reißen und ihr
Auge ist so thränenumdunkelt, daß sie beim Einsteigen iiz den Wa¬
gen dem Postknecht, der ihr Paquet Hieher gebracht, sein-Trinkgeld
zu geben vergessen. — . — . Die Empfindsamkeit ist zwar, wie
alles Uebrige, der Mode unterworfen; jedoch haben Romane und
Theaterstücke zu allen Zeiten das Vorrecht behauptet, reichliche Thrä¬
nen zu entlocken. ES gab eine Zeit, da in der deutschen Literatur ein
Streben herrschte, ungeschminktes Naturleben darzustellen; der Mensch
sollte wieder zu Wurzeln und klarem Wasser zurückkehren: damals
erweichte das Gemälde einer tugendhaften Familie, die sich den lei¬
der! etwas übelriechenden Beschäftigungen des Hühnerhofes ergab,
die stoische Seele des Philosophen; das Herz des Freundes der
Natur, der von seinem fünften Stockwerk herabgestiegen, um die
friedliche Stille des Landlebens zu beobachten, ward bei solchem
Schauspiel ganz unter Wasser gesetzt. Der Anblick eines schönen
Greises, mit weißem, bis zum Nabel herabwallenden Barte, ergriff
ihn tief: dickwangige Bübchen, mit butterglänzendem Munde, ver¬
setzten ihn in die süßeste Entzückung lind, ward die Gruppe durch ein
Paar Zwillinge am Busen ihrer Mutter vervollständigt, dann hatte
die durch dieses reizende Schauspiel hervorgebrachte Rührung eine
solche Höhe erreicht, daß er sich nicht mehr halten konnte, sondern
schluchzend und mit halb von Thränen erstickter Stimme ausrief:
„Kommt, laßt Euch an mein Herz drücken!" Und die ganze interes»
sante Familie, der Greis und die „rotznäsigen" Bübchen, die Mutter
und ihre Jünglinge zerschmolzen mit ihm zusammen in Thränen an
seiner bewegten Brust. Wer von unseren Lesern hat nicht Geßner's
Idyllen und die ersten Scenen in Göthe's Werther gelesen? Wer
kennt nicht aus den Erzählungen seiner Eltern oder aus der Litera-
turgeschichte, oder auch aus eigener Lectüre in unüberwachter Jugend¬
zeit, den thränenreichen Siegwart und den mildherzigen Lafontaine,
der nach drei Bänden Leiden, die einen Stein erweichen könnten,
von seiner eigenen Rührung und den Thränen seiner Frau bewegt, sich
gewöhnlich entschloß, seinen Romanen einen sogenannten glücklichen
Ausgang zu geben? Und die Theaterstücke jener Zeit hatten dieselbe
weinerliche Tendenz, in die ja zum Theil selbst Schiller's Ca bale
und Liebe verfiel. Wer erinnert sich nicht an Jffland's Hage-


!7-«-
[]

stolzen und andere Thränen — und Rührstücke desselben Verfas¬
sers? Und vor Allem das Großartigste dieser Gattung: Kotzebue's
„unsterbliches Meisterwerk" Menschenhaß und Reue, worin,
wie Börne irgendwo erzählt, sogar der große Künstler Talma mit
preußischem Grenadierzopfe den Meinau spielte und den Pariserin¬
nen unzählbare Thränen entlockte. Freilich diese letzteren weinen
jetzt, da die schauervolle Melodramenlitcratur in Frankreich ihren
Thron aufgeschlagen, nicht mehr um so Weniges, sondern erst, wenn
ein Dutzend Mord- und Schandthaten vorgefallen sind und sie einen
Bösewicht bis ins Bagno begleitet haben, bekommen sie bei dem
dreizehnten einen Nervenanfall und weinen vor krampfhaftem Ent¬
setzen. Aber wir Deutschen sind selbst jetzt noch, obgleich uns die
rauhe, drangvolle Wirklichkeit genug der bittern, thränenschwerem
Leiden gebracht, noch nicht wasserdichter geworden, sondern sind in
Literatur und Theater noch jeder Rührung zugänglich. Denn hatte
nicht die Restaurationsepoche ihre Houwald'schen und Müllner--
schen und Raupach'schen Rührstücke? Und Clauren, der mit verfüh¬
rerischer Sentimentalität eine wahrhaft sittengefährliche Tendenz
verband, ist er nicht in schön vergoldeten Taschenbüchern in die
Hände unserer Jungfrauen gekommen? Und Henriette Hänke und
Amalie Schoppe und Johanna Schoppcnhauer und wie das ganze
larmoyante Heer von deutschen Romanschriftstellerinnen aus den
zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts heißt, wie viel Thränen
haben schöne Mädchen- und Frauenaugen über diese Bücher ver¬
gossen ! Und ist es denn selbst in der neuesten Zeit besser ge¬
worden? Darf man an die zahllosen Thränen vergessen, die bei
Halm'S „Griseldis" oder bei den Stücken der Prinzessin von Sachsen
geflossen sind?


Wem von meinen jüngeren Lesern wird eS nicht schon so
gegangen sein, wie letzthin mir? Ich war fröhlich und scherzhaft
gestimmt, wie selten; tausend lustige Ideen galoppirten mir durch's
Gehirn, auf meinen Lippen und über meiner Seele schwebte ein
heiteres, freudiges Lächeln: meine Phantasie erging sich in nichts
als in lachenden Bildern. Gut, dachte ich, in dieser Festtagslaune
mußt Du Dich dem Damenkreise zeigen, der Dich gewöhnlich mürrisch
schilt, und so begab ich mich, indem mein Frohsinn durch die Hoff¬
nung auf die Eroberungen, die mir meine heutige Liebenswürdigkeit zu


[]

Wege bringen sollte, noch gesteigert wurde, in eine befreundete Fa¬
milie, wo eine Anzahl mir bekannter junger Damen fast täglich sich
zusammenfand. Man denke sich, wie mir zu Muthe ward, als ich
bei meinem Eintritt in'6 Gesellschaftszimmer die Augen aller Mit-
glieder des lieblichen Kreises thränenfeucht und alle Taschentücher
in Bewegung sah. Mein Gott! dachte ich und erschrack, was ist
denn hier vorgefallen? Der Hausherr ist doch nicht, seitdem ich ihn
vor einigen Stunden nach der Börse gehen sah, todtkrank gewor¬
den? Und von einem bedeutenden Bankerott in der Handelswelt,
der auch auf meinen Freund nachtheiligen Einfluß üben konnte,
habe ich doch auch nichts gehört? Kurz, ich war über den Schmerz,
der sich auf allen Gesichtern malte, ganz außer Fassung gerathen
und fing schon an, darüber nachzudenken, wie ich mich mit Ehren
zurückziehen konnte. Da fand ich in dem dritten Bandevon Godwie-
Castle, der auf einem Tischchen vor der Hausfrau aufgeschlagen lag,
die Lösung deS Räthsels ,- die Ursache des ganzen Jammers. Ich
fluchte in meiner Seele ganz entsetzlich über alle weinerlichen Romane
und noch mehr über die nervenschwachen Frauen, welche dergleichen
Sachen nicht lesen können, ohne Thränenstrvme zu vergießen. Den»
hätte ich ihnen gesagt, daß ich auf dem Wege zu ihnen vielleicht
mehr denn einen vor Hunger sterbenden Armen getroffen habe, es
würden viele schöne Worte über Armenhäuser, aber gewiß uicht eine
Thräne geflossen sein. Ja, es ist eine schöne Sache um die Em-
pfindsamkeit, besonders wenn sie nichts kostet und zu keiner Ausgabe
verpflichtet.


Es ist eine Schwäche der menschlichen Natur, daß sie an Thränen
ihr Wohlgefallen findet.


---- Die ewige


Beglaubigung der Menschheit sind ja Thränen.
Aber Leute von Geist verstehen die Kunst, ihre Empfindsamkeit
sowohl mit ihrer Gesundheit als vorzüglich mit ihrer Bequemlichkeit
in gutem Einverständniß zu halten. Sie haben gern alle Annehm¬
lichkeiten des Mitleids: die langweilige Seite desselben wissen si>'
sich fern zu halten. Daher hat die in allen Ländern sich gleich blei¬
bende vornehme Welt — und ich nehme die weibliche Hälfte dersel¬
ben gar nicht aus — stets bei Crin inalprozessen, wo sie öffentlich
sind, und bei Schaffoten sich Aufregungen gesucht. Es ist etwas so


[]

Bequemes, über ein unabänderliches Uebel in Rührung zu gerathen.
Je gehässiger der Verbrecher, desto größer das Vergnügen! Daher
giebt es z. B. in Frankreich gar manchen vornehmen Adeligen, wel¬
cher mit der Juliusrevolution und dem Sturz Karls X. sich wohl
aussöhnen würde, hätte nicht die Regierung, die aus dieser Revo¬
lution hervorgegangen, zwei tyrannische Akte sich zu Schulden kommen
lassen, welche alle Aussöhnung mit ihr unmöglich machen. Sie hat
den Auszug der Galeerensclaven-Ketre und die Hinrichtungen auf dem
Gröveplatz in Paris abgeschafft, zwei Schauspiele, die man gratis
hatte, von denen man mit zusammengeschnürten Herzen zurückkam
und bei denen man M einem Tage mehr Thränen vergoß, als zu
Haus in zehn Jahren. Wenn es schon ein Vergnügen ist, im Thea¬
ter zu weinen, über erdichtete Leiden, so stelle man sich erst die Wonne
vor, die man hier empfand, wo c>>i die Stelle der Dichtung blutige
oder schreckenvolle Wahrheit getreten, wo das Melodram von der
Bühne auf die offene Straße herabgestiegen war. Wenn man den
Zeitungsberichten trauen darf, so hatten sich, als der letzte Zug
Galeerensclaven nach Toulon abging, 3V,WV Zuschauer versammelt,
dreißigtausend Zuschauer, um zweihundert Elende zu sehen, die
an eine lange Eisenkette geschmiedet waren. Diese Dreißigtausend
fragen nun unwillig die französische Negierung:


— Wie? Das war unser moderner Circus, der uns an die
Spiele des alten Rom erinnerte, wo schöne, nackte Fechtersclaven
im Angehenden keuscher Vestalinnen einander erwürgten; daS waren
unsere Gladiatoren, welche, die gesetzliche Gesellschaft und deren Herr¬
schergewalt in uns erkennend, mit ihrem: ^.-of-u,'I um-ituri te sulu-
timt, uns begrüßten! Und das will man uns rauben? Wo sollen
wir denn Mit unserer Empfindsamkeit hinaus, wenn man all diese
blutigen Dramen, die in der Finsterniß begonnen, auch im Dunkeln
endet? Sollen wir Nichts mehr zu sehen bekommen? Soll Alles,
was unsere geglättete, nivellirte Gesellschaft an Unmoralischem, an
Ergreifendem, an Rührendem noch hat, verschleiert werden? Worüber
sollen wir denn nun weinen?—


Die französische Negierung, da sie nur ein moralisches Wesen
ist, hat diese Klagen nicht gehört, oder wenigstens unbeantwortet
gelassen und ist ihren Weg weiter geschritten. Ich aber antworte
den Fragenden:


[]

— Ihr sollt eben nicht weinen! Denn Eure Herzenshärte und
Eure Selbstsucht rühren gerade davon her, daß Ihr feiger, weibischer
Weise über Alles weint. Weinet nicht im Theater, weinet nicht
während der Criminalverhandlungen der Assisenhofe, benetzet nicht
mit Thränen die Romane, die der pathetische Schriftsteller vielleicht
lachend geschrieben! Diese unablässige Zersplitterung Eures Gefühls
stumpft es zuletzt ab und wenn dann ernsthafte Austritte kommen,
welche der Thränen Zoll von Euch zu heischen berechtigt sind, so
finden sie Euch kalt und theilnahmlos und Euer Auge bleibt trocken,
Und Ihr, die Ihr glücklich seid und nicht zu weinen Ursache habt,
bewahret Eure Thränenperlen in Eures Herzens Schrein. Fordert
nicht verwegen durch grundlose Thränen die Traurigkeit heraus,
und fürchtet Nemesis Adrastcia, die reisende Göttin, auf daß sie nicht
plötzlich eine jener grausamen Wunden Euch schlage, die nimmer
vernarben, auf daß nicht des Unglücks bitterer Kelch Euch unvermu-
thet gereicht werde und Ihr dann schamroth werdet, daß Ihr über
all das falsche Bücherelend, über jeden erdichteten Jammer alltägliche
Thränen vergossen habt. Dann werdet Ihr Euch einschließen, um
zu weinen. Ihr werdet dann keine Zuschauer suchen, die Eure
Rührung mit ansehen: und sollte mitten in Eure Einsamkeit ein
Unwillkommener sich eindrängen, so wird Euer Schmerz plötzlich
verstummen, Ihr werdet dem Fremdling ein ruhiges, ungetrübtes
Gesicht zeigen, das wie ein Jsisschleier über das Heiligthum Eure
Trauer gebreitet sein wird. Denn alsdann werdet Ihr fühlen, was
ich schon längst inne geworden, daß eS eine unerträgliche Beleidigung
ist, wenn der Salonpöbel Euch lobt und von Euch sagt: diese Per¬
son ist von einer überaus zarten Empfindlichkeit.


Ich meinerseits wünschte, es wüßte irgend ein Schriftsteller, der
das-Pathetische zu hehandelir versteht, einen Nutzen aus dieser mü¬
ßigen Empfindsamkeit zu ziehen; ich wünschte, daß diejenigen, die in
ihrer unmittelbaren Nähe und Umgebung keine Gelegenheit zu jenen
Schmerzen finden, nach denen sie so begierig sind, durch die Worte
einer beredten Feder zum Besten der großen Familie der Menschheit
gerührt und bewegt würden. Man erzählt eine Geschichte von
einem Prediger, der so salbungsrcich über Mitleid und Menschen¬
liebe predigte, daß in allen Städten, wo er für die Armen
seinen Eiser erglühen ließ, die Frauen ihren Schmuck, die Männer


[]

ihre kostbarsten Zierrathen zu Gunsten der Unglücklichen zu seinen
Füßen niederlegten, Diese Geschichte hat mich stets sonderbar er¬
griffen und ich wollte, eS fände sich ein Schriftsteller, der in unserer
Zeit, bei dem immer tiefer in die Gesellschaft sich einfressenden Krebs¬
schaden des Pauperismus, so auf die Herzen zu wirken verstände.
Er müßte, wenn er die Glücklichen dieser Welt sür das wahre Elend
interessiren wollte, einfach sein wie die Wahrheit und streng wie das
Unglück. Er dürfte kein Menschenfreund von Profession sein, denn
diese prunkvolle Tugend, womit die Eitelkeit sich brüstet, ist heutzu¬
tage, da Jedermann weiß, daß die Philanthropie zu Nichts ver¬
pflichtet, in Mißcredit gekommen. Eben so wenig dürste er, dagegen
sträubt sich der Geist unserer Zeit, sein Buch im Kanzelstyle und
Predigertone schreiben; denn gar viele sogenannte starke Geister
würden gegen ihre eigene Ueberzeugung seinem Buche kein Gehör
geben, blos weil sie aus anderweitigen Gründen ein System der
Feindseligkeit gegen alle religiösen Gefühle befolgen.


Aber ach! ich fürchte fast, mein Schriftsteller ist nicht aufzufin¬
den. Denn wo lebt in unsrer Zeit noch in stiller Verborgenheit ein
Mann, der Talent und Herz genug besäße, um weder in Styl- noch
in Gedanken-Ercesse zu verfallen, um seine Gefühle von aller Ueber¬
treibung fern zu halten, um weder aus Glaubens- noch aus Par¬
tei-Rücksichten seine Darstellung auf die Spitze zu treiben, der
unzugänglich wäre den Täuschungen der Eitelkeit, der auf die
kleinen Triumphe der Eigenliebe mit gerechter Verachtung hinab¬
schaute, und den die Liebe zum Guten allein zu solchem Werke be¬
geisterte? Wo, frag' ich, weilt ein solcher Schriftsteller? Und doch
müßte er all diese Eigenschaften besitzen, um das zu thun, was ich
verlange, nämlich die übertriebene Empfindsamkeit der Weltkinder
zum Besten des Volkes zu lenken.


Ich habe oftmals von einer traurigen, gar rührenden Geschichte
geträumt, die ohne alle hinterlistige Einleitungen, ohne rednerische
Kunstmittel, ohne all jene Sprachschlingen erzählt werden müßte,
in die man selbst die einfachsten Dinge verwickelt; kurz/ eine Ge¬
schichte, nackt wie das Unglück und bei deren Vortrag man sich
alles Effecthaschens enthielte; denn durch die Sucht, überall drama¬
tische Effecte hervorzubringen, werden zuweilen die besten Ideen und
besonders die nützlichsten verdorben. Die Trauerlieder, die man


[]

zuweilen auf große Verbrecher von Volköbänkelsängern Hort, haben
etwas von der Naivetät, die ich für meine Geschichte wünschte.
Leider aber mischt sich zu viel Groteskes darein, so daß sie bei dem
gebildeten Manne den Gedanken deS Mitleids ersticken, und ihm nur
noch die lächerliche Seite erscheint. Ich erinnere mich, aber nur
noch dunkel, einer römischen Grabschrift auf ein junges, zu sechzehn
Jahren gestorbenes Mädchen, die ein treffendes Beispiel jener Ein¬
fachheit abgäbe, die ich im Sinne habe. Meine Geschichte nun
müßte besonders so erzählt werden, daß sie nicht blos ein unfrucht¬
bares Mitleid, wie jene Sprache des Leichensteineö erzeugte, sondern
daß sie eine Rührung hervorbrächte, die zu einem guten Werke
triebe, daß sie ergreifende Betrachtungen weckte, denen ein thatkräfti¬
ges Streben zu Gunsten der Unglücklichen folgte Denn wahrlich
es ist Zeit, daß etwas Andres geschehe, als bisher geschehen ist.
Da das Christenthum noch reich war, vertheilte es an die Armen
Almosen, gab denen, die kein Obdach hatten, einen Zufluchtsort unter
seinem Dache, heilte die Kranken und betete für die Todten; seine
Barmherzigkett stiftete Orden von Hospitälern und von Mönchen
und Nonnen zum Dienste der Armen und Kranken. Aber dem
Christenthum, wenn es auch das jedesmalige Elend der gegen¬
wärtigen Zeiten zu lindern gesucht hat, fehlre es doch an Voraussicht
für die Zukunft: es gab immer nur Palliativmittel. Und das konnte
wohl nicht anders sein, da nach dem Dogma deö Christenthums
alles Glück in Seelenfrieden bestand, die Leiden des Fleisches aber
für Nichts erachtet wurden. Heute, da dem Christenthum durch
eigene Armuth die Hände gebunden sind, hat die Philanthropie
seine Stelle eingenommen; aber anstatt stille Almosen zu vertheilen,
hat sie die von ihr erwiesenen Wohlthaten auf allen Straßen aus-
geschrieen wissen wollen. Und da sie obendrein verteufelt ökonomisch
ist, so lag es selten in ihrer Absicht, daß sie die Armen auf Unkosten
ihres Ruhmes wirklich ernähren sollte; sie hat daher ihre Portionen
beschnitten, um die Zahl zu vermehren, damit die Summe der von
ihr vertheilten Suppen und Heizungskarten auch mit Anstand in
den Journalen figuriren könne.


Die Regierungen ihrerseits thun für die Armen, was sie eben
können, und das ist nicht sehr viel, weil die Politik ihnen nicht Zeit
läßt, an das Nützliche zu denken, und weil namentlich einem englischen,


[]

einem französischen Minister, nachdem er einen großen Theil des Ta¬
ges mit Kammerdiscussionen verbracht hat, kaum noch Zeit genug
übrig bleibt, um die nothwendigsten Arbeiten zu erpediren. Die
guten Regierungen sind auch meist von den Parteistreitigkeiten so
in Anspruch genommen, daß sie sehr froh sind, wenn sie mit Hülfe
ihrer Gendarmen, ihrer Gerichtshöfe und ihrer Gefängnisse zu ver¬
hindern im Stande sind, daß das verborgene Elend des Volkes nicht
allzuviel Hemmnisse dem Gange der Staatsmaschine bereite, deren
Leitung ohnedies so schwer ist. Man betrachte nur England einen
Augenblick, man erinnere sich der niederschlagenden, entmuthigenden
Reden des Ministers im Unterhause und der Königin in ihrer
Vertagungs-Rede und man wird mir gewiß gern eingestehen, daß nicht
von den Regierungen die Heilung des jammervollen Uebels zu
erwarten steht und daß es, soll dem Volke wirklich geholfen werden,
jedenfalls eines Besseren und Mehreren bedarf, als diese thun
können.


Aber nun frage ich: würden denn diejenigen, welche Muße
haben; diejenigen, welche von den Interessen des Augenblicks inso¬
weit abgelöst sind, daß sie sagen können: wir gehören keiner Farbe
an; diejenigen, welche Nichts weiter zu thun haben, als ihren Ge¬
danken vollkommen freien Lauf zu lassen, — würden, frage ich, alle
diese, wenn ein Schriftsteller von einem starken, kräftigen Charakter,
wie ich ihn oben zu schildern versucht, ihnen die Mittel zeigte, um
das Elend aus den Orten aufzuscheuchen, wo es seinen Wohnsitz
aufgeschlagen, um das Uebel mit der Wurzel zu vernichten, —
würden sie nicht nach einer solchen Erzählung erst weinen, aber
dann auch daran denken, zu handeln und sich endlich mit ganzem
Herzen an's Werk begeben? Ach! wenn doch das Volk seine Lite¬
ratur hätte, es schriebe wahrlich keine Romane, sondern eS würde
ganz schlicht und ungekünstelt seine Geschichte erzählen, und Ihr
würdet alsdann manche bittre Thräne vergießen, Ihr, die Ihr so
gern weint. Darum sage ich Euch noch einmal, sparet Eure Em¬
pfindsamkeit auf für die wahren Schmerzen, Ihr, die Ihr Euch in
Thränen so sehr gefaltet, sparet sie auf für Euch selbst, wenn das
Unglück Euch erreicht, oder für das Elend des Volkes, das gar
groß und herzbrechend ist.


Doch hier muß ich einen Augenblick inne halten j denn ich sehe


[]

eben, daß ich schon seit längerer Zeit mich eines Wortes bediene,
dessen eigentliche Bedeutung unenträthselt, geheimnißumschleiert ist,
eines Wortes, das ein Schiboleth geworden ist für alle Parteien,
deren jede es nach Belieben anders ausspricht und anders versteht;
eines Wortes, um dessenwillen ganze Ströme von Blut geflossen und
das einer ganzen Menge von Systembauern zum schönen Vorwand
gedient hat, um ihre Ideen und ihre eigenen Personen der Welt
annehmbar zu machen, eines Wortes endlich, das man nur noch
scheu und ängstlich ausspricht, so sehr ist es mißbraucht worden, des
Wortes Volk. Denn wahrlich, wenn man nur einigermaßen den
Gang der Dinge in unserer Zeit kennt und über die ersten Täusch¬
ungen hinaus ist, muß man dann nicht jedesmal, so oft man aus
dem Munde eines unsrer vielen glänzenden Redner mit Begeisterung
das heilige Wort Volk kommen Hort, die Frage sich stellen: —
Was will der gute Mann eigentlich? Wo will er hinaus?


Denn bisher sind fast alle Systemfabrikanten, alle jene vorgeb-
lichen großen Wohlthäter des Volkes mehr oder minder dem Moliiue-
schen Don Juan ähnlich gewesen, der einem Armen, den er im Walde
antrifft, ein Goldstück als Almosen giebt, blos damit er dafür einen
Fluch ausspreche. So war auch hinter all den socialen Verbesser¬
ungen, hinter all den goldnen Bergen, welche jene Herren uns ver¬
sprochen haben, immer noch der Hinterhalt eines Wenn oder Aber
verborgen. Man mußte stets ihr ganzes Programm unterzeichnen,
gewissermaßen die von ihnen beliebte Konstitution beschwören, ehe
man in ihr Eldorado eingelassen wurde. Daher hat denn auch
das Volk meistentheils nicht einmal gewußt, daß diese Leute eristir-
ten und sich in ihrer Gnade rin ihm zu beschäftigen geruhten. Und
man thut daher auch, nach meiner Ansicht, Unrecht, sich mit diesen
Leuten in eine ernsthafte Discusston einzulassen: man brauchte für
sie nur ein Feenmährchen zu erfinden, das in Tausend und Einer
Nacht noch fehlt, und das folgendermaßen anfangen müßte: „Es
gab einmal ein Volk, wo Jedermann wenigstens 20,000 Thaler
besaß und wo selbst die am wenigsten vom Schicksal Begünstigten
Grafen oder Freiherrn waren. Dieses Volk nun war sehr un¬
glücklich....."


Wenn ich also den Wunsch ausspreche, es möge ein Mann
von eben so viel Herz als Talent es unternehmen, dem Strome jener


[]

weichlichen, kraftlosen Empfindsamkeit, der auis Mangel an ver¬
nünftiger Leitung sich in den erbärmlichsten Rührstücken im Theater
und in den flachsten, fadesten Romanen Auswege sucht, zum Besten
der Leidenden in der großen Menge ein neues, befruchtendes Bette
zu graben, so will ich hiedurch — und dagegen verwahre ich mich hier¬
mit feierlich — durchaus nicht etwa einem neuen tausend und ersten
System über das Volk Thür und Thor geöffnet haben. Denn
ich gehöre keinesweges zu denen, welche der Meinung sind, daß
alles Elend unter den Menschen sofort aufhören wird, sobald der
Lumpensammler und der Packenträgcr et twe Avmis omne werden
lesen und schreiben können gleich den Millionären, die nichts weiter
verstehen. Eben so wenig glaube ich, daß die untern Klassen der
Gesellschaft viel an Wohlleben werden gewonnen haben, wenn
man sie fortwährend mit Kartoffeln und Kohl und Rumford'schen
Suppen, aus Knochen, die man dem Schinder abkauft, füttern wird.
Wahrlich, es sind übergenug solcher Suppen vertheilt worden. Und
der schwäbische Pferdeflcischverein wird auch kein Messias der leiden¬
den Armen sein. Füttert Eure Hunve mit diesem Fleisch, das eigent¬
lich dem Abdecker gestohlen ist; aber, ich bitte Euch, erniedrigt arme
Geschöpfe mit Menschengesichtern und in veren Brust ein Menschen-
Herz pocht, nicht dadurch, daß Ihr ihnen diesen unverdaulichen Fraß
mit so viel prunkenden Worten als Wohlthat zuwerfe. Ich habe es
Euch schon gesagt, das Christenthum hat schon lange früher und
weit mehr, als Ihr, das Volk nicht Hungers sterben lassen; aber
es hat nicht in alleil Journalen ausgeschrieen: „Kommt zu uns, Ihr
Hungertgen, Ihr sollt gesättigt werden; kommt zu uns, Ihr Dursti¬
gen, Ihr sollt getränkt werden; kommt zu uns, Ihr alle, die Ihr
leidet am Körper und am Geist, Ihr sollt geheilt werden an Fleisch,
Leib und Seele!" Ihr thut freilich damit nichts Böses, aber Ihr
thut nur wenig Gutes und bei Weitem nicht so viel,^ als Noth thut.


Wenn dieser Frage Behandlung in meinem Bereiche läge, so
wollte ich sagen, was dem Volke Noth thut, und das ist nicht
jene armselige Nahrung, mit der man die erbärmlichen Wohnorte
des Volkes anfüllt. Das ist auch nicht jene hohle, marklose geistige
Nahrung, die man ihm angedeihen läßt und die nur dazu dient,
ihm das Bewußtsein seiner Erniedrigung zu verschaffen und ihm
sei» Elend unerträglicher zu machen. Wißt Ihr, was das Volk


[]

bedarf? Eine Art-moralischer Wiederherstellung, die es in seinem
eigenen Geiste erhöht, wodurch ihm ein tiefer Abscheu gegen die
Liverei des Elends eingeflößt wird, die es jetzt in abgestumpften
Gefühle gleichgültig an allen Orten mit sich herumschleppt, wodurch
ihm eine heilsame Energie eingeflößt wird, daß es nicht an sich selbst
verzweifle, nicht den Muth, aufwärts zu streben, verliere. Es ist
Platz für Alle unter der Sonne. Aber wie viele werfen sich Abends
verzweiflungsvoll auf ihr elendes Strohlager, die den Tod als eine
Wohlthat erflehen und, weil er nicht kommen will, ihr Leben in
herabwürdigender Trunkenheit zu vergessen, ihre Leiden dadurch zu
übertäuben suchen. Will man dem Volke wahrhaft wohlthun, so
versuche man es unter dem niederbeugenden Joche seines erblichen
Elends wieder aufzurichten und den Einzelnen das Bewußtsein ihrer
Würde, als Menschen, als Bürger wiederzugeben: und dazu bedarf
man weder langer theoretischer Auseinandersetzungen der Menschen,
rechte, noch weitschweifiger Constitutionen. Wahrlich, man muß es
wohl eingestehen, wir behandeln fast alle gemeinhin das Volk ent¬
weder mit beleidigenden Mitleid oder wir erdrücken es, indem wir
ihm unsre Überlegenheit in geistiger und andrer Beziehung allzu
fühlbar machen. Nun ja, das Volk ist unter einer gewissen Vor¬
mundschaft; aber soll es ewig geistesschwach, soll es ewig bevor¬
mundet bleiben? Und um es aus diesem Zustande zu bringen,
bedarf es der Thaten: Worte reichen nicht hin. Ausgehen aber
müßte diese Veränderung von den Gesetzen: sie müßten den ersten
Schritt vorwärts in diesem Sinne thun. Denn bei dem besten
Willen muß man doch gestehen, es herrscht in ihnen, weil sie meist
von den Reichen und „Glückverhärteten" gemacht sind, fast stets ein
unbegreifliches Gefühl der Feindseligkeit gegen den Armen und Be¬
dürftigen, gleich als wäre er der gemeinsame Feind der Gesellschaft.


Im Mittelalter gab es ewig wandernde Banden von Zigeunern,
von Bettlern, von Gauklern, die weder Dach noch Fach, weder Hütte
noch Herd hatten: aber in den großen Städten fanden sie auf
Kirchhöfen und andern Orten Zufluchtsstätten, wohin des Königs
Gerichtsbarkeit nicht drang. Das ist nun in unsern Zeiten, wo die Frei¬
heit herrscht, anders geworden. Man hat das Vagabundenleben für
ein Vergehen gegen die Gesellschaft erklärt und Jedermann ist ver¬
pflichtet, vor dem ersten, besten Gendarmen, der Lust hat, die Ange-


[]

legenheiten eines Fremden kennen zu lernen, den Nachweis zu fuhren,
daß er einen festen Wohnsitz und hinreichende Eristenzmittel habe.
DaS ist an und für sich ganz gut und die höheren und mittleren
Klassen sehen hierin gar keine strenge Maßregel. Betrachtet nun
aber ihre Wirksamkeit auf das Volk, und Ihr werdet sehen, wie
schwer sie auf ihm lastet. Ein armer Familienvater, dessen müh¬
sames Gewerbe plötzlich durch eine herrliche, neuerfundene Maschine
getödtet worden ist, hat keine Mittel' mehr, seine Miethe zu bezahlen,
und wird vom Hauseigenthümer nebst Weib und Kind auf die Straße
geworfen: er wird in den Augen des Gesetzes ein Vagabunde! Ein
armer Landmann, den ein Blitzstrahl, ein Mißwachs, ein Hagel¬
wetter ruinirt hat und dem es für den Augenblick an Arbeit fehlt,
was ist er? Ein Vagabunde! Als solchen schleppt man ihn vor das
Polizeigericht und verurtheilt ihn: was geschieht damit? Er wird,
unverschuldeten Unglücks halber zum Verbrecher gestempelt und mit
unauslöschlichem Mal gebrandmarkt sür sein ganzes Leben. Man
kann natürlich die Unterdrückung des herumstreichenden Lebens nicht
tadeln wollen, weil dessen Billigung der Gesellschaft nachtheilig
sein würde. Aber das kann man tadeln, daß die Gesetze ein
Vergehen daraus gemacht haben. Warum soll der Unglück¬
liche, der aus Armuth, aus Mangel an Erwerbsmitteln keinen
bleibenden Aufenthalt hat, > der strafenden Gerechtigkeit verfallen
sein und mit Spitzbuben und nächtlichen Ruhestörern in eine
Kategorie gestellt werden? Hier haben nach meiner Ansicht die
Gesetzgeber selbst ein Vergehen gegen die Menschenwürde der
niedrigen Volksklassen begangen. Warum soll der als Schuldi¬
ger erscheinen, dessen Unglück darin besteht, daß er arm ist
und keine Stätte hat, da er sein Haupt hinlegen soll? Weil er
nichts hat, so setzt Ihr voraus, daß er stehlen will? Nun zugegeben,
die Vermuthung ist wenigstens nach der Logik der Reichen nicht
unwahrscheinlich. Aber begeht Ihr nicht einen doppelten Fehler,
indem ihr den Armen, dem dieser verbrecherische Gedanke vielleicht
ganz fern lag, dadurch, daß Ihr so unverhohlen diesen Verdacht kund
' gebt, unverdient in seiner eigenen Achtung herabsetzt und so viel¬
leicht selbst erst den Keim des Verbrechens in seine Seele streut?
Ach! wenn Ihr nur hören und beachten wolltet, wie ver¬
nünftige und gar traurige Dinge sie zuweilen vor den Tribunalen


[]

sagen: wahrlich, die Entscheidung würde Euch schwer fallen und Ihr
würdet hinfort anders handeln.


— Warum hat man Euch auf den Straßen herumstreifend
angetroffen?^


— Weil ich keine Wohnung habe.


— Warum habt Ihr keine?


- Weil ich Miethe bezahlen muß und Nichts verdienen kann.


— Warum sucht Ihr nicht Arbeit?


— Ich suche sie wohl; aber Niemand will mir Arbeit anver¬
trauen, eben weil ich keine Wohnung habe.


Was thut nun der Richter, der mit der Vollziehung des Ge¬
setzes beauftragt ist, in solchem Falle? Er findet, um aus diesem
schlangenartig sich um ihn und den Armen windenden Kreise des
Elends herauszukommen, kein andres Mittel, als daß er den Unglück¬
lichen in ein Arbeitshaus schickt, wo man ihm für seine Arbeit
sparsam Brod giebt, aber auf Unkosten seiner Freiheit. Und doch,
ich frage nochmals, was hat er für ein Verbrechen begangen, daß
man ihn seines kostbarsten Gutes beraubt? Sollte man denn gar
kein andres Heilmittel finden können? Man suche nur ehrlich und
eifrig. Müssen denn die Vagabunden vom Zuchtpolizeigericht deur.
theilt werden? Schickt sie mir doch vor ein Geschwornengericht von
Reichen und laßt sie von diesen dazu verurtheilen, frei und von ihrer
Familie umgeben zu arbeiten und laßt den Richter selbst ihnen Arbeit
schaffen. Es fehlt wahrlich nicht daran und sollte es keine geben, so
müßte man sie erfinden: das ist heilige, unabweisbare Pflicht der Gesell¬
schaft. Aber kerkert sie nicht ein^ sperrt sie nicht von der Welt und ihrer
Familie ab; bekleidet sie nicht mit der entehrenden grau und weißen Jacke
des Zuchthanssträflings. Der Vagabund hat das nicht verschuldet:
richtet ihn auf, erhebt ihn in seiner eigenen Achtung, sage ich Euch,
und wenn er sehen wird, daß Ihr ihn aufrichtig ohne hochmüthiges
Achselzucken bedauert, daß Ihr den Menschen noch in ihm achtet,
dann wird er frischen Muth fassen und wird sich aus allen Kräften,
— und die Armen haben so viel Kraft zu leiden, — gegen das
Elend steifen. Aber so Ihr ihn als Schuldigen behandelt, so Ihr
ihn in's Zuchthaus zu Dieben und andern Verbrechern steckt, so wird
auch in ihm des Verbrechens Gedanke keimen und Euer ist die Ver-


[]

antwortlichkeit für die Seele, die verloren geht. Wahrlich, wahrlich,
ich sage Euch, Ihr Gesetzgeber und Richter, Ihr tragt Seelenlast.


Ich will zum Schlüsse dieses Aufsatzes nur noch den gefühl¬
vollen Seelen ein kleines Ereigniß ans dem Leben erzählen, dessen
Zeuge ich letzthin war und das vielleicht, mir selbst unbewußt, die
Ursache zu diesen Zeilen geworden ist.


Ein Knabe von zehn bis zwölf Jahren erschien in einer deut¬
schen Rheinstadt vor dem Zuchtpolizeigericht unter der Anklage eines
aufenthaltslosen Herumstreifens. Der Richter frug ihn: Fodern
Dich denn Deine Eltern nicht zurück?


Sie sind, entgegnete das Kind, weil sie keine Wohnung hatten,
eingesperrt worden; der Vater in U. . . im Arbeitshause und die
Mutter in ?. . . .


Der Richter, nachdem er sich durch amtlichen Nachweis über¬
zeugt, daß dem wirklich so sei, entschied über das Schicksal des Kin-
des, indem er es in eine dritte VerbesserungSanstalt schickte. Da
waren nun Vater, Mutter und Sohn vielleicht für ihr ganzes Le¬
ben von einander gerissen!


Sagt mir nun, Ihr gefühlvollen Seelen, die Ihr den fünften
Act aller Iffland'schen und Houwald'schen Stücke vor Eurem eigenen
Weinen und Schluchzen kaum sehen und hören könnt, ist diese ein¬
fache Thatsache nicht rührender, ergreifender und fruchtbarer an trau¬
rigen und ernsten Betrachtungen, als alle jene faden Dichtungen,
die Euch so bittersüße Thränen entlocken? Habt Ihr nicht da den
besten Grund zum Weinen?. Aber nein! Das ist zu einfach, zu
wirklich, zu gemein, als daß es Eure Herzen rühren könnte, welche
durch die Verfeinerungen Eurer Sinnlichkeit und übertriebenen Em¬
pfindsamkeit verdorben sind und Euren Mägen gleichen, die Ihr durch
Leckereien verschlemmt habt, daß nur die stärksten Gewürze noch einen
Eindruck auf Euch machen.


Ihr aber, Ihr Gesetzgeber, Euch frage ich, wäre es denn nicht
möglich gewesen, mir Vater, Mutter und Kind wenigstens in
eine Besserungsanstalt zusammenzugeben? Und wäre es von Euch,
den Wächtern der Gesellschaft, zu viel gefodert, und würde es Euch
zu viel gekostet haben, wenn Ihr diese arme Familie in einer freien
Wohnung vereinigt und ihr Arbeit und Freiheit zugleich gegeben
hättet? O, ich bitte Euch, die Ihr die Leitung der Gesellschaft


[]

in Händen habt, höret auf die Stimmen des Volkes, die um Hülfe
schreien. Bedenkt, daß es Menschen, Brüder sind und wartet nicht,
bis das Volk müde wird, zu tragen und zu dulden. Die Berank
wortlichkeit des Unheils, das dann entsteht, ruht auf Euch. Lernet
Geschichte.


viscite Mstitiam mmiiti et von tomuvre tllvos.


Note: L. H. Geldt.er.

Soldatenbilder aus Oesterreich.



Der Reiter und sein Roß.
(Bon
einem ehemaligen Cavalerie-Offizier.)



Die österreichische Cavalerie, gewiß eine der besten in Europa,
zerfällt gleich der aller übrigen Nationen in schwere und leichte
Cavalerie. Erstere besteht aus acht Cuirassier- und sechs Dragoner-
Regimentern, die sich fast gänzlich in Böhmen, Ober- und Nieder¬
österreich, Mähren und Stevermark recrutiren.


Die Recrutirung begreift aber nicht allein die Menschen, sondern
auch die Pferde in sich. In diesen Provinzen, gleich wie in allen
übrigen österreichischen Besitzungen giebt es Neuville-Depüts, in
denen man die von den Ortschaften selbst erzeugten Pferde ankauft,
um sie sodann, je nach Maßstab ihres Wuchses und ihrer Stärke,
unter die verschiedenen Regimenter der Armee zu vertheilen. Unter
den Pferden, zu denen man auf diese Art gelangt, sind die böhmi¬
schen vielleicht die besten und schönsten. Die Bewohner dieses Lan¬
des verstehen sich in der That besser auf die Pferdezucht, als die andrer
Provinzen und die Pferderace selbst ist hier von vorzüglicherer Qualität.


18
[]

Im Vorbeigehen wollen wir hier eines Gebrauches Erwäh¬
nung thun, dessen Anwendung die böhmischen Bauern die Feinheit
der Füße ihrer Pferde zuschreiben. Im Augenblick nämlich, da das
Füllen aus dem Leib der Stute kommt, sind seine Veine weich und
haben nicht mehr Widerstandsfähigkeit, als ein Stück Wachs. Nach
einigen Stunden aber, innerhalb deren sie dem Einfluß der atmos¬
phärischen Luft ausgesetzt bleiben, erlangen die Füße Festigkeit genug,
um die Last des Körpers zu tragen, ohne daß ihre Formen an
Zartheit verlieren. Die böhmischen Bauern aber, um jedem Zufall
zuvorzukommen, binden dem Füllen unmittelbar, nachdem es gewor¬
fen worden, die Beine zusammen und zwingen eS, achtzehn bis zwanzig
Stunden in liegendem Zustande zu bleiben, bis seine Nerven die
gehörige Stärke gewonnen haben. Wir wollen die Verantwort¬
lichkeit dieses Verfahrens nicht über uns nehmen; aber das ist that¬
sächlich erwiesen, daß die böhmische Pferderaee sich in Bezug auf
Güte und Feinheit der Füße ganz besonders auszeichnet.


Von der oben erwähnten Regel, sich durch Remontepferde, die
im Lande selbst erzeugt werden, zu recrutiren, machen drei Regimenter
schwerer Cavalerie eine Ausnahme.


Der commandirende Oberst oder Eigenthümer des siebenten Cm-
rassier-Regiments ist nämlich der General Inspector und Director der
Cavalerie-Remonten. In Folge dieses Umstandes nun genießt dieses
Regiment die ganz besondere Gunst, daß eS seine Pferde aus den
kaiserlichen Stutereien von Mezohegyes, Babolna, Lippik u. f. w.
bezieht. Das Regiment ist eins der prächtigsten und hat vielleicht
in allen Europäischen Armeen wenige seines Gleichen, wie dieses
selbst von englischen Cavalerie-Offizieren anerkannt worden ist, die
sonst über fremde Reiterei gewöhnlich sehr geringschätzig urtheilen
und, wie Verfasser dieser Zeilen es z. B. in Kalisch und Heilbronn
bei den großen ManomvreS häufig von anwesenden englischen
Militairs zu hören Gelegenheit hatte, stets folgende Phrase im Munde
führen: „Glauben Sie, daß diese armen Teufel mich nur einen
Angriff unsrer Garde-Cavalerie aushalte» würden?"


Das fünfte Dragoner-Regiment macht sich seit einigen Jahren
in Siebenbürgen beritten- es liegt dieß an zufälligen Ursachen, deren
Besprechung uns hier zu weit seitab führen würde. Ueber die


[]

Pferdegattung dieser Provinz gedenken wir im Laufe dieses Artikels
ausführlicher zu sprechen.


Das erste Dragoner-Regiment endlich reitet meistentheils pol»
mische Pferde. Auch von diesen werden wir noch zu sprechen Ge¬
legenheit haben.


Der durchschnittliche Preis eines vierjährigen Pferdes ist für
Cuirassiere IM Gulden und für Dragoner 12V Gulden: zu
diesen Preisen bekommt man sie leicht. Jedoch dürfen wir die Be¬
merkung nicht vergessen, daß alle schweren Cavalerie - Regimenter
aus den kaiserlichen Stutereien eine Anzahl Pferde von besserer
Qualität bekommen, welche für die Offiziere und Unteroffiziere be¬
stimmt sind.


Jeder Cavalerie- Offizier vom Capitain zweiter Klasse an hat
ein Pferd auf Kosten des Staates, das nach achtjährigen Dienste
sein Privateigenthum wird. Die armen Offiziere haben daS Vor¬
recht, daß ihnen, auf Empfehlung des Regiments, dem sie angehö¬
ren, von der Negierung zum möglichst billigen Preise ein Pferd
verkauft wird, das sie nur in monatsweise»! Abzügen von ihrem
Solde zu bezahlen brauchen.


Kraft einer andern gesetzlichen Bestimmung, deren Zweck man
leicht begreift, erhält der gemeine Soldat, so wie der Unteroffizier,
der zehn Jahre lang dasselbe Pferd behält, nach Ablauf des zehnten
Jahres drei Ducaten und für jedes fernere Jahr einen Ducaten.


- Ein jedes Dragoner- und Cuirassier - Regiment besteht aus
sechs Schwadronen, deren Stärke folgende ist:


  • Gemeine Soldaten . . 13V.
  • Nicht berittne Soldaten . . 4.
  • Offizier-Bediente») ... 5.
  • Unteroffiziere.....12.
  • Wachtmeister ..... 2.
  • SecondelieutenantS ... 2.
  • Premier-Lieutenants ... 2.
  • Rittmeister .....1.
  • Rittmeister und Escadronchef 1.
  • Summa ISA


18»
[]

Hiezu muß man in Friedenszeiten noch einen Sattler und einen
Kurschmied rechnen, die zwar Uniform tragen, aber nicht beritten
sind und nie in Reihe und Glied eintreten.


In Kriegszeiten zählt die Schwadron zehn Reiter mehr; die
vier nicht berittnen Soldaten werden alsdann in eine Reserve-Schwa¬
dron versetzt, welche anstatt eines Depüt sich bei jedem Regiment befindet.


Die leichte Cavalerie besteht aus sieben Dragoner-Regimentern
(Chevaulegers), zwölf Husaren-Regimentern und vier Regimentern
Uhlanen oder Lanciers. Jedes von ihnen hat acht Schwadronen,
welche vier Abtheilungen bilden. Eine Schwadron besteht aus
15,0 berittnen Soldaten und vier nicht berittnen: im Uebrigen ist
Alles fast eben so, wie bei der schweren Cavalerie, mit Ausnahme
deö Sattlers. Da nämlich die leichte Cavalerie mit ungarischen
Sätteln versehen ist, welche bekanntlich aus Holz gemacht sind,
so bedarf sie keines Sattlers. Was die Ausbesserung und Instand¬
haltung des Lcderzmgs und Geschirres anbetrifft, so finden sich ge¬
wöhnlich in jeder Schwadron zwei oder mehrere Soldaten, die
sich darauf verstehen. Wie in der schweren Cavalerie, zählt die
Schwadron auf Kriegsfuß zehn berittne Mann mehr.


Die sieben Dragoner-Regimenter werden auf dieselbe Weise recru-
tirt, wie die der schweren Cavalerie; jedoch beziehen sie ihre Pferde
nicht aus Deutschland und Böhmen, sondern sie machen sich mit
wilden Pferden beritten. Welches Verfahren man beim Fangen und
Abrichten dieser Pferde anwendet, werden wir weiterhin erzählen.


Die zwölf Husaren-Regimenter bilden die leichte ungrische Na-
tional-Reiterei. Der ursprüngliche Grund ihrer Organisation fällt
in die Zeiten der Türkenkriege. Der Name Husar ist aus den
ungarischen Worten iius-i, das zwanzig bedeutet und ar, dessen Be¬
deutung eine Verpflegung, eine Steuer ist, zusammengesetzt.
Die Husaren waren nämlich in der That die Abgabe Ungarns an
die Krone, und jeder von ihnen repräsentirte den Betrag der Steuer,
die auf zwanzig Häusern lastete. Heutzutage bestehen diese Regi¬
menter ausschließlich aus Bauern, die man in Ungarn, im Banat
und in Siebenbürgen aushebt. ES sind daher diese Regimenter ein
Gemisch von Menschen aus den verschiedensten Nationen, mit den
verschiedensten Sprachen und Glaubensbekenntnissen: Ungarn, katho¬
lische und evangelische, griechisch-katholische Illyrier und Wallachen


[]

desselben Bekenntnisses, Deutsche, die sich in Ungarn niedergelassen
haben,, und endlich Abkömmlinge der alten Sachsen, die nach Sieben¬
bürgen ausgewandert sind. Aber trotz dieser Verschiedenheit der
Abstammung besitzen sie doch Alle sast in gleich hohem Grade jene
Eigenschaften, wodurch sie gerade zum leichten Cavaleriedienst so
sehr geeignet sind. Es liegen jedoch diese Eigenschaften in volkstüm¬
lichen Sitten und Gewohnheiten, nicht wie man im Auslande lange
fälschlich geglaubt hat, in der äußeren Ausstattung der Husaren.
Denn so wenig, nach einem alten Sprichwort, die Kutte den Mönch
macht, eben so wenig machen Pelz, Dolman und Czako den Husaren.
Diese Tracht, die, wenn ein Ungar sie trägt, sich so zierlich ausnimmt,
ist nur eine Art lächerlichen Maskenanzugcs, wenn ein Franzose,
Engländer oder Spanier sich damit herauöstaffirt.


Der Landbewohner Ungarns ist im Allgemeinen mehr Hirt,
als Ackerbauer. Die Dörfer sind sehr dünn gesäet im Lande und
liegen meist sehr beträchtliche Strecken von einander entfernt. Ueberall
im Lande dehnen sich unermeßliche Ebenen hin, die hie und da mit
dichten Wäldern bedeckt sind, an deren jungfräulichen Bäumen noch
keine Art ihr mörderisches Eisen geübt hat. Durch diese Ebenen
nun irren die Lämmer, Ochsen, Schweine und Kühe eines jeden
Dorfes, die in Heerden vereinigt und der Obhut von Wächtern an¬
vertraut sind, welche von Jugend auf zu diesem Gewerbe abgerichtet
worden sind und kein anderes kennen. Zur Abwehr räuberischer
Anfälle von Dieben und Wölfen sind diese Hirten gewöhnlich mit
Waffen und einem Pferde versehen. Die Mundvorräthe, die sie bei
sich führen, bestehen in rohem Schinken, Pfeffer, Salz, Knoblauch,
etwas Brod und zuweilen etwas Branntwein: so bleiben sie oft
ganze Wochen ohne irgend eine frische Speise an Fleisch oder Ge¬
müse. Man sieht sie immer in aufrechter Stellung, ihre Heerden
aufmerksam überwachend. In der Hand führen sie eine lange Hacke,
die sie so geschickt, wie ein Indianer seinen Tomahawk zu schleudern
verstehen.


Die Weiden, auf denen die halb wilden Pferde herumirren,
bieten nebst den Hirten derselben, die man Check«s nennt, einen
sehr interessanten Anblick. Es sind meist Ebenen, die sanft hügel-
aufwärts steigen: im Hintergrunde schimmert der Glockenthmm der
nächsten Dorfkirche, das einzige Anzeichen der Nah« menschlicher


[]

Cultur und Wohnung: von allen andern Seiten schließen großartige
Wälder voll riesenhafter Buchen und Eichen den Gesichtskreis ab:
hin und wieder, besonders nach der Seite des Dorfes zu, bieten
Korn- und Maisfelder einen bunteren Anblick. Auf dem höchsten
Punkte der kleinen, wellenförmig sich erhebenden Hügel, von denen
die Ebene durchfurcht ist, bemerkt man aufrecht und unbeweglich eine
menschliche Gestalt, deren beide Hände und Kinn sich auf einen
langen, starken Stock stützen, an dessen äußerstem Ende man das
scharfe Eisen eines Beiles, Csakany genannt, blinken sieht. Diese
Menschengestalt nun, von etwas unter mittlerem Wuchse, ist mehr
schmächtigen als kräftigen Baues. Die Füße, von bemerkenswerther
Kleinheit, werden durch Sandalen beschützt. Um das Bein ist vom
Knöchel bis zum Knie ein breiter Tuchstreifen gewunden: eine weite,
kurze Hose von grober Leinwand ist vermittelst eines Strickes, der
als Gurt um die Lenden sich dreht, festgehalten. Zwischen diesem
Kleidungsstück und dem Hemd, das nicht ganz bis zu ihm herab¬
reicht, ist etwa eine Handbreit der Körper gänzlich unbedeckt, und
diese Stelle ist von Luft und Sonne gegerbt und gebräunt worden.
Sein Hemd schmiert der ungrische Hirt tüchtig mit Schweinefett
ein; denn da er wochenlang nicht in's Dorf kommen kann, so würde
er ohne diese Maßregel zu viel vom Ungeziefer leiden. Eine Weste
ohne Aermel, nach ungarischer Mode geflochten, bedeckt seine Brust.
Um den Hals hat er ein schwarzes Tuch gewunden, weil es, wie
er sagt, am längsten weiß bleibt; über die Schultern wirft er den
Keppenyek, einen Mantel von weißem Tuche, dessen kurze Aermel,
da sie an den unteren Enden zugenäht sind, ihm zuweilen als Vor¬
rathskammer für Kleinigkeiten dienen. Außerdem trägt er an einem
Bande quer über den Oberkörper eine ArtTornister, woraus die Säbel¬
taschen derHusaren entstanden sind, und einen Schlauch, Csuttera, für
Wein oder Branntewein. Wenn er den Mantel auseinanderschlägt,
so blitzt zuweilen das Ende eines kleinen Carabiners hervor, der an
einem kurzen Bande ihm über den Rücken hängt. ^Dieses so co-
stümirte Individuum hat lange, schwarze Haare, die entweder frei in
Locken ihm um Achseln und Schultern flattern oder in einen Zopf
zusammengebunden sind: stets erglänzen sie, aus dem bei dem
Hemde obenerwähnten Grunde, stark von Schweinefett. Unter wild
blickenden Augen, tu denen jedoch etwas Melancholisches sich nicht


[]

undeutlich ausspricht, eine lange, asiatischen Ursprung verrathende
Nase; der furchtbare, sorgfältig mit schwarzgefärbtem Fett gepflegte
Schnurrbart verbirgt fast die dicken Lippen. Dieses sind die Haupt¬
züge seines Gesichtes, die stark und charakteristisch hervortreten, so
daß es dem Ganzen nicht an einer gewissen Schönheit fehlt, beson«
dero, da der rauhe und wilde Ausdruck dieses Gesichtes häusig durch
etwas Romantisches, Melancholisches im Blicke gemildert wird. Ein
niedriger, breiträndrigcr Filzhut dient zur Kopfbedeckung. Zur Ver--
vollständigung dieses Portraits dürfen wir auch die Pfeife nicht ver¬
gessen, den unzertrennlichen Begleiter der Hirten, die in den seltenen
Augenblicken, da sie nicht im Munde hängt, aus dem Hemdkrage»
herausguckt, so wie die Tabaköblase, Koßtcck, die am Gürtel be¬
festigt ist.


Wenn man nun dieses Individuum so aufrecht in unbeweglicher
Stellung erblickt, so glaubt man Anfangs, er sei völlig unbeschäftigt.
Bei einiger aufmerkfameren Beobachtung jedoch sieht man, wie seine
Augen sich in unaufhörlicher Bewegung befinden und wie fein ruhi¬
ger, aber wachsamer Blick unablässig auf allen Theilen der Wiese,
wo seine Pferde weiden, sich ergeht. Plötzlich faltet sich seine Stirn,
ziehen sich seine Gesichtsmuskeln heftig zusammen. Seine Heerde ist
unverimtthet in Unordnung gerathen, die Pferde rennen fliehend durch
die Ebene und lassen jenes dumpfe Schnauben hören, das bei ihnen
ein Zeichen der Unruhe ist; zu gleicher Zeit stößt eins von ihnen
einen Todesschrei aus. Der Coll<»S springt auf das erste beste
Pferd, das er in der Nähe erwischt und ohne Sattel, ohne Zaum.
— das ist für ihn alles unnütz, — sprengt er in vollem Galopp
davon. Während dieses wüthenden Rittes fliegt sein Mantel, vom
Winde aufgebauscht, flattern seine langen Haare wild um die Schul¬
tern. Vermittelst seines Csakany stachelt er sein Pferd und treibt
es, trotz seines instinctgemäßen Widerstandes, nach der Gegend hin,
wo sein geübtes Auge einen Wolf erkannt hat: zwei oder drei
weißhaarige Hunde, die vedettenartig auf verschiedenen Punkten des
Weideplatzes ausgestellt waren, eilen ihm nach. Der Wolf sucht zu
entwischen; aber die Hunde bedrängen ihn von der einen Seite,
während ihn der Chili's von der andern Seite angreift. Das
Pferd, durch die Nähe und den Geruch des ihm verhaßten Wolfes
erschreckt, will nicht vorwärts, bäumt sich zurück, aber ein Schlag


[]

mir dem Schaft des Csakcmy treibt es vorwärts. Einen Augenblick
daraus fliegt die mit sicherer Hand geschleuderte Waffe todbringend
auf das Haupt des Wolfes. Der Csik6s, den der Ungestüm seines
Pferdes fortreißt, hält sich an der Mähne fest mit der einen Hand,
während er sich mit der andern zur Erde beugt, um seinen Csakany
aufzuraffen, worauf er dann seinen Ritt fortsetzt. Denn der schwerste
Theil seiner Arbeit steht ihm noch bevor, nämlich die Wiedervereini¬
gung seiner Pferde, die sich erschreckt nach allen Richtungen hin zerstreut
haben. Doch er kömmt bald damit zu Stande und in kurzer Zeit
ist die Ordnung wieder hergestellt: nur trägt eines der Pferde von
den Klauen und den Zähnen des Wolfes tiefe Wundmale.


Aus diesen ungarischen Bauern nun werden die meisten Husaren-
Regimenter recrutirt. Abgehärtet gegen Strapazen, gegen Hunger,
gegen Nachtwachen, von Jugend auf der Elemente rauhem Wechsel
ausgesetzt, geben sie natürlich ganz treffliche Soldaten ab; jedoch
sind sie aus eben so leicht begreiflichen Gründen etwas schwer an
Subordination und Disciplin zu gewöhnen und im Anfange ihrer
Dienstzeit verursachen sie häusig unangenehme Vorfälle und lassen
sich leicht grobe Vergehen zu Schulden kommen. Zugleich aber wird
man nun einsehen, wie andere Nationen, bei denen die vorbereiten¬
den Zustände fehlen, wodurch der Ungar zum Husaren herangebildet
ist, noch ehe er unter die Uniform kömmt, unmöglich eine mit
dieser wetteifernde, leichte Cavalerie haben können.


Eine andre falsche Ansicht von der ungarischen Reiterei, die
man im Auslande sehr häufig und weitverbreitet findet, ist die, daß
sie nur mit ungarischen Pferden beritten sei. Dem war wohl früher
so; für den Husaren unserer Tage aber ist das heutige ungarische
Pferd zu klein. Ueberdem haben die Stutereibcsitzer, welche früher
die Lieferung für die Regimenter hatten, sich jetzt in Wien einen
vortheilhafteren Markt für ihre Erzeugnisse eröffnet. Durch diesen
Umstand, so wie durch die Einführung der englischen Pferderace ist
die Waare dermaßen im Preise gestiegen, daß die Regierung sich
genöthigt fand, sich anderswoher zu versehen. Es giebt jedoch ein
Regiment, das gänzlich mit ungarischen Pferden beritten gemacht ist;
es ist dieß das dritte Husaren-Regiment, das in Pesth und der
Umgegend sein Standlager hat. Das zweite Husaren- und das
vierte leichte Dragoner-Regiment machen sich aus Siebenbürgen


[]

beritten, einer Provinz, wo die Pferdezucht besonders stark be¬
trieben wird.


Pagel in' seinem sonst so trefflichen Werk über Siebenbürgen
und Ungarn macht über diesen Punkt der österreichischen Negierung
einen ungerechten Vorwurf, wenn er sie anklagt, diese beiden Provin¬
zen ihrer Pferdezucht beraubt zu haben. Die einfache Darlegung der
hierauf Bezug habenden Thatsachen macht dies deutlich. Einer der
Mheren österreichischen Kaiser ließ eine gewisse Anzahl Beschäler
aus Andalusien kommen, um eine Mischung der beiden Racen zu
bewerkstelligen. In der That findet man auch die vorzüglichsten
Eigenschaften, wodurch das spanische Pferd sich auszeichnet, majestä¬
tische Haltung und eine fast verständig zu nennende Gelehrsamkeit,
in hohem Grade beim ungarischen und siebenbürgischen Pferdeschlag
vor. Es sind die schönsten und gesuchtesten Thiere des Kaiserreichs,
mit Ausnahme freilich der polnischen Pferde, und die drei Regimen¬
ter, die sich aus diesen beiden Provinzen beritten machen, gelten mit
Recht für die am Besten berittenen der Armee.


Eine andere Thatsache aber, die auch durchaus keinem Zweifel
unterliegt, ist die in Folge der Mischung mit englischem Blute ein¬
getretene Verschlechterung der siebenbürgischen Race seit einigen
Jahren. Diese nicht allzuvernünstige Mischung hat in diesem Lande,
wie in Irland, ein Bastardgeschlecht hervorgebracht, das, beiden
Racen angehörend, doch weder die eine, noch die andre ist. Diese
Erscheinung hat übrigens noch eine zweite Ursache. Da nämlich
die Schafwolle bedeutend im Preise gestiegen ist, so haben die großen
Eigenthümer, welche natürlich stets die schönsten Producte erzielen
können, sich der Schafzucht eifrig ergeben, so daß die ungeheuren
Flächen, auf denen vor wenigen Jahren noch zahllose Pferde weide¬
ten, meist in Pächtereien verwandelt worden sind. Die Negierung
thut für Ermunterung der Pferdezucht in Siebenbürgen möglichst
viel: so kauft sie z. B. die Erzeugnisse dieser Zucht bedeutend
theurer, als die andrer Länder. Sie nimmt dieselben ein Jahr,
ehe sie das reglement-mäßige Alter erreicht haben, d. h. zu drei
Jahren anstatt zu vieren und bezahlt ein Dragonerpferd in Sieben¬
bürgen mit 150 Gulden, ein Husaren- und Chevaulegers-Pferd
mit 120 Gulden, während sie anderswo derartige Pferde mit 120 und
112 Gulden haben kann.


[]

Das zehnte Husaren-Regiment, dessen Standquartiere in Polen
sind, macht sich mit polnischen Pferden beritten. Die Quartiere des
eilften Husaren-Regiments sind an der siebenbürgischen Grenze und
die Leute in diesem Regiments reiten fast alle ihre eigenen Pferde.
Die übrigen neunzehn Regimenter leichter Cavalerie werden fast gän-
lich mit wilden Pferden beritten gemacht, die aus der Moldau, aus
Bessarabien, aus Noth-Nußland und aus der Ukraine kommen.


Der Handel überhaupt ist in diesen verschiedenen Ländern be¬
kanntlich in den Handen der Griechen, Armenier und Juden: dem
Pferdehandel haben sich speciell vorzüglich diese letzteren ergeben.
Unglaublich sast ist die Ausdehnung, die sie diesem Geschäftszweige
verschafft haben: sie allein übernehmen gewöhnlich sämmtliche Pferde,
welche die österreichische Regierung für ihre Armee bedarf. Sie rei¬
sen, um ihre Einkäufe zu machen, bis in'S Innere von Rußland,
ja, bis mitten in die Steppen, welche in der Nähe des schwarzen
Meeres liegen. Ein wildes Pferd geht so oft durch die Hände von
zehn Kaufleuten, welche ihm einer nach dem andern Muskeln und
Nippen betasten, sein Alter untersuchen, ja ihm zuweilen sogar ihr
Wahrzeichen eindrücken. In Folge dessen ist, wenn das Pferd nach
Nadautz in der Bukowina kommt, wo sich das Hauptdep,'»t für Re-
monten befindet, seine natürliche Wildheit durch die schlechte Behand¬
lung, die eS erlitten, oft dermaßen gewachsen, daß es eine gefährliche
Sache wird, dasselbe zu berühren oder sich ihm auch nur zu nahen.


Diese jüdischen Roßtäuscher sind wegen ihrer Listen und betrü¬
gerischen Streiche allgemein berüchtigt: ein Scherzhaftes Beispiel unter
taufenden möge unseren Lesern genügen; zuvor wollen wir jedoch
noch bemerken, daß ohne großen Unterschied der Religion auch
christliche, besonders griechische Roßtäuscher ein sehr elastisches Ge¬
wissen besitzen. Ein Offizier besaß zwei sehr junge Wagenpferde;
sein Kutscher, der oft betrunken war, schlug sie zu stark, so daß sie
ganz widerspenstig und unlenkbar wurden. Trotz dem wollte der
Offizier mit denselben bis in ein ziemlich weit entferntes Stäbchen
gefahren sein. Der Weg war schwierig; die Pferde drohten jeden
Augenblick umzuwerfen oder durchzugehen. Ermüdet von diesem Kam¬
pfe war der Offizier kaum am Ziele seiner Reise angelangt, als er
auch sein unlenksames Gespann um einen Spottpreis an einen jüdi¬
schen Pferdehändler verkaufte, zugleich aber bat er den Käufer, ihm


[]

für den andern Morgen, wo er seine Rückreise antreten wollte, ein
Paar Pferde zu verschaffen, deren Werth und Preis man vorher
festsetzte. Anderen Tages zur festgesetzten Stunde brachte ein kleiner
jüdischer Stallknecht dem Offizier dieselben Pferde wieder, die er
dem Juden gestern »erkauft hatte. Natürlich war dieser eben so
erstaunt, als erzürnt über eine solche Unverschämtheit. Es entspann
sich ein heftiger Streit: aber, was war zu thun? Man hatte von
dem Juden schöne und junge Pferde verlangt, sie waren beides;
der festgesetzte Preis, sie waren ihn werth; gelehrig und gut abge¬
richtet, das waren sie auch. Der Offizier mußte sich also darein
ergeben; man spannte die Pferde an den Wagen und unter Leitung
des kleinen jüdischen Stallknechts kehrte der Offizier nach seinem
Aufenthaltsorte zurück, ohne daß die Pferde während der Reife auch
nur den geringsten Versuch zur Widersetzlichkeit gemacht hätten.
Nun erstaunte der Offizier noch mehr; denn diese eben so durchgrei¬
fende als schnell bewirkte Veränderung in der Willenöstimmung sei¬
ner Pferde war ihm unerklärlich. Erst nach einer sorgfältigen, klein-
lichen, genauen Untersuchung entdeckte er, daß man den Thiere» die
Haut an beiden Enden des Gebisses leicht aufgeritzt hatte, so daß sie bei
dem mindeste!? Druck der Zügel einen lebhaften Schmerz empfanden.


Wir haben oben schon gesagt, daß das Hauptdepüt für die
Remontepferde zu Radautz in der Bukowina sich befindet. An die¬
sem Etablissement sind ein höherer Offizier, ein Generalcommissair,
Thierärzte, Beamten der Nemonteverwaltung, CöitV.ö u. s. w. an¬
gestellt. Wir wollen unsern Lesern die Ankunft eines Zuges wilder
Pferde, als den interessantesten Moment in diesem Depüt, einiger¬
maßen zu schildern versuchen. Ehe sie ankommen, hat man geräu¬
mige Gehege errichtet, die mit hohen Gattern umgeben und noch
durch ein zweites Geländer eingeschlossen sind, so daß die Gefange¬
nen, zu deren zeitweiligen Aufenthalt man sie bestimmt, trotz aller
Bemühungen unmöglich daraus entkommen können. Diese Gehege
nennt man Okols. Im Mittelpunkte befindet sich ein starker Pfahl
von etwa sieben Fuß Höhe, an dessen Spitze ein beweglicher Ring
angeschmiedet ist, der sich um einen Zapfen dreht. Diese Okols
(denn es giebt ihrer mehrere) stehen durch Ausgänge, die man nach
Belieben schließen und öffnen kann, mit einander in Verbindung.
Hier hinein nun führt man den Zug Pferde zunächst nach seiner Ankunft,


[]

Die erste Operation, die man mit ihnen vornimmt, besteht
darin, daß man diejenigen Pferde zu erkennen und auszuscheiden
sucht, die man als tauglich sür den Dienst erkennt und welche die
Negierung an sich kaufen will. Zu diesem Zwecke muß man jedes
Thier einzeln vornehmen und besonders untersuchen. Hiebei verfährt
man nun folgendermaßen: Ein langes Seil, das man Arkar nennt,
wird durch den obenerwähnten Ring am Pfahle durchgezogen. Drei
oder vier Männer halten das eine Ende; aus dem andern wird
eine Schlinge gemacht und ein Stück Holz daran befestigt, durch
welches erzielt wird, daß die Schlinge sich nicht über ein gewisses
Maß hinaus zuziehe. Einer der Csikäö nun ergreift sie und tritt in
die Nähe der Pferde, welche, nachdem sie das Gehege in wilder Unord¬
nung durchraunt haben, sich gewöhnlich zuletzt in einer Ecke zusammen¬
stellen. Dem Pferde nun, das man prüfen will, wirft der Cöikäs
die Schlinge über den Kopf; in demselben Augenblicke ziehen die
Männer, welche das andere Ende des Seiles halten, es mit allen
Kräften nach sich zu, so daß die Schlinge um den Hals des Thie¬
res sich verengt, ohne ihm jedoch den Athem zu versetzen. In diesem
Augenblicke muß man es sehen, wie es sich bäumt, nach allen Sei¬
ten hin ausschlägt, Kopf und Schweif zwischen die Beine nimmt
und wüthend rennt, um der Umschlingung, die sich seiner bemächtigt,
zu entgehen; aber alle seine Bemühungen sind vergebens. Die
CsikuS verdoppeln ihre Anstrengungen und ziehen es nach und nach
an den Pfahl, an dem sie es dann mit Kopf und Brust anbinden.
Wenn man sich nun so eines Pferdes bemeistert hat, wird es, so
weit seine lange Mähne und sein borstig emporragendes Haar dies
möglich machen, gemessen und besichtigt. Findet man es tauglich
für den Militärdienst, so brennt man ihm das kaiserliche Zeichen
ein und fängt dieselbe Operation von Neuem mit einem anderen
Thiere an.


Man begreift leicht, daß es zu dieser Untersuchung viel prakti¬
scher Urteilsfähigkeit bedarf; die hiermit beauftragten Offiziere be¬
sitzen aber so viel Erfahrung in diesem Fache, daß ein einfacher!Blick
für sie hinreicht, um die oft von den Verkäufern sorgfältig versteckten
Fehler der Thiere zu entdecken, die man ihnen vorführt. Und dabei
sind die Thiere in einem Zustande, der die Schwierigkeit der Beur¬
theilung verdoppelt: denn sie zittern vor Wuth und Schrecken und


[]

stellen sich auf die Hinterfüße, ihr Haar steht borstig empor, ihre
Mähne ist in Unordnung und sie selbst mit Staub und Schweiß
bedeckt. Wenn diese Besichtigung nun vorüber ist, führt man in
den Olot ein gut abgerichtetes Pferd ein, das mit einer starken
Halfter versehen ist und von einem guten Reiter geritten wird. Die¬
ser nähert sich dem Pfahle so weit als möglich und schlingt vorsich¬
tig das äußerste Ende des Seiles um den Hals des Gefangenen.
Darauf wird dann die Schlinge gelöst und das wilde Thier läßt sich
mit mehr oder minder Widerstand bis in ein anderes Gehege fort¬
ziehen, wo es von seinen Gefährten getrennt wird.


Es ereignet sich zuweilen, daß man diese Remontepfcrde sofort
nach ihrer Ankunft einem Offizier übergiebt, der beauftragt ist, sie von
Nadautz zu seinem Regimente zu bringen, dessen Standquartiere sich
in Mailand oder in Prag oder in Brunn, kurz auf irgend einem
entfernten militärischen Punkte des ausgedehnten österreichischen Kai¬
serreichs befinden. In diesem Falle wählen die CsitV»s des jüdischen
Roßtäuschers zwei oder drei der stärksten Pferde unter der Truppe
aus: diesen binden sie eine Glocke an den Hals und die andern folgen
ihnen dann gelehrig. Ost auch schließt man in diesem Falle mit den
Csik«»s der Juden den Handel dahin ab, daß sie den Convoi einige
Tage lang begleiten, um bei Bezähmung des ersten Widerstandes
behilflich zu sein. Denn es ist in der That durchaus nicht selten,
daß die Pferde ihre Bande zerreißen und zu den Weideplätzen zurück¬
kehren, denen man sie entrissen hatte.


Der Offizier, dem die Sorgfalt für einen solchen Zug Nemonte-
Pferde zu Theil geworden, hat oft eine Aufgabe voll Schwierigkeiten
und Kümmernisse zu lösen. Seine Verantwortlichkeit ist sehr groß;
denn er ist dem Staate für jedes Pferd, das er unterwegs verliert,
Rechenschaft schuldig und der Preis wird ihm an seiner Löhnung
abgezogen.


Man giebt dem Offizier für einen Zug von achtzig bis hundert
und zwanzig Pferden gewöhnlich einen Kurschmied, einen Unterosfi--
zier und höchstens acht bis nenn Soldaten bei. Der Marsch, der
von dem Nemontedepüt bis zur Kaserne zu machen ist, dauert oft
Zwei, drei, sogar vier Monate.


Um die Schwierigkeiten dieses Marsches zu begreifen, muß man
sich eine Idee von den Ländern machen, durch welche der Weg führt.


[]

Im Norden Ungarns und namentlich an der polnischen Grenze ist die
Gegend außerordentlich gebirgig, da diese ganze Linie von den Kar¬
pathen begrenzt wird. Erst seit einigen Jahren hat man angefan¬
gen, einige ziemlich gute Straßen in diesem Landstriche anzulegen;
unglücklicherweise aber führen sie nicht weit. Im Allgemeinen ist
dasjenige, was man dort Landstraße nennt, nur eine Art Fußsteig,
der die Felder durchschneider und der durchaus von keiner Seite ir¬
gendwie durch Graben oder sonst wie immer, abgeschlossen ist. Um
nun auf diesem von allen Seiten offenen Wege Pferde zu lenken und
zusammenzuhalten, müssen die Führer derselben mit langen Peitschen
bewaffnet sein. Einer von ihnen stellt sich an die Spitze des Zuges,
andere sind auf den Seiten von Entfernung zu Entfernung postirt
und die übrigen marschiren hinterdrein, um die Nachzügler vorwärts
zutreiben.


Die Städte und Dörfer liegen in diesen Provinzen bedeutende
Strecken auseinander. ES ist daher äußerst selten, daß man jede
Nacht an den Haltpunkten ein Obdach für die Pferde findet. Man
schließt sie meist in den Hof irgend einer Herberge ein: ehe man
sie aber zum Eintritt in diesen Hof bewegt, sind, besonders wenn
die Herberge im Innern des Dorfes liegt, nicht unbedeutende Schwie¬
rigkeiten zu überwinden. Man kommt damit oft nicht zu Stande
und ist genöthigt, außerhalb des Dorfes irgend ein Gehege zu suchen
oder zu einem andern Hülfsmittel seine Zuflucht zu nehmen. Da
man fast überall eine große Anzahl Karren und vierrädrige Wagen
besitzt, so bildet man daraus ein Niereck, dessen eine Seite man offen
läßt, bis die Pferde hineingegangen sind, worauf man es dann von
außen abschließt. Innerhalb bilden dann andere Karren Abtheilun¬
gen, Trennungsmauern) man wirft ihnen darauf Stroh oder Heu
hinein und die Wagenleitern dienen ihnen anstatt der Raufen.
Kann man sich nicht Wagen genug verschaffen, so muß man Mauer¬
leitern und Stangen anwenden, um die Lücken in den von den Karren
gebildeten Linien auszufüllen. Zwei oder drei Soldaten, die nur
einen Marschtag voraus sind, haben das Amt, für diese Vorberei¬
tungen des jedesmaligen Nachtlagers zu sorgen, damit die Pferde
bei der Ankunft sofort ihren Stall oder deren Stellvertreter vorfinden.
In der ersten Zeit, so lange diese Thiere nicht gezähmt sind, weigern


[]

sie sich gewöhnlich Hafer zu essen, man giebt alsdann einem jeden
anderthalb Rationen Heu.


Sehr ernsthafte Schwierigkeiten bereitet der Uebergang über
Ströme. In jenen fernen Gegenden, wo die Civilisation noch in
den Kinderjahren ist, findet man nur sehr wenig Brücken. Wo man
Fähren besitzt, würden diese freilich ein sehr gutes Mittel abgeben,
über das Wasser zu setzen. Die Thiere sind aber zu wild, um sich
einschiffen zu lassen. Sie müssen also schwimmend hinüberkommen
und zu diesem Zwecke verfährt man folgendermaßen. Ein Soldat
macht den Anfang damit, daß er vermittelst einer Fähre eins von
den Thieren, welches die Glocke trägt, auf das andere Ufer übersetzt.
Man zwingt sodann die übrigen Pferde, in'S Wasser hineinzugehen
und wenn sie erst einmal darin sind, so folgen sie dem Lcitroß schwim¬
mend, indem ihr Instinkt sie treibt, eine Art ungleichseitigen Dreiecks
zu bilden, dessen spitzester Winkel gegen den Strom gerichtet ist.
Bekanntlich setzen die Pferde im Zustande völliger Wildheit stets
schwimmend über Ströme, wie dies ja eins der malerischsten Schau¬
spiele ist, das jene wüsteiiartigen Prairien und Savannen Nordame¬
rikas darbieten.


Außer diesen unvermeidlichen Hindernissen giebt es noch eine
Menge von Zufällen, auf die man gefaßt sein muß. Unter diesen ist
der häufig eintretende Fall eines Sturmwetters in Begleitung von
Donner und Blitz der vor allen am meisten zu fürchtende. Denn
selbst wenn die Pferde im vollkommnen Naturzustände leben, so wie
umgekehrt auch, wenn sie Hausthiere geworden sind, verursacht ihnen
das Geräusch des Donners einen außerordentlichen Schrecken, da bei
diesen Thieren der Sinn des Gehörs überaus empfindlich ist


Man stelle sich den Convoi vor, wie er am Ende eines Tages
voll Strapatzen Halt macht und sich anschickt, die Nacht mitten in
irgend einer unbewohnten Ebene zuzubringen; man hat die gehöri¬
gen Anstalten getroffen, daß die Pferde nicht entfliehen können; der
Offizier und seine Leute beschäftigen sich rund um das Bivouac her¬
um mit Reinigung ihrer Kleider, Zubereitung des Nachtmahls u.s.w.
Plötzlich breiten sich große Wolken wie ein dichter Trauerschleier
über die Himmelsdecke hin. Das Tageslicht erblaßt, die atmosphä¬
rische Luft wird drückender und schwerer, und die ganze Natur scheint
wie unter der Last eines feierlichen Erwartens darmederzuliegm. Bald


[]

hallt das dumpfe Grollen eines noch fernen Donners in den tiefen
Wäldern wieder, von denen der Gesichtskreis der Lagernden rings
umgeben ist. Die Soldaten, welche die Begleitung des Zuges bil¬
den, springen bei diesem Zeichen auf, um ihre Reitpferde zu satteln
und zu zäumen; sie laden auf alle Fälle ihre Pistolen und befestigen
das Gehege noch mehr, in welchem die Pferde des Convoi einge¬
schlossen sind. Diese letztern haben schon aufgehört, sich mit ihrem
Futter zu beschäftigen. Mit unruhig forschenden Auge sehen sie
nach allen Punkten des Horizonts herum, als wollten sie sich Ge¬
wißheit darüber verschaffen, von welcher Seite die Gefahr kommen
müsse; sie strecken die Hälse, sie schütteln ihre Köpfe; ein geheimer
innerer Schrecken hat sich ihrer bemächtigt. Indeß kommen die
Wolkenmassen immer näher, werden immer dichter und lassen am
Ende kaum noch einzelne Strahlen des Tageslichts durchschimmern.
Das elektrische Fluidum entladet sich, der Blitz zischt und des Don¬
ners Krachen erschüttert das Himmelsgewölbe. Mitten unter diesem
Tumult der entfesselten Elemente nun rennen die wilden Pferde im
Galopp im Gehege umher; jener neue Blitz, der die Wolken durch¬
furcht, jeder neue Donnerschlag, der erschallt, treibt sie von Neuem
von ih^er Stelle und eins dicht an's andere gedrängt, laufen sie
fortwährend im Umkreis ihres verschlossenen Geheges herum, indem
sie den schwächsten, am leichtesten zu durchbrechenden oder zu über¬
springenden Punkt desselben suchen. Endlich haben sie einen solchen
gefunden; dann stürzen sie sich in dicht gedrängter Masse wie zum
Angriffe auf diesen einen Punkt hin und mit unwiderstehlicher Kraft
zerbrechen und zertrümmern sie den Zaun, der sie einschließt, und
rennen in die Ebene. Beim düsterrothen Schein der Blitze sieht
man sie nach allen Richtungen hin ihre Flucht einschlagen und gleich
nebelhaften Schatten eilen sie an den Menschen vorbei.


Nun kommt für den Offizier die unendlich schwierige, dornen¬
volle Aufgabe, diese zerstreute Truppe wieder zu sammeln. Wie soll
er bei der geringen Anzahl Leute, die ihm zu Gebote stehen, damit
zu Stande kommen? Hier muß er alle seine Geschicklichkeit anwen¬
den. Wenn nun die Pferde sich in zwei Gruppen zertheilt haben,
so richtet er seine Anstrengungen zunächst dahin, sie durch Geschrei
und durch wiederholte Schüsse zu erschrecken und zu einer einzigen
Truppe zu vereinigen. Fahren sie in ihrer Flucht fort, so folgt er


[]

ihnen mit seinen Leuten und sucht mehr ihren Lauf zu lenken, als
ihn anzuhalten, bis sie, wenn das Unwetter endlich aufgehört hat,
erschöpft und ermüdet sich wieder ruhig in's Gehege zurückführen
lassen.


Jedoch gelingt dieses Mittel nicht immer. Zuweilen zerstreut
sich das Convoi nach allen Ecken und Enden des Horizonts hin und
es ist eine Sache der Unmöglichkeit, sie wieder zusammenzubringen.
Es bleibt dann nichts weiter übrig, als das Land zu durchstreifen,
um sie aufzufinden und den benachbarten Civil- und Militärbehör¬
den die genaue Beschreibung der einzelnen Pferde zu senden, damit
durch den Beistand derselben es den Bauern unmöglich gemacht
werde, sich des kaiserlichen Eigenthums zu bemächtigen. Dem Ver¬
fasser dieses Artikels ist wahrend seiner Dienstzeit ein seltsamer Fall
zugestoßen, den wegen seiner komischen Seite er seinen Lesern nicht
vorenthalten will. Er hatte ein ziemlich beträchtliches Convoi von
Pferden zu begleiten und begegnete auf der Landstraße einer Heerde
fetter Schweine. Ein junger Dachshund, der einem Soldaten des
Zuges angehörte, lief bellend diesen Thieren nach. Diese wurden
dadurch wüthend gemacht, wandten sich gegen den Hund um und
verfolgten ihn bis mitten in den Zug, wo er einen Zufluchtsort ge¬
sucht. Dadurch geriethen nun die Pferde in Unordnung, und es
entstand eine Scene der seltsamsten Verwirrung. Die beiden Heer-
den waren plötzlich unter einander gemischt; ein halb Dutzend Pferde
galoppirte mitten durch die Säue hindurch und trat diese mit
Füßen. Die Hirten schössen mit ihren Carabinern, die Husaren mit
ihren Pistolen. Das Schreien und Fluchen der Menschen, das
Knattern deö Kleingewehrfeuers, das Grunzen der Schweine, das
Wiehern der Pferde — dies Alls zusammen bildete einen Lärm,
von dem man sich kaum einen Begriff machen kann.


Bei Pferden der Art, von denen hier die Rede ist, braucht
man den Huf und die anderen Körpertheile, welche von den Stra-
patzen des°Marsches etwa Schaden leiden könnten, keiner übersorg-
fältigen und kleinlichen Untersuchung zu unterwerfen. Jedoch sino
sie eben so sehr als zahme Pferde der Gefahr des Lahmwerdens
ausgesetzt. Außerdem sind sie, was bei jungen Pferden ganz natür¬
lich ist/sehr häufig von Drüscnkrankheiten heimgesucht. In diesem


19
[]

Falle muß man sorgfältig prüfen, ob die Materie, die aus ihren
Nasenlöchern herausfließt, von Drüsen oder sonst einer andern an¬
steckenden Krankheit herrührt; denn die Thiere leiden oft schon, wenn
man sie kauft, inwendig an diesen Gebrechen, die äußerlich durchaus
nicht hervortreten, daher auch von Niemandem bemerkt werden kön¬
nen, die aber, wenn sie sich dann erklären, darum sehr gefährlich sind,
weil sie sich leicht den sämmtlichen Pferden des Zuges mittheilen,
ja sogar zuweilen über die Landstrecken, durch die das Convoi seine»
Weg nimmt, ihre gefährliche Ansteckung verbreiten.


Ein trauriges Beispiel dieser Art von Thatsachen hat sich erst
vor wenigen Jahren ereignet. Der Offizier, der mit der Leitung des
Convois beauftragt gewesen, erschoß sich aus Verzweiflung, um den
schweren Folgen, die seine Nachlässigkeit ihm zuziehen konnte, zu ent¬
gehen; ich habe Nachlässigkeit gesagt, und dies ist das rechte Wort.
Denn es ist leicht, die Pferde während der Reise zu überwachen, sie
einzeln zu prüfen, ihre Bewegungen, ihren Gang zu beobachten, zu
sehen, ob sie lahm gehen, ob sie traurig scheinen, ob sie nicht fressen
»vollen, kurz die verschiedenen Symptome des Uebels zu constatiren.
Die Gegenwart eines Kur- und Hufschmiedes, der sich unter den
Mitgliedern der Begleitung befindet, ist für solche Fälle eine sehr
schätzenswerthe Hülfe. Jedes Pferd, das zu leiden scheint, muß an¬
gebunden werden; wenn es lahm geht, weil sein Huf zu Schade!»
gekommen ist während des Marsches, so muß man es beschlagen.
Fließt ihm irgend eine verdächtige Materie aus den Nasenlöcher»,
so verordnet die Klugheit, es sofort von den übrigen Pferden zu
trennen und es in Quarantaine zu halten.


Man hält es nicht immer für nothwendig, sich eines Arkar
(Seil mit einer Schlinge) zu bedienen, wenn man Pferde > denen
man nicht traut, ergreifen und anbinden will, sondern die Husaren
und selbst die Offiziere der Bedeckung ergreifen sie zuweilen mit den
Händen. Diesen Gebrauch muß man aber durchaus fernhalten;
denn einerseits seht man dabei unnützerweise ein Menschenleben auf'S
Spiel und anderseits werden die Pferde obendrein dadurch noch
wilder und mißtrauischer.


Folgende Vorsichtsmaßregeln, vorzüglich für den Offizier, welcher
die Leitung eines Convoi bekommen hat, sind nicht genug zu em-


[]

pfchlen. Er muß häufig Halt machen und muß den Pferden wah¬
rend des Marsches erlauben, das Gras, das an den Seiten der
Landstraße wächst, abzuweiden; nie darf er sie dagegen abmüden
und muß sie stets sanft behandeln, damit sie nach und nach die Schlage
vergessen, die sie von ihren ersten Herrn, den Pferdehändlern, erhal¬
ten haben. Wenn die Reise nur einigermaßen lange dauert, so
werden dadurch mehrere anfangen, sich an den Anblick deö Menschen
zu gewöhnen, der ihrer wartet, und ihn als einen Freund und Wohl¬
thäter zu betrachten. Einige werden es sogar geduldig ertragen,
wenn man ihnen eine Halfter auflegte. Diejenigen, die krank gewesen
sind und eine sorgfältige Pflege und gute Behandlung gefunden
haben, werden die gelehrigsten und zeigen die meiste Zuneigung,
gleichsam, als wollten sie ihre Erkenntlichkeit für die Sorgfalt an
den Tag legen, die man ihnen hat zu Theil werden lassen. Denn
in der That ist das Roß ein edles, hochsinniges Thier und die
Fehler, die es annimmt, sind in den meisten Fällen der Erfolg einer
schlechten Erziehung.


Der Offizier, dem der Auftrag zu Theil geworden, ein Convoi
wilder Pferde herbeizuholen und der das Glück hat, sie in gutem
Zustande seinem Regimente zuzuführen, kann darauf, als auf einen
Erfolg, stolz sein. Bei seiner Ankunft wird ein Tagesbefehl bekannt
gemacht und die lobenswerthe Art darin erwähnt, auf die er seiner
Sendung sich entledigt hat. Dieß ist zwar die einzige Belohnung
unzähliger Mühen; für einen Mann von Ehrgefühl aber ist sie
eben so schmeichelhaft, als ehrenvoll.


Wir wollen nun zum Schlüsse noch einen kurzen Ueberblick
und eine relative Schätzung der verschiedenen Pferderacen geben, von
denen bisher in diesem Artikel die Rede gewesen.


Die schönsten Thiere kommen unstreitig aus den kaiserlichen
Stutereien; sie sind alle mehr oder minder von arabischer Abstam¬
mung und voll Feuer. Da sie aber oft von Beschälern erzeugt
werden, die schon sehr alt sind, so sind mehrere unter ihnen leicht
dem Unglück ausgesetzt, auf einem oder gar auf beiden Augen blind
zu werden. Die übrigen sind im Allgemeinen prachtvolle Thiere
und von einer außerordentlichen Stärke: man hat deren gesehen,
die zwanzig Jahre lang den Strapazen des Dienstes widerstanden


^-i-
[]

haben. Jedoch liefern im Ganzen genommen die kaiserlichen Stute-
reien eine zu geringe Anzahl Pferde.


Das siebenbürgische Pferd gehört, wie wir schon oben erwähnt
haben, spanischem Ursprünge an. Es hat vortreffliche Beine und
Füße, aber seine Fesseln sind um ein Unbedeutendes zu lang. Schul¬
tern und Hals sind von anmuthiger Form; im Schritte gleicht seine
Schnauze der eines Widders; den Kopf hat es gut gestellt und
überdem läßt es sich sehr leicht das Gebiß anlegen. Die Vereini¬
gung aller dieser Eigenschaften macht, daß diese Gattung Pferde
sehr gesucht wird; denn die Art, wie sie den Kopf tragen, ist
gerade diejenige, welche in einer Schlachtreihe die schönste Wir¬
kung hervorbringt und wodurch ein Geschwader Reiterei das kriege¬
rischste Aussehen erhält. Die Fehler des stebenbürgischen Pferdes
bestehen darin, daß es ein wenig gestutzt ist, seine Gelenke sind oft
etwas schlaff und der Hintertheil seines Körpers nicht stark genug
im Vergleich mit seinem Vordertheil. Daher ist eS auch sehr häusig,
daß e6 im Laufe der Zeit lendenlahm wird. Jedoch ist sein Kreuz
sehr schön geformt und sein Schwanz vollkommen ebenmäßig am
Körper befindlich, wodurch es dann von hinten ein eben so pracht¬
volles, stattliches Ansehen bietet, als von vorn. Durch diesen Gang
treten seine Vortheile und seine schöne äußere Erscheinung noch mehr
hervor: jedoch stampft es zu viel mit den Füßen und gewinnt nicht
so viel Terrain, als andre Pferde. Im Ganzen genommen aber
ist es ein sehr geschätztes Pferd und, wenn es nur die gehörige
Pflege erhält, so conservirt es sich auch zu vollkonimner Zufrieden¬
heit. Sein Wachsthum geht nur langsam vor sich; eS erreicht
seine vollständige Körperentwickelung erst mit seinem siebenten Jahre,
und bis dahin muß es sehr schonend und rücksichtsvoll behandelt
werden. Verfasser dieses hat noch anfangs vorigen Jahres sieben-
bürgische Pferde, welche den letzten französischen Feldzug im Jahre
1815 mitgemacht hatten, gesehen; eines davon war noch jetzt das ge¬
wandteste in der ganzen Schwadron und hatte den sichersten Tritt.


Ein noch besserer Beweis für die Tüchtigkeit und Ausdauer
der stebenbürgischen Race ist folgende officielle Thatsache. Im ver¬
flossenen Jahre wurde in einem einzigen stebenbürgischen Regiment
an Soldaten, welche ihr Pferd zehn Jahre lang behalten tethan,


[]

die Summe von 45 Ducaten ausgetheilt, also an 15 Mann, da
jeder, wie oben erzählt worden, drei Ducaten erhält. Von Offizieren,
welche durch achtjährigen anhaltenden Gebrauch desselben Pferdes
Eigenthümer desselben werden, gab es jährlich wenigstens zwei. Es
sind dieß, nach amtlichen, statistischen Angaben, die höchsten Zahlen,
die bisher in irgend einem Regimente erhalten worden sind. Einige
von diesen Offizierpferden werden übrigens zu weit höheren Preisen
verkauft, als sie die Regierung eingekauft hatte i die Offiziere erhalten
5—600 Gulden dafür.


Das polnische Pferd trägt über alle andern die Siegeskrone
davon. Es ist das wahre Ideal des Schönen in der Gattung.
Seine Form ist die des englischen Pferdes, aber sein Hintergestell
steht in besserem Verhältniß zu seinem Vordergestell. Auch kann
man eS leicht nach allen Seiten hin wenden, eine Eigenschaft, die
den englischen Pferden gänzlich abgeht, da diese in Folge des stand¬
festen, etwas plumpen Baues ihres Hintergestelleö besser zum Laufe
in gerader Richtung geeignet sind.


Eine Eigenheit in der Form des polnischen Pferdes ist, daß
es Platte Rippen hat. Man kann es früher zur Arbeit benutzen,
als das siebcnbürgischei aber es dauert nicht so lange Zeit aus und
es ist verschiedenen Krankheiten unterworfen, welche Knochen und
Muskeln am untern Theile des Beines angreifen.


Wir kommen nun dazu, von den russischen, bessarabischen, mol¬
dauischen, überhaupt von denjenigen Pferden zu sprechen, die wir
bisher die wilden genannt haben, oder von den Mokaner-Pferden,
die allgemeine Benennung, unter welcher die Husaren - all diese
Pferde ohne Unterschied ihrer Herkunft zusammenfassen.


Die Pferde dieser Gattung haben ein gutes Aussehen. Ihr
unterscheidendsteö Merkmal ist ein bedeutender Fond Von Stärke und
Kraft. Ihre in's Auge springendsten Fehler dagegen sind: die ge¬
schmacklose Gestalt ihres Kopfes, die ungeschlachte Breite ihrer Kinn¬
lade und die übermäßige Länge des ganzen Knochengerüstes ihres
Leibes. Von ihrem fünften Jahre an bekommen sie ein fast
gänzlich verändertes Aussehen und zwei Jahre reichen für sie hin,
um diese Umwandlung ganz durchzumachen. Ihr Körper wird


[]

schmächtiger, die Hüften treten höher hervor, der Hals wird gedehn¬
ter und schmäler. Er gleicht alsdann dem Halse des Hirsches,
während der Kopf die Form eines Schweinskopfes angenommen hat.
So sind diese Pferde tüchtig zum Dienste, ohne freilich gerade schön
zu sein, und wenn sie in gerader Reihe neben einer Schaar polnischer
oder siebenbürgtscher Pferde stehen, so bieten sie freilich, besonders
in Folge eines Umstandes, einen sonderbaren Gegensatz dar. Es ist
nämlich in Folge ihrer Kopfgestaltung schwer, ihnen Zaum und Zügel
gehörig anzupassen; während daher jene stolz ihre Köpfe in die Höhe
tragen, senken diese die ihrigen nach dem Boden, wodurch alle Re¬
gelmäßigkeit der Linie zerstört wird. Viele unter diesen Pferden
übrigens können, weil sie durch die in ihrer Jugend erlittenen Mi߬
handlungen allzusehr verwildert worden sind, niemals vollständig
dressirt werden: auch sind sie sehr dem Nachtheil ausgesetzt, herz-
schlächtig oder blind zu werden, trotz dem die Cavalerie in Oester¬
reich sehr bedeutende Futterrationen erhält, nämlich etwa zehn Pfund
Heu für die Pferde der schweren und acht Pfund für die der leich¬
ten Cavalerie-Regimenter und sodann, was jedoch nach dem Alter
wechselt, bis zu dreizehn Pfund Hafer.


Alls den bisher auseinandergesetzten Thatsachen erkennt man
ziemlich klar, daß mi I»»ut <l» cumjitv die wilden Pferde ziemlich
theuer zu stehen kommen. Die österreichische Regierung handelt aber
beim Ankauf dieser fremden Pferde nach unsrer Ansicht insofern
weise, als sie sich dadurch einerseits einen Markt eröffnet hat, wo¬
her sie sich stets, ohne ihre inländischen Quellen zu erschöpfen, vie
nothwendigen Nemontepferde verschaffen kann, falls der Gang der
politischen Ereignisse eine Vergrößerung ihrer Cavalerie nothwendig
machen sollte. Und da sie anderseits die inländische Pferdezucht
durchaus nicht vernachlässigt, so ist sie für alle Eventualitäten gerüstet
und hat für keinen Fall von einem fremdländischen Ausfuhrverbote
der Pferde zu fürchten, wie es z. V. die politischen Verhältnisse des
Jahres 1840 Frankreich so fühlbar gemacht haben.


Im Ganzen genommen besitzen übrigens die wilden Pferde sehr
kostbare Eigenschaften, wodurch ihre Fehler reichlich aufgewogen
werden. Sie können, mehr als andre, Strapazen, Veränderungen
der Lust und Witterung, Hunger und Durst ertragen; sie sind


[]

überdem nicht sah>ver zu ernähren, da sie alle Arten Viehfutter
fressen.


Vor noch wenigen Jahren war fast die ganze deutsche Cavalerie
mit solchen Pferden beritten; erst seit einigen Jahren hat die Ver¬
besserung der Pferdezucht, namentlich in Würtemberg und Preußen,
die Anwendung der einheimischen Race als vortheilhafter erscheinen
lassen.


[]

T a g e b u ach.



i.
Aus Mailand.


Note: Deutsche Reisende. — Stieglitz »ut Kühne. — Rossini. — Beethoven und Kanne. —
Die Scene in Mauern. — Die Juden.

Seit der Krönung Kaiser Ferdinand's I. erinnere ich mich nicht, so viele
Deutsche hier gesehen zu haben, wie in den letzten Monaten; die Zahl dersel¬
ben vermehrt sich mit jedem Jahre nach dem Verhältnisse, in welchem der
hiesige Handel immer mehr und mehr seine Richtung gegen Deutschland nimmt.
Auf materiellem Gebiet hat Oesterreich hier eine große Eroberung gemacht
und ich glaube nicht, daß der Zollverein die kleinern Staaten Deutschlands
so eng mit Preußen verbunden hat, wie die Handelsverhältnisse der Lombardei
sie an Oesterreich knüpfen. Es ist zu bedauern, daß diese Verhältnisse noch
nicht eine geschickte deutsche Feder fanden, welche sie Deutschland klar und
übersichtlich bekannt machte: das ist die Schattenseite der deutschen reisenden
Schriftsteller, daß sie überall nur Jagd auf gelehrte oder poetische Ausbeute
machen: praktische Belehrung muß man immer nur in den Reisebüchern der
Engländer und Franzosen suchen. Es heißt, daß Stieglitz ein größeres Werk
über die Lombardei und Venedig herausgeben werde. Nun — Sie kennen
Stieglitz: die Praxis wird aus diesem Buche sich nicht satt essen. Von Küh¬
ne's Sospiri habe ich einige Bruchstücke in verstümmelter Uebersetzung in zwei
italienischen Journalen gesunden: das'Buch selbst bekam ich nicht zu Gesicht.
Eine 'ganze Colonie junger deutscher Sängerinnen bereiten sich jetzt hier vor,
um später die italienische Sangesmethode aus deutschen Bühnen triumphiren


[]

zu machen: den größten Triumph hat diese wohl dadurch gefeiert, daß unsere
alte Pasta in Berlin noch so viel Aussehen machen konnte. Es hat dieses dem
deutschen Geschmacke hier keinen großen Credit erworben; ein hiesiges Journal
meinte spöttisch: eine dürre italienische Feige sei für deutsche Zungen noch
eine Delikatesse. Rossini kommt häusig Hieher. Er beharrt über seinem Ent¬
schlüsse, auf seinen Lorbeeren auszuruhen und nichts mehr zu componiren und
lacht über seine Verleger, wenn sie in großsprecherischer Ankündigungen das
Swbat seinem Wilhelm Teil an die Seite stellen. Er benutzt jedoch sein otium
cum clignititts und auf eine sür sein Vaterland und die Musik gleich nützliche
Weise, indem er sich die Aufgabe gestellt hat, die italienischen Conservatorien
umzugestalten. Er hat zunächst die Leitung des musikalischen Lyceums in
Bologna übernommen, und man ist zu der Hoffnung berechtigt, daß dieses
Institut unter einem solchen Director seine alte Berühmtheit bald wieder er¬
langen wird- Er hat den alten Gebrauch der Prüfungsconcerte und der jähr¬
lichen Ermuntcrnngspreise daselbst wieder eingeführt. Im letztverflossenen Juni
hat Cardinal Oppizom, Erzbischof von Bologna, eigenhändig die Preise ver¬
theilt; Rossini war bei der Feierlichkeit zugegen und die einstimmigen Beifalls-
bezeugungen sämmtlicher Zuschauer waren ein Beweis der allgemein dankbaren
Gesinnung, ti^ Rossini als den einzigen und schönsten Lohn seiner Bemühun¬
gen zur Förderung des Lyceums annimmt. Im Concerte, das man bei dieser
Gelegenheit unter Leitung und Anordnung des Meisters gab, wurde unter an¬
deren Stücken auch Beethoven's Ouvertüre zu Egmont ausgeführt. Diese
Huldigung, die Rossini dem deutschen Musikgenius darbrachte, ist um so er¬
freulicher und von Seiten Rossini's um so verdienstlicher, als seine Leistungen
keinesweges von Beethoven mit derselben Unparteilichkeit beurtheilt wurden,
dieser ihn vielmehr einen Spitzbuben nannte. Ich erinnere mich in dieser Be¬
ziehung einer pikanten Anekdote. Man spielte in Wien den Barbier von Se-
villa und Beethoven, welcher der Vorstellung beiwohnte, gab den ganzen Abend
hindurch deutliche Zeichen von dem Vergnügen, das er empfand. Besonders
schien ihn die Scene des Gesanguntcrrichts, wo die Musik auf eine so geist¬
reiche Weise das stumme Spiel Figaro's und Bartolo'ö ausdrückt, während das
Liebespaar seine gegenseitigen Geständnisse austauscht, sehr zu interessiren. Nach
der Vorstellung machte ihm der alte Kanne, der bekannte Wiener Kritiker,
der in seiner Nähe gesessen hatte, ein Compliment darüber, daß er nun
endlich von seinem ungerechten Borurthcil gegen die italienische Musik zurück¬
komme und besonders, daß er den glänzenden Geist, der sich in der Partitur
des Barbiers ausspricht, Gerechtigkeit widerfahren lasse. Beethoven aber


[]

erwiederte mit seinem mürrischsten Ausdruck: Die Musik! Als ob ich im Thea¬
ter viel davon zu hören im Stande wäre! In der That sing er damals schon
an, taub zu werden und was ihm während der Vorstellung so viel Vergnügen
gemacht hatte, war das Mienenspiel der Schauspieler gewesen. ^-


Die hiesige Judenschaft hat nach den bedauernswerthen Vorfällen in
Mantua einen Augenblick in Furcht geschwebt, daß unser Pöbel gleichfalls
Excesse suchen würde. Der Umstand, daß die österreichischen Truppen zu Gun¬
sten und zum Schutze der Mantuaner Juden unter's Gewehr traten, that letz¬
teren in der öffentlichen Meinung der Italiener Schaden, da man die Juden
dadurch in den Verdacht brachte, mit den verhaßten „l'oileseln" im Einver-
ständnifi zu sein. Jedenfalls sieht dadurch die lombardische Judenschaft die
Verwirklichung einer langgenährten Hoffnung wieder auf eine Zeit lang hin¬
ausgeschoben. Als die Lombardei nach dem Sturz des Napoleonischen Reiches
unter das Scepter Oesterreichs kam, wurde den Juden zwar die politische
Gleichstellung entzogen, die bürgerliche aber ihnen gelassen. Die Juden des
österreichischen Italiens hatten nicht nur den Bortheil vor ihren Glaubensgenossen
im übrigen Oesterreich voraus, daß ihrer bürgerlichen Existenz nirgends Hem¬
mungen oder Steuererhebungen in den Weg gewälzt sind, sondern der Kaiser
Franz gab ihnen im Jahre 1SI9 die Zusicherung, daß bei der ersten Gelegen¬
heit, wenn die Verhältnisse es erlauben würden, die österreichischen Judengesetze
zu ändern, diese auch in Bezug auf das lombardisch-venetianische Königreich
eine freiere Richtung und die Juden auch ihre politische Emancipation, den
Eintritt in den Staatsdienst ze., wie zur Zeit der französischen Herrschaft,
wieder erhalten sollten. Diesen Zeitpunct glaubte die hiesige israelitische Ge¬
meinde vor der Thüre. Die lombardischen Juden haben sich in der That
sowohl auf dem Gebiete eines großartigen Handels, als auf dem Gebiete der
Wissenschaft, rüstig und ehrenvoll ihrer Emancipation würdig gemacht. Ob
das heiße Blut eines jungen Mannes, der eine tiefe Beleidigung—man hatte
ihm in'S Gesicht gespieen — mit einem tüchtigen Faustschläge beantwortete,
Veranlassung geben wird, einen gerechten Anspruch und eine edle Hoffnung
vor der Hand zu unterdrücken — darüber ist die Entscheidung ungewiß. Tra¬
gisches Schicksal eines Volkes, wo Alle für Einen einstehen müssen, wo ein
unvorsichtiges Wort, ein Wirthshausstreit, ein Zeitungsartikel hinreicht, allen
Balsam der Civilisation zu vernichten und die alten, klaffenden Wunden wie¬
der aufzureißen.


Note: G. T.

[]

2
Preußische Vor- und Rückschritte.
(Brieflich aus Leipzig.)


Von einer Seite möchte man, wenn sich Preußen einmal im Schlaf be¬
wegt, gleich alle Festglockc» läuten: von der andern dauert die boshaft
zischende Opposition und ein fast unversöhnliches, hypochondrisches Mi߬
trauen gegen Preußen fort. Die Einen haben sich in die preußische Zu¬
kunft so vergafft, daß sie Deutschland gar nicht mehr zu sehen scheinen- die
Anderen erblicken in Allem, was Preußen beginnt, nichts als Reaction. Beide
Theile haben nicht Unrecht, doch hoffen wir, daß nur der Fortschritt Thatsache
werden und die Reaction luftiges Project und Gespenst bleiben wird. Preu¬
ßen, ein jugendlicher Glücksfant, hat sich stets mehr durch seine Redensarten als
durch seine Thaten geschadet. Offenbar hat die jetzige Regierung liberale Anfänge
gemacht und ist, gegen die vorige gehalten, ein glückliches Ereignis); dieses
Verdienst würde bereitwilliger anerkannt und richtiger gewürdigt, wenn man
nicht so viel Geschrei davon machte. Die Censur ist, in Köln und Königsberg,
wesentlich gemildert worden und die Presse ist dort ungefähr so weit, als die
badische, würtenbergische, sächsische vor bereits zehn bis zwölf Jahren war;
durch den Gegensatz der übrigen Institutionen des streng monarchischen Staa¬
tes erhält dieser Umstand eine günstige Folie, wenn auch keine feste Bürgschaft;
wenn aber die preußischen Zurunftspostillone dergleichen löbliche Anfänge mit
bombastischer Posauncnstößcn als etwas Unerhörtes' und Einziges verkünden,
wenn sie mit kindischer Prahlerei das Geschenk ihres geistreich lächelnden
Vaters über das sauer erworbene, verfassungsmäßige Eigenthum der erwachse¬
nen Bruderstämme stellen, dann hält man die Unterdrückung der inländischen
Artikel in der Königsberger Zeitung, die Processe gegen Jacob» und Fallers-
leben, das Verbot eines ganzen Verlages und die preußischen Nasen fremder
Censoren dagegen und möchte vor Unmuth und Täuschung rufen: Windbeu¬
telei über Windbeutelei! Es ist Alles Wind!


Macht sich nun Preußen auf diese Art durch seinen offiziellen Liberalis¬
mus unbeliebt, so schadet ihm eben so die reactionaire Partei, deren Projecte
merkwürdiger Weise immer von oben herab dem Lande angedroht werden, als
ob diese lichtscheue Eulengescllschaft wirklich im Staatsrath Sitz und Stimme
hätte. Wir glauben nicht, daß sie mehr ist als die Ruthe hinter dem Spiegel.
Allein selbst Kindern soll man nicht jeden Augenblick die Ruthe zeigen, wenn


[]

man sie nicht anzuwenden denkt. Eine Drohung, die man nicht ausführen
wird, ist bekanntlich sehr unpolitisch. Solche unvorsichtige Demonstrationen,
die nur das Mißtrauen in die Absichten der Regierungen anfachen, sind das
projectirte Eheschcidungsgcsetz, die Judencorporationen und selbst der Proceß
gegen Jacob». Man wird diesen eben so wenig auf die Festung schicken, als
man neue Judengassen mit Thoren und Fallgattern bauen oder unglückliche
Ehen dadurch zu glücklichen machen wird, daß man die unzufriedenen Eheleute
zwingt, sacramentsmäfiig beisammen zu bleiben. Dergleichen unhistorische, un¬
geheuerliche Mißgeburten mit langen Ohren und Fledermausflügeln sollte man,
wenn sie schon das Licht der Welt erblicken, geschwind und in aller Stille
begraben, nicht aber erst alle Gevattern und Basen zur Besichtigung laden.
Hier dürste man doch einmal an Gellert's Fabel von der Frau Orgon
denken.


Hauptsächlich aber ist es zu beklagen, daß sich die Regierung oder wenig¬
stens ein Theil derselben, das Kultusministerium, den Anschein gibt, als>höle bei
dem Streite der extremen, religiös-philosophischen Richtungen Partei nähme.
So ist sie in den Verdacht gekommen, daß sie dem Predigcrhülföverein Vor¬
schub leiste, der — nach Art der Gcsmdcvcrmicther — bekannt gemacht hat,
er könne die Vcnöthigtcn mit „frommen" Candidaten versorgen; daß sie
bei Verleihung von Gymnasiallehrer - und anderen Stellen vorzugsweise
„fromme" Candidaten begünstigen und so diese, meist armen jungen Leute der
Versuchung aussetzen wolle, aus Rücksicht auf ihr materielles Fortkommen zu
Heuchlern zu werden. Hoffentlich werden alle diese spukhaften Nebel und feuch¬
ten Sumpflüste vor einem kecken Windstoß und einem gnädigen Sonnenstrahl
verschwinden! ob sich nur bis dahin die öffentliche Meinung nicht ein wenig
erkältet haben wird'! —


3.
Aus Berlin.


Note: Philvsl-pyische Wunderkinder — Die Augsburger. — W. v, Humboldt und Philaritc
ClMcS.

- —--Man hat mathematische Wunderkinder, Knaben von zwölf
Jahren, welche die schwierigsten Rechnungs-Aufgaben lösen: aber philosophische
Wunderknaben hatten wir bisher noch nicht. Noch drückte sich kein Kind in
einem naiven Tagebuch, wie Kant und Hegel aus. Dieß ist es, was der


[]

Verfasser des Buches „Selbstgespräche Friedrich Wilhelm's IV. nach einer Ab¬
schrift seines Erziehers Delbrück" vergessen hat. Was die äußere miss e„
«r,vnd? des Buches betrifft, so war sie ganz geschickt und fein ausgeführt: man
hat Delbrück selbst aus dem Spiel gelassen, wodurch die Schrift das Unschickliche,
welches sie durch einen so officiellen Verfasser erhalten hätte, verlor: man hat
den Vcrlagsort nicht nur außerhalb Preußens, sondern auch außerhalb Deutsch¬
lands gewählt, in Bern, in der republikanischen Schweiz, von woher man in
der Regel Schriften ganz andrer Art zu empfangen gewohnt ist und wo die
Erscheinung einer solchen Schrift doppeltes Aussehen und doppelten Eindruck
machen muß. Was aber den Inhalt betrifft, so hat man aus Furcht, der
königlichen Feder eine kindische Idee zu unterlegen, die Sache so philosophisch
redigirt, als hätte sie ein Berliner Professor als Dissertation brauchen wollen.
Der kindliche, knabenhafte Charakter, der dem Actenstücke Glaubwürdigkeit
hätte erwerben können, ging durch jene Rücksicht verloren. Sind Stellen, wie
die) folgende, die Ausdrucksweise eines vierzehnjährigen Knaben: „Wie viel
oder wie wenig ich wissen mag, so bin ich doch mir bewußt, auf welche Weise
das Einzelne zusammenhängt und wo das Mannigfaltige der Kenntnisse, so
wie die Uebungen des Verstandes und des Gedächtnisses und des Willens seinen
Einheitspunkt finden; und die Einheit, sagt man mir, ist die wahre Gründ¬
lichkeit. Soll ich daher mein Wissen in dieser Einheit kürzlich darstellen, so
würde ich es allenfalls so fassen können: aller Verkehr zwischen Lehrenden und
Lernenden ist nur möglich durch das Denken; der Kraft zu denken bin ich mir
auch bewußt u. s. w." Ich verkeime die Absicht jener Herren nicht, welche
sich damit beschäftigen, schlagende Witzworte und tiefe Gedanken dem Monar¬
chen in den Mund zu legen. Wenn aber dieß auf ungeschickte Weise geschieht,
wen» das Absichtliche dabei durchschaut wird, dann trifft den Verfasser der
doppelte Tadel, erstens als Schriftsteller, zweitens als Politiker, der seine eigene
Sache verdirbt.^ Daß man von hieraus Nichts unterläßt, was in Deutschland
die öffentliche Meinung zu Gunsten Preußens leiten kann, das werden Sie
aus der unzähligen Menge von Eorrcspondenzartikcln, die in diesem Sinne
geschrieben sind, leicht erkennen. Auf ein kleines Beispiel will ich Sie beson¬
ders aufmerksam machen. Die Allg. Augs. Zeit, brachte stets die preußischen
Artikel unter einer eigenen Rubrik: Preußen; wie ich aber aus einer ziem¬
lich gut unterrichteten Quelle mir sagen ließ, hat man bei der Redaction dieses
Blattes Schritte gethan um die Abschaffung der besonderen Ueberschrift: und
seit dem März dieses Jahres —fast gleichzeitig mit der Erscheinung des Buches
von Wülow-Eummcrow — sind die preußischen Eorrespondenzcn der Augs-


[]

burger dem allgemeinen Deutschland als Eigenthum zugefallen. — Nicht ge¬
ringes Aussehen hat hier eine! Kritik von PhilarKte Chasles über Wilhelm
von Humboldt gemacht. Gewöhnlich klagt der deutsche Konservatismus die
Franzosen wegen ihrer republikanischen Extravaganzen an; hier ist es umge¬
kehrt. Ein französischer Kritiker tadelt einen deutschen Schriftsteller und oben¬
drein einen aristokratischen wegen seiner republikanischen Sympathien. Bei
Gelegenheit der Beurtheilung der kleinen Schriften W. von Humboldt's im
Journal des Dvbats sagte unlängst Philarvte Chiles unter Anderem: „Die
ausschließliche Bewunderung dieses gelehrten, geistreichen und gründlichen For¬
schers für Lycurgus und Solon; sein Bedauern über die Unmöglichkeit, eine
Republik nach dem Muster Sparta's, Athen's oder Rom's zu errichten, seine
Khcorie zu Gunsten des Krieges, seine klassischen Bisionen, welche die Helden
des heidnischen Alterthums mit einem Heiligenschein umgeben, erscheinen uns
als ebensoviel thörichte, unschuldige Träumereien und gelehrte Phantasiebilder,
mit denen wohl Deutschland noch seine Mußestunden ausfüllen mag, für die
aber in dem praktischen Frankreich und England alle Sympathie fehlt." —
Gutes, ehrliches Deutschland I Solche Vorwürfe sind Dir wohl noch selten ge¬
macht worden. Herr Philarc-te Chllslcs gilt in Frankreich für den Schrift¬
steller, der Deutschland am Besten kennt. Rum erfahren wir's erst, was wir
eigentlich für Wöscwichter sind. Am Ende wird Frankreich sich noch gegen
uns abschließen, damit keine gefährlichen Ideen von uns hinüberkommen und
die deutsche Propaganda die friedliebenden Franzosen nicht mit ihren Rcvolu-
rionsidecn auslecke.K>



M c y c r b e e r.

----Personen, welche sich für gut unterrichtet ausgeben, ver¬
sichern, basi Meyerbeer, als er letzthin nach Paris kam, vier Partituren in
seinem Portefeuille hatte. Davon wären zwei, der Prophet und die Afri¬
kanern,, für die große Oper bestimmt, die dritte wäre eine komische Oper
in drei Akten und die vierte endlich die unvollendet hinterlassene Weber'sehe
Oper, deren Beendigung Meyerbeer übernommen. Das wären nun freilich
für die Musikfreunde sehr angenehme und erfreuliche Nachrichten; denn das
Repertoire unsrer größeren Bühnen ist sehr schwach und seit den Hugenotten
haben wir noch keine Oper von hervorragendem Verdienste gesehen. Wenn
wir daher den obigen Gerüchten einen geringere» Glauben beimessen, als wir


[]

wollten, so geschieht dicfi blos deßhalb, weil wir, so oft Meyerbeer nach Paris
zurückkam, regelmäßig mit der Hoffnung auf die Aufführung einer neuen
Partitur getäuscht worden sind. Die Schuld davon, daß man seit mehreren
Jahren alle Vierteljahre ankündigt, Meyerbeer werde der Direction des Opern¬
hauses seine vollendete Oper überreichen, und daß diese Nachricht immer falsch
ist, liegt nicht so sehr an dem berühmten Componisten, als an seinem Arbeitö-
Portefcuille. Das hält fest, was es einmal hat, und hat bisher noch nicht
darein willigen mögen, sich von besagten Partituren zu trennen. Meyerbeer
selbst wäre gern bereit, den Propheten zur Aufführung zu bringen und er fin¬
det das Sängcrpersonal der Oper ausreichend dazu- sein Portefeuille aber ist
nicht derselben Meinung. Das erklärte zuerst, es würde seine Partitur nicht
eher herausgeben, bis man ihm an die Stelle der Dem. Falcon eine andre,
sie vollkommen ersetzende Sängern verschaffen würde. Nun das war Dank¬
barkeit von Seiten des Portefeuille für die großen Dienste, welche jene Sän¬
gerin Robert dem Teufel und den Hugenotten geleistet hatte. Als man nun
aber später die andre Forderung des Portefeuille, einen guten Baßsänger, durch
Baroilhct, dessen Talent es nicht in Abrede stellen konnte, befriedigt hatte und
es sich nun hinter der Abnahme von Duprez's Stimmmitteln versteckte, um seine
Partitur zu behalten, da gerieth es in den Bereich des Eigensinnes. Sollte
es nun endlich gelungen sein, alle diese Einwendungen besagten Portefeuilles
zu beseitige» ? Wir glauben es kaum und zwar um so weniger, als Meyerbeer
nach Schlangcnbao in's Bad gegangen ist, was er nur zu thun pflegt, wenn
er selbst mit seinem eigenen Portefeuille nicht fertig werden kann.


— W' i e n c r SP asi. —

Die famose Ludlamshöhle in Wien hat nun nach vielen vergeblichen
Versuchen, sie zu erneuern, eine Nachfolgerin erhalten. Vier und zwanzig
lustige Brüder bilden die Gesellschaft der Matschakcrer. Der beste Spaß,
mit dem sie bisher debutirten, wurde kürzlich an einem Sonntag ausgeführt.
Der Präsident der Matschakerer reiste mit der ganzen Gesellschaft nach dem
Schneeberg. Der Präsident Herr von sich für xmen Narrendoctor


aus und seine Gesellschaft für die Pensionäre eines Narrenhauscs. Es
sollen köstliche Scenen vorgekommen sein. — Eins der berühmtesten wiener
Volksfeste, der „Brigittcn-Kirtag" (Kirchtag) hat dieses Jahr zum letzten Male
Statt gefunden. Die Brigitte»-An, eine ungeheure Ebene, wo dieses Ast


[]

alljährlich gefeiert wurde «ut über Menschen herbeilockte — wird
zum Anbau einer neuen Borstabt verwendet und mit der Leopoldstadt vereinigt
werden. —


Der PiIvt,

bisher von Th. Mundt redigirt, hat an Dr. Saß einen neuen, jugendlich
strebenden Steuermann bekommen. Saß wird schwerlich mit derselben gewand¬
ten Schmiegsamkeit allen Klippen ausweichen, wie sein Vorgänger, aber hof¬
fentlich nicht scheitern. Vielleicht etwas einseitig, aber mit echt deutschem
Sinn geradaus blickend und geradaus kämpfend, wird er nirgends fehlen, wo
die Brandung der Zeit gegen Philistern und Gesinnungslosigkeit anstürmt.
Ueber den goldenen Boden der leider zum Handwerk gewordenen Journalistik
scheint er sich, einigen Aeusserungen seines Programmes nach, keine falschen
Hoffnungen zu machen. Möge er nicht den Muth verlieren!


Eduard Maria Octtingcr,

ein alter journalistischer Condotticre, gibt vom ersten October an in Leipzig
einen „Charivari" heraus. Wir hoffen, daß er die noch nicht verrosteten Waf¬
fen seines Witzes und Verstandes für die ernsthaftem Interessen führen wird,
die jetzt die Zeit bewegen; den Sänger Aschicsche, dem er in einem Inserat der
Leipziger Allgemeinen Zeitung bereits die Fehde angesagt hat, bitten wir ihn
doch in Frieden ziehen zu lassen.


Gco r g H c r w c g h.

Unlängst lasen wir in öffentlichen Blättern, der gefeierte Dichter Herwegh
werde die Redaction des „Deutschen Boten aus der Schweiz" übernehmen;
derselbe habe bereits in seinen Kritiken in der „BolkShalle" entschiedenes Ta¬
lent zur Journalistik gezeigt. Wir müssen dies um so eher glauben, als Her-.
wcgh selbst in seinen „Gedichten" viel journalistisches Talent bewährt hat.'
Zwischen der Journalistik und unserer modernen politischen Poesie läßt sich
überhaupt die rechte Grenzlinie nicht mehr angeben.


[]

Die Industrie und das Jahrhundert.
Skizzen, Andeutungen, Wünsche.



Note: Werth der Arbeit in der heutigen Gesellschaft. — Trauriger Zustand der In¬
dustrie im Alterthume. — Sociale Ursachen dieses Zustandes. — Walzen-
industric. — Die Civilisation der Menschheit und ihre Zukunft. — Das
Mittelalter, seine Jndustrielage und deren Ursachen. — Zunft und Ge-
tvcrke. — Wissenschaft und Lebenspraris. — Die neuere und neueste Zeit.
— Gemcrbcfreiheit und ihre Nachtheile, nebst Vorschlag eines Heilmittels.
— Maschinen und ihre Bordseite. — Eine Ursache mancher industriellen
Verlegenheiten. — Erfindungen und ihre Wichtigkeit für die Völker. —
Verhältniß der Patente zu den Erfindungen. — Wünsche für Abstellung
hierin herrschender Uebelstände. — Einführungsparcntc.

Is'ir leben mitten unter den Annehmlichkeiten der Bildung
wie der Fisch im Wasser, ohne es gewahr zu werden, und als wäre
dies immer so gewesen und müßte immer so sein. — Man denkt
nicht genug daran, daß Alles, was unser Dasein so behaglich macht,
nur in den kurzen Friedenstagen entstanden ist, die zwischen blutigen
Schlachten uns ein Aufathmen erlaubten. Man scheint ganz aus
dem Auge zu verlieren, daß ein neuer dreißigjähriger Krieg hinrei¬
chen würde, um diese Pyramide von Kenntnissen, aus die wir so
stolz sind, umzustürzen.


Jeder Reichthum ist das Product irgend einer Arbeit. Es
muß also, dieser Annahme zufolge, die erste Sorge einer guten Re¬
gierung dahin gehen, die Arbeit zu Ehren zu bringen, sie durch


20
[]

Auszeichnungen zu belohnen und zu ermuthigen. Denn die Arbeit
ist die einzige rechtmäßige Quelle der Achtung, der Ehren und des
Reichthums, wie sie auch die Quelle aller gesellschaftlichen Tugen¬
den ist.


Daß man diese Grundwahrheiten vergessen hatte, dadurch ist
der Sturz aller der Staaten vorbereitet und herbeigeführt worden,
in denen sich die Arbeit bei den höheren Klassen von einer Art
Bann und Verachtung getroffen fand, weil man sie den Heloten,
den Sclaven, den niedrigsten Klassen der Gesellschaft überlassen
hatte.


Glücklicherweise fängt dies abgeschmackte Vorurtheil in dein
civilisirten Europa immer mehr zu schwinden an. Das erste Bei¬
spiel hat hierin die englische Aristokratie gegeben und der französische
Adel ist demselben bald nachgefolgt. Ja selbst der deutsche Adel
glaubt nicht mehr, seiner Würde etwas zu vergeben, wenn er sich
Sem Handel und der Industrie ergiebt.


Diese Revolution oder vielmehr diese Rückkehr zur Vernunft ist
das schönste Resultat der Abschaffung der Sclaverei, des Leibetgen-
thums, der Frohnen u. s. w.; denn diese völlige Unterdrückung eines
Theils der menschlichen Gesellschaft hat zu allen Zeiten den Umsturz
der Reiche herbeigeführt. Erst von unserer Epoche an kann man
die Hoffnung hegen, daß in Europa ein dauerhaft blühender Zustand
der Gesellschaft sich entwickeln werde, seitdem man sich nämlich fest
entschlossen hat, als Grundlage der letzteren eine gute Organisation
der in ihre Ehren und Rechte wieder eingesetzten Arbeit, des Han
dets und der Industrie anzunehmen.


Die Arbeit hat offenbar am meisten dazu beigetragen, den
Menschen moralisch zu machen; sie hat Wunderwerke erzeugt, um
Vertrauen in die Wunder einzuflößen, die sie noch zu thun verspricht,
von nun an bis an's Ende der Jahrhunderte, so lange man sie
gegen die Angriffe der Wilden der Civilisation beschützt und vor
jenem Geschlecht von t)-a»>>to8«»,c; ^avsls, die selbst nichts thun und
auch Andere an ihrer Thätigkeit verhindern wollen. Wenn man ei¬
nen Blick auf die lange Kindheit der Industrie wirft, die, so zu
sagen, in einem zusammengeschrumpften, verkrüppelten Zustande blieb,
seit dem Töpfer Dädalus bis zu dem Schmelzarbeiter Bernhard
von Palissy, und wenn man ihr langsames Vorwärtsschreiten seit


[]

Bernhard von Palissy bis zu der Epoche, der unsere Väter ange¬
hören, mit dem Aufschwünge vergleicht, den sie seit nur dreißig Jah¬
ren genommen: — so ist man zu der Hoffnung berechtigt, daß, wenn
ihr Nichts hemmend in den Weg tritt, diese neueKönigin der'Welt
bald ihr Haupt bis hoch empor an die Sterne tragen wird.


In der That auch, was war die Industrie bei den Griechen,
die ihr nicht einmal einen Namen zu geben hatten? Nichts Unförm¬
licheres, als die Fingerhüte, die Nähnadeln, die Zirkel, die aus jenen
Zeiten uns überkommen sind ; ihre Stecknadeln selbst waren nur mit
der Feile gearbeitete Nagel; ihre Kämme waren eine Art Striegel.
Ja sie konnten nicht einmal ein Pferd beschlagen. Alle Hülfsquellen
ihrer Mechanik beschränkten sich aus das, was man zur Erbauung
von Catapulten bedürfte, auf Hebel der einfachsten Art und spater
auf die Archimedische Schraube. Ihre großen Tempel ballten sie
lediglich durch Armeskraft: Menschen wurden angewandt,
um einen einzigen Stein in Balbek von der Stelle zu bringen.
Welch ein schlechter Gebrauch der Kraft!


Hunderttausend Menschen arbeiteten dreißig Jahre lang an der
Pyramide deS Cheops, die Steine wurden auf ungeheure Ervdämme
geschleppt, die vor den Gebäuden errichtet waren und die nach Ma߬
stab, daß diese in die Höhe stiegen, gleichfalls erhöht wurden. Zwölf
tausend jüdische Gefangene wurden drei Jahre lang zur Erbauung
des Coliseums in Rom verwandt. Und, wie uns Strabo erzählt,
wurden zur Ausbeutung der spanischen Bergwerke vierzigtausend
Menschen gebraucht.


Die Alten kannten weder Wind- noch Wassermühlen: Theo-
phrast und Plautus haben ja auf Handmühlen das Korn dem
Bäcker gemalen. Für Maße und Gewichte gab,es keine bestimmte,
zur Regel dienende Einheit, kein Gleichmaß: alle ägyptischen Ellbo¬
genlängen und alle römischen Fuße waren unter einander verschie¬
den. Die Zeit maß man nach den unsichern Sonnenuhren, erst
später nach den nur um Weniges besseren Wasseruhren.


Man kann also mit Recht behaupte», daß die auf die Theilung
der Arbeit begründete Industrie, die Industrie, deren Bestreben es
ist, den behaglichen Bequemlichkeiten der Reichen den Zutritt selbst
in die demüthige Hütte der Armen möglich zu machen, kurz die
Industrie in jetziger Bedeutung des Wortes nie bei den Alten


2V»
[]

bestanden hat. Die natürliche Ursache hiervon lag in der Zusammen¬
setzung der antiken Gesellschaft, die nur aus Herren und Sclaven bestand,
aus der Industrie gänzlich sern stehenden Herren, welche ausnahms¬
weise!,, ausgezeichneten Producten gewerblich künstlerischer Bestrebun¬
gen nach Belieben eine Belohnung geben konnten und aus arbeiten¬
den Sclaven, die aber Nichts besaßen, und deren Arbeit das Eigen¬
thum ihrer Herren war.


Im Orient, dem stabilen Vaterlande, aus dem alle Gesellschafts¬
und Staatseinrichtungen des Alterthums sich heraus entwickelte»,
sehen wir noch heutigen Tages ein lebendiges Probestück und Bei¬
spiel von dieser Ordnung der Dinge. Es fehlt daselbst wahrlich
weder an bewunderungswürdigen Goldarbeitern, noch an geschickten
Töpfern, an unnachahmlichen Elfenbeinarbcitern, an kostbaren Fili¬
granverfertigern, an trefflichen Zeugwcbern; aber man sieht keine
jener großen gewerblichen Einrichtungen daselbst, wo, so zu sagen,
jene unzählbaren Facsimiles verfertigt werden, die, im Ueberfluß aus
einem einzigen Grundtypus sich herausbildend, immer billiger im
Preise werden, je größer ihre Zahl wird.


Den Alten, gleich den heutigen Orientalen, war jener Haupt¬
grundsatz der heutigen Nationalökonomen unbekannt: kleiner Ge¬
winn verschafft großen Vortheil. Die Alten verstanden
wohl zu produciren, aber nicht zu reproduciren; sie kannten nur die
Gewaltthätigkeit für den eigenen, engen häuslichen Bedarf, die da¬
her stets eine Thätigkeit einzelner künstlerisch begabter Individuen
blieb, welche ihre Talente und Fähigkeiten daraus verwandten, Ge¬
genstände zum. Gebrauch der reichen Besteller zu machen oder zu
verzieren. Unsere Industrie dagegen hat den Zweck, den Ankauf
erst der unumgänglich nothwendigen, dann der nützlichen und endlich
auch der angenehmen Dinge möglich zu machen.


Unsre Mittelklasse, unsere so zahlreiche Bürgerschaft, sie, von
der im Alterthum kaum in der Klasse der freigelassenen Sclaven ein
schwacher Keim bestand, sie ist es, welche unsere Walzenindustrie ge-
sckMffcn hat und ihr noch heutzutage sowohl Nahrung als Leitung
angedeihen läßt.


Ich habe mich des vielleicht etwas sonderbar erscheinenden Aus-
drucks „Walzenindustrie" bedient; und zwar deshalb, weil die Walze
das Kriterium aller modernen GewerbsthAtigkeit ist und weil


[]

jedes mechanische Verfahren, jede Fabrikation, die nicht die fortwäh¬
rend ununterbrochene Thätigkeit besitzt, noch im Zustande deS em¬
bryonischen Werdens ist. Die Spinnerei, die Buchdruckerei, die El.
senfabrikativn, die Gvldarbeiterkunst, die Hydraulik, die Papicrmüb
im, die Tuchweberei, die Sägemühlen und tausend andere Gewerbe
sind schon dahin gelangt, die Walze anzuwenden und die Anstren¬
gungen aller erfinderischen Kopfe gehen stets dahin, auch andere
gewerbliche Thätigkeiten durch Einführung der Walze zu vervollkommn
nen und auf die Höhe unserer Zeit zu erheben.


Die Griechen waren in Allem, was Formenschönheit betraf, zu
einer außerordentlichen Höhe gelangt, die seitdem vielleicht nie über¬
troffen, ja kaum erreicht worden ist: ihre Töpferscheibe dient der
unsrigen noch heute zum Muster, und Wedgwvod, der berühmte eng¬
lische Porzellanfabrikant, hat die schönsten etruskischen und korinthi--
schen Vasen, behufs der Nachbildung, zu hohen Preisen angekauft,
man kann im wörtlichen Sinne sagen, sie mit Gold aufgewogen.


Megara, eine kleine Stadt ohne Landgebiet, blühte durch seine
Stoffe, die jedoch den ägyptischen Erzeugnissen nachstanden. Letztere
waren so fein, daß man auf den Wänden der Tempel und Cryptcn
Aegyptens — wenigstens nach den Zeichnungen, die Champollion
und Belzoni davon entworfen haben — Priester und Fürsten mit
leinenen Gewändern bekleidet sieht, durch welche das Fleisch hindurch
schimmert. Wahrscheinlich war dies der ventus dentitis, jener luftige
Stoff, von dem Juvenal spricht.


Die Bijouterie war ebenfalls bei den Griechen zu hoher Voll¬
kommenheit gediehen, und man vermag kaum zu begreifen, wie ihre
Goldarbeiter mit ihren erwiesener Maßen so unvollkommenen und
rohen Werkzeugen so schöne Hals- und Armbänder in vollkommen
biegsamer Schuppenarbeit liefern und so herrliche Siegel und Steine
schneiden konnten.


Wir haben absichtlich hier einige jener Dinge angeführt, in
denen die Griechen uns fast gleich standen, um nicht von eingefleischter
Alterthumsfreunden den Vorwurf zu hören, wir sprächen so verächt¬
lich von antiker Industrie nur aus Unkenntniß. Aber wir bleiben
darum nichts desto weniger bet unserer obigen Behauptung, daß
diese Arbeiten nur einer individuellen Ausdauer und Geschicklichkeit
verdankt wurden, wie heutzutage noch Schweizer Hirten und andere


[]

Holzarbeiter in manchen Gegenden Deutschlands die schönsten Holzsachen,
wahre unnachahmliche Meisterstücke, mit einem elenden Federmesser schni¬
tzen. Aber, führen wir ferner zum Beleg unserer Meinung an, die
Alten hatten keine eigentlichen Tuchfabriken; was sie an Wollenzeug
brauchten, das spannen ihre Frauen selbst, wie dies vor anderthalbhun¬
dert Jahren die alten Coloniftenfrauen in Nordamerika thaten, oder
wie die Frauen in Madagascar und Japan noch jetzt ihren Bedarf
an Stoffen selbst spinnen, weben und färben. So rühmte sich Ale-
rander gegen Sisygambis, die Mutter des Darius, daß die Gewän¬
der, die er trage, von den königlichen Händen seiner eigenen Mutter
Olympias und seiner Schwestern Thessalonice und Laodicca gesponnen
seien. So lautete die ehrenvollste Grabschrift so mancher hohen, pa-
trtzischen Matronen Roms: Lu,8tü, vixit, 1a n a in l'van, boni in-nihil.


Aber war nicht diese Thätigkeit der Frauen und der Sclaven,
die man als Arbeiter verwandte, gleich den Künsten eines Wilden,
blos das Resultat der Talente eines Einzelnen? Nur als einzelne
Künstler hatten die Arbeiter gewisser Städte des Alterthums einen
Ruf durch die Vvrtteffüchkeit ihrer Arbeiten, wie z. B. die Taren-
tiner die besten Färber waren nach den Phöniziern und Babyloniern.
So war auch ganz Unteritalien berühmt wegen seiner reichen und
kostbaren Meubles von Bronce, so wie wegen seiner gold- und
silbergestickten Paillen; aber man hatte weder einfache, gute Stühle,
noch warme Kleider zum täglichen Gebrauch für's Volk. So haben
noch heute die Chan'S, Emire und Scheiks der Araber und anderer
uncultivirten Völkerschaften deö Orients schöne, wunderbar gestickte
Pferdesättel, damaseirte Waffen, prächtig ciselirte, reiche Scheiden
und glänzende Uniformen: aber alle ihre Untergebenen gehen zer¬
lumpt und halb nackt einher.


So waren es die Belgier, welche den Römern zuerst jene dich¬
ten und warmen Wollenstoffe lieferten, bei denen sich diese so wohl
befanden, daß der Epigrammatiker Martial, der ein Gewand daraus
zum Geschenk erhalten, offen erklärte, er werde fortan den Winter
nicht mehr ertragen können, wenn er nicht ein zweites derartiges
Gewand erhalte. So gelangte später Friesland zu der Berühmtheit
für diese Stosse, die es heute noch besitzt.


Kurz, während heutzutage das Prinzip der Vergesellschaftung
größerer Kapitalien die Errichtung und Durchführung der kostspielig-


[]

sten Fabriken möglich macht, blieb den Alten Alles unzugänglich
wozu irgend eine bedeutende Kraft oder irgend ein complicirteren
Werkzeug nöthig war. Nur wozu keine kostspieligen Maschinen und
keine accurat gearbeiteten Werkzeuge erforderlich waren, nur hierin
hatten sie es zur Vollkommenheit gebracht. So haben sie eigentlich
auch nie irgend eine schon geprägte Münze gehabt.


Dagegen müssen wir aber auch eingestehen, daß, eine je größere
Ausdehnung das Manufactur- und Fabrikwesen in Europa erhält,
desto mehr auch — und dies ist unausbleiblich nothwendig — alle
individuelle Industrie verschwindet und verkümmert. Der isolirto
Mensch, und sei er auch noch so genial, wird bei uns von den gro¬
ßen Capitalien und den durch sie erzeugten Kräften erdrückt, die dem
gewöhnlichen Geschäftsbetriebe zu Gebote stehen: er nimmt sich da¬
her auch nicht die Mühe zu denken oder seine Hände zu einer di¬
rekten Production zu üben. Was würde auch in der That der ge¬
schickteste Schreiber heute gewinnen, wenn er einen Wettkampf mir
der Drucker- oder Lithographenklasse eingehen sollte? Oder was ver¬
mag selbst der Schnellläufer Mensen Ernst gegen den Dampf? Und
ist nicht der englische Werkstuhl der Ruin der besten flamändischen
Spinnerin? So mögen auch z. B. die geringsten chinesischen Arbeiter
handgeschickter fein, oder die des Alterthums es gewesen sein, als
unsere besten in Europa ; aber sie waren und sind nichts gegen die .
kleinste unserer Maschinen.



Wenn die Alten in Bezug auf Philosophie, Literatur, Archi-
tectur und Bildhauerkunst — denn ihre Malerei kenne» wir ja nur
aus Berichten — unsere Lehrer und Meister waren, so haben wir
einerseits in Bezug auf gewerbliche und gemeinnützige Thätigkeit
und Kunst sie weit überflügelt und fern hinter uns gelassen, wäh¬
rend wir andrerseits in Bezug auf schöne Künste uns mis gelehrige
Schüler erwiesen haben, und so nah als möglich, wenn auch nicht
an das unerreichbare Ideal des Vollkvmmnen, doch an unsere llassi.
sehen Meister herangetreten sind.


So lange dieses Letztere nicht der Fall gewesen war, konnte
man die Meinung ausstellen, es drehe das Leben der Menschheit sich


[]

im Kreise und es habe die Bildung, gleich den Bahnen der^ Plane¬
ten, eine Erdferne und eine Erdnähe und es erreiche ein jedes Volk,
wenn auch ein jedes in einer andern Weise und auf anderem Wege,
den Kulminationspunkt dieser Bahn, von da ab denn das Sinken
und Herabsteigen unvermeidlich sei. Jetzt aber, da wir des Alter¬
thums Höhe erreicht haben, in dem, worin es groß und erhaben
war und doch daneben auch auf anderen Bahnen einem andern ho¬
hen Ziele uns nähern, jetzt mag man wohl eher sagen, daß die
Bahn, welche der Menschengeist in seiner geschichtlichen Entfaltung
beschreibt, einer Spirale gleicht, die, obgleich scheinbar stets in den¬
selben Schwingungen sich bewegend, doch fortwährend sich erweitert
und von dem Punkte, von dem sie ausgelaufen, sich immer mehr
entfernt.


So oft auch bisher die Menschheit gesunken oder von einer
Höhe herabgestürzt zu sein scheint, so waren dies doch immer nur
die ersten Versuche eines Kindes, das, während es gehen lernt, sällt
und sich wieder aufrichtet und noch oftmals fällt, bis es endlich fest
stehen und gehen gelernt hat. Jetzt nun ist auch die Menschheit so
weit: sie ist kein Kind mehr, sie hat ihre Windeln und Gängelbande
abgeschüttelt, sie steht und geht allein; aber jung ist sie noch. Denn
weil der Geist der Menschheit kein anderer ist als der belebende
Hauch der Gottheit, der in der Geschichte sich manifestirt, darum ist
der Fortschritt ein ewiger und darum sind Jahre für ihn wie Tage
und Jahrhunderte wie Monate.


So sind also alle Arbeiten der Aegyptier, der Griechen, der
Römer, überhaupt all unserer fernern und nähern Vergangenheit
nur Anhäufungen von Kräften gewesen, um den großen Schwung
der Bildung hervorzubringen, in dem die Welt sich jetzt dreht und
den Menschenhand nur unterhalten, befördern und beschleunigen
kann, aber nicht frevlerisch zu hemmen vermag; denn wer es wagen
will, mit verwegener Hand dem Rade in die Speichen zu greifen
oder es zurückzudrehen, der würde zermalmt und zerbrochen, gleich einem
Strohhalm, der unter die Fugen eines Walzwerkes gerathen wäre.


Der Gang und Fortschritt der Civilisation steht im geraden
Verhältnisse zu der Leichtigkeit der Mittheilungswege unter den
Menschen. Einst verbreiteten sich Kenntnisse nur langsam und un¬
sicher auf den wenig betretenen, mühsam sich windenden Pfaden der


[]

mündlichen Ueberlieferung, so wie die Waaren auf unwegsamen
Straßen durch Wälder und über Felsen, durch Wüsten und Steppen
auf dem Rücken des Menschen, höchstens des Kameeles getragen
wurden. Jetzt verbreiten die Druckerpressen und die Eisenbahnen,
Dampfschiffe und Telegraphen die Kenntnisse der Menschen eben so
rasch und eben so leicht, wie die Waaren mit Vogelflügels Schnellig¬
keit auf eisernen Wegen und im dampfgetriebenen Kiel durch Land
und über Strom und Meer fliegen.


Der hartnäckigste Rubner des Alterthums muß es doch wohl
eingestehen, daß Alles, was die Alten auf den Gipfelpunkten ihres
Ruhmes vollbracht, auch wir gethan, und daß, wenn wirklich der
Fortschritt einen Zenithpunkt hätte, wir ihn wohl schon erreicht haben
müßten. Aber wir haben noch mehr gethan, als nur den Alten
in Maler- und Bildhauer- und Dichtkunst, in Philosophie und in
Architectur uns gleichzustellen, und jeden Tag noch schreiten wir
weiter vorwärts.


Man denke sich einen Augenblick, um das zu begreisen, wie
weit wir den Alten vorgeschritten sind, es fehlte oder ginge
plötzlich verloren unsrem jetzigen Leben nur eins oder das an¬
dere der folgenden Elemente, welche der alten Welt unbekannt
waren; das Gefühl der fast unerträglichen Armuth eines solchen
gesellschaftlichen Zustandes würde den besten Beweis für un¬
sere Behauptung geben. Was wären wir also ohne Entdeckung
von Amerika und ohne Erfindung der Buchdruckerkunst, ohne Pul¬
ver und ohne Dampf, ohne Eisenbahnen und ohne Gasbeleuchtung,
ohne Pofteinrichtung und ohne Compaß, ohne Chemie und ohne
Anatomie, ohne Decimalsystem, Algebra und angewandte Geometrie,
ohne Spinnmaschinen und ohne Schleusensystem,. ohne Chirurgie
und ohne Wechselbriefe, ohne Mikroskop und ohne Teleskop, ohne
Spiegelglas und ohne Steinkohlen und ohne tausend andere Dinge,
die wir in und auf der Erde, seit der Entdeckung ihrer runden Ge¬
stalt und ihrer Bewegung, gefunden und erfunden haben? Wollte
mancher von uns wohl ohne diese Dinge noch fortleben? Nun denke
man sich aber dagegen, welche Resultate aus der Combination dieser
Elemente, die erst das Alphabet unserer Kenntnisse, die bloßen Grö¬
ßen einer unermeßlichen Gleichung sind, entstehen können!


So lange die Civilisation aus ein Fleckchen der Erde oder in


[]

eine staubige Bibliothek gebannt war, so lange sie das Eigenthum
einer Nation oder gar nur weniger über den Erdball hin Zerstreu¬
ter war, so lange sie nicht die Pulsader im Leben der gesammten
Menschheit war, so lange konnte man befürchten und war es auch
wirklich nicht schwer, daß eine hereinbrechende Barbarenhorde sie
überfiel und erstickte und in lange, dunkle Nacht warf. So ist die
erste große Hälfte des Mittelalters über uns gekommen und hat die
Civilisation sast begraben, bis der waltende Geist der Gottheit, wie
germanische Barbaren der antiken Welt Bildung zerstört hatten, so
durch asiatische Barbaren Constantinopel fallen ließ, auf daß die
griechischen Flüchtlinge Wecker und Lichtbringer, oder wenigstens
Schatzgräber würden, und daß gerade zu der Zeit, wo zum Heil
der Welt, zur Sühnung der Schuld ihrer Väter, von zweien Deut¬
schen die doppelte schwarze Kunst der Buchdruckerei und des Pul¬
vers erfunden worden, diese zauberischen Mittel, welche des Geistes
und des Leibes Faustrecht auf immer brachen.


So war eS einst, so aber kann es nicht mehr werden. Denn
wenn heute eine Horde von Barbaren in den fernen Steppen Asiens
oder Afrikas oder Indiens sich regte, zu einem Einfalle in das Be¬
reich der Cultur, gleich denen der Hunnen und Mongolen und Tar¬
taren, so wüßte man es in London und in Petersburg und in Pa¬
ris, noch ehe sie drei Tagereisen zurückgelegt hätten. Ja, wenn
selbst durch irgend eine unerwartete, unvorherzusehende Wendung der
Dinge ein solcher Einfall, eine zweite Völkerwanderung Statt fände
und die ganze Civilisation Europas mit Feuer und Schwert ver¬
nichtet würde, so hätte man vielleicht Nichts verloren, denn dann
fände man Alles in Amerika und in Australien wieder. So können
wir denn gesichert sein über das Loos der Menschenbildung, sie
wird nimmer wieder untergehen.



So wie während der ersten zwölf- bis vierzehnhundert Jahre
des Christenthums Künste und Wissenschaften durch den Krieg und
die allgemeine Anarchie, an der fast ganz Europa mehr oder minder
danicderkranktc, erstickt wurde und erst zu der oben berührten Epoche,
der sogenannten Zeit der Ueuaisauco, um mit einem französischen


[]

Worte eine weitschweifige deutsche Phrase zu ersetzen — wieder le¬
bendig aufblühten, eben so lag auch die gewerbliche Thätigkeit in
schwerem, todtenähnlichem Schlummer, insofern wir sie nämlich von
dem heutigen, oben angegebenen Standpunkte der Theilung der Ar¬
beit und der Billigkeit und allgemeinen Zugänglichkeit der Producte
betrachten. Abdelkader, der wilde Emir der algierschen Wüsten, ist
behaglicher gekleidet und kennt mehr von des Lebens Bequemlichkeiten,
als Karl der Große, der mächtige Kaiser; tauchte doch dieser, als
er seinen Capitularien ein Jnsiegel ausdrücken wollte, zu diesem
Zwecke seine Hand in die Dinte und legte sie dann auf's Perga¬
ment ! Volk und Priester trugen damals Kleidungsstücke aus Thier¬
häuten, wie heut etwa kaum noch Baschkiren und Kirgisen; an Festta¬
gen warf man über diese Felle eine Hülle von Leinwand. Wenn man einer
Kirche zum Gebrauch sür den Messe lesenden Priester einPaar Schuhe
schenkte, so war dies eine eben so fromme, als beträchtliche Gabe.


Noch später im Mittelalter war der Gebrauch von Weißbrod,
von Schlachtfleisch, von Lichtern und von Leibwäsche etwas sehr Sel¬
tenes. Acht oder zehn Personen schliefen in einem Bette, vornehme
Leute machten ihre Reisen in einem von Ochsen gezogenen Karren.
In einem strengen Winter sah man hohe Damen in Paris, die zum
Kirchgange sich mit strohbelegten, oben eingeschlagenen Tonnen
schleppen ließen. Wahrlich die Chinesen mit ihren elastischen Trag¬
sesseln und ihren behaglich eingerichteten Wohnungen waren damals
um ein gut Theil weiter als wir. Fragen wir uns nun, worin die
Ursache dieser traurigen Zustände lag, so finden wir hier zunächst
freilich wieder die Schuld in der inneren und äußeren Gestaltung
des Staats und der Gesellschaft zu jener Zeit. An die Stelle des
wenigstens in seinem Ursprünge familienartigen römischen Sclaven-
thums war das feudale Leibeigenthum getreten, ein Tausch von Namen,
während die Sache dieselbe geblieben, also die alten, oben auseinander¬
gelegten Hindernisse für den Aufschwung gewerblicher Thätigkeit kei¬
neswegs beseitigt, im Gegentheil durch die rohere, sinnlich und gei¬
stig verwilderte Lebensweise der wilden Ritter nicht einmal so reiche
Veranlassungen zur Ausübung von Geschicklichkeit und künstlerischem
Talent Einzelner geboten wurden. Als aber später trotz der rauhen
Kriegsstürme von allen Seiten her das Städtewesen in Europa sich
zu bilden begann, und also die Elemente einer auf freien Erwerb


[]

gegründeten industriellen Thätigkeit sich zu gestalten anfingen, als
durch die Politik der Könige die Städte den Rittern gegenüber ge¬
hoben und geschirmt wurden, und man nun glauben durste, es werde
hinter den wohnlichen festen Mauern sich ein reges, geistiges und
gewerbliches Leben aufschwingen, — da ward man freilich eine Zeit
lang, besonders in den Ländern deutscher Zunge, nicht getäuscht.
Die Reichsstädte eiferten der Lombardei rüstig nach; unter Heinrich I V.
schwang sich Frankreich in edlem Wettstreite mit den benachbarten
Niederlanden kräftig auf. Aber die bald immer mehr um sich
greifenden religiösen Wirren zernichteten den jungen Flor allzurasch
wieder. Als nach langen blutigen Kriegen der Friede wieder seine
Segnungen über Europa ausbreitete, da heilten freilich auch diese
Wunder mehr oder minder rasch. Colbert z. B. hob Frankreich,
dessen Industrie freilich durch die wahnsinnige, frömmelnde Rechts¬
verletzung -Louis XIV., wodurch die Protestanten aus Frankreich
vertrieben wurden, einen doppelt harten Schlag erhielt im eigenen
Verlust und im Gewinn der die Vertriebenen bereitwillig aufnehmen¬
den fremden Strafen. Außerdem aber krankte Frankreichs Industrie
mit der aller anderen Staaten an einem gemeinsamen Uebel. Der
Geist der Zeit, der sich in einem starren Formelwesen gefiel, das in
den Statuten der Gewerke und Zünfte zur trockensten, mumlenarti-
gen Dürre herabsank, hemmte jeden Ausschwung, jeden Fortschritt.


Wir wollen das Gute der Korporationen durchaus nicht ver¬
kennen; sie leisteten viel Nützliches in Bezug auf die Organisation
der Arbeit; aber ihre Forderungen waren, und das meist aus klein¬
lichen, selbstischen Gründen, die in beschränkter Engsichtigkeit oft ihren
eigenen Vortheil verkannten, so übertrieben, daß sie mehr Schaden
anstifteten, als sie zu nützen vermocht hatten. ES war nämlich
dem Erfinder eines neuen Verfahrens rein unmöglich, eine Nieder^
lassung sich zu gründen, um von seiner Erfindung einen Ge¬
brauch zu machen; denn er mußte nach den bestehenden Gesetzen sich
in alle Gewerke ausnehmen lassen, mit denen seine Erfindung auch
nur durch irgend einen Punkt zusammenhing. Diese Aufnahmen
aber waren etwas so Kostspieliges, daß die Arbeit ein wahres
Regal geworden war. Dadurch aber wurden alle intelligenteren
Köpfe abgeschreckt, sich gewerklicher Thätigkeit zu widmen.


Zu diesem Allen kam nun noch, daß Praxis und Wissenschaft,


[]

diese beiden Factoren eines wahren, fortschreitenden industriellen
Lebens getrennt waren: die Chemie stand noch auf schwachem Fuße,
die Physik und Mathematik waren in geheimnißvollen, aristokratischen,
transscendentalen Formeln, in X. und V. befangen, so daß sie dem Laien
unzugänglich waren, während die Priester der Wissenschaft selbst ihrer
Würde zu vergeben glaubten, wenn sie sich zur Praxis herabließen.



DaS Alles hat sich nun freilich in neuester Zeit gar sehr ge¬
ändert. Durch ein Decret der constituirenden Natioimlversammluna.
vom 17. Februar 1791 wurden in Frankreich zuerst die Zünfte und
Gewerke mit einem Schlage aufgehoben und statt deren eine Ge¬
werbe oder Patentsteuer eingeführt. Alle Kaufleute, alle wahren
Industriellen nahmen diese Verbesserung mit Dankbarkeit und Freude
auf und erst von diesem Tage an, kann man sagen, enstirte die
Möglichkeit, von seiner Arbeit zu leben. In Deutschland folgte zu¬
nächst Preußen, dann fast alle andren Staaten nach. Selbst in
einigen, durch Princip stabilen Staaten, wie Oesterreich u. a. hat
man neben den Zünften Institutionen eingeführt, welche, von diesen
unabhängig, einer freieren Gewerbthätigkeit Spielraum eröffnen.
Der hohe, gewaltige Aufschwung aber, den alle industriellen Bewe¬
gungen seit etwa fünfzig Jahren gewonnen haben, ist nicht blos diesem
letzteren Umstände zuzuschreiben, sondern auch dem andern, eben so
wichtigen, daß die Wissenschaften, Chemie, Physik, Statik, Hydraulik,
Mechanik u. a. theils im eigenen Kreise sich bedeutend hoben, theils
aber — und das war die Hauptsache ^- von ihrer transscenden¬
talen, rein theoretischen Höhe herabstiegen zur praktischen Anwendung.
Dazu kamen nun noch die Alles durch und durch verändernde Er¬
findung vom Gebrauche des Dampfes durch Watt, die bedeutenden
Maschinenverbcsserungen von Jacquard, die Erkenntniß von der
hohen Wichtigkeit der Steinkohle, von der Berzelius sagte, sie
allein sei die Civilisation." — Dies und tausend Anderes, was
besonders durch die großen Chemiker Frankreichs, Monge, Verthollet,
Fvundoy, Payen, Thenard, Dumas und wie sie alle heißen, so wie
durch Berzelius, Liebig, Trommelsdorf, Mitscherlich u. a. in Deutsch¬
land und Alles endlich, waS durch die an Mitteln und Geist so
reichen Chemiker und Mechaniker in England erfunden und entdeckt
wurde, trug dazu bei, nicht allein der Industrie eine ganz neue Form


[]

und Gestaltung zu geben, sondern auch Keime einer ewig neuen
Zukunft, voll der reichsten Hoffnungen, in sie hineinzulegen, indem
durch diese Erfindungen die Industriellen selbst zur Wissenschaft her¬
angebracht wurden.


Hier nun müssen wir aber uns über zwei Mißstände aussprechen,
welche durch diesen neuen Zustand der Dinge unvermeidlich wurden
und denen Heilmittel zu suchen eine große sociale Aufgabe unsrer
Zeit geworden ist. Eine unausbleibliche Folge der unbedingten
Gewerbefreiheit nämlich war natürlich der, daß der erste Beste, der
etwas Geld hatte, nach einem Gewerbe, d. h. blos nach einem
Patent dafür griff, und einen Laden errichtete, worin er blos die Pro-
ducte von untergeordneten Arbeitern ausstellte, während er selbst sich
zwar für einen vollkommnen Meister des Faches ausgab, oft aber
es entweder ganz und gar nicht, oder höchstens auch nur stümper-
und pfuscherhaft zu betreiben verstand. So ward denn natürlich
auch das Publikum unaufhörlich das Schlachtopfer von unwissenden,
mit Patent versehenen Charlatanen, ohne daß man, wie sonst, zu
Zunftmeistern und Werkverständigen seine Zuflucht nehmen konnte.
Die Gerichtshöfe aber kann man hier wegen der vielen, langwie¬
rigen und kostspieligen Förmlichkeiten, die eine Berufung vor sie
herbeiführt, nicht dazu brauchen, das Unrecht wieder gut zu machen:
im Gegentheil zieht ein ruhiger Bürger es vor, den Schaden, den
ein solcher gewerblicher Diebstahl ihm zufügte, geduldig zu ertragen,
da er, um die gerechte Bestrafung deö Diebes zu erlangen, mit einer
Masse viel verdrießlicherer Sachen sich abgeben müßte. Dadurch
aber wird dieses gewerbverderbende Gesinde! in seinem Unfuge nur
noch mehr bestärkt.


„Aber wenn Ihr nun alle Welt werdet betrogen haben,"—sagte
Schreiber dieser Zeilen einmal zu einem solchen, als Verkäufer und
Verfertiger industrieller Produkte etablirten Gauner, — „da wird ja
Niemand mehr mit Euch etwas wollen zu thun haben, und alle
Eure kostspielige Einrichtung wird Euch nichts mehr einbringen, da
Ihr Eurer Kunden sämmtlich werdet verlustig worden sein?" —
Dieser aber erwiederte uns ohne die geringste Aufregung: „Wenn
ich werde alle Welt betrogen haben, dann säbelnd mein Schäfchen
in'ö Trockne gebracht und was liegt mir dann an meinen Kunden?
Zu meiner Einrichtung finde ich immer noch Käufer."


[]

DaS Tramigste ist, daß dieses Giftgeschwür immer weiter frißt,
immer tiefer eitert und endlich Alles dcmoralisirm wird. Der
Name eines „Industriellen" ist leider durch diesen Unfug schon gar
sehr in der allgemeinen Achtung gesunken, weil er freilich nur allzu¬
oft gleich bedeutend ist mit dem eines „Industrie-Ritters," eines
Gauners und Spitzbuben.


Nur hierin liegt der Grund einer solchen Erscheinung, wie jene
Petition, welche die Stadt Cöln im Anfange dieses Jahres um
Wiederherstellung der Korporationen dem Könige überreichte. Ein
Heilmittel gegen diesen Uebelstand darf aber ja nicht etwa in einer
reactionairen Wiedereinführung ver Gewerke und Zünfte mit all
ihren mittelalterlichen Satzungen bestehen. Denn, wenn wir gleich
aus allen Kräften die ehrlichen Jndustriebesitzer dazu auffordern, eine
Organisation der Arbeit vom Staate zu verlangen, welche es ihnen
möglich macht, den Unwissenden, den Untüchtigen, den Unehrlichen
aus ihren Reihen fern zu halten; so wollen wir darum keinesweges
aus dem Auge verloren wissen, daß die Welt der Arbeit an¬
heimgefallen ist als Besitz: und die Beschränkungen der
Zünfte vernichten die Freiheit der Arbeit, ihre Hauptgrundlage
und das einzige treibende, umgestaltende Prineip. Wir schlagen
aber den Gewerbtreibenden etwas Anderes vor, wozu sie greifen
können, selbst ohne die Hülfe der Regierungen abzuwarten. Mögen
sie, nach Art der Advocaten in Frankreich und andern Ländern, in
eine Art des Disciplinar-Rathes zusammentreten, der, mit Leitung
eines aus ihrer Mitte gewählten Syndicus, darauf zu achten habe,
daß nur ehrliche und tüchtige Arbeiter, die ihre Befähigung durch
ihre Wanderbücher oder sonst wie gehörig nachweisen, als zum Ge¬
werbe gehörig von ihnen anerkannt werden. Eine solche öffentliche
Ausschließung der Unfähigen würde wenigstens den Vortheil haben,
daß der größere Theil des Publikums diese Nichtanerkannten meiden
und so diesen selbst nur wenig Spielraum für ihre Betrügereien
aller Art bleiben würde.


Ein Zweites, wovon zu sprechen hier der Ort ist, das ist die
freilich schon oft besprochne und bestrittne Frage über die moralischen
Nachtheile des Maschinenwesens, worauf der größte und bedeutendste
Theil der heutigen Industrie beruht. Wir unsrerseits stimmen in
diesem Punkte ganz alt l)r. Villermv überein; nur wollen daher


[]

auch nicht anstehen, seine Ideen hier wiederzugeben, um so mehr, da uns
seine Darstellung die möglichst erschöpfende und entscheidende scheint.


„Zunächst," sagt er, „ist der Gebrauch der Maschinen etwas, das
über allem Streite steht. Selbst wenn große Uebel aus ihrer An¬
wendung hervorgingen, könnte man sie nicht abweisen. Ein Volk,
das die neuen Entdeckungen in dem oder jenem Industriezweige
nicht annähme, während seine Nachbarn rings herum es thäten,
würde sich offenbar in einen untergeordneten Zustand versetzen. Es
könnte nicht allein auf keinem fremden Markte mehr concurriren,
sondern selbst sein eigener innerer Markt würde ihm nicht bleiben.
Ein zahlreicher Schmuggelhandel würde an den Grenzen eingerichtet
werden, sobald er gegen die hohen Schutzzölle einen bedeutenden
Gewinn darböte, so daß die Fabrikanten des Landes dadurch, daß
sie auf ihren alten Produktionsweisen beständen und nicht mit der
Zeit fortschreiten wollten, bald genöthigt sein würden, ihre Arbeiten
einzustellen."


„Wir wollen unsere Leser zum Beleg für diese Meinung nur
bitten, einen Blick auf Spanien und Portugal und die Verhältnisse
dieser Länder zu den großen Fabriknationen, besonders zu Frankreich
und England zu werfen."


„Wenn die Arbeiter durch die Einführung der Maschinen auf
einen geringern Arbeitslohn herabgekommen sind, so mögen sie beden¬
ken, daß sie ohne denselben vielleicht gar nichts zu thun hätten.
Heutzutage müssen die Völker entweder aller Industrie entsagen oder
aus der Bahn des Fortschrittes gehen. Um die Anwendung neuer
industrieller Erfindungen und ihre Folgen für den Arbeitslohn zu
verhindern, müßten alle civilisirten Nationen dahin übereinkommen,
keine Maschinen mehr anzunehmen, wodurch die Arbeit vereinfacht
würde. Diese Uebereinstimmung aber, selbst wenn sie möglich wäre,
wie sie unmöglich ist, würde eben so widersinnig als nachtheilig in
ihren Folgen sein."


„Die Folgen der Maschinen sind, wenn man die ersten, nicht
einmal allgemeinen Wirrnisse nur überstanden hat, auf die Länge
eine größere Summe-von Arbeitslohn, die freilich auch unter eine
verhältnißmäßige Anzahl von Arbeitern vertheilt wird ^). Alles



[]

Geschrei, alle Klagen, die man gegen die Anwendung neuer Maschv
nen erhebt, haben also keinen Gehalt und können zu Nichts führen.
Denn der Gang der Industrie ist heutiger Zeit eine Nothwendigkeit
geworden, die höher steht, als die Macht irgend einer Negierung."


„Ein zweiter, beträchtlicher Vortheil der Maschinen ist, daß sie
den Menschen einer Menge der schwersten und geistig abstumpfcndsten
Arbeiten entheben. Sie thun Alles, wozu es keiner Beimischung
von Intelligenz bedarf, Alles, was durch ein einförmiges, sich stets
gleich bleibendes Verfahren geschieht. Das ist ein Fortschritt, der
wohl in Anschlag gebracht zu werden verdient. Der Mensch erhebt
sich und steigt um eine Stufe höher zu seiner Bestimmung und das
jedes Mal, so oft er rein mechanischer Verrichtungen entbunden
wird. In den ältesten Zeiten spannte man Sclaven an die Müh¬
len, um das Korn zu zermalmen: nachher kam man darauf, die
Mühlgänge von Pferden oder Ochsen treiben zu lassen; jetzt endlich
hat man auch die Thiere durch die lebendige und doch todte Kraft
der Maschine ersetzt. Dabei können nun die Civilisation und die
menschliche Würde nur gewinnen."


„So weit die guten Seiten der Einführung der Maschinen z da¬
neben aber steht eine andere, noch bedeutender Verbesserungen fähige
und bedürftige, und das ist die moralische Seite. Wir wollen auch
diese kurz berühren."


„Ein industrielles Etablissement kann jetzt nur mit Hülfe be¬
deutender Geldmittel errichtet werden. Dies hat aber eine dreifache
nachtheilige Folge. Zunächst nämlich wird der Uebergang vom Ge¬
hülfen, Gesellen, Arbeiter zum Stande eines freien Meisters von
Tage zu Tage seltner. Sodann sind durch den Einfluß des Gelves
die Häupter der Industrie vornehme Herren geworden, oft genug
schon von Geburt aus gewesen: dadurch haben denn jene wohlwol¬
lenden, fast familienartigen Beziehungen zwischen Meister und Ge¬
sellen aufgehört, wie sie zu großem Nutzen der Moralität der arbei¬
tenden Klassen früher bestanden, da noch der Meister an einem
Tische mit seinem sämmtlichen Arbeitspersonale speiste und unter
einem Dache, wo möglich, mit ihnen schlief. Endlich wird hier-



21
[]

durch die so schätzenswerthe, so heilbringende Vereinigung der indu¬
striellen Beschäftigung mit Ackerbau und ländlichen Arbeiten von
Tag zu Tag minder möglich. Die sonst so bedeutende Anzahl jener
Klasse Landbewohner, welche neben ein oder zwei Morgen Landes,
die sie bebauten, noch einen Webestuhl oder ein fleißiges Spinnrad
im Gange hatten, nimmt immer mehr ab. Diese friedliche, ordnungs¬
liebende, arbeitsame, sparende Klasse der Bevölkerung ist durch die
Gewalt der Dinge immer mehr nach den Mittelpunkten industrieller
Thätigkeit hin zusammengedrängt worden; sie hat sich gezwungen
gesehen, aus freien, unabhängigen Landbewohnern zu Stadtbewoh¬
nern, zu Arbeitern in großen Werkstätten sich umzugestalten und bei
dieser Umwandlung hat sie leider auch ihre alten Tugenden gegen
Laster Vertauscht, die aus ihrer neuen Lage hervorgingen."


„Endlich ist auch die Entwicklung der mechanischen Kräfte die
Haupwrsache der Handelskrisen, welche mit einer periodischen Regel¬
mäßigkeit in unserer-Zeit wiederkehren und leider immer häusiger zu wer¬
den drohen. Die Maschinen treiben die Industrie zu einer maßlosen
Production, indem sie die Concurrenz noch mehr begünstigen, so daß
die Schranken der Vorsicht gar schnell überschritten werden. Dann
häufen sie in den Magazinen Massen von Waaren an, die trotz der
niedrigsten Preise keinen Absatz finden können, weil es an Consu-
nienten fehlt, so daß als natürliche Folge hiervon eine Arbeits-,
also auch Brotlosigkeit von Tausenden von Arbeitern aus teil nie¬
drigen Volksklassen eintritt, nachdem man diese eine Zeitlang vorher
zu einer übermäßigen, geistig entkräftenden Arbeit angespannt hat.
Denn was hat ein Arbeiter, der mit fünfzehn Jahren an einen
Webestuhl gesetzt worden ist, nach vielleicht vierzigjähriger Arbeit
gelernt? Etwa zwei oder drei automatenartige Bewegungen, die ihn
zu jeder anderen Beschäftigung fast untauglich machen, während sie
ihm, so bald seine Fabrik still steht, kein Brod geben können." So
weit Villerneo. '


Das Alles ist freilich sehr betrübsam; aber wo will man auch
hienieden eine Institution finden, die nicht neben ihrer guten auch
ihre schlimme, neben ihrer Licht- auch ihre Schattenseite hätte?
Wenn es keine reichen Fabrikherrn gäbe, so gäbe eS darum nicht
weniger elende Arbeiter; doch nein, wir täuschen uns, es gäbe ihrer
zwar weniger, aber warum? weil sie Hungers sterben müßten aus


[]

Mangel an Arbeit. Es bleibt also nur noch die Erwägung der
Frage übrig, worauf übrigens die Antwort nicht zweifelhaft sein
kann: Ist Nichtsein besser als eine, wenn auch schwierige, doch durch
die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht erhaltene Eristenz,
besonders, wenn diese Hoffnung auch die Wahrscheinlichkeit für
sich hat? Denn ein Tag wird kommen, wo die Erzeugung
des Reichthums dergestalt ergiebig und gut organisirt sein wird,
daß ein Jeder nicht allein das Nothwendige, sondern auch das
Ueberflüssige besitzen wird. Dieses Wunder wird bewirkt werden
durch die Vereinigung der Wissenschaft und der Industrie in der
Person erfinderischer Köpfe. Denn der Grund, weshalb heutigen
Tages so viele Fabrikanten des europäischen Festlandes sich rui-
niren, liegt darin, daß sie Alles, was nur in irgend einem Punkte
ihre ursprüngliche Industrie berührt, umfassen wollen. Das ist, um
nur ein Beispiel anzuführen, die Geschichte des großen Etablissements
von Cockerill in Seraing. Der Eisenfabrikant will Steiiüohlengrubm
haben, er will nur sein eigenes Metall bearbeiten, er will sich die
Maschinen selbst bauen, er will Kalk fabriciren, Ziegel brennen, will
Tuch, Baumwollenwaaren, Papier, Porzellan, kurz alles Mögliche
anfertigen, unter dem Vorwande, daß er alle diese Gegenstände für
sich und seine Arbeiter bedarf.


Die Engländer allein haben eingesehen, daß man die verschie¬
denen Industrien von einander abspalten müsse, weil eine einzige
schon hinreicht, um einem geschickten Fabrikherrn hinlängliche Uebung
seiner geistigen Fähigkeit zu verschaffen. Sie haben begriffen, daß
diese unersättliche Gier, die nach allen Gewerbszweigen zugleich greift,
zuletzt aus Mangel an den erforderlichen, übermenschlichen Kräften
zu einer todbringenden Ueberfüllung, UnVerdaulichkeit und daraus
hervorgehenden Kraftlosigkeit führen muß. Warum aber auch Eng¬
lands Fabrikwesen hart daniederliegt, das ist theils zu bekannt und
würde theils uns zu weit abführen, als daß wir es hier erörtern
sollten, da es uns nur um einige allgemeine Andeutungen zu
thun ist.




[]

Der Kampf der Menschen mit der Materie wird schnell sein
Ende erreicht, er wird sie bald bezwungen und seinen Bedürfnissen
unterworfen haben, wie er schon so viele Gegenstände sich angeeig¬
net hat, sobald nur erst die Regierungen werden allgemeiner begrif¬
fen haben, wie es eine Forderung der Gerechtigkeit ist, daß sie das
geistige Eigenthum gleich dem Grund- und Geldbesitz unter ihren
Schutz und Schirm nehmen. Wir glauben und bekennen uns frei
zu diesem Glauben, daß dasjenige Land, das zuerst in seinen Ge¬
setzen dem in Maschinen zur Materie gewordenen Gedanken gleiche
Rechte mit dem in Druckwerken veröffentlichten Gedanken verleihen
und das den Erfindern dieselben Begünstigungen, wie den Schrift¬
stellern angedeihen lassen wird, — dieses Land, glauben wir, wird
unstreitig in kurzer Zeit einen sicherern Sieg, als Waffen erfechten
können, über alle Nachbarstaaten davontragen.


Wenn ein ErsindungSpatent als ein werthvolles, sicheres Be-
sitzthum sich zeigen wird, dann werden eine Menge genialer Men¬
schen sich auf die Carriere werfen, in der noch so viele Cntdck-
kungen zu machen sind, in die Carriere der praktischen Naturwissen-
schaft. Die Kapitalisten werden alsdann nicht mehr anstehen, Geld
für dergleichen Privilegien herzuschießen, sobald ihre Dauer ihnen
hinreichend dünken wird, um sie später für die Opfer zu entschädi¬
gen, welche erste Versuche stets erfordern; dagegen haben sie jetzi
vollkommen Recht, wenn sie auf Brevets für fünf, zehn, fünfzehn Jahre
Nichts wagen wollen, da diese ein wahrer Spott sind, indem man
fast für jede neue Entdeckung so viel Zeit braucht, um ihr nur eine
Bahn in's Publikum zu brechen, so daß der eigentliche Nutzen der
Erfindungen selten oder fast nie den Urhebern derselben zukommt,
sondern meist denen, welche mit frischen Mitteln auf die Bahn tre¬
ten, nachdem der Erfinder die groben Steine des Anstoßes daraus
hinweggeräumt und dabei seine Kräfte in jeder Beziehung erschöpft
hat. Der beste Beweis sür die Nichtigkeit meiner Ansicht ist mir,
daß der berühmte Gelehrte und Deputate Arago, der früher die
völlige Aufhebung der Patente verlangte, weil sie eine Schranke
und Hemmung für die freie Entwicklung der Industrie seien, das
Irrige dieser Ansichten eingesehen hat und von ihnen gänzlich zurück¬
gekommen ist; ein Verdienst, das Schreiber dieser Zeilen zum Theil
seinen Ansichten, die er diesem berühmten Manne auseinanderzusetzen


[]

die Gelegenheit hatte, beimessen darf. Mögen die folgenden Blatter,
in denen er diese Ansichten näher entwickelt, das Glück haben, ir-
gend einem einsichts- und einflußreichen Staatsmanne in die Hände
zu fallen.


Die Erfindung ist die Civilisation; der Erfinder ist der Schö¬
pfer aller Ideen- und Sachen-Combinationen, die Gott nicht gemacht
hat; er ist der Fortsetzer des göttlichen Werkes, der Beförderer allen
Fortschrittes. Der Erfinder ist der größte, gottähnlichfte Mensch der
Welt; denn er macht ans Nichts Etwas, er giebt dem, was werth¬
los war, Werth und Preis, er verleiht todten Massen Bewegung
und bringt Kraft selbst in die Schwäche hinein.


Als Watt den Dampf in eine Röhre einzwängte, hat er Eng¬
land fünfzig Millionen Arme verliehen, während ihm die Natur
nicht halb so viel gegeben hatte.


, Alles, was jenseits der todten Natur besteht, ist das Werk der
Erfinder. Sie suchen und finden neue Verfahrungsweisen, vereinfa¬
chen das Getriebe der Maschinen, vermindern die Ermüdung des
Arbeiters, kürzen die Entfernungen ab, erklären die Phänomene,
verketten die Elemente mit einander und bringen sie, gelehrig und
stark, in die Hände der Menschen. Die Erfinder sind das Haupt
und die Seele einer Nation; ohne sie giebt es weder Fortschritt, noch
Reichthum, noch Macht.


Das Land, das am meisten erfinderische Köpfe besitzt, wird seine
Nachbarn bald zu tributpflichtigen Vasallen machen. Man wird ihm
seine Bücher, seine Gemälde, seine Farben, seine Stoffe abkaufen;
man wird seine Gesetze, seine Einrichtungen, seine Methoden sich
anzueignen suchen. Man wird von fernher kommen, um seine Denk¬
male, seine Werkstätten, seine Schulen zu besuchen; dies Alles
sind eben so viel Erfindungen. Denn der allgemeine Geist eines
Landes verfährt auf ähnliche und gleichartige Weise, mag es null
gelten, eine Konstitution oder ein Gedicht anzuordnen, ein Gemälde
oder einen Werkstuhl zu schaffen; wenn ein Genie Räder und
Kämme in einander greifen läßt, so combiniren andere Verse und
Reime, Linien und Farben.


Ein Volk, das Nichts combinirt, Nichts erfunden hat, bleibt
ein wildes, bis ein Erfinder aus ihm auftaucht.


Eine Idee ist das Eigenthum dessen, der sie zuerst besitzt; sie


[]

gehört ihm, wenn auch schon blos nach dein natürlichen Rechts-
grundsatz des nrinms oceujums. Er ist Meister und Herr derselben,
von ihm hängt es ab, ob er sie veröffentlichen oder geheim halten
und die Gesellschaft ihrer berauben will. Sie gehört ihm und das
mit mehr Recht, als Feld oder Wald demjenigen, der es geerbt hat.
Denn hätte der Erbe das Feld oder den Wald nicht, so würde ein
Anderer sie genießen, der Besitzer hat sich sein Besitzthum nicht ge¬
schaffen: der Erfinder aber hat seine Idee selbst gezeugt.


Eine jede Erfindung ist eine Vermehrung des Reichthums der
Gesellschaft; sie ist eben so viel als die Urbarmachung einer Haide,
als die Austrocknung eines Morastes, alö die Entdeckung einer
Mine; sie ist eben so viel als die Dichtung eines Buches, als die
Composition einer Oper, als die Zeichnung eines großen Gemäldes.
Allen diesen Werken ausdauernder Arbeit oder des Genies verleiht
die Gesellschaft das Recht eines ewigen oder lebenslänglichen Be¬
sitzes, — daß auch dies noch leider! nicht überall geschieht, kann
kein Argument gegen uns sein — der Dampfmaschine, dem Filztuche
und anderen gemeinnützigen Erfindungen aber macht man dies Recht
streitig. Wie falsch, wie einseitig! Oder höchstens bewilligt man
ihnen, und das auf eine kostspielige Weise, auf wenige Jahre ein
unsicheres, mißliches, trügerisches Scheinrecht von Eigenthum.
Wahrlich, das ist allzu offenbares Unrecht.


Es giebt Leute, die so leicht und obenhin urtheilen, daß sie ein
Patent wie ein Monopol ansehen und ihm gleichstellen, weil man
beide mit demselben Namen deö Privilegiums bezeichnet; aber ein
Patent ist weder ein Monopol, noch eine Gunst, noch eine Beloh¬
nung, sondern es ist ein Recht, heiliger als das Erbrecht.


Der constituirenden Nationalversammlung von Frankreich wird
gewiß Niemand den Vorwurf machen, sie sei eine Freundin der
Privilegien gewesen: denn sie hat bekanntlich alle abgeschafft; und
doch besagt sie ausdrücklich: „Alle Privilegien sind abgeschafft, mit
Ausnahme derjenigen, welche den Erfindern und Einbringern u. f. w.
bewilligt werden sollen." Denn jede Erfindung oder Einbringung
einer solchen bildet einen Zusatz zu dem gesellschaftlichen Grundver¬
mögen, da durch sie Arbeiter Beschäftigung finden, rohe Stoffe
nutzbar gemacht werden, Handel und Industrie eine neue Lebensader
erhalten, fremde Capitalien in'ö Land gezogen oder wenigstens die


[]

Ausfuhr der inländischen, bezweckend die Einbringung anderwärts
sabricirter Producte, verhindert wird. Das Bureau der Patente
sollte nur wie eine GcburtSliste der Erfindungen betrachtet werden;
die Annahme eines Brevcts ist nichts andres als die Feststellung
eines gewissen Datums, und das dürste nicht mehr kosten, als die
Eintragung eines neugeborenen Kindes in die Staatsbürgerlisten.


Die Erfinder und Einbringer, welche ihre Industrie unter den
Schutz stellen, den ihnen die Landesgesetze bieten, haben also ein Recht
auf die Beschützung und Ermuthigung einer jeden Negierung, die
ihre Interessen und die ihres Volkes und Landes richtig versteht:
sie ihrer Rechte zu berauben, wäre eine Ungerechtigkeit.


Je kleiner ein Land ist, desto mehr muß es die Erfinder durch
Erleichterungen an sich locken, damit sie darein willigen, es mit
ihren Industrien zu beschenken. Wenn sie aber daselbst von Seiten
der Negierung nur ein abschreckendes, feindseliges Verfahren finden,
ziehen nicht allein die Fremden sich zurück, sondern selbst die Ein¬
heimischen verlegen ihre Gewerbthätigkeit dahin, wo man ihnen eine
wohlwollende, freundliche Aufnahme angedeihen läßt. Denn, man
muß es wohl eingestehen, nur die von Haus aus glücklichen, von
Geburt reichen Leute haben eine Heimath; wir übrigen, die geistig
oder leiblich unser Brod verdienen müssen, sind Kosmopoliten; denn
ni'i denk, ii»i pickriit.


Es ist eine durch die Geschichte klar erwiesene Sache, daß die
Erfindungen von selbst gar nicht oder nur sehr spät kommen; jede
Verzögerung aber, sei sie von einem Jahr, einem Monat, oder
einem Tage, ist ein unersetzlicher Verlust.


Der Grund von all dem, was wir bisher sagten, wird denen
vollkommen einleuchten, welche aus eigener Erfahrung wissen, daß,
ehe man eine Fabrik, irgend welcher Art es auch sei, begründet,
man Reisen machen, Arbeiter aus der Fremde einführen oder hei¬
mische unterrichten, die Oeffentlichkeit bezahlen, seine Producte den
Leuten annehmbar machen und ihnen Eingang in'S Publikum bah¬
nen muß und daß oft, ehe man dies Alles erlangt hat, das
Brevct erloschen ist.


Eine Entdeckung ist ein heiliges Eigenthum. Sie setzt eine
lange, sehr lange auf sie verwandte Zeit und oft beträchtliche Kosten


[]

voraus; die Regierung muß also dem Erfinder als Bürge dienen,
daß ihn: sein Kostenaufwand ersetzt werde.


Die Wahrheiten kommen nicht Plötzlich; sie springen nicht wie
Minervcn geharnischt und von Kopf bis auf den Fuß gewaffnet
aus Jupiter's Haupt.


Durch einen Mangel an Bürgschaft die freien Nachsuchungen
im Bereiche der Industrie hemmen, heißt der Denkfreiheit einen Zü¬
gel anlegen, und wo keine Denkfreiheit ist, giebt es nur Unwissen¬
heit und Knechtschaft.


Colbert, der berühmte Minister Ludwig's XIV., zog die Er¬
finder ins Land, richtete ihnen selbst Etablissements ein, lieferte
ihnen Geld, um sie zu führen, und bewilligte ihnen oft, selbst wenn
sie nur Nachahmer fremder Erfindungen waren, Privilegien von
fünfzehn bis zwanzig Jahren; so z.B. handelte er, um die Venetiani-
schen Spiegelgläser und das Sächsische Porzellan in Frankreich ein¬
heimisch zu machen. Der Erfolg hat seine Maßregeln gerechtfertigt.


Eine wichtige Bemerkung scheint uns die, daß diejenigen Län¬
der, wo Industrie und Civilisation am meisten Fortschritte gemacht
haben, zugleich auch diejenigen sind, in welchen frühzeitig das gesetz¬
liche Eigenthumsrecht des Gedankens anerkannt wurde. Ein Blick
auf die folgenden sprechenden Zahlen wird das beweisen. England
gab sein Gesetz über die Patente 1623; Frankreich und die Nordameri¬
kanischen Freistaaten 1790; Preußen und Nußland 1812; Baiern,
Würtemberg. die Niederlande 1817; Oesterreich und Italien 182V;
Spanien, Portugal und Neapel noch später.


In der Türkei, in Persien, in Indien, wo es keine derartigen
Gesetze giebt, giebt es auch keine Entdeckungen, ausgenommen etwa
ein Farben- oder Firniß-Geheimntß, oder ähnliche Sachen, die man
leicht geheim halten kann. In diesen Ländern stehen die Dinge
noch ganz auf demselben Fuße, auf dem sie in Europa im Mittel¬
alter standen, in jener Zeit der Alchymisten und Wahrsager und
Sterndeuter, der Zauberer und Zigeuner, welche die Länder durchzo¬
gen und ihre Arzneimittel, ihre Wundertränke, ihre Universalheil¬
mittel verkauften und alle Welt, vom Bauer bis zum Fürsten, be¬
trogen. Das war die gute Zeit für den Stein der Weisen, für die
Verwandlung der Metalle, für Amulete und dergleichen mehr.


So fern wir aber auch dieser Zelt stehen, so leicht ist es, uns


[]

Wieder dahin zurückzuführen, wenn man die Gesetze, welche tels Recht
des Schriftstellers und Dichters auf sein Werk, das Recht des Ma¬
lers gegenüber dem Kupferstecher, das Recht deS Bildhauers gegen¬
über dem Gypsabdruck, und die Rechte für den Erfinder und sein
Patent feststellen, entweder zu geben unterläßt, oder gar die gegebenen
aufheben will. Alsdann wird eS wieder werden, wie es schon ein¬
mal war; wenn zufällig irgend eine bedeutende Entdeckung gemacht
wird, so wird man sie geheim halten und da sie nicht in den Archiven
des Staats einregistrirt sein werden, so werden sie gar oft mit dem
Erfinder aussterben und der Nachwelt verloren gehen. So haben wir
das Geheimniß des Purpurs, des Neapolitanischen Gelb, des häm¬
merbaren Glases, des griechischen Feuers, der Glasmalerei und tau¬
send andere verloren, von denen nicht einmal der Name bis auf
unsere Zeiten gelangt ist.


Viele Personen haben sich dahin geäußert, es sei wünschens¬
wert!), daß die Regierungen die Erfindungen an sich kaufen und den
Erfinder des gemeinen Nutzens halber für das ihnen genommene Ei¬
genthum entschädigen sollten. Das hieße aber Mißbräuchen und Klagen
Thür und Thor öffnen; denn keine Regierung, keine Commission
vermag den Werth oder die Wichtigkeit einer Erfindung zu beurthei¬
len, ehe sie mit Allem, was schon eristirt, oder erst später vielleicht
eristiren wird, combinirt worden ist. Welche Belohnung hätte man
z. B. demjenigen gegeben, der auf den Einfall geriet!), Tischlerleim
mit Svrup zu mischen und daraus Walzen für die Druckerei zu ma¬
chen? Gewiß eine höchst unbedeutende. Nun, und doch hat diese
Erfindung zu der Entdeckung der ununterbrochen arbeitenden cylin-
drischen Pressen geführt, welche der Civilisation durch die ungeheure
Anzahl Abdrücke, die man auf ihnen in kurzer Zeit erhalten kann,
vielleicht mehr Dienste leisten, als die Erfindung der Buchdruckerkunst
selbst, oder doch jedenfalls dieser erst den höchsten Grad ihrer Brauch¬
barkeit verliehen haben.


Was die Einbringung neuer Erfindungen aus fremden Landen
betrifft, so ist die nicht einmal überall gültige, günstigste Stellung,
die man ihr anweist, diejenige, wodurch sie mit der Erfindung selbst
auf gleichen Fuß gesetzt wird. Wir aber sind der Meinung, daß
die Einbringungspatente von den Regierungen noch mehr begünstigt
werden müssen, als die Erfindungen, und daß man dieselben vor-


[]

zugöweise in's Land ziehen, nicht sie von sich weisen solle. Denn
man verlangt ja Einführungspatente nur für Dinge, die schon
anderweitig erprobt und als nützlich erkannt worden sind.


In Anbetreff der Resultate sind ja übrigens Erfinden oder Ein¬
führen völlig gleich. Mag man nun einen Fels mit heimischer Erde
oder mit aus der Fremde gebrachter befruchten, das Land zieht im¬
mer gleichen Vortheil und Gewinn aus der Sache, denn es ist am
Ende immer eine Vergrößerung des gesellschaftlichen Grundvermögens.


Man wendet gemeinhin noch ein, daß ein Einführungspatent
nur ein Preis für ein Wettrennen ist. Zugegeben; aber ist nicht
Alles hienieden der Preis der Thätigkeit? War nicht Amerika auch
nur der Preis des Wettrennens? Wer aber wollte Wettrennen, er¬
wartete ihn nicht am Ende der Bahn eine Belohnung?


I?tM8 littorum p-llma.


Note: I. A. Jobard,
Director des Museums für Industrie zu Brüssel.

[]

Skizzen aus dem Cölner Dombaufest.



Note: Junges Deutschland. — Maas Cöln! — Die französische Revolution und ihre
Folgen. — Die Redacteure der Rheinischen und der Cölnischen Zeitung.—
Das jüdische Frühstück. — Kunstausstellung. — Lißt. — Zwei Italiene¬
rinnen. — Die Illumination. —

Dombaufeier, Gerümpel, Schutt, — das will sagen Notizen,
Aphorismen, Einfälle, wie ich sie gestoßen, getreten, halb betäubt,
halb aufgeregt im Gedränge gefunden habe — das ist Alles, was
ich ihnen senden kann. Verlangen Sie keine Beschreibung, kein
plastisches, fertiges Bild von einem Feste, das ja an und für sich
nicht zur Erinnerung ein etwas Fertiges, Abgethanes veranstaltet
uA gefeiert worden. Das Ganze, was in diesen Tagen hier vor¬
ging und vorgeht, ist ja eben nichts, als eine lyrische Aufregung,
ein Anzünden, ein Aufflammen und der gekrönte Redner, der so
trefflich stylisirte Worte vor dem Aufheben des Hammers sprach, hat
dies sehr wohl hervorgehoben. Das alte Cöln soll ein junges
Deutschland gebaren; aber kein junges Deutschland aus den drei¬
ßiger Jahren, das mit dem Kops gegen die Wand läuft; ein junges
Deutschland der vierziger Jahre d. h. ein solches, welches das Alter
erreicht hat, wo selbst die Schwaben klug werden. Es ist immer
vortheilhafter, wenn ein König sich an die Spitze der Bewegung
stellt, als wenn ein gemeiner Schriftsteller dies thut: solche Hammer¬
schlüge kann der Bundestag nicht in die Acht erklären.


Alaaf Cöln! Den ganzen Tag über, während ich die Straßen
der Rhein.stadt durchstreifte, klangen mir die Worte in den Ohren:


[]

„Meine Herren von Cöln! Es begiebt sich Großes unter Ihnen."
Die Straßen sind hier so krumm, als wären es lauter Fragezeichen.
In der That, wenn man die engen, dunkeln Gassen der alten bischöf¬
lichen Stadt durchzieht, so glaubt man eher, daß sie der Ver¬
gangenheit als der Zukunft angehören. Erst draußen am Rhein-
damm liest man in den grünen Fluthen des Stromes die ganze
Mission ihrer kommenden Tage. Ja die Geschichte ist göttlichen
Ursprunges, und mit goldenen Fäden knüpft sie das Verflossene
an das Werdende. Die französische Episode dieser Stadt ist heil¬
bringend für ganz Deutschland geworden: die neue Herrschaft muß
die Zeiten der alten zu überbieten suchen. Darum wird Rheinpreußcn
mit glänzenderen Gaben beschenkt, als alle übrigen Provinzen dessel¬
ben Staates. Aber darf ein kluger Vater eins seiner Kinder auf
Kosten der andern bevorzugen? Gewiß nicht; und darin liegt die
Zukunft Preußens, daß alle seine Provinzen allmälig dieselben Rechte
erlangen müssen, die man Benjamin, dem Lieblingskind, in dessen
Kornsack man den goldenen Becher gefunden, zugestanden hat. Und
mit Preußen rückt Deutschland vor. Wer will noch läugnen, daß
die französische Revolution auch sür Deutschland wohlthätig ge¬
wesen? Indem ich die großen Rheinschiffe und die hundert kleinen
Nachen sah, welche ihre Waarenballen geschäftig bei Seite schafften,
um Platz zu der glänzenden Illumination zu machen, welche diese
Nacht den Weg des Königs erhellen sollte, da sah ich zugleich die
Zukunft der großen deutschen Handelswege vor mir geöffnet. Die
Rheinlands nöthigen früher, als alle andern, zur Eroberung deutscher
Häfen, zur Eroberung eines deutschen Meeres, zur direkten Verbindung
mit überseeischen Colonien und so ist es doch wahr, „meine Herren
von Cöln! Es begtebt sich Großes unter Ihnen!" —


Herkömmlicher Weise ging ich, das Handwerk zu begrüßen:
vor Allem nach dem Bureau der Rheinischen Zeitung, das meines
Erachtens zu den ersten Merkwürdigkeiten Cölns zählt. Die Rhei¬
nische Zeitung kann für die deutsche Presse das werden, was der
Kölnische Hasen für den deutschen Handel werden muß: die
Presse und der Rheinstrom müssen frei werden, ^us^u'-t I», mer.
Die Zusagen, welche auf dem Wiener Congresse der deutschen Nation
gemacht worden, müssen ihre wahre Erfüllung erhalten, nicht bis
an's Meer, sondern bis in'S Meer muß die Strömung des denk-


[]

schen Rheines und des deutschen Geistes sich ergießen können, un¬
begrenzt, unbeengt, die Welt in freier Bewegung umfassend. Soll
das Fest dieser Tage nicht ein falsches, lügenhaftes, undeutscheö sein,
so müssen die Wünsche der Nation in Erfüllung gebracht werden
und ganz Deutschland muß die Worte des königlichen Redners im
Echo wiederholen können: „Meine Herren von Cöln! Es hat sich
Großes unter Ihnen begeben!"


Ich traf auf dem Redactionsbureau der Rheinischen keinen der
Redacteure zu Hause: die liberalen Herren waren an diesem Tage
wahrscheinlich liberal gegen sich selbst und durchstreiften die Straßen
und raubten den Fremden das Bischen Platz, das zwischen den engen
Häusern noch zum Gehen übrig blieb. Erst später stellte man mir
im Gedränge einen der Redacteure vor, eine lange, hagere Gestalt,
mit blassem Gesichte und schlotternder, unentschiedener Haltung, die
eher einem Universitätsfuchs ähnlich sieht. Insoweit erschien er mir
als vollständiger Gegensatz des Redacteurs und Besitzers der Eölni-
schen Zeitung, H.Dumont-Schaumberg, eines großen, kräftigen Mannes,
mit offenen, gutmüthigen Zügen, bestimmt in seinen Worten und
Bewegungen, wie Jemand, der seiner Sache gewiß ist. In der
That, die Cölnische Zeitung, mit ihren achttausend Abomienren, in
ihrer wohlgenährten Behaglichkeit, mit dem ächt rheinländischen
Principe „Leben und leben lassen," wie sollte sie nicht röthere Wan¬
gen haben, als ihre jüngere, zukunftschwangere, philosophirende, stets
aufgeregte Schwester. Die Politik der Kölnischen Zeitung ist (von
praktischem Gesichtspunkte aus betrachtet,) eine sehr kluge; indem
sie in den preußischen Fragen meist das Interesse der Regierung
vertritt, sucht sie den Vorwurf deS JlliberalismuS dadurch von sich
abzuwenden, daß sie in nicht-preußischen Angelegenheiten sich gerne
zum Organe der Opposition macht; so z. B. nimmt sie über die
badischen Kammerverhandlungen viele Artikel aus der liberalen
Mannheimer Abendzeitung; die nicht unbedeutenden Berichte aus
Würtemberg sind gleichfalls in diesem Sinne geschrieben u. s. w.
'


Sind die Straßen Cölns eng, so waren die Gasthöfe dies
Mal noch enger. Ich mußte mit einem glücklicher Weise mageren
Engländer und einem jungen jüdischen Arzte ein und dasselbe
Zimmer theilen und wohl dem, der noch so glücklich weg kam, als
ich. Viele Personen schliefen auf den Schiffen und in den Reise-


[]

wagen und zahlten diese improvisirten Schlafstätten theurer, als
wir im Mainzer Hofe. Dingelstedt und der Maler Becker, die mit
vieler Noch in einem Privathause sich einlogirt hatten, zahlten zehn
Thaler für eine Nacht. Sie werden aus dieser Notiz leicht ent-
räthseln, wer der Korrespondent der Augsb. Allg. Zeitung ist, der
die Cölnische Gastfreundschaft so grausam an den Pranger stellte.


Was mich mehr, als daS unbequeme Nachtlager gönnte, das
waren eben meine beiden Zimmergefährten, die ich des Morgens
nicht von meiner Seite bringen konnte. Der Engländer, dem ich
mich unglücklicherweise in seiner Sprache verständlich machen konnte,
— in Mitte der mannigfach poetischen Aufregung aller dieser Fest-
zuge, Chorgesänge, schöner Frauengesichter, berühmter Persönlichkeiten,
geputzter Häuser und Läden, verlangte er statistische Notizen über
Fabriken, Eisenwaaren, Cölnisch-Wasser, Schifferlvhn und Gott weil?,
was Alles noch seine lederne Seele interessirte. Der israelitische
Arzt andrerseits übergoß mich mit einem Redestrom, dem ich das
jusg'ii, I» mer gleichfalls gegönnt hätte: er gab mir über Alles
Notizen, worüber ich keine verlangte; und während mein Gefährte
zur Rechten mich bis auf's Blut anzapfte, füllte mich mein Gefährte
zur Linken bis über die Kehle an. Hätte ich mich aus ihrer Mitte
reißen können, so würde der Auskunftsbedürftige und Mittheilungs¬
überströmende gegenseitig jeder an den rechten Mann gekommen
sein; aber zu meinem Unglück verstand der Eine nicht deutsch, der
Andre nicht englisch und so mußte ich die Rolle des internationalen
Vermittlers weiter spielen. Uebrigens machte mich mein israelitischer
Begleiter auf manchen Zug aufmerksam, der mir sonst wahrschein¬
lich .entgangen wäre. Wie alle seine Glaubensgenossen jeden Luft¬
zug der Zeit rascher und feiner fühlen, eben weil ihre Haut
von den Vorurtheilen der Gesellschaft wund gerieben ist, machte er
mich darauf aufmerksam, daß in der ganzen Rede des Königs die
Religion bei Seite blieb; er war ganz entzückt über die Worte:
„dies ist kein gewöhnlicher Prachtbau, er ist das Werk des Bruder¬
sinns aller Deutschen aller Bekenntnisse." In der That ist eS
wunderbar, daß in einer Rede, die bei der Grundsteinlegung einer
Kirche gehalten wird, das Wort Christenthum gar nicht vorkommt.
Mein Begleiter demonstrirte mir die Ursache dadurch, daß viele
Juden zu dem Dombau gesteuert haben und der Cölnische Dombau-


[]

verein sogar ein israelitisches Mitglied in Herrn Oppenheim zähle.
Ob dies derselbe jüdische Banquier ist, in dessen Hause der König
nach Beendigung der Grundsteinfeierlichkeit gefrühstückt hat, ist mir
unbekannt; aber Eins möcht' ich wissen: ist der Leipziger Meßkatalog
wirklich ein Lügner? Ein protestantischer König weiht eine katho¬
lische Kirche, um gleich darauf sich als Gast an den Tisch eines
Juden zu setzen: wie ist es nun möglich, daß Hunderte von Streit¬
schriften den mittelalterlichen Confessivnskrieg in einer solchen Zeit
fortsetzen? Wo ist die Wahrheit? In der Aussöhnung oder im
Krieg? — Als ich des Abends nach der Zeitung griff, in welcher
die Rede des Königs abgedruckt war, fand ich in derselben Nummer
einen Bericht aus Berlin, der folgenvermaßen lautet:


„Wie man hört, ist dem Commandeur deö ersten Garde-Regi--
neues von Seiten höheren Orts der Befehl zugegangen, künftig
ohne Unterschied des christlichen Glaubensbekenntnisses Offiziere uns
Soldaten dem Regimente einzuverleiben; bisher waren Katholiken:e.
ausgeschlossen." — Ist es möglich? So spät besinnt man sich?
Während man auf der einen Seite so weit vorwärts gerückt ist,
kann man auf der andern so weit im Nachtrabe sein?


Wäre es mir mehr um einzelne Studien, als um einen Total-
eindruck zu thun gewesen, so wäre ich schon um der Kunstausstellung
willen längere Zeit hier geblieben. Viel Schönes, einzelnes Gro߬
artige, namentlich das große historische Bild von Gallait, die Ab¬
dankung Karl'sV., welche Conception, welcheFarbenpracht! Philipp!!.
und Wilhelm der Schweigsame sind da noch Jünglinge: Philipp
kniet mit gefalteten Händen, um den Segen deS bleichen, lebensmü¬
den Kaisers zu erhalten, der mit der einen Hand auf seinen Pagen,
Wilhelm von Oranien, sich stützt. In dem Blicke, mit welchem
letzterer auf den knieenden Philipp herabschaut, liegt die ganze Ge¬
schichte der kommenden Jahre ausgedrückt. Eine wunderbare Figur,
der Beichtvater Karl'S, steht in der Nähe und in der Art, wie er
der Scene zuschaut, erräth man gleich, welchen Einfluß er auf die
Handlungsweise des alten Kaisers übte und wer dies Ereigniß her¬
beigeführt hat. Um diese Hauptgruppen reihen sich nun zahlreiche,
treffliche Figuren, Priester, Hofleute und in ihrer Mitte die alte
bleiche Schwester Karl'S, die langbewährte, weise Regentin der
Niederlande. Ich will keine Abhandlung schreiben, aber dieses Ge-


[]

malte gäbe Stoff zu einer solchen: Poesie und Technik reichen ein¬
ander die Hand, um dieses Meisterstück zu krönen. Der Schöpfer
desselben ist sechs und zwanzig Jahre alt. Ein anderer junger bel¬
gischer Maler, den ich auf der Ausstellung persönlich kennen lernte,
hatte ein nicht minder bedeutendes historisches Bild im Saale aus¬
gestellt, der Compromiß deö Edlen. Herr Debiefve, so heißt der
Maler, hat für dieses Bild von seiner Regierung 30,000 Fr. er¬
halten. Bon Cölner Malern zogen mich einige Genrebilder lebhast
an, namentlich ein allerliebstes Bild von Kervel: Venetianische Fischer;
treffliche Farben, geistreich gruppirt: leider haben alle diese einhei¬
mischen Genrebilder einen gefährlichen Nebenbuhler erhalten durch
das aus Antwerpen angelangte Bild von Dekeyser: Rubens im
Kreise seiner Familie vorstellend, gerade beschäftigt, das bhr-ühmte
Bild, der Stroh Hut, zu malen. Welch' ein Reiz schwebt über
dieser kleinen Welt! Rubens tritt gerade von der Staffele! herab,
gegenüber sitzt die liebliche Jungfrau Lunden mit ihrem koketten
Strohhütchen auf dem wunderbaren Köpfchen: die Freunde und Haus¬
genossen des Meisters stehen bewundernd umher: unter ihnen Helene
Frommens Rubens, die hübsche Gattin in zweiter Ehe, im Hinter¬
grunde steht sein Schüler Jordanns, der verstohlen nach der jungen
Frau hinschielt und es erklärlich macht, warum der große Maler
auf diesen Jünger eifersüchtig gewesen ist. Das Keyser'sche Bild ist
Eigenthum eines hiesigen Privatmannes geworden. Der Glückliche!


Das fröhliche Fest hat viel fröhliches, lustiges Volk von allen
Seiten herbeigeführt: Schriftsteller, Poeten, Maler und Musiker.
Lißt erschien als veus ex irmcl»!»-». Außer seiner Kunst auf dem
Claviere, worin es ihm keiner gleich thut, besitzt er die vielleicht
noch größere, sich interessant und. wichtig zu machen. Es ist ein
musikalischer Diplomat, ein politischer Klavierspieler. Er trug hier
nebst seinem neuen Orden nour 1» in«rito noch das Band als
Ehrenmitglied des Dombauvereins. Wie ich bestimmt hörte, wird
er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt werden; dann möchte ich
ihn aber ein Mal in vollem Costüme sehen, mit dem ungarischen
Ehrensäbel an der Seite, Brust und Hals mit den Jnsignien als
!u>inne lie i»<!i-it<;, Ehrenlegions-Ritter :c. :c. Das muß sich schön
ausnehmen! Ich habe hier eine treffliche Carricatur auf ihn ge¬
sehen, die aus dem Chmivari ertra abgedruckt wurde: ich empfehle


[]

sie Ihnen: sie ist gesund für die Verdauung: der ernsteste Misanthrop
muß darüber lachen.


Zwei kleine Engelsköpfchen tauchten gleichfalls aus dem Ge¬
dränge auf, um Alles in Bewunderung zu versetzen, die Schwestern
Milonollo, zwei Violinspielerinnen, die eine von neun, die andre
von zwölf Jahren. Es giebt keine Kinder mehr; die Meisterschaft,
mit welcher das ältere dieser beiden Mädchen den Bogen führt, ist
ganz von dem Gepräge eines Rhode, eines Spohr, eines Mayseder:
Deutschland kann neue Kränze winden: diese beiden kleinen Italie¬
nerinnen kommen, um sie in Empfang zu nehmen. Diese Zeilen
sind die ersten Boten des bald ausbrechenden allgemeinen deutschen
Enthusiasmus.


Der glänzendste Punkt der ganzen Festlichkeit war aber ohn¬
streitig die Illumination. Städte, die an Flüssen liegen, haben
einen großen Vortheil voraus: es ist nicht wahr, daß das Wasser
ein Feind des Feuers ist; im Gegentheil: eS vervielfacht es durch
seine Spiegelungen in'ö Unzählbare. Der Anblick vom Meine aus
war unvergleichlich; ich glaube, der starrköpfigste Republikaner hätte
in diesem Augenblick royalistische Gesinnungen bekommen: die Auf¬
regung war allgemein und der Jubel wahrhaft vom Herzen kommend.
Als ich des andern Morgens nochmals an dem Rheinufer auf- und
abging, um die Stellen der nächtlichen Fröhlichkeit bei Tageslichte
zu betrachten, da waren die Lämpchen ausgebrannt, die Dochte
schwarz , die Schiffer schläfrig, und die Stadt lag im Morgennebel
nüchtern und werktäglich da.


Ist dieses ein Symbol? Wird das Cölner Fest nichts als
eine vorübergehende Illumination, eine augenblickliche Aufregung,
ein Schauspiel für einige Stunden gewesen sein?


Note: R. G.


22[]

Briefe aus Se. Petersburg.



Note: Stillschweigen über die Jubiläumsfcstlichkeitcn und dessen Ursachen. — Der
Kaiser und seine mehrfache russische Benennung. — Russische Generale.
— Die Kaiserin Mutter. — Erziehung und Vermählung des jetzigen
Kaisers. — Seine Persönlichkeit und sein entsprechender Charakter. —
Gegensatz zu Alexander. — Verschwörung bei Nicolaus' Thronbesteigung.
— Kaukasus und Algier. — Russische Verschwörungen und constitutionelle
Wo ksausstände. — Tod des Herzogs von Orleans, — Bedeutung der
zwölftägigen Hoftrauer.

Man scheint überall in Erstaunen und Verwunderung darüber
gerathen zu sein, daß die Petersburger Journale bei Gelegenheit der
Jubiläumsfeste vom Ü3ten Juli ein solches Stillschweigen beobachtet
haben. Man frug sich überall: was soll das bedeuten? Und da
man sich hierauf keine befriedigende, thatsächliche Antwort geben
konnte, so griff man — besonders in englischen Journalen — zu«
nächst nach der Vermuthung einer Verschwörung. Man schob die
Ursache auf die Unzufriedenheit des Adels und auf den mißvergnüg¬
ten Senat.


Eine Unzufriedenheit kann aber in Rußland nicht zu einer öf¬
fentlichen Offenbarung kommen, am allerwenigsten wagt sie es, sich
bei einer feierlichen Gelegenheit kund zu geben: sie kann nicht ein¬
mal aus den Mauern des Palastes hinaustreten, denn alsdann
würde sie eine Empörung und als solche wäre sie in den Augen
des Volkes selbst ein unverzeihliches Verbrechen. Niemand hat das
Recht, mit dem Hossudar (dem obersten Richter) unzufrieden zu


[]

sein: er ist nur Gott verantwortlich; alle seine Handlungen erscheinen
der Ueberzeugung oder vielmehr dem Glauben des Volkes, gleich de¬
nen der Gottheit, mit dem Stempel der Weisheit und Gerechtigkeit
geprägt: das ist ein Gefühl, welches dem Volke durch die unbe¬
schränkte, ausgedehnte Macht eines russischen Herrschers eingeflößt
wird. Der Kaiser ist zunächst Staatsoberhaupt und als solches
nennt er sich Kaiser, Imperator; er ist der einzige und erhabenste
Beherrscher des Reiches, und als solcher heißt er, oder vielmehr
hat er selbst den officiellen Titel Autokrat, Samoder-
r e k angenommen; das Volk nennt ihn unter diesem Standpunkte
Zar, was der alte Titel der russischen Herrscher ist, der auch noch
im Kirchengebete „Spassi boze Zara" (Gott erhalte den Kai¬
ser) angewandt wird. Aber außerdem ist er auch und nennt ihn
das ganze russische Volk fast stets und hauptsächlich Hossudar,
oberster Richter. Es wird mit diesem Namen hier eine große, an¬
derwärts durchaus unbekannte, moralische Gewalt bezeichnet, der
Jedermann Gehorsam und Ehrfurcht schuldig ist; der Hossudar
selbst kann eigentlich diese Gewalt weder verringern, noch be¬
schränken, noch sie auf einen andern übertragen; und in diesem Um¬
stände vorzüglich ist die Ursache zu suchen, weshalb Minderjährigkeiten
stets eine so blutige Epoche in Rußlands Geschichte waren und
weshalb eine Regentschaft hier schwieriger und schmerzlicher wäre
als bei jedem andern Volke.


In dieser, dem heutigen Europa freilich schwer erschlichen, voll¬
kommenen Unbeschränktheit des Herrscherwillens (denn Deutschlands
sogenannte absolute Monarchien sind doch — Gott sei Dank —
ein ander Ding) ist auch die Ursache deS so befremdlich scheinenden
Stillschweigens der Journale über die Jubiläumsfestlichkeiten zu su¬
chen. Der Kaiser hat ihnen zu sprechen nicht erlaubt. Er hat die Feier
seiner silbernen Hochzeit, so viel es nur immer möglich war, auf
den engern Kreis des Familienlebens beschränken wollen, und hat
die Großen seines Reichs, den hohen Adel, mit dem unzufrieden zu
sein er so viele Ursachen hat, nicht dazu einladen mögen. Es sind
übrigens auch officielle Feierlichkeiten hier bet Weitem einfacher, als
selbst an dem etiquette- und prunklosesten aller jetzigen Höfe, dem
französischen. Der Kaiser muß nicht wie Louis Philipp die unzähl¬
baren constituirten Behörden empfangen; er ist der Mühe überhoben,


22»
[]

die alljährlich wiederkehrenden Phrasen ihrer Glückwünschungsreden
anzuhören und sie durch nicht minder stereotype Danksagungsreden
zu erwiedern. Hier am russischen Hofe erscheinen, mit Ausnahme
der heiligen Synode, die Stellvertreter aller Behörden in Generals-
Unifvrm. Der russische General ist Präsident der Akademien, Di¬
rektor der Wegebauren und Brücken, Postdirector, Theaterintendant,
Minister des öffentlichen Unterrichts, Hospitalinspector, Vorstand deS
adeligen Damenpensionats, kurz der russische General ist gleich dem
französischen Advokaten alles Mögliche.


Kaiser Nikolaus wird im December laufenden Jahres erst 4t»
Jahre alt; er verheirachete sich also ziemlich früh, zu zwanzig Jah¬
ren. Die Kaiserin Mutter empfand über das zukünftige Schicksal
des Reichs mannigfach unruhige Besorgnisse: Alerander'S Gemahlin
blieb zu ihrem Leidwesen kinderlos, Alexander selbst führte zu ihrer
Betrübniß ein allzu unregelmäßiges Leben und Constantin benahm
sich gegen seine Gemahlin auf eine so brutale Weise, daß dieselbe
vor ihm die Flucht ergreifen mußte. Das traurige Zusammentreffen
dieser Umstände flößte der Kaiserin Mutter die Furcht ein, es möchte
die direkte Thronfolge unterbrochen weiden; sie überwachte daher
mit um so größerer Strenge in Erfüllung ihrer Mutterpflicht die
Erziehung der beiden Großfürsten, Nikolaus und Michael, der beiden
letzten von den neun Kindern, die sie von Paul I. gehabt. Durch ihre
Sorgfalt wurden sie, so weit dies an einem Hofe, wie damals der
russische war, geschehen konnte, von der verführerischen Welt der
schönen Frauen fern gehalten; Nikolaus, auf dein alle Hoffnung der
Kaiserin Maria Feodorowna beruhte, war besonders den Vorschriften
einer fast strengen Erziehung unterworfen; seine überlegene Geistes¬
kraft, sein ruhiger und bis zur Kälte ernster Geist, so wie seine
Arbeiiöliebe machten übrigens seine Erziehung für die Kaiserin
Mutter zu einer leichten und angenehmen Beschäftigung.


Kaum hatte er seine Studien vollendet, so sandte ihn die sorg¬
same Mutter aus Reisen, damit er die Staaten Europas kennen
lerne und sich in Deutschland, dem von Ewigkeit her prädestnirten
Naterlande der russischen Kaiserinnen, eine Gemahlin suche. Der
junge Großfürst verliebte sich während seines Aufenthalts in Berlin
in die älteste Tochter der preußischen Königsfamtlie, Charlotte. Die
Kaiserin war überaus glücklich, daß hier die Zuneigung ihres Sohnes


[]

mit ihren eigenen Plänen und Absichten so schön zusammentraf;
denn obgleich sie sich mit der Idee dieser Verbindung, die für Ru߬
land in politischer Beziehung von bedeutendem Nutzen sein mußte,
schon seit langer Zeit herumtrug, so harte sie ihrem Sohne dennoch
freie Hand in der Wahl seiner Gattin gelassen, weil sie vor Allem
wünschte, er solle in der Ehe ein wahres häusliches Glück finden.
Die preußische Königstochter kam nun nach Petersburg und ward,
nachdem sie den Namen Alerandra Feodorowna und die griechisch¬
katholische Religion angenommen, am 18ten Juli 1817 mit dem
Großfürsten Nikolaus vermählt. Die Kaiserin Mutter hat in dieser
Verbindung die Erfüllung ihrer theuersten Hoffnungen gefunden;
denn sie hat aus dieser glücklichen Ehe noch vier Kinder, zwei Prin¬
zen und zwei Prinzessinnen, erlebt. Jetzt besitzt Kaiser Nikolaus
im Ganzen sieben Kinder, drei weiblichen und vier männlichen Ge¬
schlechts, welche die Namen seiner Brüder, Alexander, Constantin
und Michael und seinen eigenen, Nikolaus, führen; Nikolaus ist
noch minderjährig und Michael noch Knabe.


Erziehung und zufällige, glückliche Anlagen scheinen gleich viel
beigetragen zu haben, um aus Nikolaus einen wahren russischen
Herrscher, einen ächten Hossudar und Autokraten zu bilden, wie ihn
Rußland stets nöthig hat, wie es ihn aber besonders nach dem Tode
Alerander's bedürfte.


Er unterscheidet sich von allen seinen Brüdern sowohl in phy¬
sischer, als moralischer Beziehung; er selbst aber ist in seinem Aeu-
ßeren ein getreues Abbild seines Innern. Die kolossale Größe sei-'
mes Körpers, die männliche Schönheit seiner Gesichtsbildung, sein
einfaches, aber majestätisches Benehmen, seine starke, tönende und
heroische Stimme entsprechen getreu seiner moralischen Individualität:^
die Ueberzeugungen des Kaisers, seine religiösen, wie seine politischen
Grundsätze sind fest und bestimmt, sein Charakter ist abgeschlossen
und unabhängig, wie seine Gewalt unbeschränkt.'


Der schwankende, unselbständige Charakter Aleranders und die
Unsicherheit seiner Ueberzeugungen hatten einen nachtheiligen Einfluß
auf das Geschut des russischen Reiches ausgeübt. In religiöser Be¬
ziehung war sein Geist mehrfachen Umwälzungen unterworfen gewesen;
als ein Zögling Laharpe's bestieg er den Thron, voll der Ideen des
Isten Jahrhunderts; alsdann kam ein Augenblick, wo er sich gleich


[]

seinem Vater Paul zum Katholicismus hinneigte; nachher ging er
vom Mysticismus zu einem religiösen und politischen Liberalismus
über; und in den letzten Jahren seines Lebens endlich hatte sich eine
unerklärliche, melancholische Sehnsucht seiner Seele bemächtigt. Eben
so mannigfach wechselnd war seine Politik. Erst den dringenden
Bitten Englands nachgebend, führt er unermüdlichen Krieg mit
Frankreich; obgleich bei Austerlitz geschlagen, rückt er bei Eylau und
Friedland nochmals in's Feld und wird ein zweites und drittes
Mal besiegt. Darauf voll Bewunderung für Napoleon drückt er in
Tilsit mit Herzlichkeit die mächtige Hand des Eroberers. Später dann
ward Alexander wiederum ein Vasall Englands und ein unversöhnlicher
Feind des französischen Kaisers; er ward die Seele des Wiener
Congresses. Innerhalb seines eigenen Reiches, das gute, wie böse
Eindrücke lediglich von seiner Hand erhielt, zeigte sich der Nachtheil
dieses schwankenden Charakters des Kaisers Alerander noch deutli¬
cher. Rußland befand sich nach den Erschütterungen von 1815 in
einem gefährlicheren Zustande, als mancher andere Staat Europas.
In den höhern Ständen war das Familiengefühl, das einzige, das
diese Kreise der Gesellschaft an den Kaiser bindet, gelockert und ge¬
schwächt: daher entstanden in allen Ecken des weiten Reiches Ver¬
schwörungen; aber alle hatten sie nur einen negativen Zweck, näm¬
lich die Zerstörung der Dynastie, und da Nußland im Kaiser perso-
nificirt ist, also auch des Staates selbst; ein abscheuliches Gefühl
der nacktesten Selbstsucht und der gräßlichsten Anarchie belebte all
diese vornehmen Verschworenen. Man tanzte damals in Nußland
nicht minder auf einem Vulcan, als 1830 in Fankreich. Zu diesen
Gefahren von innen gesellten sich nun noch andere von außen. Eng¬
land, eifersüchtig auf Rußlands Macht, erregte ihm überall Feinde,
in Asten war es Persien, in Europa und in Asien die Türkei.
Diese schwierige Lage ward noch verwickelter durch die Unsicherheit
der Thronfolge. Constantin's Entsagung war nicht öffentlich bekannt
gemacht worden; nach dem Tode Alerander's konnten sich daher die
Verschwörer, um die Armee auf ihre Seite zu bringen, als die
Vertheidiger des rechtmäßigen Czaren ausgeben, dessen Rechte ver¬
letzt seien; Nikolaus selbst, der sofort, als die Nachricht von Aleran¬
der's Tode ans Taganrog nach Petersburg gekommen war, die Zü¬
gel des Reichs ergrissen hatte, ließ sich erst am Meer December,


[]

als die nochmalige offizielle Thronentsagung Constantin's von War¬
schau nach Petersburg angelangt war, zum Kaiser ausrufen. Seine
Thronbesteigung ward also von einer Verschwörung begrüßt, deren
Mitglieder im ganzen weiten Königreiche verbreitet waren und die
im Geheimen längst Alles zu einem Aufstande abgekartet und ge¬
sponnen hatten: aus den Casernen tritt die Verschwörung auf
die Straßen und geht direkt auf den Palast los, in dem sich
die kaiserliche Familie befindet, deren allgemeine Ermordung beschlos¬
sen worden ist und deren „Staub bald in alle Winde zerstreut
werden sollte," nach dem grausamen und cynischen Ausdruck
Bestuczef's, eines der fünf Verschworenen. Unentschlossen harrte
Nikolaus, den seine Gemahlin und seine Kinder umgeben. In
diesem entscheidenden Augenblick trat die Kaiserin Mutter herein
und sagte feierlich zu ihrem Sohne:


„Du bist nicht an Deinem Posten! Derjenige, von welchem
das Schicksal von sechzig Millionen abhängt, darf nicht anstehen,
sich in Lebensgefahr zu begeben, wo eS seine Krone gilt."


Der Kaiser verläßt den Palast. Eine Kugel, die nach ihm
gerichtet wird, trifft den General Miloradowitsch, den Gouverneur
von Petersburg, auf den Tod; aber in einem Augenblick darauf
ist Alles beruhigt, der Aufstand stürzt demüthig nieder vor dem
Muth und dem Ansehen des jungen Hossudar, um bald darauf
eine strenge Züchtigung zu erfahren. Dieses Ereigniß, unter dessen
traurig blutigen Auspickn des jetzigen Kaisers Regierung begon¬
nen , so wie die entsetzlichen Pläne der Verschworenen haben einen
entscheidenden Einfluß auf Nikolaus' Charakter geübt und ihm
jene Härte gegeben, wodurch er so mannigfach, besonders im
Auslande, gegenerweckt hat. Als Mensch zeigt sich Nikolaus edel-
herzig und theilnehmen'd, als Kaiser aber unbeugsam und streng;
kein fremder Wille hat auf den seinigen irgend einen Einfluß; alle
seine Handlungen entspringen unmittelbar seinem eigenen Willen.


Wenn die außerrussischen Journale Nachrichten aus Petersburg
enthalten, die nicht officiellen Ursprungs sind, so drehen sich dieselben
gewöhnlich um einen der drei folgenden Gegenstände: eine Amnestie
für die Polen, Niederlagen der russischen Heere gegen die Tscherkessen
und die furchtbaren Verschwörungen in Petersburg. Ich will die
Amnestiefrage ganz mit Stillschweigen übergehen; denn sie ist von


[]

so hoher Bedeutung, daß sie nur durch den Eintritt überaus wich¬
tiger Ereignisse im übrigen Europa ihre Entscheidung erhalten kann.


Der Kaukasus ist in militärischer Beziehung das für Nußland,
was Algier für Frankreich ist, natürlich ohne alle Vergleichung im
Punkte der Kosten und des endlichen Zweckes und Nutzens. Es
ist also von dieser Art Nachrichten eben so viel zu halten, als man
voy einer periodisch wiederkehrenden Nachricht einer vollständigen
Besiegung der französischen Armee durch Abd-el-Kader und den Sul¬
tan von Marocco zu halten hätte. Was endlich die Verschwörun¬
gen anbelangt, so habe ich Ihnen schon in meinem vorigen Briefe
gesagt, daß dieselben hier zwar vu z>ormiui<zue<; sind; sie haben aber
jetzt Furcht, an's Tageslicht zu treten und sich dem Kaiser zu nä¬
hern; sie sind alle nur farblose, blasse Nachdrucke jener ersten, die
Nikolaus bei seiner Thronbesteigung besiegt und gezüchtigt hat. Die
russischen Verschwörer sind nicht Männer der theoretischen Grund¬
sätze und noch weniger sind sie die Leute, welche Glaubensfestigkeit
und Ueberzeugung genug besitzen, um irgend einem höhern Principe
zu lieb ein Spiel zu beginnen, dessen Einsatz ihr Leben, dessen Ka¬
tastrophe ein Schaffst sein kann; ihre erbärmlichen Beweggründe
waren und sind stets nur persönliche Unzufriedenheit, Ehrgeiz,
Egoismus, kleinliches Kasteninteresse.


Eine Art Vergeltung für die Bereitwilligkeit, mit der man in
Europa Gerüchte von russischen Verschwörungen aufnimmt, zeigt sich
in der Vorliebe, welche Rußlands Aristokratie für die Nachrichten
von Aufständen hat, die an einem der Höfe des freien Europa aus¬
brechen. Namentlich ist diese Neuigkeit von einer in Paris ausge¬
brochenen Emeute eine schmackhafte Frucht; sie entzünden daran
stets wieder ihren Haß gegen die Demokratie und gegen jede Idee
zur Verbesserung der gesellschaftlichen Lage.der Leibeigenen.


Der Tod des Herzogs von Orleans, das seltsame Zusammen¬
treffen dieses für Frankreich in seinen Folgen noch so unberechenbar
verhängnißvollen Ereignisses mit der Jubelfeier von des Kaisers
Hochzeit, hat, wie alle Personen seiner Umgebung behaupten, eine
Unruhe in seinen Geist geworfen, der nicht frei ist von dem, was
man Aberglauben nennt, was aber im Grunde doch nur ein furcht¬
sames Erstaunen der Seele über ein unerwartetes Hineinragen
höherer Mächte in unser alltägliches Leben ist. . . . Der Kaiser


[]

hat eine Trauer von zwölf Tagen angeordnet, die bedeutendste, welche
der Petersburger Hof je für ein nicht gekröntes Haupt angelegt hat;
geht ja doch selbst für gekrönte Häupter dritten Ranges, wenn sie
nicht mit der kaiserlichen Familie verwandt sind, die Trauer nicht
über acht Tage hinaus. Es ist dieser Entschluß des Kaisers in so
fern von Bedeutung, als dadurch die besonders unter Frankreichs
legitimistischen Adel häusigen, wenigstens von demselben ermunterten
Erfinder und Verbreiter der ihm in den Mund gelegten beleidigen¬
den Aeußerungen gegen das Haus Orleans vollkommen Lügen ge¬
straft werden. Den Kaiser selbst verdrossen diese Zumuthungen
nicht wenig und er äußerte sich oft unwillig darüber gegen Herrn
von Barante, den französischen Gesandten.


Jedenfalls scheint diese Hoftrauer ein Ereignis; von bedeutender
politischer Wichtigkeit; in so fern es der erste, so zu sagen, Familienakt
zwischen den beiden Höfen ist, und in so fern sie die definitive An¬
erkennung der Legitimität der Dynastie Orleans von Seiten des
Kaisets Nikolaus außer Zweifel stellt.


Note: ^ q- *

[]

Bilder aus dem deutschen Universitätsleben
(von
Ed. Mulle r.)


II.
Göttinger Persönlichkeiten.



An einem grauen Aprilabend hatte ich das Glück, die bekannte,
verhängnißvolle Wehnder Höhe bei Göttingen zu übersteuern, wor¬
auf ich mit brausendem Gespann durch die Ebene hintrieb, in deren
Mitte, von sanften Hügeln malerisch umschlungen, das hannöversche
Athen gelegen ist. Ungesellig ragten die sonderbaren Formen der
Pfarrthürme in die gebrochnen Abendwolken hinein. Je mehr ich
mich dem Thore näherte, desto bunter, getümmelvoller, klirren¬
der, klatschender wurden die Straßen. Mir war der Anblick der
phantastischen Trachten, die jeden englischen Fancydreß hinter sich
lassen, der vielfarbigen Kopfbekleidungen, Bänder und Quasten, der
Abzeichen der Verbindungen oder Corps, nichts Unbekanntes. Mich
überkam jedoch ein Gefühl, als wenn ich einer andern Weltordnung
mich einfügen sollte, sobald ich in die Mitte dieser Fluth, dieses
Hin- und Herziehens, zu Fuß, Gaul und Einspund, gerathen war,
dieses Gewoges, welches in den letzten Tagen vor Anbruch des Semesters
und nach erstem Anzapfen des Wechsels, aus den Thoren der Stu¬
dentenresidenzen zu strömen pflegt. Und freilich war es eine andere
Weltordnung, in die ich trat, das Reich der Jugend, ein neues
Hellas, beherrscht von der Lust des Augenblicks, mehr Spiel als


[]

Arbeit, von keinen Sorgen verdüstert, in leichtbeflügelten Wechsel
dahinrauschend.


Kaum angelangt in dem neuen Wohnsitze, suchte ich Gelegen¬
heit, manche von den Lichtern am damaligen Göttinger Firmament
kennen zu lernen. Ich hatte mir vorgenommen, ein oder ein Paar
Halbjahr den allgemeinem Bildungsfächern zu widmen. Denn das
Studiren im engern Sinne, oder das „Ochsen," betrifft einzig die
Wissenschaften, welche ein Staatseraminandus testirt haben muß,
womit nicht gesagt ist, daß er sie gehört, am allerwenigsten, daß er
sie ergründet habe. Von meinem Brotstudium, der Jurisprudenz, habe
ich nicht viel angenehme Reminiscenzen; diese Wissenschaft ist an und
für sich selbst zu grau, um helle Reflere zu geben; sie wird erst
blinkend in ihren Erfolgen.


So kam ich eines Mittags zu Bouterweck, dem berühmten Lite¬
raturhistoriker, dem Apodiktiker, Metaphystker, Aesthetiker, dem geist¬
reichen Hofrath, der sogar eine Art Dichter vorgestellt hatte, und
dem man nachsagte, er habe seinen angebornen Harzer Namen But¬
terweck (zu niederdeutsch Buttersemmel) in den, freilich nachdenklicher
lautenden: Bouterweck, umgeändert. Um diesen Namen schimmert
noch jetzt ein romantischer Abglanz. Daß Er es ist, der den Deut-
schen ihren Jean Paul gegeben, der ihn als „Dichter" verständlich
gemacht, hat die Nation, wenn sie es gewußt, bereits wieder ver¬
gessen. Auch ist kein Gewicht daraus zu legen, daß er in der Ge¬
schichte der Dichtkunst, während er den Grasen Donamar perhorres-
cirte, doch nicht umhin konnte, sich selber als Liederdichter zu erwähnen
und in die Hefte hineinzudictiren. Mehr als Alles dies machte ihn
bei Jünglingen und Damen die Patronschaft, mit der er E. Schulzen
gehegt hatte, populär. Jeder Mann von Gefühl kennt das Grab dieses
Sängers der Rose und Cäciliens, diesen Wallfahrtsort der Göttinger
Musenjugend, welche an Liebe und an Harfe und Leier leidet.
Bouterweck machte bei mir den Eindruck geschickt conservirter und
zu Tage gestellter Jugendlichkeit. Das künstliche Haar, das sich
nächtlich über eine gern niedergebeugte Stirn erhob, das unstäte,
in verhaltnen Feuer leuchtende Auge, die schnelle, kurz abgeschnittne,
bewußt markirte Rede, ließ mich in ihm nicht den bejahrten Mann
vermuthen, den ich wenige Monate nach meiner Ankunft zu seiner
letzten Ruhestätte, wenn es nicht die erste war, begleiten sollte.


[]

Noch jetzt ist mir unbegreiflich, wie Bouterweck sah und hörte; denn
er war mehr taub als hörend, eben so blind als sehend. Er schien
durch ein Ahnungsvermögen inne zu werden, was der Besuchende
vorbrachte, so daß er nur selten in der Konversation abseits ging oder
es an sich fehlen ließ. Wenn ein Wagen vor seinem schallenden
Hörsaal vorbeirasselte, so mußte er auf diesen Lärmen, der alle seine
Worte erstickte, durch ein allgemeines Stampfen der Zuhörerschaft
aufmerksam gemacht werden, wo er dann inne hielt, bis das rauhe
Pflaster sich beruhigte. Dies bewies, daß er sich selber nicht reden
hörte, ein bemerkenswerther Fall bet einem ästhetischen Professor.
Er hatte die Methode, wie viele Göttinger Docenten, Alles, was
er lehren wollte, zweimal vorzubringen; während nun der Schüler
den Geoanken aufs Papier hinfederte, gab ihm der Meister die
nöthige Zeit, indem er in lauter Kreisen und Schlingen sich um
den Gedanken drehte, und in beständigen Variationen des nämlichen
Satzes sich erging. Im Umgang hatte Bouterweck daS Benehmen
eines Hofmanns, und zwar eines solchen, der die Gunst und den
Respect der Menge auf seine Weise immer neu anzuschüren versteht.
Wendt, sein Nachfolger, mit seiner Leipziger Physiognomie, war auch
eine Spielart von einem Hofmann, nur entging ihm die rechte
Würde, das Ministerhafte; er vermeinte, mit dem Frack und Hofrath
sei eS gethan, und so kam er über die Staffel der Prinzenhofmeister-
lichkeit nicht weit hinaus. Auf unnachahmliche Weise haranguirte
Bouterweck wohl mit einer blinkenden Thonpfeife die an schönen
Sonn-und Feiertagen bei Tanz und Getränk im Walde bei Maria-
Spring versammelte Menge, worunter immer einige Tische voll
Honoratioren aus dem lateinischen Katalog waren. Behutsam und
sicher spazierte er durch die gefüllten Neihensitze hin, vernahm die
Grüße benickend, als ein Mann, der gewohnt ist, Huldigungen ge¬
recht zu finden, und der jeden Grad seiner Nackenbeugung mit dem
empfindlichsten Quadranten beimißt.


Ein baares Gegentheil dieses Professors war Schulze, der
schlaue Logicus, der jedem Ankömmling die ersten syllogistischen
Stiefeln anlegte. Jedermann hörte Schulze, den Mann, der von
Zeit zu Zeit die Neuigkeit wiederholte, daß Er es gewesen, der
Kant gestürzt! Berühmt waren seine Seelenkrankheiten, ein Jrrenhauö-
panorama, i» welchem er die Lehren seiner Gegner unterzubringen


[]

wußte. Schulze war eine langarmige, grünrockige Figm, mit weißem
Kopf, von einem hausbackenen, anekdotengespickten Vortrage, der
aber nicht gar selten die Batterien einer mörderischen Polemik er-
donnem ließ. Seine Todfeinde waren die „Herren Hegel und
Schelling;" er widerlegte sie nicht allein mit dem Munde, sondern
zugleich mit Armen und Beinen, er packte wie ein Prediger auch
den gefühllosen Pult, schüttelte sich auf seinem Orakelstuhl, warf
den Kopf platt auf das Heft, das vor ihm lag, kurz er electrisirte
seine Zuhörer mit Gewalt; ich will nicht sagen, daß er sie magneti-
sirte: einer solchen Blasphemie würde er noch aus dem Grabe her¬
aus widersprechen; alle Magnetkraft, — außer der eisensteinernen,
diesen, fast logischen Mechanismus, welcher das Eisen auf eine so
begreifliche, natürliche Weise an sich lockt, —war ihmMarltschreierci;
jeder seelische Magnetismus, das Hellsehen, das Singen in der
Gurgel, das Brieflesen mit der Magengegend, das Hereinragen
einer Geisterwelt, diese gräuliche Wunderdoktorei, Hegel und Spinoza,
das war ihm der tiefste, ungeheuerlichste Abgrund der Seelenkranl-
hetten; gegen diese Gespenster verführte er ein unausgesetztes Treib-
jagen, wie ein hannoverscher Landjunker auf die Einwohner des
Sollings und des DeisterS.


Vielleicht, mit aller gebührenden Pietät sei dies gesagt, viel¬
leicht hat nie ein zierlicherer, sparsamer constitutrter Hofrath gelebt
und docirt, als Dissen, der trockenste zugleich und enthusiastischste
Philologe, vom feinsten attischen Geschmack, den Göttingen seit lange
besessen hat. Kürzer zwar — um bei dem Nächsten stehen zu
bleiben — kürzer an Leibeslänge als Jener, war ein sogenannter
Hofrath an der Bibliothek, Dornissen, eine phvnizisch-ägyptische Ge¬
lehrsamkeit; nur ist das hieroglyphische Problem nie ganz ans Licht
gekommen, ob Derselbe ein Hofrath gewesen; wir wissen nur soviel,
daß die Studirenden ihn mit letzterem Ehrentitel anzugehn Pflegten,
um, wie nun einmal der Glaube herrschte, zu bewirken, daß das
begehrte Buch auf der Königliche» Bücherei gerade vorräthig sei.
— Bei dem trefflichen Dissen hatte die Natur den Mißgriff gemacht,
daß sie ihn unter die eisige, hyperboreische, grubenhagensche Sonnen¬
scheibe versetzt hatte. Reinste auch sein Körper über die Höhe eines
guten Folianten hinaus, so stand er doch an Peripherie den bestge¬
nährten darunter nach. Dieser verkümmerten Pflanze fehlte die


[]

ionische Sonne, der heilende Balsam akademischer Gärten und der
warme Schatten attischer Oelhaine. Drum hat er auch frühe die
schroffe, herbe, götterlose Welt verlassen, in deren Barbarei er nichts
Theures und Vorerhebenswerthes fand, als den Nachklang jener
einzig unübertroffner, ewig musterhaften Zeiten, in denen Musen
und Grazien noch leibhaft mit den Sterblichen verkehrten. Dissen's
Unterhaltung konnte dem Ankömmling, der seinen freien, begeisterten,
stillen Sinn nicht kannte, manchmal launenhaft, tonlos, schnöde ab¬
stoßend vorkommen; mancher hat wohl gemerkt, daß er sich ungern
aus seiner heimischen Welt, von Buch und Manuscript losriß, um sich
mit einem Besuchenden einzulassen, von dem er ja voraussetzen durfte,
daß derselbe noch eine sehr corrupte Ausgabe eines durch und durch
unclassischen Autors war. Im Grunde seiner Seele aber war
Dissen ein wahrhaft humaner Mann, der das Alterthum wie ein
köstliches, alle Glieder durchwärmendes Getränke in sich eingenom¬
men hatte, der in seinem Geiste das Bild griechischer Schönheit und
Klarheit trug, wie eine himmlische Geliebte, deren Cultus er jeden
Tag seines Lebens weihete. Fand er bei einem Schüler einen offe¬
nen Kopf, eine Freude an seinen Lieblingen, den Alten, so ward er
der beredteste, mittheilsamste, eindringlichste Lehrer und Rather. Sein
Gespräch gewann alsdann einen leichten, heitern Fluß, Gesicht und
Hände arbeiteten ohne Mühe die Gedanken hervor, die im Stillen
lange gereift, sich ihm schnell und in Fülle darboten. Ganz anders
konnte er in seinen Vorträgen ex vMciu sein. Durch unbarmherzige
ErPositionen, durch endlose Wiederholungen und Mühsam zusammen¬
gedrehte Phrasen, was man auf studentisch „Kohl" nennt, ärgerte
und brachte er die Zuhörer zu Seufzern und zur Verzweiflung. Sofort
aber flößte er durch klare, edle Auffassung des Geistes und der
Kunstform Neigung, Lust und Bewunderung für die Sache ein,
eine Bewunderung, die auf Verständniß und Gründen beruhte.
Sein College or. Müller, den der philologische Eifer bis in die
tödtende Sonne von Delphi getrieben hat, eroberte den Zuhörer
von vorn herein durch wohlgesetzre, blühende Rede, durch die Naschheit
seiner Ideen, den Ueberfluß seiner Anschauungen und Hypothesen;
er weckte und schüttelte mit den ersten Worten auf, und diese Wir¬
kung, der es nur zu oft an endlicher Befriedigung gebrach, setzte
sich bis zu Ende seiner Rede fort. Dissen kam auf dem entgegen«


[]

gesetzten Wege zum Ziel; der Genuß war bei ihm die Frucht der
Mühseligkeit, er schreckte durch Schweiß und Gähnen ab, um Den,
der ihm zu folgen wagte, desto reichliches zu belohnen. Er war
frei von allem .Theatereffekt, den so viele seiner Kollegen, Mediciner,
Theologen, und natürlich Privatdocenten, suchten oder suchen mußten.
In der quälenden Manier des Vertrages ging der Professor Eloquentiä,
Mitscherlich, noch über ihn, nur heilte oder vertuschte dieser Alles
noch mehr durch seine gleich riesenhafte Gelehrsamkeit und Berühmt¬
heit. Dissen'S Vorlesungen waren von einer Menge solcher Jüng¬
linge besucht, die des guten Tons- halber studirten, Barone, fürst¬
liche Studenten u. tgi. Er hatte in seiner Jugend mit einer
Anzahl wissenschaftslustiger Curländer lehrend, lernend, reisend ge¬
lebt, ganz seiner Vorliebe für das Alterthum hingegeben. Diese
Jahre pflegte er die glücklichsten seines Lebens zu nennen. Zu sei¬
nem Ruhme gereicht es endlich noch, daß er keinen „Grasentisch"
hatte, dieses obscurante Institut, womit ein Heeren, Blumenbach,
Bouterweck, Schulze, Hugo, Sartorius von Waltershausen u. A.
den Hörsaal zierten.


Einen schroffen Gegensatz zu einander bildeten Heeren und
Dcchlmann. Dieser, ganz ein Mann, ein römischer Consular, noch
mehr, ein nordischer Volksvertreter, fest, aufrecht, ein honorer, un¬
beugsamer Baß, der die Geschichte mit dem ehernen Munde eines
Richters, ruhig, hartherzig, doch mit unterlaufenden, aus dem
Grunde der Seele auftauchenden tragischen Klängen vortrug. Vor
Dahlmann's deutschem Sinn und eiserner Urtheilskraft, vor diesem
wortkargen Patrioten mußte die geschwätzige, schäumende, aus dem
Jahr 14 zugestutzte Großrednerei Saalfeld'ö, des Lieblings der
Füchse, in Staub zerfallen. Saalfeld stürzte halbjährlich den Bona¬
parte vom Thron, wie Menzel den Göthe, und er hatte den furcht¬
baren Gebrauch, all die Meisterwerke seiner Zunge in den Druck
zu geben/ Was Heeren betrifft, so war der seinerseits eine weib¬
liche, furchtsame, überlegungövolle Natur, eine gezogene, fistulirende
Stimme, ein spinnender, drehender Lehrvortrag, ein fleißiger, mütter¬
licher Haushalt mit ehelich erworbenen und eigenhändig verarbeiteten
Geschichtsschätzen, ein Freund des wohnlichen Hauses und der Ca-
binette, empfindlich gegen die Zugluft deö öffentlichen Lebens, höch¬
lichst delicat gegen unser Jahrhundert und einen Theil deö ver-


[]

flossenen, tuschend, klug, consequent und — glücklich. Wenn Dahl-
mann mit Schwert und Scepter in den Waffen- und Geifterlärm
der vaterländischen Geschichte trat, so sortirte Heeren lieber die glat¬
ten Pfade der Diplomatie aus, mit feinfühlender Stricknadel Schau¬
seite er Strich für Strich den Staub und Sand der Geschichten
aus, und zeichnete die Handelsstraßen der alten Welt wie Linien
einer Landkarte vor uns hin, er grub die Wegweiser aus dem Schutt
der Wüsten auf, wog den Karawanen des untergegangnen Indiens
und Meroes ihre Lasten zu, spürte den Platzen nach, wo lange vor
Joseph und Semiramis die Lederschläuche in den Cisternen sich
tränkten; Heeren, ein Kind des hanseatischen Bremens, tarirte den
Ein- und Austausch Arabiens und Mesopotamiens, zählte Truppen
und Revenüen der Fürsten und Republiken, verzeichnete den Ertrag
des Bodens und lobte, obgleich er selten urtheilte, die gemäßigte
Monarchie. Bei Heeren sammelte der Zuhörer sorgsam gesichtete
Kenntnisse ein, immer war man gewiß, bei ihm den Seckel voll
vieler, kleiner Münze mit zurückzubringen. Schade, daß der Verfasser
der Ideen, der Freund des europäischen Gleichgewichts, über die
neuern Geschichtsereignisse ängstlich hinwegcilte; eS schien ihm nicht
zu gefallen, daß eS noch immerfort Geschichte geben wollte; darin
war es ihm gar nicht geheuer; und wenn er denn auch, sobald er
auf deutsche Schmach und Erhebung zu reden kam, die Stimme
erhob, ein rednerisches Bild daran wagte, eine poetisch verhüllende
Metapher hineinnähete, so mußte dennoch immer der dünne Faden
seiner historischen Spindel hindurchsausen. Heeren gab unter seinen
Materialien viel Bedenklichkeiten, Dahlmaim mehr Muth; jener war
in den Weltbegebenheiten gelernt und geschult, dieser ergriff, wie
die Ereignisse selbst, den Kopf und den Charakter.


Die barockste Originalität, wodurch Blumenbach eben so weltbe¬
rühmt und unsterblich geworden, wie durch sein Naturgeschichtssystem
und seine Schädelracen, konnte man wohl für ein Naturphenomen
ansehen, so fremdartig, humoristisch ragte dieser Mann unter den
übrigen denkenden Köpfen, seinen Amtsbrüdern, hervor, ein eroti¬
sches Gewächs unter den einheimischen. Die Erscheinung dieser
seltsamen Celebrität war ein Inbegriff von Witzen und Curiosis.
War es der lebenslange Umgang mit der noch unerzogenen Natur,
mit Gethier und Gebild jeglicher Gattung, mit Schädeln aller


[]

Zonen, war es das Vertiefen in die geheimste Werkstätte, in
alle Labyrinthe und Winkelzüge des Naturschaffens, in die Sitten,
das Gemüth und den Haushalt jedweden Thieres, in Land, Luft,
Wasser und Schlamm, von dem schlaflosen, luftigen Vogel bis
zum trägsten Polypen des Göttinger Stadtgrabens, woran das
derbe, unerschöpfliche Witzgmie sich in ihm entwickelt hatte, diese
ungeschlachte Calemberger Gradheit, dieser Ueberfluß Von Laune,
von Einfällen und Schlagwörtern, die, gleich den hundert Kin¬
dern des Nilgottcö, sich um ihn her tummelten? Blumenbach
wohnte in dem am Thierreich, an Käfern und Mückenschwärmen,
ergiebigsten Quartier Göttingens) in der dichten Laube seines
Gärtchens, wo er Kaffee trank, rraminirte und belauschte er jede
sangbare Kreatur, welche ihm seine „Lieferanten," die Straßen-
bubcn, herbeischleppten. Hätte der Mann da auf und vor dem
Katheder, — denn er wandelte beständig, wenn er lehrte, —
nicht im Knopfloch seines schlotternden blauen Fracks den Wel-
fenvrden, das verführerische Idol der GeorgSaugustianer, ge¬
tragen, so würde man sich eingebildet haben, man wohne einem
Larven- und Schattenspiel bei, und der greise, hohe Redner sei
berufen, den buntgmiischten Zug der Satyre, Faune, Elfen, Niren,
diese Phantasmagorie bepelzter, gefiederter, gepanzerter, bemalter
Wunderwesen zu deuten. Aber er that mehr, als ein gemeiner
Dolmetsch. Er riß der Natur die Maske vom Antlitz und zwang
sie mit unerheucheltem Laut uns anzuschreien. Blumenbach, vor¬
zugsweise mit dem Ehrennamen des „Alten" belegt, gehörte in die
frühere Heroenzeit der Lichtenberge, Kästner und Schlözer. Welch
einen reellen Dienst würden die mysteriösen Verfasser des berüchtigt
ten Buches über die Universität Göttingen der Lesewelt erzeigen,
wenn sie mit mehr historischem Gewissen, als in jener vergriffnen
satyrischen Schrift, all den Geist und Humor einsammeln wollten,
den Blumenbach während länger als einem halben Säculum vor
den Göttingern aufgesprüht, wohl gar verschleudert hat, und der,
wenn sich kein Biograph desselben annimmt, in der Tradition, bei
einem von Jahr zu Jahr witzärmern Geschlecht bald den Weg alles
Geistes und Fleisches gehen muß.



23[]

T a g e b u es.



i. Gutzkow'« gehauen«lec Schriften. » Bär»«.


Gutzkow hat aufgeräumt, die zerstreute», durcheinander geworfenen Er¬
gebnisse einer vierjährigen journalistischen Thätigkeit sind geordnet und an den
Faden gereiht worden, der, wenn auch dem Publikum bisweilen unsichtbar,
dennoch in naturgesetzlicher Nothwendigkeit durch die verschiedenartigsten Jdeen-
gcspinnste eines und desselben Verfassers geht. Man hat viele alberne und
unüberlegte Einwendungen gegen die Gewohnheit der jetzigen Schriftsteller,
zerstreute, journalistische und Gclegcnheitsaufsätzc in einem Buche zu vereinen.
Diese superkluger Tadler wünschen wahrscheinlich, der lebende Schriftsteller möge
warten, bis er todt ist und dann ein speculircndcr Buchhändler sein zerstreutes
Erbe mit breitgreiftnden Händen, ohne Ordnung, ohne Auswahl aus eine»
Haufen zusammenscharrt; ein trauriger Liebesdienst, den man vielen guten
und schlechten Schriftstellern der früheren Dezennien erwiesen hat. Zudem —
ein Journalist ist wie ein Lyriker, die Gelegenheit regt ihn an, diese Anregung
bannt er auf das Papier, um wieder Andere anzuregen. So wirst die Ge¬
dankenwelt einander die ewigen Lichter wechselseitig in die Hände. Allerdings
giebt es Gelegenheitsgedichte wie Gclegcnhcitsurthcilc, die mit dem Augenblick,
der sie geboren, auch sterben müssen. Aber der Geist, das Herz, die Zeit, die
Menschheit hat regelmäßig wiederkehrende Bewegungen — und es giebt Jour¬
nalisten, deren Gelegcnheitöerzeugnissc unsterblich sind, wie die Gelegenheits¬
gedichte König Davids, Horazens, Petrarcas, Uhlcmds, wie die Marseillaise
und das «va Sapo tu« King-. — und »och ein Drittes: das Buch „Publikum


[]

und das Journalpublikum sind zwei ganz verschiedene Corporatwne». Die
deutschen Journale, namentlich die belletristischen, werden nicht von Private»
für Haus und Familie gekauft, sondern von den Lesezirkeln, EasinoS, Cas<>6
öde. Da verschwindet das Wort mit dem Tag, wie das Blatt, nachdem es seine»
Dienst gethan, zerrissen oder zur Emballage wird: „Hast Du den Artikel von
gelesen?" — Ich war unpäßlich, abwesend, beschäftigt und las seit einigen
Tagen kein Journal. — Du mußt den Artikel lese», er ist witzig. — Aber
wo ihn bekommen? Laufet den Wellen nach, um sie einzuholen. Und wie viele
Journale, die in der einen Gegend Deutschlands erscheinen, werden in der an¬
dern nicht gehalten, und vollends belletristische, kritische Journale. Wie
Viele, die solche keines Blickes würdigen. Erst im Buche spricht der Schrift¬
steller zur ganzen Nation. — Was auch die hartnäckigsten Gegner Gustow's
gegen ihn vorbringen mögen; immerhin werden sie eingestehen, daß die Nation
nicht gleichgültig an einem ihrer anregendsten Geister vorübergehen darf; nicht
daß sie zu seiner Fahne schwören soll, aber seine Farben soll und muß
sie kennen, um im Kampfe der Zeit zu wissen,, wo und zu wem sie steht. Ich
bin weit entfernt, den Lobredner dieser gesammelten Schriften Gutzkow's zu
machen. Ohnstreitig ist in diesem Buche viel Unwahres, Leidenschaftliches,
Einseitiges, Gewaltsames, aber überall ist es eine kräftige, schneidende Hand,
die in die Dinge greift und ihren Antheil, wenn auch oft blutig, herausnimmt.
Das ist das Kräftige an Gutzkow, daß seine Aussprüche nicht gleichgültig las¬
sen, daß sie immer eine warme Zustimmung oder eine heiße Opposition hervor¬
rufen; aufregen wird er immer und seine falschesten Urtheile haben die Wir¬
kung eines Tuschbadcs, dessen Tropfen kalt und stechend auf den Kopf fallen,
aber eine Reaction hervorbringen, die stärkend und gesund ist. Und wie viel
Wahres, Treffliches, Glänzendes steht da neben den» Leidenschaftlichen und
Gewaltsamen. Die Gutzkowsche Kritik hat nicht das objective, ruhige Elem.ent,
welches die Dinge von allen Seiten betrachtet und die ganze Peripherie des¬
selben überschaut; sein Auge richtet sich gewöhnlich nach einem Punkte hin —
aber es ist das Auge eines Adlers, der Stellen sieht, die jedem Andern umsieht.
bar geblieben; auf solche stürzt er los und saßt sie mit gewaltigen Fingern
auf und trägt seine Beute fort, entweder um rettungslos sie zu zerfleischen oder
um zu seiner Höhe sie emporzutragcn und auf seinem Schilde sie emporzuheben.
Gutzkow, der Kritiker, ist ein Selbstherrscher im guten, wie im bösen Sinne;
voll Muth, Kraft, Genie, Eroberungslust, nur seinem eigenen Willen folgend,
darum oft vereinzelt, häusig bewundert, stets gefürchtet. So ist er immer
gewesen und so tritt ex aus dein vorliegenden Buche von Neuem uns entgegen,


23
[]

Eine Kritik des Buches zu geben, kommt uns nicht in den Sinn, weil man
nie Kritiken über Kritiken schreiben muß. Worüber wir ein Beifallsgeschrei
erheben möchten, das werden Andere verdammen, was wir tadeln würden, erregt
bei Anderen vielleicht Enthusiasmus. Wir bewahren uns unsere Kritik für den
Dramatiker Gutzkow, von dessen gesammelten Dramen der erste Band gleich¬
falls vor uns liegt.


' ', ' . 7 2.
Die Prejwcrhciltuissc in Mcklcnbm'g - Schwerin.


Meklenburg hat einen Schritt rückwärts gethan. Es ist Schade, daß sich
sein bisher schwach geäußertes Streben nach Schritthalten mit, seinen Nach¬
barstaaten so wenig bewähren kann. In dem Zustande eines scheinbaren äu¬
ßeren Weiterstrebens und materieller Cultivirung praktischer Verhältnisse bleibt
seine interne Schwungfeder matt und kraftlos, wie sie immer gewesen. Ge¬
wöhnliche Interessen, die sich meist nur im Bereich' der Oekonomie äußern,
sind allein fähig, den Meklenburger wenigstens zu begeistern. Aber was ist
das für ein Geist? der aus der niedern Zone der Habsucht und Gcwinnes-
wuth; der Krämergeist, der, angekettet an den unbehauenen Pfahl seiner Un-
gebildetheit, ohne Streben nach äußerlicher Gewandtheit und einem glänzen¬
deren Standpunkt, um Pfennige seinen Kram verhandelt, oder sich auf den
Ladentisch wirst und, mit beiden Fäusten im Gesicht, in allen Ecken und Kanten
seiner umgekehrten Speculationskammcr nachkramt, wo er einen Lappen finde,
den er für einen Seidenflickcn verhandeln könnte.


An dieser compakten Spekulationsmateric laborirt nun leider, angesteckt,
auch die Blüthe der ganzen modernen Welt. Interesse am Reellen schiebt
den immer weiter poussirenden Trieb einer Charaktcrvevedclung, oder wenigstens
Verfeinerung der Gewerbsreagcnzien mehr und mehr in den Hintergrund einer
vermeintlich zu großen Idealität; nur was da ist, in seiner Allgemeinsaßlich-
keit, ist werthvoll; die Idee, vor ihrer Verkörperung schon manchmal die
Mutter des Glücks, ist verketzert. — Was soll nun aber in diesem zierdchas-
scnden Austand unsrer künstigen Welt die Literatur, doch ihre Zierde, für einen
Standpunkt gewinnen? — Sie trägt Fesseln und blüht; man peitscht sie,
und sie legt sich wie ein treuer Hund nieder zu den Füßen des schlagenden.
Die Literatur ist verkannt und eingesperrt, leider. Sie strebt nach Vervoll¬
kommnung, nach der möglichsten Unübcrtrefflichkeit, trotz dem, daß man sie


[]

nicht versteht, und den Narren für einen Poeten hält; sie sang eine Zeit
lang ihre Ketten verherrlichenden Lieder, aber sie sah, daß diese dadurch nicht
weicher wurden. Jetzt merkt sie, man müsse den Ring zu dehnen suchen, und
wie's scheint, soll es ihr gelingen, sie hat sich aufgerafft, sie sängt an, ihre intel-
lectuellen Muskeln schwellen zu machen, und diese Muskeln sind — die Poesie.
Diese sonst so milde, so süße Pflcglingin der schreitenden Zeit, fängt an, ein
witziges Weib zu werden, operirt mit ihrer glitzernden Busennadel in der Frei¬
heit fordernden Ader des Geistes das hemmende Geschwür des ihr feindlichen
Staatshaushalts und fragt dabei naiv thuend, was Staaten und Könige seien.
Ich glaube sogar, die Poesie hat es unternommen, ihrem Körper Literatur
einige Fesseln zu sprengen, oder loszubitten. Gott gebe, daß es ihr gelinge.


Wie müssen sich aber zwei Extreme in nachbarlichen Staaten ncvenein-
anderfügen, welche in ihrem Fortschreiten und gegenseitigen Bestehen fast einen
Schritt zu behaupten pflegen, oder vielmehr: deren kleinerer, nämlich Meklen-
burg, sich meist in allen seinen Organisationen nach dem Vorbilde des größe¬
ren, Preußens, richtet ! Während man in dem Letzteren für die Emancipation
der Presse handelt, — denn dafür darf man seine Schritte halten — bindet
Meklenburg seinem Bischen Literatur einen Stein um den Hals und ersäuft es
schon in seiner Kindheit. Ist gleich in Meklenburg Literatur ein Unding, oder
ein unbekanntes Subjekt, so ist es doch nur Literatur allein, die von ihm zu
erzählen weiß, während die Diplomatie dies Land fast nur wie einen tief unten
am Ostseestrande hausenden Pygmäen betrachtet. Und dieser Erzählerin hängt
man einen Stein um den Hals ! vielleicht, wett sie erzählt hat oder gar erst
erzählen will.


Es publicirte unterm 29. April d. I. die mcklcnburg-schwcrinische Negie¬
rung folgende Censurverordnung.


Note: Wir Friedrich Franz :c. de.

Finden Uns bewogen, in Grundlage der über die Handhabung der Censur be¬
stehenden bundesgesetzlichcn Bestimmungen und im weiteren Verfolg der Patent-
Verordnung vom 27. October 1819, hiermit festzustellen:


daß kein der Censur unterworfenes Buch von einem inländischen Buch¬
händler, als Verleger oder als Commissionär des Autors, oder von dem
Autor selbst, ohne moorige Genehmigung Unsrer Regierung, im hiesigen
Großherzogthum dcbitirt oder vertheilt werden darf, daß es mithin in-
ländischen Buchhändlern oder Autoren nicht gestattet sein soll, Scrip-
turen in einem andern Bundesstaat censiren und drucken, sodann aber
im Inlande debitiren zu lassen, ohne zuvor zu diesem Debit die Con¬
cession der Llegi«rung «rhalten zu haben.


[]

Auf diejenigen Metrischen Werke, welche Seitens inländischer Buchhändler
auf dem Wege des Buchhandels von auswärtigen Buchhändlern bezogen wer¬
den, findet diese Verordnung keine Anwendung.
Wonach man sich zu richten.


Note: Friedrich Franz.

Ich will hier die hauptsächlichsten Progresse der meklenburgischen Literatur,
zugleich auch die hemmenden der Censurverwaltung im Lande der Reihe nach
in der Kürze durchgehen, wie sie in Raabe's systematisch-chronologischen Ver-
zeichnisi aller meklenburg'-Schwerin'sehen Gesetze und Verordnungen aufgeführt
stehen; sie dürften wohl das beste Licht auf die literarischen Zustände dieses
Landes werfen.


Seite 126 sub 12 dieses Verzeichnisses steht unter der Rubrik „litera-
rische Polizei" obenan: Censur publicistischer Schriften der Akademiever-
wcmdtcn. Das heißt so viel, als: Verbot, auf der Akademie Rostock, der ein¬
zigen des Landes, historische in landcshohcitliche und lehnherrliche Rechte
einschlagende Schriften ohne Einsicht und Bewilligung der Regierung drucken
zu lassen. Ein Rescript, d. d. 30. März 1742, erlassen aus der Festung Dönitz
vom Herzog Leopold.--Diesem zunächst steht die bundesbeschlußmäsngc
Beschränkung der Preßfreiheit vom 27. October 1819, welche im Jahre 1825
aus unbestimmte Zeit für Meklenburg prolongirt ist. — 1823 ward bekannt
gemacht, der Bundestag nehme nur Druckschriften aus den Staaten, wo deren
Schriftsteller oder Verleger wohnen, durch den Gesandten dieses Staates an,
und wolle keine Zueignung ohne vorher erbetene und erhaltene Erlaubnis,. —
1824. Alle zu ccnsirendcn Schriften müssen in llnplo bei der Regierung einge¬
reicht werden. Im Jahre 1835 wurde dies geschärft. — 1825. In Meklen¬
burg redigirte Zeitschriften politischer und andrer Art sollen von den Redactoren
in einem Exemplar bei der Regierung eingereicht werden.---1832. An
dem Rheinbaierschen Verein für freie Presse soll Niemand in Meklenburg
Theil nehmen. —


Um die Zeit indeß, da dies Gesetz erschien, kam in Schwerin eine Verei¬
nigung junger Leute, vorzüglich Gelehrter und Beamteter/ zu Stande, deren
Zweck ein durchaus nicht demagogisches Streben war, sich nach Möglichkeit
in loyaler Art einer Freiheit der Presse theilhaftig zu machen. Dies Da¬
tum führte die beiden Justiz-Kanzleien zu Schwerin und Güstrow an
einander. Trotz den, freilich etwas weniger conservativen Bestrebungen
dieses Vereins, als sie sonst in Meklenburg zu Hause sind, der sich durch-


[]

aus nicht zum Haupt, oder vielleicht auch nur einer Uebermacht im Kampf
gegen niederschlagende Gesetze machen, sondern nur sein etwanigcs Resultat
als ein unbedeutendes Scherflein zu dem von größeren Korporationen erstrebten
Ganzen hinzutragen wollte, schritt die Schweriner Justizkanzlei zu ernstlichen,
in der Wirklichkeit aber lächerlichen Untersuchungen dieses ihrer Meinung
nach so gefährlichen revolutionairen Complotts und behandelte diese Sache,
an und für sich von so geringer Bedeutung —da ihr überhaupt nicht die Kräfte
werden konnten, als Widerstreberin des regierenden, gut sein sollenden Prin¬
cips dastehen zu können —als Criminalverbrechen. Sie verdammte nach gehal¬
tener hinlänglicher Untersuchung die meisten Mitglieder dieses Vereins und so¬
gar dessen Defensoren zu beträchtlicher Geldbuße und gesanglicher Haft. Der
Justizkanzlei zu Güstrow hingegen gelang es, dies rigorose Verfahren der
Schweriner mit sammt ihrem Urtheil zu cassiren; und sie trieb es dahin, daß die
Justizkanzlei zu Schwerin neben der Ungiltigkeit ihres Urtheils sogar die Kosten
des Verfahrens zu tragen hatte. — 183S. Der Druck der Schriften unter
zwanzig Bogen erfordert vorherige Genehmigung. Dies ist eine Einschärfung
des Bundesgesetzes und gilt auch von Journalen und heftweise erscheinenden
Schriften. — In demselben Jahre hieß es.- Die Bundesversammlung habe den
Beschluß gefaßt, über Verhandlungen deutscher Ständeversammlungen dürft
nur aus den öffentlichen Blättern des betreffenden Staats geschöpft werden,
und Jedermann solle die Quelle angeben, aus. welcher er seine Nachricht ge¬
nommen. Wonach man sich in Meklenburg auf's Genaueste verhält. —. In
eben dem Jahre erfolgte ein Rescript, nach welchem sämmtliche Schriften des
jungen Deutschlands, Mundt's, Gutzkow's, Laube's, Heine's, Wienbarg's bei
Contravcntionsstrafc von 10 Thlr. preuß. Cour, aus dem Lande verjagt wa¬
ren. So wollte es der deutsche Bund. — Und, prot i>u<Jor! im Jahre 1837
schon erschienen mitten in Meklenburg Theodor Mundt's Charaktere und Si¬
tuationen bei dem Verleger Schmidt und von Bossel. Das war doch wider
das Gesetz und jedenfalls sehr riskant für die Verleger; denn die Regierung
hatte Mundt's Schriften ja kurz vorher zum Lande hinausgejagt. Wenn ich
die Wismarsche Verlagshandlung dcnuncire, wird sie doch ohne Gnade IVTHlr.
preuß. Cour. Strafe zahlen müssen. Ja, eben dieselben Verleger sollen sogar
Mundt dieRcdaction der jetzt schlafen gegangenen Baltischen Blüthen angeboten
Habens der sie jedoch dem Dr. Klein übertrug, weil gerade zu der Zeit sein
Freihafen entstand. >


Eben so gestattete 1836 die Großherzogliche Regierung den Mecklenburgern
das Lesen der französischen Zeitungen, Moniteur, Journal av» vükats, Quoti-


[]

,1'wurf, Omirisr srsncai» ceo. als passend für meklcnburgischen Geschmack,
verbot ihnen aber den Oliarivari und ti>! v-»iieatnrs zu lesen, weil sie schäd¬
lich sind. Die Meklenburger aber bekümmern sich so wenig um ausländische,
zumal fremd sprechende Literatur, wie Mehemed Ali um die Hannöversche
Bcrfassungsfrage. In Meklenburg werden fast ausschließlich nur Hamburger
Zeitungen gelesen, vorzugsweise der Korrespondent und die Reue Zeitung, welche
letztere die Postämter Meklenburgs Befehl haben, nur unter einer Preiserhö¬
hung von 1 Thaler 16 Schillinge ihren inländischen Abonnenten zugehen zu
lassen. Man will sie gerade nicht verbieten, jedoch soll dem Meklenburger das
mit liberalen Tendenzen zubereitete Ragout theurer zu schmecken kommen.
Der Korrespondent kann ungehindert die Grenze passiren; man hat auch gar
kein Arg daraus, daß er unpartheii sah heißt.


Nach dem erwähnten Befehl vom 29ten April dieses Jahres würde jeder in
Meklenburg wohnende Schriftsteller, d. h. natürlich ein solcher, der in ihm das
Heimathsrecht genießt, wenn er sein Werk in Leipzig oder Berlin drucken las¬
sen wollte, es vor allen Dingen der meklcnburgischen Censur unterwerfen,
dann mit ihrem Imprimatur zur preußischen oder sächsischen schreiten; er hätte
also eine doppelte Censur zu befahren, und was die Scylla verschont, läßt es
die Charybdis passiren?>


Wäre nicht gerade jetzt in Preußen ein geringerer Ccnsurzwang verheißen,
so ließe sich jener strenge Schritt Meklenvurgs vielleicht sür ein zu voreiliges
Hervortreten eines Actuars in den großen deutschen Censurgerichtssaal auslegen.
Wofür ist er aber unter diesen Umstanden zu halten"! Meklenvurgs geographische
Lage ist zu abgeschlossen von allen außerbundesstaatlichen Ländern, als daß es
einem seiner wenigen Schriftsteller einfallen sollte, sich mit seinen geistigen Er¬
zeugnissen nach einem von diesen zu versteigen und sie dort zum Druck zu
bringen; auch sind bisher fast gar keine Fälle im Lande vorgekommen, welche
die meklenburgische Censurpolizei zu strengerer Wache veranlassen könnten.
Warum erläßt sie also so strenge Maßregeln gegen eine Sache, die bisher hier
nur eine geahnte, deren Erscheinensbcfürchtung stets noch so fern war? Will
sich Meklenburg seinen Nachbarstaat Hannover zum Borbild nehmen, wo al¬
lerdings noch schärfere Preßgesetze obwalten?


Die einzigen, neueren Erscheinungen, die auf Staatswesen, und zwar aus
das eigene Bezug haben, sind einige Brochüren über den in Frage stehenden preu-
snsch-meklenburgischcn Zollverein, und F. v. Maltzahn's Meklenburg in
allgemeinen deutschen Beziehungen, eine unbedeutende Schrift, aber
desto bedeutender mit pietistischer Abschweifungen und nicht hineingchörendcm
Gesäure vollgepfropft) daß man den Wald vor faulen Bäumen nicht sieht, daß
wenig vom Staat überhaupt und noch weniger von einem allgemeinen staat¬
lichen Bestehen darin zu lesen ist, was vielleicht das Auge der Censur genöthigt
hätte, sich eine Brille aufzusetzen.


[]

(5rMnsr!Mgen und Mittheilungen »'in-s Äand-
schaftsmalei's
(von
B. C. .ÄoeWoek)



Kapitel i.
Von Cleve nach Düsseldorf.


Rathschläge an junge Maler über den Nutzen, sich Umrisse zu machen.


^Avr Emmerich bis Bonn bietet der Rhein wenig interessante
Ansichten, die wor Cöln und Düsseldorf ausgenommen. Da ich,
meiner Gewohnheit zufolge, einen Gegenstand zur Beschäftigung für
mich suchte, so zeichnete ich ein oder daS andere zufällig an unserm
Wege liegende Stück Dorf. Da aber dieser Stoff sich seltener bot
und leicht erschöpft war, so fing ich an, meine Reisegefährten zu
skizziren, die ganz in Betrachtung eines schönen Mädchens, einer



24
[]

wahre» Perle ihres Geschlechts, versunken waren, und von der ich selbst
gern eine Erinnerung in meinem Album hätte aufbewahren mögen.


Da wir nun gerade einmal von Umrissen sprechen, so will ich
die Gelegenheit benutzen, um meinen Lesern einige besondere Bemer¬
kungen hierüber mitzutheilen. Ich habe einen Maler gekannt, der,
obgleich sehr geübt im Zeichnen nach nacktem und drappirtem Modell
und obgleich die Verhältnisse des menschlichen Körpers, die Verkür¬
zungen u. s. w. vollkommen gut kennend, dennoch unaufhörlich ein
Skizzenbuch bei sich führte, in das er, wo er sich auch immer befand,
leichte Umrisse von Menschen- und Thiergruppen in allen denkbaren
Stellungen und Lagen einzeichnete, indem er dabei sorgfältig und
mit gewissenhafter Genauigkeit die Farbe eines jeden Gegenstandes
bemerkte. Zufällig besuchte ich eines Tages diesen Maler, gerade
da er beschäftigt war, irgend eine Landschaft durch Hülfe von Stu¬
dien zusammenzustellen. Da bemerkte ich nun, mit welcher Leichtig¬
keit er seine Thiere und Menschen gruppirte, indem er seinem, offen
auf der Staffelei vor ihm liegenden Skizzenbuche die Originale ent¬
lehnte. Ich war um so mehr darüber erstaunt, da ich viele andere
Maler gesehen hatte, welche, trotz eines Dmchblätterns mehrerer
Sammlungen von Zeichnungen, es doch nie so weit brachten, daß
sie ihren Figuren auf der Leinwand Leben und Bewegung verleihen
konnten, sondern diese stets ohne Wirkung und armselig heraus¬
brachten.


Nachdem der in Rede stehende Künstler seine Gruppen in den
Situationen, wo er sie anbringen wollte, oberflächlich geordnet hatte,
zog er seine akademischen Zeichnungen zu Rathe, um sodann den
Umrissen die letzte abschließende Verbesserung angedeihen zu lassen.
Für naturwahre Farbe und Costüme seiner Figuren gerieth er selten
in Verlegenheit, weil sein Album ihm hierüber die zuverlässigsten
und abwechselndsten Angaben darbot. Ich hatte früher oft die Frage
an mich gerichtet, ob dieser Maler mit seinen ewigen Umrissen nicht
unnütz das Papier verschmiere, da er so gut zeichne und so gute
akademische Studien besitze: jetzt aber erkannte ich den Nutzen dieses
Skizzirens.


> Die Dampfschiffe bieten die beste Gelegenheit dar, von allerhand
Dingen und Gestalten flüchtige Zeichnungen aufzunehmen, da man
in einer oder der andern Ecke stets ganz ungestört beobachten kann.


[]

Es ist min aber nicht blos eine der angenehmsten Zerstreuungen,
Umrisse zu machen, sondern es bereichert sich auch die Einbildungs¬
kraft durch die Beobachtungen und man gewinnt dadurch die Ge¬
wohnheit, seinen Figuren natürliche, ungezwungene Stellungen zu
geben, eine Gewohnheit, die man auf der Akademie mit dem be¬
sten Willen von der Welt nicht immer erlangen kann; denn die
Modelle mißverstehen meist die Absicht dessen, dem sie sitzen, und
bieten fast immer nur gezwungene, unnatürliche Attitüden dar.


Kapitel II.
Von Düsseldorf nach Limburg an der Lenne.



Ausflug von dem Dorfe Mettmann nach der Ncanderhöhle.

Beim Herauskommen aus dem Dorfe Mettmann führte uns
ein Fußsteig durch weithin sich dehnende Kornfelder zu einem wal-
digten Terrain. Wir folgten dem Wege, bald aber auch seiner Ein¬
ladung, die kühle, schattige Frische zu genießen; und auf ein schwel¬
lendes Mooslager am Fuße herrlicher Eichen und Buchen hinge¬
streckt, genossen wir in der friedlich schweigsamen Natur eine kurze
Ruhe. Sodann ergriffen wir unsern Wanderstab wieder und traten
in die Waldung ein. Bald schlug da das Gemurmel eines Wasser¬
falles an unser Ohr und ergriff unsere Seele: wir fühlten uns wie
mit unwiderstehlicher Kraft nach dem Orte hingezogen, von wo das
mit jedem Schritte wachsende Geräusch herkam. Nach und nach
entdeckten wir durch einen, in den Rissen des Felsens schwebenden
Vorhang grünen Gesträuchs hindurch einen silberblinkenden Schein.
Es war dies einer der malerischsten Bäche, der seine krystallklaren
Wellen in mehreren kleinen Wasserfällen in die Düssel ergoß. Wir
folgten nun dem Laufe des Baches und gelangten zu einer Grotte,
die schöner war, als irgend eine, selbst die glänzendste Einbildungskraft
sie malen konnte. Wir befanden uns nun vor einem Wasserfall von
etwa zwanzig Fuß Höhe, welchen der Bach bildete, den wir bei
unserm Eintritt in die Grotte aus dem Auge verloren hatten.


24»
[]

Welches Glück habe ich an diesem reizenden Orte empfunden!
Wie viele jener mächtigen Gefühle, die das Herz erheben, schwellten
da meine Brust: Mein Auge netzte sich mit Thränen, meine Seele
empfing Eindrücke, wie alle Erhabenheiten der Erde sie weder zu ver¬
wischen noch zu verleihen im Stande sind!


Ich hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als in die bewunderungs¬
würdige Mannigfaltigkeit der heiligen und schönen Natur tief ein¬
dringen und sie mit Hülfe des Pinsels auf der Leinwand wiedergeben
können. Mein ganzes Wesen glühte vor Begeisterung, und ich pries
den Menschen glücklich, dessen Herz Sinn hat für die Schönheiten
der Natur. . . .


Wir setzten unsern Weg durch die Grotte fort und kamen zur
Dussel. Erstaunt riefen wir alle aus: „Wie? Ist dies die Düffel,
die sich bei Düsseldorf so prosaisch und kaum bemerkt in den ge¬
waltigen Rhein verliert?"


Wir befanden uns am Ufer eines Flusses, der mit großem Ge¬
räusch zwischen den Felsen hindurchströmt und über den in wil¬
dester Unordnung Bäume aller Art sich hinneigen, die im Fels¬
gestein Wurzel gefaßt haben. Der Fußsteig, der sich hier in
ein Labyrinth von Gesträuch und Steinen verliert, führte uns auf
den Gipfel der Felsen, wo wir, ungewiß, welchen Weg wir einschla-
gen sollten, vor einer zweiten Grotte, zweihundert Fuß über dem
Flußbette stehen blieben. — Aber unsere Ungewißheit endete bald;
denn der Weg führt nicht anderswohin, sondern gerade Hieher und
schon die bloße Neugter zog uns an, diesen Weg weiter zu verfol¬
gen. Als wir nun aus diesem neuen Tunnel herauskamen, waren
wir auf das Gewölbe der Grotte gelangt und genossen daselbst den
Anblick einer der schönsten Landschaften, die Deutschland bietet.


Zu unseren Füßen dehnte sich ein Thal hin voll Wunder. Das
Murmeln des Baches und der Wasserfälle gelangte bis zu uns her¬
auf, unser Auge tauchte sich in malerische Massen von Bäumen und
Dickicht, um den silberschäumenden Bach herauszufinden, der in tau¬
send Krümmungen durch neue Felsschluchten sich hindurchwindet, die
bald steiler Nacktheit dastehen, bald mit Bäumen bedeckt sind;
hinten eröffnete sich uns ein Horizont, dessen Schönheiten, besonders
wenn die sanften Strahlen eines Sonnenunterganges sich an ihm
brechen, unbeschreiblich sind.


[]

O, wenn ich doch im Stande wäre, vermittelst der menschlichen
Sprache meinen irdischen Brüdern alle die Empfindungen mitzuthei¬
len, die bet Anschauung dieser poetischen Herrlichkeiten der allmäch¬
tigen Natur in mir wach wurden! Aber ich fühle es nur zu sehr,
wie unmöglich ein solches Beginnen ist. Auf der Leinwand würde
es mir vielleicht gelingen, einen schwachen Abglanz des Gemäldes
hervorzubringen, das ich hier mit unzureichenden Worten in dürftigen
Umrissen meinen Lesern vorzuführen gesucht.


Jeder Maler sieht die Gegenstände in Bezug auf ihre Farbe auf eine
ihm eigene Weise.

Wenn vier Maler eine Reise außer ihrem Vaterlande unter¬
nehmen, behufs einer Vervollkommnung in ihrer Kunst, so ist es na¬
türlich, daß sie selbst in ihren Mußestunden sich noch mit dem Gegenstand
ihrer Studien beschäftigen, daß sie ihre Meinungen und Ansichten
hierüber austauschen, daß sie ohne leidenschaftliche Aufregung hier¬
über streiten, daß sie eine Menge wichtiger Fragen von allen Ge¬
sichtspunkten aus beleuchten, um zu einer gründlicheren, ausgedehn¬
teren Kenntniß ihrer Kunst zu gelangen. Ich glaube nichts Unnützes
zu thun, wenn ich hier ein Fragment einer Unterhaltung über die
verschiedenen Arten, wie die Maler die Gegenstände in Bezug auf
ihre Farbe betrachten, mittheile.


Herr manu. „Sieh einmal, Rudolph, diese blau-violett gefärbte
° Fernsicht."


Rudolph. „Eine blau-violette Fernsicht, Du spaßest wohl! Man
sagt, daß die Art und Weise, wie die Menschen eine Sache se¬
hen, eben so verschieden ist, als ihre Art, etwas zu beurthei¬
len. Und in der That kann es wohl auch nicht gut anders
sein; denn Letzteres ist ja nur die Folge des Ersteren. Ich
kann Dich versichern, Herrmann, daß ich nichts Violettes in
dieser Fernsicht erblicke, dagegen bemerke ich, daß ein sehr denk--
lich ausgesprochener grün-blauer Ton darin herrscht."


Herrmann. „Ist das möglichI Ein grün-blauer Ton, sagst
Du? In Wahrheit, armer Junge, mir scheint, der Bleichart
von gestern Abend spukt Dir noch im Kopfe und trübt Dein
Auge."


[]

Rudolph. „Umgekehrt, lieber Freund, Du siehst Alles noch
durch das Prisma des Bletchart, da Du seine violette Farbe
auch in der Kernsicht zu erblicken glaubst: ich bin ganz nüchtern
und mein Auge ist vollkommen klar."


Karl. Mir scheint, daß die Fernsicht eine grau-bläuliche Färbung
hat."


Rudolph. „Und was denkst Du davon, Kamerad?"


I es. „Mir scheint es, Du und Herrmann habt in so weit beide
Recht, daß in der That die beiden von (Lues angegebenen Tin¬
ten sich zugleich in der Farbe dieser Fernsicht befinden; die Ur¬
sache Eures Auseinanoergehenö aber liegt in der Verschiedenheit
Eurer Gefühle."


„Herrmann läßt sich von der Purpur-Tinte, die sich in der Fern¬
sicht befindet, dermaßen beherrschen, daß ihm die grün-bläuliche Farbe,
die darin die violette Tinte mäßigt, gänzlich entgeht."


„Ein Jeder von Euch beiden zieht, vielleicht ohne es zu wissen,
eine besondere Farbe allen andern vor, und so ist es ganz natürlich,
daß er in dem Gegenstande, der uns jetzt beschäftigt, diese Farbe
vorherrschend findet."


„Karl dagegen bemerkt in dieser Fernsicht nur eine grau-bläu¬
liche Färbung, weil sein Auge noch nicht hinlänglich geübt ist, um
die feinen Nüancen zu entdecken und zu unterscheiden, aus denen
die Farbe dieser Fernsicht zusammengesetzt ist."


„Wenn Ihr jetzt, jeder seinerseits, eine Skizze nach der Natur
von dem in Rede stehenden Gegenstand entwürfet, so würden sich in
deren Farben die Beweise für meine Behauptung finden."


„Diese Verschiedenheit des Gefühls ist eine der Hauptursachen
der Verschiedenheit in den Farbentönen, die man in jeden zwei
Gemälden von verschiedenen Meistern wahrnehmen kann, wenn man
sie neben einander stellt, ohne daß man dabei noch auf die Verschie¬
denheiten ihrer eigenthümlichen Art zu malen oder ihres Geschmacks
Rücksicht zu nehmen braucht, die sie schon durch die Wahl ihrer
Stoffe bekunden. Und dennoch können beide Gemälde gleich natur¬
wahr sein."


Man erlaube mir nur noch die Bemerkung, daß wir die in
Rede stehende Fernsicht am Mittag beobachtet hatten. Denn das


[]

weiß wohl Jedermann, daß die Farbe der Gegenstände je nach den
verschiedenen Tagesstunden eine andere ist.


Kapitel III.
Von Limburg nach Remagen.



C ö l n.

Vom Rhein aus gesehen, bietet die Stadt Cöln wirklich einen
imponirenden Anblick. Wie sind sie so majestätisch, diese Kirchen im
byzantinischen Styl, deren malerische Thürme stolz auf die unregel¬
mäßige Masse von etwa achttausend Häusern hinabzuschauen schei¬
nen, die sich zu ihren Füßen in labyrinthischen Verwicklungen hin¬
dehnen. Und der Dom andrerseits, dieses unvollendete Meisterwerk
germanischer Architektur, mit seinem riesenhaften Chor, betrachtet er
nicht wie ein königlicher Greis, majestätisch und prachtvoll, sein wei¬
tes Gebiet, in dessen Mitte der hohe Se. Martinsthurm nur gleich
einem großen Vasallen hervorragt!


Ich habe die alte Colonia Agrippina schon oft gesehen; immer
aber hat diese Stadt mit ihren ehrwürdigen Denkmalen einen unbe¬
schreiblichen Eindruck in meinem Gemüthe hinterlassen. Unwillkür¬
lich entrollten sich alsdann die Annalen einer großen historischen
Vergangenheit vor den Augen meines Geistes. Ist nicht die ganze
Geschichte des deutschen Reiches an diese alte Stadt geknüpft? Wa¬
ren nicht alle diese Gebäude Jahrhunderte lang die Zeugen der
merkwürdigsten Ereignisse in Deutschlands Geschichte, und werden sie
nicht noch lange bei den kommenden Geschlechtern Zeugniß ablegen
von einer Größe und Bedeutung, welche die Stadt jetzt in anderer
Art wieder zu erringen sucht?"


Das Dampfschiff.

Der Nachmittag war schön. — Die Reise von Cöln nach
Bonn, obgleich sie durch höchst eintönige Landschaften führte, lang¬
weilte uns nicht. Das Dampfboot war dermaßen mit Reisenden


[]

und Waaren überfüllt, daß es unmöglich war, an einen Spaziergang
auf dem Verdecke zu denken. Diese buntfarbige Menschenmenge, ei¬
nige Musikanten, die sich hören ließen, das Geräusch der Unterhal¬
tungen, die allgemeine Fröhlichkeit, gaben der Gesellschaft, — indem
wir selbst für unsern Theil das Gehörige beitrugen — das Ausse¬
hen eines Maskenballes. Endlich fanden wir mit vieler Mühe einen
Platz in Gesellschaft einiger Herren, die wir, ihrer Kleidung nach
zu urtheilen, für Collegen hielten.


Es ist eine Lehre, die wohl Jedermann aus seiner Erfahrung
geschöpft hat, daß der Mensch auf Reisen, seien sie nun zu Lande
oder zu Wasser, achtungsvoll und artig behandelt wird, wenn er ein
Kleid nach der Mode trägt, während man unter dem Leinwandkittel,
und wäre man ein Engel, selten etwas Besseres, als geringschätzige,
verächtliche Aufnahme findet. So falsch und trügerisch nun auch
dies Urtheil nach dem äußeren Scheine sehr häufig ist, so, hat es
doch in so fern etwas für sich, als es in der That schwer ist, einen
uns gänzlich fremden Menschen nach etwas Anderem, als seiner äu¬
ßern Erscheinung zu beurtheilen, und diese besteht denn doch nur in
seiner Kleidung i denn nicht Jedermann ist ein Lavater, um nach der
Physiognomie und den Gesichtszügen zu urtheilen. Wir hatten uns
diesmal nicht geirrt: die Gesellschaft, zu der wir uns setzten, bestand
nus Malern und Studenten, und nach dem alten Sprüchwort:
„Gleich und gleich gesellt sich gern," tafelten wir denn auch bald
mit einander an einem lustig mit Weinflaschen besetzten Tisch, der in
einen dichten Schleier von Tabaksdampf eingehüllt war, aus dem
unser Anstoßen der Gläser unter dem Rufe: „Ihr Wohlsein, meine
Herrn" fröhlich herausklang.


Den Gegenstand unserer Unterhaltung bildeten, wie man sich
leicht denken kann, Kunst uno Wissenschaften. Hinter uns befand
sich ein Herr in Gesellschaft einiger Damen, welche ehrenwerthe
Person uns aber von Zeit zu Zeit Blicke zuwarf, die nichts
weniger, als wohlwollend waren. Unsre geräuschvolle Heiterkeit
schien ihn in einer wichtigen Erzählung zu stören, die er diesen
Damen über seine Reise in Italien mittheilte. Zwei andre Herren,
die ebenfalls an diesem Tische saßen, machten ihm hin und wieder
Complimente über die elegante Art, mit der er das Italienische aus¬
sprach, da er sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, durch einige


[]

bei passenden Stellen in seine Rede eingeschobene italienische Worte
mit seiner Kenntniß dieser Sprache zu prunken. Uns erschien nichts
lächerlicher, als dieser Reisebericht: denn der Retsende, der überall,
selbst in Rom, gewesen war — beiläufig bemerkt, er erklärte den
Papst nicht gesehen zu haben — sprach nur von der italienischen
Küche; so gab er unter andern die kleinsten Details über die Ma-
caroni und ihre verschiedene Bereitungsart in den verschiedenen
Städten Italiens. So gerieth er, als er von seiner Rückreise durch
die Schweiz sprach, in eine lange, gelehrte Dissertation über den
ächten Schweizerkäse. Eine junge, ebenfalls zur Gesellschaft gehörige
Dame schien uns auch nicht das größte Interesse an den Küchen¬
berichten des Reisenden zu nehmen, sondern im Gegentheil ließ sie
ihre schönen blauen Augen oft mit sichtbarer Theilnahme auf unsrem
fröhlichen Kreise ruhen. Wir selbst beschäftigten uns auch ziemlich
viel in Blicken mit ihr; denn sie war in der That sehr schön
und es schien ihr durchaus alle Coquetterie und Anmaßung fern
zu sein.


Meinung deö Verfassers über die Art und Weise, ein Gemäld.e zu
entwerfen und zu verfertigen.

Unsre Unterhaltungen über Kunst gingen indessen, da die
Studenten bei Brühl an'ö Land gestiegen und wir Maler allein
geblieben waren, ihren Gang immer fort, und wir kamen zur Mit¬
theilung unsrer gegenseitigen, sehr verschiedenen Ansichten über die
Art und Weise, ein Gemälde zu entwerfen, zu malen und zu been¬
digen; besonders rollte das Gespräch lange über die Frage, ob mau
einen ersten Entwurf eines Stoffes machen solle, oder nicht. Nach¬
dem einer der deutschen Maler seine Meinung dahin ausgesprochen
hatte, er halte einen Entwurf eines Gemäldes für eine unnütze
Arbeit, bat er mich um meine Ansicht.


Ich antwortete ihm folgendermaßen. Ich mache mir keine
vorbereitende Zeichnung von dem Gegenstande oder von dem Stoffe,
den ich behandeln will, weil ich finde, daß es unangenehm ist, ein
und dieselbe Sache zwei Mal zu machen. — Ich begnüge mich
damit, meinen Gedanken sofort auf die Leinewand hinzuwerfen-
Nachdem ich zuerst meinen Entwurf hinlänglich skizzirt und gründlich


[]

durchdacht habe, besonders, was die Anordnung von Licht und
Schatten betrifft, fange ich an ihn in breiten Zügen auszumalen
und bemühe mich sofort, die Färbung, das Colorit hineinzubringen,
das ich in dem Gemälde, wenn es fertig sein wird, zu sehen wünsche.
Ich bestimme sofort die Wirkungen der Sonne, deS Lichts und des
Schattens u. f. w. ohne mich auch im Geringsten bei den Details
aufzuhalten. Auf diese Art finde ich in meiner Ebauche schon die
allgemeine Idee, die ich in mir trug, ehe ich mein Gemälde anfing:
ich bin im Stande, mir Rechenschaft zu geben von der Harmonie
der Gegenstände, die ich zusammengestellt und der Farben, die ich
ihnen verliehen, wobei ich zugleich noch den Vortheil habe, daß ich
vor Beendigung meiner Arbeit alle möglichen Arten von Verbesse¬
rungen darin anbringen kann.


Man kann freilich auf verschiedenen Wegen zu ein und dem¬
selben Ziele gelangen; aber warum soll man einen Umweg einschla¬
gen, wenn man geradeaus gehen kann?


ES giebt Maler, die ihre Idee erst aufs Papier hinwerfen
in einer rohen Skizze, nach der sie sodann eine ausführliche genaue
Zeichnung sich machen, welche sogar die Blumen und Gräser enthält,
die in ihrem zukünftigen Gemälde vorkommen sollen. Wenn
man diese Arbeit vollendet hat, so überträgt man sie in sklavischer
Nachahmung auf die Leinewand, indem man sie erst mit weißer
und schwarzer Kreide abzeichnet und sich dann, um die Umrisse de¬
finitiv zu bestimmen, einer Art Rohrfeder und einer braunen Tusche
bedient. Erst nach diesen langen Präliminarien greift man zur
Palette. Man fängt den Himmel an mit starker Farbengebung
und beendigt ihn mit einem Gusse, so daß alles Retouchiren un¬
möglich ist. Sodann geht man zur Fernsicht über, die man sorg¬
fältig beendigt, und so kommt ein Stück nach dem andern, bis der
Vordergrund und mit ihm das ganze Gemälde fertig ist.


Da es unmöglich ist, mit Wasser- oder Leim- oder Honig-
Farben ein so kräftiges und treues Colorit zu erhalten, als vermittelst
der Oelfarben, die sich zur Nachahmung der Natur am meisten eig¬
nen, so finde ich, daß man seinem Ziele sehr fern bleibt, wenn man
durch eine mit Hülfe der ersten Farbenarten gemachte Zeichnung
sich von der Wirkung/ die das Gemälde selbst hervorbringen wird,
einen Begriff machen will. Selbst angenommen, daß in der vor-


[]

bereitenden Zeichnung die Gegenstände, Schatten und Lichter wohl
angeordnet sind, so kann sie doch immer bei der Ausführung des
Gemäldes nur als Leiter dienen. Wozu nun so viele Sorgfalt
darauf verwenden? Reicht dann die Skizze nicht hin, um die erste
Idee deö Malers darzustellen? Ich meiner Seits bin der Meinung,
daß sie vollkommen auslangt, und daß man nach der Skizze eine
gute Ebauche machen kann, die eine zufriedenstellende Anordnung
von Licht, Schatten und Farben enthält. Ist man übrigens stets sicher,
daß alle Partien einer Zeichnung gleich geschmackvoll gewählt sind?
Kann eS nicht sehr leicht der Fall sein, daß der Maler, wenn er
sich an die Staffelei setzt, von einer schöneren Idee inspirirt wird?
Wenn dieser nicht so sehr seltene Fall eintritt, so giebt der Maler
sicherlich seiner neuen Idee Gehör; sein Gemälde wird unter der
Hand ein anderes und die detaillirte Zeichnung hat dann zu gar
nichts genützt. Denn der wahre Künstler muß im Stande sein,
sich von einer ersten Auffassung eines Gegenstandes loszusagen, da
man sehr oft die Erfahrung macht, daß diese falsch, fehlerhaft ist.


Drei Mal einen und denselben Gegenstand behandeln, ist
etwas Geschmackloses. Geht ja doch leider das erste Feuer der
künstlerischen Auffassung schon dadurch zum Theil verloren, daß man den
Gegenstand der Prüfung der Vernunft und ihrer Regeln unterwirft.


Nun kann man mir freilich von diesem Standpunkte aus den
Einwurf machen: Wozu ist es alsdann gut, ein Gemälde zu c>bau-
chiren? Darauf aber entgegne ich Folgendes:


Jene Feinheit des Tones, jenes Durchschimmernde im Himmel,
im Baumschlag, im Wasser, was gerade die Punkte sind, in denen
das eigentliche Verdienst eines guten Landschaftsgemäldes liegt, kann
man unmöglich erhalten, wenn man nicht zuvor eine gute Ebauche
des Bildes gemacht hat. Denn man muß auf alle diese Gegenstände
mehrere Male zurückkommen, wenn man ihnen jene Schönheit, jene
Wahrscheinlichkeit verleihen will, wodurch sie ihren natürlichen Vor¬
bildern nahe treten. Umgekehrt kann man übrigens auch durch geschickte
Pinselstriche, durch glänzende Lichtgebungen alle jene matten Stellen,
die ein Gemälde etwa durch die Operation des Ebauchirens erhalten
haben könnte, leicht beseitigen.


Die schönen beweglichen Tinten, welche man durch die Ebauche
hervorzubringen in den Stand gesetzt wird, und die einem Gemälde


[]

erst sein wahres Leben Verleihen, opfert man völlig, wenn man
mit einem Pinselstriche malen will und die Durchsichtigkeit durch
stark aufgetragene, klebrige Farben zu erreichen gedenkt. Die Umrisse
werden dadurch hart, und das Gemälde selbst gewinnt ein undurch¬
sichtiges, schwerfälliges Aussehen, während es ihm an Natürlichkeit
und Harmonie gänzlich sehlen wird.


Nun nur noch einige Worte über die Art und Weise, die
Details eines Gemäldes zu behandeln. Wenn man aus einem
Gusse malen will, so ist nichts häufiger, als daß man sich zu sehr
mit den Details des Hintergrundes aufhält. Das ist deßhalb so
oft der Fall, weil man sich zu einer sklavischen Nachahmung seiner
eigenen Zeichnung vermtheilt hat. Man erschöpft aus diese Art alle
seine Hülfsmittel nur, um der Fernsicht alle möglichen Reize zu
geben und ist aufs Trockene gerathen, ehe man zu Mittel- und
Vordergrund des Gemäldes gekommen ist.


Nun muß doch aber in einem Gemälde, — wohl bemerkt, wir
sprechen nur von Landschaftsmalerei — der Vordergrund die kräf¬
tigste, hellste, am Meisten ins Einzelne eingehende Partie sein.


Gewöhnlich — und, wie ich glaube, mit vollkommnem Recht, —
weist man dem Gegenstand, auf den man die Aufmerksamkeit des
Zuschauers ganz besonders lenken will, seinen Platz auf dem Ueber¬
gangspunkte aus dem Mittelgrund in den Vordergrund an, un¬
gefähr und zum wenigsten im Drittel der Breite des Gemäldes.
Nun ist es von höchster Bedeutung, diesen Gegenstand durch seine
Schönheit, durch eine anziehende Licht- und Schattengebung, durch
den Ausdruck hervorzuheben, ohne daß man jedoch hierbei die unter¬
geordneten Gegenstände ganz aus dem Auge verliere. Die Fernsicht
muß in ihrem Ton naturwahr sein, muß aber stets als bloßer Hin¬
tergrund betrachtet und auch als solcher behandelt werden, d. h. sie
darf so wenig Details enthalten, als nur möglich.


Man kann mit einem ersten Wurf geistreiche Skizzen hervor¬
bringen; aber es ist rein unmöglich, auf diese Art wahrhaft voll¬
endete Gemälde zu erhalten.


Ankunft in Bonn. — Mondenschein.

Herrmann hatte früher eine Zeit lang in Bonn sich aufgehal¬
ten; er war also von Gottes-und Rechtswegen unser Quartiermeister.


[]

Bald auch lagen wir an den Fenstern des Gasthauses „zum alten
Keller," zu unsern Füßen rollte der Rhein, in der Ferne das wun¬
derherrliche Panorama des Siebengebira.es. Vergebens suchten uns
einige andre im Saale befindliche Fremde in ihr Gespräch zu
ziehen, das sich um die Tagespolitik drehte: was gingen uns in
diesem Augenblicke die ephemeren, politischen Sorgen der Menschen
an? Unsre Seele war ganz von dem herrlichen Schauspiele in
Anspruch genommen, das sich vor unseren Augen hindehnte.


Schöne Natur! Welcher Sterbliche kann es wagen, die eben
so zahlreichen als mannigfachen Gemälde zu reproduciren, die Du
seiner Beschauung darbietest! — Nachdem Du uns schon durch
einen schonen Tag erfreutest, verdoppelst Du unsre Genüsse noch durch
einen noch herrlicheren Abend.


Kein Lüftchen regte sich in den Höhen, ausgenommen jener
schwache Hauch, der ein steter Begleiter des Abends zu sein scheint.
Der breite Spiegel des Rheins strahlte getreulich Alles wieder ab,
was über ihm am gestirnten Himmel und an seinen Ufern auf der
blühenden Erde stand. Ein graulicher, silberflockig übersäeter Strei¬
fen stellte nach fernhin den majestätischen Lauf des Stromes dar.
Links befanden sich einige Nachen, die in malerischer Unordnung all's
Ufer festgeankert waren. Ihre schwarze, kräftige Masse stach sowohl
gegen den helleren Vordergrund, als gegen die unbestimmten Tinten
der Fernsicht ab. Hinter und bei diesen Nachen erhoben sich die
gebirgigen Ufer der rechten Rheinseite, die in leichte Nebelschleier
gehüllt waren.


Nach und nach klärt sich rechts der Himmel auf) die Gebäude
dagegen, welche die Landschaft einrahmen, werden noch düsterer....
Der Mond erscheint und übergießt mit seinem Silberlichte dieses
Schauspiel! Maler sein, diese Herrlichkeiten bewundern und doch
seine Ohnmacht fühlen, sie jemals wiederzugeben! Denn welcher
Pinsel vermöchte diese schwankenden, zarten Tinten hervorzubringen,
die über der durch das Siebengebirge abgegrenzten Fernsicht aus¬
gegossen waren! Diese beweglichen Demantlichter, die auf den
blauen Strom fallen, diese Wiederspiegelungen der Schatten, diese
erglänzenden Strahlen, diese dunkeln Tiefen! Wer endlich vermag
die Empfindungen wiederzugeben, mit welchen ein solches Schauspiel
die Seele erfüllt, und wer ist je im Stande, es würdig auf


[]

die Leinewand zu werfen, um, was er empfunden, auch in der Seele
des Beschauers hervorzurufen?


Am andern Morgen wollte ich, als wir an unsrem Fenster
Kaffee tranken, in mein Album eine Erinnerung an diese schöne
Landschaft eintragen. Kaum hatte ich den Bleistift zur Hand ge¬
nommen, als alle meine Gefährten sich beeilten, meinem Beispiele
zu folgen. In einem Augenblick saßen wir nun alle vier da, zeich¬
nend, croquirend, skizzirend, als hätte auf ein Mal ein Kunsthändler
eine ganze Sammlung Rheinansichten bei uns bestellt.


Während dessen fiel es Herrmann ein, sich folgendermaßen
zu äußern:


„Der Gegenstand, der uns augenblicklich beschäftigt, ist interes¬
santer durch den schonen Farbenton, der darin herrscht, als in Be¬
zug auf Zeichnung; kaum habe ich ihn mit einigen Strichen auf
mein Album geworfen, so verliert er schon seinen Neiz: und doch hat
diese Ansicht einen eigenthümlichen Neiz, so daß man wider Willen
sich bewogen fühlt, nach Papier und Bleistift zu greifen."


Darauf entgegnete ich ihm Folgendes:


„Unmöglich kann ich wohl annehmen, lieber Freund, daß Du
nur zeichnest, weil ich es thue. Denn das wäre gerade so dumm,
als wolltest Du mir in Allem folgen, wie mein Schatten. Man
mag wohl gut thun, den Rath eines Andern anzuhö¬
ren, aber man höre stets auch auf sein eigenes Gefühl.
Hättest Du übrigens Deine Umrisse und Deine Linien getreu der
Natur nachgezeichnet, so würde Dir Deine Skizze besser gefallen.
Denn wenn Du nicht zum Bleistift gegriffen hast, eben nur um
meinem Beispiele zu folgen, so muß sich nothwendig in der Land¬
schaft, die ihre Herrlichkeiten vor uns ausbreitet, ein oder der andre
Gegenstand finden, der in Dir den Wunsch rege machte, ein Andenken
davon in Deinem Album zu haben. Denn Alles, was wir hier
sehen, ist natürlich: aber nicht Alles ist schön. Das Siebengebirge
bildet den Hauptgegenstand dieser Landschaft: durch seine grandiosen
und doch angenehmen Umrisse verleiht es derselben ihren ganzen
Glanz. Man nehme sie heraus und die Landschaft will nichts mehr
sagen. Und Du hast nun gerade die schönen Linien dieses Gebirges
vernachlässigt, ohne zu bedenken, daß das Uebrige für die Bleistift¬
zeichnung keine Wichtigkeit hat. Indem Du so den einzigen Gegen-


[]

stand, der Deinen Skizzen einen Werth verleihen konnte, bei Seite
gelassen hast, so kann Dir diese keinen weiteren Dienst leisten, als
Dich daran erinnern, daß Du im Jahre 1840 in Bonn eine Zeich¬
nung gemacht hast. Die Landschaft selbst stellt sie nicht dar."


Der Drachenfels.

Wenn man den Rhein auch nur für einige Tage besucht, so
vergesse man ja nicht, auf den Drachenfels zu steigen; denn man
genießt vom Gipfel dieses Felsens aus, da er die umliegenden Höhen
überragt, eine unvergleichliche Fernsicht.


Kein Maler aber hoffe hier die Natur nachahmen zu wollen:
schon ein bloßer Versuch wäre eine Thorheit. Man bewahre tief
im Herzen den Eindruck dieses Anblickes, erfülle seine Seele ganz
damit und so wird man lernen, selbst zu schaffen. An solchen Orten
fühlt man recht die Große und die Liebe des Allerhöchsten und die
Kleinheit und Undankbarkeit der Menschen.


Kapitel IV.
Von Remagen nach Ahrweiler.



Begegnung mit deutschen Kunstbrüdern.

......Der Wein schien das zu Wege zu bringen, was
alle Anstrengungen Herrmcmnö nicht vermocht hatten. Unsere deut¬
schen Collegen wurden gesprächiger und theilnehmender und erzählten
uns, sie hätten einen großen Theil des Sommers damit verbracht,
Ansichten der Ahr aufzunehmen und hätten jetzt eine Reise nach der
Mosel vor. Bald rollte nun unsre Unterhaltung über allerhand
Kunstinteressen und so kamen wir unter Anderen auch auf die
Düsseldorfer Ausstellung.


„Als Holländer, sagte einer der deutschen Maler, müssen die
Herren doch wohl auch ihren Landsmann, den Landschaftsmaler
„Koekkoek" kennen, der zwei Mal Gemälde nach Düsseldorf zur Aus¬
stellung geschickt hat."


[]

„Ich winkte unbemerkt meinen Reisegefährten mit den Augen
und wir antworteten im Chorus: „El freilich."


Der Deutsche. „Was mag wohl der Beweggrund sein, weß-
halb dieser Maler sich in neuester Zeit davon enthält, uns
Gemälde zu schenken? Hat er nicht Lorbeeren genug geerntet,
als er 1836 eine Winterlandschaft in Düsseldorf ausstellte und
hat nicht auch die Sommerlandschaft, die er im folgenden Jahre
hinsandte, alle Stimmen für sich gehabt?"


Ein Zweiter. „Das erste Gemälde hat wenigstens allgemein
gefallen. Ueber das zweite hat man sich freilich zu schreiben
erlaubt: Dieser Kuckuk singe seltsamer Weise den Winter besser,
als im Sommer. Vielleicht haben diese Aeußerungen den
Maler in üble Laune gegen uns versetzt."


Der Erste. „Das kann ich doch kaum glauben."


I es. „Ich bin vielmehr der Meinung, daß er nicht die Zeit hat,
die ihm nothwendig wäre, um für jede Ausstellung ein bedeu¬
tendes Bild zu arbeiten; denn er hat bis über den Kopf mit
bestellten Gemälden zu thun. Was die Kritik betrifft, so be¬
achtet er nur diejenige, die mit Sachkemitniß geschrieben ist,
und das ist leider nur sehr selten der Fall; Artikel, in denen
sich die Unwissenheit hinter einem Gewände spöttischer, geist¬
reich sein sollender Witzeleien verbirgt, läßt er gänzlich unbe¬
achtet. Denn die Kritik soll den Künstler belehren, nicht aber
sich mit ihm necken oder ihn durch Persönlichkeiten verletzen."


Rudolph. „Ach, die Herren Kritiker verfallen zuweilen in gar
sonderbare Irrthümer. Und wie kann es auch anders sein?
Die meisten von ihnen verstehen eigentlich von der Kunst
wenig; sie lassen sich also in ihren Urtheilen von irgend einem
unbeschäftigten, also verdienstlosen Maler, leiten, der ihnen als
Cicerone durch die Säle einer Ausstellung dient, der aber aus
neidischer Gehässigkeit die wenigsten Gemälde richtig würdigt."


Ein deutscher College. „Sie sagen, Koekkoek sei mit Be¬
stellungen überhäuft; warum schickte er alsdann nicht diese be¬
stellten Gemälde vorher auf die Ausstellung?"


Ich. „Die meisten Liebhaber wollen ihre Bilder nicht an öffent¬
lichen Orten figuriren sehen."


Der Deutsche. „Wenn ich Koekkoek wäre, so wollte ich für


[]

keinen Kunstliebhaber ein Bild malen, der mir nicht die vollkommene
Freiheit ließe, meine Gemälde auf eine Ausstellung zu senden."


Ich. „Das Ware um so schwieriger durchzuführen, da nicht
alle bestellten Gemälde für eine Ausstellung passen."


Die Unterhaltung würde sich über diesen Stoff wohl noch in'S
Weite gesponnen haben, hätte nicht unser junger Freund Karl Alles
verdorben, indem er mich beim Namen rief.


Kapitel V.
Aufenthalt in Ahrweiler.


Rathschläge an junge Maler über das Studium der Natur.


Der Unterricht im eigentlichen Sinne des Wortes ist in der
Kunst nur eine nothwendige Einleitung zum großen Werke. Was
hilft dem Maler eine regelrechte Ausführung, eine tadelfreie Per¬
spektive, wenn das Gemälde selbst kalt und leblos ist? — —


Es giebt in der Natur nicht zwei Gegenstände, die einander
völlig gleichen, die Mannigfaltigkeit scheint die Grundlage der Schöpf¬
ung zu sein. Sodann nach der Mannigfaltigkeit der verschiedenen
Kreaturen unter einander kommt ihre Verschiedenheit in Bezug auf
sich selbst; für lebendige Wesen ist dies die Bewegung der Leiden¬
schaften und der Handlungen, für leblose Dinge sind dies die Ver¬
änderungen, welchen sie durch die Gewalt der äußeren Einflüsse,
durch Licht und Wärme, durch Kälte, Regen, Wind und aus lau^
send andren Ursachen unterworfen sind. Sodann kommt die Ver¬
schiedenheit der Landschaften, der Gebirge, der Ströme, des Bodens,
der Bäume und Pflanzen, sodann kommen die der Luft, des Lichts,
des Hellen und Dunkeln, welche unerschöpfliche Quelle von Beobacht¬
ungen und Studien für einen Maler! —


Wo will man den Naturforscher finden, der zu diesen zahllosen
Abwechselungen den Schlüssel giebt? Der Mann der Wissenschaft
vermag uns wohl das Brechen der Lichtstrahlen darzustellen; aber
die Wirkungen, welche dadurch auf die Farben der Körper hervor¬
gebracht werden, muß der Maler selbst beobachten.


25
[]

Studirt daher unaufhörlich die nimmer endende Mannigfaltig¬
keit der Natur; dadurch werdet Ihr Euren Geist mit einer Menge
Schönheiten bereichern und werdet lernen, aus Euch selbst heraus zu
schaffen, Ihr werdet durch und durch originell werden und alsdann
werden Eure Gemälde gesucht sein. Ja, ich will Euch noch mehr
sagen: selbst wenn Ihr in der Kunst auf einer minder hohen Stufe
steht, werdet Ihr um Eurer Originalität halber höher geschähe
werden, als die sklavischen Nachahmer irgend eines mehr oder min¬
der vollkommenen Meisters. Mögen die Unwissenden auf ihre von
Fremden entlehnten Ideen noch so hohen Werth legen, sie, die kaum
einen Blick auf die Natur werfen und aus Trägheit sich an die
Werke Anderer halten, wobei sie sich in die darin befindlichen Schön¬
heiten dermaßen vergaffen, daß sie für ihre eigenen Werke sich dar¬
auf beschränken, diese zu Rathe zu ziehen: — nie können dergleichen
Leute hoffen, Anspruch aus Originalität machen zu dürfen.


Man verdient den Namen eines originellen Künstlers nur,
wenn man selbst denkt und schafft. Weder das größte Meisterwerk,
noch der geistreichste oder unternchtetste Mensch ist im Stande, eine
befriedigende Idee von der Natur zu geben. Nur eigene, unablässige,
aufmerksame Betrachtung derselben vermag ihre Große und Maje^
stät zu offenbaren.


Man gehe in's Freie an einem schönen Morgen, wenn die
Felder erglänzen von silberhellen Tinten, oder an einem goldigfär¬
benden Abend, an einem schönen Frühlings- oder Herbsttage. Man
suche das große Schauspiel eines Sturmes, eines Gewitters auf,
das im Entstehen oder im Aufhören begriffen ist. Oder auch man
erforsche die zahlreichen Schönheiten eines Winters, indem man die
Wirkungen des Lichtes, dieser Seele aller Dinge, dieses Quells aller
Schönheit, studirt, und so wird man in seinem Geist einen Schatz
schöner Gedanken anhäufen, denen man später auf der Leinwand
Leben verleihen kann.



Wir haben die Hinzufügung jeder Erläuterung zu den Stel¬
len, die wir hier übersetzt mittheilen, für unnütz gehalten. Wir
waren der Meinung, Jedermann vermöge es zu würdigen, wie viel


[]

nützliche Belehrungen in diesen Aeußerungen eines ausgezeichneten
Landschaftsmalers unserer Zeit enthalten seien, und wie sehr fie,
richtig begriffen, geeignet wären, so manchen Künstler von der fal¬
schen, weitab vom Erfolge führenden Bahn zurückzubringen, die er
zu seinem und der Kunst Nachtheil eingeschlagen.


Jedermann weiß, daß Koekkvek ein naturforschender Landschafts¬
maler ist) hätten uns aber seine Gemälde nicht schon lange Mittel
zu seiner gerechten Beurtheilung an die Hand gegeben, so würde sein
Buch uns hinreichend beweisen, wie fern er jener reichen, aber kalten
Nachahmung steht, der sich so viele ehrsame Mittelmäßigkeiten erge¬
ben haben. Irregeleitet, wie sie sind, glauben dieselben, der höchste
Zweck der Kunst sei eine kleinliche Reproduction; denn man hat
ihnen eingeredet, die Poesie und die Wahrheit seien einander feind¬
selig. Als ob die Natur je aufhören könnte, wahr zu sein, weil
man eine geschmackvolle Auswahl aus dem macht, was sie bietet,
oder weil man ihre erhabenen Schönheiten mit Begeisterung darzu¬
stellen versteht.



25»[]

Wanderungen dnrch die Pariser Theater»



l.


In welche Straße von Paris soll ich den deutschen Leser führen,
in der er nicht bekannt ist? Man kennt in der kleinsten Stadt
Deutschlands die Faubourg Se. Germain, die Chaussee d'Artim, die
Rue Richelieu, die Boulevards, das Palais Royal genauer und
besser als die Linden und die Leipziger Straße in Berlin, den Jo¬
sephsplatz und die Jägerzeile in Wien und wie alle die unberühm¬
ter Straßen und Plätze unserer berühmten Hauptstädte heißen.
Die Phantasie der Deutschen lebt im Auslande. Sie ist eine
fürchterliche Ehebrecherin, die, im innigsten Umgange mit dem ihr
angetrauten Gatten, ihre Gedanken anderswo erhitzt.


Und vollends die Theater! Die Pariser Theater! Es fällt kein Oel-
tropfen auf das Manuscript eines Pariser Souffleurkastens, es schwebt
kein Geheimniß zwischen dem ersten Tänzer und der letzten Choristin in
irgend einer Pariser Coulisse, ohne daß man in Deutschland durch
Estafette die Nachricht erfährt. Es giebt wenigstens eine halbe Million
Deutsche, die mehr von der Rachel als von der Rahel wissen, denen
Talma besser bekannt ist, als Fürst Hardenberg, und die weit ge¬
nauer die ersten Komiker im Vaudeville-Theater, als die ersten Mi--
nister deS österreichischen Staatscabinets zu nennen wissen. Und
nun erst die Stücke! Ein französischer Theaterdichter hat noch sein


[]

neues Stück nicht niedergeschrieben, nicht entworfen, so ist es schon
in Deutschland von wenigstens drei Personen übersetzt.


Indem ich Sie, verehrter Leser, einlade, mir auf einer kleinen
Wanderung durch die Theater von Paris Gesellschaft zu leisten, will
ich keineswegs Ihren Cicerone durch die großen, goldnen Säle des
Theatre frainMs machen, durch die große Oper, durch das Vau-
deville und die Opora-comique; ich will nicht die Rolle eines Lohn¬
bedienten spielen, der, einen Gelehrten durch die Straßen der Stadt
führend, ihm erzäh/t, wer Karl der Große war, dessen Statue aus
dem Marktplatze steht, zu welcher Zeit Gustav Adolph lebte, der hier
in diesem Gasthofe eingekehrt, u. s. w. Nein, ich führe sie dorthin,
wo ich noch hoffen darf, Ihnen eine kleine, wenig bekannte Welt zu
zeigen, „dort, wo die letzten Häuser stehen," die letzten Schauspiel¬
häuser nämlich, auf dem entlegensten Ende der Boulevards. Die
Dramen, die auf dem Theatre des Funambules zur Darstellung
kommen, sind glücklicherweise noch nicht in's Deutsche übersetzt, aus
dem einzigen Grunde, weil dort Pierrot, Arlequin und Colum-
bine die einzigen drei Einheiten sind, welche bei der Conception die¬
ser Stücke in'ö Auge gefaßt werden. Wie heißen diese Stücke aber
auch! „Der wüthende Ochse," „Meine Mutter Gans." Und vollends
der Inhalt! Die Analyse meiner Mutter Gans hat Jules Janin
mehr Aufwand an Witz, Verstand und Styl gekostet, als sein
Bericht über alle Vaudevilles der Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft.


Welche Stücke! aber auch welches Theater und besonders, welche
Zuschauer! Da giebt es doch noch ein Publikum, das sich nicht
langweilt i da giebt es weder Stutzer in ihren mehr oder minder
gelben Handschuhen, noch kommen hierhin die Herren Feuilleton¬
schreiber, die abgenutzt, eckelsatt und blasirt, das Theater nur ox calli-
«:in> besuchen, noch steht man die vornehmen Damen der Geburts-
und Geld-Aristokratie hier, die statt mit dem Stücke sich nur mit
ihren Prachtgewändern und kostbaren Blumensträußchen beschäftigen,
und nicht, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden, in's Thea¬
ter kommen. Das Publikum dieses Theaters kommt in Jacken, in
Leinewandkitteln, in Hemdärmeln, oft auch ohne Hemde und mit
nackten Armen, mit der Mütze auf dem Kopfe: aber dafür ist es
auch unbefangen und naiv, wie ein Kind, dem man die ersten


[]

Märchen erzählt; es läßt sich in aller Gemüthlichkeit von der Dich¬
tung des Poeten (ja, lacht nicht/ des Poeten; ich werde es Euch
gleich beweisen) fortreißen; es kritisirt nicht, sondern nimmt Alles
an, wenn man es nur amüsirt. Das ist das ächte, unverdorbene
Theaterpublikum, das alles Phantastische mit bewunderungswürdiger
Leichtigkeit begreift, das ohne allen Einwand Ludwig Tieck's „Ge¬
stiefelter Kater" oder „das kleine Nothkäppchen" oder jene funkeln¬
den Gozzi'schen Possen mit anhören würde, in denen die buntlappig
gekleidete, grimassenschneidcnde Welt der italienischen Charaktermas¬
ken mit den zauberhaftesten Feenwesen so seltsam gemischt ist. Wenn
es je möglich ist, gewisse Shakspeare'sche Stücke, wie den „Som-
mernachtstraum," den „Sturm," das „Wintermärchen" in Frankreich
zur Darstellung zu bringen, so wird es gewiß auf diesen armseligen,
wurmstichigen Brettern geschehen, und dieses zerlumpte Volk werden
die ersten Zuschauer sein, die es mit Liebe, ich mochte fast sagen,
mit Verständniß aufnehmen werden. Hätte Schreiber dieser Zeilen
die Ehre, ein großes Genie zu sein, so würde er den Versuch wagen,
für dieses verachtete Theater ein Stück zu schreiben. Aber eine solche
Kühnheit stände ihm übel an: höchstens könnten Dichter, wie Victor
Hugo, Alfred Musset und ähnliche, und das auch nur in ihren
besten Tagen, so etwas unternehmen. Wer ist denn nun aber, wird
man fragen, der oder die Verfasser, welche an diesen unerhörten
Meisterwerken arbeiten? Niemand kennt sie, Niemand weiß ihren
Namen, eben so wie man nicht weiß, wie die Dichter deS spanischen
Romancero, oder die Erbauer der mittelalterlichen gothischen Kathe¬
dralen geheißen haben. Der Verfasser-dieser wunderseltsamen Possen
.ist alle Welt; dieser große Dichter, dieses Collectivwesen, das mehr
Witz besitzt, als Voltaire, Beaumarchais und Byron; an dieser Art
von Stücken arbeiten Verfasser, Souffleur und besonders das Publi¬
kum zugleich, so ungefähr wie im Munde des Volkes Melodien
und Lieder unbekannter, namenloser Dichter und Komponisten leben,
die voll Fehler gegen Metrum und Reim und Musikgesetze sind und
die dennoch dermaßen die Verzweiflung großer Dichter und Kompo¬
nisten sind, daß sie für eine Strophe dieser unregelmäßigen Lie¬
der, für einen Satz in diesen Melodien ihre kostbarsten, gefeiltesten
Arbeiten o wie gern! hingeben möchten.


Vor etwa zehn Jahren war ein berühmter Hanswurst, Debureau,


[]

die Zierde dieses Theaters. Er war so geistreich, daß er nicht allem
die Menge, sondern auch eine große Anzahl Schriftsteller, Maler
und andere Künstler in dieses elende Theater auf dem Boulevard
du Temple lockte. Ich gehörte in jener Zeit fast zu den täglichen
Besuchern der FunambuleS und ich erinnere mich, daß unsere ganze
Gesellschaft gewöhnlich eine Loge dicht an der Bühne inne hatte,
von wo ans wir uns mit dem Schauspieler, der den Pterrot
(Hanswurst — Kasperl — Staberl) gab, unterhalten konnten. Er
war so an uns gewöhnt und so vertraut mit uns, daß wir von
allen leckeren Gastmahlen, die er auf der Bühne genoß, regelmäßig
unsern Theil bekamen.


Jüngst nun war ich einmal unserer großen Sänger und Sän¬
gerinnen, unserer großen Schauspieler und Schauspielerinnen in Luft-
und Trauerspiel überdrüssig und satt und beschloß, in Erinnerung der
fröhlichen Stunden, die ich in diesem Winkcltheater verbracht, wieder
in dasselbe einzutreten. Anfangs schwankte ich etwas, wie dies immer
der Fall ist, wenn man eine Person oder Sache wiedersehen soll, die
Einem früher gefallen hat, von der man aber, weil man sie lange
nicht gesehen, nicht weiß, ob es jetzt wieder der Fall sein werde.
Besonders flößte mir der Umstand Besorgnis? ein, daß das Theater
überweißt und angestrichen worden war und fast ein sauberes Aus¬
sehen hatte. Als ich nun gar im Orchester eine Verstärkung von
fünf oder sechs Blaseinstrumenten erblickte, fürchtete ich vollends, es
möchte dieses Theater etwa ein trauriges Anhängsel der komischen
Oper geworden sein und schickte mich schon an, fortzugehen. Da
ging glücklicher Weise der Bvrhang in die Höhe, und meine Be¬
sorgnisse nahmen ein fröhliches Eröe; denn ich erkannte bald, daß
sich das Theure deö FunambuleS siegreich auf seiner ursprüngliche»
Höhe zu behaupten verstanden habe und daß die Traditionen der
Kunst rein und unverfälscht in seinen Mauern, wie in einem
schützenden Heiligthum, bewahrt worden waren.


Das Theater stellte eine Straße, einen öffentlichen Platz dar,
ganz wie in einem Stücke des alten classischen Lustspiels. Pierrot
geht auf und ab, die Hände stecken in den Taschen, sein Kopf hängt
auf die Brust nieder, sein Gang ist schleppend; er ist traurig, eine
geheime Melancholie zehrt an, seiner Seele. Sein Herz ist leer und
seine Börse in einem ähnlichen Zustande, woe sein Herz. Cassandrc,


[]

sein Herr, antwortet ihm auf seine Geldforderungen mit einem un-
widerleglicher Argument, nämlich mit einem jener Fußstöße, wodurch
der Dialog dieser Pantomimenstücke oft so sehr belebt wird. Armer
Pierrot, wie traurig ist Deine Lage! Gleich Leporello bekommst Du:


Schläge nur bei Tag' und Nacht,
Schmale Kost und nimmer Geld!


Nein, da ist es kein Wunder, daß der arme Teufel so bleich
ist: es gehört nicht so viel dazu, um seine rothe Farbe zu verlieren.
Und obendrein ist der unglückliche Pierrot noch verliebt, aber nicht
etwa in ColumbtnenS niedliches Schnäutzchen und in ihren viereckigen
Rock, sondern er ist hinaufgestiegen zu den Töchtern der Elohim, wie
einst die Söhne der Elohim hinabgestiegen sind zu den schönen
Töchtern der schwachen Menschen. Er hat eine vornehme, sehr
vornehme Dame, eine Herzogin einmal aus ihrem Wagen steigen
sehen, um in eine Kirche oder in's Opernhaus, ich weiß nicht genau
wohin, zu treten: und da hat er denn seines Herzens Leere ge¬
fühlt. In Folge seines Liebesgrames und seiner gezwungenen Fasten,
fürchtet Pierrot, möge sein reizender Körper zu Schaden kommen;
er betastet seine Nase, die sehr mager geworden, und seine Beine,
die so dürre sind, wie die Arme einer Tänzerin. Dies Alles aber
stößt ihm noch keine ernstliche Besorgniß ein; denn ein bleicher und
magerer Liebhaber ist nur um so interessanter. Aber er möchte gern
unter Leute kommen, in Gesellschaften gehen, um seine angebetete
Herzogin zu sehen. Nun besitzt Pierrot aber keine andern Kleidungs¬
stücke, als seine geflickten Hosen und seinen Kittel von roher, grauer
Leinwand. Geh' einmal Einer in einem solchen Aufzuge in die
Abendgesellschaften einer Herzogin! Keine Kleider, kein Geld ; was
ist da anzufangen? Wie soll er in jene geheimnißvollen Paradies¬
gärten dringen, in denen Alles von blitzenden Krystall-Lustr<'ö, von
rosenfarbenen Kerzen, von Frauen und Blumen strahlt und flammt
und deren Glanz er durch die hell erleuchteten Fenster des Hütelö
hindurch schimmern sieht? Armer, verliebter Pierrot!


Während er nun diesen traurigen Gedanken nachhängt, die
Götter, das Geschick und sein Loos anklagt, geht ein Kleiderhändler
vorbet, der allerhand mehr oder minder stattliche Kleidungsstücke
trägt. „Ach! wenn ich doch diesen apfelgrünen Frack und dieses
schöne, bauschige Beinkleid hätte," sagt Pierrot zu sich selbst, und


[]

sein Auge glüht vor Begier, und in den Fingern zuckt ihm eine
unwiderstehliche Lust, und während er jene Worte spricht, streckt er
seine Hand mehrere Male hin, zieht sie aber wieder zurück. Der
Kleiderhändler hat so eben einen abgelegten Anzug eines dienstun¬
fähig gewordenen Nationalgardisten gekauft und trägt den dazu ge¬
hörigen Säbel, wie einen Regenschirm, unter dem Arm, so daß der
Handgriff der unschuldigen Waffe, die wahrscheinlich noch jungfräu¬
lich rein von Blut ist, ganz wie von selbst in Pierrot's Hand geräth,
der ihn denn auch erfaßt. Der Kleiderhändler, ohne dies im Ent¬
ferntesten zu bemerken, geht seinen Weg weiter, während Pierrot
mit dem Säbelgriff in der Hand unbeweglich stehen bleibt, so daß
die Klinge bald aus der Scheide gezogen ist, während der Kleider-
Händler letztere noch unter seinem Arme hält. Im Augenblicke, da
Pierrot den funkelnden Stahl erblickt, entflammt ein teuflischer Ge¬
danke sein Gehirn: er stößt die Klinge, nicht etwa in ihre Scheide
zurück, nein, in die Brust ihres unglückseligen Eigenthümers, so daß
sie ihn von hinten nach vorn durchbohrt und er starr und todt hin¬
sinkt. Pierrot verliert darüber durchaus seine Fassung nicht, sondern
sucht- sich aus dem Paauet des Verstorbenen die modischsten Klei¬
dungsstücke heraus, wofür er, um alle Spuren seines Verbrechens
hinwegzuräumen, den Leichnam in einen Keller hinabstürzt. Sicher,
daß man seine Missethat nicht entdecken werde, will er nun in seine
Wohnung hineingehen, um sich anzukleiden und eine Gesellschaft zu
besuchen, wo er sicher ist, seine angebetete Herzogin zu treffen: —
da plötzlich hebt sich die Fallthüre, die den Keller schließt, in die
Höhe und hervor steigt das Gespenst des Ermordeten, eine un-
heilvrohende Gestalt, eingehüllt in ein langes Leichentuch, die Brust
durchbohrt von dem Säbel, dessen Spitze noch hervorragt, und mit
grabesdumpfer, hohler Stimme ruft es aus: Marrrchand d'habits!
'


Das Entsetzen, den Schreck, der sich aufPierrots eingemehltem
Gesicht kund giebt, als er diese Stimme aus einer andern Welt ver¬
nimmt, — das ist keine Feder zu beschreiben im Stande. Bald
aber ermannt er sich zu einem entsetzlichen Entschlüsse: er will dieser
Schreckenserscheinung ein für alle Mal ein Ende machen; er er¬
greift daher ein ungeheures Stück Holz aus einem in der Nähe
liegenden Haufen, und beginnt einen grausigen Kampf mit dem Ge-
spenste. Anfangs weicht dies seinen Hieben aus oder parirt sie,


[]

endlich aber erhält es einen Schlag gerade auf den Kopf mit dem
Scheite Holz, so daß es wieder in den Keller zurückstürzt, wohin
dann Pierrot, um alle möglichen Vorsichtsmaßregeln zu treffen, in
aller Eile das ganze, von den Holzhauern schon zugesagte Holz ihm
nachwirft, worauf er dann zu seiner Sünde noch Frevel, zu seinem
Verbrechen noch Hohn und Spott fügt, indem er seinen Kopf an das
Kellerloch hält und den Ruf des Ermordeten: „Marrrchand d' Hahns"
nachäfft.


Ist das nicht ein bewunderungswürdiger Eingang, seltsam,
launenhaft, phantastisch, so daß Shakspeare selbst sich seiner nicht
schämen würde?


Nun wechselt der Schauplatz. Pierrot ist ii: seine Wohnung
eingetreten und zieht mit ehrfurchtsvoller Bewunderung das unge¬
heure Beinkleid la co«in>us und den wunderbaren, apfelgrünen
Frack an, er steckt Vatermörder an, klebt sich einen falschen,
schwarzen Schnurrbart auf und sucht die verbrecherische Bleiche seiner
Gesichtszüge dadurch zu verbergen, daß er auf das Mehl, womit
sie bedeckt sind, zwei kleine Streifen von rother Schminke legt, wo->
durch er das allercoquetteste und trtumphirendste Aussehn auf
Gottes Erdboden erhält.


Pierrot tritt nun in den Abendzirkel der Herzogin ein; er hat
sich schon ganz in den Geist seiner Atolle hineingefunden und sein Be¬
nehmen ist durchaus voll kaltblütiger Würde und angemessener Zier¬
lichkeit; er grüßt eben so fein, als wäre er ein Tanzmeister oder ein
abgerichteter Hund; er reicht den Damen artig die Hand und weiß
sein Augenglas so geschickt zwischen die obere Wölbung seiner Brauen
und dem untern Bogen seines Auges einzupressen, als wäre er
ein Stutzer, der sein Lebetag keine andere Beschäftigung gehabt
hat. Besonders aber muß man ihn in der Nähe der Herzogin
sehen. Wie anmuthig beugt er sich über die Lehne ihres Sessels,
wie süß flüstert er ihr tausend zarte Worte ins Ohr, mit welchen
Flammenzügen malt er ihr die Liebe, die für sie in seinem Herzen
brennt! Mitten in seinem schönsten Redeflüsse aber hält Pierrot
plötzlich inne, sein Schnurrbart, obgleich falsch, sträubt sich in die
Höhe, seine Schminke fällt ihm vom Gesicht, seine Zähne klappern
vor Entsetzen, die Aermel seines Fracks werden ihm plötzlich zu kurz ;
eine dumpfe, erstickte Stimme, ähnlich dem Röcheln eines Sterbenden,


[]

murmelt die feierliche Phrase: „Marrrchand d'habits!" Ein Kopf
kommt aus dem Fußboden hervor. Kein Zweifel mehr, eS ist das
Gespenst des Ermordeten. Pierrot stellt ihm den Fuß auf den
Hirnschädel und zwingt ihn wieder unter den Fußboden hinab, in¬
dem er zu ihm, wie Hamlet zu der Geistererscheinung seines Vaters
sagt: „Gieb dich zur Ruh', alter Maulwurf/' Darauf setzt er mit
heldenmüthigem Entschlüsse seine einen Augenblick unterbrochene
Liebeserklärung fort. Das Gespenst aber kommt einige Fuß weiter
hin wieder unter der Erde hervor: Pierrot aber stößt es mit
einem zweiten so kräftigen Fußstoße zurück, daß es sich eine Zeit
lang in der That ruhig hält.


Nun glaubt sich Pierrot für immer von der rächenden Erschei¬
nung befreit: er überläßt sich daher einem unsinnigen Uebermaß fast
krampfhaft sich äußernder Freude. Er tanzt, wie wahnsinnig, Galopp;
er führt die allerzügellosesten Cachuchas aus. Nachdem er tüchtig
getanzt hat, ist ihm natürlich heiß geworden und er will zur Er¬
quickung ein Glas Eis nehmen; aber o Himmel! das Gespenst
kommt ihm entgegen, indem es ein Plateau mit Erfrischungen hält
und wie Pierrot die Hand darnach ausstreckt, murmelt es mit noch
grabedumpferem Tone als früher: „Marrrchand d'habits!" — Hier
beginnt nun zwischen Pierrot'S Genäschigkeit auf der einen und seiner
Furchtsamkeit aus der andern Seite einer jener so naturwahren und
so Hochkoniischen Kämpfe, die Deburcau so trefflich darzustellen weiß.
Endlich trägt die Leckerhaftigkeit den Sieg davon: Pierrot wählt
ein prächtiges, tausendfarbig buntes Glas Panache-Eis, das sich
aber, wie er es an seine schuldigen Lippen setzt, in ein Feuerwerk
verwandelt und ihm einen solchen Schreck verursacht, daß er den
Löffel verschlingt, mit dem er das Eis essen wollte.


Endlich nimmt diese schreckensvolle Abendgesellschaft ein Ende.—
Trotz den ungelegener und störenden Erscheinungen des Gespenstes
ist es Pierrot gelungen, daS Herz seiner Herzogin zu rühren und
er darf hoffen, bald der glücklichste Sterbliche zu werden. — Zuweilen
freilich überfällt seinen Geist noch die Erinnerung an den so verräthe-
risch ermordeten Kleiderhändler, aber er weiß dieselbe zu verjagen,
indem er sein Gewissen durch eine ungeheure Menge Gläschen ver¬
schiedener Liqueure überschwemmt oder in den Schlaf wiegt. — Der
apfelgrüne Frack glänzt fortwährend in unbeschreiblicher Pracht; das


[]

Beinkleid » lit cositqiiö erregt unaufhörlich den Neid aller Stutzer
zweiten und dritten Ranges. — Pierrot ist, freilich zur Schande
der Moral und der menschlichen Natur, in Allem, was er unter¬
nimmt, glücklich. Er reussirt überall in der großen Welt, er gewinnt
fleißig im Spiele, so daß er sich sogar baumwollene Handschuhe
kaufen kann, Cigarren mit Strohspitzen raucht und seinen Schnurr¬
bart neu ausfärbt und täglich wichst. — Sein Schlaf wird durch-"
aus nicht von Gewissensbissen beunruhigt; aber Nichts leider! stürzt
so schnell zusammen als das Gebäuve eines Wohlstandes, dessen
Grundlage nicht die Tugend ist. Indem Pierrot in die Welt ge¬
gangen ist, hat er auch ihre glänzenden Laster angenommen. Durch
seine Liebe für die Herzogin läßt er sich nicht abhalten, auch noch
mit einigen Operntänzerinnen Liebschaften zu unterhalten, so daß
der arme Teufel bald wieder in die äußerste Noth und Verlegenheit
geräth. Es bleiben ihm keine andern Hülfsmittel mehr übrig, als
der Verkauf seines köstlichen, hoffnungsfarbigen Fracks, der ihm so
viele süße Erfolge zu Wege gebracht, und seines bewunderungswür¬
digen Beinkleids ü in, cosaquv, dessen bauschige Weite ihm so
prachtvolle Dienste geleistet hat, um seine abwesenden Waden zu
verheimlichen.


Hier findet sich nun eine dramatische Situation von einer bis¬
her vielleicht unerstiegenen Höhe und einer erschreckenden philosophi¬
schen Tiefe. Pierrot, den die Erinnerung an sein Verbrechen,
nun er in's Elend gerathen ist, wieder zu quälen anfängt, wagt es
nicht einen Kleiderhändler zu rufen, aus Furcht, das entsetzliche Ge¬
spenst möge ihm erscheinen. In der That geht auch, als hätte es
der bloße Gedanke herbeibeschworen, das Phantom in der Straße
vorbei, indem eS mit heiserer Stimme und als hätte es den Mund
voll Erde gestopft, röchelnd die Worte: „Marrrchand d'habits" heult!
Pierrot geht keck dem Gespenste entgegen und schlägt ihm mit einer
Verwegenheit, die Don Juan selbst vielleicht nicht hat, vor, ihm
Frack, Weste, Beinkleid und Hut im Ganzen abzukaufen: das Ge¬
spenst spricht sich pantomimisch dahin aus, daß die Sachen schon
sehr abgenutzt sind und bietet ihm für Alles anderthalb Franken.—
Pierrot wagt es erst, ihn einen Dieb zu nennen, dann aber willigt
er in den Handel und übergiebt ihm die Kleidungsstücke; da aber
will ihm das Gespenst die anderthalb Franken nicht geben, weil, wie


[]

es behauptet, die Effekten ihm gehören. Pierrot's Wuth kennt keine
Schranken mehr: er schleudert einen unverschämten Fußstoß in die
Beine deS Gespenstes und läßt auf den Fußstoß eine Reihe tüchtiger
Faustschläge in Augen und Magen folgen; das Gespenst zieht, um
sich zu vertheidigen, den Säbel, der ihm durch die Brust geht, her¬
aus und vertheidigt sich bestmöglichst: Pierrot aber schlägt mit Hän¬
den und Füßen so kräftig um sich, daß er die Kleider wieder erlangt
und Meister des Schlachtfeldes bleibt.


Was hat er aber mit diesem Siege gewonnen? Seine finan-
cielle Lage ist dadurch um nichts besser geworden. Er hat kein
Geld: was ist da zu thun? Pierrot ersinnt sich eine List, die der
Schläuchen, durchtriebensten Moliere'schen Bedienten würdig wäre.
Er sucht Cassandre auf und es entspinnt sich nun folgendes Gespräch
zwischen ihnen:


„Sehen Sie, beginnt Pierrot, die kurischen Seeräuber haben
mir die Zunge ausgeschnitten; sind Sie so gut und schenken mir
Etwas."


„Was Teufel, erzählst Du mir i>a, fragt Cassandre überrascht:
wie kannst Du denn sprechen, wenn Du keine Zunge hast?"


„Ach! lieber Herr, ich habe gerade noch so viel, daß ich das
Mitleid braver Leute anzusprechen vermag."


Cassandre, gerührt von dieser Antwort, giebt nun Pierrot einiges
Geld. Da dieser aber sieht, daß ihm seine List so gut gelungen ist,
so unterläßt er nicht, sich bald in der Gestalt eines Blinden dar¬
zustellen.


„Ach, mein lieber Herr Cassandre, ich hatte vergessen, Ihnen
zu sagen, daß eben dieselben kurischen Seeräuber mir auch die Au¬
gen ausgestochen haben."


„Wie stellst Du es denn an, mir so genau auf dem Fuße zu
folgen, wenn Du nicht klar siehst?"


„Mein süßer Herr, ich sehe gerade noch gut genug, um die
gefühlvollen Seelen zu unterscheiden."


„Nun Deine traurige Lage rühr: mich; hier hast Du einen
Thaler, komm aber nicht wieder."


Pierrot geht fort; in seinem Gemüthe aber regt sich ein um¬
fassenderer, des höchsten Muthes würdiger Plan: er will sich Cas-
sandre's ganze Börse aneignen. Um nun dieses löbliche Vorhaben


[]

auszuführen, schneidet er von den Aermeln seines Letnewandkittels
die Unterarme ab, so daß er einem Amputirten nicht unähnlich ist
und geht nun auf dem Theater hin und her, indem er mit den bei¬
den stumpfen, wie mit.zwei Flügeln eines Albatroß, hin und her
schlendert.


„Herr Cassandre, Herr Cassandre, die bösen Türken haben mir
auch die Arme abgeschnitten."


„Ja, das ist freilich schlimm; aber wie soll ich Dir nun helfen?"


Während dieses Gespräches läßt nun Pierrot feinen Arm in
Cassandre's Tasche gleiten, der aber den Streich bald entdeckt und
nun ausruft:


„Wie? Du Canaille von einem Kerl, Du behauptest, die
Türken hätten Dir die Arme abgeschnitten, und da ertappe ich einen
von Deinen Armen in meiner Tasche."


„Sie haben meinen Arm in Ihrer Tasche; meinen armen Arm,
den ich so lange gesucht habe! Sie sind mir ein lieber Herr! Armer
Leute Arme so zurückzuhalten! Ob man Sie auch mit Ihrem ehr¬
lichen Aussehen einer solchen Schandthat fähig gehalten hätte, Arme
um ihren Arm zu bestehlen! Nun sollen Sie aber auch gleich mit
mir zum Polizeicommissair gehen!"


Man braucht wohl kaum dem Leser zu sagen, daß Pierrot, in¬
dem er seine Hand aus Cassandre's Tasche herausgezogen, die
Börse nicht darin gelassen hat. Mit Cassandre's Geld wird nun
Pierrot glänzender als jemals und entfaltet eine solche Liebenswür¬
digkeit, paß er die Hand seiner geliebten Herzogin erhalt. Die
Heirath soll nun gefeiert werden. Pierrot, stolz und übermulh-
trunken, geht an der Spitze des Zuges, indem er seine strahlende
Braut zart an den seinen Fingerspitzchen ihres niedlichen Händchens
hält; plötzlich steigt aus dem Souffleurkasten ein langes, bleiches
Gespenst auf und wiederholt mit ächzender Stimme die verhängniß-
volle Phrase: „Marrrchcmd d'habit's." Pierrot, außer sich gerathen,
verläßt seine Braut, stürzt sich auf das Gespenst und giebt ihm einen
derben Puff; darauf setzt er sich selbst auf den Souffleurkasten, um
die Oeffnung'hermetisch zu verschließen und das Gespenst zum Ver¬
bleiben in den nächtigen Grabeöregionen zu zwingen.— Die Braut
ist außerordentlich erstaunt über dieses seltsame Verfahren; denn das
Gespenst ist nur dem Verbrecher Pierrot sichtbar. Sie ergreift ihn


[]

nun bei der Hand, zwingt ihn, seinen Sitz auf dem Souffleurkasten
aufzugeben und zum Altare zu schreiten. Sofort erscheint dann das
Gespenst wieder, umschlingt Pierrot mit seinen langen Armen und
zwingt ihn, einen höllischen Walzer mit ihm zu tanzen, der noch
viel tausendmal entsetzlicher ist, als der Herentanz in Goethe's Faust.
Der Ermordete drückt den Mörder an die Brust und zwar dermaßen,
daß die Spitze des Säbels Pierrot von vorn nach dem Rücken zu
durchbohrt und ihm zwischen den Schultern hervorkommt. So werden
denn der Mörder und sein Schlachtopser auf ein und dasselbe Eisen
gespießt, gleich zwei Schmetterlingen, die an einer Nadel aufge¬
stochen sind.


Das phantastische Paar tanzt noch einige Male auf dem Theater
herum und versinkt dann in einen Abgrund, während ringsumher
das Höllenfeuer hoch auflodert. Die Braut wird ohnmächtig, die Ver¬
wandten bilden in den verschiedenartigsten Haltungen und Stellungen
des schmerzlichen Erstaunens eine interessante Schlußgruppe und der
Vorhang fällt mitten unter allgemeinem Beifallsklatschen.


Ist das nicht ein seltsames Drama, wo Lachen und Schrecken
sonderbar gemischt sind! Herrscht nicht ein eigenthümlicher Zusam¬
menhang, ich möchte sagen, ein verwandtschaftlicher Zug, zwischen
dem Gespenst Banquo'S (in Macbeth) und der Geistererscheinung
im Hamlet einer — und dieser Geistererscheinung des „Marrrchand
d'habits" andrerseits? Und ist es nicht etwas Merkwürdiges,
Shakspeare in den Funambules wiederzufinden? Diese Posse ent¬
hält übrigens eine sehr tiefsinnige, durchaus vollständige, höchst mo¬
ralische Mythe, die bloß in der süßen Sprache der Brahmanen ge¬
schrieben zu sein brauchte, in dem heiligen Sanskrit, um eine ganze
Schaar Kommentatoren zu finden. Pierrot, der in seinem Kittel
und Beinkleid von weißer Leinewand, seinem mit Mehl eingeweißten
Gesichte, von unbestimmten, sehnenden Gefühlen bestürmt, auf der
Straße hin und her geht, — ist das nicht eine Symbolisirung der
menschlichen Seele, die noch unschuldsrein, lilienweiß ist und die von
unsäglichem Sehnen nach einem Aufschwung in höhere Regionen
gepeinigt wird? Der Säbelgriff, der sich, wie von selbst, Pierrot'S
Hand darzubieten und ihn durch das treulose, tückisch-lockende Fun¬
keln seines hellgrünen Messings zu verführen scheint, — ist das
»icht ein sprechendes Sinnbild von dem gewaltigen Einfluß der Ge-


[]

legenden auf Gemüther, die schon unter der Bürde der Versuchung
schwanken? Die Schnelligkeit, mit der, gleichsam wider Pierrot'ö
Willen, die Klinge in den Körper des Schlachtopfers fährt, stellt uns
dar, wie leicht man ein Verbrechen begeht und wie eine unbedachte
Handbewegung uns verderben kann. „Laß Dich den Teufel bei
einem Haare fassen und Du bist ganz sein." Denn offenbar hatte
Pierrot, als er nach dem Säbelgrtff faßte, keine andre Idee, als die,
einen Scherz zu machen! Das Gespenst des Kleiderhändlers, das
aus dem Keller hervorkommt, zeigt, wie ein Verbrechen nicht ver¬
borgen bleiben kann, und wenn Pierrot den Schatten deS bedauerns¬
werthen Opfers durch Streiche mit dem Scheite Holz wieder in den
Keller' zurückstürzt, hat nicht hiemit der Verfasser auf die klarste
und geistreichste Art angedeutet, daß man zwar durch Vorsichtsma߬
regeln die Entdeckung einer Missethat eine Zeit lang verzögern
kann, daß aber der Tag der Rache, „des hinkenden Boten" sicher
einmal kommt. — Das Gespenst selbst ist auf die allerdramntischste
Und Schrecken einflößendste Weise das Symbol der Gewissensbisse.
Diese einfache Phrase „Marrrchand d'habit's," die ein so tiefes Ent¬
setzen in Pierrot's Seele wirft, ist ein wahrhaft genialer Zug und
steht sicherlich auf gleicher Höhe mit dem berühmten Macbeth'schen:


Wer dacht' es aber, daß der alte Mann
Noch so viel Blut in Adern hätt'.


Dieses „Marrrchand d'habits" war das letzte Wort des Ermor¬
deten im Augenblicke seines Todes; — die Worte und ihre Beto¬
nung sind daher mit unauslöschlichen Zügen im Gedächtniß des'
Mörders geblieben. Und diese Scene der Liebeserklärung, wo das
Gespenst unter dem Fußboden ist, „ein wacker grabender Maulwurf"
und von Zeit zu Zeit seinen Kopf hervorhebt, stellt sie nicht auf
die er's Auge fallendste Weise dar, wie eigentlich Nichts im Stande
ist, die Stimme des Gewissens im Herzen des Verbrechers zum
Schweigen zu bringen? Er mag sie immerhin zu übertäuben,
mag sich in Wein und Liebe zu berauschen suchen, überall ist das
Gespenst da, und immerfort fühlt er, wie Fieberschauer, den eisigen
Hauch an seiner Schulter und hört des Grabes dumpfes Geflüster:
„Marrrchand d'habits."


Selbst der einzelne Moment, wo das Glas Eis sich unter
seinen Lippen in ein Feuerwerk verwandelt, ist nicht ohne tiefere


[]

moralische Bedeutung: es soll hiermit vielmehr angezeigt sein, wie
für den Verbrecher Alles zu Gift wird und wie das, was dem
Munde des Unschuldigen eine Kühlung ist, für den Gaumen des
Bösewtchts ein brennendes Feuer wird: zudem ist es eine vorbereitende
Anzeige des ewigen Höllenfeuerö, dem der Mörder unfehlbar an¬
heimfallen muß. Die Scene, wo Pierrot keck und verwegen der
Gegenwart des Gespenstes trotzt, und die Kleider, die er ihm ge¬
stohlen, an es selbst zurückverkaufen will, zeigt durch ihre beispiellose
Kühnheit, daß die Katastrophe nahe sein müsse und daß die Teufel
unten am Feuer schon schüren. Pierrot, eine Art Don Juan, for¬
dert des Himmels Zorn heraus: seine sündige Verhärtung hat ihren
höchsten Grad erreicht; daher erscheint auch das rächende Gespenst
wieder, wie er die Herzogin zu Heimchen im Begriffe steht und dies
Mal vermag er nicht mehr, es in den Abgrund zurückzudrängen,
aus dem es emporgestiegen. Es ist dies eine sehr sinnige Allegorie,
welche darthut, daß ein jedes Verbrechen trotz aller Kühnheit, trotz
aller Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit des Missethäters doch früh
oder spät entdeckt wird. Dieser höllische Walzer und die Säbelspitze,
welche, nachdem sie den Körpers des Kleiderhändlers durchbohrt, auch
in Pierrot's Brust dringt und ihn gänzlich durchsticht, lehren uns,
daß die Menschen durch ihr eigenes Verbrechen bestraft werden,
und daß der Dolch, womit ein Mörder sein Schlachtopfer trifft,
noch tiefer in sein eigenes Herz sich einbohrt. Das Erstaunen der
Verwandten der Herzogin, als sie dieses Wunder erblicken, zeigt
deutlich, welchen Gefahren Herzoginnen sich aussetzen, wenn sie
Pierrot's heirathen, ohne vorher Erkundigungen einzuziehen und die
Zuschauer werden dadurch gemahnt, 'in ihren eigenen gesellschaftlichen
Beziehungen mit mehr Vorsicht zu verfahren. —


Giebt es nun wohl viele neuere, frcmzöstsche oder deutsche
Trauerspiele, deren Analyse ein so reichhaltiges Resultat liefern
würde und die sich selbst unter dem Prüfstein der Kritik so probe-
haltig erweisen würden?



26[]

T a g e b u es.



^ ^ ^ ^.. ^. ^ ^ i. > ^


-----. Die diesjährige Versammlung der Aerzte und Naturforscher
in Mainz war gewiß eine der schönsten, seitdem der geniale Oken sie vor
zwanzig Jahren in's Leben gerufen; in einer der reizendsten Gegenden Deutsch¬
lands, man könnte sagen, Europas, und in einer seiner frohesten und gastfreic-
sten Städte. Aus allen Theilen des deutschen Vaterlandes waren Gelehrte
von Ruf, oft erste» Ranges, dort und viele Länder Europas waren wenigstens
durch einen Namen repräsentier. Die Seiten des Verzeichnisses glichen frei¬
lich oft einem nebligen Herbstabend, an dem nur hin und wieder ein Stern
hervorschimmert; aber am Ende treten die Lichter auf schattigem Hintergrunde
auch besser hervor. Auf besagtem Hintergründe haben wir denn auch einige
junge Studierende bemerkt, die in dem Verzeichnisse gewiß mit Recht figurir-
ten, der Hoffnungen wegen, die sie vielleicht erregt hatten. Manche Natur¬
forscher hatten sich auch schlechtweg Particulier, Kaufmann, Privatmann ge¬
nannt. Wir betrachten dies Alles als ein günstiges Zeichen der Zeit, über das
man scherzen kann, über das sich aber Jeder freuen wird, der die Theilnahme
an der Wissenschaft nicht blos in die staubige Studirstube einschließen will.
Ich könnte Ihnen nun weitläuftig erzählen, was Alles in den Sectionen von
der Astronomie an bis zur Zoologie verhandelt worden ist; da indeß viele Ihrer
Leser und Leserinnen wahrscheinlich gar keiner Section angehören, so wage ich
das nicht. Uebrigens sind dafür auch die allgemeinen Sitzungen vorhanden;
da werden Gegenstände verhandelt, die allgemein, Herren und Damen, inrcres-


[]

Siren. So sprach in der ersten allgemeinen Sitzung ein Arzt sehr geistreich
über Jnfusionsthierchen im Urin. Dem Reinen ist ja Alles rein. Ich
hatte dieser ersten allgemeinen Sitzung nicht beigewohnt und war daher sehr
neugierig auf die zweite geworden. In dem sehr geschmackvoll eingerichteten
Saale des neuen Schlosses hatten sich wohl 800 Forscher und Naturforscher
versammelt; der Anblick so mancher intelligenten, schönen Stirne erfreute die
Beobachter, und oben von der Galerie sahen eine Menge Naturforschcrinnen
und Natursteundinncn auf uns freundlich lächelnd herab. Sie schienen sich
herzlich zu freuen, als Herr Leukard aus Freiburg in einer übrigens wohlge-
schricbenen Rede ihnen sonnenklar bewies, daß wir von den Affen uns zu un¬
serem Vortheil unterscheiden. Die Krone des Tages gebührte aber einem
Franzosen und einem Oesterreicher. Mr. it<- (üinnnvnt, tonllittsnr >1es von-
xi-es 8l-.lo»t!/i^uL» «zu Kranes lud in einer herzlichen, freundlichen Rede, die
den lautesten Beifall verdiente und erhielt, uns Alle nach Straßburg ein; nur
Schade, am Ende versprach er unter den dortigen Festlichkeiten zu unsere»
Ehren uns r<zon<z it« ^aiclö iiationulö vt um Leu <1'a> tiiios, im<?s LsngaIk.
Hierauf schritt man zur Wahl eines Vcreinigungsortcs sür künftiges Jahr.
Man schwankte zwischen Grätz und Bremen. Da führte unter andern Grün¬
den ein österreichischer Gelehrter auch mit langsam-bedeutender Stimme an:
„Die Herren Naturforscher und Aerzte würden in Grätz auch hohe Personen
finden." Das französische bengalische Feuer und die österreichischen hohen
Personen, — die Parallele war zu hübsch, als daß nicht mehrere Collegen sie
gemacht haben sollten. Wir sind gewiß, daß nicht die hohen Personen, son¬
dern das schöne, vor einigen Tagen am Rhein gesprochene Wort: „Kein Preu¬
ßen, kein Oesterreich, ein Deutschland," das der liebenswürdige und berühmte
Ettinghaus laut ausrief, und das ein lauter Beifall begleitete, für Grätz ent¬
schied. Vielleicht war dies das erste Mal, daß eine deutsche Naturforscherver-
sammlung einer großen politischen Idee so laut Beifall klatschte, etwas, wo¬
für man sie vielleicht vor zwanzig Jahren i» altri'vis der berühmten Central-
commission überantwortet hätte, um sich wegen ihrer revolutionairen Ideen zu
rechtfertigen. — Mit diesem erhebenden Gedanken verließ ich den Saal, um
mich auf die Galerie zu begeben und etwas näher die Damen zu beobachte»,
die sich so emsig für Naturwissenschaften interessirten; aber man verweigerte
unerbittlich meiner grauen Naturforscherkarte den Eintritt; ich sollte eine weiße
haben, Aelchen unschuldiger Absichten. So zog ich denn traurig ab mit meh¬
reren Collegen, die in gleich löblicher Absicht gekommen waren; und, wie alle
unzufriedenen Leute, stellten wir Betrachtungen an und frugen einander, ob es


26-i-
[]

nicht möglich sei, die Einwirkung der Naturforscherversammlung auf das^Leben
noch bedeutender zu machen, durch Auswahl passender Gegenstände für den
Vortrag in den allgemeinen und öffentlichen Sitzungen. Das Resumiren gan¬
zer wissenschaftlicher Richtungen z. B. kann für den Gelehrten, wie für den
Laien interessant sein, wenn ein bedeutender Mann sich dazu herab- oder viel¬
mehr hinausläßt; denn wir rönnen es ganz offen gestehen, unser Mangel an
öffentlichem Leben hat bei uns zwar nicht die Gabe des Vortrags — denn diese
findet sich oft genug auf dem Katheder — wohl aber die Gabe selten gemacht,
wissenschaftliche Gegenstände klar, der Menge verständlich und Interesse erre¬
gend darzustellen.


Uebrigens haben die Bewohner von Mainz, ihre würdigen Geschäftsführer
an der Spitze, ihren alten Ruf der Gastfreundschaft und ihres „Festsinnes" be¬
währt. Ihre Festlichkeiten waren so geschmackvoll, als die Aufnahme herzlich.
Ich nenne Ihnen vor Allem die Ausführung des Belsazar von den zahlreichen
Musikvcreinen des Rheingaues. siebentausend Menschen füllten die schön ge¬
schmückte Fruchthalle und ich habe während der fünfstündigen, musterhaften
Ausführung nur auf wenig Gesichtern Langeweile bemerkt. Dem voneert mon-
»tre, wie man in Paris sagen würde, folgte ein bal monstrs, auf welchem
die Naturforscher, besonders diejenigen, die sich mit den Verschiedenheiten der
Menschenracen beschäftigten, sich überzeugen konnten, daß die Mainzerinnen
keine üble Race sind. In der That zeigten auch viele dieser Herren For^
scher, daß sie auch praktische Freunde der schönen Natur sind. Gar allerliebst
wäre es übrigens gewesen, wäre der närrische Vorschlag durchgegangen, den
ein Mitglied der Versammlung machte, man solle doch ti<Naturforscher num-
meriren, so daß man an der Nummer, die jeder derselben auf dem Rocke an¬
geheftet tragen möge, sogleich mit Hilft des gedruckten Verzeichnisses zu erkennen
im Stande sei, wer dieser oder jener berühmte Mann sei. Man hätte dadurch leicht
wissen können, wer von unseren gelehrten Celebritäten der galanteste sei.---



Notizen aus und über Wien.

Die Redaction der Augsburger Allg. Zeitung ging vor Kurzem damit um,
die kleine tägliche Correspondenz aus Wien, welche über unbedeutende, tägliche
Vorfälle, Ankunft und Abreise vornehmer Personen u. s. w. berichtet, — eine
Art lithographirter Berichte, welche auch die Kölnische Zeitung, der schwäbische
Merkur-c. mit denselben Worten bringen, — abzuschaffen, da sie mit der
Wichtigkeit des Blattes nicht in Einklang stünde. Ein Wiener Freund,


[]

der mit einem der Redacteure zusammentraf, bat für die Beibehaltung dersel¬
ben.— „So unbedeutend Ihnen die Nachrichten erscheinen," sagte er, , so ge¬
schieht es doch sehr häufig, daß wir erst auf diesem Wege erfahren, was inner¬
halb unserer Stadt vorgeht. — . — Einen Beleg zu dieser Behauptung finden
wir so eben in Fränkl's „Sonntagsblättern"; es heißt dort: — „Eine Tän¬
zerin hat ihren unsterblichen Knöchel verrenkt." — „Ein Mann spielt mit dem
Ellbogen Clavier." — Dergleichen wichtige Nachrichten werden telegraphisch
schnell durch alle Blätter ausposaunt; dagegen erfuhren wir z. B. den Tod
des Bildhauers Schalter in Wien — berühmt durch seine Statue Andreas
Hofer's — hier in Wien erst durch die Augsburg er Allgemeine
Zaitun g."


Man scheint in Wien durchaus eine zweite Auflage des Libells: „Der
österreichische Parnaß" hervorrufen zu wollen. Jeden Augenblick kommen die
Blätter darauf zurück und machen durch ihre Polemik das Publikum auf
diese Schmutzfchrist neugierig. Bei all dem scheint man dort aus falscher
Fährte, so wie die unbedachtsame Anspielung in Fränkl's „Sonntagsblättern"
auf Rudolph Hirsch hinwies. Der wahre Verfasser lebt in Oesterreich und ist
heuchlerisch genug, am lautesten gegen sein Product zu schreien. Dem Redacteur
dieser Blätter, der persönlich in diesem Buche beschimpft und mit Koth bewor-
fen wird, ist aus dem Druckorte dieses Pasquills eine authentische Corre-
spondenz zugesandt worden, worin Verfasser, Verleger und die Mittelsperson
zwischen Beiden mit Namen angegeben wurden. Wir haben diese Korrespon¬
denz nicht mitgetheilt, weil wir nicht das Amt eines Denuncianten übernehmen
wollten. Um so unverzeihlicher ist es, wenn man auf einen bloßen, unbegründeten
Verdacht hin, an der Ehre eines Schriftstellers sich vergreift, der der Sache
ganz fremd war.


Die Rosen machen die Bemerkung, daß, wie oft auch der Herausgeber
der „Wiener Theaterzcitung" die Wohlthätigkeit seiner Mitbürger für Nothlei-
dende in Anspruch nimmt, er doch niemals umsonst bittet. Seine Sammlungen
sind stets von dem überraschendsten Erfolge begleitet: so weisen seine Listen von
der Mitte des vorigen Monats nach, daß bis dahin eingingen für die öster¬
reichische Stadt Steuer: 421vz Fi. C.M und 20 Duc. in Gold; sür Ham¬
burg: 1562 Fi. C.M. und 2Duc. in Gold; für Pofeg (Slavonien): K97^ Fl-
C.M. und 5 Duc. in Gold; für Hirschberg (Böhmen) 135; Fi. C.M. und
I Duc. in Gold.


[]
Ein englisch kr Censor.

Ich weiß nicht, ob ein englisches Werk, betitelt Mvmoirs ot eilt- Oulmuu
^-unilz- Iix K. ». I'e-tKv, in Deutschland bekannt ist; es verdiente es aber
jedenfalls zu sein, schon um des folgenden köstlichen Zuges halber, den wir
ihm entlehnen. George Colmar, ein jüngst verstorbener Verfasser von mehr
als zwanzig unmoralischen, aber unterhaltenden Possen, ein Mann, der seine
Jugend in Ausschweifungen aller Art verbracht hatte, war in seinen alten
Tagen Bühnencensor geworden und zeigte sich nun eben so streng gegen Andere
als er gegen sich selbst nachsichtig gewesen. Seine Strenge aber hatte durch¬
aus keine Beimischung von Heuchelei. Er trieb sein Gewerbe, wie er sich aus¬
drückte, ohne es zu achten und ohne daran zu glauben. Da die Functionen
eines Bühncncensors (exmuiner of xls^s) in England dem damit Beauftragten
kein festes Gehalt einbringen, sondern seine Einkünfte nach Anzahl der ccnsirten
Stücke steigen oder fallen, so hatte sich Colmar mit außerordentlicher Hartnäckig¬
keit darauf verlegt, auch nicht ein Manuscript, mochte es auch nur ein Liedchen
oder eine Strophe, oder eine kleine Aenderung in einem Gespräche sein, vor¬
beigehen zu lassen, ohne daß seine Feder daran thätig war und ihn zur
Erhebung seiner Gebühren berechtigte. Mit der einen Hand schrieb er unzüch¬
tige Lieder, während die andre, nur um zu streichen wie Geld einzustreichen,
die unschuldigsten Scherze der dramatischen Dichter aufstrich,: so forderte er
dann von dem Einen einen Shilling für eine Strophe, der er eine neue Form
gegeben, von dem Andern eine Guinee für die Unstttlichkeit einer Situation,
die er verbessert hatte, während er selbst, unerschütterlich in diesem doppelten
Benehmen, komischer geworden war, als alle Personen seiner eigenen Stücke.
Man muß es in dem englischen Werke selbst nachlesen, mit welcher leichten
und oberflächlichen Unverschämtheit dieser fröhliche und sorglose Beamte an
ein und demselben Tage puritanisch strenger Sittenrichter war, um seine Ccn-
sorgebührcn zu verdienen und ein Cyniker, um sein Honorar als Dichter zu
erhalten. So strich er das Wort Engel unter dem Vorwande, die Engel
seien in der Bibel geheiligt worden und man könnte daher einem Theatcrlicb-
habcr nicht erlauben, seine Geliebte so zu nennen. Er wollte nicht leiden, daß
man aus der Bühne „o Himmel!" ausrufe, weil dies, wie er sagte, eine Pro-
fanirung sei. Uebrigens war er unverschämt, tollkühn, ein Schmeichler, dem
es weder an Geistesgegenwart, noch an Gewandtheit fehlte, lauter große
Eigenschaften für das praktische Leben und bei ihm ein Ersatz für alle Tugen¬
den, auf die er keinen Anspruch machte.


[]
Statistik der Pariser Journale.

Während man im Jahre 1812 zu Paris nur 45 Journale und periodische
Schriften zählte, waren ihrer im Jahre 1826 schon 170; zur Zeit der Juli-
revolution war die Zahl auf 309 gestiegen und jetzt sind ihrer 403. Davon
erscheinen 35> täglich, 95 wöchentlich, 218 monatlich, 5 vierteljährlich, 8 drei
Mal wöchentlich, 31 zwei Mal, 8 drei Mal monatlich, 4 sechs Mal wöchent¬
lich, 2 über den andern Tag, 3 alle fünf und 2 alle zehn Tage; 1 erscheint
halbjährlich und 4 in unbestimmten Zeiträumen. Der Abonncmcntspreiö ist
von 120 bis 2Z Francs jährlich. Ausser mit Politik beschäftigen sich 15 mit
religiösen Gegenständen (davon 6 dem Protestantismus, 1 dem Judenthume
angehören) 20 mit Jurisprudenz, 27 mit Arzneikunde, 14 mit Naturwissen¬
schaften, 4 mit Marine und was dahin einschlägt; 10 mit Theaterangelegen-
heiten, 4 mit philosophischen Forschungen, 5 mit moralische», 10 mit Vcnval-
tungsgcgenstänbcn, 28 gehören der Pädagogik an, 37 sind literarischen Inhalts,
1 für Freimaurerei, 23 Intelligenz- und Anzcigeblättcr, 18 sind dem Ackerbau,
der Gartencultur, dem Seidenbau u. dergl. gewidmet; 10 beschäftigen sich mit
dem Buchhandel, 4 mit der Mathematik, 4 mit der Industrie, 33 mit Han¬
delssachen, 14 mit der Musik u. s. w. — Wir wollen nächstens eine ähnliche
statistische Uebersicht der deutschen Journale zu geben suchen.


Reisende Schriftsteller.

Die Blätter für literarische Unterhaltung machen bei Gelegenheit einer
Beurtheilung der letzten Schriften des bekannten Reisenden Kohl mit Recht die
Bemerkung, es sei in der deutschen Literatur ein seltenes Beispiel, daß eine
einzige Feder binnen Jahresfrist zehn starke Bände länderschildernden Inhalts
auf den Markt bringt, ohne die Verdienste einer angenehmen Darstellung
und einer eigenthümlichen Ergründung des Gegenstandes zu entbehren. In
der That ist die Individualität Kohl's gewissermaßen von der Natur zum
reisenden Schriftsteller bestimmt. Ein angenehmes Aeußere, das ihm bei
dem Postillon, wie bei dem Gelehrten, den er besucht, bei der rothwangigen
Wirthin, wie bei dem ernsthaften Prior irgend eines Klosters ein freundliches
Entgegenkommen sichert. Kräftiger, schlanker Wuchs, stets angeregt, ohne da¬
bei die Ruhe zu verlieren und dazu mit einem Talent des Aussragens begabt,'
daß ein brüsseler Schriftsteller, Herr van Hasselt, mit Recht von ihm sagte:
er drücke Jedermann, der mit ihm spricht, den Kopf, wie einen nassen Schwamm
aus. Kohl macht seine neuen Reisen auf Kosten Cotta's, der ihm, wie auch


[]

HöfkenundDingelstedt ein sehr glänzendes Reisegehalt ausgesetzt hat. Letzterer,
der vor Kurzem aus England zurückkehrte, wird bald eine Reift nach dem
Orient antreten; Höhlen befindet sich in Spanien, von ihm sind die in der
Beilage der Augsburger mit II. vorgezeichneten Reisebrieft; Kohl hat vor
Kurzem Belgien verlassen. _


Die jüngste Hein cfcttcr.

Der letzte der Abenceragen, die jüngste unter den Schwestern Hcinefettcr,
singt jetzt auf dem Brüsseler Theater, wo sie sür die Dauer der Saison enga-
girt wurde. Ein kühn geschnittener Kopf, schwarzes, glänzendes Haar, große,
mehr als kecke Augen, raffinirte Bewegungen — ein Weib, ganz geschaffen,
Jünglinge von 18 Jahren und Greift von SV mit gefährlichem Retz zu um¬
spinnen. Die Stimme ist wohlklingend, aber unausgebildet, oder vielmehr ver¬
bildet. Französische Assectationcn ohne französischen Affect. Diese junge Sän¬
gerin hat in Paris Unterricht genossen und brachte gleich bei ihrem ersten Auf¬
treten das mit, womit andere enden, Routine, gemachten Pathos; aber ihr
fehlte, was die jugendliche Kunst so reizend macht, das innere Feuer, die Be¬
geisterung; sie ist mit einem Sprunge in das reife Weibesalter getreten — die
Mädchenzeit, das Roftnaltcr der Kunst ist ausgeblieben. Die jüngste Heine-
fetter — die sich Kathinka nennt, obschon sie ein ganz inländisches Mainzer
Gewächs ist — hat von ihren Schwestern die ganze Erfahrungsschule, welche
diese auf ihren vielen theatralischen Triumph- und Irrfahrten sich allmälig er¬
worben haben, als Aussteuer gleich bei dem ersten Tage ihres Auftretens erhal¬
ten. Sie hat die ganze Tradition ihrer Künste geerbt, aber ihr fehlt das
Genie ihrer älteren Schwester und das breite Stimmvolumen der letztern. Es
scheint, daß das Talent dieser alt-jungen Sängerin in Paris keinen Anklang
gefunden hat, denn nachdem sie das selbst sür die Löwe unerreichbare Glück
hatte, in der großen Oper auftreten zu können, wurde sie wicdrr entlassen- In
Brüssel ist ihr Erfolg nicht glücklicher.


Der deutsche Michel,

— in der bekannten Carricatur nämlich — hat sich seiner selbst geschämt und
sich endlich — auch in einer Carricatur — aufgerafft. Er ist zum Burschen
geworden und schwingt einen gewaltigen Eichenstock; Rußland bittet, Frank¬
reich sällt vor Schreck auf den Rücken, die Bulldogge verkriecht sich vor ihm
und selbst dem römischen Himmelsguardian zittert der Schlüssel in der Hand.
Möge das zweite Bild so wahr werden, als es das erste leider ist.


[]

Die belgischen Städte und ihre Kunstwerke



i
Antwerp er.


^me und dieselbe merkwürdige geschichtliche Erscheinung wie¬
derholt sich in drei Ländern, deren Berühmtheit zwar nicht auf gleich
hoher Stufe steht, bei deren Bewohnern aber gleichermaßen das Gefühl
des Städtewesens mächtiger war, als das der Liebe zum gemeinsamen
ganzen Naterlande: es sind dieöGriechenland im Alterthum und die italie¬
nischen Republiken und die flandrischen Provinzen im Mittelalter.
Die Städte, die in ihrem vereinzelten Dastehen zu Macht gelangt
sind, bilden sich zu Freistaaten aus, zu von einander abgetrennten
Gemeindewesi'n und machen dann die Hegemonie entweder mit den
Waffen oder auf dem Schlachtfelde eines friedlicheren Kampfes ein¬
ander streitig. Sparta erniedrigt Athen; Florenz wirft Pifa's Macht
nieder; Gent ist neidisch auf Brügge. Jede Stadt glänzt der Reihe
nach als Fiihrerin über die anderen hinaus und fällt dann wieder in
die Dunkelheit zurück, weil eine jüngere, kräftig emporstrebende Neben¬
buhlerin ihren schwächer werdenden Händen das Scepter entrissen hat.
Auf Lakedämon, die Besiegen» von Athena folgt Tschä, die so lang
verachtete böotische Stadt. Der Lagunenstadt wahre Grösie beginnt
erst mit Genua's Erniedrigung. Und so auch ging im Norden der
Handel von Brügge, dem Haupt der teutonischen Hansa während
des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts, auf Antwerpen über,


27
[]

dessen tiefer Fluß die Schiffahrt an sich zog, welche durch die Ent¬
deckung Amerika's und des Wasserweges nach Indien eine bis da¬
hin unbekannte Ausdehnung und Bedeutsamkeit gewonnen hatte.


Wie der Hafen einer Binnenstadt, der mit dem Meere nur
durch einen vier Meilen langen Canal zusammenhängt, in einem
Lande, das eine wirkliche, obendrein von der Natur ganz dazu ge¬
schaffene Seestadt besaß, zu hohem Wohlstande gelangen konnte,
wäre eine unerklärliche Thatsache, wüßte man nicht, daß das künst¬
liche Element der Politik nur allzuoft Gewalt genug besitzt, um der¬
artigen natürlichen Gaben ihre Kraft zu rauben. Wie oft hat
nicht, um ein ähnliches Beispiel anzuführen, die Macht der Verhält¬
nisse und der Verträge Chalcedon auf Unkosten von Byzanz be¬
günstigt ! Antwerpen ist übrigens vielleicht eines der' schlagendsten
und traurigsten Beispiele von dem seltsamen Spiele der Ereignisse
in der politischen Welt. Ein Hafen, der dem Londoner in Nichts
nachsteht, und der noch dazu den Vortheil hat, auf dem Festlande
gelegen zu sein; eine Stadt, welche im Laufe der Jahrhunderte an
Größe und Wohlstand in immer steigendem Maße hätte zunehmen
müssen, da sie mit ihrem Rücken an Deutschland sich lehnt und die
Nordsee beherrscht — hat doch ihr Glück in seiner Fülle nur ein
Jahrhundert hindurch genossen, während Amsterdam, daS unaufhör¬
lich von der Ueberschwemmung bedroht wird und dessen Canäle dnrch
Meerschlamm verstopft sind, sich ein so dauerhaftes Geschick zu schaffen
gewußt hat; gleichsam als sollte hiermit ein Beweis mehr geliefert
werden, wie die Völker leichter die Hindernisse sieghaft überwältigen,
die von der Natur ausgehen, als die von den Menschen selbst ein¬
ander in den Weg gelegt werden.'


Doch lassen wir diesen zu peinlichen Betrachtungen führenden
Gegenstand bei Seite. Wollten wir ja doch eigentlich nur die Be¬
merkung aussprechen, wie jede der belgischen Städte die Eigenthüm¬
lichkeiten ihrer jetzigen Physiognomie der Zeit verdankt, in der sie
früher geglänzt und wie alle noch das Gepräge dieser Epoche ihres
höchsten Ruhms unverwischbar tragen. So ist z. B. Brügge ganz
und gar die Stadt des Mittelalters. Der Styl ihrer architektoni¬
schen Meisterwerke ist rein, ohne alle spätere Beimischung; kaum
hat er den letzten Ausdruck der Spitzbogen-Baukunst erreicht. Man
sieht deutlich, daß, wie die Stadt von ihrer Größe herabzusteigen


[]

anfing, man in ihren Mauern zu bauen aufhörte. Nicht eben so
ist es in Antwerpen. Diesem Orte hat das sechzehnte Jahrhundert
einen neueren Charakter verliehen und erst das siebzehnte hat ay
seine monumentalen Zierden die letzte vollendende Hand gelegt.
Seine ganze frühere Geschichte liegt zwischen den Thürmen der Ka¬
thedrale, an denen man um das Jahr 1422 arbeitete und der
Jesuiterkirche. deren Bau 1621 beendet ward.


Im zwölften Jahrhundert stand auf dem Platze, wo sich heute
die herrliche, hoch und stolz in die Lüfte ragende Kirche Unserer Lie¬
ben Frauen zu Antwerpen erhebt, nur eine Kapelle- ES ist dies
fast aller großen christlichen Tempel Ursprung und Beginn gewesen;
ja manche Städte selbst verdanken solchen Kapellen ihr Entstehen.
Diese Kapelle, die im Jahre 1124 zum Rang einer Collegialkirche
erhoben ward, machte hundert achtundzwanzig Jahre spater einer an¬
dern Kirche Platz und an deren Stelle trat endlich diejenige, die
wir heute noch da sehen. Der Chor ward in der zweiten Hälfte
des vierzehnten Jahrhunderts vollendet. Meist begannen die Bau¬
meister des Mittelalters ihre Leistungen mit diesem Theil der Kirchen,
wie es diejenigen Tempel beweisen, die unvollendet auf unser Jahrhun¬
dert gekommen sind. Später dann verbanden sie die Grundlage der
Thürme mit der Haube des Chores, indem sie das Schiff erbauten,
und überließen ihren Nachfolgern die Vollendung jener wunderherr¬
lichen Thurmspitzen, deren kühnes Aufsteigen noch heute ein tiefes,
bewunderndes Staunen erzwingt. Die katholischen Kirchenbauten
zerfallen fast immer in zwei verschiedene Theile, die selbst der That
nach meist zwei ganz getrennten Epochen angehören, in den wagerechten
Theil, d. b. Chor und Schiff, und den senkrechten, die Thürme und
Thurmspitzen. Die erstere Hälfte ist fast überall vollkommen aus¬
gebaut worden; die letztere dagegen ist meist unvollendet geblieben.


Wenige der ursprünglichen Pläne sind getreulich befolgt wor-
den. Man begreift dies leicht, wenn man erwägt, daß in der lan¬
gen Aufeinanderfolge der Epochen die Architektur, welche in direktem
geistigen Zusammenhange mit dem gesellschaftlichen Leben steht, ohne
es selbst zu wissen, alle Umwandlungen dieses letzteren mit durch¬
machte. Wenn auch die Nachfolger des ersten Baumeisters nicht
wagten, die großen Linien, die er hingestellt hatte, zu zerstören,,so
entschädigten sie sich für diesen Zwang an den Details, in denen ein


27 »
[]

aufmerksamer Beobachter stets ziemlich genaue Angaben der Jahres¬
zahlen findet. Appelmannö — oder, wie ihn Andere nennen, Appe-
lius — der Baumeister der Antwerpener Kathedrale hatte sein
Werk zu spät begonnen, als daß er hätte hoffen dürfen, man werde
ehrfurchtsvoll seinen Plan durchführen. So ist bis zum obern Ge¬
schoß das Einlaufen der Thurmspitze regelmäßig und unmerklich.
Von da aber sieht man sie mit einem Male dünner werden und
diese plötzlich eintretende Magerkeit des Gipfels schneidet nicht
allein das Profil auf eine unangenehme Weise ab, sondern nimmt
auch noch allzu gesuchte Formen an, welche der strengen Einfachheit
deS Ganzen Eintrag thun. DaS ist auch der Grund, weshalb die
Thurmspitze der Antwerpener Kathedrale, in Bezug auf Reinheit
und Majestät deö Styls, der des Straßburger Münsters nachsteht,
mit der sie sonst wegen ihrer ungewöhnlichen Höhe in Vergleich ge¬
stellt werden kann. Was die Kuppel des Transept betrifft, so kann
man zwar nicht in Abrede stellen, daß sie, vom Pflaster der Kirche aus
gesehen, einen imponirenden Anblick bietet; doch kann man auch nicht
umhin, einzugestehen, daß die runden Kuppeln in griechischem Styl,
wie Michel Angelo's Genie sie gleichsam in der Luft schweben läßt,
auf den Geist des Beschauers einen lebhafteren, tieferen Eindruck
machen. Es ist dies gerade die einzige Beziehung, in welcher die
heidnische Kunst in ihrer Jdealisirung durch das Christenthum mit
der rein katholischen Kunst an Erhabenheit und Kühnheit einen
Wettstreit eingehen kann, der meist zu Gunsten der ersteren ausfällt.
Die gothische» Kuppeln nach Art derjenigen, von denen wir liier spre¬
chen, sind zu eng, als daß sie, gleich den andern, über das verhäng-
nißvolle Gesetz der Schwere zu triumphiren scheinen könnten. Nur
viejenigen Thürme, die, gleich denen zu Straßburg und zu Freiburg
im Breisgau, zu unermeßlich scheinenden Tiefen ausgeweidet sind,
können einen großartigeren Eindruck hervorbringen, als die weiten
Kuppeln, welche der der Se. Peters-Kirche nachgeahmt sind.


Die Kuppel der Antwerpener Kathedrale ist weit weniger eine
solche, als vielmehr eine Lanterne von ungeheuren Dimensionen.
Sie ist zu bauchige und im Aeußeren zu geschnörkelt, als daß sie
nicht auf das Auge einen unangenehmen Eindruck machen sollte^ und
wüßten wir nicht, daß sie aus dem Jahre !ö^4 ist, d. h. aus dem
Ende der dritten Umwandlungsepoche der Spitzbogen-Baukunst, so


[]

würde man tres aus der trockenen und manierirten Ueberladunq
von Einzelnheiten im Innern hinlänglich klar erkennen.


Die Spitzbogen-Architektur hat ihre höchsten Thürme fast stets
in ebenen Landstrichen, in ungeheuren Thälern und am liebsten an
den Ufern der großen Ströme hingestellt, so daß es den Anschein
hat, als habe sie da, wo die Natur den Menschen jene unvergleich¬
lichen Aussichten, wie man sie von einer hohen Bergspitze herab
genießt, verweigert hat, den Horizont künstlich erweitern wollen. Es
ist dies sogar eine unterscheidende Eigenthümlichkeit, welche der christlichen
Baukunst nicht ausschließlich angehört. Die drei emporragendstcn
Denkmäler, die man kennt, die große Pyramide des Cheops in
Aegypten, der Straßburger Münster und die Antwerpener Kathedrale
beherrschen alle drei mit ihren Staunen erregenden Massen große,
überall gleich hochbleibende Flußgebiete, das deS Nils, deö Rheins
und der Scheide. Und der Cölner Münster selbst in seinem unvol¬
lendeten Zustande ist mir ein Beweis mehr für diese Bemerkung.
Der vielbesprochene babylonische Thurm, dessen Spuren man vergebens
sucht, hat sich auch — hierüber ist man sicher — aus der Mitte
der unabsehlich weit hingedehnten mesopotamisehen Ebenen, am
Rande des Euphrat erhoben. Mau denke sich auch einen Augenblick
in der Nähe all dieser Bauwerke ein hohes Gebirge, und der Künst¬
ler würde gewiß allen Muth zu seiner Arbeit verloren haben. Was
wäre selbst die gigantisch hohe Pyramide deö Cheops neben einem
jener ungeheuren Felsen, wie sie die Natur so oft über den Rand
der Abgründe schwebend hinhängt? Nichts als ein durch seine An¬
maßung lächerlicher Maulwurfshaufen, der den Beschauer ganz kalt
ließe. Selbst jene gewaltige Sphinr, deren unbewegliches Haupt
noch heute den anstürmenden Sandfluten des Wüstenmeercs trotzt,
würde eher von der Kleinheit als von der Macht der Menschen
Zeugniß ablegen, wenn sie sich einer Vergleichung mit jenen von
der verwitternden Macht der Jahrhunderte geformten Felsen aus¬
setzte, die in phantastischen Bildungen auf den Gebirgsketten Afrika's
in vereinzelter Größe unsern Blick fesseln. Daher hat der Antwer¬
pens Thurm vor dem Straßburger insofern noch einen Vortheil
voraus, als er auf einer unbegrenzten Grundlage ruht; denn so fern
sie auch ist, so scheint doch die doppelte Gebirgskette der Vogesen
und des Schwarzwaldes auf das unsterbliche Meisterwerk des deutschen


[]

Architekten höhnisch herabzusehen. Der Niese der Scheide dagegen
steht in seiner Herrlichkeit einsam da. Die Fahrzeuge, die aus der"
sturmgepeitschten Nordsee einherwogen, neigen grüßend ihre luftigen
Häupter vor ihm, als einem jener Leuchtthürme der Civilisation, welche
weit in die Ferne hinaus den Glanz eines reichen, gewerbthättgen
Volkes strahlen. Und von der Landseite her giebt es zehn Meilen
in der Runde auch nicht eine Stadt, deren Bild man nicht in schat¬
tenhaften Umrissen von seiner in die Wolken ragenden Spitze erblickte.
Es ist eine großartige, imponirende Aussicht, die man von der Höhe
der letzten Galerie herab genießt. So hat Schreiber dieser Zeilen
erst neulich noch Gelegenheit gehabt, in Folge dieses unvergleichlichen
Standpunktes einen Gegensatz zu bewundern, durch den er die Schön¬
heit dieser Denkmale einer verschwundenen Zeit tiefer als je er¬
kannt hat.


Die Eisenbahn, welche Brüssel und Antwerpen mit einander
verbindet, liegt bekanntlich ganz in dem Gesichtskreise, den der Be¬
obachter von diesem hohen Standpunkte aus überschauen kann. Der
Thurm der Se. Romualds-Kirche in Mecheln scheint ein ungeheurer
Pfahl zu sein, der absichtlich hier hingestellt worden, um einen Punkt
in der Mitte der Bahn zu bezeichnen. In dem Momente, da wir
unsere Augen auf diese zauberkräftige Bahn warfen, auf welcher
mit der Schnelligkeit des Vogelfluges der eherne Hippogryph dahin
rennt, ging ein Wagenzug ab, während ein anderer in die Station
hineinkam. Da die Luft mit feuchten Bestandtheilen schwer beladen
war, so erhielten die hohen Säulen des aufwirbelnden Dampfes
eine weißliche Farbe und wurden dadurch unseren Augen sichtbar.
Der ankommende Convoi schien sich mühsam auf dem Boden hinzu¬
schleppen ; der abgehende, der noch langsamer war, kroch dahin gleich
einer Schnecke, die über einen Weg geht. Trotz dessen entfernte er
sich fortwährend und lange noch verfolgte ich ihn mit meinen Blicken.
Sein Dampfbanner verrieth ihn durch die Windungen des Bodens
hindurch, hinter denen er zuweilen verschwand, und bezeichnete seinen
Durchzug durch die Dörfer und kleinen Waldfleckcn, welche dem
eintönigen Anblick dieser reichen Gefilde einige Abwechselung verlei¬
hen. Wäre es nicht Abend geworden, so hätten wir ihn vielleicht
bis zu der Mechelner Station sehen können, deren zahlreiche Lichter
weithin am Horizont einen matten Glanzschein verbreiteten. Unwill-


[]

kürlich aber brachen wir in folgende Worte aus, welche den durch
diesen Anblick in uns geweckten Gedanken entsprachen:


„Wie! Das also ist diese zügellose, so schnelle Kraft der Loco-
motive, von der wir fast zum Schwindel gebracht wurden, als sie
uns zum ersten Male auf ihren umflammten Rädern fortriß und
wir Dörfer, Wälder und Ebenen wie schattenhafte Traumbilder an
uns vorbeifliegen sahen! So große Schnelligkeit aus dem Erdboden
und solche Langsamkeit, wenn man um fünfhundert Fuß höher ist!
Und doch glaubte die Materie schon den Fittigen des Vogels Trotz
bieten zu können, und strebt schon selbst den Schwingen des Gedan¬
kens vorauszueilen, und der Geist unserer Zeiten ist schon gar nahe
daran, trunken von dem Zauber seiner eigenen Wunderwerke auszu¬
rufen: „Was denkt wohl Gott von seiner Creatur, wenn er sie so
die Entfernung des Raumes verschlingen sieht? Ach! Gott sieht sie
immer kriechen, da kaum aus halbem Wege zu den Wolken, ein
Menschenauge schon das Bewußtsein dieser den Athem versetzenden
Geschwindigkeit verliert, die es eben noch blendete."


Indessen war es Nacht geworden und meine Blicke hoben sich
zu dem funkelnden Lichte einiger Sterne empor, welche durch die
nebligte Decke eines Herbsthimmels hindurchzuschimmern vermochten,
und ich bedachte, wie auch wir und diese Erde, die uns trägt, zwischen
Millionen von Sonnen mit einer Schnelligkeit uns bewegen, welcher
die der Kanonenkugel noch gar fern steht, und wie wir wiederum
auch diese Geschwindigkeit nicht gewahr werden. Darauf dann wandten
sich meine Gedanken zum Menschen und den verschiedenen Werken
zurück, die er von Jahrhundert zu Jahrhundert erfüllt, und es be-
dünkte mir, daß, wenn der Charakter einer verschwundenen Gesell¬
schaft sich in den ruhenden Monumenten der Vergangenheit kund
giebt, jene große Erscheinung der vorüberbrausenden Dampfwagen,
die ich eben beobachtet, der bewegliche und flüchtige Ausdruck unserer
Zeit sei und daß in einer solchen Entfernung davon, als diemeinige
jetzt war, der Vergleich nicht eben zu unserem Vortheile aufschlüge.
Das Werk jener spirttualistischm Zeit schwebt noch in seiner Unbe-
weglichkeit hoch über den Staunen erregenden Entdeckungen, welche
den Stolz einer neuen, im Kampfe mit der Materie begriffenen Ge¬
sellschaft ausmachen. Sie arbeiteten in die Höhe, wir schleppen
uns auf der Oberfläche hin. Wir mögen immerhin unsere Erobe-


[]

rungen ausdehnen; der Schatten der ihrigen überragt sie doch. Ja,
die Industrie kann noch nicht das letzte Wort der Zukunft sein;
nein, so oft wir dies auch gedacht haben mögen, unsere Eisenbahnen
sind nicht unsere Kathedralen. Der Odem deS Geistes, der einst
diese Granitmassen formte, weht noch aus diesen Steinen heraus,
die Gesellschaft, welche so edle Monumente zu erbauen verstand, hat
uns in ihnen ihre Seele hinterlassen. Wenn aber jetzt ein Sturm
das Feuer ausbliese, das unseren heutigen künstlichen Eisenbahnen,
worauf wir so stolz sind, seine Nahrung giebt, was würde dann
übrig bleiben? Skelette, die beim geringsten Anstoß zu Staub zer¬
fallen. Und ist das Alles, was uns überleben soll? Wann wird sich
das Lebenöprincip, dqS sich in uns bewegt, von seiner irdischen, ver¬
gänglichen Form losmachen? Wann werden wir unsern Tempel
bauen?


In Erwartung dieser geistigeren Zukunft unserer Architektur
restauriren wir und thun gut daran. Dieser sieberartig um sich
greifenden Lust an der Rehabilitation der Vergangenheit verdanken
wir es, daß die Meisterwerke der Spitzbogenbaukunst vor dem gänzlichen
Ruine bewahrt werden und die alten Kathedralen unter der ein¬
sichtsvollen Leitung unserer Künstler sich verjüngen. Es scheint,
als wollten wir an diesen Denkmalen drei Jahrhunderte der Ver¬
wüstung und geistlosen Uebertünchung wieder gut machen, denen sie
anheimfielen, als sie kaum aus den Händen ihrer bewunderungs¬
würdigen Erbauer hervorgegangen waren. Ob die Aufregung,
die sich neuerdings besonders in Deutschland kund gegeben und
welcher die großen und einfachen Worte des königlichen Redners
eine hohe Weihe verliehen, eine stichhaltige sein, ob sie Kraft genug
besitzen wird, die großartige Basilika der Nheinstadt auszubauen, ob
der Nationalstolz das vollenden wird, was die Energie deS religiö¬
sen Gefühls nicht vermocht hat — aufrichtig gesagt, so sehr wir
es, besonders von diesem letzten Gesichtspunkte aus, wünschen, so
wagen wir es doch kaum zu hoffen. Die Kathedrale am Schelde-
Ufer aber wird glücklicherweise noch viele Jahrhunderte hindurch den
unvermeidlichen Angriffen der Zeit zu trotzen im Stande sein.


Obzwar erst im Jahre 1518 beendet, hatte die Thurmspitze
doch schon viel gelitten; denn das feuchte Klima Antwerpens zerstört
den Stein. Zum Glücke aber werden diese allzufrühen Spuren des


[]

Verfalles bald beseitigt sein: fast die ganze obere Galerie, von der
wir oben gesprochen haben, ist wiederum erbaut worden. So ist
auch der Haupteingang, über den die zerstörende Wuth der Refor¬
mation ergangen war, in seinem ursprünglichen Zustande wieder
hergestellt worden. Ebenso sind in neuerer Zeit auch im Innern der
Kathedrale große Verschönerungsarbeiten vorgenommen worden. So
haben wir unter anderen auf der rechten Seite des Chors eine Ka¬
pelle bemerkt, die einen sehr schönen gothischen Styl haben wird
Was aber vorzüglich verdient, ein Gegenstand unserer Aufmerksam-'
keit zu werden, das sind die Chorstühle in geschnittenem Holze, mit
denen der Umkreis des Chors bald vollständig geziert sein wird.
ES ist bis auf diese Zeit noch Nichts der Art in Belgien unternom¬
men worden, und wir glauben, daß es, mit Ausnahme Englands
etwa, schwer halten sollte, irgendwo anders ein zweites Beispiel
einer so sinnigen, geistreichen Rückkehr zur gothischen Kunst zu fin¬
den, besonders ein nach einem so hohen Maßstabe aufgefaßtes. Fast
alle Chorstühle nämlich, die man in den reichen Kirchen Flanderns
bewundert, rühren aus dem siebzehnten Jahrhunderte her. Die Ur¬
sache dieses Umstandes begreift man leicht. Die Wuth der Bilder¬
stürmer nämlich hat während der Reformationszeit, besonders um
das Jahr 1566, sämmtliche Kirchen ihres alten Schmuckes beraubt.
Nur sehr wenige Gemälde und Bildsäulen und noch weniger Altäre,
Kanzeln und Chorstühle entgingen dem AechtungSurtheil, das diese
Secte über sie fällte, welche den Bilderdienst und Alles, was damit
zusammenhing, gleich einem heidnischen Götzendienst verabscheute. Der
Strom raujchte vorüber und die Tempel wurden leer. Als endlich die
Unruhen gänzlich beigelegt waren und dem katholischen Glauben an
diesen Orten der Sieg geblieben war, da waren alle Stätten des Got¬
tesdienstes neuer Ausschmückung bedürftig. Diese Aufgabe war das
Erbtheil, das dem siebzehnten Jahrhundert zufiel; dieses war würdig,
sie zu erfüllen. Seine Maler, seine Bildhauer, seine Baumeister
machten sich an's Werk und in einigen Jahren war der Schaden
überall verschwunden. Daher herrscht in Belgien zwischen dem Cha¬
rakter der im Spitzbogenstyl erbauten Kirchen und dem der Zierra¬
then, mit denen sie geschmückt sind, eine weit durchgreifendere Verschie¬
denheit als irgendwo anders. Der Zwischenraum, der sie trennt,
ist die letzte Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. In den Orna-


[]

unter nun herrscht unumschränkt Rubens und seine Schule, die in
Bezug auf die Form durchaus profan ist. Die plastische Kunst je¬
ner Zeit hatte selbst in ihrer Anwendung auf religiöse Dinge jenen
Lurus an schwellenden, beweglichen Formen und, wenn man sich so
ausdrücken kann, an Fleisch beibehalten, der mit der nüchternen
Strenge der rein gothischen Form einen Contrast bildet, der heutzu¬
tage weit mehr in'ö Auge springt, als dies damals der Fall war.
Die Chorstühle, die Altäre, die Kanzeln und die Beichtstühle jener
Epoche haben eine allzuweltliche Physiognomie, selbst wenn sie in
der Ausführung nicht manierirt sind. Nun kann es aber in einer
katholischen Kirche Nichts geben, das minder an seinem Platz wäre,
als diese einer späteren Epoche angehörenden Baldachine, welche die
Altäre entstellen und die an jene verschwenderische Mode erinnern,
welche zur Zeit, da Ludwig XIV. regierte, in den Meubles herrschte.
Daher wäre es überaus wünschenswert!), daß man zwischen den
religiösen Bauwerken und ihren inneren Verzierungen jene Ueberein¬
stimmung des Styls wieder herstellte, welche durch die oben von uns
angedeuteten Ursachen zerstört ward. Und darum hat es uns eine
außerordentliche Freude gemacht, als wir die Kirchenverwaltung der
Kathedrale Unserer Lieben Frauen zu Antwerpen hierin im Großen
mit gutem Beispiele vorangehen sahen.


Die Chorstühle werden, wenn wir uns nicht irren, aus Linden¬
holz angefertigt werden und ganz im Style der Kirche selbst sein.
Man kann nach denjenigen, welche schon placirt sind, sich vollkom¬
men eine Idee von dem Gesammteindruck dieser schönen Arbeit
machen. Da der Umkreis des Chors von sechs massiven Pfeilern
gebildet wird und sich in der Säulenweite im Hintergrunde lediglich
der Altar befand, so hatte der Bildhauer noch sechs Räume, drei
auf jeder Seite auszufüllen. Herr Geerts aus Löwen nun, der
mit dieser Arbeit beauftragt worden, hat die Sache folgendermaßen
angeordnet. Der Altar wird von den Chorstühlen durch ein durch¬
brochenes, hölzernes Geländer getrennt werden, das nach rechts und
links hin von einem Pfeiler bis zum andern sich zieht, und dessen
rechte Seite schon angebracht ist. Es blieben also von jeder Seite
nur noch zwei Säulenweiten auszufüllen, deren Mitte durch einen
Pfeiler bezeichnet wird. Auf diesem Pfeiler soll sich nun eine Art
sehr schmaler und sehr schlanker gothischer Thurmspitze erheben, die, wenn


[]

wir uns nicht täuschen, zwei Drittel der Höhe erreichen wird, welche
die Kirche vom Boden bis zum Gewölbe hat. Diese Thurmspitze,
der auf dem andern Pfeiler eine ganz gleiche gegenübersteht, wird
einer Bildsäule zur Nische dienen und an ihre Grundlage wird sich
die Treppe lehnen, die zu den zwei Chorstühlen einer jeden Seite
führt. Diese selbst werden, wie es Brauch ist, hoch genug stehen,
damit vor ihnen, auf einer niedrigen Fläche eine zweite Reihe Sitze
Platz finden kann. In der Verzierung dieser Chorstühle nun hat
Herr Geerts, Architekt und Bildhauer zu gleicher Zeit, allen Reich¬
thum seiner Einbildungskraft und seiner Erinnerungen entfaltet.
Die schönsten Arbeiten dieser Art, die wir bisher in Belgien besaßen,
bestehen ganz einfach in einer Verkleidung von Bas-Reliefs, die
sich über den Chorstühlen befinden und die fast immer durch Säulen
im Renaissance-Styl in Fächer abgetheilt ist, während sie unab¬
änderlich in einem Karnteß sich abschließt. Herr Geerts nun hat
diesen Weg gänzlich verlassen. Indem er sich an den Werken der
Bildhauerkunst, die im Brüsseler Museum sind, inspirirte, hat er
hinter den Chorstühlen eine wahre Mustersammlung aller Formen
der Spitzbogen-Architektur angebracht, und das nicht blos im Relief,
sondern in der Tiefe, dergestalt, daß die obere Linie von einer
Menge kleiner Glockentt)ürmchen spitzenartig durchbrochen ist, welche
von beiden Seiten der, wie wir schon beschrieben haben, an den
Pfeiler sich anlehnenden Haupt-Thurmspitze entsprechen. Diese go¬
thische Phantasie zeichnet sich aus durch eine wahrhaft bewunderungs¬
würdige Verschwendung von kleinen Säulen, Nischen und Figuren,
die überaus zart gearbeitet sind. Das Innere der Portale, welche
die kleinen Säulen bilden, nehmen Arbeiten ein, deren Modell in
Gyps man ebenfalls im Brüsseler Museum sehen kann, und
welche, was den schon vollendeten Theil betrifft, Mariä Verkündi¬
gung, Mariä Heimsuchung, die Anbetung der drei Könige aus dem
Morgenland, die Flucht nach Aegypten und die heilige Familie dar¬
stellen. In allen diesen Werken athmet ein durchaus bemerkens¬
werthes, gothisches Gefühl; man möchte sie fast für eine plastische
Übertragung der Gemälde Van Cyck's, Hemmelinck'S und Lucas
von Leyden halten. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die noch
unausgefüllten sieben Nischen der rechten und zwölf Nischen der
linken Seite eine Fortsetzung des Lebens Jesu Christi nach der


[]

Darstellung der Evangelien enthalten; über diesen Bildhauer-Ge-
niälden nun stehen in gleichen Zwischenräumen andre Figürchen,
welche einen Christus, der die Weltkugel in den Händen hält, meh¬
rere Engel in verschiedenen Stellungen, — unter andern einen
weinenden Engel, dessen Ausdruck sehr schön ist, — einen Se. Mi¬
chael, einen guten Hirten darstellen. Das ist aber noch nicht Alles;
vor den Chorstühlen sieht man andre sitzende Figuren, welche eben¬
soviel symbolische Bilder sind. So z. B. hier ein bußethucnder
Kaiser, der das Zeichen der Herrschaft mit Füßen tritt; weiterhin
einen verzückten Märtyrer; neben ihm eine junge Frau, welche den
Frieden darstellt (diese beiden Figuren sind diejenigen, deren Aus¬
führung unter allen die feinste ist); noch weiterhin endlich die Barm¬
herzigkeit, die Unschuld und andre gleichfalls leicht erfaßliche allego¬
rische Figuren. Die Ausführung aller dieser Gestalten aber rührt
nicht von einer Hand her; denn es sind drei oder vier darunter,
welche einen ziemlich schwerfälligen Meißel verrathen. ES ist aber
durchaus zu wünschen, daß Herr Geerts die Einzelnheiten dieses
großen Werkes so wenig als möglich ungeschickten Händen anver¬
traue. Sollte er deshalb auch nur langsamer vorwärts schreiten, so
möge er doch bedenken, daß er für die Zukunft arbeitet und daß
er dieser so wenig Gelegenheit zum Tadel lassen darf, als er
nur immer kann. Auf der Seite, die nach dem Altare zu geht,
stehen auch noch Engelsgestalten, welche Legenden halten. Ihre
schwebenden Gewänder, ihre an den Schläfen zurückgeschlagenen
Kopfhaare, ihre langen Fittige, in die sie sich einhüllen, sind ganz
und gar im Geschmack des sechzehnten Jahrhunderts. Auch von diesen
kann man in der diesjährigen Brüsseler Kunstausstellung ein Muster
sehen.


Diese Arbeit ist, besonders der unendlichen Mannigfaltigkeit des
Details halber, etwas Ungeheures und sie wird Herrn Geerts die
größte Ehre machen, der, wie uns scheint, als Bildhauer hier auf
das gestoßen ist, worin das Charakteristische seines Talents besteht,
nämlich auf die nachahmungs des Gothisch-naiven. Er hat eine
Anschauungsweise wieder geltend gemacht, die wir ganz verloren
geglaubt haben, und er leistet in der Bildhauerkunst das, was deutsche
Künstler in der Malerei thun; nur mir dem Unterschiede, daß in
einem Gebiete, wo die Kunst fast gar kein Muster hinterlassen hat,


[]

der eigenen Erfindungsgabe des Künstlers weit mehr Spielraum
gelassen ist. Derartige Arbeiten werden übrigens die kommenden
Geschlechter in eine seltsame Verlegenheit versetzen. Wären nicht
zwei oder drei Figürchen, die allzu deutlich das Gepräge des moder¬
nen Ursprungs an sich tragen, als daß ein aufmerksamer Beobachter
sich könnte täuschen lassen, so würde die geringste Ungewißheit über
die Jahreszahl den zukünftigen Kritikern einen freien Raum von
wenigstens vier Jahrhunderten für ihre Vermuthungen lassen. Außer
den obenerwähnten Figuren könnte sie aber auch noch ein anderes
Zeichen auf den richtigen Weg leiten. In unsrer Epoche nämlich
ist der Eklekticismus in der Kunst so sehr vorherrschend, daß selbst
die unabhängigsten Geister sich nicht ganz vor der Ansteckung hüten
können. Der leitende Gedanke in der Arbeit des Herrn Geerls
ist gewiß durch und durch katholisch; die Ausführung bleibt ganz
und gar in den Schranken des reinsten gothischen Sryles; die Re¬
naissance ist für ihn noch nicht da gewesen. Die Figuren sind
lang und mager, der Faltenwurf ihrer Gewänder systematisch steif,
und alle Linien absichtlich durchaus mager. Da aber, wie wir
weiter oben unseren Lesern in'ö Gedächtniß gerufen haben, die Spitz¬
bogenbaukunst in der Aufeinanderfolge der Epochen mehrere, streng von,
einander zu unterscheidende Charaktere angenommen hat, so kann,
sobald zwischen dem architektonischen Theil eines Werkes und den Bild-
hauerarbeiten daran nicht die vollkommenste Uebereinstimmung herrscht,
der Urheber derselben die Anklage — wenn es eine solche ist —
deö Eklekticismus nicht zurückweisen. Dieser Mangel an Ueberein¬
stimmung nun, — so unbedeutend er anch ist, und so sehr wir auf
ihn auch nur deshalb aufmerksam machen, um zu beweisen, daß ein
Kunstwerk, was man auch thue, das Datum seiner Geburt stets an
sich trägt, — ist uns in dem Werke des Herrn Geerts entgegenge¬
treten. Die Figuren und ihre Ausführung gehören, wir wieder-,
holen es hiermit, höchstens der ersten Hälfte des funfzehnten Jahr¬
hunderts an, die Nischen und die Giockenthürmchen aber fallen in
Folge deö Ueberflusses an unnützen Zierrathen in die Zeit der dritten
Umgestaltung des SpitzbogenstylS, die sich nach dem Urtheil der kom¬
petentesten Richter in diesem Fache bis in die Mitte des folgenden
Jahrhunderts hineinzieht. Es ist dies freilich nur ein Umstand von
geringfügiger Bedeutung; aber, wenn auch alle andren Zeichen fehl'


[]

den, so wäre man doch hieraus allein späterhin zu dem vollkommen
wahren Schlüsse berechtigt, daß der Baumeister dieses schönen Werkes
alle Phasen der christlichen Baukunst an sich hat vorbeigehen sehen.
Und es ,ist gut, daß man dieses zu erkennen vermag; denn, wenn es
irgend möglich wäre, die Nachwelt auf eine falsche Spur zu brin¬
gen, welche Verwirrung würden da nicht die eben so verschieden¬
artigen als zahlreichen Nachbildungen unserer Zeit in die Geschichte
hineinbringen.


Wie fast alle großen Kirchen Belgiens, ist auch die Unsrer
Lieben Frauen zu Antwerpen mit ausgezeichneten Gemälden geziert.
Außerdem hat sie noch den unschätzbaren Vortheil, daß sie die be¬
rühmte KreuzeSab nähme von Rubens besitzt. Ich war neu¬
gierig, mich durch eigene Anschauung zu überzeugen, was an den
Gerüchten Wahres sei, welche im Publikum über den Zustand des
Verfalles umliefen, in dem sich dies herrliche Bild befinden solle.
Es ist leider nur zu wahr, daß es durch die Feuchtigkeit der Kirche
sehr viel gelitten hat, obgleich, Gott sei Dank, dem Unglück noch
abgeholfen werden kann. Ueberdem erlaubt auch der Staub, der
sich langsam auf der Oberfläche angehäuft hat, kaum noch das ge¬
waltige Colorit deutlich zu unterscheiden, besonders bei den mehr in
Schatten gestellten Partien. Wir gehören nun zwar nicht zu den¬
jenigen, welche der Meinung sind, man solle den Kirchen ihre Ge¬
mälde rauben, um die Musen damit zu bereichern. Die religiösen
Gemälve sind, unsrer Ansicht nach, unter den Gewölben der katholi¬
schen Tempel ganz am rechten Platze, und sie tragen nicht wenig
zu dem Pomp eines Gottesdienstes bei, dessen Großartiges ja selbst
der Protestantismus der neuesten Zeiten wieder zu wünschen be¬
gonnen hat. Trotz dessen aber wünschen wir, es möge die Regie¬
rung, insofern es die Kunstgegenstände betrifft, ihre aufgeklärte
Oberaufsicht und Ueberwachung auf alle Orte ausdehnen können,
in denen die schönsten nationalen Kleinodien Belgiens aufbewahrt
sind. Wenn es wirklich Noth thut, die Kreuzesabnahme auf Leine¬
wand aufziehen zu lassen, d. h. Rubens' Meisterwerk von Holz auf
Leinewand zu übertragen, so ist es Zeit, daß die Regierung den
Unentschiedenheiten und Meinungsconflicten, welche diese überaus
zarte Arbeit noch verzögern, ein Ende mache. Wir glauben, daß sie
allein im Stande ist, diese Arbeit mit allem nöthigen und our-


[]

sehenswerthen Aufwand an geistigen und pekuniären Mitteln voll¬
ziehen zu lassen; denn sie allein bietet durch ihre Stellung über den
Parteien, genügende und beruhigende Garantien dafür, daß keine
der Kunst fremde Rücksicht sie in der Wahl der Person, welcher diese
so wichtige Aufgabe anvertraut werden müßte, bestimmen würde.


Antwerpen zählt noch andre Kirchen, die, wenn sie auch in
keiner Beziehung mit der Kathedrale einen Vergleich aushalten, doch
auch nicht ganz ohne Erwähnung bleiben dürfen. So ist z. B.
die, welche dem heiligen Jacobus geweiht ist, ein gothisches Bau¬
werk aus der Verfallzeit dieses Styles, dessen Verhältnissen es aber
nicht an Großartigkeit fehlt. Sie wurde im Jahre .1479 begonnen
und konnte also nicht vollendet werden; denn diese ungeheuren Ar¬
beiten erforderten mehr als ein Jahrhundert und zwei nebeneinander
fortlaufende historische Thatsachen, welche beide auf den Spitzbogen¬
styl eine gleich nachtheilige Einwirkung haben mußten, die Refor¬
mation und die Renaissance, nahten mit großen Schritten. Dennoch
wurde im Jahre 1515, also sechs und dreißig Jahre nach dem
Anfange, der Chor beendigt. Die Thürme aber, welche man erst
im Jahre 1491 zu bauen begann, blieben in diesem Zustande der
ersten Anfänge: sie erheben sich nur um ein sehr Geringes über
die Kante deS Daches des Schiffes und sehen von Weitem wie ein
entmastetes Schiff aus. Bemerkenswert!) ist im Innern dieser Kirche
ein Smgchvr, eine Art von Tribune vor dem Chor, wie man sie
nur noch sehr selten antrifft. Was aber den Blick des kunstsinnigen
Beschauers am meisten betrübt, das sind die Glasfenster. Sie müssen,
wenn ich mich nicht sehr irre, aus dem Ende des siebzehnten Jahr¬
hunderts, d h. aus einer Epoche herrühren, wo das Geheimniß der
Glasmalerei schon fast gänzlich verloren war. ES möchte daher
schwer sein, ein Werk zü finden, dessen Ausführung matter wäre,
als diese Scheiben; man mochte fast meinen, die Farben seien nach
und nach vom Regen abgeschwemmt worden. Ueberhaupt ist dies eine
Zierde, welche den Antwerpener Kirchen fehlt. Die Glasmalereien
sind wahrscheinlich während der Schreckensherrschaft der Bilderstür¬
mer zertrümmert worden und die Antwerpener Kirchen haben nicht
gleich der von Se. Gudula in Brüssel, das besondere Glück gehabt,
daß sie zu einer Zeit reparirt wurden, wo in diesem Fache die guten
Traditionen noch lebendig waren.


[]

In dieser Se. Jakobus-Kirche giebt es einige gute Gemälde
vorzüglich dasjenige, das über dem Grabstein des Malers Van
Balen hängt. Das Bildniß dieses Künstlers und seiner Gemahlin,
in einem Medaillon, ist eins der schönsten und vollendetsten, die
man sehen kann.


Auch über die Se. Paulus-Kirche will ich einige Worte hier
sagen, obgleich sie durch ihre Architektur auch nicht den mindesten
Anspruch auf Auszeichnung machen kann. Denn kaum kann man
den Styl bestimmen, dem der kleine untersetzte Glockenthum ange¬
hört, der sich kaum über das Dach erhebt. Ein innerer Hof, den
diese Kirche besitzt und der in einen Calvarienberg umgewandelt
worden, ist wohl der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Man begreift
kaum, wie neben so vieler Kunst, die der Katholicismus hervorge¬
bracht, auch so viel Barbarisches Platz finden konnte. Wenn man
die abscheulichen Bildsäuleu aus Gyps sieht, welche diesen Calva¬
rienberg überfüllen, diese fast komischen Nachahmungen von Felsen,
diese namenlose Mischung von dicken Wolken, von Gyps-Strahlen
lind von illuminirten Engelsgesichtern, so möchte man doch sicherlich
nicht glaube», daß dies von demselben Cultus herrührt, der anders¬
wo zu den erhabensten Meisterwerken begeistert hat. Eine besondre
Eigenthümlichkeit dieser Kirche ist noch, daß das Schiff blos von einer
Seite her Licht erhält. Die Mauern sind alle mit Holzwerk verziert: das
auf der linken Seite mit Inbegriff der Chorstühle ist in dem eleganten
Styl, der dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts angehört;'das auf
der rechten Seite dagegen, schwerfällig und schlecht gearbeitet, rührt
offenbar aus einer späteren Zeit her. Das Bemerkenswertheste in
dieser Kirche ist ein sehr schönes Gemälde von Rubens, die Geiße¬
lung, von dem man auch eine Copie sieht, die ziemlich gut ist,
obgleich der Pinselstrich derselben ein wenig schlaff ist.


Von neueren Kirchen zieht nur eine einzige unsre Aufmerksam¬
keit an; es ist die Jesuitenkirche. Sie ward im Jahre 1614 begon¬
nen und im Jahre 1621 vollendet: zwei Daten, die beredter sind,
als jede Schilderung. Man erkennt an diesen Zahlen, daß der
Katholicismus der Zeit schon fern stand, wo der Glaube so stark
war, daß ein Werk, zu dessen Vollendung Jahrhunderte erforderlich
waren, von Generation zu Generation überliefert und fortgesetzt
ward. Die Jesuitenkirchcn aller Länder haben alle etwas Etnför-


[]

migeS und Weltliches, woran man sie sehr leicht.rikennt. Diese
hier war eine der reichsten und schönsten, die sie je haben erbauen
lassen. Der Sage nach rührt die Fa^abe von Rubens her; jeden¬
falls ist sie möglichst profan. Eine Reihe musikalischer Instrumente
zieht sich die ganze Breite entlang, unmittelbar unter dem berühmten
Monogramm. Das Innere ist prachtvoll; eS ist ganz leuchtend
von Gold und Marmor. Die beiden oberen. Steingalerien sind
in einem sehr eleganten Styl, der viel nachgeahmt worden ist.
Mai, sieht überhaupt, daß das Haupt der flamändischen Schule
Gefallen daran gefunden hat, diese seine LieblingSkirche auf alle Art
auszuschmücken. Trotz aller seiner Anstrengungen aber ist die letzte
Dorfkapelle mit ihrem zerdrückten Gewölbe und ihren ländlich rohen
Fenstern viel geeigneter, die Seele zur Andacht zu stimmen, als
dieses prachtvolle, stolz glänzende Haus, das durchaus nicht zum
Gebet geschaffen ist. Die Kirchen der Jesuiten gleichen ihren Lehren;
sie scheinen nur in der Absicht geschaffen, eine leichte und lachende
Andacht einzuflößen; sie schmiegen sich dem Geschmack des Jahr¬
hunderts ihrer Errichtung an, das in Kunst und Literatur wieder
heidnisch geworden war, und um ihm zu gefallen, nähern sie sich
wiederum, so viel nur immer möglich, dem griechischen Tempel. Die
Jansenisten dagegen, diese Puritaner des Katholicismus, ließen in
strenger Konsequenz ihrer Ideen, ihrem ernsten Unwillen in den
asketischen Finsternissen von Se. Severin oder in den kalten Zellen
von Port-Royal-deS-Champs freien Lauf.


Die weltliche Baukunst wird in Antwerpen durch vier von
verschiedenen Rücksichten aus merkwürdige Gebäude repräsentirt. Die
Kathedrale ausgenommen, und diese selbst ward erst sehr spät begon¬
nen, erinnert Nichts in dem modernen Antwerpen an das Bürgerthum
des Mittelalters. Tas Rathhaus allein ist ein hinlänglich schla¬
gender Beweis, daß es nur die demüthige und unbekannte Zeitge¬
nossin der stolzen Gemeinden Brügge und Gent war. Dieses Rath-
haus ist ein schwerfälliger, im Jahre 1564 vollendeter Bau, dem
man die spanische Herrschaft schon gar deutlich ansieht. Man be¬
merkt beim ersten Blick, daß es nicht mehr das Werk jener freien
und unruhigen Bürgerschaft des vierzehnten Jahrhunderts ist, welche
ihr Gefallen daran fand, jene furchtbaren Orte, innerhalb deren
sie ihre gewaltigen Aufstände beriethen, zu befestigen und zu verzie-


28
[]

ren. Hier sind an der Stelle der wehenden Banner und der
Sinnbilder der Gewerke und Zünfte traurige und kalte Allegorien
getreten. Man sieht es wohl, Karl V. in seinem entsetzlichen Zorn
hat das ewige Feuer der inneren städtischen Unruhen schon mit dem
Blute seiner Genter Mitbürger gelöscht; jetzt gilt rS, sich unter den
Zepter seines schrecklichen Sohnes zu beugen und ohne Murren den
Befehlen zu gehorchen, die aus den Gemächern des Escurial herüber¬
kommen. DaS Nachhalls der Stadt Antwerpen besagt Nichts, weil
weder eine Leidenschaft noch ein Glaube dem todten Stein eine
Seele eingehaucht, dem stummen Bau eine Sprache verliehen hat.
Trägt es ja irgend einen Charakter an sich, so ist es eben der der
Sklaverei. Seine niedrigen Stockwerke, seine graue Fa^abe, dem
die Zeit eine abscheuliche schwarze Fälbung verliehen, sein Styl,
die nicht mehr gothisch und dennoch auch nicht zu keck weltlich ist,
— dies Alles betrübt den Blick und scheint dem Beschauer auf alle
seine vergeblichen Fragen Nichts weiter zu antworten, als daß
Antwerpen, allein unter allen Städten der flandrischen Provinzen,
keine municipale Geschichte hat. Daher trägt auch die Architektur
der Privathäuser, die aus derselben Epoche herrühren, denselben
Charakter deö Schwankenden, Unentschiedenen. Nicht als ob, —
um einen sehr schlagenden Ausdruck Victor Hugo's in Notre-Dame
de Paris zu brauchen — „die Buchdruckerel mit ihren bleiernen
Geschossen hier tödtlich gewirkt habe," nein, die communale Freiheit
war verschwunden, weil die feudale Unabhängigkeit auch ihre Zeit
durchgemacht hatte. Denn das Eine war die Folge deö Andern.
Um nur ein Beispiel aus den Antwerpener Privatbauten hervorzu¬
heben, führe ich das Junungshaus der Armbrustschützen an; man
betrachte eS nur mit seiner geschmack- und verhältnißlosen Fa^abe,
mit diesen fünf Stockwerken, in denen die meisten Fenster nur
Blenden sind. Ist dieses Halts nicht ein deutlicher Beweis von
der Ohnmacht der Kunst, die sich hier an Nichts weiter zu begei¬
stern hatte, als an der Eitelkeit einer fortan unnütz gewordenen
Körperschaft. Und dieselbe Unsicherheit und Armuth deö Styls
bieten, wie gesagt, alle alten Häuser Antwerpens dar. Die düstre
une- «los Nütissvui-Z, welche auf den Platz rechts vom Rathhause
ausläuft, gehört ganz und gar dieser Epoche an und es ist hier
seit dreihundert Jahren auch nicht ein Ziegelstein von der Stelle


[]

gerückt worden. Diese Straße war damals häßlich und ist es heute
«och mehr. Wir machen diese Bemerkung absichtlich, damit man
uns nicht für einen jener Liebhaber der alten Architektur in Panhas
und Bogen halte, welche in den Gegenständen ihrer Bewunderung
keine Auswahl treffen und sich vor Allem in fanatischer Ehrerbietung
beugen, was eben alt ist. Im Gegentheil hat in unsren Augen
die Kunst nur durch das, was sie ausdrückt, einen Werth. Wenn
sie uns Nichts sagt, so gehen wir vorüber und bedauern es durch¬
aus nicht, wenn der alte Gyps und Kalk fällt, um neuem, wenig¬
stens eleganterem und bewohnbarerem Gyps und Kalk Platz zu machen.
Die einzige Ausnahme von dem Tadel, der die ganze alte bürger¬
liche Architektur Antwerpens trifft, macht vielleicht das Gebäude
des im Jahre I5l)3 ausgebauten Schlachthauses, das mit seinen
Thürmchen an den Seiten einer Festung gleicht und doch wenigstens
die Arbeit nicht deS ersten, besten Maurermeisters, sondern eines noch
auf seine Freiheiten eifersüchtigen Gewerkes scheint.


Mehr Recht auf unsre Achtung in Bezug auf Baukunst Hai
der Antwerpener Handel. Da Antwerpen im sechzehnten Jahrhun¬
dert die höchste Stufe seines Glanzes als Seestadt erreicht hat,
so hat auch diese Epoche ein charakteristisches Zeugniß von sich hin¬
terlassen, daS länger gedauert hat, als dieser vorübergehende Wohl¬
stand. Wir sprechen nämlich von der Börse, die man als daS erste
Gebäude der Art betrachtet, das zur Bequemlichkeit der Handels¬
geschäfte erbaut worden. Der erste Stein dazu ward im Jahre
1531 gelegt, also gerade in demselben Jahre, in dem Gent das
malerische Schifföhcrrnhäus sich erheben sah. Dieses Gebäude nun,
das von Außen an beiden Seiten von Häusern eingeschlossen ist,
besteht eigentlich nur aus einem viereckigen Hof, um dessen vier Seiten
sich eine breite Säulenhalle zieht, die von sehr dünnen, sonderbar
aussehenden Säulen getragen wird. Vier Thüren dienen als
gedeckte Nebenausgänge. Der Styl dieser Säulenreihe erin¬
nert nur in sehr großem Abstand an den Spitzbogenstyl; sie
nähern sich mehr den maurischen Formen und der Baumeister,
dem die unvermeidliche Einfachheit deS Ganzen die Flügel d>r
Einbildungskraft gar sehr beschnitten hatte, hat sich dafür durch me
mannigfache Abwechselung in Zeichnung der Capitäler entschädigt,
in welcher Beziehung er übrigens den Beweis einer ausgezeichnet


28*
[]

fruchtbaren Phantasie abgelegt hat. In Belgien findet sich von
diesem Styl, dessen Sonderbarkeiten nicht ohne Reiz sind, nur noch
ein Beispiel vor, nämlich der innere Hofdeö alten fürstlichbischöflichen
Palastes in Lüttich. Fürchteten wir übrigens nicht, in Aussuchung
von Analogien zu weit zu gehen, so würden wir sagen, daß diese
Erinnerungen an den Orient hier in Antwerpen mit den seltsamen
und bunten Trachten der überseeischen Handelsherrn sehr gut har-
monirte, welche damals um die Mittagsstunde die weiten Galerien
dieses Sammelplatzes von Kaufleuten aller Nationen füllten.


Das Hansahaus, Oosterlingnes, das zweite große Han¬
delsgebäude, das in demselben Jahrhundert erbaut wurde, — denn
es trägt die Jahreszahl 1568, — verdient wenigstens insofern hier
eine Erwähnung, als eS ein noch bestehendes Denkmal des ausge¬
dehnten Handels ist, den Antwerpen mit den Bewohnern des Nordens
trieb. Es enthielt, wie man sagt, dreihundert Zimmer, in denen
die Kaufleute aus den hanseatischen Häfen freie Wohnung erhielten
und in denen sie ihre Waaren niederzulegen berechtigt waren.


Bekanntlich hat Antwerpen lange, lange Zeit zu seinem großen
Unglück in den religiösen Unruhen der Niederlande unter der ver-
hängnißschweren Herrschaft Philipp's II. eine Rolle gespielt. Da¬
mals fehlte nur wenig daran, daß Antwerpen, während es im Be¬
sitz der abgefallenen Provinzen war, zu der Wichtigkett gelangt
wäre, welche nachher zu des ersteren großem Nachtheil Amsterdam
erlangt hat, das damals nur ein armselig, unbedeutendes Fischerdorf
war. Wäre Antwerpen der protestantischen Partei verblieben, so
würde es ohne Zweifel zu einem unerhörten Grad von Wohlstand
sich aufgeschwungen und in Folge dieser Unruhen selbst seine See¬
macht bedeutend emporgebracht haben. Erst als die Holländer
völlig daran verzweifeln mußten, es den Spaniern wieder zu ent¬
reißen, dachten sie daran, einen Fluß zu schließen, aus dem die
> Natur den geradesten Weg in die Noidsee gemacht hatte, eine
schreiende Ungerechtigkeit vom gesellschaftlichen Standpunkte aus,
welche aber von der Politik lange ihre Weihe erhalten hat und
noch heute nicht gänzlich aus dem europäische» Staatenrecht ver¬
schwunden ist, das freilich gar oft mit dem geheiligten Recht der Na¬
tionen in schreienden Widerspruch steht. Antwerpen nun scheint,
seitdem der siegreiche Widerstand seiner entfernten Herrscher es dem


[]

Protestantismus entrissen hat, sich in die Arme der Religion gestürzt
zu haben, um hier einen Trost gegen den unheilbaren Schaden der Ge¬
genwart und gegen die Erinnerung an eine glänzendere Vergangen¬
heit zu finden. Wenigstens giebt es keine Stadt, wo man mehr
äußere Anzeichen katholischer Andacht und Frömmigkeit findet. Die
Bilder der heiligen Jungfrau, welche man an jeder Straßenecke
trifft und über die der Fremde, besonders der aus dem protestan¬
tischen Norden, sich nicht genug wundern kann, geben mit ihren
vom Winde lustig hin und her geschaukelten Laternen Ant¬
werpen noch heute jene Physiognomie einer spanischen Stadt,
wie sie vielleicht die Städte der Halbinsel selbst heutzutage dem
Reisenden nicht mehr zeigen. Wir haben in der Unzahl dieser
frommen Bildsäulen vergebens nach einer Arbeit uns umgesehen,
welche verdiente, in diesem den Kunstwerken Antwerpens gewidmeten
Artikel einen Platz zu finden. Sie sind alle einander gleich und da
sie nothwendigerweise alle nach dem Vorüberziehen der Bilderstür¬
mer gesetzt sein müssen, so gehören sie einer sehr späten Epoche ein:
ihr Hauptverdienst sollte Naivetät sein und umgekehrt leiden alle
an einer abscheulichen Ueberladung und Manierirtheit. Zu diesen-
Fehler kommt noch ein in Belgien allzu häufiger, barbarischer Ge¬
brauch, der nämlich, sie alle Jahre mit einer neuen Lage von Ma¬
lerei zu überkleiden: man scheint hier nicht zu der Erkenntniß
kommen zu wollen, daß diese Uebertünchung den Werken des Meißels
mehr schadet, als die Rauheit der Luft und Witterung.


Antwerpen ist arm an Monumenten, die ganz der Neuzeit an>
gehören. Der Palast des Königs auf der place 6e Neir, obgleich
im siebzehnten Jahrhundert, d. h. in dem Styl erbaut, dem man
den Spottnamen des Cichorienstylö gegeben hat, fällt doch durch
seine Anordnung angenehm in's Auge, vielleicht weil dem Ganzen
die monotone Nacktheit der benachbarten Fayaden als erhöhende
Folie dient. Die großen unter dem Kaiser ausgeführten Arbeiten
gehören nicht in das Bereich und die Competenz dieses Aufsatzes
und thun wir vielmehr alles Mögliche, um die Scheune nicht zu
sehen, die man unter dem anmaßenden Namen eines Entrepüt,
während der Vereinigung Belgiens mit Holland am Ende des
Hafens hingebaut hat. Das einzige in neuerer Zeit errichtete Werk,
das in den Rahmen dieses Artikels gehört, ist die Rubens-Bild


[]

Säule oder, richtiger gesagt, der Piedestal, auf den, acht einmal
mehr jenes GvPSmodell steht, das man daselbst vor oval Jahren
mit so vielem Pomp eingeweiht hatte. Wir sind der Meinung, und
zwar sind wir nicht die einzigen, die ihr angehören, daß der Se.
Walburgs-Platz die schlechteste Stelle war, die man wählen konnte.
Gegenüber der Scheide, da war nur für einen Seehelden ein passender
Platz, Die plano verte schien uns mehr Recht auf den Besitz dieser
Bildsäule zu haben, der ihre schönste Zierde gewesen wäre. Man
hätte damit zugleich den Uebelstand vermieden, daß die schöne
Bronze-Arbeit von Geefö der feuchten Scheldeluft ausgesetzt ist, welche
sicherlich viel zu einer schleunigeren Verschlechterung beitragen wird.
Doch dagegen läßt sich nun Nichts mehr ausrichten; wir wünschen
nur, man möge den abgeschmackten Schwierigfeiten, welche die Auf¬
richtung der Bildsäule auf ihren Piedestal verzögern, ein baldiges
Ende machen. Der Reisende vermag sich das Verschwinden einer
Bilvsäule, deren feierliche Einweihung einen Widerhall durch ganz
Europa gehabt hat, nicht gut zu erklären. Bei Gelegenheit deS
Piedestal wollen wir übrigens, zum Schlüsse dieses Aufsatzes, noch
eine Bemerkung uns erlauben. Was sollen die Wappen bedeuten,
die über der zukünftig hinzusetzenden Inschrift eingehauen sind?
Sollen es die Wappen der Stadt sein, so ist das Wenigste, was
man dagegen sagen kann, daß sie unnütz sind. Hat man damit
aber darauf hinweisen wollen, daß Rubens seiner Zeit dem niedern
Apel angehörte, so heißt dies, ihn herabwürdigen. Rubens war
ein Genie! Das wissen wir und als solches ist er auf die Nach¬
welt gekommen; daran allein also braucht sie erinnert zu werden.


[]

Lenau s Albi genfer.



(Di e Albigenser Freie Dichtungen von Nicolaus Lenau.
)


Seitdem die neue deutsche Romantik die aus dem Mittelalter
hervorgeholter Schätze und das poetische Erbe, welches sie noch von
der großen Blüthezeit unserer Dichtung überkommen, allmälig auf¬
gezehrt hat, thut sich, unter den mannigfachen Lebensweisen deutscher
Muse, nichts so mächtig und bedeutsam hervor, als die Neflenon,
der bewußte Gedanke, eine neue Kraft, welche die Poesie in sich
aufnehmen will. Schon bei Schiller sehen wir sie zu freiem Durch,
bruns kommen, bei Göthe tritt sie in seiner letzten Periode immer
gesonderter heraus, bei spätern, wie Rückert, erzeugt sie ganz neue
Arten der Dichtung. Dieser Erscheinung, die dem Ueberwiegen der
wissenschaftlichen Thätigkeit der letzten Jahrzehnde zuzuschreiben ist,
und die jetzt mehr und mehr auf die Produktion selbst Einfluß ge¬
winnt, begegnen wir theils in der Lyrik, theils im Drama. In der
lyrischen Gattung hat die Neflenon ein freies Feld, hier kann der
Gedanke selbst, wie bei L. Schefer, Fr. v. Sattel, in reiner Ab¬
straktion, sich unbehindert ausbreiten. Die Individualität des Dich¬
ters und der Zeit bildet immer einen lebendigen Mittelpunkt, den
Träger aller Ideen, denen der Vers sich leihen will. Im Drama
dagegen verlangt diese Richtung den größten Aufwand des schöpfen-


[]

schen Talents, damit das Denken, die bewußte Tendenz dieser höchsten
Form, der Dichtung gewachsen sei. Wir haben dafür nur im
Lessingschen Nathan, ein unübertroffenes Beispiel.


Wir unsrerseits wollen eS keineswegs tadeln, wenn unsere Dich¬
ter den nächsten Interessen, den allgemeinen Fragen der Zeit sich zu¬
wenden; nicht als glaubten wir, es läge darin die eigentliche Auf¬
gabe der Dichtkunst, als fände sie darin ihre weiteste Wirksamkeit,
sondern vielmehr, weil die Fragen, die jetzt unsere öffentliche Welt
in Athem halten, selbst auf Ideen und Weltanschauungen hindrän¬
gen, welche die dichterische Behandlung erfordern und begünstigen.
Der Streit zwischen Gedanken und Satzung, in dem meist Lessing
seine Waffe erhob, der Kampf zwischen Freiheit und Willkürzwang,
aus dem Schiller'S Genius sich emporarbeitete, gährt auch in der
heutigen Generation, ..und sie läßt es sich nicht verwehren, diesen
Krieg, wie sie ihn Jeder'Äüfzufassen vermag, in allen Weisen aus¬
zukämpfen und auSzusingen. Ueberall sei uns darum eine Tendenz
in der Poesie willkommen, wo sie das Haupt der Zeit trifft, wo sie
in bedeutenden Massen die geistigen Gewalten des Jahrhunderts
gegen einander spielen läßt.


Voll Erwartung gingen wir an die Lectüre deS vorliegenden
Gedichtes, das schon seit Jahren den Freunden der Lenau'schen Muse
versprochen war. Der Stoff desselben ist an sich so großartig, so
gedrängt voll erschütternder Momente, er ist zugleich so geistig und
so voll Leidenschaft und Begebenheit, daß wir die Zeit nicht bevauer-
ten, in der das verheißene Werk reifen sollte. Der Kampf der Al-
bigenser—denn unter diesem Namen faßte man die mancherlei häre¬
tischen Secten jener Zeiten zusammen — gegen die päpstliche Hier¬
archie, ein Kampf, angefacht durch die radikalsten Doctrinen, welche
das Mittelalter erzeugt hat, gegen die auf dem Wendepunkt ihrer
Allherrschaft schwebende römische Kirche, ein Kampf voll Heldenmuth)
und Grausamkeit, voll Glauben und Rohheit, ein offener Kreuzzug
im Herzen der Christenheit, gewiß, eS war ein echt dichterischer
Entschluß, den zu besingen. Und so ist auch das Werk, eine Reihe
von Balladen, mit Lyrik umwoben, mit Bildern aus des Dichters
eigenem Innern verschmolzen, eine wahrhafte Dichtung, von einem
starken, seiner selbst gewissen, männlichen Geist durchweht, voll Natur,
Willen und Erfindung.


[]

Beim Eingang freilich stieß uns daS Fremdartige, das Gesuchte
des ersten Gedichts, die harte, herbe, gegen die Welt entrüstete Stim¬
mung des Dichters ab' die sich in den sonderbarsten Ausdrücken Lust
macht. Wir sahen in dem unermüdlichen Ausspinnen einer und der¬
selben Figur, daß der Dichter, wie auch sonst in einzelnen Stellen
seines Werkes, hier mehr im Bilde als in der Sache verweilte. Wie
mochte nur der Verfasser so lange an dem seltsamen Bilde hasten,
wo er sich einen Tiger zum Schuhgenossen wünscht, damit ihm der
seine Gedanken bewache und alle Erdenwünsche und Erinnerungen
zerreiße; wo er denselben Tiger dann aufsetzt:


„send ich ein Lied auf die Tyranncnfratzen,
So helf ihm, Tiger, nach mit deinen Tatzen."

Hier, wie bei den Worten:


„O Welt, ans allen Wüsten möcht ich holen
Die Tigergeister dir zu Apostolen,"

so wie bei der grimmigen Begeisterung:


„Ich wünschte mir den Tiger zum Genossen,
Schon ist in meinem Geist sein Hauch zu spüren,
Und durch mein Herz sein wildes Blut ergossen."

kann ein unverdorbener Geschmack sich nur abkehren; für einen na¬
türlichen, dichterischen Erguß vermögen wir das nicht anzusehen,
obschon wir begreifen, wie ein Poet sich in dergleichen Phrasenpathos
verirren kann, nicht unter der Gunst der Muse, sondern


„Wenn sein einsames Herz Gedanken hämmert."


Indeß wird der Leser, wenn er die anfangs störenden Ei¬
genheiten des Gefühls und der Ausdrucksweise überwunden hat,
sich bald mit dem Gedicht befreunden, uno gern bei den Gebil¬
den verweilen, die des Dichters kühner, freier Geist an ihm
vorüberführt. Und doch wird ihn weniger die meisterhafte Aus¬
malung einzelner Situationen fesseln, die Lebendigkeit individueller
Momente, die mit den Erscheinungen der wirklichen Welt wetteifert,
als die tiefe Vertrautheit mit dem Geist und Charakter des histori¬
schen Gehaltes, dies Schaffen aus eigener Brust, das eine vergan¬
gene Zeit neu und lebendig zum Vorschein bringt. Hier ist keine
Bearbeitung äußerer Stoffe, kein Formiren eines todten Materials
nach gegebenen Regeln, hier wird nicht erstarrte Geschichte auf die
rauschende, seelenlose Leier gespannt, wie dies in unzähligen Roman-


[]

zen und Gesängen geschieht, womit man alle Jahr ganze Bände
anfüllt; hier fühlen und sehen wir eine entschwundene Zeit wiederum
als eine wirkliche, als eine gegenwärtige, mit welcher der Sänger
sich innerlich identificirt hat, und der er in allen Theilen den Stem¬
pel seiner Anschauungs- und Gemüthsweise aufgeprägt hat. Nicht
eine Reihe proper^alischer Lieder, von Liebe, Wein, Witz und
Abenteuern überströmend, dürfen wir hier erwarten, nicht den Frühling
schweigender Dichtung, auch nicht den Spott, der in Reimen sich an
einer Zeit voll Widersprüche rächt; wir athmen durch das ganze Ge¬
dicht hin, in einer ängstlich schweren, in Stürmen aufbrausenden
Luft, ungeheure geistige Gegensätze, gleich denen, worin Byron's
Saiten erzitterten, unbegriffenes Sehnen uno Regen, Aneinanderschla-
gen der höchsten Mächte deS menschlichen Daseins, Fehl und Schuld,
wie Recht und Ziel auf beiden Seiten bringen uns die großen
Räthsel der Geschichte und Menschheit recht nahe, und lassen uns
mit bangen Zweifeln dem Fluge des Gesanges folgen. Ueberall
stoßen wir auf die Frage: wozu daS Alles, diese Opfer, diese Blut¬
ströme, diese zerstörten Herzen, diese furchtbaren Irrthümer, dieses
Ringen zweier Mächte, von denen keine uns ganz für sich gewinnen
kann, von denen die eine durch starres Gesetz , durch erdrückenden
Zwang, die andere durch Wildheit, Schwanken und Frevel erschreckt I
In schneller Folge tauchen die Bilder jener Zeit vor uns aus; der
Dichter hebt immer nur die Entscheidungsmomente heraus, er erspart
uns den Verlauf im Kleinen; es sind, wie im Cid, wie hie und da
im Byron, aphoristische Zeichnungen, einzelne aus dem Herzen der
Geschichte anschlagende Klänge, aber in jedem Klänge schwingt der
ganze zerreißende Schmerz der Zeit mit. Der Dichter macht sich
nicht zum Erzähler, der That und Schicksal auseinander an einem
fortlaufenden Faden aufreibt; er spricht, selbst in den individuellsten
Schilderungen, immer den Geist uno Trieb und die Gewalten aus,
welche jenes Jahrhundert bewegten. Und doch bilden diese Balla¬
den, diese Ergüsse aus der eigenen Brust, dies Mitgefühl an dem
Geschehen, ein vollkommenes Gemälde, welches uns tiefer in das
Wesen jener elementarisch aufgeregten Periode einweiht, als eine mi¬
kroskopisch ausgeführte Novelle oder die Aengstlichkeit einer Chronik.
Aber in diesem kleinen Rahmen hat der Dichter einen bedeutenden
eigenen Lebensgehalt eingeschlossen, er hat darin Gedanken nieder-


[]

gelegt, die ihm selber die heiligsten sind, seinen Glauben an die Ge¬
schichte, ein den Fortschritt nach dem Ziel, dem freien Geiste; und
luerin eben liegt die volle Wirkung, die Einigung des Gedichtes
mit der jetzigen Welt, wie diese im Dichter sich abspiegelt.


Man kann das Gedicht in drei Hauptmassen abtheilen, ohne
daß diese jedoch äußerlich eine strenge Scheidung zuließen. Der
Dichter führt uns zuerst in die Stimmung, in die geistige Atmo¬
sphäre der Zeit; aber diesem historischen Geist kommt sein eigener
entgegen, in ihm selber tauchen die Ideen und Widersprüche auf, die
jenen entstammen. Sodann eröffnet sich das Kampffeld, die Parteien
der Geschichte ringen mit einander um den Sieg ihres Glaubens,
um die Weltherrschaft; und zum Schluß, nachdem die empörten Ele¬
mente sich ausgewüthet, blicken wir zurück und stehen vor der Frage:
Was ist das Ziel dieser Begebenheiten, welchen Sinn und Bezug
haben sie für uns?


Begleiten wir den Dichter durch sein Werk, welches, aus dieser
Angabe schon, sich als ein Ganzes, dem Inhalt und der Tendenz
nach, ausweist.


Verfolgen wir zuerst die Dialektik, welche die Gegensätze an
einander hält, die durch das Gedicht, bis auf den Hochpunkt dessel¬
ben, fortlaufen und wachsen. Im ersten Abschnitt, „Nachtgesang"
überschrieben, läßt der Dichter zwei Stimmen relen, welche die strei¬
tenden Principe vorstellen. Die erste Stimme mahnt von Haß und
Kampf ab; der Natur, dem wilden Geist, dem die reißenden Thiere
angehören, soll der Mensch sich nicht ergeben; die Natur ist abge¬
fallen, nur Gott kann sie erlösen:


„Weltbcfreien kann die Liebe nur,
Nicht der Haß, der Sklave der Natur . . ."

„Dort sieh' Golgatha! Jehovahs Stunden,
Heil'gar Konigstigerö, sind verwunden!"

Nun begreifen wir jedoch nicht, wie diesen Stimmen zugleich der
pantheistisch rohe Zuruf beigelegt werden kann:


„Wenn der Tiger schlau im Dickicht lauscht,
Vorspringt und ein Menschenbild zerreißt,
Blut trinkt, hat er sich in Gottes Geist,
Den spüret, ahnungsvoll berauscht."

[]

Wie stimmt dies zu den vorigen Versen? — Die zweite Stimme
ihrerseits ruft dem Dichter zu¬


lasse herzhaft! rüste Dich zum Streite!
Liebe die Natur, die treu und wahr,
Ringe nach Licht und Freiheit immerdar,
Wenn auch unter ihren eignen Füßen
Graun und Tod und Schmerz aufwirbeln müssen."

Aus dieser Doppelheit ver Gefühle, dem Contrast der sitt¬
lichen und natürlichen Weltordnung, welcher den Ausruf auspreßt:


„O Geist, ist Deinem Lenz die Lust genommen,
Sei Du der Welt in Schrecken auch willkommen!"

treten wir sofort in die wirkliche Welt voll thätlichen Widerstreites,
voll Mord, Qual und Verwüstung. Mit dem Bannstrahl des Pap¬
stes Innocenz bewaffnet, tritt Pierre von Castelnau gegenüber dem
naturfrohen, von Liebe und Tapferkeit glühenden Troubadour Fulco
vor uns; von letzterem heißt es:


„Pierr'i ich bin ein Ketzer!" ruft der Wandrer,
„Heraus mit Fluch und Bann! hei, dorn're zu!"

In ihrem Zusammentreffen und Gespräch (die Legende von den
Zigeunern und dem Kreuz, die Pierre erzählt, ist eine höchst gelun¬
gene Episode) arbeiten sich die streitenden Principe, die sie vertreten,
deutlicher heraus. Nun folgen die Ereignisse Schlag auf Schlag.
Der Priester wird ermordet, der Sänger wird am Sarge seiner
Geliebten plötzlich in einen fanatischen Diener der Kirche verwandelt.
Und was treibt ihn dazu? Der Anblick der Todten ist es, der ihm
den Albigenserglauben entreißt, der keine Auferstehung annimmt; da
treffen wir auf den ganz neumodischen Satz:


„Denn Sterben ist im Geist verschwinden,
Wir glauben an kein Wiederfinden."

Bald sehen wir den Troubadour, der die Schönheit der Frauen
so bezaubernd besang, als Innocenz' Boten und Bischof von Tou¬
louse, den Kreuzzug anschürend. So wird dieser Charakter auf die
tragische Bahn des Schicksals gerissen. Bei dieser Katastrophe
spricht der Dichter die schönen Verse:


„Wenn all sein Glück ein starkes Herz verloren, -
Wenn seine Wund' am tiefsten klafft,
Dann wird es vom Verhängnis, gern erkoren,
Und in den großen Sturm hinauögcrafft."

[]

Die imposantste Gestalt dieses Gedichts ist Innocenz, ein
Mann der innern That, in dessen Brust die ganze, stärkere Hälfte-
der Begebenheit eingeschlossen ist.


„In seinen Zügen ist es fest und stille,
Wie Steingepräg' in jedem Zuge steht
Entschluß und unerschütterlicher Wik/e."

Die Friedensverhandlungen sin^ «.gebrochen; die Ketzer sollen
ausgetilgt werden. Umsonst sucht Dominicus sie zu bekehren. Da
er ihnen das bekannte Gleichniß von dem Durstigen und dem Aase im
Bach vorträgt, entgegnen ihm jene mittelalterlichen Nationalisten nur:


„Wir wollen oberhalb des Aases trinken."


Er muß sogar ihre Irrlehren der Reihe nach anhören, und
bei der Einweihung eines Albigensers Zeuge sein, wie die kirchlichen
Gebräuche, die Sacramente, der Eid, die Bilder, das Zeichen des
Kreuzes :c. verworfen werden. Zuletzt, indem der Dichter diese
Sekten im Allgemeinen charakterisirt, heißt es:


„Mag, was wir meinen, auch sich spalten noch und trennen,
Die frei»,' Forschung ist's, wozu wir uns bekennen."

„Wir lassen uns den Geist nicht hemmen mehr und knechten.
Es gilt, das höchste Recht auf Erden zu verfechten____"

„Einst wird das Heil der Welt, Erlösung, sich vollbringen,
Wenn Gott und Mensch im Geist lebendig sich durchdringen."

Wir werden dabei unwillkürlich an die Fehden und skeptischen
Ideen auf dem theologischen Felde neuester Zeit erinnert. Derselbe
Sinn wohnt dem Liede inne, worin die Pariser Studenten die
Lehren ihres Meisters Almerich von Beile singen.


„Bon Tisch zu Tisch hineile das große Wort,
Und reißt die jungen Herzen mit sich fort;"
"

„Der Geist ist Gott! so schallt es hin mit Macht,
Ein Frcudendonner durch die Frühlingsnacht.

Unter den folgenden Bildern ist das Interdikt, das über Tou¬
louse verhängt wird, von gewaltiger Wirkung, melancholisch, schwer¬
lastend, eine schlagende Zeichnung. Dem Interdict folgt der Kreuz¬
zug, an dessen Spitze Abt Arnald und Graf Simon Montfort stehn.
Das Stück: „der Rosenkranz," giebt uns eine Probe ihrer Proce-
düren; denn dieser Rosenkranz besteht aus hundert geblendeten
Ketzern, unter denen der eine, Hugo von Alfar, halb geblendet, die


[]

übrigen an einem Seile aus dem eroberte» Schloß Brom leitet.
Erschütternd ist die Klage der Geblendeten. Von gleicher Art ist-
„das Schlachtfeld;" aus dem Krieg zwischen Forschung und Hierar¬
chie bricht hier die furchtbarste Verzweiflung hervor:


„O Gott, wie Du auch heißen magst, es bleibt
Ein Schmerz, daß Glaube» solche Früchte treibt."

In der nächtlichen Scene wandert Alfar, der allen Glauben,
häretischen wie kirchlichen, abgeworfen, umher:


„Ob das ein Gott, ein Kranker ist zu nennen,
Der eine Welt in Fiebergluth errichtet,
Und bald im Frost des Fiebers sie vernichtet?
Ist Weltgeschick sein Frieren und sein Brennen?
Ist's nur ein Göttcrkind, dem diese Welt
Als buntes Spiclgcräthc zugefallen?..."

ÄZir stehen hier in der Mitte deS Gedichts; der Sturm der
Geschichte hat sich entladen. Die Begebenheiten scheinen der mensch¬
lichen Vernunft zu spotten, denn die Menschheit, der Geist der Ge¬
schichte, scheint mit sich selber in Krieg zu stehen. Rache, Blutdurst,
der wüste Trieb des Thiers wüthen auf dem Boden, der ihr gehört,
entfesselt umher. Die Seele zerknickt, von so furchtbarem Gericht
ergriffen. So zeichnet uns der Dichter in einzelnen Figuren den
Wahnsinn, die Verzweiflung, die Verhöhnung des Heiligen, Un¬
terjochung und feige Bube, entsetzendes Gemetzel, düstre Leiden
und lachenden Frevel. Alle Figuren, die dahin gehören, wie Jacques,
der wahnsinnige Schneider, der Herzog von Narbonne, der Graf
von Foir, Gras Simon, der gefangne Vicomte Roger von Beziers,
daS irre Mädchen von Lavaur, drücken auf verschiedene Weise diese
Spitze des Pathos aus, auf welchem das Gedicht nun angelangt
ist. Vielleicht kehrt der Verfasser zu sehr allein den Frevelsinn der
ergrimmten Albigenser heraus, wie in der Scene, wo Foir mit
seinen Gesellen im Kloster lagert, wo nach mancherlei Gespött, zuletzt
eine Moral des Fleisches gepredigt wird, so nackt, platt und plump,
wie die neusten Wiederfindet derselben sie kaum vorbringen möchten:


„Er predigt: Im Anfang war da« Fleisch,
Und Gott war das Fleisch, und dieses war

[]
Bei ihn» beständig und immerdar,
Und das Fleisch ist Wort geworden und Licht,
Johannes schrieb verkehrten Bericht,
Drum sollen das Fleisch wir halten in Ehren,
Seid lustig, ihr Kinder, und laßt es gewähren!"

Zwischen diese Nacht, und Gräuelscenen fällt wohl ängstlich
und wehmüthig ein lichter Moment ein, wie in: „des Wanderers
Gruß," ein tiefgefühltes Lied, das uns auf den Lerchenruf der
Freiheit harren läßt; dann eine schöne Klage eines Sängers an
einem Brunnen, worin seine Geliebte versenkt war, mit den schnei¬
denden Zeilen aus der trostlosen Irrlehre:


„Du wirst nicht wieder auferstehn,
Wenn Gott Dich einmal ließ vergehn,
Kann er Dich so nicht wiederbringen."

Aber noch einmal treten wir vor eine Scene des Fanatismus;
eine Anzahl Studenten, Anhänger Almerich'S, werden unter grä߬
lichem Spott verbrannt. Endlich, nachdem das ganze Land verheert
ist, fällt auch Simon Montfort, eben als er den Lohn, die Beute
des VerwüstungSkreuzzugeS zu ernten hoffte. Die Nachegöttcr sind
gestillt, wir blicken auf ein unermeßliches Leichenfeld. Da erscheinen,
einsam wandelnd unter den Todten, ein Ritter und ein Mönch.
Ueberwunden durch den Schmerz der Scene, sich selbst besinnend bei
dem Ueberblick der Gräuel, wirst der Mönch die Waffen weg, reißt
das Kreuz von der Brust und geht zu dem nieder, mit ihm zu
fechten und zu fallen.


„Nicht folg' ich mehr der Kirche blut'gar Fahnen,
Im Hinblick auf das stumme Leichenfeld
Hat Frieden wunderbar mein Herz erhellt,
Des tiefsten Sinns ward mir ein freudig Ahnen."

Und was ist der Sinn, der letzte Zweck der Geschichte, was
ist die Wahrheit, nach welcher dieser Kampf, dieses Schicksal zielte?
Oaö endliche Ueberwinden, die Läuterung des Geistes:


„Das Leben bricht der Kirche düstre Schranke;
Die heilige Geschichte ist geschehn,
Doch war auch sie nur Abglanz und Bergehn;
Wollenden wird Erlösung der Gedanke!"

[]

Und hier zuletzt schließt das Gedicht die innerste Ueberzeugung
des Verfassers auf, welche wir in den früher vorkommenden Zeilen
zu finden glauben:


„Gedanke heißt der Heilige, der Held,
Der im Urkamps ersiegt das weite Feld!
Er hat getaucht die Sterne in sein Licht,
Er gab den Stand den Sterne und die Flucht,
Hält ewig fest die strenge Sternenzucht,
Sein ist die ganze Welt und ihr Gericht."

Der Sieg des Geistes, die Herrschaft der Wahrheit ist das
Endziel der Weltgeschichte, zu welchem alle großen Katastrophen,
das Bauen und Niederstürzen in der unendlichen Arbeit der Völker
hinwirken müssen. Aber der Anblick der schweren Entwicklung«!!-
Phasen erfüllt das menschliche Herz mit Wehmuth, mit Bewundern
und Schauder. Wir glauben an die einstige Erfüllung der Ge¬
schichte, aber die Wege, die Wir, das eine menschliche Geschlecht, da¬
hin genommen haben, ziehen sich noch weitab zur Seite des Ziels,
das noch trübe und fern aus Irrthum und Verhängniß hindurch¬
blickt. So ruft der „Greis" gegen Ende:


„Noch die Freiheit war es nicht;
Dunklen Gruß, verworrne Kunde
Brachte nur von ihrem Licht
Die vorangeeilte Stunde."

Was man erkämpfen wollte, war noch nicht die reine und völ¬
lige Freiheit, nicht „ein klarer Blick in'S Herz der Freiheit," nicht
„Liebe für die heilige, erkannte," trieb dazu, nicht Wissenschaft, es
war von der Wahrheit nur ein „dunkles Ahnen." — Und warum,
fragt der Schlußgesang, warum jene Zeiten aus der Vergessenheit
rufen? „Hat unsre Zeit nicht Leids genug für Klagen?" — Allein
in der Vergangenheit lebte auch unser Schicksal mit, in der Vor¬
welt und in unserer Gegenwart wirkt der nämliche stetige Geist, der
auch uns ansprechen soll:


„Daß wir uns recht mit ihm zusammcnfühlen,
In ein Geschlecht, ein Leben, ein Geschick."

Jeder Zeitraum arbeitet dem folgenden vor: leidet für ihn, bahnt
ihm die Straße. ' Auch unsere Zeit, mit ihren Wehen und Zwie-


[]

spalten hat einen Eichen Beruf und wird im Gedächtniß der Nach¬
welt sich erheben. Auch wir leben noch nicht im Licht und im Ge-
nuß; wir „sterben ungeduldig, freudenarm, im Morgengrauen des
Lichts." Auch über uns drücken Zwang und Nacht und so, meint
der Dichter, stehen auch uns Umwälzungen und schwere Kriege um
den Preis der Geschichte bevor:


„Das Licht vom Himmel läßt sich nicht versprengen,
Noch läßt der Sonnenaufgang sich verhängen
Mit Purpurmäntcln oder dunkeln Kutten;
Den Albigensern folgen die Hussiten,
Und zahlen blutig heim, was jene litten;
Nach Huhi und Ziska kommen Luther, Hütten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter,
Die Stürme der Bastille, und so weiter."

Ist denn aber die Freiheit, der Sieg deS Gedankens, wirklich
bei uns in dem Grade bedroht, wie der Dichter an vielen Orten
es andeutet, wie es die letzten Worte seines Werkes, das: und so
weiter" klar genug aussprechen; hat dieser politische Ingrimm,
der Tigersinn, der so herbe und schneidend durch die Dichtung fährt,
wirklich so viel Grund,, eine so allgemeine Bedeutung, wie das Ge¬
dicht annimmt, wie ohne Zweifel eine Menge Schriftsteller dem
Verfasser beifällig einräumen? Wir glauben es nicht; wir glauben,
daß der Verfasser, wo er die jetzigen öffentlichen Verhältnisse berührt,
die Farben'zu stark aufträgt, daß er die klagenden Saiten zu hef¬
tig reißt.


In Lenau's Gedicht ist eine Empfindung niedergelegt, die von
vielen Zeitgenossen getheilt wird, der Schmerz über die Bedrängniß
deS öffentlichen und geistigen Lebens, welchem der Trost ganz unbe¬
stimmt und abstract, alö einstiges Ueberwinden deS Gedankens vor¬
schwebt. Gewiß, die Wahrheit muß uns das rechte Heil bringen.
Aber woher diese Bitterkeit, dieser Weheruf, der so stark und durch¬
dringend nicht leicht anderswo alö in vorliegender Dichtung ertönt,
wozu dies Jagen in die Zukunft? Ist der Gedanke nicht auch wirk¬
lich lebendig in allen großen Epochen, bleibend und wachsend im
Geiste, in dem geistigen Reiche für immer? Dies zwar wird uns
nicht bestritten. Und doch führt uns unser Dichter nicht weiter, als


29
[]

bis zur Stufe deS Harrens auf die Freiheit oder Wahrheit; er
steht damit auf einer allgemeineren Stufe der jetzigen Zeit, nicht über
derselben. Wie ganz anders würde Schiller, aus dem Reichthum
seines Genius, den von Lenau gewählten Stoff belebt haben! Er
würde, die Vergangenheit durchwandelnd, als ächter Dichter, selbst
die Welt der Wahrheit und des Schonen offenbart haben, die jene
nur dunkel ahnte; er würde der Zeit nicht, wie es die Dichtenden
jetzt thun, ihre Gefühle blos entlehnt, er würde sie aus eigenem
Vorrathe zugleich bereichert und erhoben haben.


Note: T h. S es.

[]

Briefe aus Wien.")



Erster Brief.


Note: Die Staatseisenbahnen und die Privatunternehmungen. Ungarn. 178» und
1842. Politische Reflexionen. Schriften über Oesterreich. Ein Duell-

Der eigentliche Mittelpunkt unseres gemeinsamen Lebens, der
bedeutendste Fortschritt in sozialer Beziehung sind ohne Zweifel die
Eisenbahnen, vorzüglich die Staatseisenbahnen, welche auf eine noch
lange Zeit hinaus die Achse bilden werden, nuk die sich das ohne¬
hin nur spärlich gefristete öffentliche Interesse dreht. Dieser gro߬
artige Entschluß, der plötzlich in fertiger Riesenhaftigkeit vor alle
Welt hintrat, verspricht das, was die Negierung in Brüssel für das
kleine Belgien gethan, für das länverreiche Kaiserthum zu leisten.
Denn Belgien und Oesterreich sind derzeit noch die einzigen Staa¬
ten, wo ein Eisenbahnnetz auf Staatskosten ausgeführt oder beschlossen
wurde; ein Beispiel, dem sich nunmehr auch andere Länder, das
scheinbar träge, aber innerlich doch stets thatfrohe Frankreich an der
Spitze, erfolgreich anschließen.


An der Ausführung der bestimmten Bahnlinien in Oesterreich
zweifelt gegenwärtig auch der ärgste Skeptiker nicht mehr, denn
schon sind die drei Routen zwischen Mürzzuschlag bis nach Grätz,
zwischen Olmütz und Prag und zwischen Brunn und Prag in An¬
griff genommen und die Generaldirektion, deren Chef der Hofrath
Francesconi ist, und dem der bekannte Ingenieur Negrelli als Ober¬
inspektor an die Seite gestellt wurde, hat den Befehl, in jedem Jahr
mindestens dreißig Meilen Eisenstraße der Benutzung eröffnen zu



29-i-
[]

müssen, welches Minimum jede auffällige Versäumnis? unmöglich
macht. Obschon nicht, wie man anfangs vermuthete, Militär zum
Bau verwendet wird, so kommt dennoch die Meile Schienenbahn
um ein Drittheil wohlfeiler zu stehen, als die von den Privaten
gebauten, wornach man mit Leichtigkeit ermessen kann, wie übel die
Ausschüsse der Aktienvereine mit fremdem Geld gewirthschaftet haben.
Als schlagendstes Beispiel von der Genauigkeit und dem redlichen
Geschäftsgange dieser Leute mag der Umstand dienen, daß mit den
Einlagen, deren Betrag zum Bau einer Bahn von Wien nach Raab
in Ungarn bestimmt war, nur die Strecke zwischen Wien und Glogg-
nitz hergestellt ward, ja die ganze Richtung des Schienenweges nach¬
träglich und eigenmächtig dahin verändert wurde, daß Ungarn dabei
ganz aus dem Spiele blieb. Man kann sich denken, wie sehr ein
solch verwerfliches Verfahren die treuherzigen Ungarn erbittern mußte,
von denen sich sehr viele aus Patriotismus bei dem Unternehmen
betheiligt hatten und die sich nun in ihren Hoffnungen betrogen
sahen; die ungarischen Journale haben diesen Gegenstand mit Fug
einer scharfen Kritik unterzogen und sind auch soweit gegangen, den
Beschluß der Negierung zu tadeln, da bekanntlich die allgemein er¬
wartete Bahn von Wien nach Pesth sich nicht unter den vom Staat
zu erbauenden Routen vorfand und somit das Königreich Ungarn
mit seinen Kronländern so ziemlich allein von der Wohlthat solcher
CommunikationSmittel auf allgemeine Kosten ausgeschlossen blieb.
Ein Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung aus Wien giebt,
indem er die Staatsverwaltung von jeder Animosität freispricht, nicht
undeutlich zu verstehen, Ungarn besitze einmal seine besondere Ad¬
ministration, sein eigenthümliches Steuersystem; und wolle es er allen
Dingen als ein Abgesondertes und Eigenartiges gelten, so möge es
sich auch in dieser Beziehung von dem erkämpften Standpunkt der
Selbständigkeit betrachten und nicht auf die Verwendung von Sum¬
men Anspruch erheben, zu denen dasselbe doch nichts beigetragen
habe. Sieht man nicht klar, sagte mir ein eifriger Magyar in Pesth,
man will die Ungarn durch die Konsequenz schlagen und ihnen den
Besitz ihrer Freiheiten auf diese Art verleiden, man will das Dasein
der moralischen Güter durch die Entziehung der materiellen
bestrafen? Wir glauben nicht, daß sich die Regierung von solchen
unzweckmäßigen Ansichten leiten lasse, sind den Gegentheil überzeugt,


[]

sie werde jedem Antrage auf dem Landtage des nächsten Jahres
auf das Bereitwilligste entgegenkommen und den Ungarn nicht eine
kommerzielle Wohlthat entziehen, die für die Regierung selbst ein wichti¬
ges Mittel der Centralisation darbietet und von großer politischer Be¬
deutung sein würde. Und in der That beginnt man im Jahre 1842 dieselbe
Tendenz, welche 1786 gescheitert ist, im weisen und gemäßigten Sinn
wieder aufzunehmen und wenn der großeDenkkaiser, wie manJosephlI.
unlängst genannt hat, die engere Verbindung und allmälige Verschmel¬
zung der sprachverschiedenen Völkerschaften auf dem Wege der geistigen
Reform zu bewirken meinte, indem er ihnen die Seele der Nationalität,
die Sprache zu nehmen suchte, so geht gegenwärtig das Bestreben
blos dahin, bet möglicher Gewährung nationaler Wünsche die
Bande materieller Wohlfahrt desto enger zu schürzen und die äußern
Interessen der verschiedenen Völkerstämme vollkommen zu centrali-
siren. Die Staatsbahnen dienen offenbar in höherem Maß zur
Erstarkung der Centralgewalt. Abgesehen von der innern Conso-
lidirung der Monarchie und der erhöhten Handelsbewegung kommt
der militärische Vortheil der Eisenstraßen wenigstens einer Verdoppe¬
lung des Heeres gleich, so daß man überhaupt sagen darf, der
Kaiserstaat werde bei einstiger Vollendung seines weit verzweigten
Eisenbahnnetzes mit doppelten Kräften gegen innere und äußere
Feinde dastehen. — Bedenkliche Schwierigkeiten dürften jedoch erst
dann entstehen, wenn einige der projektirten und bereits im Bau
begriffenen Staatsbahnen wirklich fertig sind und verpachtet werden
sollen. Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß bei diesen Eta¬
blissements, von denen die Regierung in ihrer officiellen Erklärung
in der Hofzeitung selbst gestanden, sie seien mehr vom Standpunkt
des höhern Staatszwecks, als aus merkantilischer Spekulation unter¬
nommen worden, die Frage der Herstellung leichter zu entscheiden
ist, denn jene der Verwaltung. Die Pachtverhältnisse werden sür
die Negierung jedenfalls sehr ungünstig ausfallen; denn schon haben
sich mehrere Mitglieder der Direktion der Nordbahn dahin ausge¬
sprochen, die Größe der Pachtsumme erst nach einer zweijährigen
unentgeltlichen Benutzung der fertigen Bahnstrecken je nach
der wahrgenommenen Frequenz durchschnittlich feststellen zu können!


Seit einiger Zeit beschäftigt sich die auswärtige Presse wieder
sehr angelegentlich mit österreichischen Zuständen, der Aufmerksam-


[]

keit gewiß, die jede einigermaßen ansprechende Mittheilung über
das merkwürdige und so wohlverwahrte Oesterreich erregen muß.


Ein in der Schweiz, ich glaube in Winterthm aufgelegtes
Buch mit dem Titel: „Der Jakobiner in Wien" — halb Romantik,
halb Wirklichkeit, ein echtes Wahrheit und Dichtung, beleuchtet eine
wenig erfreuliche Zeit voll Mißgriffe und Härte in den obern
und voll Verblendung und Stumpsinn in den untern Regionen.
Die in Leipzig gedruckten: „''in <it;«i^el-in" des bekannten Wiener
Lustspieldichters Bauernfeld, sind wohlgemeinte Klagen und Wünsche,
denen die Weite des Gesichtskreises mangelt und die sehr zurückhal¬
tend geschrieben sind, weshalb ihnen die k. k. österr. Censur auch das
angesuchte Imprimatur nicht vorenthalten hat. Unstreitig die beste
Publikation über österreichische Zustände ist das gleichfalls in Sach¬
sen aufgelegte Werk: „Die Juden in Oesterreich," das man dein
or. Jeiteles in Wien oder Herrn Legis in Prag zuschreibt»)
Es behandelt die Stellung der Juden von dem Standpunkte der
Geschichte, des Rechts uns des Staatsvortheils; der religiöse soll
und muß natürlich mit dem des juridischen zusammenfallen, denn
Recht und Religion müssen sich im geläuterten Zustande identifi-
ciren. Durch die bekannten Vorfälle in Mantua hat die Juden¬
sache in Oesterreich ein wärmeres Interesse gesunden und auch in
Wien trug ein ganz nculicher Vorgang dazu bei, die Erscheinung
dieses gründlichen Buches, dessen genaue Urkundenbclege auf höhern
Schutz schließen lassen, sehr zeitgemäß zu machen. Durch ein Ver¬
sehen des Censors, dem dafür ein scharfer Verweis zukam, war es
dem Professor Rosas vergönnt in den Medicinischer Jahrbüchern
in einer grundgescheiten Abhandlung mit triftigen Gründen zu
beweisen, ein Israelite könne unmöglich ein guter Arzt sein!!


Ich schließe meinen heutigen Brief mit einer Unglückspost aus
Klausenburg in Siebenbürgen, wo sich die Grafen Bethlen und
Teleky auf Pistolen geschlagen haben, und beide todt blieben, in¬
dem der Erstere in der Schulter verwundet seinem Gegner noch
sterbend den Kopf zerschmetterte. Das Motiv war die Liebe zu
einer von beiden Seite» verehrten Dame.



Note: Die Red.

[]

T a g e b u es.
Theaterplaudcreien.



An« Pari«.


Hier sende ich Ihnen die Ausbeute von zwei, drei Theaterabenden; allerlei
Neues, Nichts Rechtes. Aber was soll man thun in diesen Hcrbstabendcn, die
nicht Fisch, nicht Fleisch sind, wo man weder in der grünen Natur jenseits
der Barriere, noch in den erwärmten Salons einer schwatzenden Gesellschaft
sich erfreuen kann'! Da läuft alle Welt ins Theater; ich laufe mit. Im
Odöon sah ich ein sünfactigcS Stück, ein Drama „Die Schwester der Königin",
ein Cvmpagniestück der Herren Molo Gentilhomme und Pierre Ladoco; Johanne
von Neapel, die mörderische Gattin von vier Männern, von welcher die Ge¬
schichte der Gräuelthaten genug zu erzählen hat, ohne daß eine französisch¬
romantische Einbildungskraft noch Etwas hinzuzufügen brauchte, wird in die¬
sem Stücke noch von einer Schwester begleitet, die ihr an Mordlust und Lie-
bcssucht, wie ein El dem andern, ähnlich sieht. Der dritte Mann Johcmnens,
ist auch der Gegenstand der Anbetung ihrer Schwester, die den ihr bestimmten
Gatten erwürgen läßt, um wie jenem in Verbindung zu treten. Gefängniß,
Reue, und endlich das Wiederaufleben der ermordet Geglaubten, das ist das
Material, woraus diese fünf Acte zusammengekleistert sind. Theater, die zwei
rollensüchtige Schreiheldinncn haben, können sich hier satt essen; Avis für
die deutsche» Uebersetzer. Wie viel trägt wohl eine solche Uebersetzung diese»
Herren ein ! Sicherlich nicht so viel, als die Stücke des Herrn Granville ihm


[]

eingetragen haben. Wer ist Herr Granville? Es ist der Held einer andern
Komödie, die ich in diesem Theater des Obi-on einige Abende später zum er¬
sten Male aufführen sah und welches den Titel führt: „Der Poet, oder die
dirons et'-uiteur." Es ist doch ein gesegneter Boden, dieses Frankreich! Die
clrvits ä'antsur! In Deutschland könnte man hieraus höchstens ein Trauer¬
spiel machen; Dank den besseren Gesetzen Frankreichs, hier macht man ein
Lustspiel daraus. Herr Granville ist ein großer Dichter, ohne Geld; er will
jenseits des Meeres sein Glück suchen und kommt natürlich eben so arm zurück,
als er abgereist ist, nur ist der arme Teufel um 13 Jahre älter und hat eine
Tochter Julie. Nun aber kommt die eigentliche Geschichte. Granville hat
bei seiner Abreise eine ungeheure Menge von Komödien, Tragödien, Dramen,
mit einem Worte allerhand Arbeiten eines Theaterdichters zurückgelassen. O Glück!
Diese Werft, mit denen Granville Nichts anzufangen wußte, sind plötzlich bei
aller Welt beliebt geworden, als man ihren Verfasser gestorben glaubte. Die
Theater haben sich um seine Lustspiele, seine Baudevilles, seine Dramen ge¬
rissen. Das Publikum hat für diese Meisterwerke nicht allein seinen enthusi¬
astischen Beifall, sondern auch sein Geld, nicht blos seine Thränen, sondern auch
sein Geld, nicht bloß seine Heiterkeit, sondern auch sein Geld, immer sein Geld
gegeben; — aus diesem Geld ist nun eine Masse geworden und die Mitgift
des Fräuleins Granville ist sofort da. Wäre Fräulein Granville die Tochter
eines deutschen Theaterdichters gewesen, sie wäre wahrscheinlich noch heute
unverheirathet. — Erinnern Sie sich noch einer Novelle von Zschokke, welche
der Fcldwcibel heißt? Friedrich Wilhelm l., der Freund aller großen Männer,
d. h. solcher, die sechs Fuß und noch etwas darüber messen, läßt einen jungen
Schweizer mit Gewalt ausheben und in sein Regiment einregistrircn. Ein
junges Mädchen von nicht minder hoher Taille begegnet dem König auf einem
Spazierritt, erhält ein Briefchen nach Potsdam und soll dort gezwungen wer¬
den, besagtem großen Mann aus der Schweiz als Ehegattin sich zu verbin¬
den. Welch ein prächtiger Stoff für ein Lustspiel! Warum hat man noch
keins daraus gemacht? Hier hat man aus einem ähnlichen, aber viel schlech¬
teren, ein allerliebstes Vaudeville in zwei Acten fabricirt, welches unter dem
Titel „Die beiden Brigadiers" im Varwtll Thviltre von Stapel ging.


„An ebener Erde und im ersten Stock", Restroy'ö spafikräftige Posse, macht
hier enormes Glück; wenn wir doch nur gerechter gegen uns selbst wären.
Ich habe das Stück im österreichischen Dialekte im Theater an der Wien ge¬
sehen; die Wiener Gutmüthigkeit fehlt in der französischen Übersetzung. Wie
köstlich ist Scholz, wenn er den Brief an seine Geliebte sich vorlesen läßt und


[]

immer mehr „G'full" verlangt, bis er endlich zuletzt- „villz'pill G'full" darin
findet. Die französische Farce ist witziger, geistvoller, wenn man will; humo¬
ristischer unstreitig ist die Wiener. Mehrere zotige Witze, welche die deutsche
Originalausgabe hat, sind zum Vortheil des Stückes in der französischen Ueber-
setzung weggeblieben. Wie ich höre, ist man daran, den Lumpacivagabundus
zu übersetzen- Wir haben ein eigenes Malheur mit diesen Franzosen. Im
Roman haben sie zuerst mit der Übersetzung Jean Paul's und Hoffmann's
angefangen; im Theater beginnen sie mit dem Ncstroy. Die Maria Stuart,
die in das l'Ilüatrs frau<!ius in Lcbrunscher Berballhornung gespielt wird,
kann kein Deutscher als deutsches Eigenthum reclamiren. Uebrigens besteht
die Rachel darauf, daß man die Jungfrau von Orleans im Thiültre frau<?ais
gebe; wie man die arme Jungfrau verstümmeln wird, mögen die Götter wissen.
Die Rachel ist in letzter Zeit, seit sie von London zurückgekommen ist, ganz
eingenommen für englische und deutsche Dramen; da sie als eine geborne
Elsäfierin das Deutsche versteht und den jüdisch-elsässischen Dialekt sogar spricht,
so ist es natürlich, daß sie mehr sür Schiller als für Shakspeare Sympathien
hat. Sie fühlt es, daß sie eines erweiterten Wirkungskreises bedarf, um nicht
stabil, langweilig zu werden und außer der Mode zu kommen. Die italieni¬
sche Oper ist mit Rossini's Scmiramide wieder eröffnet worden; Pauline Garcia,
oder wie sie jetzt heißt, Garcia-Viardot. (sie hat Herrn Biardot, den Mitheraus¬
geber der Revue Jndöpendante geyeirathet) trat zum ersten Male darin auf.
Man hatte große Vorbereitungen getroffen; die Literatur, die Hausfreunde,
die zahlreichen Anbeter der geistreichen, obschon ganz unschönen Frau waren
auf ihren Posten. Der kräftige Contrealt der sehr gebildeten Sängerin ließ
sich hören — aber ohne Glück. Die GaremViardot hat Alles, um in der
französischen Oper zu brilliren, in der italienischen jedoch wird sie immer durch-
fallen. Die Leidenschaft, welche die Sonne Italiens ausbrütet, ist ganz anderer
Art, als diejenige, welche die französische Schule ausbildet.


Note: PH. P-

II.
Aus Stuttgart.


Unter der Intendanz des Baron von Tauben heim und der Oberregie
des Herrn Moritz sind bei unserer Bühne Kräfte rege geworden, die wahr¬
haft elektrischer Schläge bedurften, um aus langer Indolenz zum Selbstbe¬
wußtsein, zum Willen und Wirken zu erwachen. Wenn auch zuvor schon


[]

Schönes, ja zuweilen Bedeutendes geleistet wurde, so machte sich doch stets
eine gewisse Einseitigkeit fühlbar. Geschah das Eine, so unterblieb das Andere,
und el» Streben nach allseitiger Vervollkommnung, nach einer Einsetzung aller
Theile in die ihnen gebührende Würde war durchaus nicht vorhanden. Baron
von Taubcnheim führt ein mildes und zugleich streng gerechtes Scepter;
er glüht für die Kunst und achtet den Künstler; er sucht die ihm Untergebenen
nicht durch militärisches Kommando, was früher oft gerade eine entgegenge¬
setzte Wirkung hervorgebracht hat, sondern durch Liebe zum Festhalten an der
Pflicht zu bringen. Er mischt sich nicht in die technischen Details, welche den
freien Ueberblick über das Gesammtwcsen der Kunstanstalt hemmen, und be¬
hauptet so den eigentlichen und wahren Standpunkt des Intendanten.
Desgleichen hat Herr Moritz seinen Beruf als Oberrcgisseur des Theaters in
vollem Umfang erfaßt und benützt die ihm gegebene Stellung nach allen
Richtungen. Ungehemmt in seinem Streben, nicht beengt in seiner Thätigkeit
durch eine Gewalt von Oben, die ihr Vorhandensein aus Eitelkeit, aus Herrsch¬
sucht immer wieder vorschiebt, wenn sie in minder edle Hände gelegt ist, —
unbeschränkt in seinem umfassenden Wirkungskreise regt er mächtig die Flügel
seines Talentes, entwickelt er kräftigst seine Kenntnisse, die Resultate seiner
Studien. Mit dem lobenswcrthestcn Ehrgeize ausgerüstet, setzt er Alles ein,
um zu einem Ziele zu gelangen, das man freilich nur, eisernen Willens bewußt,
mit der größten Strenge gegen vermeintlich wohlerworbene Rechte, gegen
persönliche Anmaßung, dünkelhafte Opposition, Intrigue und Trägheit, aber
auch nur mit der größten Strenge gegen sich selbst erreichen kann. Allen
Rcformationsplänen stellt sich bekanntlich zuerst die Unlust und die vis inurtia«
der Kleingcister und der Herkömmlichen entgegen, aber der Reformator muß
und kann immer nur nach des Volkes Stimme trachten, welche von den Vor-
urtheilöfreien geleitet, nach der Mehrzahl der Erfolge richtet, und den Ein¬
flüssen persönlicher Anfeindung unzugänglich bleibt. Und diese gewichtige Stimme,
-Als die man durch allerlei entfernte und nahe Angrisse, durch Ausstreuungen
in Journalen und in den Eotcrien unserer Stadt zu influiren bemüht war,
spricht sich jetzt unumwunden und entschieden — an den Früchten erkennend —
für die Bestrebungen und die Handlungsweise des Herrn Moritz aus. Wie
dieser länger schon beim Schauspiel zu neuer Thätigkeit aufzustacheln, den
alten Schlendrian auszumerzen, eine gewisse Totalität in den Productionen
zu bewerkstelligen, alle einzelnen Theile zu einem Gesammtcharakter zu verbin¬
den, und eine gegenseitige Annäherung zwischen Publikum und Bühne durch
Wahl und Einrichtung der Stücke hervorzurufen und zu beseitigen bemüht


[]

war, so legte er in neuester Zeit auch Hand an die Oper, welche in vielen
Stücken bis daher einen festen Schlaf geschlafen hatte und uns gar oft an
das Gewölbe eines Trödlers erinnerte, worin verbleichte Sammetstühle aus dem
17- Jahrhundert, und frische Acojou Meubles, blinkende Kristalle und steinerne
Kruge, wie es der Zufall gefügt, friedlich rede» einander aufgestellt sind. Die
Freigebigkeit S. M. des Köüizs, das Vertrauen und der schnell erfassende,
für alles Schöne begeisterte Sinn seines Intendanten erleichterten Herrn M oritz
auch bei der Oper die Durchführung großartiger Ideen. Wäre ein früheres
Einschreiten bei dieser Branche des Theaters auch dergestalt wünschenswerth
gewesen, daß man Herrn Moritz sogar einen Mangel an Interesse für die
Oper zum Vorwurf machen wollte, so läßt sich doch sein Zögern mit dem
Umstände rechtfertigen, daß ihm daran gelegen sein mußte, zuerst seine Thä¬
tigkeit an einer erhabenen, bedeutende Mittel und Kräfte in der scenischen Be¬
handlung zulassenden und erfordernden Tondichtung zu erproben und durch -
ein mächtiges Werk jenen Vorwurf zu zernichten. Die Wahl siel auf Mey-
erbeer's Hugen otter und war nur als eine äußerst glückliche zu betrachten.
Man ist hier allgemein für die Kompositionen dieses Meisters eingenommen,
und harrte längst mit Spannung der Aufführung seiner Hugenotten entgegen.
Diese fand zuerst am Geburtstage S. M, des Königs den 27. September
statt. Wahrlich Großartiges, ja Unglaubliches hatte die Regie zu Wege gebracht,
wenn wir es mit dem vergleichen, was in den letzten Jahren vor unseren
Augen vorübergegangen ist. (Mit der Beurtheilung der Musik wollen wir
uns nicht beschäftigen; sie hat längst ihre Würdigung gefunden-) Jede Erwar¬
tung war weit, weit übertreffen; Aehnliches hatten wir hier in der Oper nicht
erlebt, und wir dürfen wohl behaupten, daß kein Theater Deutschlands Besse¬
res, Glänzenderes in der Scenerie aufzuweisen im Stande ist. Es war, als
ob die alte Bühne durch einen Aauberschlag zu einer neuen Gestalt verwan¬
delt worden wäre, die uns anfangs wie die Schilderung eines Feen-Mär¬
chens erscheinen mußte. Musik und Scene waren jetzt einmal in vollen Ein¬
klang gebracht, und liefen nicht, wie dies sonst wohl der Fall gewesen ist,
neben einander auf der Straße hin, gleich zwei durch ein Ungefähr zusammen¬
geführten Wanderern, von denen der Eine eine alte Blouse trägt, der Andere
in glänzendem Gewände einherschreitet, der eine vom Hunger geplagt, den
Kops zur Erde gesenkt während der Andere begeistert in die Sonne schaut.
Von dem kleinsten Farbcpünktchcn bis zu den großartigsten, den ganzen Raum
der Bühne in Anspruch nehmenden Gruppirungen war dem Scharfblicke im
Arrangement nichts entgangen, was den Totaleindruck in irgend einer Beziehung


[]

zu unterstützen vermochte, und die Bilder, die sich uns vor die Blicke stellten,
zeigten sich durchgängig völlig abgerundet, tadellos geschlossen. Die Effekte
der Gruppirungen, der Gestalten und ihrer Positionen an und für sich so wie
in ihrer Beziehung zu den andern, die Wirkungen der wechselnden Farben
waren so geschickt berechnet, wie sie kaum der begabte Maler vor der Leinwand
zu berechnen vermag. In diesen Tableaux herrschte zugleich eine Lebendigkeit,
wie wir sie ebenfalls in unserer Oper nie zuvor gewahr geworden waren. Zu
größerem Lobe der Regie aber gereicht der Umstand, daß sie ihre Anordnung
nicht blos auf das Todte, auf die äußere Pracht, sondern auch aus die Per¬
sonen des Dramas selbst ausgedehnt hat. Die Chöre waren nicht mehr die
Maschinen, welche den Compositionsstoss auszuprägen haben; sie nahmen in
jeder Beziehung an der Handlung Antheil und füllten lebhaft agirend die
Zwischenräume zwischen der einen und der andern musikalischen Aufgabe. In
der Wahl der glänzenden Costümes war Geschmack mit historischer Treue ge¬
paart.


Man muß die Bedeutung einer energischen geistvollen Regie nicht auf
die leichte Achsel nehmen, von ihr hängt gar oft der Erfolg nicht nur eines
Stückes, sondern eines ganzen Institutes ab. Eine Masse schlummernder Kräfte
zu entfesseln, und zum Bewußtsein zu bringen, und jedem dann erst die Stelle
anzuweisen, auf der es eine Wirksamkeits-Sphäre gewinnen kann, dazu gehört
ein entschiedenes Talent, und eine eben so entschiedene, unbeugsame Willenskraft
— Eigenschaften, welche Herrn Moritz manchen Feind, sicherlich aber auch die
Zustimmung und Achtung aller Gebildeten erworben haben. Wir brauchen kaum
zu bemerken, daß man bei uns nicht daran dachte, die Handlung in ein ande¬
res Land, in andere Zeiten zu verlegen, wie dies in München geschehen ist;
hier hegt man Gottlob keine Furcht vor gefährlichen Aufregungen durch die
Kämpfe der Hugenotten und Katholiken auf der dramatischen Scene. — Die
Besetzung der Rollen, um dieses Punktes kurz zu erwähnen, ließ vielleicht zu
wünschen übrig. Unsere Bühne hat in Jahresfrist zwei Sänger, Rosner und
Debler — durch den Tod, zwei Sängerinnen, Fr. v. Pistrich und Madame
Wallbach durch Entlassung verloren, und diese Verluste sind theilweise erst
durch neue Engagements zu ersetzen. Herr Rauscher war indessen ein treffli¬
cher Repräsentant sür Raoul, Fräulein Evers gab die Valentine mit Feuer
und mit einer Reife des Vertrags, welche der noch jugendlichen Sängerin
eine hohe. Rangstufe in der Kunstwelt sichert. Minder geeignet schien Fräul.
Haus, eine sonst verdienstvolle Künstlerin, für die Rolle der Margarethe von
Valois. Den Marcel gab Herr von Kater, den Grafen von Samt-Bris


[]

Herr Pezold, den Revers Herr Arndt u. s. f. Die Hugenotten fanden sowohl
bei der ersten Vorstellung, als bei den nun stattgehabten Wiederholungen stür¬
mischen Beifall. Für Stuttgart ist diese Oper als ein wahrer Gewinn zu
betrachten. — Möchte doch bei den andern Künsten sich ebenfalls ein solcher
Genius in unserer Mitte regen.


Note: Aug. s... er.

III.
Emanzipirre Frauen in England.


Die deutschen Journale haben in den letzten Monaten Nichts als Trau¬
riges aus England berichtet. Bald ist es die Armuth, bald die Chartisten,
bald der Aufstand der Arbeiter, bald der Brand in Liverpool. Man sollte
glauben, ganz England schwimmt in Thränen, die noch bitterer u,ut gesalzener
sind, als das Meer, in welchem es schwimmt.


Erlauben Sie mir, das) ich zur Abwechslung Ihnen einige jener komischen
Bilder vorführe, welche den Leser erinnern, das) der Stoff für den Griffel eines
Hogarth und die Feder eines Boz hier unverwüstlich bleibt. Ich führe Sie
in einen weiblichen Kreis, zu einem Meeting, welches vor wenigen Tagen in
Old Bailey Statt fand, um eine Association von Chartistinnen zur ge¬
meinschaftlichen Coopcration mir den Männern zu bilden. tem-Ah »ssoei-
ntion to ooopvritts vieil tus in-elf assoviation.) Ringsherum ist der kleine
schmutzige Saal mit Weibern von allen Sorten vollgestopft; einige führen
ihre Kinder an der Hand und sind in einem Auszuge, der beweist, daß sie
ihre Emancipation wenigstens gegenüber den Gesetzen der Mode bereits voll¬
führt haben- Andere, und nicht immer die Hübscheren, sind stattlich geputzt
und werfen erobernde Blicke auf die Männer, die ungefähr ein Biertheil der
Versammlung, gleichsam blos die Statisten dieser Scene bilden. Auf die
Motion einer kleinen viereckigen Schönen, Miß Susanne Fuge, welche von ihrer
mageren Freundinn, der ehrbaren Mrs- Wyatt unterstützt wird, überläßt
man dies Mal die Präsidentschaft an einen der Herren; Master Larcy wird
diese Ehre zugetheilt. Ein Herr Ritte»), ehemaliger Geistlicher, hält hierauf mit
viclerSalbung eine Rede über den gegenwärtigen Austand der Frauen und über die
gerechten Ansprüche, welche die schönere Hälfte des Menschengeschlechts auf die
Ausübung der politischen Rechte machen kann. Diese Rede ward mit ungetheilten,
aber ruhigem Beifall aufgenommen. Nun aber erhob sich ein Master Cohen, ein
Jude, dessen orientalische Gesichtsbildung und dunkelschwarzcs Haar gegen die


[]

Masse hellblonder neidischer Figuren ringsumher sonderbar abstach. Seine Rede
beweist, daß obgleich er, weil nicht im vollen Genuß seiner politischen Rechte,
Chartist, doch dem seine Nation bezeichnenden Gefühl der heiligen Scheu
vor dem Bestehenden, besonders wo die Veränderungen ins häusliche Leben
eingreifen sollen, nicht untreu geworden. Er erlaubt sich nämlich in vorsich¬
tigen, wahrhaft diplomatisch-feinen Wendungen, aber doch unumwunden die
Bemerkung, daß der Platz der Frauen am häuslichen Herde sei, nicht aber auf
der Kampfbühne der Politik. „Physisch betrachtet", sagt der unselige Redner,
„ist die Frau nicht zu politische» Functionen bestimmt. (Die Damenwelt steht
geräuschvoll von ihren Sitzen auf.) „Ich berufe mich desyab auf alle mit
ihren Kleinen hier anwesenden Mütter."


Ein überHand nehmendes Murren der Damen und die sich wiederholenden
Rufe „zur Ordnung" unterbrechen den Redner. Ein Master Saumon ruft ihm
zu, „ob er denn kaltes Wasser über die Vereinigung gießen wolle." Die Da¬
men beklatschen diese Aeußerung und Master Cohen kann seine Stimme nicht
erheben. Mrs. Susanne, die Secretairin der Versammlung, erhebt sich und
wendet sich an den vorigen Redner: „Ich möchte wohl wissen, warum Mr.
„Cohen uns erlaubt, hier zu poliren, wenn er der Meinung ist, wir sollten
„keine öffentlichen Funktionen bekleiden. Es gehören, sollte ich meinen, doch
„nicht eben viel physische Kräfte zum Votiren." Es ist indessen im Saale
einige Ruhe eingetreten und Master Cohen, der sich gar nicht für besiegt hält,
anwortet mit einem Argument a-I leim-lam. „Ich erlaube mir in aller Da-
„aueh und allem Respect die junge Dame, die so eben gesprochen, zu fragen,
„welche Art von Function sie bekleiden will? (Zur Ordnung! zur Ordnung!)
Ich will den Fall annehmen, sie befände sich im Unterhause als Reprä¬
sentantin» eines Fleckens und ein junger Gentleman, ihr Bräutigam oder
„Liebhaber, ebenfalls Mitglied der Kammer, suchte durch ihre Herzcnsverbin-
„dung einen Einfluß auf ihr Votum zu gewinnen; ich frage die junge Dame
„nun, was sie alsdann thun würde? Würde sie nicht das Interesse des Lar-
„des ein wenig aus dem Auge verlieren? (Zur Ordnung!) „Ich habe mich
„nicht von der Tagesordnung entfernt; im Gegentheil bin ich gar sehr für die
„Erweiterung der socialen Rechte der Frauen, will ihnen aber keine politischen
„eingeräumt wissen." Dieser gute Herr Cohen hat wahrscheinlich nicht gewußt,
kiirens c,»i<1 lemins, zios«it. Ich zitterte einen Augenblick lang, er möchte,
ein zweiter Orpheus, von den Mänaden zerrissen werden, so dicht drängten und
verfolgten ihn die Misses und Mistresses Chartistinncn, denen wahrscheinlich
daran lag, ihm einen Beweis von ihren „physischen Kräften" zu geben. Zu


[]

seinem Glücke verlangt eine Rednerin das Wort und lenkt dadurch die Auf¬
merksamkeit des Publikums von den Ketzereien des unseligen Dissenters al>.
Die neue Nednerinn ist Mrs. Maria Anna Walker, eine junge, in der That
nicht uninteressante Figur, die in der heutigen Sitzung ihre muidou spsecl,
hält. Diese ist aber von solcher Bedeutung, daß die Mrs. die Heldin der
Tagcsfltzung wird, und daß ich nicht umhin kann, die hervorragendsten Stellen
daraus mitzutheilen. „Ich bin erstaunt," begann sie, „über die Frage des
Master Cohen, so wie überhaupt über die ungeziemenden Bemerkungen dieses
Herrn (Bravo!) „Ich weise mit dem tiefsten Unwillen die Idee zurück, daß,
„wenn Frauen im Parliament wären, irgend ein Mann, sei er nun ihr Ge¬
liebter oder ihr Gatte, erbärmlich genug sein könnte, auch nur eine einzige
„von ihrer Pflicht und Ueberzeugung abzubringen." (Verdoppeltes Bravo¬
rufen von Seiten der Männer.) „Ich würde einen Mann, der durch solche
„Mittel Einfluß auf das Votum einer Frau zu gewinnen suchte, mit aller,
„einer Frau möglichen Geringschätzung, wie einen verächtlichen Schurken (-»
„vordem^ditto sevun<1ick) behandeln." (Neue Bravos.) „Die Ereignisse, die
„jetzt im Norden des Königreiches vorgehen, wo man unsre Brüder und schwe¬
rem in modcrvcrpestctc Kerker wirft, sind wohl geeignet, auch uns Frauen
„aus unsern stillern Wirkungskreisen ins öffentliche Leben zu rufen." (Ein
wahrer Donner von Beifallsbezeugungen: der Saal droht mit dem Ruf „Bravo,
Mrs. Walker!" einzustürzen.) „Was Lord Abingcr <der Präsident des special-
„Gerichtshofes) betrifft, so ist er des Namens eines Mannes unwürdig (Zischen
„und Pfeifen!), ist unwürdig, so Männer wie Frauen zu repräsentiren.
„Seine Herrlichkeit hat gesagt, die Chartisten wollten zur Macht kommen,
„um Allen Gesetze vorzuschreiben. Nun! Ich aber weise diese freche Lüge mit
„aller ihr gebührenden Verachtung zurück." (Beifallsklatschen von den Män-
ncrbänken, die Damen schwenken ihre Taschentücher.) Am Schlüsse ihrer, mit
vielem Feuer und lebhafter Gesticulation vorgetragenen Rede, sagt die Dame:
„Ihr, die Ihr nun mit Neugier sicher gekommen seid, seht nun ihr jungen
Männer, daß auch wir Frauen zu reden verstehen!" Sie setzt sich unter all¬
gemeinen Beifallsbezeugungen nieder und erhebt sich nur aus, um eine vom
Meeting ihr votirte Danksagung eine kleine Gegenrede zu halten, in welcher
sie die gegenwärtigen Damen auffordert, sich auf die Liste der Association auf¬
schreiben zu lassen.


Note:

[]

Zur Berichtigung.


Unter dem in Nummer 13 der Grenzboten erschienenen Artikel über die
Prcßverhältnisse in Mecklenburg-Schwerin ist aus Versehen des Setzers der
Name des Verfassers ausgelassen worden. Es ist Herr Alexander Wachenhusen.



Schlechte Gasthöfe und lange Füße.

In cinemArtikel der Allgau. Zeitung, „Von Marienbad nach Ischl" betitelt,
wird ein strenges Gericht über die böhmischen Gasthöfe gehalten. Streng, aber
wahr! Nur Eins fanden wir übertrieben. Der Verfasser jenes Reiseberichts
schildert die Betten, die er getroffen, wo eine Elle Körper (des Reisenden) in's
reiche Leben hineinschauen muß." Alle Wetter! Wie viel Fuß muß der Herr
Verfasser zählen? Wir wollen nicht hoffen, daß unsre, sonst so praktische Augs-
burgerin reisende Riesen zu Correspondenten hat, mit langen Gullivers-Beinen,
die um eine Elle über das Bett eines gewöhnlichen Menschenkindes hinausreichen.
Wir kennen nur einen reisenden Schriftsteller, den die Natur mit solchen
Beinen ausgestattet; der aber sitzt ruhig in Wien und ruht aus von den
Nachtwcichtergesängcn u'ut den aufregenden Reisen nach Paris und London.


W o z.

Das Trefflichste, was über Boz (Dickens) bisher noch geschrieben wurde,
steht in der eben erwähnten Zeitung in den Nummern 287 und 288. Wir
glauben, uns nicht zu täuschen, wenn wir Dingelstedt für den Verfasser dieser
sinnigen Charakteristik halten. _,


Bitte um Aufklärung.

Steinmann theilt folgende Xenie mit:


„Die Grenzboten, Zeitschrift von Kuranda und Comp.
„Deutschland und Belgien wollt ihr veramalgamircn! — Vergeblich,
„Freund, ist Euer Benus'n, Wasser und Fen'r sich nicht mischt!"

Wir verstehen weder den Witz noch den Sinn dieser Verse; wer ist das
Wasser und wer ist das Feuer? Was bedeutet das „und Comp."? Es scheint,
als ob der Verfasser absichtlich den Reim in seinen Versen vermeidet, sonst
könnte man ihm mit Lessing zurufen:


> „Ernst, der gern so neu als eigenthümlich spricht,
Nennt einen Stachclreim sein leidig Sinngedicht.
Die Reime hört' ich wohl, den Stachel fand ich nicht."

[]

Briefe aus Se. Petersburg



Note: Die Temperatur in der Stadt und im Palaste. — Allocution und Denkschrift
des Papstes. — Einheit der polnischen Kirche und Nationalität. — Die
Protestation des Papstes und die der französischen Deputirtenkammer. —
Die Cölner Angelegenheit und die russische Kirchenverfolgung in Polen.—
Unmöglichkeit eines Rücktritts von beiden Seite». — Schwierigkeit der
Lösung dieser Frage. — Einfluß der österreichischen Diplomatie auf
die Entschlüsse des Papstes. — Die russische Gesandtschaft in Rom und
ihre außerordentlichen Hilfsmittel. — Bestrebungen Rußlands, die päpstli¬
chen Actenstücke der Oeffentlichkeit zu entziehen. — Quelle der gehaltloser
Zeitungsberichte über russische Angelegenheiten. —

NAe im übrigen Europa, so hatten auch wir hier in Se. Pe¬
tersburg einen ungewöhnlich heißen Sommer; besonders hatte die
Hitze im Anfange des August eine in diesem nordischen Klima un¬
erhörte Höhe erreicht. Auch im kaiserlichen Palaste war die Lust
schwül und unerquicklich, und trotz der Kühlung der Marmorhallen
war die Temperatur daselbst noch schwerer und beklemmender, als
draußen. In den übrigen Theilen der Stadt konnte man wenigstens
eine lustige Stelle finden, wo der frische Windhauch, den die Newa
vom baltischen Meere herüberbrachte, die Glieder kühlend und stär¬
kend durchzog; im Palaste aber lebte Alles unter dem Sciroccohauch
des unheilschwangeren Südwindes, der mit Sturmsittigen über das
adriatische Meer aus dem fernen Süden her gekommen war. Die


M
[]

deutschen, englischen und französischen Zeitungen berichteten in jenem
Monat aus Rußland Nichts als Verschwörungen gegen den Kaiser,
Mordversuche der Großen und dergleichen mehr. Uns hier in Se.
Petersburg, denen die meisten fremden Journale, besonders die deut¬
schen, nur sehr spät zukommen, erscheinen dergleichen Berichte um
so seltsamer, wenn sie, wie dies Mal geschah, von einem Unsinn
und einer Unwahrheit zu einer entgegengesetzten umspringen. Nach
den Geschichtchen von den Ermordungen des Kaisers durch seine
Großen tischten nämlich die englischen Blätter das Umgekehrte auf,
wie der Czar im Palaste auf seine Minister, Adjutanten u. s. w.
förmlich eine Menschenjagd angestellt und mehrere derselben höchst¬
eigenhändig umgebracht habe. Ich kann Ihnen die Versicherung
geben, daß alle diese Fabeln nicht einmal das Verdienst des bon
trop-tlo haben und wirklich besser im Feuilleton zur Unterhaltung
abenteuer- und märchenlustiger Leser als im ernsten Theile polni¬
scher Blätter ihren Platz gefunden hätten. Denn der Kaiser aller
Reußen hat mit dem König der Franzosen (der sich, beiläufig be¬
merkt, auch hierin von den früheren Königen von Frankreich unter,-
scheidet), wenigstens das gemein, daß er kein Jäger, wie überhaupt die
Jagdliche in der kaiserlichen Familie nicht sehr heimisch ist. Eines aber
liegt all jenen Zeitungsberichten zu Grunde, nämlich die offenbare
Verstimmung und Mißlaune des Kaisers während der ersten Wo¬
chen des Augustmonates. Dies ist eine Thatsache, deren Bestätigung
mir nicht allein aus dem Munde aller Personen geworden, welche
Gelegenheit hatten, Nicolaus während jener Zeit im Paläste zu be¬
obachten, sondern die auch Jedermann sehr leicht wahrnehmen konnte,
der demselben auf der Straße begegnete. Sonst nämlich pflegte die¬
ser jeden ihn Grüßenden mit seinem durchdringenden Blick scharf
und forschend in's Auge zu fassen; in jenen Wochen aber war er
sichtbar zerstreut und erwiederte, ohne weiter hinzublicken, die zahl¬
reichen Grüße nur durch eine fast mechanische Handbewegung nach
dem Hute. Das stolze, männlich schöne Angesicht des Kaisers
pflegt sonst nicht gerade ein Spiegel seiner Empfindungen zu sein,
und diese gewaltige Natur übt ihre Herrscherkraft zunächst an sich
selbst aus. Es mußte also etwas Bedeutenderes sein, als eines der
europäischen Zeitungsmärchen, etwa von einem Tscherkessen-Sieg,
oder von einer Bojarenverschwörung, was ihn aufregte und verstimmte.


[]

In der-That auch hatte die sorgenschweren Falten dieser Stirn ein
Gewichtigeres hervorgerufen; eine entfernte, alterschwache Hand hatte
zitternd und verborgen einen befiederten Pfeil geschleudert und der
hatte die Achillesferse deS Autokraten, den wunden Fleck seiner Herr¬
schaft getroffen. ES war nämlich um diese Zeit ein Courier der
russischen Gesandtschaft zu Rom eingetroffen, dessen Depeschen die
Allocution des Papstes vom I9ten Juli nebst einer Denkschrift deS
römischen Cabinets nach Se. Petersburg brachten. In letzterer
waren alle Beschwerden der katholischen Kirche Polens, so wie alle
Nachgiebigkeiten und Zugeständnisse aufgezählt, welche die russische
Negierung nach einander den Päpsten Pius VI. und VII., Leo XII.,
Pius VIII. und neuerdings noch Gregor XVI. eöcamvlirt hat. Dies
letzte Wort ist, wenn auch etwas hart, doch vollkommen wahr;
denn auf dem falschen Wege, den der Kaiser in dieser Beziehung
eingeschlagen, war ein offenes, loyales Benehmen nicht möglich.
Um seinen Zweck, die vollständige Vernichtung der polnischen Na¬
tionalität durch die Zerstörung ihres letzten Bollwerkes, der katholischen
Kirche, zu erreichen und damit eine von seinen Vorfahren seit Ka¬
tharina II. ererbte Aufgabe endlich zu erfüllen, war kein anderer
Weg tauglich, als der schon von dieser Kaiserin eingeschlagene der
versteckten, hinterhältigen List. Und auf dieser Bahn ist denn auch
der jetzige Kaiser in beharrlicher Consequenz fortgeschritten. Nur
darf man mit Recht darüber sich wundern, daß Rußlands sonst so
scharfsichtiger Herrscher nicht erkannt hat, wie doppelt gefährlich ein
solches Unternehmen sei. Denn einer Seits kann es nie zu glück¬
lichem Ende geführt werden, weil Polen selbst in seinem jetzigen,
gelähmten Zustande noch nationale Kraft genug besitzt, um alle der¬
gleichen seine volksthümliche Enstenz untergrabende Versuche zum
Scheitern zu bringen. Andrer Seits aber ließe sich ein solches
Streichen Polens aus der Völkerreihe auf keinerlei Weise, weder
durch eine moralische noch durch eine politische Nothwendigkett, ja
nicht einmal aus dem Gesichtspunkte eines wohlverstandenen Inter¬
esses Rußlands selbst rechtfertigen und dürfte wohl über kurz oder
lang ein thatkräftiges Einschreiten der beiden betheiligten Grenz¬
mächte hervorrufen.


Mit wie vieler Sanftmuth und fast ehrfurchtsvoller Schonung
Rußlands die päpstliche Allocution vom I9ten Juli auch geschrieben


30 »
[]

ist, so behält sie darum doch nicht minder den Charakter einer sehr
energischen Protestation des Oberhauptes der katholischen Christen¬
heit gegen die Verletzungen der polnischen Kirche, deren sich Nu߬
land seit der unseligen ersten Theilung Polens bis auf unsere Tage
schuldig gemacht hat. Das geheimnißvolle Helldunkel in der Sprache
dieser Allocution läßt dennoch fast durchschauen, daß in diesem Ac-
tenstück die polnische Nationalität unter der polnischen Kirche zum
Theil unverstanden ist. Es kann daher diese Protestation zu Gun¬
sten der polnischen Kirche auch sür eine zu Gunsten deS politischen
Zustandes von Polen gelten^'). Und wenn auch jenes offenbar,



Note: Anm. d. Red.

[]

dieses aber nur zwischen den Zeilen darin zu lesen ist, so hat sie
doch wenigstens eben so viel, wo nicht mehr Werth, als die all¬
jährlich in der Adresse der französischen Deputirtenkammer wieder¬
kehrende Formel: „I^-t indi,o»i>IIt«; lwlomiigo n«z vvrii'-t pas." Denn
die Worte des heiligen Vaters, für den jeder Katholik täglich betet,
dringen tiefer in's polnische Volk und werden von ihm lebendiger
erfaßt, als die eines Königs von Frankreich, den er nur dann ken¬
nen wurde, wenn er Napoleon hieße. Dies Alles versteht Ru߬
lands Kaiser gar wohl und darum haben diese Depeschen einen
solchen Eindruck auf ihn gemacht. Der Czar gehört nicht zu jenen
hochmüthigen, kurzsichtigen, beschränkten Geistern, wie es deren über¬
all, aber besonders in Nußland giebt, die den Papst verächtlich ei¬
nen „armseligen, unbedeutenden Mönch" nennen; im Gegentheil
weiß Nicolaus, daß der päpstliche Stuhl in dieser Angelegenheit
nicht mir auf das katholische Frankreich und Oesterreich, sondern
selbst auf den protestantischen Theil Deutschlands rechnen kann.
Deal man muß eS zur Ehre Deutschlands anerkennen, gerade in
letzteren Landen ist die Ehrfurcht vor allgemeiner Religionsfreiheit
so groß, daß gar Viele, selbst eifrige Preußen und Protestanten dem
verstorbenen König von Preußen, in Bezug auf die Cölner Angelegen¬
heit, Unrecht gaben, wenn auch vielleicht das strenge Recht des Ge¬
setzesbuchstaben auf seiner Seite war. Und doch was war die Köl¬
ner Angelegenheit und der daraus hervorgegangene Zwiespalt zwi¬
schen Preußen und Rom in Vergleich mit der schon jetzt zwischen
dem heiligen Stuhl und dem Petersburger Cabinet bestehenden Un¬
einigkeit? Nie wohl wäre es irgend einem Vernünftigen eingefallen,
Friedrich Wilhelm III- einen Unterdrücker des Katholicismus zu
nennen; wenigstens hat keine Handlung seiner Regierung dazu be¬
rechtigt. Ganz das Gegentheil aber ist bei Kaiser Nicolaus der
Fall, und eben, weil er sich sowohl seiner Schuld bewußt ist, als
auch erkennt, daß er beim Eintritt eines offenen Bruches mit dem
päpstlichen Stuhl auf keine Bundesgenossen unter den europäischen
Mächten rechnen kann, eben deshalb ist er über das Actenstück vom
töten Juli tief bekümmert. Denn dieser erste Schritt kann andre
von ernstlicherer Natur herbeiführen; nun der Papst ein Mal seine
Stimme erhoben, — und das kann er nicht wieder ungeschehen
machen, — nun darf er nicht ablassen, bis ihm Genugthuung,


[]

vollkommene Gerechtigkeit zu Theil geworden. Und hier liegt eben
der nicht ein Mal mit dem Schwert zu durchhauende gordische Kno¬
ten. Denn so wenig der Papst von seinen Forderungen abstehen
kann und darf, so wenig vermag sie Rußland zu gewähren. Man
ist nämlich russischer Seits in den letzten zehn Jahren in dem Sy¬
stem der allmäligen, aber diesen, der geräuschlosen, aber nachhaltigen
Zerstörung der polnischen Nationalität und der Vernichtung deS Katho¬
licismus mit so beharrlicher Consequenz und Festigkeit fortgeschritten;
man hat diesem System selbst, ermuthigt durch die Theilnahmlosig-
keit Europas und die schon gewonnenen glücklichen Resultate, eine
solche Ausdehnung gegeben, daß es jetzt unmöglich ist, auf der glei¬
tenden Bahn anzuhalten oder umzukehren, wenn man es nicht ris-
kiren will, das ganze Gebäude der russischen Regierungskunst in
seinen tiefsten Grundfesten bis zum Umsturz zu erschüttern. Was
in Polen geschah, hängt gar eng zusammen mit dem, was
in den deutschen Ostseeprovinzen und anderswo in Bezug auf
Sprache und andere Elemente nicht russischer Nationalitäten gesche¬
hen ist, und die künstliche Zusammenfügung der widerstrebenden
Gliedmaßen des russischen Staatskörpers erlaubt es nicht, einen
Ring der Kette zu lösen, ohne daß das Ganze auseinanderfalte.
Wodurch in so vielen andern Fällen Nußland verwickelte Fragen
zu seinen Gunsten zu entwirren verstand, diplomatisches Hinhal¬
ten und schlaue Gewandtheit, das will ihm, wie es scheint, in
dieser Angelegenheit nicht aushelfen. Jedenfalls kann es ihm nicht
gelingen, durch bloße wortreiche, aber thatenleere Diplomatie seine
frühere Stellung, der Römischen Curie gegenüber, wieder zu erlan¬
gen; denn dort überwacht es jetzt mehr als je mit scharfen, for¬
schenden Blicken und ziemlich erfolgreich die Diplomatie des Fürsten
Metternich. Darf man einigen Andeutungen in Briefen hochstehen¬
der, sehr wohl unterrichteter Personen, die aus Rom hier angelangt
sind, trauen, so ist die östreichische Regierung und ihr mit Recht so
bedeutender Einfluß in Rom den in Rede stehenden Schritten des
päpstlichen Senilis nicht fremd geblieben. Und dies läßt sich um so
eher glauben, als man dadurch ein Gegengewicht wider die slavisch¬
russischen Umtriebe erhielte, welche, bald an die Sprache, bald an die
Religion einzelner österreichischer Provinzen sich anlehnend, den Zu¬
sammenhang derselben mit dem ganzen österreichischen Staatskörper


[]

zu untergraben suchen. Wenn dem wirklich so ist, so war dies ein
Meisterstück diplomatischer Gewandtheit österreichischer Seits; denn
die Allocution und die Denkschrift sind in Rom mit einer solchen
Geheimhaltung vorbereitet worden, daß die sonst so fein spionirende,
Russische Gesandtschaft nicht eher Wind davon erhielt, als bis die
Sache nicht mehr rückgängig zu machen war. Den Kaiser, der auch
noch nicht einen Tag vorher von der Sache unterrichtet war, trafen
daher Allocution und Denkschrift wie ein Blitzstrahl aus heiterem
Himmel und mit Recht war er, wie ich Ihnen aus guter Quelle
versichern kann, auf den Russischen Gesandten in Rom, Grafen
Gurieff, sehr erzürnt. Freilich war es auch nicht anders zu erwar¬
ten, da der Graf nur ein Mann von sehr mittelmäßigem, politischem
Talent ist und seine ganze Befähigung zur Diplomatie nur in sei¬
ner Gewandtheit im Jnlriguenfache, in feinen angenehmen äußeren
Manieren, seinem geschmeidigen Wesen und einer äußerlichen De¬
muth besteht, Charakterzüge, die sonst zwar beim päpstlichen Hofe in
Gunst zu sein pflegten, für den diesmaligen Fall jedoch nicht aus»
reichten. Das wußte aber der Czar selbst sehr wohl und die russische
Gesandtschaft in Rom war daher auch niemals lediglich sich selbst
überlassen, sondern eS kamen von Zeit zu Zeit nicht officielle Ge¬
sandte ihr zu Hülfe. So hat unter andern der Großfürst Thron¬
folger zwei Mal Rom besucht, um dem heiligen Vater seine Huldi¬
gung darzubringen. Ueberhaupt wurden alle, diplomatische und au¬
ßerdiplomatische Mittel in Anwendung gesetzt, um alle Personen,
welche die Umgebung Seiner Heiligkeit bilden, den russischen Inter¬
essen geneigt zu machen. Die werth- und geschmackvollsten, dem
Charakter eines jeden Einzelnen angemessensten Geschenke wurden
mit Freigebigkeit, ja mit Verschwendung vertheilt. Dazu kamen
noch die schönsten und diplomatischsten Frauen Rußlands, die wie
an manchen anderen Höfen, so auch hier mit dem Zauber ihrer
Reize die Pläne ihres Gebieters unterstützten. War es trotz dieser
von Nußland erkauften Umgebung des Papstes dennoch, — freilich
selten genug, — einigen wahrheitsliebenden Männern gelungen,
zu dem Oberhaupte der Gläubigen Zutritt zu erhalten, und ihm
die traurige Wirklichkeit und den Ruin der polnischen Kirche darzu¬
stellen, so fanden sich hundert Andere bereit, ihm das Gegentheil zu
versichern. Um die Glaubwürdigkeit der unwillkommenen Bericht-


[]

erstatter zu verdächtigen, scheute man sich nicht, sie dem Papste als
Jakobiner und Anhänger deS Ubbo Lamennais zu schildern, welche
sich der Religion nur als eines Deckmantels bedienen wollten, um
in Polen einen neuen Aufstand anzufachen, während es dem Kaiser
kaum noch gelungen sei, die Wunden der letzten Revolution zu ver-
harschen. Diesem bedeutenden Einflüsse Rußlands in Rom ist eS
denn auch zuzuschreiben, daß es dieser Macht möglich ward, nach¬
dem durch anderweitigen Einfluß der Papst zur Erfüllung seiner
Pflicht als Oberhaupt deS Katholicismus veranlaßt worden, dennoch
wenigstens die Veröffentlichung der betreffenden Actenstücke im Diaria»
6i Il,om.i, dem officiellen Blatt des römischen Cabinets, zu hinter¬
treiben. Rußlands Staatsmänner wissen sehr wohl, welch unge¬
heuern Einfluß auf die öffentliche Meinung Europas religiöse An¬
gelegenheiten in unsern Tagen haben und wie nachtheilig die Be¬
kanntmachung und Besprechung der päpstlichen Beschwerdeschriften
auf die allgemeine Stimmung einwirken würde, die man durch so
viele künstliche Mittelchen zu Gunsten Rußlands zu erhalten sucht.
Daher strebte das Petersburger Cabinet darnach, die Bedeutsamkeit
der vielerwähntm Urkunden dadurch möglichst zu schwächen, daß
man sie, so weit es geschehen konnte, der öffentlichen Discussion ent¬
zog»). Und dies ist ihm auch durch ein auf die kindische Leichtgläu¬
bigkeit der europäischen Zeitungswelt, — so der Redacteure, wie der Leser,
— berechnetes, barockes Mittel ziemlich gut gelungen. Jene abge¬
schmackten Fabeln nämlich, mit denen im Juli und August dieses
Jahres fast alle europäischen Journale aus Petersburg ihre Leser
unterhielten, jene mehr als unwahrscheinlichen Märchen von Ver¬
schwörungen und Mordversuchen gegen den Kaiser, den nur die
Geistesgegenwart des Königs von Preußen vom Tode rettete, sodann
die lächerlichen Geschichtchen von dem Stuhle mit zwei verborgenen
Schwertern u. s. w., u. s. w., später die, wenigstens damals noch



Note: Anm. d. Red.

[]

nicht begründeten Gerüchte von der Uneinigkeit, die plötzlich zwi¬
schen den beiden verschwägerten Monarchen ausgebrochen, — alle
diese Dinge hatten nicht im Cabinet der verschiedenen ZeitungSre-
dacteure, sondern meist im hiesigen Staats-Cabinet ihren Ursprung,
von wo aus man dieselben aus directem und aus indirectem Wege,
durch befreundete und feindliche Blätter in's Publikum brachte. Da¬
mit ward der Zweck erreicht, den ich oben angedeutet, die Aufmerk¬
samkeit der Massen wenigstens, wie auch die vieler Höherstehenden,
ward von jenen so wichtigen Ackerstücken auf lange Zeit abge¬
lenkt. -


II.


Note: Rußlands E!nfluß in Asien und dessen Anerkennung durch England. — Die
Türkei und Polen. — Seine Stellung zu Europa, besonders zu Deutsch¬
land, verglichen mit der Preußens. — Versuche z,ur Constituirung einer
russischen Nationalität durch Einheit der Sprache und Religion. — Re¬
formen in der innern Bcrwaltung. — Bisherige Gebrechen derselben. —
Unterschleife und Betrügereien der Großen. — Eine Stadt auf dem Pa¬
piere oder in der Tasche. — Ungenügende pccunicire Stellung der Beam¬
ten. — Finanzielle Verhältnisse. — Das Leibcigenthum in seinem Zusam¬
menhange mit allem Obigen. — Der Kaiser, die Großen und das Volk
in ihrer gegenseitigen Stellung. —

Selten noch hat eine Zeitung so freudiges Aufsehen am hiesi¬
gen Hofe erregt, als das englische Journal, in welchem jene Rede
Robert Peel's enthalten war, die so stark durch Europa widerhallte,
und in welcher der britische Minister Englands Stolz so tief de¬
müthigte, indem er dankend den großmüthigen Schutz anerkannte,
welchen Rußland den englischen Interessen in Asten angedeihen läßt.


In der That auch hat Rußland seinen Einfluß in diesem Welt¬
theil so bedeutend ausgedehnt, wie eS nie früher der Fall war und
kann es jetzt ruhig mit übereinander geschlagenen Armen den Tag
abwarten, wo ihm, ohne sein weiteres Zuthun, durch die bloße Zer¬
rüttung des türkischen Reiches und durch seine geographische Berech¬
tigung, Konstantinopel als die dritte Hauptstadt seines Riesenreiches
zufallen wird. Und das sollten einerseits die übrigen europäischen


[]

Mächte eigentlich ungehindert geschehen lassend, könnten sie dadurch
ein Anderes, die Wiederherstellung der polnischen Nationalität, wenn
auch nur nach den Bestimmungen des Wiener Congresses, erlangen;
so wie anderer Seits Nußland Letzteres von selbst thun und freiwil¬
lig den bisher eingeschlagenen falschen und verderblichen Weg ver¬
lassen sollte. Denn Polen, so wie es mit den andern, nicht ur¬
sprünglich russischen Provinzen geschieht, seiner Nationalität in Reli¬
gion und Sprache zu berauben, wird Rußland nie gelingen. Es
konnte durch sein numerisches Uebergewicht im Zusammentreffen mit,
den inneren Gebrechen des Polnischen Aufstands, denselben erdrücken
und hält eben dadurch auch jede neue, rein materielle Schilderhebung
nieder. Aber eine Jnsurrettio», welche durch die fortwährende An¬
tastung der beiden Palladien Polens, seiner Religion und seiner
Sprache, hervorgerufen würde, hätte gerade in diesen Elementen eine
belebende Kraft, die den Kanonen nicht erläge. Polen ist in seiner
ganzen Geschichte zu eigenthümlich national und zu durchdrungen Vom
katholisch-christlichen Geiste, als daß es sich je, gleich den andern rus¬
sisch gewordenen Landstrichen, in eine fremde Nationalität, in einen
ketzerischen Glauben verschmelzen konnte. Polen's Aar hat in seiner
großen Vergangenheit Secrs einen zu hohen Schwung genommen,
als daß er sich vor dem zweiköpfigen russischen beugen könnte; der
Glanz einer Krone, welche auf dem Haupte eines Casimir, eines
Sobiesky saß, kann vor dem Kaiserdiadem nicht erbleichen. Wohl
aber können sie beide brüderlich um ein Haupt sich schlingen; wohl
können beide Nationen neben einander die schöne Bahn der Civili¬
sation im allgemein christlichen Sinne betreten. Andrer Seits aber
möge man in Europa bedenken, daß eS Rußlands eigentliche Auf¬
gabe ist, jenem Welttheil, aus dem dereinst die ersten Anfänge der
Cultur kamen, jetzt ein Träger der europäisch-christlichen Bildung zu
werden. Man vergesse nicht, daß ohne die Bestrebungen Rußlands
jener ganze, weite, seiner Macht unterworfene Länderstrich eine Wü¬
stenei, eine von wilden, räuberischen, einander blutig aufreibenden Horden



Note: Anm. d. Red.

[]

durchstreifte Steppe wäre, da doch jetzt wenigstens eine Staffel künf¬
tiger Cultur dafür gelegt ist. Ueberhaupt ist Rußland, wie wir
glauben und wie manche weitere Stelle dieses Briefes darthun wird,
für Europa und besonders für Deutschland nicht so zu fürchten als
Manche meinen. Es ist durchaus nicht innerlich stark genug, um
jemals der Unabhängigkeit einer der andern Großmächte gefährlich
zu werden, und in der Reihe derselben nimmt es mit Recht in jeder
Beziehung nur den letzten Rang ein. Preußen z. B. das kaum
den fünften Theil von Rußlands Bevölkerung besitzt, ist bei Weitem
mächtiger als dieses und braucht einem Kampf mit ihm gar nicht
zu scheuen. Denn Preußen besitzt alle jene Prinzipien einer mora¬
lischen Macht, die heutigen Tages allein den Ausschlag geben; Ru߬
land dagegen fehlen diese bisher noch ganz. Ein ehrgeiziger, kriege¬
rischer Fürst auf Preußens Throne könnte der Ruhe Europas weit
gefährlicher werden, als ein russischer Kaiser, weil ersterer sich auf
seine ganz Deutschland wie eine Kette durchziehende, von einem
Geiste durchdrungene, militärisch eingeübte Bevölkerung stützen könnte.
Was aber wäre Rußlands Stütze? Die Bewohner seiner uner¬
meßlich weit hingedehnten Provinzen sind zwar tapfer, d. h. sie ste¬
hen im Feuer unerschütterlich da, aber ihnen fehlt alles zusammen¬
haltende Gefühl, jeder Aufschwung, den Ehre, Nationalität oder
Religion einem Heere verleihen.


Im Bewußtsein nun dieser innern Haltlosigkeit und Schwäche
seines Reiches, „dieses auf thönernen Füßen ruhenden Erzkolosses,"
geht das Hauptbestrcben des jetzigen Kaisers dahin, die heterogenen
Bestandtheile, welche das von seinen Vorgängern auf Rußlands
Throne ihm überkommene, in Bezug auf Nationalität wahrhaft chao¬
tische Reich bilden, in eine national-russische Einheit zu verschmelzen.
Es ist dies eine würdige Aufgabe für einen von edlem Ehrgeiz er¬
füllten Regenten, und wenn es ihm gelingt, sie zu Ende zu bringen,
so wird er sich nicht allein in der Geschichte seines Vaterlandes, son¬
dern auch in den Annalen der europäischen Gesittung überhaupt ei¬
nen ehrenwerthen, hervorragenden Platz erworben haben. Bisher
hat er mit der ihm eigenen Energie, freilich oft nur auf gewaltsam
zerstörendem Wege, alle Hindernisse, die sich seinen constituirenden
Maßregeln entgegenstellten, hinwegzuräumen gewußt, so daß die
früher ganz lose und blos äußerlich an einander geketteten Elemente


[]

seines Staates jetzt schon einigermaßen wenigstens von einem inner¬
lichen, zusammenhaltenden Bande umschlungen werden. Die Haupt¬
bestandtheile einer jeden Nationaleinheit sind: Religion und Sprache.
Ein kaiserlicher Ukas nun hat verordnet, daß die russische Sprache
im ganzen Kaiserreich die officielle sei) Jedermann muß sie, als die
einzig nationale, kennen, wenn er auch nur auf das geringste bür¬
gerliche oder militairische Amt Anspruch machen will. So verschmelzen
sich alle bisher durch die Sprache fremdartigen Volkstheile Rußlands
zu einer einheitlichen Volksthümlichkeit in diesem Bezüge, und zwar
ist dies, — hier wie in allem Folgenden ist Polen immer als Aus¬
nahme zu betrachten — auf nicht allzu gewaltsame Weise geschehen,
denn die wenigsten der betreffenden Stamme besaßen irgend ein le¬
benskräftiges Element, im Gegentheil hielten sich die meisten nur
an kleinlichen Localsitten und an längst auf die Gegenwart einflu߬
loser historischen Erinnerungen ihres Ursprunges und früherer Selbst-
ständigkeit oder nicht russischer Oberherrschaft fest, die ihnen dann
keine nachhaltige Stütze abgaben gegen den Willen des Czaren.
In Betreff der Religion sind hohem Orts die Verhältnisse der
Nicht-Griechisch-Katholischen dergestalt geordnet, daß diesen Glau-
bensbekennern wenigstens factisch keine vollkommene bürgerliche Gleich¬
stellung gewährt ist, sie vielmehr gegenüber der herrschenden Kirche
nur als Geduldete erscheinen. So hat sich denn auch in diesem
Punkte nach und nach eine Einheit gebildet und bildet sich noch,
indem der Uebertritt zum griechischen Glaubensbekenntniß immer häu¬
siger wird.


In Betreff der inneren Verwaltung des Reiches ist es dem
regierenden Kaiser ebenfalls geglückt, merkliche Verbesserungen her¬
beizuführen; alle eingewurzelten und verjährten Mißbräuche der
russischen Administration mit einem Schlage abzuschaffen, wäre mehr
als eine herkulische Reinigung eines Augiasstalles. Pflichtverletzun¬
gen der gröblichsten Art, Erpressungen, Aussaugereien deS Volkes,
felle Bestechlichkeit, Unterschleife und Beraubungen des Staatsschatzes
sind Uebelstände und Gebrechen, die, der russischen Beamtenwelt wie
angeboren scheinen. Vom gemeinen Kosacken bis herauf zum Ge¬
neral, vom Staatsminister bis zum letzten Schreiber, vom obersten
Gerichtspräsidenten bis zum Kanzleidiener herab bewuchert sich Alles
mit offenem Raub auf Staatsunkosten. Ganze Regimenter eristiren


[]

oft mir auf dem Papier, während der Staat alle dafür in Rech¬
nung gesetzten Ausgaben bezahlt, als beständen sie in Wirklichkeit.
Alte Uniformen, die den Militair-'Commissionen als unbrauchbar
zurückgestellt werden, vertheilt man an anderen Orten wiederum
statt neuer und die fern von der Hauptstadt, also außerhalb des
Gesichtskreises der persönlichen Ueberwachung des Kaisers, garniso-
nirenden Regimenter sind in Folge dieses Betruges oft in Lumpen
und zusammengenähte Fetzen alter Uniformen gekleidet. Ost würde
wirklich der Anzug eines italienischen Lazzarone oder die aus den
Straßen- Dublin'S zusammengerafften Hüllen, die einen armen Jr-
länver bedecke», noch gut zu nennen sein, neben der Bekleidung eines
russischen Soldaten. Mit den auf diese und andere schmachvolle
Arten zusammengestohlencn Summen befriedigen die Großen ihre
Laster und elenden Leidenschaften. Das grobe Beinkleid eines Re¬
giments verwandelt sich in kostbare Shawls oder prächtige Teppiche
für die Maitresse des Generals; der Solbabzug, um den der arme
Soldat betrogen wird, verschafft seinem Chef die Mittel, am Phn-
rotische, das Lieblingslaster der russischen Adligen, ein keckes v-i, tummle
zu rufen. Der verstorbene Kaiser Alexander verzweifelte, nachdem
er ungeheure Anstrengungen in dieser Beziehung gemacht, daran, diesen
Krebsschaden der allgemeinen moralischen Verdorbenheit heilen zu
können und ergab sich resignirt darein, ihn zu dulden. Von der
Höhe, die unter seiner Herrschaft dieser Unfug erreicht hatte, will
ich Ihnen ein schlagendes Beispiel mittheilen.


Der damalige Minister des Innern legte eines Tages dem
Kaiser einen Bericht vor, damit er ihn zu der Verausgabung unge¬
heurer Summen berechtige, welche zur Erbauung einer Stadt dienen
sollten, die der Kaiser am Ufer eines großen, schiffbaren Flusses an¬
zulegen befohlen hatte, wodurch der commercielle Betrieb und der
Wohlstand der Bewohner eines bedeutenden, von diesem Fluß durch¬
strömten Landstriches erhöht und befördert werden sollte. Der Kaiser
unterzeichnete. General Diebitsch, der General-Adjutant und Liebling
des Kaisers, der sich zufällig in diesem Augenblick im Ccibinet
desselben befand, nahm sich diese Thatsache zu Papier. Einige
Zeit nachher begleitete er den Kaiser auf einer Reise in's Innere des
Reiches, und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gab er dem
Postillon den Befehl, die Richtung nach der vorgeblichen Stadt ein-


[]

zuschlagen. Es war Abend geworden und der Kaiser, der sich mit
seinem treuen Diebitsch allein in der Kutsche befand, war richtig
eingeschlafen. Als der Wagen nun plötzlich an der Poststation an¬
hielt, erwachte er und frug seinen Begleiter: — „Wo sind wir,
mein Bester?" — „Ew. Majestät befinden sich in diesem Augenblick
in der neuen, auf Ihren Befehl erbauten Stadt, Alerandrvw-CharaSzo."
— „Sehr schön; ich will die Nacht über hier mich ausruhen und
mir morgen die Stadt ansehen. Aber was ist das?" frug der Kai¬
ser, als er beim Aussteigen Nichts als ein einsames Posthaus und rings¬
umher nur eine weite Steppe sah, in deren alleinigem, ungestörtem
Besitze sich die friedlich weidenden Pferde und Kühe des Postmeisters
befanden. „Sie haben sich offenbar geirrt, Diebitsch; hier ist ja
keine Stadt zu sehen." — „Verzeihen Ew. Majestät; die Stadt ist
wirklich da, nur stehen die Häuser blos auf dem Papiere, oder viel¬
mehr sie stecken in der Tasche des Ministers." — „Lassen Sie an¬
spannen und sprechen Sie mir nicht weiter davon; ich verbiete es
Ihnen," entgegnete Alerander. —


Der jetzige Kaiser nun hat unermüdlich ein scharfes Augen¬
merk auf sämmtliche Verwaltungszweige und bestraft alle sich kund
gebenden Veruntreuungen mit unerbittlicher Strenge, die denn frei¬
lich auch ihre Urheber seinem Auge um so sorgfältiger zu verbergen
suchen. Des Kaisers Wille allein ist keinesweges hinreichend, um
diesen am Marke des Staats saugenden und sein Wohl verzehrenden
Krebsschaden auszurotten.


Um diesen Zweck zu erreichen, müßte zunächst die Lage der
öffentlichen Beamten verbessert werden, deren Gehalte mit den Noth¬
wendigkeiten nicht blos deS Lurus, sondern selbst des täglichen Le¬
bens im schreienden Mißverhältnisse stehen. Ein gemeiner preußischer
Grenzaufseher hat einen höheren Gehalt, als ein Douanen-Director
in Rußland und der Sold eines preußischen Secondelieutenants ist
nur um ein Weniges geringer, als der eines russischen Oberstlieute¬
nants und Regimentschefs. Nur die Professoren der höheren Bil¬
dungsanstalten und die Diplomaten sind reichlich atisgestattet.
Letzterer Theil der gouvernementalen Beamten verschlingt eine unge¬
heure Summe aus den Staatseinkünften; so haben z. B der vorige
und der jetzige Kaiser den russischen Gesandtschaften zu London,
Paris und andern großen Höfen sehr oft einen unbegrenzten Credit


[]

angewiesen, woraus denn auch die glücklichen Erfolge der russischen
Diplomatie erklärt werden müssen. So lange daher dieser Uebel¬
stand der zu geringen Besoldungen besteht, werden auch die härtesten
Strafen, die den Missethätern drohen, nicht vermögen, alle Beamten
von Bestechlichkeit oder Unterschleifen abzuhalten.


Um aber die pecuniäre Stellung der Staatsbeamten zu ver¬
bessern, müßte natürlich der russische Staatsschatz im Stande sein,
alle seine zahlreichen Ausgaben auf normalem Wege zu decken; wie
wenig dies aber der Fall ist, beweisen die sich immer erneuernden
Anleihen. Rußland besitzt ungeheure, noch unausgebeutete Hilfs¬
quellen; aber ihre Entwickelung wird durch die Leibeigenschaft ver¬
hindert. Alle Versuche des Kaisers, den öffentlichen Wohlstand und
die Moralität seines Reiches auf festen Grundlagen zu sichern, wer¬
den unfruchtbar sein, so lange die eiternde Wunde des russischen
Gesellschaftszustandes offen bleibt. Geschlossen kann sie aber bei dem
starren, verblendeten Eigennutz des russischen Adels nur vom Kaiser
selbst werden. Von dessen erstem Versuche dieser Art und seinem
traurigen Erfolge habe ich ihnen schon berichtet; seitdem sind neue
Schritte in dieser Beziehung nicht geschehen.


Ich muß bei dieser Gelegenheit noch ein Mal auf eine schon
in früheren Briefen aufgestellte Behauptung zurückkommen, weil
man, besonders im liberalen Theile des Publikums, ihr schwerlich wird
glauben wollen, obgleich sie durchaus wahr ist. In Nußland
nämlich ist die Autorität, der unbeschränkte Gewalthaber nicht nur
der Einzige, von dem alle FortschrirtS-Jnstitutionen, alle Beförderungen
wahrer Civilisation ausgehen, sondern Er ist es auch allein, bei
dem sie Schutz finden. Die Aristokratie ist hier lediglich mit ihren
engherzigen, gemein materiellen Kasscninteressen beschäftigt. Diese
stehen im schreienden Gegensatz zu den Interessen deö Gesammtwohls,
folglich auch des sie vorzüglich fördernden Bürgerstandes, der des¬
halb vom Kaiser außerordentlich beschützt wird. Eben so lasten jene
Adelsinteressen besonders auch drückend auf der großen Masse der
Bevölkerung Rußlands, den Leibeigenen, die lediglich vom Kaiser
bessere Tage zu erwarten haben. Der schlagendste Beweis für diese
durchgreifende Trennung der verschiedenen Stände und ihrer Vor¬
theils liegt in der Geschichte der wirklichen Verschwörungen gegen
Rußlands Herrscher. Immer sind diese von dem Adel allein aus-


[]

gegangen: nie haben sich weder die Bürger, noch freiwillig die
Leibeigenen ihnen zugesellt. Und die Soldaten mußten die ver¬
schworenen Adeligen entweder durch Vorspiegelung einer Verletzung
in der Legitimität durch Thronfolge (wie im Jahre 1826 geschah)
verlocken oder sie mußten, (wie im Jahre 1801 blutigen Angeden¬
kens) die treuen Wächter ihres Monarchen an der Schwelle seines
Schlafzimmers erdolchen, um dann diesen selbst im Schlafe mit
frevelnder Hand hinzuschlachten. Menschen, ohne alle Kunde der
Sachlage, haben sich oft dahin ausgesprochen, das russische Volk sei
nur noch nicht aufgeklärt genug, um seine Rechte zu verlangen und
daher rühre seine Theilnahmlostgkeit an jenen revolutionären Ver¬
suchen. Aber wahrlich, gehört denn eine große Intelligenz, ein
hoher Zustand politischer Bildung dazu, um Stadt und Land mit
Feuer und Schwert zu verwüsten? Und mehr verlangten jene Ver¬
schwörer von den unteren Volksklassen gar nicht: sie sollten nur so
viel leisten, als die carlistischen Banden in Spanien, die doch eben
auch nicht sehr gebildet sind. Im Gegentheil aber geht gerade dar¬
aus, daß sich daS russische Volk zu keiner Theilnahme an solchen
verrätherischen Versuchen verlocken ließ, auf's Klarste hervor, wie
richtig dasselbe über sein Verhältniß zum Adel einer — und zum
Kaiser andrer Seits urtheilt und wie es vollkommen weiß, von wem
es eine Erleichterung seiner Lage, eine Erhebung zur Menschen-
und Bürgerwürde erwarten kann. Das Volk weiß, wessen Schutz
es die Erbauung neuer Städte, den Flor des Handels, den Wohl¬
stand deö LandbnuerS zu verdanken hat.


Note: — » » » „

[]

Die Maas und ihre Anwohner.
(Von
Julius Fester.)



Völker und Völkerstämme theilen sich ab nach Flußgebieten und
wo nicht Staatsgewalt und Politik eine künstliche Trennung hervor¬
gebracht haben, da entfaltet sich von den beiden Ufern eines Flusses
an bis in die fernsten Nebenthäler das rege Leben eines und
desselben, in Sprache und Sitte gleich gebildeten Stammes. Wohl
nur in den ersten Zeiten der Unkultur konnte ein mächtiger Strom
den umherziehenden, Krieg und Jagd suchenden Wilden zur hem¬
menden Grenze werden; wo aber die Civilisation die Wälder aus¬
gerodet, die Felder befruchtet und zierlichere Wohnungen aufrichtet,
da ist der Fluß keine Trennung mehr, sondern eine leichte Verbin¬
dung, und der Kahn trägt den Freund leichter zum drübenwohnen¬
den Gastfreunde, als selbst Roß und Fuhrwerk den zackigen BergeS-
kamm überschreiten. Warum also, wenn die Familie sich vermehrt
und sich auszudehnen sucht, nicht lieber im freundlichen Flußthale
und seinen Nebenthälchen als jenseit des Berges sich ansiedeln?


Läßt auch Cäsar den Rhein die Grenzscheide zwischen Gallien
und Germanien bilden, so treten wir hier eines Theils in jene
Zeiten der Unkultur zurück, anderen Theils hat die Völkerwande¬
rung diese Unterscheidung gänzlich aufgehoben. Wenn nun auch
im Vertrage zu Verdun der Rhein wieder als die Grenze Deutsch-


[]

lands von..Lothar's Reiche angenommen wurde, so hat erstens diese
Theilung bekanntlich nicht Stand gehalten, andrer Seits aber zeigte
der Verfolg und zeigt es im Volke bis auf den heutigen Tag, daß
das deutsche Volk aus der linken Seite des Rheines sich bis zu den
oberländischen Alpen, den Vogesen, Ardennen, und weiter unten bis
zum Meere ausdehnte.


Wenn man im Jahre 1845 das von Ludwig XIV. ungerecht
eroberte Elsaß, ich weiß nicht aus welcher Politik, dem französi¬
schen Reiche einverleibt ließ, so stand es im Jahr 1830 nach allem
Völkerrecht jener echt deutschen Provinz frei, sich dem deutschen
Staatsverbande wieder anzuschließen, was auch wahrscheinlich ge¬
schehen wäre, wenn nur die deutschen Regierungsverfassungen ein
wenig lockender gewesen wären.


Dadurch aber wäre Frankreich auf seine wahren Grenzen be¬
schränkt worden, und der Vorwand wäre ihm genommen, nach wel¬
chem man sagn Frankreich geht im Elsaß bis an den Rhein, schließt
hier deutsch redende Franzosen ein, warum sollte nicht aus demselben
Grunde das ganze linke Rheinufer und Belgien mit, trotz andrer
Sprache und verschiedener Sitte, ebenfalls zu Frankreich gehören
können, da ja nach Cäsar und dem Verduner Vertrage die Grenzen
Deutschlands einmal blos bis an den Rhein gingen.


Aber derjenige, welcher die Länder nicht wie ein Stück Waare
betrachtet, das man nach Willkür in dem Ausschlag der Waffen
bald diesem, bald jenem Reiche einverleibt, wer nach dem Unterschiede
von Sprache und Sitte die Völkereintheilungen anstellt, der findet
leicht, daß Frankreich sich nirgends bis zum Rhein erstreckt, daß, wie
gesagt, die Vogesen und die Ardennen und die hohe Been seine
Grenzen gegen Deutschland zu bilden, daß aber der Rhein in seinem
ganzen Flußgebiete, vom Ursprünge bis zur Mündung, wahrhaft
deutsch ist.


Wenn auch nicht in der ganzen Ausdehnung von der Quelle
bis zum Ausfluß, finden wir doch die oben angeführte Wahrheit,
daß ein Fluß und sein Gebiet eher die Vereinigung als die Trennung
gebildeter Volksstämme constituiren, mehr oder weniger bei allen
StrömeK bestätigt.


So zeigt auch die Maas, wenn sie schon in ihrem obern Theile
französisch, in der Mitte wallonisch und gegen ihren Ausfluß hin


[]

deutsch-holländisch ist, daß sie diesen Charakter der einzelnen Stämme
wenigstens in der ganzen Breite ihres Flußgebietes beibehält.


Ein interessanter Fluß ist die Maas in jeder Beziehung. Ver¬
gleicht man sie mit dem kräftigen, männlich starken Rheine, so stellt
sie sich bald im Gegensatze zu diesem in wahrhaft weiblichem Cha¬
rakter dar.


In einer dunkeln Ecke des wasgauischen Gebirges, an der Ab¬
dachung der Hochebene von Langres entsprungen, fließt sie dahin in sanft
sich absenkendem Thale, fast in gerader Linie, unbeachtet, wie ein still
beschauliches, nur mit sich selbst spielendes Mädchen. Nach und nach
offner sich ihrem Laufe ein breiteres Thal, mit entfernteren schwel¬
lenden Hügeln, den dunkeln Träumen der heranwachsenden Jungfrau,
die mit den ersten Schiffen in die Jahre der Mannbarkeit ge¬
treten, nun allmälig (hinter Glock) anfängt, Felsen in Phantastischen
Gebilden um sich aufzuthürmm. Alles verräth die Munterkeit und
Schwärmeret des jungfräulichen Geistes; nun nimmt sie die Lesse
auf: wie begierig horcht sie den Erzählungen, die diese neue Freundin
ihr von ihrer unterirdischen Fahrt») vertraut, — immer kühner
wird ihr phantastischer Geist in seinen Gebilden, schroff aufsteigende
Felsen umgeben sie und nur mit Mühe drängt sich ein Städtchen
(Dinant) zwischen sie und die himmelanstrebenden Steinmassen.
Aber ihre weibliche Natur läßt sie sich nicht zu lange entfernen von
den sanfteren Gefühlen; da tritt sie aus den schroffen Umgebungen
heraus, grüne Wiesen bekränzen ihre Ufer, die Hirtenflöte ertönt
von den sanften Abhängen, wo die Heerde graset, freundliche Land¬
häuser mit Gärten und Feldern lagern sich an ihrem Strande, freu¬
dig trägt sie schwerere Schiffe und zeitenweise duldet sie selbst die
größere Last des sie bis in die innerste Tiefe erschütternden Dampf¬
bootes.


Doch nicht gänzlich hat ihr romantischer Sinn sie verlassen
und von mädchenhafter Laune ist sie noch nicht befreit. Noch erhe¬
ben sich von Zeit zu Zeit sonderbar geformte Felögestaltungen
an ihrem Strande, sie erfreut sich an plötzlichen, unvermutheten Wen¬
dungen und schiebt dem sie beherrschen wollenden Menschen Klippen,
Sandbänke und Untiefen in den Weg, oder reißt das Schiff in



31
[]

schnellen Strömungen abwärts, daß das Steuer der Gewalt nicht
mehr gebieten kann; und so fährt sie fort, obgleich ihr Lebenslauf
durch die Vereinigung mit ihrer wohlgezogenen Landsmännin, der
Sambre, eine neue Richtung erhalten hat, — immer noch bleibt
sie einem arbeitsamen Leben feind und noch liebt sie es, von Zeit
zu Zeit mächtige und seltsam gestaltete Felsen an ihrem Ufer auszu-
thürmen, bis endlich, nachdem sie schon wie zum Spiel Wiesen und
Weinberge angelegt hat, der arbeitsame, jugendlich kräftige Hoyour
auch ihr die Augen öffnet; die sanftern Hügel bedecken sich mit
Weinreben und Kornfeldern; Fabriken und ausgedehnte Dörfer neh¬
men die Ufer in Beschlag, Landhäuser und Schlösser steigen auf
allen Seiten in die Höhe, mit einem Worte, wir sehen die Jung¬
frau in ihrer Vollreife, auf dem Höhepunkte ihres Lebens, der sich
in dem gewerbthätigen, heitern und herrlich gelegenen Lüde ich noch
besonders dargestellt findet, — aber kein würdiger Gatte stellt sich
ihren Wünschen dar, immer sind es nur Freundinnen, diesmal die
vereinigten romantisch lieblichen Schönen: Vesdre und Ourthe, die
sich ihr nähern, von dem nicht gar zu fernen stolzen Rheine, zu
dem sie ihren Lauf gerichtet zu haben schien, weiset sie gebieterisch
und rauh die neidische hohe Veer zurück. Da giebt sie ihrer
Laufbahn abermals eine neue Richtung; resignirt scheint sie sich dem
häuslich geruhigen, gemüthlichen Leben widmen zu wollen, — ar¬
beitsam wandelt sie zwischen den reichen Feldern und Maestricht
erhebt sich als ein Werk ihres Fleißes. Aber schon wird sie müde
dieses traurig einsamen Lebens, die trübselige deutsche Nver kann sie
nicht mehr erheitern, die Kraflgebilde ihrer Jugend haben sie verlassen
und so schleicht sie in den sumpfigen, trüben Umgebungen, selbst trübe
und düster, dahin: —da erblickt sie in der Ferne den Rhein, zu dem schon
lange ein unbekannter Drang sie hinzog, unschlüssig schwankt sie, nä¬
hert sich, entsernt sich, — endlich kommt sie ihm entgegen und ihre
altjüngferliche Scheu überwindend, nimmt sie den Lebensmüden freund¬
lich in ihre Arme auf und durcheilt nun in neuem Wirken, in stolzer
Kraft den kleinen Rest ihrer Tage dem Oceane der Ewigkeit zu. —


So trägt dieMaas, obschon sie ihren Charakter von ihrer Quelle
bis zur Mündung dreimal verändert, diesen jedesmaligen Charakter
in der ganzen Breite ihres Flußgebietes an sich. Von Glock an,
wo sie Frankreich Lebewohl sagt, bis nach Macstncht, wo sie deutsch-


[]

niederländisch wird, ist derselbe der Wallonische. Dieser erstreckt
sich dann auch im engsten Sinne des Wortes durch das ganze Flu߬
gebiet, (mit Ausnahme deS südlichen Theiles der Sambre) und
auf diese Weise erhalten wir, ohne Rücksicht auf politische Einthei-
lung, die deutlichste Abgrenzung dieses Sprach- und Völkerstammes.
Sobald der eben beschriebene Theil des Flußgebietes nach Norden
und Nordwesten zu durchlaufen ist, gelangt man nach Brabant und
Flandern, nach Süden und Südwesten trifft man französische, nach
Osten und Südosten deutsche Sprache.


Wale, Walton, die Benennung deS Bewohners dieses
Landstriches, der nach heutiger Eintheilung die Provinzen Lüttich
und Namur umfaßt, kommt unstreitig von dem alten valuis her und
diese Bezeichnung als Gallier müßte diesem Volksstamme nothwendig
verbleiben, da sie nie eigentlich einen integrirenden Theil deS Fran¬
kenreiches ausmachten, sich stets abgeschlossen hielten und auch in
der That von eigenen Fürsten regiert wurden. Daher liebten sie
es wohl selbst, sich Gallier zu nennen, und auf diese Weise konnte
sich dieser beständig gebrauchte Name leicht in das oben genannte
Wort abschleifen. Die Franken, stolz darauf, den Unterworfenen
ihren Namen einzupflanzen, ließen den Ausdruck Walton erst
nach und nach um sich greifen, während die Flamänder in ihrem
Nationalhaß Franzosen und Wallonen mit dem alten Namen Gal¬
lier oder Walen nannten.


Das Abschließen der Wallonen gegen Außen brachte auf diesen
Volksstamm nun zunächst die Wirkung hervor, daß seine Sprache
sich ganz eigenthümlich gestaltete. Nicht ein verdorbenes, schlecht
ausgesprochenes Französisch, wie dies bei den übrigen Dialekten statt¬
findet, sondern eine aus denselben Grundlagen, wie die französische,
italienische, spanische Sprache sich gebildet habende, sonst aber ganz un¬
abhängige Tochtersprache ist das sogenannte wallonische Patois und
verhält sich also zu den ebengenannten Sprachen ungefähr wie das
Flämische zu dem Hochdeutschen, Dänischen und Schwedischen. Ist es
nicht interessant, die Bemerkung zu machen, daß Belgien auf diese Weise
zwei sich unabhängig von ihren Schwestern entwickelnde Sprach¬
stämme enthält und die Sprache denselben Weg geht, wie die Nation,
die nur gezwungen das fremde Joch ertrug und niemals unbe¬
schränkte Unterjochung duldete! Die Beherrschung der Sprache


[]

aber wie des Volks blieb nicht aus und der nothwendige Gebrauch
der französischen Sprache für die Schrift verhinderte eine wallonische
Literatur. Im Umgang aber blieb die wallonische Ausdrucksweise
selbst bis in die höhern Klassen der französischen Sprache vorgezo¬
gen und man liebt es, die Kraft und Nettigkeit dieses Idioms im
Vergleich mit dem obgenannten hervorzuheben und selbst Stadtpredi¬
ger drücken besondere Kraftsprüche wallonisch aus.


Es ist auch natürlich, daß die Umgangssprache eines kräftigen
und geistreichen Volkes diese beiden Merkmale ebenfalls an sich
tragt, wenn sie nicht, wie dies hier ja gerade der Fall ist, durch
fremden Einfluß verwischt oder durch ein seines Hofleben ver¬
dorben ist.


Obgleich es auf den ersten Anblick scheinen möchte, daß
die Sprache viele spanische oder italienische und manche deutsche
Elemente besitzt, so erweiset sich dies bei näherer Betrachtung, in
Beziehung auf die erstere Behauptung wenigstens, als durchaus un¬
gegründet.


Zwar hört man vielfach jene Zischlaute thes und thes, wohl
kann man auch hie und da ein echt spanisches Wort unterscheiden;
aber Ersteres scheint überhaupt in dem Charakter der aus dein La¬
teinischen abgeleiteten Sprachen und ebenso im Französischen zu lie¬
gen, nur daß hier die Ävschleifung weiter ging und aus jenen
härteren Lauten das weiche j. und es. machte.


Was die direkt aus dem Spanischen eingeführten Wörter be¬
trifft, so ist ihre Anzahl sehr klein; es sind nur einzelne Ueber¬
reste aus der Zeit, wo die spanischen Truppen hier hausten.


Interessanter ist das wenige deutsche Element, daS sich in dieser
Mundart vorfindet; hier haben wir nicht allein die echt deutschen
Worte: Lough (Loch, Thüre), Sept (Stock), Dank, ni'et (Nachen)
u. s. w., sondern es finden sich gegen den Geist der französischen
Sprache verstoßende echt deutsche Construktionöweiscn in Menge vor.


Sind die Bewohner der flandrischen Provinzen in ihrer indu¬
striellen Thätigkeit mehr ruhig und besonnen, die Franzosen obschon
unternehmender als ausdauernd, so finden wir in den Bewohnern
des MaaSthaleö den Uebergang dieser beiden Charaktere; die Wal¬
lonen verbinden eisernen Fleiß und unermüdliche Beharrlichkeit mit


[]

einem regen Unternehmungsgeiste und einer Lebhaftigkeit des Cha¬
rakters, die überall an Frankreich erinnert.


Viel Wahres enthält jener bekannte Ausspruch: „Das Land
der Wallonen ist das Fegfeuer der Männer und die Hölle der
Frauen." Es versteht sich, daß man mit diesen christlich-mytholo¬
gischen Bezeichnungen den Grad der Arbeit ausdrücken will, zu
dem die beiden Hälften der Bewohner hier gezwungen sind. In
der That, man muß staunen, sieht man an den feuersprühenden.
Hochofen, in den Plattmühlen und Eisenhämmern diese kaum be¬
kleideten, rußigen Gestalten, von dem eigenthümlichen, unheimlichen
Lichte des geschmolzenen oder hellweiß-glühenden Eisens beleuchter,
sich zwischen den sprühenden Funken und vor der lodernden Feuer¬
esse in rühriger Thätigkeit hin und her bewegen, manchmal im
Dunkel verschwinden und dann plötzlich wieder erscheinen, mit einem
strahlenden Eisenblocke, der unter dem gewichtigen Hammer leicht
wie ein nasser Schwamm ausgedrückt und von den glühend abflie¬
ßenden Schlacken gereinigt wird. Bietet sich hier die Vergleichung
mit dem Fegefeuer von selbst dar, so liegt die Steigerung sür das
Loos der Frauen nicht mehr ferne, wenn man das von der Natur
zarter gebildete Geschlecht an Bergwerken und Kohlenschiffen, Klei¬
dung, Gesicht und Hände von dem schmutzigen Staube geschwärzt,
unter den schwersten Lasten gebeugt, einhergehen sieht, wenn man
diese rohen und schmutzigen Ausdrücke hört, dieses gemeine Lachen
vernimmt, was Alles die durch zu schwere Arbeit niedergedrückte
Menschenklasse bezeichnet.


Und wie die" Frauen der untern Stände am Meisten geplagt
scheinen, so ist es auch in der mittlern Klasse wieder das weibliche
Geschlecht, welches sich durch seine Thätigkeit vorzüglich auszeichnet.
Ist eS doch etwas ganz Gewöhnliches, daß erwachsene Töchter selbst
wohlhabender Familien irgend ein Geschäft beginnen und es selbst
nach ihrer Verheirathung nicht aufgeben, so daß hier die Frau ei¬
nes geringer besoldeten Professors Putzmacherin ist, dort eine No¬
tarsfrau einen Handel mit langen Waaren und Seidenzeugen
treibt.


Wo giebt es noch ein Thalbecken, in welchem ein solcher Stru¬
del industrieller Thätigkeit sich drängt, als in dem Maasthale und
seinen Verzweigungen? Diese Masse von Hochöfen, Eisenhämmern


[]

und Plattmühlen, von Zinkschmelzen und Kohlenbergwerken, von
Messersabriken und Waffenschmieden, von Tuch- und Papierfabriken,
von Gerbereien und Leimsiedereien, von Glashütten und Marmor-
schlcifercien, diese Menge von Distillerien, Brauereien und Steingut-
fabriken. Hier allein war es möglich ein Etablissement, wie das
eines Cockerill in Seraing zu gründen und nach dem Fallimente und
Tode des Stifters aufrecht zu erhalten und fortzuführen. Das
Bestehen vieler dieser Etablissements beruht allerdings auf dem
Reichthum des Maasthales an Marmorfelsen, Eisensteinen, Zink¬
minen und vorzüglich an den so nothwendigen Kohlen, aber ein
weniger industrieller Volksstamm hätte selbst diese Schätze unbenutzt
liegen lassen, oder wenigstens die Bearbeitung derselben nicht auf
den Punkt ausgedehnt. Der Reichthum an Steinkohlen und der
dadurch bedingte niedrige Preis derselben bewirkt, daß man hier
oft Dampfmaschinen angewendet sieht, wo man anderwärts wohl
kaum daran gedacht hätte; so sah man in diesem Sommer, bei der
Aufführung eines neuen Quais bei Lüttich, eine Dampfmaschine
aufgeführt, um zwei große Wasserschnecken und Pumpen in Bewe¬
gung zu setzen, wodurch denn die Arbeit im Großen gefordert wer¬
den konnte. Außerdem hat dieser Kohlenreichthum den häuslichen
Einrichtungen einen eigenthümlichen Charakter aufgedrückt, der sich
jetzt freilich fast nur auf dem Lande und in kleinern Städten erhal¬
ten hat. ES ist dies die freundliche Sitte, sich um den stets bren¬
nenden, immer reichlich versehenen Herd zu versammeln, und wäh¬
rend man in das trauliche Feuer blickt, eine um so gemüthlichere Con-
versation zu führen. Die Küche ist auf diese Weise hier kein enger
rauchiger Behälter, vollgestopft mit Geschirr aller Art, sondern ein
Heller, großer und freundlicher Raum, wo die ganze Familie, wenn
nicht auswärtige Geschäfte sie in Anspruch nehmen, sich versammelt
und wo ebenfalls die wenigen vertrauteren Freunde ohne Ceremonie!
empfangen werden. Ich sage mit Absicht, die wenigen vertrauteren
Freunde, denn gerade dieses engere Familienleben um den Herd
bringt es mit sich, daß man die Unterhaltung weniger auswärts
sucht und von formellen StaatSvisiten keine Rede sein kann. Wie
hier so haben die Wallonen auch in mancher andern Beziehung ei¬
nen eigenthümlichen Charakter, ihre eigenthümlichen Volkshelden bei¬
behalten, was jedoch nur von der mittlern und niedern Klasse ge-


[]

sagt werden kann ; denn die obern Stände haben sich hin an der
Maas sowohl, als am Rheine und anderwärts der Herrscherin
Möve gefügt.


Der Wallone ist, wie angedeutet, unternehmend, dabei kräftig
und kühn; er hält eben so fest an seinen Rechten und Freiheiten
als an seinen Gebräuchen und war zu jeder Zeit bereit, beide,
wenn man sie ihm zu nehmen drohte, mit den Waffen in der Hand,
mit Blut und Leben zu vertheidigen. So lies't man in den alten
Chroniken, bei den Geschichtschreibern von Lüttich und Namur, be¬
ständig von Reibungen und blutigen Kriegen, die mit der größten
Erbitterung oft um die geringfügigst scheinende Sache geführt wur¬
den, sobald sich ein Recht daran zu knüpfen schien.


Als Beispiel diene der in den Annalen der Geschichte dieses
Landes so berühmt gewordene Krieg um die Kuh von Eine».
In Ciney, einem zum Condroz, einer Landschaft des Bisthums
Lüttich, gehörigen Flecken, wird eine Kuh gestohlen. Ein Bürger
des Ortes glaubt sie in Antenne, einer Stadt in der Grafschaft Namur,
wohin der Dieb dieselbe geführt hatte, um sie auf fremdem Gebiet
in Sicherheit zu verkaufen, wiederzuerkennen. Es wurde gerade
ein Turnier gehalten und außer dem Grafen von Namur und an¬
dern Rittern und Herrn befand sich der Gerichtöamtmann des Con¬
droz hier anwesend. Diesem theilt jener Bürger von Ciney seine
Bemerkung mit und der Amtmann, in seinem Eifer, seinem benach-
theiligten Untergebenen Recht und dem Verbrechen Strafe zu ver¬
schaffen, greift zu einem Mittel, welches wohl nur in den Augen
jener Zeit, wegen der Leichtigkeit, mit welcher ein Verbrecher sich
durch den Uebertritt auf fremdes Gebiet der Strafe entziehen konnte,
Rechtfertigung finden kann. Der Amtmann begiebt sich nämlich zu
dem Bauern hin, sagt, daß er sein Verbrechen entdeckt habe, schüch¬
tert ihn durch Drohungen ein, und sagt ihm dann, daß er Alles
verschweigen und vergessen wolle, wenn der Andere, von zweien sei¬
ner Leute begleitet, die Kuh ihrem rechtmäßigen Besitzer wieder zu¬
stellen wolle. Der geängstete Dieb gehorcht, kaum aber hat er den
Boden des Condroz betreten, so wird er nach dem Befehle des Amt¬
manns ergriffen und aufgehängt. Der Graf von Namur, der hierin
eine Verrätherei gegen einen seiner Unterthanen und einen Eingriff
in seine Rechte erblickte, zog verheerend ein in den Condroz und


[]

verwüstete das Land bis an die Mauern von Ciney, worauf der
Amtmann einen ähnlichen Einfall in die Grafschaft Namur unter-
nahm und das Städtchen Jallet zerstörte. Bald nahmen der Bi¬
schof von Lüttich auf der einen und der Graf von Hennegau, so
wie später der Herzog von Brabant, der schon längst mit dem Bi¬
schöfe schlecht stand, auf der andern Seite Antheil an dem Kriege. Von bei¬
den Seiten wurde hartnäckig gekämpft, I5M0 Menschen verloren dabei
ihr Leben, mehrere Schlosser, viele Flecken und Dörfer und eine
große Anzahl Pachthöfe wurden zerstört und der Krieg erreichte erst
sein Ende, als Philipp von Frankreich als Vermittler auftrat.


So wie hier zeigten sich die Wallonen bei jeder Gelegenheit
tapfer und hartnäckig an ihrem vermeintlichen oder wirklichen Rechte
hangend, und so gelang es ihnen, nicht nur stets die alten Rechte
und Freiheiten aufrecht zu erhalten, sondern sie erkämpften sich auch
nach und nach neue, im Verhältniß als Aufklärung und Bildung
fortschritten. — Der Charakter des selbstbewußten Kraftgefühls hat
den Wallonen bis auf die heutige Zeit nicht verlassei, und noch bei
der Revolution haben die Lütticher durch ihre rasche Entschlossen¬
heit, durch ihr schnelles Vertreten und den muthigen Zug nach
Brüssel, so wie durch die Schlacht bei Se. Walburgis nicht wenig
zum günstigen Ausgangs der Revolution beigetragen.


Die Kleidung deS Wallonen, und ich spreche hier nicht blos
von den Bauern und der untersten Volksklasse, besteht hauptsächlich
in einem blauen leinenen Kittel (blousv), der um so eleganter er¬
scheint, von je feinerem Stoffe und je kürzer und neuer er ist.


Hierzu gesellt sich wo möglich ein glänzender Seidenhut und
modische Beinkleider. Auf solche Weise sieht man in allen kleinen
Städten und selbst noch in Namur die Bürgerklasse gekleidet, welche
in diese Ausstaffirung einen gewissen Stolz setzt, und dadurch jeden¬
falls eine Art kräftige Nationalität beurkundet. So wenig graciös
die eben genannte Kleidung ist, so wenig macht der Wallone auch
in seinem Umgange auf französische Feinheit und Leichtigkeit Anspruch,
in seiaen Sitten wird man eher eine gewisse Roheit und Zurück¬
haltung als die Glätte unb Zuvorkommenheit seiner südlichen Nach¬
barn bemerken. Tadel ist er jedoch gutmüthig und nur höchst sel¬
ten artet ein Streit in der Schenke in eine ernstliche Rauferei aus.
DaS Hauptgetränk war bis auf die neuere Zeit Bier und für die


[]

höhere Bürgerklasse der Wein deS Landes, der in der Umgegend
Lüttich'S und vornehmlich bei dem Städtchen Huy auf den Hügeln
am Ufer der Maas wächst und in den bessern Lagen einen, dem
leichtern Burgunder ähnlichen Geschmack erhält. — Gegenwärtig
übt aber, vorzüglich auf die untern Klassen, die durch die vielen Di-
stillerien immer mehr um sich greifende Branntweinpest auch hier ih.
ren verderblichen Einfluß aus.


Unter den Volksgebräuchen zeichnen sich einige durch ihre ganz
besondere Eigenthümlichkeit aus. Hierhin gehört vor Allein der so¬
genannte Cramion. Im Frühjahr nämlich sieht man an den war¬
men Abenden nach der Arbeit Mädchen und junge Bursche zu je
20 — 30, aber jedes Geschlecht besonders, in langen Reihen sich die
Hände reichend, die Straßen durchziehen. Diese verschiedenen Ban¬
den singen Lieder gegen einander, wo denn vorzüglich von Seiten des
männlichen Theils manche derbe Ausdrücke vorkommen, auch ver¬
ketten und verschlingen sich wohl die männlichen und die weiblichen
Reihen unter einander, wobei es an manchem zärtlichen Druck und
andern Liebesbeweisen nicht fehlen kann. So sich neckend und ver¬
folgend, (manchmal ist der weibliche Theil nicht der weniger unter¬
nehmende,) zieht man die Straßen auf und ab und das nennt man
den Cramion, der unter der niedern Volksklasse der wirksamste ^ei-
rathöstifter ist. Findet der Cramion vorzüglich an gewöhnlichen
Abenden und den Vorabenden der Volksfeste statt, so bieten die Letz¬
tern wieder neue Gelegenheit zur Vereinigung der jungen Leute
dar. Damit die vorläufigen Kosten dieser Feste bestritten werden
können, ziehen die gewählten Kirmeßbursche am Samstag Abend, mit
Bändern geziert und Bandstücke gegen freiwilligen Beitrag austhei¬
lend, begleitet von der meistens höchst ärmlichen Musik, durch die
betreffende Pfarrei der Stadt, vor jedem Hause spielend und eine
Beisteuer sammelnd. Von dem so eingekommenen Gelde wird der
Kirmeßbaum auf einem freien Platze aufgerichtet, in seiner Nähe
eine Tribune für die Musikanten construirt und das Pflaster, des
bequemern Tanzens wegen, mit Sand bestreut. Sonntag, Montag
und Donnerstag werden dann wirklich von 4 oder 6 Uhr bis spät
in die Nacht hinein, bei gewöhnlich sehr mangelhafter Beleuchtung,
die Tänze ausgeführt, die meistens aus der etwas eigenthümlich
ausgebildeten französischen Quadrille bestehen ; ein Umstand, der we-


[]

gar des TanzplatzeS von Wichtigkeit ist, da andre Tänze, wie Wal¬
zer und Gallopade auf dem Pflaster oder dem Lehmboden unmög¬
lich wären.


In manchen kleinern Städten, wie Huy, Ardennes :c. nehmen
selbst die höheren Stände an diesen Tänzen unter freiem Himmel
Theil und es bildet sich dann neben dem Volke oder den Bauern,
ein Contretanz der schönen Welt. Eine Vermischung findet jedoch
dabei nie statt und wenn auch nur instinctmäßig, so wird doch der
Unterschied der Stände streng beobachtet. Es versteht sich von selbst,
daß die feinern Herrn die Musikanten reichlich bezahlen und von
Letztern bei der Größe des TanzplatzeS deshalb sehr gern gese¬
hen werden; da der Ton der heisern Geige und der schreienden Kla¬
rinette in dem ganzen Umkreis leicht gehört wird, und, indem er
stets den Rhythmus richtig bezeichnet, in größerer Ferne den Vor¬
theil darbietet, die Mißtöne weniger hervortreten zu lassen.


Ist auf diese Weise der Umgang unter den jungen Leuten und
die Bildung von Bekanntschaften und Heirathen sehr erleichtert, so
sind diese letztern darum doch nicht weniger einer Controle unter¬
worfen, die von einem großen, moralischen Instinkte des Volkes aus¬
geht. Wird es nämlich bekannt, daß ein Ehemann sich von seiner
Frau schlagen läßt, so setzt man diesen selben Ehemann oder in
neuerer Zeit seiner Sratt einen Strohmann, verkehrt auf einen Esel,
ihm den Schwanz statt des Zaunes in die Hand gebend und führt
ihn unter allgemeinem Hohngelächter umher. Da die Heirath eines
Wittwers ebenfalls dem Volksgefühle widerspricht, so wird der Ta¬
del darüber durch ein während mehrerer Wochen jeden Abend wie¬
derholtes Charivari auf Kuhhörnern ausgesprochen, ein Gebrauch,
der trotz geschärfter Verbote bis jetzt nicht unterdrückt werden
konnte.


Bet den Kirchweihen auf dem Lande gesellt sich zu den obenge-
nannten Festlichkeiten noch das Werfen nach dem Truthahne.
Diese Ergötzlichkeit bietet in ihrer ursprünglichen Gestalt einen schla¬
genden Beweis von der Gemüthöroheit des Volkes dar, da sie ei¬
gentlich verlangt, daß der Truthahn lebend mit dem Kopfe auf ni^
nen 3 Fuß hohen, in die Erde eingerammten Pfahl festgenagelt
wird. (Neuere Verordnungen bestimmen, daß das Thier erst geschlach¬
tet werde, was denn häusig freilich selbst jetzt noch nur theilweise be-


[]

folgt wird.) Mit 3 Fuß langen, 2 kantigen, zolldicken eisernen Stäben
wird inn, aus einer Entfernung von Aj—-25 Schritten, nach dem
an dem Pfahle herabhängenden Thiere geworfen und derjenige, wel¬
cher so glücklich ist, durch einen geschickten Wurf den Hals des Vogels
zu durchschneiden und letztern dadurch herabfallen zu machen, darf
ihn als Braten mit nach Hause nehmen.


Einen großartigern Charakter als die nur die nächste Umge¬
gend berührenden gewöhnlichen Kirmessen nehmen die Feste einiger
berühmten Heiligen und vorzüglich das des Se. Hubertus in dem
gleichnamigen Städtchen ein, welches letztere, wenn es auch tief in
den Ardennen liegt, doch noch zu dem Flußgebiete der Maas gehört
und somit zum Wallonischen gerechnet werden kann. Lange' Wall-
fahrtözüge, großentheils zu Pferde, das in Holz geschnitzte lebens¬
große Brustbild des heiligen Hubertus mit großem Jagdhorn« an
der Spitze, ziehen von Dinant, Namur, Huy und Lüttich her ein;
der öde Flecken wird zur lebendig bewegten Stadt; Buden aller Art
sind aufgeschlagen; ein großer Handel, vorzüglich rin Riemchen, welche
das Horn des Heiligen berührt haben und gegen den Biß toller Hunde
schützen, etablirt sich, Gaukler zeigen ihre Künste, Zahnärzte preisen in in¬
teressant komischer Beredsamkeit ihre Künste und Pulver an, Bettler und
Reliquicnhändler (Letztere gewöhnlich in theatralischer Pilgcrkleidung)
machen herrliche Geschäfte, Pferde werden ausgetauscht und verhandelt,
hier würfelt man um eine Tabakspfeife, dort reitet man auf dem Ka»
roussel, Alles natürlich, nachdem man in der Kirche die vorgeschrie¬
benen Andachtsübungen abgemacht hat, kurz das Heilige vermischt
sich so mit dem weltlichen, daß eS am Ende schwer wird, Beides
gehörig von einander zu sondern. Nachdem aber die verschiedenen
Geschäfte besorgt und abgemacht sind, setzen sich die einzelnen Züge
wieder in Bewegung, und meistens bringt man von solch' einer
Wallfahrt eine so angenehme Erinnerung mit nach Hause, daß man
sich im folgenden Jahre gern dazu versteht, auf diese Weise aber-
mals Ablaß seiner Sünden zu holen. —


Freilich hat der Katholicismus dadurch, daß er seinen Einfluß
"uf die Gemüther in politischer Hinsicht geltend machte, die liberale
Partei dagegen wider diesen politischen Einfluß ankämpfte, viel von
seiner Macht verloren; wie Viele, die sonst wenigstens äußerlich gute


[]

Katholiken geblieben wären, sind durch diese Parteistreitigkeiten of¬
fene Bekenner des größten Indifferentismus geworden!


Sah ich doch bei einer Prozession in einer kleinen Stadt einen
Trupp junger Bauern, während am Altare die Hostie erhoben
wurde, in nicht weiter Entfernung davon, den Hut auf dem Kopfe,
ruhig stehen bleiben, während das Volk rund umher auf die Kniee
sank. Solche offene Protestationen sind zwar noch selten; daß sie
aber vorkommen, daß sie von dem Volke geduldet werden, beweist
eine merkwürdige Erkältung des religiösen Eifers, der vor 5V Jah¬
ren die Volksmasse in Brüssel antrieb, einen Unglücklichen, wegen
ähnlichen Vergehens, vermittelst einer Säge zu enthaupten.


Mag man aber von dem Einflüsse der katholischen Priester
denken, wie man will, immerhin ist es höchst traurig, die reißen¬
den Fortschritte zu sehen, die der Indifferentismus und die Irreligio¬
sität unter dem Volke machen; traurig, daß, um den Aberglauben
zu vertilgen, aller Glaube ausgerottet wird!


[]

EinBesuchineiner Irrenanstalt



Von all den zahlreichen Uebeln, welche die arme Menschheit
quälen, ist unstreitig die Tollheit die grausamste. Der Blinde, der
Taube, der Stumme haben sicherlich auch gerechte Ansprüche an unser
Mitleid; aber immer erkennt man in ihnen noch das Meisterwerk der
Schöpfung wieder. Zudem scheint der allgütige Schöpfer diejenigen
seiner Kinder, denen er einen Sinn geraubt, eine Entschädigung durch
die größere Feinheit und höhere Potenzirung der ihnen verbliebenen
dargeboten zu haben. Aber der Irre, der Blödsinnige, waS soll
diese Unglücklichen für den Verlust ihres Verstandes, für, ihre Thier-
werdung entschädigen?


Dergleichen traurige Gedanken bildeten letzthin den Stoff eines
Gesprächs zwischen Meyerbeer, Liszt, Geraldy, einem der berühmte¬
sten Concertsänger und Gesanglehrer, der abwechselnd in Paris und
Brüssel lebt) und dem Schreiber dieser Zeilen auf dem Wege nach
der Salpetriere (einer pariser Anstalt für weibliche Irre) die wir
gemeinschaftlich besuchen wollten, besonders in der Absicht, uns über
den Einfluß der Musik auf die Behandlung der Irren zu belehren.


Was wir Alle bei diesem Besuche empfunden, das hier zu be¬
schreiben halte ich für eine heilige Pflicht, um dadurch einer Me¬
thode möglichst größte Verbreitung zu verschaffen, die ganz auf lie¬
bevoller Sanftmuth beruhend, den glücklichen Erfolg gehabt hat,
daß Wesen, in denen nur noch das rein thierische Lebensprinzip zu


[]

walten schien, Etwas von ihrer früheren Intelligenz zurückbekom¬
men haben und daß Seelen, die für todt, für erstorben, für abge¬
schieden gelten konnten, wieder erweckt wurden.


Eine Schwester Pförtnerin öffnete uns und führte uns zu Herrn
Trelat, dem dirigirenden Arzte der Anstalt, der seinen täglichen Mor-
gen-Rundgang schon begonnen hatte. Unser Weg führte uns durch
eine Reihe Schlafsäle, die durch außerordentliche Sauberkeit einen
angenehmen Eindruck machten, nach dem im ersten Stockwerk gelege¬
nen Arbeitssaal. Wie? höre ich hier ausrufen, eine organisirte Ar¬
beit im Irrenhause! Ist das möglich? Und durch welche Mittel hat
man so ein wunderbares Resultat erlangt? Die Sache aber ver¬
hält sich in aller Wahrheit so und ist durch den Einfluß der Mu¬
sik erlangt worden. Die Irren in der Salpvtriore arbeiten wirk¬
lich und die Arbeit macht nicht nur ihre Geistesabwesenheit, ihre
VerstandcSverirrungcn, ja sogar ihre Wuthanfälle seltener, sondern
sie weckt und entwickelt auch Gefühle höherer Gattung in ihnen
und besonders einen regen Wetteifer. Freilich ist es bis jetzt noch
nicht möglich gewesen, alle Bewohnerinnen jener Anstalt zur Arbeit
zu bewegen. Noch gar viele von ihnen sind entweder, weil wü¬
thend, unter fortwährender Zwangesüberwachung oder befinden sich
in einem völlig verstandlosen Zustande, so daß sie, unbeseelte Körper,
müßig in den weiten Höfen umherirren. Und da scheinen selbst die
Vogel es zu erkennen, daß ihnen die Intelligenz fehlt; denn sie
picken ihr Futter vor den Füßen dieser Unglücklichen auf und flattern
um sie herum, ohne sich durch ihr Geschrei oder ihre plötzlichen Be¬
wegungen verscheuchen zu lassen.


Doch kehren wir in den Arbeitssaal zurück, in den uns Doctor
Trvlat eingeführt hatte: es ward darin freilich keine Beschäftigung
getrieben, die einen Aufwand geistiger Kräfte verlangt hätte, sondern
es war nur eine Fabrik von Filzschuhen, die unter der Leitung ei¬
ner Wahnsinnigen stand. Diese Werkmcisterin benimmt sich, seit¬
dem sie zur Arbeit angehalten worden, so gut, daß sie schon die
Erlaubniß erhalten hat, in der Stadt auszugehen, und es steht zu
hoffen, daß ihr bald die Rückkehr in ihre Familie wird gestattet
werden können. Mehrere ihrer Schülerinnen kamen um die Wette
zu uns, um uns ihre Arbeiten zu zeigen, und waren über das Lob,
das wir ihnen ertheilten, außerordentlich erfreut. Eine unter ihnen,


[]

die zur Belohnung für ihr weises Benehmen (arme junge Irre!)
letzthin nach Vicötre, einem andern Pariser Irrenhaus geführt wor¬
den war, um daselbst einer von den dortigen Irren veranstalteten
theatralischen Aufführung beizuwohnen, konnte uns gar nicht genug
von dem Vergnügen erzählen, das ihr diese Vorstellung verursacht
hatte, und sie endete damit, sie würde sich gewiß fortan noch ver¬
nünftiger benehmen und noch fleißiger arbeiten, um bald wieder
einer solchen Belohnung theilhaftig zu werden.


So geringe geistige Kräfte auch bei dieser Arbeit in Anwen¬
dung kommen, so wird doch Jedermann eingestehen, daß es schon
ein bedeutender Fortschritt ist, Irre überhaupt zur Arbeit zu brin¬
gen. Das berücksichtigten wir auch, als wir in einen zweiten Ar-
beitssaal traten, wo auf zwei an beiden Seiten eines langen Tisches
stehenden Bäiikcu etwa fünfzig Frauen des verschiedensten Alters
mit Charpiezupfen sich beschäftigten. ES ist dies freilich nur die
niedrigste Staffel der Intelligenz und die Arbeit besteht nur in ei¬
ner rein mechanischen. Bewegung der Hände, aber selbst diese mensa^
mische Bewegung hat den Vortheil, daß sie die Irren auch geistig
beschäftigt und sie zum ruhigen Verweilen an einem Platze bestimmt.
Uebrigens hat diese Arbeit, so geringen Gewinnst sie auch abwirft,
doch wie eine jede andere, auch noch ihre Belohnung im Gefolge.
Die Arbeiterinnen schätzen zwar das Geld an und für sich durchaus
nicht; aber die kleinen leckeren Näschereien, die man ihnen für einen
Theil des in einer Woche Erarbeiteten zu kaufen erlaubt, sind ihnen
gar sehr willkommen.


Zudem ist dieser große Saal, der sonst einer verpesteten Kloake
glich und noch vor nicht gar zu langer Zeit ein Sammelplatz allen
Schmutzes war, jetzt in allen seinen Theilen reinlich und sauber,
und hat einen schönen Schmuck in einigen Tischen voll glänzenden
zinnernen Geschirres, einem Lurus, der erst der neuesten Zeit ange¬
hört. Noch vor wenigen Jahren aß diese ganze Abtheilung Irrer
aus ein und demselben hölzernen Napfe, oder richtiger gesagt, Trog,
aus dem eine jede dieser Unglücklichen ihre Speiseportion mit der
Hand herausrasstc! Diese unsauberen Gcschörfe sind nun wenigstens
in diesem Punkte der Menschheit wieder väher gebracht worden.
Und verdient wohl Jemand größeres Lob, alZ das edle Herz, dessen
Sorgfalt und unablässige Bemühung eine so erhebliche Veränderung


32
[]

bewerkstelligt und die armen gesunkenen Wesen aus ihrer unwill¬
kürlichen Ermednaung um Etwas herausgehoben hat!


Im Hintergrunde dieses zugleich zum Speisezimmer dienenden
Arbeitssaales, erhebt sich ein hohes hölzernes Geländer; hinter die¬
sem befindet sich die erste Classe der Gesangschule. Etwa hundert
Irre kamen daselbst zusammen; unter ihnen befand sich der ganze
Arbeitssaal der Filzschuhfabrik. Es gab da Tolle, die fast wieder
zur Vernunft gebracht waren; eS gab aber auch andere aus der
Elasse der Unheilbaren. Eine von ihnen, die unter die Gattung
derer gehörte, welche in ihren wahnsinnigen Augenblicken Alles zer¬
reißen, was ihnen in die Hände fällt, war gerade in der Mitte des
UnterrichtSlocales an einen Pfahl gebunden. Ihr Wahnsinn hat
außer jener Zerstörungslust nichts Gefährliches, aber sie vergißt sich
zu Berirrnngen, welche die Feder nicht beschreiben darf.


Dem Musikunterricht in der Salpetriere widmet ein junger
Gesanglehrer unentgeldlich einen Theil seiner Zeit. Als die Musik
ein Element in der Behandlung der Irren werden sollte, hatte I),-.
Trolat sich zu diesem Zwecke den durch die Composition Beranger-
scher Chansons berühmten Bocquillon Wilden zugesellt. Dieser
aber war zu zart und empfindsam, um diese gern übernommene Auf¬
gabe aus die Länge durchzuführen. Seinem Schüler Herrn Drey-
fuß, der es an gutem Willen ihm gleich that, hat die Natur zugleich
auch stärkere Nerven verliehen.


Auf das erste Zeichen, das er gab, begannen die elementaren
Uebungen, wie sie in den Gesangschulen, die auf dem Systeme des
wechselseitigen Unterrichts beruhen, Statt finden; dann wurde» Kir¬
chengesänge mit Begleitung der Orgel ausgeführt. Dabei sangen
denn alle Zöglinge, die Unheilbaren mit eingeschlossen, mit vollstän¬
diger Beobachtung aller Gesetze der Rhythmik und Harmonie. Wäh¬
rend dieser ganzen ersten Sitzung, die ungefähr eine Stunde dauerte,
bemerkten wir, trotz der strengsten Beobachtung, — und das
ist der wesentlichste Punkt — auch nicht eine Bewegung des Wahn--
sinus, auch nicht ein Zeichen der Tollheit; ja nicht einmal daS ge¬
ringste Merkmal auch nur der Ungeduld nahmen wir wahr. Am
Schluß des letzten Ensemble-Stückes bat Dr. Trolat eine seiner
Kranken, sie möchte uns doch eine Romanze singen und diese ge¬
horchte ihm ohne alles Zaudern. Wird man uns daS Folgende


[]

glauben wollen? Und doch ist es vollkommen wahr. Meyerbeer
versicherte uns, die Töne dieser Wahnsinnigen, die ihr wie Perlen
entfielen, erinnerten ihn an die berühmte Persiani. Dabei hatte
diese Irre sich bisher hartnäckig geweigert, die Noten zu lernen und
sich dadurch schon mehr als einen sanften Verweis des dirigirenden
Arztes, wie des Gesanglehrers, zugezogen.


Darauf setzte sich Liszt an'ö Pianoforte, um Geraldy zu beglei¬
ten, der für seine Zuhörerschaft von Irren eben so trefflich sang, wie
er es im glänzendsten Pariser Salon zu thun gewohnt ist. Un¬
möglich vermag ich den Eindruck zu beschreiben, den eine erste tra¬
gische Romanze hervorbrachte; auf allen Gesichtern konnte man eine
tiefe, gewaltige Rührung lesen, als der gefühlvolle Sänger seine'
starken, schmerzerfüllter Töne hinwarf. Nach diesen sang Geraldy
das Lied des Wundcrdoctors aus dem „Liebeötrank"; auch hier ward
von allen Zuhörern sowohl der Sinn der Tertworte, als auch der
alle seine Nuancen wiedergebende Gesang eben so richtig aufgefaßt,
als eS der Sänger selbst gethan hatte. Der Tert lautet unter An¬
derem wie folgt: „Ich heile,, singt der Charlatan:


„Des Fiebers wilde Gluth,
Wie auch gcbroch'ne Herzen,
Des Wahnsinns grause Wuth
Und selbst, und selbst Zahnschmerzen."

Das Volkssprichwort sagt, man solle im Hause deö Gehängten
nicht vom Galgen sprechen. Aus diesem Grunde zitterten wir auch
im Voraus, als Geraldy diese Arie begann, da wir wußten, daß
in der Litanei von Krankheiten, die er herzählt, auch der Wahnsinn
vorkomme. Aber der Sänger wiederholte sogar das gefährliche Wort
mehrere Male und die armen Kranken lachten ... Darf ich es wa¬
gen, zu schreiben, wie toll?----


Der Blödsinnige lebt gleich dem Thiere nur durch instinktartige,
von seinem freien Willen unabhängige, innere Antriebe. Nun mache
Man selbst einen Schluß auf den Einfluß der Musik, in Bezug auf
die Behandlung der Geisteskranken, aus der Thatsache, daß eine
Blödsinnige an'dem Gesangunterncht, und der Ausführung der grö¬
ßeren Ensemblestücke einen eben so eifrigen und regen Antheil nimmt,
wie die übrigen mehr oder minder wüthenden Irren und die Un¬
heilbaren.



[]

Wir haben vorhin einer Irren erwähnt, die aus Gründen an
einen Pfahl befestigt war. Diese Unglückliche hielt ihr Gesangbuch
in den Händen und schien, ehe der Unterricht begann, gegen Alles,
was um sie her vorging, stumpf und gleichgültig. Aber bei den
ersten Tönen, die auf der Orgel angeschlagen wurden, schienen ihre
geistigen Kräfte gleichsam aus dein Schlummer zu erwachen; sie sang
mit der ganzen Classe mit; es war dies aber für ihre außerordent¬
lich reizbare Empfindsamkeit zu wenig. Nach Beendigung der Chor-
gcsnnge nahm sie allein den musikalischen Gedanken des letzten wie¬
der auf und sang ihn vor sich hin mit leiser Stimme, so daß wir,
die in ihrer Nähe standen und sie mit gespannter Aufmerksamkeit
beobachteten, es hören konnten. Darauf küßte sie ihr Buch, als ei¬
nen. Quell der Harmonie und der Melodien, und begann von
Neuem, aber noch leiser, nur wie ein fernes, schwaches Echo, ihren
Gesang.


Als dann Geraldy mit seiner sanften und doch so schmetternden
Stimme sang, sog sie förmlich mit allen Poren die Tone ein. Als
die komische Arie des Wunderdoctors aus'dem Liebestrank zu Ende
war, äußerte Meyerbeer, der vor dieser plötzlich mit Leben beseelten
Statue bewundernd dastand, daß, wenn es ihm möglich wäre, seine
Kunst noch mehr zu lieben, er es thun würde, da er gesehen, wie
die Musik die schrecklichste aller menschlichen Leiden in so hohem
Grade zu mildern im Stande sei. Während dieser Worte drangen
plötzlich schwache Töne, aber ganz richtig gesungen, in unser Ohr ;
es war die an den Pfahl befestigte Irre, die den komischen Refrain
aus dem Liede des Wunderdoctors:


„Des Wahnsinns grause Wuth
Und selbst, und selbst — Zahnschmerzen."


so Worte, wie Melodie, in derselben Tonart, in demselben Zeit¬
maß wie Geraldy sang. An ihren Pfahl festgebunden und zu
starrer Unbeweglichkeit gezwungen, erinnerte sie an die harmonische
Memnonssäule, die ja bekanntlich, wenn sie der erste Morgensonnen-
strahl trifft, einen verschwimmend melodischen Ton von sich giebt


Die Bewohner des Orients halten einen Irren für ein geheilig¬
tes Wesen und glauben, seine Nähe sei Glück und Heil bringend.
Diesem Vorurtheck verdanke-? es die Wahnsinnigen jener Gegenden,
daß man sie nicht aus dem Schooß der Gesellschaft verbannt, noch


[]

sie durch eine schlechte Behandlung quält und ärgert, sondern sie im
Gegentheil mit zuvorkommender Sorgfalt überall aufnimmt. Sie
streifen daher frei und ungehindert durch die Städte, und die Thüren
aller Häuser stehen ihnen offen. So erhaben auch die gutmüthige
und gefühlvolle Grundlage dieses Aberglaubens -der Morgenländer
ist, so ist ihr Verfahren doch eine Unklugheit in gesellschaftlicher Be¬
ziehung und hat sehr oft bedeutende Nachtheile für das Gemein¬
wohl. Bei uns nun, wo die auf die Beobachtung fußende Wissen¬
schaft Schritt vor Schritt vorwärts gekommen ist, müßte man sich
dazu entschließen, diese traurige Abtheilung der großen Familie der
Menschheit so viel als möglich von den Uebrigen abzusperren. Ist
es zudem wahr, wie neuerdings immer zahlreichere Thatsachen es zu
erweisen scheinen, daß der Wahnsinn ein erbliches Uebel ist, so
können wir nicht umhin, unsre, wenn auch nur schwache Stimme
gegen die Meinung derjenigen Aerzte zu erheben, welche für andre
Länder Europas die Errichtung einer Irre ncolo nie vorschlagen,
wie sie seit dem sechsten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung in Gheel
in Belgien besteht, wo die Kranken in vollkommner Gemeinschaft
mit den andern Einwohnern leben und an ihren Arbeiten, wie an
ihren Vergnügungen Theil nehmen.


Ueber kurz oder lang werden wohl in diesem Punkte Wissen¬
schaft und Gesetzgebung mit einander übereinstimmen und wird die
letztere das Eingehen rechtskräftiger Ehen mit Personen, die mit
dieser unglücklichen Krankheit behaftet sind, nicht gestatten. Wir können
uns übrigens hier einer auf Thatsachen begründeten Bemerkung
nicht enthalten, daß nämlich die Fälle des erblichen Wahnsinnes bei
den Reichen und Adligen häufiger vorkommen, als in den mittleren
Classen der Gesellschaft. Der Wunsch, große Vermögensinassen
unzerstückelt beisammen zu halten, aristokratische Eitelkeit, deren ein¬
zige Sorge dahin geht, den Glanz eines alten Wappens nicht durch
eine Mesalliance zu beflecken, oft sogar diese beiden Gefühle in einem
und demselben Falle vereint, erlangen das Uebergewicht über alle
Rücksichten der Gesundheit und des häuslichen Glückes. Reiche ver¬
mählen sich mit ihren reichen Verwandten, Adlige verknüpfen die
verschiedenen Aeste thres Stammbaumes mit einander. Und in
Folge dieser nur von Geld- und Hochmuths-Rückstchten herbeige-


[]

führten Heimchen pflanzen sich so viele erbliche Uebel, zu denen eben
auch der Wahnsinn gehört, fort.


In Bezug auf die nun einmal nothwendig gewordene Absper¬
rung dieser Unglücklichen, — eine Nothwendigkeit, vie stets be¬
stehend bleibt, — ist es gegenüber einer so grausamen Gegenwart
und einer nicht minder schmerzlichen Zukunft ein Trost, zu wissen,
daß gewisse geistige Genüsse, besonders aber die Arbeit, nach und
nach in die Irrenhäuser Eingang finden können. Denn die Arbeit
gewährt diesen Köpfen, die auf ihre Art entsetzlich thätig sind, eine
gewisse Ruhe und diese Körper, die bald in ihren wüthenden, tollen
Bewegungen reglos sich zermartern, oder, wie zerbrochene Maschinen
ohne treibende Kraft, starr und unbeweglich bleiben, finden in einer
anhaltenden Beschäftigung ihre Gesundheit wieder. Und dieses Re¬
sultat wird wenigstens größten Theils der Musik verdankt, die eS
zwar nicht allein herbeiführt, aber doch seine Erreichung in hohem
Grade erleichtert.


Die Anwendung der Musik in Irrenhäusern ist übrigens nichts
Neues; Pinel, Esquirol, Pariset und andre berühmte Lehrer der
Seelenkrankheiten haben die Macht dieser Kunst erkannt und in den
von ihnen geleiteten Anstalten sie gebraucht. Die eigentliche Er¬
oberung der neuesten Zeit in dieser Beziehung ist, daß man die
Kranken, noch während sie in der Behandlung sind, zur Arbeit be¬
wogen und dazu die Musik als Reizmittel angewandthat. Außerdem
hat die Musik auch einen unmittelbaren, unbestreitbaren, leicht nach¬
zuweisenden Einfluß auf das Erwachen der geistigen Kräfte. Und
wenn es wahr ist, wie man uns versichert hat, daß nach jenen
Unterrichtsstunden, in denen sich die Macht der Harmonie durch die
vollkommne Ruhe der Gemüther und die Entwickelung eines rührend
kindlichen Wetteifers kund giebt, keine unangenehme Reaction ein¬
tritt, muß man alsdann nicht ein Mittel ermuthigen, dessen fast
zauberische Wirkung täglich den unglücklichen Wesen, die zu unauf¬
hörlichen Schmerzen verdammt scheinen, zwei bis drei Stunden des
Leidens auf unschädlichen Wege benimmt?


Wir haben, seitdem wir diesen Besuch in der Salpetriere ab¬
gestattet, sonst sehr ernste und bedächtig urtheilende Männer zu
unsrem Erstaunen sich tadelnd darüber aussprechen hören, daß man
in neuester Zeit eine so außerordentliche Sorgfalt auf die BeHand-


[]

lung der Irren verwende. „Wäre es nicht besser," äußerte sich unter
Andern ein bedeutender Arzt gegen »»ich, „den aufopfernden Fleiß
der Aerzte und das Geld des Landes für andre Krankheiten zu
verwenden, deren Geheimnisse die Wissenschaft kennt, und die zu be¬
siegen sie mehr Aussicht hat?" — Aber fragen wir dagegen, sollen
wir, weil Gott in seiner weisen und gerechten Strenge und aus
uns unbegreiflichen Ursachen einen Theil der menschlichen Familie
hart behandelt hat, deshalb grausam gegen ihn sein? Nein, sagen
wir und erklären uns in aller Demuth unmaßgeblich dahin, daß
jedes Mittel, wodurch diese Unglücklichen eine Rast in ihren Leiden
erlangen, sei es auch nur eine zweistündige jeden Tag, uns eine
Eroberung zum Heil der Menschheit dünkt, daß also alle dadurch
veranlaßten Ausgaben, selbst der Ankauf eines Pianoforte und die
monatliche Bezahlung eines Klavierstimmers uns keinesweges eine
Verschwendung scheinen. So lange wir in Europa nicht so inhuman
werden, daß wir mit Lykurg und den chinesischen Gesetzgebern,
alle dem Staate unnützen Wesen zum Tode verurtheilen, so lange
werden Irrenanstalten auf Kosten der Gesammtheit eine Nothwen¬
digkeit und Erleichterung des traurigen Looses dieser Unglücklichen
eine heilige Pflicht sein.


Doch ist eS Zeit, daß wir in den Nahmen unsres Artikels zu¬
rückkehren, über den hinaus uns das Interesse des Gegenstandes
unwillkürlich fortgerissen hat. Mögen also unsre Leser gütigst mit
uns und den berühmten Künstlern, denen wir uns angeschlossen, in
eine zweite Classe der Deklamation und des Gesanges eintreten, die
ebenfalls in der Anstalt des Dr. TrÄat besteht.


Hier hat man wahrhaft erstaunliche Resultate erhalten. Die
Deklamationen prosaischer und poetischer Stücke zeigen von einer
größeren Ruhe der Geister, von einer Folgerichtigkeit der Ideen, die
man bei Irren kaum für möglich halten möchte. Wir hörten hier
nach einander mehrere sehr gut und in vollkommenster Ordnung vor^
getragene zweistimmige Romanzen und Notturni. Bet den Schüle¬
rinnen dieser Classe war der Wetteifer dermaßen entwickelt", daß
einzelne von ihnen, begierig vor dem fremden Besuche alle ihre besten
Leistungen an den Tag zu legen, dem Lehrer auf einem zusammen-,
gelegten Streifen Papier den Titel der Declamations- oder Gesang,
Stücke zukommen ließen, die sie am besten inne hatten, oder mit


[]

denen sie am meisten Ehre einzulegen, ihre Stimme im vollsten Glanz
zu zeigen hofften. So recitirte eine schöne, junge Dame mit einem
rührenden Ausdruck tiefen Gefühls Lamartine's „Gebet eines See¬
mannes." So sagte eine andre junge Person, deren Wiederherstel¬
lung so weit vorgeschritten ist, daß sie bald wieder ihren früheren
Platz in der Gesellschaft, als ausgezeichnete Lehrerin, wird einneh¬
men können, eine Scene aus einem kleinen Lustspiel mit unendlich
vielem Witze her. So bezeugten mehrere andere Damen, durch die
Recitation einiger Lafontaine'schen Fabeln das vollständige Verständniß
des Inhalts ihrer Seits und berechtigten zur Hoffnung einer baldigen
Rückkehr zur Vernunft. .


Ein von allen Anwesenden gesungenes Ensemblestück machte
den Uebergang zum musikalischen Theil der Stunde. Nach demsel¬
ben sang ein junger Poltergeist (deren eS leider selbst unter den
vernünftigsten Bewohnerinnen der Anstalt giebt) eine Romanze aus
einer komischen Oper mit so viel gemüthlicher Laune und so genau
dazu passendem -Rienenspiel, daß es einer Theatersängerin keine
Schande gemacht hätte. Hierauf sangen zwei Damen, die eine ein
Sopran mit sehr richtigem Treffen der Noten, die andere ein aus¬
gezeichneter Contrealt, ein Notturno, betitelt: „Der Genfer See"
auf eine Weise, daß ihnen im schönsten Conzert allgemeiner Beifall
nicht entgangen wäre. Nachdem noch mehrere Stücke ausgeführt
wurden, welche alle eine Probe anhaltenden Studirens, wieder auf¬
gewachter Geisteskraft und wenigstens großen Theils zurückeroberten
Verstandes abgaben, wurden seine Schülerinnen reichlich belohnt.
Geraldv nämlich sang ihnen Romanzen und Bravourarien mit jenem
seelenvollen Gefühlsausdruck, der ihm eigen ist. Er erntete dafür
die wärmsten Beifallsbezeugungen seiner sämmtlichen Zuhörer. So¬
dann setzte sich Liszt an'S Pianoforte und spielte das Finale aus der
Ouvertüre zu „Wilhelm Tell." Als er an das Crescendo kam,
das stets, selbst auf die blastrtesten Zuhörer der großen Oper, einen
gewaltigen Eindruck zu machen nicht verfehlt, gab sich von Seiten
der reizbareren Organisationen eine so diese, aus dem Innersten her¬
vorbringende Empfindsamkeit kund, daß wir einen Augenblick be¬
fürchteten, dieses Delirium des Glückes werde im wirklichen Wahn¬
sinn übergehen. Gott sei Dank aber war dies nicht der Fall.


Kaum hatte der große Künstler sein Spiel beendet, so kam den


[]

Besuchern ein in aller Eile geschriebenes Billet zu. Wir theilen
es, als den passendsten Schluß dieses Artikels, in wörtlicher Ueber¬
setzung unsern Lesern mit; es lautet: „Wir bedauern nicht mehr,
krank gewesen zu sein; denn ohne dieses Unglück würden die meisten
von uns kaum je das Glück gehabt haben, die Herren Meyerbeer,
Liszt und Geraldy zu sehen und zu hören."--


[]

T a g e b u eh.



(von Fr. von Sattel.) Laiencvangelium,


Schon der Name dieses Buches erinnert an dasjLaienbevier von L. Sche¬
fer. Das Evangelium wie das Brevier enthalten didaktische Gedichte, in denen
die Verfasser ihre Philosophie, eine eigene Betrachtung der Welt und des
menschlichen Lebens, ausgesprochen haben. Schefer jedoch ist poetischer, origi¬
neller; aber er ist auch reicher und mehr im Kleinen verloren; seine Dich>
tungen sind nicht selten spielend, coquettirend mit Lieblingsgefühlen, und des¬
wegen unangenehm. Dann aber ist Schefer wieder erhaben in Anschauungen
und Gedanken, rasch, kühn und glücklich in Bildern; v. Sattel hingegen ist
mehr Denker, kalt, klar und strenge, immer in gleicher Linie der Reflexion
fortschreitend; er ist mehr Lehrer als Dichter; trockener, allein auch männli¬
cher als der Verfasser des Breviers, giebt er nicht, wie dieser, jedem Reiz der
Einbildungskraft, jeder Lockspeise der Anschauung nach; und dazu kommt
noch das Verdienst, daß er nicht in reimlosen Zeilen sich ergeht, von denen
ein Dichter sagt:


Und fliehe wie den Tod die ungereimten Jamben!


Aber diese überdachten, gleichmäßigen Dichtungen werden eintönig und ermü¬
dend, nicht allein wegen der vielen Wiederholung der Hauptidcm, sondern
sobald man sie, freilich gegen das Recept, in zu großer Dosis nimmt. Man
soll, wie in ein Salzfaß, nur von Zeit zu Zeit mit kleinen Löffeln hinein^
tauchen.


[]

Das Laicnevangelium bringt eine Reihe von Gedichten, über alle mögli¬
chen Stellen der Evangelien, die nur irgend einen Anlaß zu poetisch-contem-
plativer Behandlung hergeben. Man muß die Ausdauer des Verfassers bewun¬
dern, daß er, statt frei seiner Inspiration sich zu vertrauen, das System
seiner Gedanken, denn so können wir es wohl nennen, immer an einen Text,
an ein Factum, eine Lehre seines Landes anknüpfte. Gemähre von den Ideen
einer angesehenen Philosophenschulc, hat er sich die Aufgabe gestellt, diese Ideen
und die tausendfache Anwendung derselben in der sittlichen Welt, den Bibel¬
stellen aufzuprägen, welche seinen Lehrgcsängen zu Grunde liegen. Wir unter¬
suchen hier nicht die Wahrheit seiner Grundsätze, und die Richtigkeit, der Aus¬
legung seiner Texte; der Leser wird nicht lange suchen müssen, um auf die
Lehren zu stoßen, welche in der jüngsten Zeit die theologische und philoso¬
phische Welt aufgeregt haben. Wir, die wir uns zu jenen Ansichten nicht
bekennen, fassen hier das Buch von Sattel nur als Kunstwerk auf. In
seiner Aufgabe lag offenbar die freieste, ideellste Behandlung der Schrift; und
diese ist ihm in, manchen Stücken allerdings gelungen. Nur will uns ti
Doppelnatur des Buchs nicht behagen, das bald in den Ton einer Predigt,
bald, mit gedämpften Saiten, in den der Poesie einschlägt. Der Verfasser
ist von der Dogmatik, von dem naiven Glauben zu weit abgewandt, um im
Herderschcn Legendentone zu uns zu reden; er ist zu sehr Philosoph, um mit
Glück den Prediger zu spielen; und doch macht er zu gewissenhaft den Meister
und Interpreten, um Sänger und singender Weiser zu sein. Wenn wir die
Masse an Gedanken, an poetischen Keimen und Trieben, die im Werke ver¬
streut sind, überschlagen, so können wir den Wunsch nicht zurückhalten, daß
diese Kräfte, diese Stosse völlig entbunden wäre, daß der Dichter eine erhabene,
eine kühnere Form gewählt hätte, daß er hie und da, um der Sammlung
mehr Schwung und Gluth zu verleihen, sich eben so sehr dem Hymncndichter
genähert haben möchte, wie er jetzt meistentheils dem Schulmeister in's Ge¬
werbe greift. Ein kalter Stoff, wie solche Lchrbetrachtungen sind, und es soll
das durchaus kein Borwurs sein, kann nur durch eine höhere Conception be¬
feuert und zur Schönheit gebracht werden. Wir verlangen hier nichts Unmög¬
liches. In der „Weisheit des Brahmanen" z. B. ist unsere Forderung an
mehr als Einer Stelle erfüllt. >


Was Herr v. Sattel in seinem Evangelium geleistet, bezeichnen wir mit
Einem Worte vollständig: eine Vergeistigung der Evangelien, nach den
Ideen der Schule, der er angehört. Der Geist ist das Panier, zu dem er
geschworen; in ihm geht ihm die Menschheit aus; von Natur ist überhaupt


[]

wenig die Rede. Es findet sich kaum ein Stück, wo er nicht auf das Urpri»-
cip seines Systems zurückkommt, und es ist interessant, dasselbe durch das
Wuch hin zu verfolgen. Für unsern Dichter ist der „Geist" nicht blos ein
unverstandenes Zauberwort geblieben, eine absolute Formel, die alle Fragen
beschwichtigt, ein Veus ex mavluns,, der überall, wo es Noth thut, in der
Geschichte, in der Kunst und Politik, ohne Weiteres einfallen muß, ein despo¬
tisches K tont, womit jeder Stich eingezogen wird; sondern hier ist der Geist,
der bei Vielen mehr Chaos als Gott ist, wirklich in Entwicklung gesetzt, er
erscheint hier in tausend Metamorphosen des Denkens, thätig, bestimmt, als
lebendige, unendlich anwendbare Wahrheit.


Folgen wir dem Dichter eine Zeitlang auf seinem Wege durch das Reich
des Geistes. Die Erkenntniß ist der Ausgangspunkt der Geschichte, sie geht
über des ersten Menschen Paradies:


„Doch ich, bei Gott! nicht möcht' ich mit ihm tauschen,
Noch heut' würd' ich die Frucht zu brechen wagen.
Nicht mag ich Edens Klang halb schlummernd lauschen,
Und mich in dumpfer Unschuld wohl behagen.",

Durch den Akt der Erkenntniß tritt der Mensch in „freier Geister Orden";
der Geist ist Freiheit und That, der die Welt überwindet, indem er sie neu
gestaltet; Thätigkeit ist Heil und Besitz.


„Und was wir selbst errangen, sei uns Wahrheit,"


nicht das Ueberlieferte, Todte. Erneuernd und höherbildcnd schreitet der Geist
durch die Geschichte; die Vergangenheit ist die Unterlage, worauf das Gebäude
der reinern, geistgeschaffcnen Welt emporsteigt:


„Der Bau wird auf bis zu den Sternen streben.
Immer den Stoff vergeistigend nach oben,
Bis letzte Thürme, lichtdurchbrochen, schweben,
Gedanken, in das co'ge Blau gewoben.".

In diesem Beruf kann ihm nichts widerstehen:


„Hin geht der Geist, erfüllend seine Zeiten,
Trotz Ketten und Schaffst, trotz Dolch und Gifte."

Aber der Krieg, der dem Gedanken gilt, ist „ein schlimm'res Morden" als
das Blutbad zu Bethlehem:


„Die Herrn der Welt, manierlicher geworden,
Sie tödten keine Kinder, blos Gedanken.
Da blitzt kein Stahl. Mit leichtem Fedcrschwenkcn
Wird Geistcstodtschlag säuberlich vollzogen.

[]
Nur dies und das dürft ihr nicht lerne» denken —
Sonst bleibt man euch ja väterlichst gewogen."

Nur der Geist hat rechten Werth, und Alles durch ihn:


„Des Mensche» echte Kost ist Gottes Wort,
Weißt du nach Brot, nach Futter nur zu streben —
Schau, wie gemüthlich liegt der Ochse dort
Im Gras und kaut. Geh, lege dich daneben-"

Man sieht, des Dichters Seele ist ganz transparent vom Geist; alle andere
Realität ist nur trüber Schein und gemeines Futter gegen den Glanz der
Wahrheit. Wäre der Verfasser nicht so klar und spekulativ, wir würden sa¬
ge», er sei des Geistes trunken. Wir räumen gern ein, daß seine abstracto
Weltanschauung, auf dem Gebiete, wo er uns heute begegnet, manches poeti¬
sche Samenkorn ausgehen lassen könne, weil seine Didaktik kein Formeln von
Sprüchen, sondern ein eigentliches Producircn von Gedanken ist. Doch kön¬
nen wir im Ganzen das Urtheil nicht zurückhalten, daß wir dem Geiste
mehr vertrauen würden, wenn er nicht so viel von sich selber redete.


Note: Th. Seht.

Heinrich Merz.


Dr. Heinrich Merz, einer der kräftigste» und geistvollsten Schriftsteller,
welche in letzterer Zeit aufgetaucht sind, ist von Cotta für das Kunstblatt ge¬
wonnen worden. Ob er als wirklicher Redakteur dieses Blatt, welches jetzt
ohne Nennung eines solchen erscheint, —die Herrn Kugler und Förster sind nur
als Mitwirkende genannt — unterzeichnen wird, wissen wir noch nicht anzu¬
geben. Jedenfalls wird er von nun an in Stuttgart wohnen, wo er nach
einer im geistigen Interesse des erwähnten Blattes zurückgelegten Reise nach
London und Paris vor einigen Wochen angekommen ist. Wir machen unsere
Leser auf eine Reihe von Briefen über die Münchener Kunst und
Künstler aufmerksam, welche die Grenzboten aus der Feder dieses scharfsin¬
nigen Psychologen und Kunstkritikers in ihren nächsten Nummern bringen
werden, und welche Vieles muthig aussprechen, womit man bisher hinter dem
Berge gehalten hat. Hr. Merz ist Schwabe, Protestant und Theologe; dies
muß man wissen, um die Individualität dieses Schriftstellers gehörig zu
verstehen.


[]

Wilde Blumen von Joseph Mendelssohn.


Viel Dilettantismus, wenig Eigenthümlichkeit, aber manches hübsche sang¬
bare Lied. Letzteres ist kein geringes Lob in unserer didaktischen Zeit, welche
die Liedercomponistcn zur Verzweiflung bringen könnte. In dieser Gedicht¬
sammlung finden diese Herren manchen dankbaren Stoss in leichter Versisication
mit nicht allzuschweren Gedankenballast, gerade wie sie es brauchen können.


.'»ZttmZüins)»i!iA»,.7«-p,,?un,,.'ZZ.'Il-si
Noch einige Details über Rossini.


Rossini, dessen Ruhm dem Meucrbcer's um so viele Jahre vorcmeilte, ist
doch nur um zwei Jahre älter, als dieser. So frühzeitig reift das Genie in
den südlichen Ländern. Bekanntlich ist Rossini der Sohn eines armen Teufels,
der als Waldhornist bei einer wandernden Theatertruppc ganz Italien mit
seiner Familie durchzog, im heißen Sommer, wie im kalten Winter baarfufi,
armselig gekleidet und der in Dörfern, deren Namen man kaum kennt, mit
jener erbärmlichen Truppe Opern aufführte. Mit einem solchen Vater zog der
junge Rossini bis zu seinem zwölften Jahre herum, indem er die Secunde der
Waldhornpartien vor rohen Bauern und wilden Hirten spielte. Seine geisti¬
gen Kräfte, die schon damals hervorragten, verschafften ihm die Aussicht, bei
der Truppe als Cymbalschlägcr angestellt zu werden. Endlich ward er halb
aus Mitleid in der Bologner Musikschule in die Contrapunct-Classe aufgenom¬
men; da aber machte er so reißende Fortschritte, daß er in seinem sechzehnten
Jahre eine Cantate und zwei Jahre darauf seine erste Oper aufführen ließ.
In seinem zwanzigsten Jahre, 1812, schrieb er in dem kurzen Zeitraum von
eilf Monaten fünf große Opern für fünf verschiedene Theater Italiens. Im
Jahre darauf begann sein Ruhm durch die Opern „Trancred" und „die Ita¬
liener in Algier" größer und ausgebreiteter zu werden. Von da an folgten
seine Arbeiten mit unbegreiflicher Schnelle eine der andern. Im Jahre I82Z
aber fühlte sich der Künstler durch den mittelmäßigen Erfolg, den seine „Se?
miramis" in Venedig erhielt, verletzt; er verließ Italien, hielt sich in Paris
nur kurze Zeit auf, und eilte nach London, wo er fünf Monate blieb. Dort
verlor er seine Zeit nicht; denn der Ertrag für Concerte und Lectionen belief
sich auf 250,000 Fras-, d. h. beinahe 1700 Fras. jeden Tag. Darauf kam er
nach Paris zurück, übernahm daselbst die Direction der italienischen Oper,
die sich damals in blühendem Zustande befand, die aber durch seine Unthätig-
keit und Faulheit ihrem Untergange nahe gebracht ward, so daß man sich ge-


[]

nöthigt sah, ihn zum Rücktritt zu bewegen. Zum Ersatz ward ihm dafür die
Stelle als General-Inspector des Gesanges in Frankreich und als Intendant
der Musik des Königs, eine reine Sinccurc, die ihn zu Nichts weiter ver¬
pflichtete, als jährlich 20,000 Fras. einzucassiren. Durch die Julirevolution
verlor er diese Stellung; seinem Contracte zufolge machte er Anspruch aus
eine Pension und gewann den Proceß, den er deshalb mit der Commission
führen mußte, welche die Schulden der Civilliste zu liquidiren hatte. Wäh¬
rend der Dauer dieses Processes hatte er sich in eine Dachkammer oberhalb
des Bodens der Italienischen Oper zurückgezogen und behauptete, er sei ruinirt
und müsse sich auf's Sparen legen, obgleich es weltbekannt war, daß er ein
reicher Mann sei. Dort warteten oft die vornehmsten Personen, die sich eine
schmutzige lciterähnliche Treppe zu ihm hcraufgctappt hatte», im Vorzimmer,
bis es ihm gefällig war, sie vorzulassen. Nachdem er 1829 in einem Alter
von 37 Jahren „Wilhelm Tell" geschrieben, warf er die Feder weg, mit dem
Vorsatze, sie nie wieder zu ergreifen; er hielt seine Laufbahn für geschlossen.
Seitdem lebt er in Italien, ohne eigentliche Beschäftigung, abwechselnd in
Mailand und Bologna, in welcher letzteren Stadt er, (wie letzthin unser Brief
aus Mailand berichtete,) sich mit der Leitung des Eonservatoriunis beschäftigt.
Er ist dabei jedoch mißvergnügt mit der Welt und unzufrieden mit sich selbst
und von Langeweile stets geplagt. Seinem Entschlüsse, Nichts mehr zu schreiben,
oder eigentlich nur Nichts mehr zu veröffentlichen, ist er bekanntlich in neue¬
ster Zeit durch sein vielbesprochenes Stabat Mater untreu geworden. Die
Anzahl seiner Oper» beläuft sich übrigens auf acht und vierzig^


Saphir und G u ez k o w.


Saphir reißt den Richard Savage, der bekanntlich am Hoftheater zur
Aufführung kam, in Stücke. Wir hätten gewünscht, daß er seinem Groll gegen
Gutzkow bei einer andern Gelegenheit Lust gemacht hätte. Kein Mensch wird
seinem Geiste es absprechen, daß wenn er dreinschlagen will, er auf die Gele¬
genheit nicht zu warten braucht. Die Zulassung! solcher Stücke wie Richard
Savage, überhaupt die Zulassung so verpönter Namen, wie die Mitglieder
des sogenannten jungen Deutschlands, an dem Hoftheater, ist ein politisches
Ereigniß und darauf hätte Saphir Rücksicht nehmen sollen. Jede Censurcr-
leichterung in Oesterreich ist eine Sache der Gesammtliteratur. Warum soll
man die Direktion, die Ecnsurbchörde in dem Augenblick, wo sie den ersten
Schritt zu einem freien Zugeständnis) macht, durch einen so schweren kritischen


[]

Hagel abschrecken? Saphir's Kritik, man mag dagegen sprechen, wie man"
will, ist in Wien von Bedeutung und Nachklang. Durch ein Mißverstehen
ihrer Stellung aber bezieht die Hofburgtheaterdirektion gewöhnlich einen Theil
des Tadels, der ein von ihr angenommenes Stück trifft, auf sich. Warum
also Waffen gegen sich selbst liefern? Warum die Veranlassung zu dem Aus¬
rufe bieten: „Seht, Ihr verlangt, daß wir ausländischen Schriftstellern, moder¬
nen Produktionen u. s. w. Rufnahme gestatten, nun haben wir Euch ein viel¬
besprochenes, gerühmtes Stück von dem meistbesprochenen, gerühmtcstcn und
modernsten ausländischen Schriftsteller vorgeführt und nun brecht ihr ihm selbst
den Stab?"— Wäre der Savage nirgends anderswo noch aufgeführt und
beurtheilt worden, als in Wien, so würden wir es dem literarischen Gewisse»
eines Kritikers nicht zumuthen, seine Meinung zurückzuhalten. Aber ein Drama,
das hundert und wieder hundert Mal analysirt und besprochen wurde!—Wir
sehen Saphir gerne in der Opposition, es fallen dann immer originelle Funken
und Blitze. Aber diesmal hätte ihm Milde besser geziemt.— Ueberdies müssen
wir zu Gunsten des Savage anführen, daß der schärfste und gelungenste Cha¬
rakter dieses Dramas, der Journalist Steele in Wien unbegreiflicher Weise
einem Schauspieler zufiel, der ein ganz anderes Fach spielt. Herr Lucas ist
ein hübscher, kräftiger, übrigens steifer Heldenspieler zweiten Ranges. Was
sollte der mit dem Steele? mit einer Rolle, die Seidelmann und Döring zu
ihren besten zählen? _


Victor Hugo's Palast.


Victor Hugo hat einen Palast, der auf der Place royale sich befindet, an
sich gekauft; es ist dies derselbe, den einst der berühmte Marion Dclorme
bewohnte. _^


Französische Tondichter.


Der älteste der jetzt lebenden französischen Tondichter ist Bertou. Er fei¬
erte vor vierzehn Tagen seine goldene Hochzeit. Die komische Ooer dankt die¬
sem Komponisten eine Reihe interessanter Opern. In den letzten Tagen hieß
es, Meyerbeer werde nun doch eine seiner neuen „im Portefeuille" schlummern¬
den Opern an der Acad^mie Royale de Musiaue aufführen lassen. Zwar nicht
den Prophet, dessen Zauüersprüche Meyerbeer in ein so großes Geheimniß
hüllt, wohl aber die Afrikanerin, in welcher der Stolz die Hauptrolle spielen
soll. Diese Oper soll sogleich nach der ersten Vorstellung von Halövy'ö Karl
VI. einstudirt werden. -


[]

Briefe aus der böhmischen Hauptstadt.



Note: Das deutsche und das böhmische Prag. — Kaiserlich-Königlich. — Wolfgang
Menzel., — Provinzialgcist. — Böhmen und Elsässer. — Böhmische Na-
rionawühnc. — Anschluß an den Zollverein. — Der Herzog von Bor¬
deaux. — Die Winke der Geschichte. —

Vielleicht findet der Leser die Aufschrift dieser Briefe etwas
pretentiös und gesucht. Warum nicht Briefe aus Prag? höre ich
fragen. Frei herausgesagt, weil Prag als deutsche, oder als öster¬
reichische Stadt, wenn man will, eine der monotonsten und trotz seiner
Hundert und zwanzig Tausend Einwohner eine der leersten Städte
ist, die in ihrer Stabilität wenig des Interessanten, Pulstrenden,
geistig Anregenden bietet. Darum sind die meisten deutschen Rei¬
senden, die über Prag geschrieben, selten über seine steinerne und
»aturhcrrliche Pracht hinausgekommen, sie haben von den Wundern
des HradschinS und der Brücke, der Moldauinseln und des Wische-
brads sich begeistern lassen, aber weiter hinaus reichte ihre Anschau¬
ung nicht; sie sahen und beschrieben das, was ein Reisender, der
zwei, drei Tage in einer Stadt sich aufhält, eben zu Gesichte be¬
kommt. — Länger hier zu verweilen findet sich der Fremde nicht an¬
geregt, weil das Leben, die Gesellschaft ihm hier weit weniger An¬
ziehendes und Mannigfaltiges bietet, als viele andere deutsche
Städte, deren Einwohnerzahl kleiner ist, wie München, Dresden,
Leipzig, Cöln, Frankfurt a. M. u. s. w.z größerer, wie Wien,


33
[]

Hamburg, Berlin, gar nicht zu gedenken. Ich wiederhole eS, als
deutsche Stadt ist Prag von keinem hohem Interesse als jede
andere Provinzialstadt. Aber als Hauptstadt Böhmens — da
öffnet sich plötzlich eine ganz neue Perspektive, da schwillt dieser von
der Natur und der Geschichte so reichgeschmückte Punkt zu einer
Bedeutung an, wie sie der oberflächlich Reisende, der nicht vertraut
mit der Landessprache ist, freilich nicht begreifen und entziffern kann.
In diesem Aneinanderstoßen der slavischen und der deutschen Bewe¬
gung, in dieser Reibung zwischen dem nationalen Stamm und der
fremden aufgepfropften Bildung, da liegt Leben, Kraft, Geist, Ge-
schichte^ da rennen Aktion und Reaktion in so geharnischtem Kampf
an einander und ringen und prallen ab, wie bei einem glänzenden
Turnier, da ringt die Zukunft sich vom Boden der Vergangenheit
auf und umklammert mit nervigen Armen den Leib der Gegenwart,
um sich an ihm aufzuranken und ihn unter sich zu bringen. ES
liegt etwas Prunkendes in der Benennung: „kaiserlich königliche
Hauptstadt Prag" aber auch eine ganze Charakteristik dieser
Stadt ist damit ausgesprochen. Diese Mischung des böhmisch-könig¬
lichen mit dem deutsch-kaiserlichen ist es, was Prag zu einer Haupt¬
stadt, d. h. zu einem Hauptpunkte so vieler denkwürdigen Bewegun¬
gen in Religion und Geschichte gemacht hat. Wenn unsere jungen
böhmischen Schriftsteller von ihrem Nationalgefühl sich zu der Ueber¬
treibung verführen lassen, alle die segensreichen Wirkungen welche
die deutsche Civilisation in Böhmen hervorgebracht, zu verkleinern/
so wollen wir das ihrem feurigen Patriotismus und dem Schwunge
der jugendlichen Leidenschaft zu Gute halten. Ein ruhiger Beobach¬
ter wird es nicht abläugnen wollen, daß der Zusammenhang Böh¬
mens mit dein deutschen Reiche ein Hauptmotiv seiner Cultur und
seines Glanzes wurde. Selbst Karl, der Vierte, der die kostbarsten
Steine der Bildung von dem Gürtel seiner Zeit gelöst hat, um sein
theures Böhmen damit zu schmücken, wurde das nicht vermocht haben,
wäre er nicht deutscher Kaiser gewesen. Und ist eS nicht deutsche
Bildung, an welcher sich die Kraft der jungen böhmischen Literatur
entzündet hat und mit deren Hülfe sie dem alten Körper der böhmi¬
schen Sprache wieder neues Leben giebt? Ich weiß, daß dieser Aus-
spruch, wenn er hier gelesen wird, ein ganzes Donnerwetter von
Polemik bei meinen jungen, böhmisch schreibenden Landsleuten über


[]

mich heraufbeschwört^ indeß soll mich dieses eben so wenig verlei¬
ten, meiner Ueberzeugung untreu zu werden, als über die ihrige so¬
gleich Zeter und Mordjo zu schreien, wie dies in der letzteren Zeit der deut¬
schen Nativnaldeklamationen Mode geworden ist. Wenn Herr Wolf-
gang Menzel in der letzten Nummer seines Literaturblattes, bei
einer Beurtheilung des neuesten Bandes der Palackyschen Geschichte
Böhmens, in den Bewegungen der böhmischen Literatur russische
Propaganda riecht und bei dieser Gelegenheit nicht umhin kann, et¬
was Böhmen zu fressen, wie er früher Franzosen gefressen hat, Sö
hat das wahrscheinlich seinen Grund darin, daß er seinem Gaumen
eine kleine Abwechselung bieten wollte. Vielleicht fühlt er, daß er
sich an den Franzosen einen Zahn ausgebissen hat, und will eS
nun versuchen, ob die Böhmen nicht mürber und weicher sind. Aber
wenn andere leidenschaftslose und aufgeklärte Männer Deutschlands
diese Nussenriecherei in allen Bestrebungen der jungen böhmischen
Literatur theilen, so kommt man auf die Vermuthung, daß Ideen
ansteckend sind wie Pocken und Nervenfieber, und eS nur eines Ein¬
zigen bedarf, der davon befallen ist, um sogleich ein ganzes Quartier
anzustecken. Die Anstrengungen der böhmischen Literaten, ihre Mus¬
tersprache zu haben, ist eines jener wunderbaren Mittel, welche vie
Vorsehung wählt, um die Keime der Civilisation unter einem Volke
zu säen, welches auf dem großen Wege der Cultur eine Zeit lang
in Rückstand geblieben ist. Beinahe zwei Drittheile dieses Land¬
striches, umgeben von deutscher Sprache und Bevölkerung, versteht
die Mundart nicht, welche in den deutschen Gauen der Wärmeleiter
geistiger Erleuchtung geworden ist. Will man jene Handvoll that¬
kräftiger, begeisterter Männer, welche die unsägliche Mühe über¬
nommen haben, auf den Teppich der alten Landessprache die Blu¬
men der modernen Bildung zu streuen, und Wissenschaft und Poesie
dem Landvolke und den arbeitenden Classen zugänglich zu machen,
ihren Beruf noch erschweren? Herr Wolfgang Menzel vergißt, daß
er mit seinen Bemerkungen nur jenen Denuncianten sich anschließt,
welche das traurige Geschäft treiben, ein tüchtiges, ruhig strebsames
Volk in den Augen seiner Regierung zu verdächtigen, daß er den
jungen böhmischen Schriftstellern gegenüber nur das wiederholt, was
er gegen die deutsche schriftstellerische Jugend einst so glorreich aus¬
geführt. Ich habe Deutschland nach allen Richtungen durchstreift


3?»
[]

und gefunden, daß der Provinzialgeift weder in Sachsen noch in
Preußen, weder in Schlesien noch in den Rheinlanden, weder in
Franken noch in Baiern, weder in Schwaben noch in Hessen fehl«.
Warum soll gerade der Böhme seine Provinz nicht lieben dürfen V
Wenn Hebel allemannische Gedichte schreibt, wenn man in Hamburg
und im Hannöverschen plattdeutsch Predigt, wird kein Mensch ein
Arg daran haben. Nur Böhmen soll seine Nationalsprache
abdanken — weil sie keine deutsche ist! Wahrlich, Ihr Herren,
macht Ihr den Elsässern auch die Zumuthung, sie sollen ihr Deutsch
vergessen, wie den Böhmen, ihr Böhmisch? Ich sollte denken: was
dem einen Recht/ ist dem andern billig.


Was würde Herr Wolfgang Menzel erst sagen, wenn er das
neue böhmische Theater sähe, welches im vorigen Monate hier ei-
öffnet wurde. ES ist dies für unsere Stadt immerhin wichtige Er¬
eignis) ein Beweis, wie große Fortschritte die Kräftigung des Na¬
tionalgeistes in Böhmen gemacht. Vor zehn Jahren zahlte das
böhmische Theater noch nicht ein Mal so viele Theilnahme, um die
Vorstellungen zu decken, welche deS Sonntags im ständischen Thea
ter, vor der deutschen Vorstellung (d. h. von 3 bis 0 Uhr Nach¬
mittags) Statt fanden, und nun ist das Publikum so angewachsen,
daß der Direktor Stögcr ein eigenes Theater dafür baute. Die
Eröffnung desselben, welche am Se. Wenzels tage Statt sand,
(der heilige Wenzel, einer der ersten christlichen Herzöge Böhmens,
der aus Veranlassung seiner heidnischen Mutter Drcihomira von
dem eigenen Bruder an der Schwelle einer Kirche ermordet wurde,
ist ein Lieblingsheld der Böhmen) füllte das neue Hans zum Bre¬
chen. Ein höhnisches Original-Lustspiel von dem Gymnasial-Pro-
fessor Swoboda füllte den Abend. Der Held dieses Lustspiels ist
Skreta, ein böhmischer Maler des siebzehnten Jahrhunderts (ge¬
storben 1674), die komische Person darin ist Hurka, ein Schwach¬
kopf, der nur das schön findet, was ausländisch ist und
alles Böhmische verachtet. Der Stoff gab Raum zu hundert
nationalen Anspielungen und der Jubel der Zuschauer floß in Strö¬
men; Dichter, Schauspieler, Direktor, Statisten, Alles wurde her¬
ausgerufen; ich glaube, man hätte gerne auch den neuen Saal selbst
herausgerufen, wenn nur die Zuschauer dann noch hätten darin blei¬
ben können. Die Eintheilung dieses neuen TheatergebäudcS hat


[]

manchen praktischen Mcksichten sich unterwerfen müssen. Die Bühne
ist sehr breit, aber nicht tief. Wir wollen hoffen, die böhmischen
Theaterdichter werden diesen Mangel in ihren Productionen dadurch
ersehen, daß sie bei ihren Dichtungen das umgekehrte Verhältniß
geltend machen: weniger Breite, aber desto mehr Tiefe. DaS Luft
spiel des Herrn Swoboda hat wirksame Scenen, obschon der Spaß
manchmal zu derb ist und nur für ein Sonntagspublikum berechne,
zu sein scheint. Indeß wollen wir uns bei dieser Gelegenheit nicht
auf das hohe richterliche Pferd setzen, und um des guten Anfangs
willen ein Auge zudrücken. ES werden von nun an in diesem
Theater wöchentlich drei Vorstellungen gegeben werden, darunter
eine Oper. Der wackere Schriftsteller Tyl hat die Regie. Man
erwartet einige interessante Novitäten von Klicpera; Uebersetzungen
wie Gutzkow's Werner, Don Juan, der Liebestrank, u. s. w. bilden
das anfängliche Repertoire. Da die meisten unserer Opernmitglic-
der geborene Böhmen sind, so ist für die böhmische Oper gut gesorgt.
Nicht so günstigen Umstands erfreut sich das böhmische Schauspiel,
welchem, mit wenigen Ausnahmen, nur untergeordnete Darstellerta¬
lente zu Gebote stehen — was ans den Dichter selbst eine Nachtheil
lige Rückwirkung hat und den Aufschwung der dramatischen Poesie
der Böhmen — in so weit sie der Bühne zufällt — niederhal--
ten muß.


Vielleicht mag Alles, was ich da mittheile, dem deutschen Pub-
likum, das keine Ursache har, für die böhmische Bewegung fiel' n>
interessiren, sehr befremdlich vorkommen, um so mehr als es
dabei bemerken kann, daß dieses Aufwachen des böhmischen Volks--
geistes Manches absorbirt, was Deutschland von Böhmen zu cnvar--
ten berechtigt ist. In der That ist eS so und in dieser Beziehung
will ich auch die Lage der Dinge nicht verschönern. ES wird auch
Manchem unangenehm sein zu erfahren, baß der Anschluß Oester¬
reichs an den Zollverein nirgends so viele Gegner findet als in
Böhmen. Freilich nicht aus nationalen Rücksichten, sondern aus
materiellen. Die böhmische Industrie, die seit einigen Jahren so sehr
im Steigen ist, hat nicht unbegründete Ursachen, die deutsche Rede«,
düsterm zu fürchten. Wenn es auch ganz falsch ist, daß - wie
einige Journale meldeten — die österreichische Regierung bei den
Vorzüglichsten unserer Industriellen direkte Erkundigungen einzog,


[]

inwiefern sie dem Zollverein beizutreten geneigt oder abgeneigt seien, so ist es
darum nicht minder wahr, daß die Regierung über die Gesinnun¬
gen derselben sich wohl unterrichtet hat. Wo es so viele indirekte
Mittel zur Kenntniß der allgemeinen Stimmung giebt, wie bei uns,
da braucht man sich von Oben nicht zu direkten Erkundigungen
herabzulassen. Eine schlimme Vorbedeutung für den projektirten
Zollanschluß ist es, daß der Delegirte, den der böhmische Gewcrbc-
verein nach Mainz zu der dortigen Industrieausstellung absandte,
dort statt aller Verbindungen nichts als — den Tod gefunden hat.
Der Verlust dieses trefflichen Mannes, der um seiner vielen Verdienste
willen, erst vor Kurzem von dem Kaiser in den Adelstand erhoben
wurde — er hieß Leopold Jerusalem von Salenfels — hat hier
eine große Theilnahme unter der Kaufmannswelt erregt, um so
mehr als die Nachricht von seinem plötzlichen Tode fast gleichzeitig
mit seiner Leiche, welche dessen Familie von Mainz abholen ließ,
hier einträfe). Die hiesigen Industriellen, ohnehin gegen den Zoll-



Note: Anm. d. Eins.


[]

verein mißtrauisch, sahen in diesem traurigen Ereigniß eine War^
mung deö Himmels. Wo man glauben will, da ist auch das Vor¬
urtheil nicht weit. Uebrigens muß man auf zwei Ohren hören und
eS fehlt, namentlich auf dem Lande, auch nicht an Stimmen, die den
GedankendesZollvereinanschlusseö als etwas sehr Willkommenes begrü¬
ßen. Hierunter sind die großen Walvbesitzer, die GlaShüttcninhaber, die
Steinkohlengruben-Eigenthümer, deren Industrie mit jedem Tage
sich vermehrt. Angeregt durch daS Eisenbahnwesen, werden häufige
Grabungen nach Steinkohlen angestellt und größtentheils mit Er¬
folg. Von Liblin nach Budweis wird eine Eisenbahn für den
Steinkohlen-Transport errichtet; das Einkommen derselben sollen
die Kohlenbergwerke Liblin, Nadnic und Purglic, die auf mehr als
W Millionen Centner geschätzt werden, verbürgen. Wenn in Oester¬
reich die Adressen an die Regierung und die Privatversammlungen
i, I-l I^lilctiiron so Sitte wären, wie in Frankreich, so würden vielleicht
nicht weniger Adressen für als gegen den Anschluß eingehen.


^.ä vcwem Frankreich melde ich Ihnen, daß seit einigen Tagen
der Herzog von Bordeaur sich hier befindet. Seine Anwesenheit
giebt unserem Adel Gelegenheit, seine monotonen Gesellschaften mit
einem neuen Gesprächsstoff zu beleben. Der Herzog wohnt diesmal
auf dem Roßmarkt, in derselben Straße, in welcher der General
Skrzinezky nach dem unglücklichen Ausgang der polnischen Revolu¬
tion mehrere Jahre wohnte. Welches sonderbare Zusammentreffen!
Welche Resultate deö Jahres I8ZV! Der Polengeneral als Sinn¬
bild der unterlegenen Revolution; der entthronte Prinz als
Denkmal der Siegenden! — In der Mittelklasse wird seine An¬
wesenheit gar nicht bemerkt. War man doch selbst zur Zeit, wo
Karl der Zehnte noch seinen kleinen Hof hier hielt, stumpf und
apathisch gegen die Ehre, die Nachkommen Ludwigs deöHeiligen und
Heinrich des Vierten in den Mauern unserer Stadt zu besitzen.
Die kleine Schaar Kaufleute und Handwerker, welche Mund- und
andere Waaren für die Bedürfnisse deö erilirten Hofes besorgten,
war es allein unter dem Bürgerstande, welche an dieser kleinen Co-



Note: Anm. d. Red.

[]

tome ein lebhaftes Interesse nahm. Frankreich ist für uns ein viel
zu ferner Staat, als daß man hier sich viel mit ihm beschäftigen
sollte. In dem engen Bette, in welchem der deutsche und böhmische
Wellenschlag.aufund niederwogt, ist keinPlatzfür ein drittes,—für fran¬
zösisches Wesen. Wenn der Herzog von Bordeaux, von seinein
Hofmeister und einem Bedienten begleitet, durch die Straßen ritt,
zeigte sich nirgends auch nur die geringste Theilnahme. Die Bür¬
ger blieben nicht stehen, um ihn zu grüßen, die Frauen traten nicht
in die Ladenthüre, um ihm nachzusehen. Wenn Letzteres vielleicht
jetzt eher als früher geschieht, so hat es seine Ursache darin, weil
der Herzog ein hübscher, kräftiger, junger Mann geworden ist, des¬
sen Anblick, trotz seines für seine Jugend unverhältnismäßig starken
Embonpoints, manches Busentuch höher schwellen macht. Ob er
hinkt, kann ich Ihnen nicht sagen, da ich ihn nicht zu Fuße gesehen
habe. Aber welch ein Unterschied zwischen seinem ersten und seinem
zweiten Hiersein, zwischen seinem Knaben- und seinem Jünglings¬
alter! Damals war der kleine hiesige Carlistenhof in zwei Factionen
getheilt: die Herzogin von Berry stand dem alten König Karl dem
Zehnten mit großen Ansprüchen gegenüber; die Henriquinquisten
erklärten den Herzog von Bordeaux für ihren König, weil sein
Großvater zu seinen Gunsten abgedankt. Karl der Zehnte wollte
jedoch keinen Fuß breit von seiner Würde vergeben. — Nun ist er
todt und seinem Enkel steht Nichts in dem Wege, König zu sein,
als--Alles. Der Tod des Herzogs von Orleans hat das
kleine Häufchen der Legitimisten gelüftet und das Schlimmste ist,
der junge Prätendent selbst hat den Glauben an sich verloren. Daß
er in österreichische Dienste treten will, wie hier Einige sagen, ist
eine offenbare Uebertreibung. ES wäre ein furchtbar tragischer Wink
des Schicksals, wenn der Sohn Napoleons und der letzte Sprößling
der Bourbons, die dem Hause Habsburg durch Jahrhunderte den
Krieg gemacht, auf der Namensliste der österreichischen Offiziere der
Nachwelt die wunderbaren Fügungen der Geschichte erzählten.


[]

Drei harmlose Briefe aus Schwerin.
(Bon
A. W. N.)



Es ist zwar schon spät geworden, und der Herbst streicht Einem
mit seinem rauhen frostigen Handschuh über das Gesicht, aber das
hinderte mich nicht, gestern Mittag hier in Schwerin anzukommen.
Der Reisende mit etwas leichtem Sinn sieht Frühling und Sommer
in Allem, was ihm neu und ansprechend ist. Ich, als ein Solcher,
muß gestehen, mich in meinen ahnenden Erwartungen getäuscht ge¬
sehen zu haben beim Einzug in diese Stadt, diese Residenz, die sich
wie ein langer Marktflecken anspruchlos vor mir hinzog. Indeß,
ihre Umgegend ist romantisch und manches schöne Gebäude streckt
sein keckes modernes Haupt über die niedern Grenzhäuser dieses Orts.


Mir zur linken Seite lag bei meiner Einfahrt der weit be¬
kannte Sachsenberg, das großartige Irrenhaus unter des rühm¬
lich bekannten Di-. Flemming Direktion, in dem schon Mancher
die Narrenjacke des poetischsten Zustandes in unserem einförmigen
Leben abgestreift und mit wieder gesundem Menschenverstand in die
gepriesene Prosader Alltäglichkeit gesprungen ist. Wenn man Schwerin


[]

die Thürme abnähme, die über den vielen moosgrünen Dächern ii°
der Lust hängen wie steile Schlafmützen, müßte man es für ein
langes Dorf halten, das in einem, es fast rund umgebenden großen
See schwimmt. Am Thor hatte ich eine Wache zu Passiren, ein
wirklich origineller Contrast zu dem unscheinbaren Aeußeren Schwe¬
rins; sie sieht aus wie ich die chinesischen Tempel und Häuser
überhaupt habe abgebildet gesehen, achteckig, wenn ich nicht irre, mit
vielmal geschnäbeltcm Dach. Der Himmel mag wissen, wie man
auf die Idee gekommen ist, eine Wache so ausländisch zu construiren.
Neben dieser schritt mit großer Gemächlichkeit ein mecklenburgischer
Chinese mit dichtem Schnurrbart. Vor mir lag die Paulstadt, ein
ganz neues Viertel, welches des unlängst verstorbenen Großherzogs
Paul Friedrich Baulust hervorrief, ohne es beenden zu können.
Einige Kreuz- und Querstraßen führten mich zum Posthause^ Dort
ist'S schön: vor mir das große alterthümliche Schloß mit seinen un¬
endlich vielen Thürmchen und den kleinen Fensterscheiben; die Reit¬
bahn, Kanonen, Soldaten, Gewehre — brr! was sieht das hier in
der mecklenburgischen Residenz kriegerisch aus. Im PostHause herrscht
reges Treiben. Alles läuft mit geschäftiger Miene durcheinander,
ich suchte vergebens einen Postboten, der mir meine Habseligkeiten
mobil machen könne. ES war nämlich ein Graf von Irgendwoher
angekommen und verlangte Relais. Was solche Leute doch stets
Unsereinem voraus haben; der Postdiener, welchen ich endlich erfaßte,
fuhr mich gerade nicht sehr sanft an, weil ich ja sähe, daß er be-
deschäftigt sei. Dafür hätte er eigentlich kein Trinkgeld vom Grafen
verdient; ich werd'S ihm wiedersagen. Ich seufzte und trollte mich
weiter — denn ich bin kein Graf.


Trotzdem logire ich hier doch im Hs>tel de Hambourg. Alles ist
hier auf'6 eleganteste eingerichtet, auch hält man hier auf anständige
Preise; man nennt das großstädtisch. Warum reist man denn auch?
Man sollte eigentlich ruhig zu Hause bleiben, weder Schlafrock noch
Pantoffeln vom Leibe lassen, wie sich's echten Deutschen ziemt.
Unsre Urväter gingen nicht ungezwungen aus dem Lande ihrer
Heimath; deshalb gab eS damals ein Deutschland. Heut zu Tage
soll man, in der vornehmen Welt geboren, erst Franzose werden,
ehe man noch Hosen trägt, und hernach, wenn man pou -l pou einen
Backenbart kriegt, sich mit der Fibel in'S Deutschthum hineinarbeiten.


[]

An seiner Sprache, sagt man, sollt ihr ein Land erkennen. Das
ist ein sehr dummer Schnack. Wenn z. B. heute Einer vom Monde
herab an die Küste der Ostsee fiele, und wanderte landeinwärts —
immer weiter; käme — vorausgesetzt, daß er von Adel ist — in
unsre eleganten Salons, kurz, er marschirte durch ganz Deutschland,
auch nach Frankreich hinüber — und er langte wieder zu Hause
bei seinen nordischen Mitbürgern an, so würde er diesen erzählen,
daß es drunten auf der Erde weiter Nichts M lauter Frankreich
gebe.


Unten in der Gaststube des Hütelö war's sehr belebt. Ich
habe da eine völlige halbe Stunde still gesessen und Charaktere aus
den runden Gesichtern der Anwesenden, Land- und Stadtleute, Be¬
amten :c., studirt, aber summarisch nur einen daherauS gelesen, und
diesen einen zu nennen, werde ich mich wohl hüten. Gott weiß,
wie sauer diese halbe Stunde Stillsitzens mir geworden ist. Am Ende
derselben fand ich eine alte Nummer des Schweriner freimüthigen
Abendblatts, die sich noch vom Sommer her datirte. Dies Bis¬
chen mecklenburgische Literatur hat mich aber -für meine Langweile
entschädigt, es giebt mir auch Gelegenheit, den ungeistigen Geist
dieser Literatur kennen zu lernen. O, die Mecklenburger fangen setzt
auch schon an, Geschmack an der schriftstellernden Welt zu finden,
aber die Zahl der Literatursuchenden ist leider nur noch zu gering
hier, sie kommen in der sie umgebenden Nacht deö Phlegmas zu¬
sammen wie Shakespeare's Heren in der Haide:


„Mlwii statt wo tlirvo inevt NAmu
In ^tniiulvr, liAlltmiiA or in nun."

Ich theile hier eine Stelle aus dem Schweriner Abendblatt
mit, als Probe mecklenburgischer Journalistik. In diesem Blatt wird
nämlich die Aufführung des Goethe'schen Faust behandelt, und zwar
in einer Weise, die ich originell genug gefunden, um darüber zu
lachen, so sehr ich auch Gelegenheit gehabt, dies Journal als ein
ehrwürdiges kennen zu lernen. Es steht nämlich in dieser Kritik
von der Größe Goethe's, als spezificirte Größe, auch von seinem Faust
geschrieben, und da kommt denn der Referent unter Anderm auf
folgende drollige Idee: „Der liebe Gott," sagt er, „hatte die
Welt nur erschaffen, da winkte er Goethe, und Göthe


[]

lieferte den Kommentar dazu." Also waren Goethe's Vor.
fahren, auch Die, welche vor dem Erscheinen des Faust lebten, Nichts
als Affen und Bären, die Goethe erst zu Menschen gemacht! - -
Goethe ist demnach so eine Art von Messias. Der Nevakteur des
Abendblatts mußte durchaus nicht der Ansicht des Recensenten sein,
denn er machte drei große Ausrufungszeichen dabei. Weiter schreibt
dieser Schriftsteller, dessen Statue ich wohl in der Walhalla aufge¬
stellt sehen möchte, daß wenn Goethe ihm gestern Ehre
und Glück geraubt hätte, und er läse heute seinen
Faust, er mit Freuden die Füße küssen würde, die ihn
getreten.


Was soll man von einer solchen Literatur denken? -ist sie nicht
schön? nicht originell? Ich gestehe, ich hätte dies nicht in Mecklen¬
burg gesucht. Ich glaube auch, daß, wenn dieser Schriftsteller pro^-
ductiv ist, es ihm ein Leichtes sein muß, den ganzen Goethe'schen
Commentar in vierzehn Tagen wieder zunichte zu machen; und
dann wären wir wieder, was wir vor Goethe waren! —


Heute Morgen kam ich in eine Conditorei; am Fenster der¬
selben stand eine Gruppe von drei Herren, die sich sehr lebhast über
ein schläfriges Thema unierhielten. Es war nämlich die große
mecklenburgische Frage: ob der nichtadelige Rittergutsbesitzer ein Vo¬
tum auf dem Landtage habe, oder nicht. Die Rollen waren bei
dieser Verhandlung hier in dieser Konditorei etwas ungleich vertheilt,
denn zwei dieser Herren bearbeiteten ihren bürgerlichen Widersacher
auf adelig feine Weise. Ich mischte mich in diesen Streit und sprach
mit großer Kühnheit gegen die Arroganz des Adels; diese und
meines Verbündeten Hartnäckigkeit erzwangen die Bestätigung der
beiden adeligen Herren: daß es nirgendswo geschrieben stehe, der bür¬
gerliche Rittergutsbesitzer sei nicht competent für ein Votum in den
landeötägigen Versammlungen. Und hierin wollten nur ja nur
Recht haben. — Die hochadeligen Herren Mecklenburgs sehen aber
auch gar zu schön aus in ihrer wolkigen Perrücke; sie nöthigen dies
Land noch mehr zu einer größeren Fragsamieit, wie sie jetzt in
manchen kleinen und größeren Ländern herrscht, die alle eine Frage
unter sich an sich haben; Staatslebensfragen, die fast nie genügend
beantwortet werden, da man bei aller scheinbaren Energie stets um
die Entscheidung herumschleicht wie die Katze um den heißen Brei


[]

Man rüstet sich hier zum neuen Landtage, der am 16. November
in dem Städtchen Malchin abgehalten werden soll. — Es liegt
viel Komisches in so einer mecklenburgischen Standesversammmlung,
wo v<It;i>«I<) und I»it>«ziu1«> über das Wohl und Wehe des Landes
berathen wird; ich will sie hier schildern, wie sie sich alljährlich er¬
neuert: — Jede kleine Bauerhufe Mecklenburgs ist ermächtigt,
einen Vertreter auf den Landtag zu senden, der freilich Nichts da
zu sagen hat. Aber was schadet das? ' Die größeren Landbesitzun¬
gen und die Städte Mecklenburgs schicken ebenfalls einen Reprä¬
sentanten hin; Wismar aber, eine an sich gar nicht unbedeutende
Seestadt, durch die man nebst Rostock seine nicht geringen Aus¬
führen um Landesprodukten nach Schweden, Norwegen, Riga ze.
bewerkstelligt, darf nicht einmal einen Abgeordneten senden; was
sonderbar genug ist. So geht denn der mecklenburgische Rittergutsbe¬
sitzer aus den Landtag, die Bürgermeister der respectiven Städte müssen
dort erscheinen; aber als Solcher muß man einen Degen an der
Seite mitbringen. Einen Degen? Aber was soll er denn damit?—
Rum, es ist Herkommen; erscheint doch der Adel sogar an diesem Tage
in rother Uniform, mit schweren Epaulettes auf der Schulter. Der
Introitus des Landtages ist eine große reichbesetzte Tafel, daSMnab'
nicht minder geschmackvoll. Der LcmdeSmarschaU ist in steifer Kra-
vatte da, er leitet den ganzen Akt, weil ja natürlich ein StaatSge^
bande nur aus der physischen Einzeleristenz seiner Grundmaterialien
construirt sein kann. — Die rittergutsbesessene Bürgeilichkeit erkühnte
sich vor ungefähr fünf Jahren zum ersten Mal, auf den, Landtage
ihr Votum zu Markte zu bringen, da sie bisher nur die Stroh-
mannSrollcn unnützer Figuranten gespielt hatte; der damalige Lan-
desmarschall aber wies ihre Stimme zurück, weil der bürgerliche
Rittergutsbesitzer Nichts zu sagen habe. Das empört natürlich, sie
suchten ihren Groll in Champagner zu ersäufen; dies Beginnen
erweckte Nachfolge — und da man ja doch alljährlich nur einmal
M.solchem ständischen Gelage zusammenkommt, ißt man mit großer
Virtuosität, ja man füllt sich sogar, eingedenk der zu Hause gebliebe¬
nen Lieben, die Taschen voll von Eßbarem. - Man reift nach Haust-,
»>an ist auf dem Landtag gewesen, die Leute daheim denken, Wun¬
der, was man da Kluges ausgerichtet — nun das Klügste in der
Welt: man hat vortrefflich gegessen und getrunken, dabei auch von


[]

Butter- und Wollmärkten gesprochen, und viel Gelo im Spiel
verloren.^)


Ein Gegenstand hartnäckigen Kampfes zwischen Adel und Bür¬
gerschaft sind die drei Landesklöster, deren Verwaltung sich der erstere
als ein Vorrecht anmaßt, deren Raum er für seine Tochter be¬
stimmt glaubt. Das ist wiederum eine sehr noble Idee der mecklen¬
burgischen Noblesse. Die böse Welt behauptet, wenn die Verwaltung
dieser Klöster ihren Verwaltern nicht so viele Schnitzeln neben dem
ihnen jährlich zufallenden großen Lappen abwürfe, möchte sich der
Adel vielleicht nicht so sehr um dies Recht bemühen, daS ihm, mei¬
nes Erachtens, doch bald entrissen werden dürfte. Seine Anmaßung
strafend, steht aber in den Klvsterordnungen mit deutlichen Lettern:
daß sowohl adeligen als bürgerlichen Jungfrauen die
Aufnahme in die Klöster gestattet sei. Gesetz und dasselbe
vergegenwärtigender Buchstabe werden also hier ohne Weiteres über
den Haufen gestoßen; wer beide wiederfinden will, der arbeite sich
erst durch Jahrhunderte alten Schmutz und Staub der Arroganz
und Unbill. — Der summarische mecklenburgische Adel ist zum gro¬
ßen Theil eine personificirte Anmaßung, die alle bürgerlichen und
Konvenienzverhältnisse unter die Füße treten zu können, ja mitunter
sogar den Gesetzen trotzen zu dürfen glaubt, wie folgendes Erempel
deutlich zeigt, das ein Gemisch von Feudalismus und mecklenburgi¬
schem Adelöstolz bildet. Lache der Leser über jenen mecklenburgischen
Gutsbesitzer, der jüngst das Städtchen Mirow mit bewaffneter Dorf¬
macht belagerte und mit beschwerteter Faust einen seiner Knechte,
der als gesetzwidrig durch die Straßen der Stadt jagender Cham¬
pagnerabgesandter von der Polizei verhaftet wurde, zu befreien kam,
was ihm auch gelungen. —


Morgen werde ich in Gesellschaft gehen. Man hat mir schon
viel von dem in ihr herrschenden Ton erzählt, mich auch über-



[]

Haupt schon einige Male in Mecklenburg gewarnt, bei der Wahl
der Socilitv vorsichtig zu sein. Hier in diesem Lande muß man mit
Peinlichkeit auf seinen Rang halten, und dies besteht im Festhalten
und solider Frequentirung einer geschlossenen Gesellschaft, in der
alle Glieder aus einem Holz gezimmert, wo Alle gleich klug oder
gleich dumm sind; man muß hier bleiben, was man ist, wie man
ist, und wo man ist, auch andre Sinn- dabei aber auch zugleich
Standverwandte mit seinem eignen Ich in die bequemste sociale
Lage zu betten suchen. Siehst du hier einen Stern in einer Ge¬
sellschaft, so sei gewiß, daß Alle um ihn, wenn grade nicht auch
als Sterne, doch als Jrgendetwas am Himmel der Gesellschaft
stehen. — Besser verstehe ich es nicht, hurtiger Weise den Charakter
des mecklenburgischen d»u ton wiederzugeben.



Heute bin ich von einem Herrn von zum Thee geladen ;
'das habe ich einem alten wiedergefundenen Freund zu verdanken.
Dieser hinterbrachte mir auch, daß in diesem Hause die Eonversativn
französisch geführt werde, und fragte mich ängstlich, ob ich auch
noch stark darin sei, — man muß ein Mecklenburger sein, um eine
solche Frage zu thun. — Ich werde also heute Abend Thee, sehr
viel Thee trinken, und dabei französisch conversiren. — Gestern Abend
führte man mich auch in eine Gesellschaft. Bei meinem Eintritt
und meiner Bekanntwerdung mit dem Wirth war's mir, als zupfte
mich überall Etwas am Frack, denn die ganze Gesellschaft zischelte
sich was Geheimes über mich zu, und nur meine Einführung in
jenes Zimmer, wo die Herren in undurchdringlichem Tabaksqualm
einander pythische Worte über Mecklenburgs Wohl mittheilten, rettete
mich aus dem beängstigenden Scherbengericht d.r Damen. So streng
moralisch ich diese Absperrung der Herren- und Damengesellschaft
auch finde, so untergräbt sie doch jeden Funken von Socialität. In¬
deß ist man hier der Meinung, Geschlechtsvereinigungen hätten noch
nie zu gutem Ende geführt. —


Schon ganz früh befand ich mich heute aus der Promenade
nach dem Schloßgarten. ES war neun Uhr, ziemlich kalt, und der


[]

Nebel lag noch auf den Straßen, ganz nach Londoner Art. Von
der Schloßbrücke aus sah ich den schönen runden Platz mit den
vielen Statuen mir entgegenschimmern; dort glaubte ich, mich in
der mecklenburgischen Genealogie orientiren zu können. Aber ich
täuschte mich, es waren unmoderne Fabelmänner: Herkulesse :c.
Der Schloßgarten ist wirklich schon, so recht von der Natur begün¬
stigt. Links an der Brücke zieht sich die schöne Promenade am
Saum des Gartens hin, die Wellen des Sees erhalten neben ihr
eine schöne, aber höchst monotone Musik; rechts neben mir unter den
hohen Bäumen liegt das sogenannte Zelt, wo man im Sommer
Früh- und Spätconzcrte giebt. Vor mir, das niedliche Grün Haus,
wie man mir sagte, ein Sommeraufenthalt der hohen Herrschaften—
aber da guckt mir ja ein Affe aus dem Fenster entgegen, das von
erotischen Pflanzen überrankt ist! — Nun, man bewahrt in dieser
köstlichen Orangerie eine Versammlung fremder und einheimischer
Thierhonoratioren. — Neben diesem Palais zieht sich eine Chaussee
hinauf; vor mir liegt das Buchholz, ebenfalls dort rechts Ostdorf,
ein Wallfahrtsort der Schweriner, wo sie ihrem Moloch, dem
Magen, opfern. —


Meine Promenade ermüdet mich schon, überdies ist es kalt und
windig. Ich werde also zurück in das Zelt gehen, mir ein Glas
Grog und einen Stuhl geben lassen; alsdann mag die freie Natur
zu mir kommen, sich bewundern zu lassen. Im Zelt ist kein Mensch.
Das alte Schloß lassen die blatterleercn Bäume zu mir herüber¬
schimmern. — Du, alter Niese, siehst so zufrieden aus in dieser na߬
kalten baltischen Temperatur, und wenn der Luftgeist schreckliche
Worte mit dir tauscht; ihr verhandelt dann beide wohl über die
Vergangenheit. Da können wir freilich nicht mitsprechen. Aber
ich weiß doch, alter Titan, wie's dir in deinen jungen Jahren er¬
gangen, die geschwätzige Kaffecschwester mit ihren Pockennarben und
vergeblichen Schönpflästerchen, die Geschichte hat's mir ausgeplau¬
dert. In deinen Hallen haben einst schwere Kannen gestanden auf
den mächtigen Eichentischen, deine Männer haben noch unverfälscht
die Gerste getrunken; dafür waren sie auch kräftig und riesig wie
du, lauter trotzige Mauerbrecher. Wir aber trinken Limonade und
Zuckerwasser, wie es wohl deine Heldinnen thaten, brauchen auch
nicht so kolossal zu sein wie deine todten vermoderten Kumpane,


[]

daS würde mammuthartig aussehen, es würde sich auch nicht schicken.
Denn unsre Zeit ist eine kokette junge Dame, wir erscheinen vor
ihr fein geschniegelt in Frack und EScarpins, nicht wie die Zeit¬
genossen deiner Jugend in Eisen und Stahl; wir kommen auch
überhaupt nicht in Harnisch, denn wir dürfen eS nicht; — die hohe
Obrigkeit hat es verboten.


Wieder auf dem Rückwege nach der Stadt, fängt es zu regnen
an; und ich habe keinen Regenschirm. Ich werde also nach Hause
laufen, mich wieder in Schlafrock und Pantoffeln werfen, mir eine
Pfeife anzünden und mecklenburgische Brochüren/ oder übriggebliebene
Predigten über den Tod des Höchstseligen Großherzogs lesen; lauter
feuchte, weinerliche Sachen, aber doch immer besser als ein Platzregen.



Den heutigen Abend hatte ich eigentlich dem Theater bestimmt,
mich aber vergebens gefreut, einer oder der andern hier engagirten
Bretterheldinnen, wie die Schlegel oder die Klara Stich, wie¬
der zu begegnen. — Die Bühne ist jetzt in Wismar, wo sie sich
acht bis zehn Wochen aufhalten will, um das dort neu erbaute
Schauspielhaus zu Probiren. Eine großherzogliche Bühne ambu-
lirend! — Nun, es ist erklärlich, sie ist aus dem Bade Doberan
zurückgekommen, wohin sie der Hof mitgenommen hatte, und da ist
sie denn bei guter Gelegenheit dort in Wismar stecken geblieben. —
Da ich also nicht in's Theater gehen konnte, ging ich wo anders
hin. Aber, die Leute hier denken, einem Fremden müsse man die
Ohren recht voll von ihrem Lande blasen! Diese Musik hat denn
zum Hauptthema den mecklenburger Zollverein, eigentlich
sollte ich sagen den deutschen, an dem dies Land Theil nehmen
soll. Der merkantilische Theil des Letzteren sträubt sich nun mit
Hand und Fuß dagegen, auch die Gutsbesitzer, die meistentheils
ihren Waarenbedarf von Hamburg her unter sehr vortheilhaften
Einfuhrsbedtngungen beziehen, was ihnen durch den Zollverein be¬
nommen werden muß. Zu ihrem Aerger aber hat ein junger Pu-
blictst in Hamburg, W. Lüders, sich der Mühe unterzogen, ihnen
plausibel zu machen, wie vortheilhaft der Zollverein sei, und da schimpft


34
[]

man denn weidlich über ihn, und kauft seine Schrift nicht, weil er
ja, wie »uni sagt, Renegat an seinen früher ausgesprochenen Althias--
den über diese Sache geworden sei. Dieser Lüders'schen Schrift
kommt nun der Buchhändler Duncker in Berlin durch eine ähnliche,
aber sehr unzureichende zu Hilfe, und ich zweifle, daß der Herr
Hof-Buchhändler Aker. Duncker damit reussiren wird, indem hier
im Lande selbst schon mehrere Biochuren und Aufsätze erschienen sind,
die alle dasselbe Thema behandeln, freilich verschiedenen Erfolg prog-
„osticircn, alle aber sehr schwierige „Gedanken" über diese Frage
aussprechen. Ach, und dabei wird der Mecklenburger so gedanken¬
voll, daß er mit seinem Phlegma sich gar nicht mehr aus seiner ihm
eimerweise herzuströmenden Gedankenfülle herauszureißen vermag.
Man sorge doch dafür, dem Mecklenburger nicht unnützerweise so
viel Kopfzerbrechens aufzulegen, da er ja von Natur schon genug
zur Bedenklichkeit geneigt ist. —


Schwerins Lokalität hat nichts Neues mehr für mich; ich überlasse
mich jetzt seinen geistigen Interessen; und da lese ich denn so eben Herrn
F. v. Maltzahn's „Mecklenburg in allgemeinen deutschen
Beziehungen." Es ist ein närrisches kleines Buch, durch und
durch verfehlt; und wenn dieser hochwohlgebvrene Herr v. Maltzahn
über seine höchst schlecht geborne Brochure hätte setzen lassen: Deutsch¬
land in allgemeinen europäischen Beziehungen, so hätte sie wenig¬
stens an scheinbarer Wichtigkeit gewonnen, man hätte sie mit euro¬
päischen Augen angesehen; dabei kommt der Verfasser in seinen
Beziehungen überall hin, wo mau ihn nicht zu finden hofft; er be¬
schwört den Reformationsgeist herauf, viel biblischen Schnickschnack,
kramt einen ganzen Sack voll pieiiftischer Schnurrpfeifereien aus —
und kommt endlich um die Mitte seiner Schrift zum ersten Mal
auf Mecklenburg. Er,irrt von Gott zu Staat und Kirche, zur
Bibel und zum Wesen der deutschen Sprache, wird von dem Gedan¬
ken erhoben, sie sprechen zu können; kurz : ein Deutscher zu sein.
Vorher will er die Geschichte „im Zusammenhang" sehen „in einer
Zeit vor und nach Christus;" — „sie muß die Thaten messen nach
dem Worte Gottes," von dem eS im Ebräerbriefe heißt: „es ist le¬
bendig und kräftig, und schärfer denn kein zweischneidig Schwert ze.ze."
Tas ist ein ziemlich langer Bibelvers. Dann spricht der Verfasser
in seiner mißmthmen Religionsphilosophie vom Kommen des Hin-


[]

melreichS, das sich nicht „in einem allgemeinen ans sich selbst zu
erringenden Besserwerden des Menschen erschließe." Ein ziemlich
gesunder Gedanke, etwas kirchenvätrisch, sehr genievoll. Ueberhaupt
traue ich diesem Herrn v. Maltzahn viel religiösen Sinn zu, glaube
sogar, daß er ein sehr frommer Mann ist; aber daß er ebenso hei¬
misch in mecklenburgischen Angelegenheiten sei, wie er es dem An¬
scheine nach in der Bibel ist, kann mir nicht einleuchten, und wenn
ich vierzehn Tage lang hier invIclonlini-xionLes studire, so will ich,
das versichere ich ihm, ein noch zweimal so dickes Buch über mecklen¬
burgische Beziehungen nach beiden Hemisphären zusammenschreiben,
das obendrein noch gesäubert sein soll von all solchen Abschweifun¬
gen nach allen Gegenden der Geschichte, der Religion und ihren
Zwecken.


Revolution und Franzosenthum hält (In)nil,i!o dinen!)
der fromme Herr v. Maltzahn für Abfall von Christo! Nach
diesem Maßstab müßte man Deutschthum und deutsche Treue für
blinden Ammenglauben und gespenstischen NachtmüizenterrorismuS
halten. —Hinsichtlich des RevolntionSwesenS hat nun der Verfasser
wohl insofern einigermaßen recht, als der Geist auch des Revolutio--
nairö ursprungsgemäß dem Himmel angehörte, er sich aber von dem
Himmel irdischer Ruhe und gesetzlicher Subordination dem Gottsei¬
beiuns der Unzufriedenheit in die Arme warf. Und doch, auch in
dem Geist des wirklichen Revolutionärs, des Zerbrechers aller
Schranken der Tyrannei und der bürgerlichen Ordnung, kann eine,
wenn auch nicht gebilligte Verehrung Gottes wohnen; sein Ver¬
brechen entspringt nicht aus seiner Gedankens olle, sondern aus der
ihm eigenthümlichen Werkstätte eines ruhelosen Gemüths, daS die
weltliche Macht nicht in ihrem Zweck und Ursprung erkennt, und
mit der Waffe des MenschenrechtS strafen zu können glaubt. —
Herr v. Maltzahn und ich sind demnach sehr verschiedener Meinung,
um so mehr, als er Seite 5 seiner Brochure sagt: „man darf
sich nicht verhehlen, wie die Revolution diesem Abfall von
Christus hingegeben ist." — Ich glaube, er sieht alle neueren
Tendenzen insgesammt für Teufelscingebungen an, und läßt deshalb
kummervoll zum jüngsten Gericht blasen. Das Franzosenvolk hält
er gar für Dämonenpack, weil er behauptet, „ihr Wesen wurzle
im Abfall von Gott.


34-!-
[]

Ich muß gestehen, daß ich ganz melancholisch durch diese heil¬
losen „Beziehungen" geworden bin; ich werde sie also nicht
weiter lesen. —


Von Herrn v. Maltzahn'S pietistischer Saalbaderei gehe ich über
zu dem hiesigen Treiben seiner in mancher Hinsicht Sinnesverwandten,'
den unausstehlichen Frömmlern, deren es hier, wie in Mecklenburg
überhaupt, eine Unzahl giebt. Sie nennen sich nach Niemanden,
und thun auch wohl daran; so weiß man sie nicht zu nennen. Sie
sind nicht Antonisten, noch Stephanisten, noch andre sekttrerische Nar¬
ren unter selbsterwählter Firma, bezwecken keine Weiber- noch über¬
haupt Gütergemeinschaft, wofür sie viel zu große Egoisten sind, und
hegen auch sonst keine philanthropische, vielMniger noch, demagogische
Idee — aber verrückt sind sie, das wage ich fest zu behaupten;
denn welcher vernünftige Mensch würde wohl auf die Idee kommen,
durch solche Narrenpossen einen Fingerbreit mehr vom Himmel zu
erobern, als der gerade denkende AlltagSmensch?—Sie sehen, ihren
bauöbäckigen Mitmecklenburgern gegenüber, so fromm, so bleich und
so elend aus; man kann's ihnen ansehen, der Herr,hat kein Wohl¬
fallen an ihnen. Und nun gar die große Zahl der, häufig auch
jungen Damen, welche diesem Mysticismus huldigen. Wenn'S ihnen
noch auf der Stirn geschrieben stände, welchem Fetischismus sie
dienen, daß man ihnen mit ihren Hirten aus dem Wege gehen,
oder ausrufen könnte: nie ni^er estl — so aber fallen oft ganz
unschuldige Menschen in einen nicht geahnten Hinterhalt. So habe
ich mich gestern dazu hergeben müssen, mir zwölf lange Seiten aus
„Thirza, oder die Anziehungskraft des Kreuzes" und
fast die ganzen „sieben Hauptsünden" von einer Dame vorlesen
zu lassen — die Konvenieuz wollte es so — ich habe aber uur
zwei von ihnen gehört, die Erste und die Letzte, nämlich bevor ich
einschlief, und nachdem ich wieder erwacht war. Dafür werde ich
nun wohl nicht in den Himmel kommen. Wenn ich später einmal
eben so fromm werde wie diese braven Menschen, will ich auch
Alles wieder abbettelt ; indeß hat das keine große Eile. — Adieu. —


[]

Erinnerungen an den Wiener Congreß.



In dem Augenblicke, wo an dem Congreß von Verona ein
sonst bedeutendes deutsches Talent Schiffbruch gelitten hat, ist es
interessant, einem ähnlichen Stoff in anderen Bearbeitungen zu fol¬
gen. Der Graf de la Garde ist ein poetischer Intuition gewiß
unsrem Julius Mosen untergeordnet. Und doch, wie ganz anders
weiß er seines Stoffes Herr zu werden! Da ist Nichts von der
Uebertreibung eines deutschen Stubengelehrten, bei dem die diploma¬
tischen Figuren zu Fratzen und Ungeheuern anschwellen; vielmehr
sind die Portraits mit geschickter Hand geschnitten, die Medaillons
sind lebensähnlich, die Situationen glücklich belauscht und mit fei¬
nem Tacte niedergezeichnet. Die „Europa" hat vor einigen Wo¬
chen einige Bruchstücke dieser Erinnerungen mitgetheilt; wir glau¬
ben, ein zweites Bruchstück wird unsern Lesern ebenso interessant sein.



Es scheint, als ob durch eine Art Gabe der Rückwärtsschau,
mit der Entfernung selbst das Gedächtniß an Fruchtbarkeit gewinnt.
Was mich betrifft, so habe ich dies schon oft empfunden und em¬
pfinde es täglich mehr bei Aufzeichnung dieser Scenen, die mit vol¬
lem Recht ein Eigenthum der Geschichte geworden sind. Ich wohne
ihnen von Neuem bei; alle die Personen, die in ihnen eine Rolle
spielen und von denen die meisten jetzt Nichts als Staub und Asche
sind, beschwöre ich aus der Nacht des Grabes empor und zwinge


[]

sie zusammen durch den Zauberstab meiner Erinnerungen. Ich sehe
sie wieder, wie sie damals waren, schön, jung, in ewigem Freuden¬
rausch cinhertaumelnd, während jetzt dieser glänzende äußere Schein
bei ihnen entweder verwischt oder zerstört ist. Dieser lebhafte Ein¬
druck ist in den Gemüthern Aller zurückgeblieben, welche Augenzeu¬
gen des Wiener Congresses waren. Kein Ereignis? hat sich wohl
je tiefer der Erinnerung eingeprägt, als diese sechs Monate, die
man so passend den Zwischenact zwischen zwei Tragödien
genannt hat.


Dieses Gemälde, das den Contrast der sorglosesten Feste mit
den ernsthaftesten Geschäften ringsumher darbot, hat nach meiner
Ansicht in unsrer modernen Literatur bisher noch gefehlt. Das
Wenige, was davon zur allgemeinen Kenntniß gekommen, bestand
aus verworrenen, unzusammenhängenden, farblosen Skizzen. Und
doch, gab eS je Scenen von ergreifenderen Interesse? Ich will hier
nicht einmal von dem politischen Interesse sprechen, obgleich die Re¬
sultate des Wiener Kongresses die Grundlage alles dessen bil¬
den, was seitdem in Europa bis auf unsere Tage vorgefallen
ist. Aber um so mehr will ich von dem Interesse sprechen, das ein
Rittergemälde aus dieser Zeit verdient. Alles, wonach man in den
Chroniken des Mittelalters, in den feenartigen Festen Ludwig'S XIV.
sucht, fand sich hier in dem Nahmen von sechs Monaten und
einer einzigen Hauptstadt eingeschlossen. Wie viel Liebeseide wur¬
den hier und zwar von den durch hohen Rang, durch glänzenden
Ruhm, durch Geist und Gemüth verführerischsten Personen geschwo¬
ren! Wie viel berühmte Männer haben hier die Geschicke Europas
in ihren Händen gehalten! Wie viele von jenen, denen damals ihre
hohe Sendung eine hervorragende Stellung verlieh, sind heute ein¬
fache, schlichte Unterthanen! Welch staunenswerther Zusammenfluß
endlich von Celebritäten aller Art, von den mächtigsten Monarchen
und den berühmtesten Staatsmännern an bis zu den geistreichsten
und schönsten Frauen! ....


Mitten unter den so verlockenden, unaufhörlichen Freuden des
Wiener Congresses war die Rolle Frankreichs eine sehr ernsthafte
und mußte eS auch sein. Als eine solche hatten sie auch, von einem
Gefühle feiner Schicklichkeit beseelt, seine Stellvertreter aufgefaßt.
Sie mischten sich wenig in den allgemeinen Taumel und hielten


[]

sich in den Schränken einer Art von Gravität, welche der Wich-
tigkeit ihrer Stellung angemessen war. Wen» ich mjch heute an
ihre so ruhige und so würdevolle Haltung erinnere, so finde ich
darin einen Beweggrund der Erkenntlichkeit gegen diese Männer,
die damals so viel für Frankreich gethan und für welche der Tag
der geschichtlichen Anerkennung noch nicht gekommen zu sein scheint.


Die große Neuigkeit, welche mir Upsilanti am Morgen mit¬
getheilt,. ward mir vom Prinzen Koölowski bestätigt. Napoleon
hatte wirklich die Insel Elba verlassen. Der Herr und der Gefan¬
gene Europas, wie man ihn so kräftig und bezeichnend genannt
hat, war aus seinem Gefängnisse herausgetreten, bewaffnet mit sei¬
nem Ruhme. Er hatte einem schwachen Kahne Cäsar und sein
Glück anvertraut.


Die Neuigkeit, sagte mir Koölowski, ist durch einen Courier
Hieher gekommen, den Lord Burgheß von Florenz aus abgeschickt
hat. Ihm hatte sie der englische Consul in Livorno mitgetheilt.
Lord Stewart, der sie hier erhielt, benachrichtigte sofort Herrn von
Metternich und die regierenden Häupter. Die Minister der Gro߬
mächte sind dann sofort in Kunde davon gehest worden. Bisher
weiß man noch nicht, welchen Weg Napoleon eingeschlagen hat.
Begiebt er sich nach Frankreich? Will er, wie man glaubt, nach
Nordamerika gelangen? Man verliert sich in Vermuthungen. Aber
wer wird ihn vor dem Ungewitter bewahren, das sich grollend über
seinem Haupte anhäuft? Wird das Schicksal einen leitenden Faden
an seine Stirn heften, der den Sturm von ihm abwehrt?.....
Die hohen Lenker des Congresses wünschen, man möge die Nach¬
richt so lange möglichst geheim halten, bis sie einige durch die ge¬
wichtigen, inhaltsschweren Umstände nothwendig gewordene Ma߬
regeln werden getroffen haben.


War nun das Geheimniß wirklich gut bewahrt worden, oder
trug der Rausch des Vergnügens noch den Sieg davon, — kurz
die Stadt Wien halte ihr gewöhnliches Aussehen beibehalten. Die
Wälle und die Leopvldsvorstadt, welche nach dem Prater führt, wa¬
rm übersä't mit Spaziergängern, die sich ungeduldig nach dem Ge-
nuß der ersten Frühlingssonnenstrahlen sehnten. Noch war kein
Anzeichen davon, daß der ferne Donnerschlag auch hier sein Echo ge>
funden habe; überall herrschte sorglose Fröhlichkeit.


[]

Am selben Abend sollte eine Truppe von Liebhabern in einem
der Säle des Palastes eine Aufführung geben, deren Programm,
aus dem Barbier von Sevilla und, wie ich glaube, einem
damals an der Tagesordnung schimmernden Vaudeville, der un¬
terbrochene Tanz bestand. Prinz Koslowöki hatte mir angebo¬
ten, mich in die kaiserliche Burg mitzunehmen. Neugierig, die Phy¬
siognomie der erlauchten Versammlung zu studiren und auch in der
Hoffnung, einige neue Details über das große Ereigniß einzusam¬
meln, hatte ich eingewilligt. Die Gesellschaft war eben so zahl¬
reich, eben so glänzend als gewöhnlich. Aber eS war schon nicht
mehr die sorglose Ruhe des vorigen Tages. Einige, wenn auch
noch leichte Wölkchen lagerten sich um jede Stirn. Hie und da
hatten sich Gruppen gebildet. Man sprach rin lebhafter Wärme
über die Folgen dieser Flucht hin und her.


„Er kann den englischen Kreuzern nicht entfliehen," sagte der
Eine.


„Pozzo ti Borg» hat versichert," erwiederte der Andere, „wenn
er den Fuß auf Frankreichs Boden setze, werde er am ersten Baumast
aufgeknüpft werden."


So schien sich ein Zeder der lastenden Wirklichkeit des Erwa¬
chens aus dem bisherigen Traume entziehen zu wollen.


„Wir können uns Glück wünschen," sagten einige Anhänger
der italienischen Bourbons. „In Wahrheit, Buonaparte dient uns
ganz nach Wunsche. Er kann nur nach Neapel zu seine Richtung
nehmen. So wird sich der Congreß in die Nothwendigkeit versetzt
sehen, endlich Maßregeln zur Vertreibung Murat's, dieses Eindring¬
lings und Usurpators, zu nehmen."


Indessen hatte die Kaiserin von Oesterreich das Zeichen zum
Anfang gegeben; man nimmt Platz, der Vorhang gehr in die
Höhe.


„Wir wollen sehen," sagte ich zum Prinzen Koslowöki, „ob
dieser Vorfall, den man so wenig voraussehen konnte, in die er¬
lauchte komische Bande Unordnung und Verwirrung gebracht hat/'


„Sie täuschen sich gar sehr, wenn Sie das glauben. Um diese
hartnäckigen Schläfer aufzustören, müßte Hannibal »illo >,ortg,8 sein,
müßten die Kanonen des Kaisers wiederum vor Wien's Mauern
ihren Donner ertönen lassen. Die Nachricht kam heute Morgen zu


[]

Herrn von Tallehrand, als er noch zu Bette lag. Frau Edmund
von Perigord saß zu den Füßen seines Bettes und war in fröhli¬
cher Unterhaltung mit ihm begriffen, als man einen Brief des Herrn
von Metternich brachte.


„ES ist gewiß nur eine Anzeige von der Stunde, wo der Con-
greß zusammenkommt," sagte der Fürst.


Indeß öffnete die schöne Gräfin mechanisch die Depesche, wirft
die Augen hinein und liest die große Nachricht. Nun sollte sie im
Laufe desselben Tages sich zu Frau von Metternich begeben, um eine
Probe des Stückes.- Der Taube oder das überfüllte Gast¬
haus zu halten. Sie rief daher aus:


„Buonaparte hat die Insel Elba verlassen. Ach, mein Gott,
was wird nun aus meiner Probe werden, Onkel?"


„Sie wird Statt haben, Madame," antwortete ruhig der Dip¬
lomat. „Und die Probe hat wirklich Statt gefunden. Europa steht
vielleicht am Vorabend eines allgemein auflodernden Kriegesfeuers.
Aber unsre Comödianten werden um so Geringes nicht ihre Hal¬
tung verlieren."


Man studirte die Gesichter der diplomatischen Notabilitäten,
auf denen sich gewöhnlich so wenig lesen läßt; man durchspürte ihre
Blicke, um ihre kleinsten Gedanken darin zu finden. Aber alle äffen--
tirten ein Vertrauen, das ohne Zweifel in ihrem Innern nichts we¬
niger als vorhanden war. Auffallend war die Abwesenheit des
Fürsten Tallevrcmd und daS tief bekümmerte, sorgenvolle Aussehen
des Kaiser Alexander ward auch allgemein bemerkt.


Welche Ursachen hatten Napoleon zu diesem großen Entschlüsse
bewogen, der für Frankreich und für ihn gleich verderbliche Folgen
hatte? Hoffte er, trotzdem sein Land so geschwächt war, dennoch ein
zweites Mal dem ganzen wider ihn verbündeten Europa Stand
halten zu können? War er verblendet über die Möglichkeit, fortan
mit all diesen Souveränen, denen er früher Gesetze dictirt und
welche nun ihrer Seits den Weg nach Paris gelernt hatten, in
Frieden zu leben? Oder war nicht seiner Seits diese Flucht von
der Insel Elba nur ein Streich der Verzweiflung, um dadurch der
Gefangenschaft zu entgehen, die ihn sechs Jahre später, ein Geier
an der Leber des modernen Prometheus, auf dem Felsen von Se.
Helena langsam zu Tode marterte?


[]

Sicher und ausgemacht ist, daß die Gegenwart deö Kaisers
mitten im mittelländischen Meere, die Unabhängigkeit, selbst der
Schatten von Macht, den man ihm gelassen hatte, auf dem Wiener
Congreß mehr als Ein Mal Gegenstand der Besorgniß geworden.
Man wußte recht gut, daß in Paris ein weiter Herd der Intri¬
guen, ein Mittelpunkt der Korrespondenz bestand und daß man da¬
selbst mit Vorarbeiten zu einer Rückkehr der Kaiserherrschaft sich
emsig beschäftigte. Die Königin Hortensia war die Seele dieses Com-
ploteS, das von aller Welt gesehen ward, außer von der verblende¬
ten Regierung der Bourbons. Während des Aufenthalts der Kö¬
nigin von Holland in Baden im Augustmonatc des Jahres 1814
hatte die, seitdem durch ihre mystische Verbindung mit dem Kaiser
Alerander berühmt gewordene Frau von Krüdener die Rückkehr
vorausgesagt. Es war daher auch gleich vom Anfang der Corse»
rcnzen an, aber im größten Geheimniß, die Rede davon gewesen,
für ihn einen andern Verbannungs- oder Deportations-Ort auszu¬
suchen. Die Insel Se. Helena ward erst gegen Ende des Januar
von Pozzo ti Borgo in Vorschlag gebracht. Er behauptete, Briefe
erhalten zu haben, welche anzeigten, daß man in Genua, in Florenz
und an der ganzen Küste hin Emisfaire Napoleons festgenommen
habe.


„Europa," hatte er gesagt, „wird nicht eher ruhig sein, als
bis eS den Ocean zwischen sich und diesen Mann gebracht haben
wird."


Man versichert, daß dem Prinzen Eugen in Folge seiner vertrauten
Freundschaft mit dem Kaiser von Rußland dieses wichtige Geheimniß
offenbart worden und daß er sich beeilt, Napoleon davon in Kennt¬
niß zu setzen. Nun schwankte dieser nicht mehr, sein Entschluß, nach
Frankreich zurückzukehren, stand fest. Von diesem Augenblick an
ward auch in Kaiser Alerander's Benehmen gegen den Prinzen
Eugen eine merkliche Kälte und Zurückhaltung sichtbar.


Wien blieb beinahe fünf Tage ohne Nachrichten. Die Hof¬
feierlichkeiten und Feste kamen wieder in ihren alten Gang. Die
allgemeine Besorgniß schien sich nach und nach zu zerstreuen. Aber
endlich war kein längerer Zweifel mehr erlaubt; der Donner brach
los, Napoleon war in Frankreich. Dieser Abenteurer, wie ihn
Pozzo ti Borgo zu nennen sich erfrecht hatte, ward von den Be-


[]

volkerungen überall mit begeistertem Enthusiasmus aufgenommen;
die Soldaten stürzten ihrem alten Feldherrn entgegen; Nichts hemmte
seinen Triumphzug durch Frankreich. Der Fall des Riesen, der
uns schon unbegreiflich geschienen, war jetzt minder staunenswerth,
als die Wiederauferstehung seiner todtgeglaubten Macht.


Man war auf einem Ball bei Herrn v. Metternich, als man
Napoleon's Landung zu Cannes und seine glücklichen Schritte erfuhr.
Die Nachricht von dieser ebenso unerwarteten, als wichtigen Neuig¬
keit glich dem Schlage mit dem Zauberstab oder dem Pfeifenton
eines Machinisten, durch den Armidagärten in eine Wüste verwan¬
delt werden. Es schien in Wahrheit, als wären all die tausend
Kerzen, die hier strahlten, auf einmal erloschen.


Die Neuigkeit verbreitete sich mit der Schnelligkeit eines elek¬
trischen Funkens. Der" Walzer wird unterbrochen. Vergebens spielt
das Orchester die angefangene Melodie fort; man sieht einander an,
man fragt einander; diese vier Worte: Er ist in Frankreich
sind das Ubaldoschild, das, vor Rinaldo's Augen gehalten, in einem,
Augenblick alle Zaubereien Armida's zerstört.


Der Kaiser Alexander trat auf den Fürsten Talleyrand zu.


„Hatte ich es Ihnen nicht gesagt, die Sache werde keinen Be¬
stand haben."


Der französische Bevollmächtigte blieb unerschüttert und ver¬
neigte sich, ohne zu antworten.


Der König von Preußen winkte dem Herzoge von Wellington;
beide verließen augenblicklich den Ballsaal. Alexander, Kaiser Franz
und Fürst Metternich folgen ihnen sofort. Der größte Theil der
Eingeladenen macht sich still aus dem Staube und verschwindet.
Nur einige Gruppen erschreckter Plauderer waren in den leeren
Sälen zurückgeblieben.


Prinz Koölowski, den ich im Laufe des Abends sah, konnte
mir nur die dem Publikum schon bekannten, ziemlich in'ö Einzelne
gehenden Nachrichten bestätigen."


„Da haben die Herrn Troubadours, sagte er, „eine vortreffliche
Gelegenheit, eine zweite Vorstellung des allerliebsten Vaudevilles:
Der unterbrochene Tanz zu geben. Graf Palfy, der seine
Rolle so wunderhübsch spielt, wird vollkommen passend singen können


[]
„So ward am Ende denn der Tanz verstört:^
Denn wer ist's, der dagegen sich noch wehrt !"

Nur muß man fürchten, daß der Refrain bald von einigen
hunderttausend Feuerschlünden wird begleitet werden." v


„Diese Nachricht," fuhr er fort, „die mit all ihrem Schreckens¬
gefolge, wie die Schrift der unsichtbaren Hand in BelsazarS Fest,
in unsern Ball störend hineinfiel, erinnert Sie gewiß auch daran,
daß während der Aufführung eines Balletes, wo Heinrich IV. und
Sülly tanzten, obgleich man letzteren gewiß nie unter die guten
Tänzer mitgerechnet hätte, dein König gemeldet wurde, die Spanier
hätten Amiens erobert."


„Meine Herrin," sagte Heinrich zu der schönen Gabriele, indem
er ihre Hand ergriff, „jetzt müssen wir unsere Tänze und Spiele
verlassen, zu Rosse steigen und einen frischen Kriegestanz beginnen.
Genug für jetzt der Liebesfreuden!"


Das ist eine Phrase, die jetzt hier in mancherlei Sprachen wird
übersetzt werden.


Unmöglich ist eS, die Physiognomie zu schildern, welche die öster¬
reichische Hauptstadt von diesem Augenblick annahm. Wien glich
einem Manne, der von Träumen der Liebe und des Ehrgeizes in
süßen Schlummer eingewiegt, plötzlich durch den grellen Ton der
Nachtwächtervfeise und dem Läuten der Sturmglocken erweckt wird,
die ihm kund thun, daß sein Haus im Feuer steht.


Diese verschiedenen Gäste, die hier aus allen Ländern Europas
zusammengeflossen waren , konnten sich nicht ohne Schrecken an die
-Phasen der eben abgelaufenen Epoche erinnern.


Die unaufhörlich sich erneuernden Unglücksfälle von fünf und
zwanzig Kriegsjahren, die Eroberungen der Hauptstädte, die mit Todten
übersäeten Schlachtfelder, die gänzliche Stockung des Handels und
der Industrie, die Familien und die Nationen in gleicher Trauer,
das waren die jammervollen Bilder, die plötzlich aus ihren Geist
einstürmten, und welche von dem gräßlichen Flammenschein des bren¬
nenden Moskau eine düstere Beleuchtung erhielten.


Freilich konnte man all dem noch frische Repressalien entgegen¬
halten; die Gegenwart der Truppen der alliirten Mächte in Paris
war ein hinlänglicher Beweis davon gewesen, daß selbst der so
lange Unbesiegte darum doch noch nicht zum Unbesiegbaren gewor-


[]

den. Aber gerade diese Erinnerung machte die Angst noch lebendiger.
Um den Coloß ein erstes Mal zu stürzen, hatte es schon eines au¬
ßerordentlichen Zusammentreffens von Umständen und, was von noch
größerer Bedeutung war, einer solchen Vereinigung und Gleichheit
der Gefühle und Gedanken so vieler und so verschiedenartiger Völker
bedurft, wodurch die Kraft eines jeden Einzelnen verzehnfacht wor¬
den. Jetzt nun beobachtete man einander, und man sah nur Eines
als Wirklichkeit und mit Gewißheit voraus; nämlich die Wiederkehr
all jener Uebel, von denen man schon für immer befreit zu sein
glaubte.


Unter diesen so ernstschweren Verhältnissen entwickelte Herr
v. Talleyrand eine Geschicklichkeit und eine Willenskraft, wodurch
es ihm gelang, Alles mit sich fortzureißen. Nie war eine Rolle
schwieriger gewesen; denn er stand jetzt zugleich der Regierung des
Landes, das er repräsentirte, dem Lande selbst, dessen Interessen und
Nationalität er retten wollte und den feindlichen Mächten gegen¬
über, welche Napoleon und Frankreich, das ihn so günstig aufge¬
nommen hatte, mit ein und demselben Bannstrahle bedrohten. Ich
war zur Zeit der ersten Revolution nicht in Paris; ich habe daher
sein Benehmen in jener Epoche nur durch die, oft lügenhaften Be¬
richte der Zeitgenossen kennen gelernt. Aber in Wien war ich Augen¬
zeuge von dem, was er im März des Jahres 1815 für sein Land
und für die Bourbons that, und ich stehe keinen Augenblick an zu
erklären, daß, wenn letztere ihm ein zweites Mal die Krone ver¬
dankten, Frankreich ihm vielleicht sein Fortbestehen als Nation ver¬
dankt. Er hatte mit feinem feinen Takte begriffen, daß diese beiden
tiefinnig mit einander zusammenhingen und eines aus dem
andern flössen. Daher rührte denn sein Benehmen und seine Be¬
mühungen, die berühmte Erklärung vom 31. März herbeizuführen.


Hier findet nun dieses so vielbesprochene, so mannigfach beur¬
theilte Aktenstück seinen Platz. Die Aufregung hatte in Wien den
höchsten Grad erreicht und wurde durch die Aussicht auf einen blu¬
tigen Krieg nur noch gesteigert. Der Enthusiasmus, den Napoleons
Gegenwart erregt hatte, die Aufnahme, die ihm von der Bevölke¬
rung zu Theil geworden, die so natürliche Weigerung der Armee,
gegen ihn zu kämpfen, dies Alles machte, daß man die ganze fran¬
zösische Nation als Mitschuldige am Bruche des so viel ersehnten


[]

Friedens betrachtete. Auch erschrack man über die Rückkehr der revo-
lutionairen Ideen, deren Fiebertaumel Europa erschüttert hatte. Der
Kaiser von Oesterreich hatte sich an den Czar gewandt und zu
hin gesagt:


„Sehen Ew. Majestät nun, was davon herauskommt, daß Si.'
Ihre Pariser Jacobiner beschützt haben?"


„Es ist wahr," hatte Alexander geantwortet; „um aber mein
Unrecht wieder gut zu machen, stelle ich meine Person und meine
Armee ganz und gar Ew. Majestät zu Befehl."


So sollte also der Streit entbrennen zwischen Frankreich auf
der einen und ganz Europa auf der andern Seite, ein Kampf auf
Tod und Leben, der nur mit dem Leben eines der beiden Kämpfer
enden konnte. Auch das Wort Theilung hörte ich aussprechen
und Polens Beispiel war ja da, um zu zeigen, daß eine Nation
aus dem europäischen Familienverbande gestrichen werden könne.


Fürst Tallevrand stellte dagegen als Grundsatz auf, daß 181!»
wie ein Jahr vorher Europa nur mit Napoleon, nicht aber mit
Frankreich Krieg führen könne. Er manoeuvrirte mit so viel Geschick-
lichkeit oder mit so großem Glück, daß er über alle Hindernisse
triumphirte, die Gesinnungen derer, die gegen Frankreich feindlich
gesinnt waren, gänzlich umwandelte, und die feierliche Anerkennung
des von ihm aufgestellten Grundsatzes erwirkte. Zwanzig Mal wohl
war der Congreß im Begriffe, auseinander zu gehen und Nichts zu
entscheiden, als einen blinden Krieg; zwanzig Mal brachte er diese
untereinander so abweichenden Meinungen wieder zur Einigkeit zu¬
rück. Ich weiß, daß gewisse unumschränkte, starre Geister diese
Wendungen der Klugheit nicht anerkennen wollen; besser, hat man
gesagt, wäre eine Kriegserklärung, eine Drohung völliger Ver¬
nichtung für Frankreich gewesen. Das Land hätte in seiner Ver¬
zweiflung eine übernatürliche Kraft gefunden; es würde mit Ruhm
entweder im Kampfe unterlegen sein oder triumphirt haben.


Tallevrand aber besaß eine allzu hohe Mäßigung der Gesin¬
nung, er würdigte die Hilfsmittel des geschwächten Frankreich allzu
richtig, als daß er zu diesem äußersten gewaltsamen Entschlüsse
hätte seinen Rath geben können. Er sah, Europa habe sich erhoben:
er lenkte es gegen einen Mann, anstatt gegen ein Volk. Und hierin
that er wohl. Sein Benehmen wurde in Wien als der Triumph


[]

des Verstandes und eines aufgeklärten Patriotismus gewürdigt und
lewundert.


Oft kam er aus den Conferenzen völlig entmuthigt in sein
HiUel zurück. Noch am Morgen deS 31. März, am Tage, wo
jener bedeutungsvolle Act unterzeichnet werden sollte, zweifelte er am
Erfolge. Und doch war Alles bereit. Im Augenblick, wo er in den
Wagen stieg, um sich zu Metternich zu begeben, bezeugte seine Um¬
gebung eine leicht begreifliche Unruhe.


„Erwarten Sie mich," sagte er. „Um Ihrer Ungeduld auch
nicht eine augenblickliche Pein zu verursachen, lauern Sie an den
Fenstern des Hotels auf meine Rückkehr. Wenn ich den Sieg da¬
von getragen habe, so werde ich Ihnen zum Kutschcnschlage heraus
den Tractat zeigen, von dem das Loos Europas und Frankreichs
abhängen wird."


Wenige Stunden hernach steckte er die Rolle zum Wagenfenster
heraus, welche den Frieden enthielt, der wieder zum Schiedsrichter
des Krieges geworden. Einen Augenblick zuvor noch schien diese
so mühsam errungene Beistimmung wieder im Begriffe zu zerfallen,
als man nämlich die Flucht vom 20. März erfuhr und daß Napoleon
in die Tuilerien eingezogen sei, ohne daß er einen Schwertschlag
zu thun gebraucht. Besonders konnte Kaiser Alexander nicht be¬
greifen, daß die Familie der Bourbonen auch nicht den geringsten
Widerstand versucht und daß nicht ein Vertheidiger sich sür sie erho¬
ben habe.


Ich begegnete an demselben Morgen dem General Uwaroff:


„Der Kaiser," sagte er mir, „kann aus dem Erstaunen noch
gar nicht herauskommen; er ist deS Krieges müde und er hat erst
heule mehr als zwanzig Mal zu mir gesagt: Nein, nein, ich werde
mein Schwert nicht mehr für sie ziehen."'


Es bedürfte nun von Seiten Talleyrandö neuer Wunder von
Äeduld und Geschicklichkeit, um den Bund wieder zusammenzuknüpfen
und all diese auseinanderstrebenden Willenömcinungen nach einem
Ziele hinzurichten.


----Die Massen bemerkten mit Entsetzen, wie der Hori¬
zont sich von Neuem mit drohenden Wolken belaste, die Ehrgeizigen
aber sahen mit Freude, daß die gute Zeit für ihren Ruhm zurück¬
kehre; denn, man kann es nicht läugnen, die Intrigue, die schon


[]

thätig war, um Napoleon zu stürzen oder zu stützen, hatte die Aus¬
sicht auf ein schnelles Resultat von Größe und Reichthum.



Der Congreß ist aufgelöst, hatte Napoleon gesagt, als er
bei Cannes den Boden Frankreichs betrat. Und doch spielte am
eilften März mitten unter dem allgemeinen Schreck, das Liebhaber-
theater noch im Redoutensaale. Diese unzeitige Vorstellung bestand
aus dem Kauf von Bagdad und den Nebenbuhlern ihrer
selbst; aber es hatten sich nur wenig Neugierige dahinbegeben,
freilich immer noch in größerer Anzahl, als man gemeint hätte.


Aber eS war dies nur das letzte Aufflackern eines erlöschenden
Lichtes, der letzte schwache Ton eines verschallenden Instruments.
Das Vergnügen ist entflohen, der Congreß ist aufgelöst.


[]

Briefe aus Wien.
Zweiter Brief.


Note: Die Illusionen über den Anschluss an den Zollverein. Handels- und Postvcrlräge.
Fanny Eloler und die Enthusiasten. Das Mozartsche in Salzburg. Die
Salzvui'gar Aufnahme der Fremden. Zeremiaden.

Ich komme auf die Eisenbahnen, die der Staat baut, zurück
und auf den Einfluß, den sie auf die Handelsverhältnisse zum Aus¬
land in nicht gar langer Zeitfrist ausüben müssen. Hier bietet sich
ein Feld dar, auf dem sich die deutsche Journalistik seit Kurzem
mit patriotischer Ertase getummelt und aus dem Dasein eines
Baumes schon auf das Dasein eines Volkes geschlossen hat.
Läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß die im Bau begriffenen
Eisenbahnen, welche durchweg bis an die Grenzen oder bis ans
Meer gebaut werden, nur bei einem erleichterten Verkehr mit der
Fremde möglicherweise einen leidlichen Ertrag — Gewinn wäre zu
kühn gesagt — abwerfen können, so vermag doch nur die Phantasie
der Zeitungsschreiber oder der germanische Enthusiasmus in Deutsch¬
land daraus einen gänzlichen Anschluß Oestreichs an den Zollver¬
ein herzuleiten, denn die Monopolschwierigkeiten sind einmal zu groß
und würden eine durchgreifende Umgestaltung der gesammten Steuer-
Verfassung erfordern, auch ist die Finanzlage der Monarchie zu proble¬
matisch, um kommerzielle Experimente dieses Umfangs zu erlauben.
Was Oestreich gewiß thun wird, ja besser gesagt, thun muß, be¬
schränkt sich so ziemlich auf einen, vielleicht sehr günstigen Handels¬
vertrag mit dem deutschen Zollverein, welcher dem Kaiserstaat ander¬
weitig nicht die Hände bindet; ein gänzlicher Anschluß erscheint der
östreichischen Staatskunst aus mehr denn einer Ursache sehr bedenk¬
lich, denn die Industrie der deutschen Vereinslande ist jener der
Monarchie in den meisten Stücken weit überlegen und namentlich
dürste der Waarenzug aus dem industriellen Preußen den östreichi¬
schen Gewerbfleiß gar hart beeinträchtigen, und die Geldquellen
des Landes aussaugen. Preußen würde durch einen Anschluß des
Kaiserstaates seine Blüthe vermehren und mit ihm seinen allerdings
ganz gerechten Einfluß in Deutschland, dem doch dieser Schritt haupt¬
sächlich entgegenarbeiten sollte. Die österreichische Regierung würde
durch einen solchen Schritt sicherlich einen großen Vortheil wieder
gewinnen. Aber der Wohlstand der Provinzen?


35
[]

Wünscht der Kaufmann auch eine Erweiterung des österreichi¬
schen Handclsgebieteö um jeden Preis, so muß dagegen der Fabri¬
kant, der von der Concurrenz der deutschen Industrie Alles zu fürcht
den hat, ganz Entgegengesetztes wünschen uns die Regierung muß
daher ohne Zweifel ihre Entschlüsse solchergestalt fassen, daß die
widerstrebenden Ansichten der Betheiligten vermittelt werden, und
eine wesentliche Erleichterung in Handelsbeziehungen eintreten, ohne sich
deshalb dem Zollverein ganz hinzugeben»). Auf diese neue Phase
im Verkehr weisen auch schon die Veränderungen im Postwesen hin,
die man wahre Verbesserungen nennen kann, was nicht immer der
Fall ist. Handel und Post bedingen sich wechselweise und die Re¬
form der letztern muß den Veränderungen im Erstem jedesmal
vorangehen. Hofrath Ottenfeld hat bekanntlich in München mit
der königlich baierischen Regierung einen vortheilhaften PostVertrag
abgeschlossen, welcher die Nothwendigkeit des Frankirenö aufhebt
und dem correspondirenden Publicum vielfach zu Statten kommt;
dieser Vertrag ist den mit Baden, Würtemberg, Sachsen und Preu¬
ßen angeknüpften Unterhandlungen zu Grunde gelegt und dürfte
sonach der Anfang einer neuorganisirten Postverbindung mit ganz
Deutschland werden.


Nachdem sich das Gerücht lange genug mit dem ersten Wie¬
deraustritt der Fanny Elster beschäftigt hatte, erscholl endlich in al¬
len Zeitungen und ni allen Ecken der Straßen die Jubelkunde:
Fanny Elster wird tanzen, nemlich im Hofoperntheater und noch
dazu zum Vortheil einer Kinderwarteschule, welche sich zwar ein
Haus gekauft, aber eS nicht bezahlt hatte. Der wohlthätige Zweck:
für eine Kinderwarteschule, entwaffnete selbst den moralischen Zorn
der tugendstrengen Frauen, die es sonst der freundlichen Tänzerin
niemals verzeihen konnten, durch ein leichtes Lächeln — und Elster
lächelt immer — Eroberungen gemacht zu haben, um die sie sich
.jahrelang bemüht hatten. Der Zudrang um die Billete zur Vor¬
stellung war beispiellos; die Logen waren im Nu vergeben und ein



[]

Sperrsitz im Parterre, obschon blos zu 5 Gulden angesetzt, ward
dennoch auf 15 Gulden hinaufgetrieben. In manchen Familien
wurde eine ganze Woche hindurch Nichts gegessen, um sich für den
heiligen Tag vorzubereiten und das Eintrittsgeld zu ersparen. Da
sage noch Einer, die Wiener seien nicht wohlthätig! Es sind wahre
Engel der Wohlthätigkeit, besonders wenn sie für ihr liebes Geld
auch ein Spectakel in den Kauf mit bekommen. Und daß es an
Spectakel nichl fehlen würde, das sagte eine allgemeine Ahnung
in der Menschheit Wiens. Der Lokalpatriotismus und die Fashion
mischten sich auch darein und verrückten den Kaltblütigsten den Kopf.
Fanny mußte jede Piece wiederholen und that es mit der freund¬
lichsten Grazie; als am Schlüsse der Beifall nicht enden wollte und
sie nicht wußte, was das Publicum eigentlich von ihr verlange, er¬
klärte ein Herr aus der Loge heraus: man wünsche die Cachucha.
Fanny wiederholte das Wort und sprach nicht wie bisher allgemein
üblich: „Katschuka," sondern „Kaschuscha," was die Wiener ganz
frappirt aufnahmen und sich Jeder ganz in der Stille in sein
Fremdwörterbuch einzeichnete. Der Hof blieb gleichfalls so lange
im Theater, bis sich die Elster ihrer polnischen Kleidung entledigt
und in die spanische Nationaltracht geworfen hatte. Auch der Her¬
zog von Leuchtenberg mit seiner schönen Gemahlin befand sich in der
Hofloge, da er eben am kaiserlichen Hoflager auf seiner Reise nach
Italien verweilte. Die Enthusiasten begleiteten den Wagen der rei¬
zenden Terpsichore bis in ihre Wohnung und sollen ihr einige
Sacktücher und andere Kleinigkeiten abgebettelt haben, die sie so¬
dann brüderlich unter einander theilten. In den nächsten Tagen
sing jedoch der Katzenjammer an. Ein eitler Kunstjünger prägte
Medaillen auf die Löwin der Saison und die halbe Männerwelt
schwitzte am Schreibtisch, um galante Liebesseufzer in Verse zu
bringen, die sodann von jenem Theil der Journalistik, der sich die
Aufnahme von dergleichen Schmierereien init einem PränumerationS-
betrag honoriren (?) läßt, in Fülle in's Publicum geschleudert wurden,
das sie glücklicher Weise nicht lesen wollte.


Von dem Mozartfeste in Salzburg kann ich Ihnen nicht eben
das Beste melden. Wenn auch mit der Anwesenheit der Kaiserin-
Wittwe und des baierischen Hofes beehrt, fehlte der Künstlerfeier
dennoch jener glänzende Verein musikalischer Celebritäten aus ganz


35-i-
[]

Europa oder wenigstens von Deutschland, den man bei dieser Ge¬
legenheit erwarten durfte und der sich dadurch nur selbst geehrt
hätte, denn Mozart steht viel zu hoch, um von Leuten wie Beriot,
Thalberg und dergleichen erst die Weihe der Anerkennung zu er¬
halten. Allein zum Theil steckten sich die hohen Geister der Mu¬
sikwelt hinter dringende Geschäfte. Sie, die in ihrem ganzen Leben
nichts zu thun haben als „den Interessen der Kunst (!)" zu leben
und den Erdball mit Siebenmeilenstiefeln zu durchrennen, fanden
nicht Zeit genug, um dreißig oder vierzig Meilen zu einem echten,
weihevollen Kunstfeste zu pilgern, zu der Ehrensäule eines unver¬
gänglichen Meisters, dein so zu sagen alle diese zwerghaften Epigo¬
nen ihren Ruf und ihr Brod verdanken! Auf der andern Seite ließ
es aber auch daS Comite an Aufmerksamkeit mangeln und über¬
haupt ist Salzburg zu sehr vom spießbürgerlichen Kleingeist beherrscht,
um sich in dem genannten Fall mit all jener Zuvorkommlichkeit und
urbaren Politesse benehmen zu können, die man an andern Orten
bei dergleichen Gelegenheiten gefunden hat. Die Bürger thaten
nichts für die erwarteten Fremden, deren Börse ihr alleiniges Ziel
blieb und es gab Menschen, welche für ein Zimmer l5 Gulden
täglich verlangten K), doch zum Glück war die Geldgier der Salz-
burger größer gewesen, als der Zudrang der Ankömmlinge, und da
über 300 Zimmer und Betten leer blieben, so ließen die ehrlichen
Leute halv mit sich handeln. Reisende, welche die Gutenbergsfeier
in Mainz oder nur das Musikfest in der Heidelberger Schloßruine
gesehen, versicherten einstimmig, es habe in Salzburg an jeder lau¬
ten echten Volkölust gefehlt,, wie man sie am Rhein so schön und,
erhebend finde, und die Leute hätten sich zwar streng polizeilich, aber
auch und eben deshalb sehr albern benommen. Für die Unterhal¬
tung der Fremden, unter welchen das musikliebende Prag am stärk¬
sten und das musikprunkende Wien am spärlichsten vertreten war,
hatte man sehr wenig gesorgt und ich kenne Personen, die sich an
den langen Vormittagen herzlich gelangweilt haben. Die geringe



Note: D. Red.

[]

Aufmerksamkeit, die man den Festbesuchern erwies, war noch über¬
dies sehr kastenmäßig vertheilt und die Befahrung der nahen, hell-
erleuchteten Saline unter der schallenden Bergmusik der Knappen
wurde mit aristokratischer Etikette blos den hundert vornehmsten
Gästen zugedacht, indeß die Uebrigen zusehen konnten, wie die Kühe
machen, wenn sie von der Alpe kommen und die Bauern sich im
Ringkqmpfe auf die kunstgerechteste Weise den Schädel einschlagen.


[]

T a g e b u es.



Gutzkow und die deutschen Kleinstädter.


Man muß es den deutschen Literaten nachsagen, sie wissen alle Erwartungen
zu übertreffen. Wenn man alle Winkel des deutschen Philisterthums gehörig
studirt zu haben glaubt, so steigt der ehrliche Michel plötzlich von einer ganz
andern Seite auf und zwingt uns Bewunderung sür seine unendliche Mannig¬
faltigkeit ab. Dies haben wir neuerdings bei der Beurtheilung der Gutzkow-
schen Briefe gesehen. Es war vorauszusagen, daß diese Briefe auf viele
Gegner stoßen würden. Wenn man ein so abgespieltes Thema, wie eine Reise
nach Paris, beschreibt, so muß man neue Gesichtspunkte aufstellen; wie, sollten
sich da die alten vorgefaßten Meinungen nicht dagegen auflehnen? Offenbar
hat Gutzkow im Drange Neues zu sagen, sich verleiten lassen, manche Dinge
auf den Kopf zu stellen. Es ist aus vielen Seiten dieser Briefe ersichtlich,
daß ihr Verfasser, noch bevor er manche Personen oder Zustände persönlich zu
Gesichte bekam,sein Urtheil über sie in sich trug und die persönliche Anschauung
nur dazu aufsuchte, um sie besser motiviren zu können. Man kennt Paris,
ohne dort ein Gamin gewesen zu sein — wie, komisch genug — ein Correspon-
dent der Augsburger verlangt. Man reist nach der Hauptstadt Frankreichs
nicht wie ein Naturforscher nach Centralamerika reist, um über Menschenracen
und unbekannte Landstriche einen wissenschaftlichen Rapport abzustatten. Jeder
Gebildete trägt ein fertiges Bild von Paris in sich. Und so ging es auch
Gutzkow. Er kam mit Sympathien und Antipathien und suchte neue Belege.


[]

Dabei kann man freilich sehr oft die Wahrheit verfehlen. Aber die Charakte¬
ristiken Guizot's und Thiers', die Bemcrkunqen über Michel Chevalier, die
deutschen Flüchtlinge, das Communistcnftst u. s. w. sind vortrefflich und über¬
raschend. Daß Gutzkow manchen Eindruck, manche mißverstandene Conversation
leichtsinnig und flüchtig aufgezeichnet hat, darüber könnten wir, hier in Bel¬
gien vielleicht am ersten, uns beklagen. Bon dieser Seite wird Gutzkow selbst
freiwillig sich der Kritik hingeben. Die ganz intuitive Gestaltung dieser Briefe
zeigt, daß ihr Verfasser nur Eindrücke und Ansichten, nicht aber unumstößliche
Behauptungen aufstellen wollte. Wenn ein anderer Kritiker der Allg. Zeitung
breite Auseinandersetzungen von einem Buche verlangt, das nur die Stimmun¬
gen der Gegenwart andeuten und die Anschauungen eines deutschen Schrift¬
stellers schildern soll, der zu dem Glauben berechtigt ist, daß seine Landsleute
sich fürscinUrtheil interessiren, —so hat erden StandpunktdcsNieisendcn verkannt,
Immerhin jedoch liegt eine solche Kritik in dem Kreise einer gewöhnlichen
Polemik, zu der Jedermann berechtigt ist, dessen Erwartungen ein Buch
nicht entspricht. Wenn aber die literarischen Krähwinklcr in ihrer tiefen
Weisheit pfiffig auf die Schnupftabaksdose klopfen, und mit blinzenden Augen zu
verstehen geben, daß diese Gespräche bei den politischen und literarischen Celc-
vritätcn Frankreichs nur eine dramatische Erfindung seinen und Gutzkow eigene.
lich weder Guizot noch Thiers zu Gesichte bekam, weil diese Herren viel zu
sehr beschäftigt sind, um ihre Thüre einem reisenden Schriftsteller zu öffnen;—
dann muß man sich im Stillen fragen: Ist es nicht natürlich, daß man diesen
deutschen Literaten von oben herab so vornehm und geringschätzig begegnet'?
Ihnen, die es nicht verstehen, sich selbst zu achten und die Stellung, die sie in
der Gesellschaft einnehmen sollten, nicht nur nicht zu behaupten, sondern nicht ein¬
mal zu begreifen wissen. Es wäre lächerlich, auf diese Zweifel eine Antwort
zu geben, da es keinem der Berichterstatter aus Paris, er möge das Buch
loben oder tadeln, in den Sinn gekommen ist, in dieser Beziehung Gutzkow
der Unwahrheit zu zeihen. Solche kleingeisterische, krähwinklerische Bedenklich-
keiten können nur im lieben Baterlande entstehen; sie geben einen traurigen
Krankheitszustand unsererVerhältnisse zu erkennen, der so vielen Schriftstellern
das Gefühl ihrer Würde raubt. In der traurigen Gedrücktheit der deutschen
Verhältnisse vergessen sie es, daß sie Mitglieder jener edlen und glänzenden
Klasse der Gesellschaft sind, deren Bewegungen den eigentlichen Maßstab zur
Beurtheilung einer. Ration geben; daß sie jener privilegirten Klasse von
Männern angehören, aus deren Mitte nicht nur Frankreich und England, son¬
dern auch Deutschland einen Theil seiner Staatsminister rccrutirt hat. Ver-


[]

funkelt in den kleinbürgerlichen Schlamm des deutschen Kastengeistes, ist ihnen
der große, freie Begriff der Gesellschaft noch immer nicht klar. Sie können
sich nicht zu dem Gedanken erheben, daß in dem Salon eines französischen
Staatsmannes nicht nur^besternte und betitelte Personen, sondern auch die Künst¬
ler, die Schriftsteller, d. h. die Männer ihres Gleichen, die unter dem Knopf¬
loche Nichts, als ihr Talent in der Brust haben, einen Mittelpunkt finden.
Auch Schriftsteller von weniger Ruf, als Gutzkow, wenn sie, mit den gehörigen
Einführungsbriefcn versehen, nach Paris kommen, werden in allen Cirkeln (etwa
die Faubourg Se. Germain ausgenommen) Zutritt finden, bei dem Minister,
wie beim Pair. Gutzkow aber ging obendrein ein halb politischer Ruf zur Seite.
Er war einer der Häupter des jungen Deutschlands, was in's Französische
übersetzt un eilst <is 1^ jsnnv ^Nemus'us heißt und eine ganz andere Be¬
deutung gewinnt, die an die jeuiie ^rumph, giovins It-Ul-l, Silvio I'eUico U. s. w.
erinnert. Das Bewußtsein der mangelhaften Kenntnisse der deutschen Zustände
ist in Frankreich nie so lebhast gefühlt worden, als jetzt; und Thiers trotz
allem äußerlichen Großthun weiß innerlich sehr wohl, daß er im Jahre 1340
durch seine Verkenming der deutschen Stimmung sich blamirt hat. Da kommt
Se. Marc Gircirdin und wünscht, ihm einen deutschen Schriftsteller seiner Be¬
kanntschaft vorzuführen, un nos olxzls ,1s 1^ ^Ilemaxne, <loue le»
ouvraxes ont ot.6 t'rajiplls j>ar I'iiitoi-Jiew <1v -ufte vt qui a neu prisoiiisi-
I>oIIti^us <1ans »»t! ^ortervssv allöinicuclL, ete. Und Thiers sollte nicht beide
Thüren einem solchen Gaste öffnen, von dem er vielleicht im Stillen den
Beweis erwartete, daß er in seiner Rechnung auf das ,'revolutionaire Deutsch¬
land sich doch nicht'betrogen habe? Und warum geradeThiers und Gutzkow? War¬
um sollte überhaupt ein deutscher Schriftsteller in Frankreich nicht eben so viel sein,
als ein französischer in Deutschland ? Sind Michel Chevalier, sind Mistreß Trollopc,
und um ein allerncustcs Beispiel zu wählen, sind dem Bicomtc d'Arlincourt
die deutschen Salons verschlossen geblieben? Freilich der Vicomte ist von Adel
und, vergessen wir es nicht, Legitimist; aber Emile Girardin, der von dem
glänzendsten und geehrtester deutschen Staatsmanne einen freundlichen Em¬
pfang aus dem Johannisberg erhielt, ist weder von Adel und noch viel weni¬
ger legitim. Ihm gingen nicht einmal so unbescholtene Antecedentien voraus,
wie Gutzkow. Wenn übrigens einige Pariser Berichterstatter in deutschen
Blättern behaupten, Gutzkow habe durch die Indiscretion, womit er Einzelnes
ausgeplaudert hat, anderen Schriftstellern, die nach ihm kommen, den Zutritt
erschwert, so ist das eine Unwahrheit und eine Uebertreibung. Jedermann
weiß in Frankreich, daß der reisende Schriftsteller seine Eindrücke zu Papiere


[]

bringt — und Herr Alexander Dumas und seinesgleichen haben ganz andere
Jndiscrctionen in ihren Im^ressions ils voMxs begangen, als unser Pariser
Briefsteller. —


T h o r w a l d s c n.


Die von allen Seiten mit vollem Rechte gerühmten Sonntagsblätter,
welche Ludw. Aug. Fränkl in Wien herausgibt, bringen namentlich sehr häu¬
sig höchst interessante Artikel im Gebiete der bildenden Kunst. Fränkl selbst
ist ein trefflicher Kunstkenner und hat seinen Geschmack auf Reisen durch
Italien und den Umgang mit großen Künstlern geläutert und ausgebildet.
Eine der letzten Nummern seines Blattes bringt aus der Feder des Redakteurs
folgende Bemerkungen über Thorwaldsen:


Nicht leicht kann man zu dem Ruhme eines großen Bildners eine ent¬
sprechendere Erscheinung, als die des Thorwaldsen ist, sich denken: hoch
und stämmig, aufrechte Haltung, weiße Haare, die gewaltig und reich wie
Mähnen bis auf Nacken und Schultern fallen, blaue Augen, leuchtend, wie die
des Braga, gesunde Färbung, nordischer Ernst in den Suger, die tieftönende
Sprache, all dies vereinigt sich zu einem Ganzen, das Ehrfurcht einflößt, und
wäre er auch kein Nordländer, und sein Name nicht mit dem nordischen Gotte
verwandt, man wäre an einen solchen gemahnt, wenn man durch seine Tem¬
pel — zu diesen hat er seine drei Ateliers geweiht — schreitet. Ich sah ihn
zum ersten Male bei dem Abschicdsfestc, das die deutschen Künstler in Rom
dem Professor Wagner aus Baiern nach Vollendung seiner schönen Basreliefs
gaben, als er diesem einen Lorbeerkranz aussetzte, und ich zähle es mit zu
den schönsten Erinnerungen, daß ich mit ihm, als seine Gesundheit ausgebracht
wurde, anklingen durfte und abweichend von Makbcth darf ich nun sagen:


„Ich habe mit Unsterblichen zu Nacht gegessen."


Bei keinem Künstlerfcste fchltThorwaldsen, er ist der glänzende Punkt
des römischen Künstlcrfestes, und wenn man ihn von Heiterkeit umstrahlt,
wie beim Wagnerfeste, sich wie im Tanze lustig bewegen sieht, so glaubt man
die Sage von ewiger Künstlcrjugcnd verwirklicht.


Thorwaldsen hat in zwei langen, lichten, Wagcnrcmisen ähnlichen
Gebäuden die GipSabdrücke seiner meisten Werke. Hier stehen Christus und
die Apostel, die im Geiste der besten Alterthümer entworfene Bergpredigt, sein
Alcranderzug, die Grazien, die cmakreontischcn Basreliefs, Venus, die Statue


[]

Byron's, Guttenberg's; Helden und Götter, alles in bunter Versammlung
eine Welt, in der man Tage lang sich bewegen muß, bis man ihrer zur Erin;
narung Herr geworden ist; es ist aber eine Erinnerung, die sich für's Leben
einprägt. Noch war es mir gegönnt, die Schillerstatue in der Werkstätte zu
sehen, einige Tage vor der Absenkung nach Deutschland. Hier aber formt
und meißelt Thorwaldsen nicht; jeden Sonntag Bormittag öffnet er freund¬
lich auf dem nördlich vom Quirinal gelegenen North z>ineio seine Galerie
jedem Fremden. In fünf mäßigen Zimmern hängen Bilder, welche nur von
modernen, jetzt in Rom lebenden Malern herrühren. Wenn man nicht lauter
Kunstwerke sieht, so entspringt das aus dem edlen Beweggrunde, daß der
große Meister, gewöhnlich um einen Künstler zu unterstützen, oder aus ihn
die Aufmerksamkeit zu lenken, ihm ein Bild sür seine Galerie abkauft. Doch
sind auch Werke darunter, wie die des charakteristischen Dänen Meyer, des
ein halbes Jahrhundert schon in Rom wirkenden geiht- und liebreichen Rein»
hart, des farbenlieblichen Pollack, Ritt, Kirner u. s. w. die nicht aus
jenem Grunde allein angekauft scheinen. Thorwaldsen stand an einer
Statue des letzten Hohenstaufen modellirend, welche der Kronprinz von Bai-
ern bestellte, um sie in der Kirche 8. Nari-» <Is1 esrmine zu Neapel, (welche
aus dem Platze steht, wo Conradin enthauptet wurde), im Kreuzgange
aufstellen zu lassen. Zuweilen mischte sich der Meister unter seine Gäste, und
war der freundlichste Cicerone, dann trat er wieder vor seine Statue und
unterhielt sich mit den Freunden, so daß er spielend sein Kunstwerk zu vollen¬
den schien. In den Zimmern herrschte die liebenswürdigste Unordnung und
stach wenig zu ihrem Herrn ab, der im grauen Schlafrocke, ohne Halsbinde,
vepantoffelt, seine Gäste, unter denen auch ausgezeichnete Damen, empfing
und unterhielt, und Niemand verläßt ihn, ohne von seiner einfachen freund¬
lichen Weise ganz entzückt zu sein. Ich sah ihn am selben Abend noch im
Salon der Prinzessinn Caroline von Dänemark, wo ich durch den liebens¬
würdigen Künstler Pollack eingeführt wurde, und wenn die von vielen Or¬
den blitzende Erscheinung gegen die des Morgens gewaltig abstach, so war
Thorwaldsen derselbe einfache liebenswürdige Künstler, wie der bei den
Künstlerfesten, wie der in seinem Studio. Wie sehr die Künstler an ihm
hängen, konnte man aus ihrer Stimmung erkennen, die durch den Wunsch
seines Königs, nach Dänemark zu kommen und Rom vielleicht für immerLcbe-
wohl zu sagen, schmerzlich veranlaßt wurde. Wäre dieser Verlust für die
Künstler in Rom groß, so wäre es kein minderer für die Fremden, deren
wohl keiner ohne die dankbarste Erinnerung von diesem großen Manne schei-


[]

det, welcher der Stolz des Jahrhunderts wurde und als Maßstab gelten wird,
wenn die Werke der künstigen Zeiten werden gemessen werden. Wie Janus
schaut er gleich klar in zwei Welten, in die antike und christliche, beide, antike
Ruhe und Kraft, christliche Sehnsucht und Milde, feiern in seinen Werken
die geheimnißreiche Hochzeit, und noch späte Tage werden von den Riesenkin¬
dern sagen und singen, die aus dieser Ehe entsprossen sind.


Nicht leicht kann es ungeschehen bleiben, daß man in Italien in den
Streit verwickelt wird, wer größer, Canova oder Thorwaldsen? Er ist
dort eben so stationär geworden wie in Deutschland der Vergleich zwischen
Schiller und Goethe; während aber hier die Nationalität sich beider He¬
roen erfreuen darf, tritt sie dort in gewaltigen Widerspruch. Der Italiener
ist eifersüchtig auf den Ruhm seines Baterlandes und den seiner Künstler, und
so geschieht es, daß er nur nach langem Streite innerlich knirschend zugibt:
Thorwaldsen ist der größte Meister der Neueren im Basrelif, für Ca¬
nova behalt er die größere Meisterschaft in freistehenden Gruppen vor- Wohl
hat der Letztere mehr als seine Vorgänger, z. B. Bernini, die Antike
verstanden, reiner und edler nachgeahmt; frei geworden ist er nie, am meisten
genähert hat sich ihr aber Thorwaldsen, und da, wo er christliche Gegen¬
stände darstellt, und so den Vergleich mit den übrig gebliebenen Gestalten des
Alterthums ausschließt, steht er als außerordentlicher Schöpfer eben so hoch
durch Kraft, Einfachheit und Schönheit der Form da, wie die besseren Mei¬
ster der Griechen. „Christus und die Apostel" in Kopenhagen aufgestellt, in
Thorwaldsens Atelier zu Rom im Gipsabgüsse, werden ihn in Jahrtausenden
eben so nennen machen, wie den Phidias sein „Zeus;" er wird den Kunst¬
gipfel unseres Jahrhunderts darstellen. Wie durch den Namen, mahnt Thor¬
waldsen auch durch Gestalt und Vaterland, und Kraft der Kunst an den ham-
mcrschwingenden Thor der nordischen Götterwelt, er erscheint gewaltig in
Erscheinung und Kunst; Canova weicher, lieblich und selbst in seinen He¬
roengestalten, z. B. seinem Theseus in Wien, nicht stämmig und kräftig ge¬
nug. Canova- Thorwaldsen-Rossini- Mozart.


Die königliche Bibliothek in Paris.


Die große königliche Bibliothek in Paris, dieses Institut, das mehr als
Acht mal hundert Tausend Bänden zu Katakomben dient, in denen die Werke
so vieler durch Geist, Gefühl und Sprachgewandtheit ausgezeichneter Schrift¬
steller, aber auch keiner geringen Anzahl von Dummköpfe», ihren Todeöschlum-


[]

mer schlafen, — ist in diesem Augenblick in einer kaum zu beschreibenden
Aufregung. Alle die Herrn, denen die Bewachung der Drucksachen, Brochü-
ren, Manuscripte, Kupferstiche u. s. w. anvertraut ist, ja sogar jene berühm¬
ten Bewahrer des Medaillen-Cabinets, welche noch heute sorgfältig die Schub¬
laden und Kästchen aufbewahren, in denen sich die gestohlenen Medaillen be¬
fanden, — alle diese Herrn sind fortwährend im Zustande der Berathung, um
das Mittel ausfindig zu machen, wie man nächstens mit den seit hundert und
fünfzig Jahren aufgehäuften Pyramiden von Bänden ausziehen soll. Denn es
ist nun fest entschieden, daß sie in ein anderes Local transportirr werden sol¬
len, welches zu der ungeheuren Entwicklung der Literatur und der Ratten
unserer Epoche in richtigeren Verhältniß steht. Der Charivari macht sich
hierüber lustig. „Seit etwa fünzig Jahren," sagt er bei dieser Gelegenheit,
„spricht man von diesem Umzüge. Unter der Republik, unter dem Kaiser¬
reiche, ja selbst während der Restauration war nach einander die Rede davon,
sich mit dieser ungeheuren Arbeit zu beschäftigen, welche allen Pariser Ecken¬
stehern wenigstens ein halbes Jahr zu thun geben wird. Dabei sind noch die
Wagen nicht in Anschlag gebracht, die für den Umzug der Ratten nothwendig
werden, da diese offenbar nicht werden zu Fuße gehen wollen. Will man aber
diese interessanten Vierfüßler in dem lecrwerdenden bisherigen Locale zurück¬
lassen, so muß man befürchten, daß sie von dem Tage an, wo sie keine Bü¬
cher mehr zu zernagen finden werden, heißhungrig über alle Bewohner der
Rue Richelieu herfallen werden. Der gelehrte Director der königlichen Bib¬
liothek (wir meinen den vorigen, den seligen Ban Prack) hatte berechnet, daß
die Anzahl der Ratten sich auf 15,727 belaufe, und er beschäftigte sich sogar
mit den Vorarbeiten zu einem genauen Verzeichniß derselben, als ihn der Tod
seinen Studien entriß. Danach kann man sich nun einen Begriff machen, welchen
Lärm diese große Operation des Anzuges verursachen wird. Man wird uns
vielleicht einwenden, es sei Unrecht gewesen, besagte Ratten so unbegreiflich an¬
wachsen zu lassen und man hätte sie in ihrer Vermählung und Fortpflanzung
stören sollen. Diese Bemerkung bezeugt aber nur eine Unkunoe des Geschäfts¬
ganges, wenigstens soweit es die königliche Bibliothek angeht. Biese zerstö¬
renden Thiere nämlich sind für dieses Institut eine Lebcnsbedinguiig. Jahr
aus Jahr ein zernagen sie durchschnittlich ungefähr 10,000 Bände und nur
durch den Abfluß, den dieser natürliche Canal gewährt, wird Platz für dir
Wogen von neuen Büchern, welche jedes Jahr von den Pariser Buchhändlern
allein in dieses unermeßliche Büchcrmecr fließen. Ohne die Ratten hätte man
schon seit zwanzig Jahren auch nicht das allcrdünnste Oclavbändchcn mehr in


[]

die königliche Bibliothek hineinbringen können eine solche Wuth?, Papier zu
bedrücken und zu beschreiben, hatten unsre Ahnen. Im gemeinen Leben sagt
man, die Eidechse sei der Freund der Menschen; das kann wahr sein, aber
der Freund des Schriftstellers in's Besondre ist die Ratte. Von dem Tage
an, wo man die Ratten und die Gewürzkrämer abschaffen wird, können die
Buchhändler getrost ihre Lade» schließen und die Schriftsteller mögen sich bei
Zeiten darauf verlegen, irgend Brustküchelchen oder sonst etwas der Art zu
erfinden, wenn ihnen daran gelegen ist, etwas zu essen . . . ., natürlich nicht
ihre Brustküchelchen. Doch gut, daß es uns einfällt! Hätten wir doch bald
hin allerwichtigsten Theil dieser Angelegenheit zu berichten vergessen! Erräth
wohl Jemand, wohin man diesen Tempel der Wissenschaften und Künste ver¬
legen will'! Auf die place dauphinc in der Nähe des palais de justier. —
Auch gut! die Parteien, die ihren Proceß verloren haben, werden nun einen
einzigen Schritt zu gehen haben, um Seneca und alle andern berühmten
Schriftsteller zu lesen, welche bewiesen haben, daß, wenn der Mensch nicht zu¬
frieden ist, er ein Philosoph sein muß. Uns scheint die Wahl der place
dauphinc sehr glücklich getroffen zu sein .... für die Bibliothekare. Man
hat sie bis jetzt schon in ihrer'Ruhe wenig gestört; fortan wird man sie gar
nicht mehr stören.-


Theater-Notizen.


Für Schiller's unvollendete Dramen und Dramcnprojckte hat sich wieder
ein Bearbeiter gefunden. Zwei Lieferungen (Nürnberg bei George Winter)
liegen uns von dieser Bearbeitung vor. Sie enthalten den Warbek und die
Kinder des Hauses. Wer von uns hat, nicht in seiner Jugend an die Ausführung des
Warbek sich gemacht'? Es ist mit diesem unauflöslichen Drama wie mit dem Stock-
am-Eiscn in Wien. Jeder wandernde Schlosser schlägt dort zum Andenken
M das dranhängende Schloß einen Nagel hinein, und der alte vielhundert-
jährige Stock hat kaum noch einen Platz für einen neuen. Die deutsche poe¬
tische Jugend hat es mit diesen Schillerfragmenten eben so gemacht; jeder
hat seinen Nagel hineingeschlagen und man sollte endlich damit aufhören. So
wie der Stoff des Warbek vorliegt, hätte Schiller ihn nie ausgeführt — und
der beste Beweis ist auch, daß der große Dichter ihn liegen liesz und den mo-
tivverwandtcn Demetrius vornahm. Kann man sich auch etwas Sonderbareres
denken als diesen Warbek, der, nachdem er durch fünf Akte sich selbst zur Last
als Betrüger umherging, zuletzt durch einen Comöoienonkel, dem Grafen Kik-


[]

dare gerettet wird und Hand in Hand mit dem wahren Prinzen nach Eng¬
land zieht! Wir sind nicht der Meinung, daß ein durch Ehrgeiz zum Betrug
verlockter, sonst aber edler Mensch nicht der Held eines Dramas werden
könne. Aber die Vergeltung, die tragische Nemesis muß ihn treffen; er muß
durch seinen Tod seine Verirrung sühnen, wenn sich das Ganze poetisch ab¬
runden soll. Der Warbck, wie er im Nachlasse Schiller's sich vorfindet, ist
eines jener Croquis, die das Genie beim ersten Einfalle rasch auf's Papier
hinwirft mit dem Vorsätze, es spater einmal auszuführen; dann aber bei reif¬
licher Ueberlegung und Anordnung die Mängel des Entwurfs erkennt, ihn in
den Papierkorb wirft und zu einer neuen - lebenskräftigen Schöpfung eilt.
Der Bearbeiter des vorliegenden Buches hat mit vielem Fleiß und großer
Pietät sich an den Stoff gemacht, wir haben um so mehr Ursache zu glau¬
ben, daß Pietät für das Andenken unseres edelsten Dichters ihn zu dieser
Arbeit bewogen hat, als er so bescheiden war, seinen Namen nicht zu nennen.
Bei allem Fleiße und einer oftmals mit Kraft sich aufschwingenden Sprache
ist es ihm jedoch nicht gelungen, etwas Anderes als eine weite schlotternde auf
243 Seiten sich ausdehnende Haupt- und Staatsaction mit langen geschichtli¬
chen Erplicati'oren aus diesem Warbek zu machen. Auf die Söhne des Hau¬
ses kommen wir bei den nachfolgenden Lieferungen zurück.


---Vor Kurzem brachte der Nürnberger Korrespondent die Nachricht,
daß die österreichische Regierung beim Bundestag darauf angetragen habe, den
dramatischen Dichtern die Nutznießung ihrer Stücke noch auf drei Jahre, nach¬
dem sie im Druck erschienen sind, bei den darstellenden Bühnen zu sichern.
Was die hohe Weisheit der übrigen Versammlung bewogen hat, diesen An¬
trag abzulehnen und die armen Hofbühnen gegen die ohnehin von dem Staate so
reich unterstützten deutschen Dichter in Schutz zu nehmen — ist ein tiefes
Staatsgcheimniß geblieben. Indessen haben wir zu der Ehrliebe und dem ge¬
sunden Menschenverstande der deutschen Bühnenvorstände das Vertrauen, daß
sie dasjenige, was ihnen nicht vom Gesetze geboten wird, aus eigener Einsicht
beobachten werden. Wir geben in einer unserer nächsten Lieferungen das von mehrern
Bühnen zur Aufführung angenommene Trauerspiel Jsaura von Castilien, von
Gustav Kühne. Wir hoffen, daß die Veröffentlichung dieses Dramas keine deut¬
sche Bühne veranlassen wird, sich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und dem
Dichter die vroits ä' ^utsur zu entziehen. Es gilt einen Versuch! Sollten
wir jedoch in unserer Hoffnung uns betrogen haben, so werden wir nicht unter¬
lassen, den Namen jener ehr- und gewissenlosen Bühne der Indignation des


[]

Publikums Preis zu geben, und wir sind überzeugt, daß olle unsere Eollegen uns
hierin unterstützen werden.


--Diese Pariser Lustspieldichter! Keine ehrliche Frau, kein guter Ruf
ist vor ihnen sicher- Nachdem sie ihre eigene Geschichte ausgeplündert haben
und alle ihre berühmten und unberühmter Königinnen, Dichterinnen und Mai¬
tressen auf die Bühne gebracht, schifften sie nach England über und holten
sich da die Marlborough, die Königin Anna u. s. w. Dann ging es nach
Rußland und Katharina II. mußte in hundert Stücken mit ihren Licbesintri-
guen herhalten. Nun kommt die Reihe an Deutschland; Maria Theresia be¬
ginnt den Reigen. Madame Ancclot hat ein neues Stück geschrieben, „ein
Krieg im Kleinen" betitelt; die schöne und tugendhafte österreichische Kaise¬
rin ist die Heldin desselben. Und nochmals Katharina II. Die beiden Kai¬
serinnen treffen in Ungarn zusammen, um eine Allianz zu schließen. Die hi¬
storische Treue ist, wie man sieht, mir großer Gewissenhaftigkeit beobachtet.
Katharina ist eifersüchtig auf die größere Huldigung, die Maria Theresia
überall findet; sie grübelt der Ursache nach und findet dieselbe in der Tugend
und Sittenreinheit ihrer deutschen Rivalin. Sie beschließt dieselbe zu ver¬
führen oder zum Wenigsten ihren Ruf zu beflecken. Die Gelegenheit bleibt
nicht aus. Ein junger ungarischer Edelmann ist fast wahnsinnig in seine
junge Kaiserin verliebt und diese (die bekanntlich ihrem Gatten so treu
anhing, daß sie bis zu ihrem Tode die Trauerkleider um denselben nicht
ablegte) scheint dieses Gefühl zu erwiedern. Vergebens aber bemüht sich
Katharina, eine Zusammenkunft der beiden herbeizuführen und zu über¬
raschen. Endlich fängt sie einen Brief auf, den der junge Ungar an Maria
Theresia zu schreiben wagt. Sie liest ihn in Gegenwart ihres ganzen
Hofes vor; jener, darüber empört, entreißt ihn in höchster Wuth ihrer
Hand. Sie läßt ihn in's Gefängniß werfen (Alles in Ungarn!) und droht der
Kaiserin mit seinem Tode, wenn diese nicht ihre Liebe eingestehe. Da erscheint
als Osiis ex inilvlnni» der Prince de Ligne, der witzige, spöttische Hofmann
(der in Wien 1815 starb). Er hat heimlich den rasenden Liebhaber befreit
und aus Mitleiden die Kaiserin von ihrer Angst erlöst. Der Schluß ist noch
das beste. Maria Theresia verbannt den jungen Unbesonnenen aus dem Lande
und bleibt rein, während Katharina mit ihrem Orloff an der Seite beschämt
abzieht. Punctum. Ob Herr Castelli wohl dieses Lustspiel übersetzen wird?


[]

Die Firma Isidorus Orientalis.


Die Seelenwanderung, welche unlängst eine französische Novelle durch ver¬
schiedene deutsche Zeitungen machte, die im Jahre 1840 in der „Posaune" als
Uebersetzung, im Jahre 1841 in der „Eleganten" als Originalarbeit und im
Jahre 1842 unter der Firma eines deutschen Literaten als eine „türkische Re¬
volution" im „Pilot" erschien, bringt uns auf diese Firma, welche den prun¬
kenden Namen Isidorus Orientalis führt. Seit langer Zeit begegnen
wir den langweiligen und saftlosen Machwerken dieses Herrn in allerlei Zeit¬
schriften und Taschenbüchern. Wir glaubten in diesem Pseudonym einen jun¬
gen Mann suchen zu müssen', den, wie manchen andern, ungünstige Lcbens-
Wcrhciltnisse auf den Erwerb seiner literarischen Productionen angewiesen
haben. Seit wir aber wissen, daß ein Mann von gereiftem Alter mit einem
klingenden Titel unter dieser Hülle steckt, halten wir es sür unsere Pflicht,
der Ossip dieses Jsidor zu sein, und diesem Stiefsohn unserer novellistischen
Literatur die ihm gebührenden Schranken anzuweisen. Der unkräftigen Jugend
steht die^ Hoffnung zur Seite; aus einem schlechten, jungen Novellisten kann
bei reiferer Weltanschauung noch ein tüchtiger Romanschreiber werden. Dem
kraftlosen Alter aber ziemt der Ruhestand. Die deutschen Journale müssen
manche mittelmäßige Arbeit des jungen Anfängers honoriren; es ist ein Ab¬
schlag auf die Zukunft, ''eine Unterstützung, die der collcgiale Geist gerne be¬
willigt, selbst aus die Gefahr hin, daß er in seiner Hoffnung sich getäuscht
sieht. Dem vorgerückten Manne aber, dem auch sonst seine gesellschaftliche
Stellung bereits gesichert ist, steht es doch schlecht an, auf die beschränkten
Mittel der bellcttristischen Journale zu speculiren, um so mehr, wenn er, wie
Herr Isidorus Orientalis, gezwungen ist, Uebersetzungen für eigene Poductio-
nien auszugeben und somit über die Impotenz seines Talentes im Klaren
sein muß. Wir wissen es nicht nur aus eigener Erfahrung, daß der erwähnte
Herr bei jeder neu auftauchenden Zeitschrift, bevor er die Form, den Gehalt,
die Richtung derselben kennt, sogleich um ihre Honororbedingungcn aufragt.
Solche Schriftsteller gehören auf den Markt, nicht in die Literatur; aber
selbst aus dem Markt ist Redlichkeit die erste Bedingung. Uebersetztes und
Gedrucktes, abgenutzte Waare für neue zu verkaufen, bringt orientalische, wie
occidentalische Firmen mit Recht in Verruf.


[]

Die Männer der Zeit



II.
Adam Mickiewicz.



G?s war gegen das Ende des Jahres 1829, als ein noch
junger Mann, dessen Haupt aber schon das dreifach strahlende
Diadem des Ruhmes, des Genies und des politischen Märtyrerthums
krönte, durch Deutschland reiste, um sich nach Italien zu begeben,
und so auch durch Weimar kam. Goethe, der greise Dichterkönig,
lebte damals friedlich und in absichtlicher Zurückgezogenheit vom
Tagesgetriebe dem Ende seiner glorreichen Herrschaft über Deutsch¬
lands Geister entgegen. Die Gesänge deö fremden Dichters aber
waren auch bis in seine umfriedete Abgeschlossenheit, gedrungen «ut
er wünschte ihn daher persönlich kennen zu lernen. Diese beiden Apostel
zweier entgegengesetzten Weltanschauungen erkannten einander an
jenem geheimnißvollen, freimaurerischen Zeichen des Genies und
im Namen ihrer gemeinsamen Religion, der Poesie, schlössen sie ein
Bruderbündniß. Der große Dichter des Pantheismus machte dem
katholischen Sänger ein Geschenk mit der Feder, mit der er den
zweiten Theil seines Faust schrieb und batihn als Gegengeschenk um sein
Bild. Und ein dritter hervorragender Dichter, aber ein Dichter der
Plastik, ein Poet nach griechischem Wortsinne — in Marmor, ein


36
[]

Prometheus des Thones befand sich damals in Weimar. Es war
dies der berühmte französische Bildhauer David aus Angers, den
seine Bewunderung für Goethe nach Weimar geführt harte, wo er
sich mit Modellirung jener so berühmten colossalen Büste des Dich¬
ters beschäftigte, die ohne Zweifel des Bildhauers geistreichste und
gelungenste Arbeit ist und wohl die Stelle einer Bildsäule deö
Dichters vertritt, wenn gleich der bescheidene Schöpfer sie in seinem
Uebersendungs-Schreiben an Goethe nur ein Fragment einer sol¬
chen nennt. Der fremde Dichter übersetzte dem Bildhauer einen
seiner herrlichsten Gesänge in's Französische und David fesselte die
markirten und ernsten Züge des Sängers auf ein Medaillon, das
Goethe's Eigenthum war. Nachdem so diese drei friedlichen Rin¬
ger um den Lorbeerkranz in antiker Weise freundliche Gastgeschenke
und Beweise ihrer gegenseitigen Sympathien mit einander ausge¬
tauscht hatten, setzte der Reisende seinen Wanderstab weiter, reiste
ohne längeren Aufenthalt durch Paris und überschritt die Alpen.
Unter Italiens schönem, blauem Himmel, in seiner stets milden Früh¬
lingsluft wollte er die eisig kalte Atmosphäre von Petersburg und
die dumpfe Modcrluft von Wilnas Kerkern vergessen. Da erscholl
in Paris der Freiheitsruf der großen Woche und das Echo hallte
wieder an den Usern der Weichsel und an den Ufern des Po. Der
Reisende erwachte aus seiner Ruhe. Das Vaterland rief ihn zu
den Waffen und er eilte herbei. Aber die preußische Polizei ver¬
rammelte ihm den Weg in die Heimath. Es war dem Sänger
der heroischen Erinnerungen seines Volkes nicht vergönnt, Theil zu
nehmen an seinem letzten, verzweiflungsvollen Freiheitskämpfe. Er
irrte eine Zeit lang in den Grenzstaaten Preußens umher und bald
vernahm er da einen zweiten durch ganz Europa widerhallenden Schrei;
aber es war der Todesschrei seiner unglücklichen, in ihrem Blute
zusammenbrechenden Nation. Der Dichter hatte kein Vaterland
mehr, der Reisende war nur noch ein Geächteter. In Dresden,
dermaleinst der Hauptstadt polnischer Könige, wo er die Trümmer
und Scheiter seines Vaterlandes, die in freiere Länder pilgernden
Genossen einer besseren Jugendzeit, mit heißem Schmerz an seine
Brust drückte, hier war es, wo er aus dem Eisen, mit dem er nicht
hatte kämpfen können, eine Saite auf seiner Lyra formte. Ihr ent¬
gangen damals gewaltige Lieder voll hohen poetischen Werthes, die


[]

i» feurigen Zügen die letzten unglücklichen Kämpfe seines Landes
malten. Von hier begab er sich nach Paris und lebte dort lange
in stiller Verborgenheit in der großen Weltstadt; an den Ufern der
Seine war er ein zweiter Zeremiaö unter den Flüchtlingen seines
Volkes und mit dem begeisterten Tone jenes Propheten griff er in
seine Harfe und sang für Polen das 8ni><-i- it»wina ZiUiylvnis.
Die Schweiz, die freie Schweiz, holte sich den Sänger einer unter¬
gegangenen Freiheit in ihre Mitte, bis ihn Frankreich wieder in
seinen Schooß zurückrief, um ihm eine große und schöne Mission
zu übertragen.


Unter den mancherlei nützlichen Einrichtungen, welche den kurzen
Aufenthalt Cousin's im Ministerium des öffentlichen Unterrichts be¬
zeichnet haben, ist die Erschaffung einer Professur am College de
France für slavische Sprachen und ihre Literatur unstreitig eine der
nützlichsten und für die Zukunft erfolgreichsten. Der Gesetzentwurf,
den der Minister hierbei den französischen Kammern vorlegte, begeg¬
nete daher auch auf allen Bänken derselben einem fast einstimmigen
Beifall. Eine zu ihrem eigenen Nachtheil sehr eigenthümlich ab¬
stechende Ausnahme machte jedoch hier der (wie ihn Cousin in seiner
Entgegnung mit Shakspeare'sehen Spotte nannte) sehr ehren¬
werthe H. Anguis, einer jener in Kleinigkeiten haushälterischer
Menschen, die sich eine Volkstümlichkeit zu erwerben suchen, indem
sie eine ganze Sitzung hindurch kämpfen, um von einem Budget
von tausend Millionen fünf Franken abzuzwacken. Dies Mal aber
war es nicht gerade eine Oekonomie der Art, weshalb H. Auguis
von der neuen Professur Nichts wissen wollte, sondern eS war Pa¬
triotismus. Der Ehrenwerthe hatte nämlich die Entdeckung
gemacht, eS verstoße durchaus gegen alles Nationalgefühl, wenn man
eine Untersuchung über den geistigen Zustand eines Volksstammes
anstelle, der wohl sechzig Millionen zählt, der die Hälfte Europas
und ein Drittel Asiens bewohnt oder beherrscht, und von. dem die
Franzosen damals nicht viel weiter wußten, als daß er zwei Ma!
den Weg nach Paris gesunden habe und daß sein einer Arm ein
Constantinopels Mauern sich lehne, während der andre hart an ti
chinesische Mauer stößt. Herr Anguis hatte gesunden, ein Studium
über den Geist dieses Volksstammes, wie er sich in seiner alle,!
Zweigen gemeinsamen Muttersprache, dem Slavischen und in dessen


36»
[]

vier großen Dialecten, dem Polnischen, Russischen, Böhmischen und
serbischen kund giebt, ein solches Studium sei etwas eben so Abge¬
schmacktes als Unnützes, und eS würde viel nationaler, wie auch
logischer sein, wenn man eine Professur für die Dialecte Frankreichs,
wie z. B. Baskisch, Altbretannisch u. s. w. errichtete.


Eine letzte Entdeckung, welche Herr Anguis noch gemacht hatte,
war nach seinen eigenen Worten die „es sei der Würde der fran¬
zösischen Nation nicht angemessen, an einem französischen Institut
einem Fremdling eine Stelle zu verleihen." So äußerte sich der
Patriotismus des Herrn Auguis, der Frankreich mit einer chinesi¬
schen Mauer umgeben möchte. Der Fremdling dachte offenbar
an diesen Deputirten, als er bei Eröffnung seiner Vorträge die
Worte sprach:


„Vor etwa zwei tausend Jahren sprach Tacitus zu den auf¬
merksamen Römern von jenen Barbaren, den Germanen, welche
zwar noch in ihren Wäldern umherstretsten, aber schon die Zukunft
der Welt in ihren Händen trugen. Erinnern Sie sich, meine Herren,
daß Sie Abkömmlinge dieser germanischen Barbaren sind."


Wir unsrer Seits glauben, daß Herr Auguis, der das Slaven-
thum und seine Wichtigkeit so gering anschlägt, eher in gerader
Linie von jenen unaufmerksamer Römern abstammt. Was
endlich die Sache an und für sich betrifft, so ist hier nicht der Ort
dafür, sie gründlich zu besprechen; wir verweisen deshalb unsre Leser
zunächst auf die officiellen Documente, als da sind: das Vorwort
des Ministers zum Gesetzentwurf, worin er dessen Beweggründe
auseinandersetzt, so wie die Rede des Ministers und deö Deputirten
Denis zu Gunsten des Gesetzentwurfes. Endlich können wir auch
daS Buch des Herrn Eichhvff über slavische Sprache und Literatur
nicht unerwähnt lassen, obzwar es nicht ganz vollständig ist.


Es war aber mit dem bloßen Beschlusse noch nicht genug ge¬
than. Wollte Frankreich wirklich diese vier eben so reichhaltigen
als großartigen und mannigfachen Literaturen zu seinem intellectuellen
Besitzthum machen; wollte es mit einem ihm unbekannten und
furchtbaren Volksstamme in geistigen Zusammenhang treten; wollte
es ihn in seiner Vergangenheit studiren, um seine Zukunft
voraussehen zu tonnen: so mußte es einen Mann finden, der
sähig war, diese Untersuchung zu leiten und ihre Resultate umfassend


[]

darzustellen. Es mußte dieser Mann mit der allgemein classischen
Bildung und der Kenntniß der modernen Literaturen Frankreichs
und der andern Völker des westlichen Europa nicht allein die
vollständige und genaue Kenntniß der slavischen Sprachen und Li¬
teraturen verbinden, sondern er mußte im Slaventhum eine so hohe
literarische Stellung einnehmen, daß dieses in allen seinen Zweigen
ihn als seinen würdigen Vertreter anerkennen konnte. Es mußte
dieser Mann endlich die Sprache seines neuen Adoptivvaterlandes
geläufig sprechen und schreiben können, damit in seinen Vorträgen
nicht der Gedanke des einschmeichelnden Gewandes der schönen Dar¬
stellung entbehre; denn es waren ihm Zuhörer bestimmt, welche in
andern Fächern die berühmtesten Redner Frankreichs von den Ka¬
thedern herab gehört hatten oder noch hörten. So schwer es nun
auch war, einen solchen Mann zu finden, so hat man ihn doch
gefunden. Der bejammernswcrthe Untergang einer Nation von Hel¬
den hatte ihn nach Frankreich geführt. Es war derselbe reisende
Sänger, von dem wir oben gesprochen und dessen gewaltige Stimme
Göthe so gern vernommen hatte. Es war der große Dichter Po¬
lens, der Byron des katholischen Nordens, der Sänger deö Kon¬
rad Wallenrod und der Dziady, er war Adam Mickiewicz,
ein anderer Dante durch seinen feurigen Glauben, sein Genie und
seine Verbannung. Von Cousin war es ein um so größeres Ver¬
dienst, daß er den Geächteten aus seiner Verborgenheit hervorzog
da er, gleich so vielen andern leicht beleidigten klein-großen Männern
unserer Zeit, dem Dichter persönlich hätte grollen können, weil ihm
dieser er seinem „Buch der polnischen Pilgerschaft" den ziemlich
originellen Beinamen einer leeren Mühle gegeben hatte.


Adam Mickiewicz ward gegen das Ende des Jahres 1798 in
Nowogorodek, einer kleinen Stadt Lithauens geboren, wo sein Va¬
ter bei einem Gerichte unterster Instanz Advocat war. Seine Fa¬
milie gehört zu den ältesten des Landes; einige Genealogen behaupten
sogar, sie sei von demselben Stamme, wie die des Prinzen Giedroyn;
sie war aber in Folge der politischen Umwälzungen des Landes in
ihren Vermögensumständen herabgekommen. Unser Dichter hat meh¬
rere Brüder. Der eine davon, Alerander Mickiewicz ist ein ausge¬
zeichneter Rechtsgelehrter, der vor dem polnischen Aufstande an dem
Lyceum von Krzemieniec in Volhynien die Stelle als Professor des


[]

römischen Rechts bekleidete. Sein ältester Bruder, Namens Franz,
der durch einen organischen Fehler seit seiner Geburt an allen Glie¬
dern gelähmt gewesen war, hatte bis zum Augenblick, wo im Jahre
1831 die lithauische Revolution ausbrach, im elterlichen Hause, fast
stets bettlägerig gelebt. Kaum aber waren die ersten Kanonen>chüsse
ertönt, so warf er seine Krücken fort, stieg zu Pferde, machte mit
den Insurgenten den ganzen Feldzug mit und legte erst nach der
unglücklichen Katastrophe, in Preußen die Waffen nieder.


Der junge Adam machte in der Distrietsschule seines kleinen
Geburtsortes seine ersten Studien; die Mönche vom Dominicancror-
Äen, welche derselben vorstanden, flößten ihm frühzeitig die Liebe zur
Arbeit ein, so wie jenen lebendig aus seinem Gemüth quellenden,
aufrichtigen, religiösen Glauben, der ihm durch sein ganzes Leben
hindurch ein treuer Begleiter geblieben. Als Kind zeigte er eine
große Borliebe für Chemie. Da sich in seinem elterlichen Wohn¬
hause eine Apotheke befand, so verschaffte er sich daselbst den nöthi¬
gen Apparat, um die Experimente zu Haus zu wiederholen, mit de¬
nen einer der Dominicaner, ein nicht ungeschickter Chemiker, die Au¬
gen des Knaben entzückt und geblendet hatte. Dieser Geschmack für
Physik und Naturwissenschaften überhaupt ist übrigens bei Mickie-
wicz lange vorherrschend gewesen und mehrere seiner Gedichte zei¬
gen sogar von ziemlich ausgedehnten Kenntnissen in diesen Fächern.
Ein seltsames Zusammentreffen, das wir eben deshalb hier nicht
unerwähnt lassen können, ist der Umstand, daß um dieselbe Zeit ein
nicht viel älterer deutscher Dichter lebte, der gleich Mickiewicz ein
glühender Patriot war und der ebenfalls, gleich Mickiewicz, sich zu¬
erst mir dem Studium der Naturwissenschaften sogar praktisch in
den unterirdischen Gängen eines Bergwerkes beschäftigt hatte, ehe
er Lieder deö Kampfes und der Freiheit sang. Diesem aber ward
vom Glücke vergönnt,


Was er so oft gefeiert,mit Gesang,
Für Volk und Freiheit ein begeistert Sterben.


Ihn raffte in seinem zwei und zwanzigsten Jahre eine feindliche
Kugel fort, noch ehe er sein poetisches Talent zur vollkommenen
Reife hatte bringen können. In Mickiewicz's Herzen »erweckte er
vielleicht den ersten Funken deö patriotischen Feuers. Es war dies


[]

Theodor Körner, der Jäger und Sänger von Lützow's wilder, ver¬
wegener Jagd.


Bald aber erwachte auch in dem jungen Polen der Geschmack
zur die Poesie und errang sich das Uebergewicht vor allen seinen
/indem Neigungen. Sein Vater, ein großer Bewunderer von Jo¬
hann Kochanowski, den die Polen als ihren berühmtesten Dichter
och sechzehnten Jahrhunderts betrachten, machte zuweilen Verse.
Der Knabe lauschte gierig auf die Worte des sie vorlesenden Va¬
ters und bald schrieb er selbst, angeregt durch einen Brand, der in
seinem kleinen Städtchen ausbrach, einige Strophen hierüber, in de¬
nen schon die ersten Keime jenes beschreibenden Talentes glänzend
an den Tag traten, das er später in so hohem Grade ausgebil¬
det hat.


Nachdem er auf dem Gymnasium zu Minsk seine Vorstudien
,certet hatte, bezog er 1815 in einem Alter von siebzehn Jahren
)le Universität Wilna und wollte sich dort der Mathematik und den
Naturwissenschaften widmen, welche unter andern ein entfernter Ver¬
wandter seines Vaters, Abb« Mickiewtcz, lehrte. Ehe er an der
Facultät inscribirt wurde, hatte er gleich allen andern von den
Gymnasien Ankommenden eine Fähigkeitsprüsung zu bestehen. Er
wartete mit einer Anzahl anderer ebenfalls zur Prüfung beschiede-
nen neuen Ankömmlinge in einem Vorsaale, bis an ihn die Reihe
kam und war daselbst zufällig neben einen jungen Mann von blei¬
chem Gesichte, träumerischem und nachdenklichen Auge und edler,
ausgezeichneter Haltung zu sitzen gekommen. Durch eine jener eben
so unerklärlichen als unwiderstehlichen geheimen Sympathien fühlte
er sich zu seinem Nachbar hingezogen. Bald waren die beiden jun«
gen Leute in ein lebhaftes Gespräch gerathen und kaum waren ei¬
nige Tage verflossen, so waren sie schon in Folge einer seltenen
Uebereinstimmung in Ansichten und Gefühlen unzertrennliche Freunde
geworden. Adam Mickiewicz'S neuer Vertrauter war Thomas Zan,
einer jener Märtyrer ihrer politischen Glaubenstreue, dessen Namen
in den Annalen der Wilnaer Universität unter den glänzendsten
strahlt und der späterhin von dem Dichter, der Kerker und Entbeh¬
rungen mit ihm theilte, in dem dritten Theil seiner „Dziady" ver¬
herrlicht und unsterblich gemacht ward.


Wie gesagt, studirte Mickiewicz in der ersten Zeit seines Auf-


[]

enthalteS zu Wilna vorzüglich Mathematik und Naturwissenschaften;
bald aber fühlte er sich in dieser kalten Region der Linien und Zah¬
len unbehaglich. Die melodischen Verse der großen Dichter deS
Alterthums flößten ihm je länger je heftigeren Widerwillen gegen
die todten und starren Formeln seiner Wissenschaft ein. Er verließ
daher, nachdem er den Grad eines Baccalaureus darin errungen,
diese Studien und ging mit ungetheilten Eifer und wahrer Begei¬
sterung zu dem der altclassischen und der heimischen Sprache und
Literatur über. Vortheilhaft und tiefwirkend wurden für seine fer¬
nere Entwickelung nun besonders die Vorträge der drei ausgezeich¬
netsten Professoren Wilnas: Gottfried Groddeck, ein gediegener und
geschmackvoller Kenner der classischen Literatur, Lelewel, der geist¬
volle Lehrer der Universalgeschichte und vor Allem Leon Borowski,
ein ausgezeichneter Kritiker und Förderer des Fortschrittes der Na-
tionalliteratnr, deren Geschichte er lehrte. Er vorzüglich machte die
empfängliche Jugend mit den Schönheiten einer kühnerem, begeistert
freien Anschauung und Form der Poesie bekannt und vertraut, wie
sie damals durch das allgemeiner werdende Studium der deutschen
und englischen Literatur dem umfassenderen Verständniß Europas
näher gerückt wurden.


Neben der noch in ihrem vollen Glänze strahlenden neuen deut¬
schen sentimentalen und plastischen Dichterschule, wie sie durch Les¬
sing, Herder, Schiller, Göthe und ihre großen andern Zeitgenossen
begründet worden, war durch den Aufschwung, den in den Jahren
1813 — 15 das gesammte deutsche Nationalleben genommen hatte,
eine neue, lebhafter und energischer sich bewegende, die sogenannte
romantische erstanden. Die beiden Schlegel, ihre vorzüglichsten
Häupter, setzten das Werk Lessing'S fort und zerstörten, was noch
an morschen Trümmern veralteter Ideen in der Aesthetik und Kunst-
cinschauung unter der Hand jenes gewaltigen Titanen stehen geblie¬
ben war. In England, dem Lande, woher durch Shakspeare das
belebende Element der deutschen dramatischen Poesie gekommen, das
aber selbst seitdem keinen großen Dichter aufzuweisen gehabt, waren
Walter Scott, Byron und Shelley aufgetreten und machten einan¬
der die Bewunderung nicht blos ihres Landes, sondern des ganzen
poetischen Europa streitig. In Frankreich endlich war neben der
Revolution der politischen Verhältnisse !«und eine Umgestaltung der


[]

literarischen vor sich gegangen. Chateaubriand und die Frau von
Stavl hatten theils selbständig neue Bahnen eingeschlagen, theils
ihre bisher in sich abgeschlossenen Landsleute mit fremden Literatu¬
ren und neuen revolutionairen Ansichten und Ideen von der Kunst
bekannt gemacht und somit der jungen romantischen Schule den
Weg geebnet. Kurz überall vom fernen Süden, wo Manzoni auf¬
tauchte, bis in den hohen Norden hinauf herrschte eine arbeitsame
geistige Thätigkeit. Wort und Gedanke, die lange Zeit vom Rol¬
len des Kanonendonners übertäubt worden waren, hatten ihre
Rechte wieder gefordert und die Feder herrschte jetzt anstatt des
Schwertes und über dasselbe-


All diesen tönenden Bestrebungen und widerhallenden Ideen
null lieh der junge Wilnacr Student ein eben so aufmerksames als
gieriges Ohr. Ein neuer literarischer Horizont hatte sich vor sei¬
nen Augen erschlossen. Aber damit er mit aller Gluth seiner Ju-
gendkraft in die offene Rennbahn trete, bedürfte es erst einer lebens¬
warmen, sein unentweihtes Herz tief innig aufregenden Leidenschaft,
welche die poetische Saite in seinem Herzen zum Tönen bringen
sollte. Diese Leidenschaft, die mit ihrem Geleite von Freuden und
Schmerzen der Ausgangspunkt der meisten großen Dichter geworden,
fehlte auch ihm nicht. Maria W . . ., die Schwester eines seiner
Studiengenossen, war die Dame der ersten Liebe unsres Dich¬
ters, der es eben erst durch sie ward. Denn ungleiche Vermögens-
umstände verhinderten, daß aus dem Bunde der Herzen eine dau¬
ernde Vereinigung hervorging und der tiefe Schmerz, der Mickie-
wicz's ganzes Wesen und Sein durchdrang, machte aus ihm, wie
aus Dante und Petrarca und andern, einen von seiner eigenen, dü¬
stern Melancholie begeisterten Sänger. Zu den Qualen dieser Liebe
kam auch noch der Schmerz über die Unterdrückung seines Vater¬
landes und diese beiden Leiden vereint wurden für ihn eine ideale,
von seinem ganzen Denken Besitz nehmende Welt.


Wenn man sieht, mit welcher glühenden Liebe und Verehrung
ein jeder einzelne Pole an seinem Vaterlande hängt, so ist es eine
wahre Folter für den Geist, wenn er die Geschichte dieser eben so herr¬
lichen, als unglücklichen Nation begreifen will. Wie soll man auch
in der That es nur für möglich halten, daß ein gewöhnlich in
unzählige Parteien zerstückeltes Volk, das mehrere Male, gerade


[]

wenn alle Umstände rings umher ihre Einigkeit zum höchsten Be¬
dürfniß machten, durch Zwietracht seinen Untergang selbst herbeige¬
führt, daß gerade dieses Volk dasjenige sei, von dem jeder Ein¬
zelne zum heimischen Boden, zu Sprache, Sitten und Einrichtungen
seines Landes die glühendste, heldenmüthig begeistertste, rührendste
Liebe hegt! Man mochte wahrlich meinen, sie seien eine Nation von
Freunden, die Nebenbuhler in ihrer Liebe geworden und einander
eine von Allen gleich heiß geliebte Frau streitig machen. Die ge¬
meinsame Liebe erstickt die Freundschaft und erzeugt einen gemein¬
samen Haß; wenn das geliebte Wesen aber stirbt, so erlischt der
Haß und die Liebe eines jeden Einzelnen wird ein Band mehr für
Alle; erwacht aber die Frau wieder aus dem Tode, so wird auch
der Haß neu geboren. Es liegt hierin etwas eben so Trostloses
als Unerklärliches, das den Freunden dieses hochherzigen, der Sym¬
pathie aller Edlen so würdigen Volkes eine gerechte Besorgniß für die
Zukunft desselben einflößt. Doch kehren wir zu unserem Dichter zurück.


Mickicwicz's Freund, Thomas Zan, hatte unter allen Stu-
direnden Wilnas eine patriotische Verbindung gestiftet. Die Mit¬
glieder derselben, welche anfangs die Strahlenden hießen, theilten
sich in sieben, durch die sieben Hauptfarben des Sonnenprisma be¬
zeichnete Classen. Theologen, Mediciner, Juristen, Philologen,
Künstler, Naturforscher und Mathematiker hießen Violet, Indigo,
Blau, Grün, Gelb, Orange, Noth. Der Zweck der Verbindung
war, unter allen Mitgliedern die Liebe zur Aufklärung, Freiheit
und Nationalität ansteche zu erhalten. Die russische Negierung
beachtete sie Anfangs ganz und gar nicht; als sie aber späterhin
unter dem Namen der Gesellschaft der Philareten (Tugend-
sreunde) eine größere Ausdehnung gewonnen, befahl der General-
Gouverneur von Wilna, Korsakoff, dem Rector der Universität, die
Verbindung aufzulösen und die Schuldigen zu bestrafen. Die Pa¬
piere der Verbindung wurden in Beschlag genommen, und gegen
ihre Begründer ward eine Untersuchung eingeleitet. Da man je¬
doch von einem direct politischen Zwecke keine Spur fand, so ward
die Verbindung ohne weitere Bestrafung aufgelöst, ihr aber verbo¬
ten, sich in Zukunft je wieder zu gestalten. Trotz dessen geschah
dies wieder, aber im Geheimen und auf dreißig der vorzüglichsten
Häupter beschränkt; sie nannte sich nun Gesellschaft der Philoma-


[]

es e n (Lernbegieriger): Mickiewicz warTheilnehmer derselben. Nach¬
dem dieser übrigens seine Studien beendet hatte, war er an daS
Gymnasium zu Kowno in Lithauen als Professor der lateinischen
und polnischen Sprache und Literatur gesandt worden. In dem am
Zusammenflusse des Riemen und der Wille recht hübsch gelegenen
Orte verlebte er, wie er- selbst sagte, die zwei glücklichsten Jahre
(1^20 und 1821) seines Lebens. Schon seine ersten auf der Uni¬
versität geschriebenen Dichtungen, meist Liebesgedichte an Maria,
die er in Warschauer und Lemberger Zeitschriften hatte einrücken
lassen, hatten allgemeinen Beifall gefunden. Hier nun begeistert
von der schönen äußeren Umgebung, und sanft gewiegt von der
Nuhe eines grünen, lachenden Blüthenthales, das die Einwohner
der Stadt noch heute Mickiewicz's Thal nennen, erzeugte er viele
Gedichte und veröffentlichte dieselben 1822 in Wilna in zwei Bän¬
den, welche das Gedicht Grazina, die beiden ersten (der Reihe
des Erscheinens nach; er nannte sie den zweiten und vierten) Theile
der Dziady (die Todtenfeier) wie sehr viele Balladen enthielt.
Diese in Form und Gedanken neuen Poesien wurden überall in
seinem Vaterlande, besonders aber von der ganzen polnischen Jugend
mit ungewöhnlichem Enthusiasmus ausgenommen. Noch lebte der
Dichter in dem ersten Freudenrausche dieses Erfolges, als er plötz¬
lich auf einen von Wilna ausgegangenen Befehl von den Behör¬
den in Kowno arretirt und nach der Hauptstadt Wilna geführt
wurde, wo die Fesseln seiner harrten.


Ehe wir aber den Dichter in die Gefangenschaft begleiten,
wollen wir erst ein Wort über seine ersten Poesien sagen. Ob¬
gleich er in den Balladen, was die Form betraf, Goethe und Bür¬
ger nachgeahmt, so war er doch in der Wahl der Stosse durchaus
selbständig, indem er sie fast alle aus den im Munde deö Volkes
lebenden Sagen nahm. Es liegt in dieser ganzen Reihe von Lie¬
dern, die größten Theils träumerischen, schwermüthigen, zärtlichen
Inhalts sind, von denen einige aber auch eine kräftige und beißende
Scityre enthalten, ein eigenthümlicher Hauch nationalen Lebens,
dessen Hauptreiz alle Uebersetzungen nur schwächen, der aber, —
und das will viel sagen — selbst in den Uebertragungen noch nicht
ganz verschwunden ist. Die meisten von ihnen sind mehr oder min¬
der gelungen übersetzt worden; wir verweisen daher nur auf einige


[]

der vorzüglichsten, wie z. B. Switezianka (Undine des See
Switez bei Kowno); Lilie (der Lilien); Powrot Taty (des
Vaters Rückkehr); Dudarz (der Schalmeispieler). Mehr zu nen¬
nen oder gar, wie wir so sehr versucht dazu waren, eine Ueber-
tragung einiger zu geben, verbietet uns Raum und Anlage dieses
Aussatzes.


In dem Gedichte Grazina hat sich Mickiewicz in einen wei¬
teren und höheren Kreis der poetischen Begeisterung aufgeschwungen.
Er ward hier zum Geschichtsmaler, indem er sich einer ursprüng¬
lichen, wild-heidnisch kriegerischen Sage seiner Heimath bemächtigte.
Der Lithauische Herzog Litaror, dessen Gemahlin Grazina ist,
führt gegen die aus Preußen eindringenden deutschen Ritter einen
hartnäckigen Krieg. Er fällt im Kampfe und seine Gattin, in
seine Gewänder gehüllt und mit seinen Waffen angethan, rächt
seinen Tod im Blute der Feinde. Dies ist der einfache Inhalt
eines Gedichtes, in welchem Mickiewicz alle Schönheiten eines
kräftigen Styles und einer eben so erhabenen, wie begeisterten Ein¬
bildungskraft entfaltet hat. Es enthält daher Stellen von einer
Energie, wie sie in den Bruchstücken der alten Skaldensänge sich
findet; man glaubt wahrlich zuweilen Stücke aus der skandinavi¬
schen Edda oder aus den alten Kriegeöliedern jener Helden zu lesen,
die „sanken und sich freuten und starben."


In den D z iadyk) bewegt sich der Dichter zwar auch wiederum
in einer Reihe von Anschauungen und Gedanken, die längstver¬
flossenen Zeiten angehören; und dies ist vielleicht ein kleiner Man¬
gel, weil seine Gedichte dadurch nur einem kleineren Leserkreis ver¬
trauter werden. Er offenbart aber in denselben den unserem Jahrhun¬
dert eigenthümlichen Geist der Analyse der Leidenschaften, den Geist der
tiefen psychologischen Forschung in einem hohen Grade. Er ist
nicht mehr der durch seinen Ungestüm fortreißende Maler einer
äußerlich sich darstellenden Wirklichkeit, sondern er ist ein in sich
selbst versunkener Träumer, dessen Auge nach innen gekehrt ist, um



[]

die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen und die vorüber¬
huschenden Erscheinungen und Hirngespinnste deS Geistes festzuhal¬
ten. Die plastische Poesie hat der psychischen Platz gemacht;
aus dem Zögling Goethe's ist ein Nebenbuhler Byron'S geworden.
Der Stoff der beiden zuerst veröffentlichten Theile der „Dziady" ist
wiederum sehr einfach; es entwickelt sich in ihnen nur ein rein
innerlich spielendes Drama, das in einen phantastischen Nahmen
eingelegt ist. Die philosophischen, politischen und socialen Tenden¬
zen des Dichters hat derselbe erst später in dem dritten Theil seines
Werkes an den Tag gelegt, den er im Erile, nach den Qualen
der Wilnaer Kerkermonate und nach dem Falle seines Vaterlandes
geschrieben. Wir werden in diesem überhaupt mehr der Biographie
als der Kritik gewidmeten Artikel Nichts über diesen Theil sagen
und verweisen unsre Leser lieber auf das Beste, was darüber ge¬
schrieben worden, nämlich auf die Analyse, welche Georges Sand
in der Revue de deur Mondes davon gegeben.


Ein junger Mann, von heftigen Leidenschaften und begabt
mit glühend lebhafter Einbildungskraft, liebt ein junges, eitles,
flüchtiges Mädchen, die "eine glänzende äußere Stellung dem wah¬
ren Glücke vorzieht und ihre Hand einem andern jungen Manne
reicht, ohne ihn zu lieben. Der verrathene Liebhaber in seiner
Verzweiflung tödtet sich selbst. Dies ist die ziemlich abgenützte
Grundfabel der beiden ersten Theile der Dziady; aber der Dichter
entschädigt für diese Alltäglichkeit seines Stoffes hinlänglich durch
den Reichthum und die Originalität der Art und Weise, wie er
ihn behandelt. Das Drama beginnt erst nach dem Tode des Hel-
den, während einer im Volke gebräuchlichen religiösen Ceremonie,
deren Ursprung bis in die heidnischen Zeiten Lithauens hinauf¬
reicht. In der Nacht des Allerseelentages nämlich versammelt sich
das Volk auf den Kirchhöfen, um die Seelen der Todten aus den
Gräbern hervorzurufen. Ein Harfenspieler, der zugleich Zauberer
ist, lockt durch seine Zaubersprüche und Beschwörungen alle zwi¬
schen Himmel und Erde umherirrenden Geister an sich. Sie kom¬
men in Masse herbei, um Nahrungsmittel und Gebete zu verlangen;
bei diesem Todtenfeste nun erscheint auch der junge Mann, den die
Liebe zum Selbstmörder gemacht hat. Ein Urtheilsspruch Gottes


[]

verdammt ihn, sein Grab zu verlassen und in jedem Jahre,
an demselben Tage und am selben Orte sein Verbrechen von Neuem
zu begehen. Um diesen großen und düstern, eines Dante würdigen
Gedanken bewegt sich das ganze Drama. Und obgleich sich der
Leser in diesem phantastischen Helldunkel und unter all diesen
Volkssagen, die einer längst entschwundenen Epoche unbefangener
Leichtgläubigkeit angehören, zuweilen nicht ganz zurecht findet, so
fühlt er sich doch durch den lebendig warmen und innig wahren
Ausdruck der Leidenschaft gefesselt. Was die Polen am Meisten
in dieser Dichtung bewundern, ist die Kunst, mit welcher der Dich¬
ter der Sprache seines Landes ein neues Leben verliehen, indem er
an die Stelle abgenützter Metaphern und altherkömmlicher Bilder
neue stylistische Wendungen anbrachte, die er aus dem Studium der
Natur und des Lebens geschöpft hatte, und die um so schlagender
sind, da sie eben so passend als unerwartet sind.


In Polen gab es damals, wie in Frankreich, eine sogenannte
classische Schule, oder, richtiger gesagt, die polnische Literatur war
nur eine mattes schwache Nachahmung der an und für sich nicht allzu
lebenskräftigen französischen Literatur des vorigen Jahrhunderts.
Der Witz stand in hohen Ehren und die glänzenden Flitter einer
prunkenden Sprache verschleierten, so gut es eben gehen wollte, die
innere Nichtigkeit. Alle gebildet sein wollenden Polen, die Nichts
als fcingefpitzte, brillantirte Madrigals und dergleichen schrieben, lehnten
sich daher gegen diese neue Poesie auf, die in dem nationalen Bo¬
den ihre Wurzeln schlug. Aber die Jugend, diese allzeit bereite
Freundin von Neuerungen, deckte diese Poesie mit dem Schilde ihrer
Begeisterung und Mickiewicz's Name flog schon als ein Feldge¬
schrei einer literarischen Wiedergeburt der Nation von Munde zu
Munde, als der Dichter nach Wilna als Gefangener kam.


Dort erschien er vor der vom Kaiser Alexander eingesetzten
Untersuchungs-Commission, an deren Spitze der Senator Nowo-
silzvff stand, und zwar der Theilnahme an der geheimen Gesell¬
schaft der Philomathen angeklagt. Die Untersuchung dauerte lange
Zeit) der Dichter erwartete ihr Resultat in einer dunkeln Zelle des
zum Staalsgefängnisse umgewandelten ehemaligen Basilianer-Klo¬
sters. Seine Kerkergenossen waren Thomas Zan, Franz Malewski,
Johann Czeczot, Joseph JezowSki, OnophriuS Pietraszkiewicz,


[]

Kolakowski, Sobolewski und andre seiner Studiengcfährten und
Universitätsfreunde, deren Namen alle er in dem dritten Theil seiner
„Dziady" der Unsterblichkeit geweiht hat. Preisgegeben der ver¬
zehrenden Langeweile eines Gefängnisses, umringt von Spionen,
feiler Bestechung und Drohung, umlagert von all jenem Apparat
physischer und moralischer Leiden, welchen die russische Regierung
ihre politischen Gefangenen unterwirft, fühlte Mickiewicz die einge¬
borene Liebe zur Freiheit und zu seinem Vaterlande immer größer
und stärker werden und fortan ward sie das vorherrschende, leuch¬
tende und erwärmende Element seiner Gesänge. Die Untersuchung
blieb ohne eigentliches Resultat; denn man konnte keine entschei¬
denden Beweise einer Verschwörung auffinden. Die Betheiligten
wurden jedoch sämmtlich aus längere Zeit aus Polen verwiesen und
ihnen ihr Aufenthaltsort in Rußland angewiesen. Mit ihnen kam
auch Mickiewiez Anfangs nach Se. Petersburg und stand dort
unter Aufsicht der hohen Polizei. Hier unter dem Auge des knu-
tengewaltigen Czar (wie Mickiewicz ihn in den Dziady nennt),
mitten unter einem seit Jahrhunderten in stummer, gehorsamer
Knechtschaft gebeugten Volke, hier warf der stolze Dichter,
gleichsam als Kampfhandschuh gegen die materielle Uebermacht, je¬
nen Hymnus hin, der von der Dwina bis an die Oder wider¬
hallte und zwanzig Millionen Herzen stärker pochen machte. Die
„Ode an die Jugend," deren letzte prophetische Worte am 30. No¬
vember 1830 von unbekannter Hand an das Warschauer Rathhaus
geschrieben, von der Begeisterung der Volksmasse tausendstimmig
wiederholt und als ein glückliches Vorzeichen angesehen winden,
giebt übrigens einen schlagenden Beweis von der Blindheit der
Censur. Die russische Behörde erblickte nämlich in diesem vom
Hauch der Freiheit durchwehten, begeisterten Stücke keine politische
Beziehung, sondern hielt die Ode nur für eine außerordentliche
kühne Neuerung in literarischer Beziehung. Die Polen dagegen
betrachten dieselbe als. eine von Mickiewicz's gelungensten Pro-
ductionen. Und die Russen selbst entflammten sich an solchen, an
solchem Orte ausgesprochenen Worten. Puschkin, der bekannte rus¬
sische Dichter, und die nachher wegen politischer Umtriebe nach
Sibirien verbannten Schriftsteller, Bestuscheff und Nylejeff wurden
die Bewunderer und Freunde deS polnischen Sängers.


[]

Bald mußte aber die russische Negierung doch wohl in dem
Zusammenleben jener Schriftsteller mit dem Verurtheilten, so wie
überhaupt in der Vereinigung mehrerer hochgebildeten jungen Polen in
Petersburg eine Gefahr finden; denn sie ertheilte Befehl, die letzte¬
ren mehr zu zerstreuen und sie in's Innere des Reiches zu senden.
Mickiewicz mit mehreren seiner Unglücksgefährten kam nach Odessa
und machte von da aus eine Reise in die Steppen der Krim. Der
südliche Himmel und die orientalische Natur regten die Kraft seiner
Phantasie und seine patriotischen Gefühle mächtig an, und in jener
Zeit dichtete er an den Ufern des schwarzen Meeres jenen unter
dem Namen „Sonnette aus der Krim" bekannten Cyclus von Ge¬
dichten, welche die ganze Geschmeidigkeit seines Genies zeigen.
Sie athmen den wahrsten, tief innersten Schmerz, die feurigste Va¬
terlandsliebe und die höchste Poesie, und sind, was der Merkwür¬
digkeit wegen nicht unerwähnt bleiben mag, von Mirza-Kaptschi-
Basha, einem Freunde des Dichters in'ö Persische übersetzt worden.
Im Jahre 1626 ward er von Odessa wieder nach Moskau ge¬
schickt und verblieb daselbst auf höheren Befehl im Gefolge des
General-Gouverneurs Fürsten Galitzin, unter dessen und anderer
russischen Großen Patronate seine Sonnette gedruckt wurden. Mit
Galitzin kam er dann auch wieder nach Se. Petersburg zurück, wo
er durch sein fließendes Jmprvvisationstalent, eine in reichem Maße
ihm zustehende Gabe, die Zahl seiner Bewunderer und Freunde
vermehrte. Noch mehr aber geschah dies durch seine große, mehr¬
fach in's Deutsche übertragene, historische Dichtung Konrad Wal-
lenrod, die er im Jahre 1828 in Se. Petersburg veröffentlichte.
Der Stoff dieser Dichtung ist gleich dem deS oben besprochenen
Gedichtes Grazina, den Kämpfen Lithauens gegen die zur Un¬
terjochung Polens eindringenden Ritter des deutschen Ordens
entlehnt. Aber hier ist die Handlung von einem erhabenen Ge¬
sichtspunkte aus erfaßt und mit noch größerem sprachlichen Reich¬
thum dargestellt worden. Sodann ist auch der Stempel der Per¬
sönlichkeit, den die früheren Erzeugnisse des Dichters in so hohem
Grade trugen, verschwunden und eine weitere, großartigere An¬
schauung ist an deren Stelle getreten. Der eigentliche Stoff ist
nur ein durchsichtiger Schleier, durch den hindurch die trauernde
Gestalt des unterdrückten Vaterlandes in all ihrer Schönheit hervor-


[]

schimmert, und worin es an Andentungen der neuesten Schicksale
Polens unter fremder Herrschaft nicht fehlt. In Polen brachte da¬
her „Conrad Wallenrod" einen tiefen, lebhaften Eindruck hervor.
Das Gedicht war bald zu einem Nationalepos geworden und über¬
all konnte man die schönsten Stellen desselben aus dem Munde des
Volkes, hören. Die kraftvollsten Verse, welche Rache und Haß ge¬
gen den Unterdrücker lehrten, wurden von Jung und Alt auswendig
gelernt; die wehmüthigen und ergreifenden Lieder Alf's und Alto-
na's wurden in den vornehmsten Salons, wie in den ärmsten
Hütten gesungen. Diese letzteren Stücke waren nämlich von Maria
Przymanowöka, einer berühmten Pianistin, in Musik gesetzt worden.


Um diese Zeit schrieb Micktewicz auch das schöne Gedicht
Farhs, eine glühende, stürmisch hinreißende Dichtung, gleich dem
Araberroß, dessen pfeilschnellen Lauf sie schildert, und eben so kräftig
in ihrer Farbengebung und im Ausdruck, als Byron's Mazeppa.
Dieses Gedicht war es auch, das der Dichter selbst bei der im
Eingang erzählten Bekanntschaft mit dem Bildhauer David in
Weimar diesem in französische Prosa übersetzte; er'S Deutsche über¬
trug es Spazier.


Merkwürdiger Weise hatte zwar die russische Censur die
eigentliche patriotische Tendenz des „Conrcid Wallenrod" ver¬
kannt und der Veröffentlichung der Dichtung nicht das geringste
Hinderniß in den Weg gestellt. Als aber durch die feurige Auf¬
nahme , die dem Werke von Seiten der gesammten polnischen Be¬
völkerung ward, den russischen Behörden ein ziemlich unerfreu¬
liches Licht über ihren Mißgriff aufging, hielt es Mickiewicz für
gerathen, sich neuen Verfolgungen, die seiner zu harren schienen,
zu entziehen. Denn daß die Regierung ihm nicht eben günstig ge¬
sinnt sei, bewies nur zu deutlich der Umstand, daß trotz wiederhol¬
ten Ansuchens das Ministerium des Unterrichts ihm die Erlaubniß
zur Herausgabe einer historisch-philosophischen Zeitschrift, die unter
dem Namen „Iris" erscheinen sollte, hartnäckig verweigerte. Er
benutzte daher die dadurch gesteigerte Theilnahme an seinem Loose,
welche ihm mehrere, schon durch seine Gedichte für ihn begeisterte
hochstehende Russen bezeugten, zur Ausführung eines andern
Planes. Durch die Verwendung dieser Freunde, besonders des
Dichters Jukosskoi, eines Lehrers des Großfürsten, gelang es ihm


37
[]

munlich, einen Paß zu einer Reise in's Ausland, behufs der Wie¬
derherstellung seiner Gesundheit, zu erlangen. Seine russischen
Freunde und Gönner hatten ihn bewegen wollen, sich einer Ge¬
sandtschaft attachiren zu lassen und es war einen Augenblick die
Rede davon gewesen, daß er, mit einem officiellen Charakter be¬
kleidet, nach Brasilien, oder, wie es dann hieß, nach Turin ge¬
schickt werden solle. Der Dichter aber wußte diese goldenen Fesseln
von sich fern zu halten und schätzte eS für ein höheres Glück, einen
Reisepaß zu erhalten, als ein Diplom. Vor seiner Abreise ward
ihm von seinen zahlreichen Bewunderern in Rußland noch ein
schöner silberner Becher, auf dem die Namen der Geber eingegra-
ben waren, als Andenken überreicht. Erfreut und ergriffen von
dieser Huldigung, improvisirte der Dichter einige Strophen, die man
am Ende des dritten Theiles der Dziady finden kann.


Wir haben von seiner Reise und dem wichtigsten Erlebniß der¬
selben, so wie daß Mickiewicz sich zur Zeit deS Ausbruches der
Juli-Revolution in Italien befand, schon oben erzählt. Als er die
erste Nachricht von diesem Weltereigniß erhielt, fühlte er sich von
traurigen, todeöbangen Ahnungen ergriffen. Er sah voraus, daß
auch sein unterdrücktes Vaterland sich für die Freiheit erheben, daß
es aber im Kampfe für dieselbe unterliegen werde. An dieser
Stimmung schrieb er jene schöne Elegie „An eine polnische Mutter/'
in der er prophetische Thränen über das traurige Geschick seiner
Nation vergießt, das er in düsteren, Unheil weissagenden Worten
schildert.


Das heldenmüthige Polen protestirte gegen dieses Orakel der
Cassandra, indem es zu den Waffen griff. Die Protestation war
blutig und dauerte zehn Monate. Aber ach! Der vaterlandslie¬
bende Sänger hatte nur allzuwohl gezeigt, daß die Alten nicht Un¬
recht hatten, wenn sie ihre Dichter mit dem Worte v.ete8 (Seher)
benannten und ihnen einen Blick in die Zukunft beimaßen.


Nach dem Falle von Warschau hielt sich Mickiewicz eine Zeit
lang in Dresden auf. Dort entwarf er den dritten Theil der
„Dziady" und übersetzte daselbst den Giaur von Byron, so wie
er auch mehrere kleinere Gedichte damals verfaßte, von denen be¬
sonders Die Schanze von Ordon zu nennen ist, worin er mit


[]

feurigen Zügen die letzten Zuckungen seines verbindenden Vaterlandes
malte.


Von hier begab sich der Dichter endlich mit seinen andern
Landsleuten nach Frankreich, in dessen Hauptstadt er lange Zeit in
Stillschweigen verharrte. Im Kreise der Verbannten war daS Erb¬
übel Polens, Zwietracht, ausgebrochen; die Ausgewanderten bildeten
verschiedene Parteien, welche einander mit Heftigkeit angriffen und
von denen eine jede den berühmten Dichter der „Dziadv" in ihren
Reihen zu zählen behauptete. Endlich aber brach Mickiewicz sein
Stillschweigen und gab in einem erhabenen Liede der Versöhnung
und des Friedens einen neuen Beweis seiner schönen Seele. Er
veröffentlichte im Jahre 1832 das berühmte Werk: „Die Bücher
des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft."»)
Unbeschreiblich ist der tiefe Eindruck, den dieses Werk nicht allein
auf den ganzen polnischen Volksstamm, sondern auch auf daS übrige
theilnehmende Europa gemacht hat. Es erschienen davon 1833
eine deutsche und eine französische Uebersetzung; letztere rührte von
dem geistreichen Grafen v. Montalembert her und wir entlehnen
dem merkwürdigen Vorworte, das derselbe seiner Uebersetzung voran¬
geschickt, die folgende durchaus wahre Charakteristik der Mickiewicz-
schen Schrift: „Dieses Buch," heißt es, „ist die erste Offenbarung
einer ganz neuen geistigen Richtung, die Mickiewicz eingeschlagen.
Er entsagt darin den äußeren Formen der Poesie, um in einer der
biblischen Sprache nachgebildeten, volksthümlichen Prosa seinen
Landsleuten die hervorstechende Misston deutlich zu machen, die, nach
seiner Ansicht, Polen in der Vergangenheit, wie in der Zukunft
Europas -von Gott angewiesen worden. Er predigt ihnen darin,
wie sie ihr erhabenes Unglück heiligen sollen durch ein unerschütter-



Note: Anm. d. Werf.

37»
[]

liebes, dcmuthvolleS Vertrauen auf das Mitleid der Gottheit, durch
eine vollkommne Einigkeit unter sich selbst, durch Aufgeben alles
Rechtens und aller Vorwürfe über die unwiederbringliche Vergan¬
genheit, und durch einen unvergänglichen Glauben an den Triumph
der guten Sache des Rechts und der Freiheit."


In demselben Jahre veröffentlichte der Dichter, als vierten
Band seiner im Jahre 1828 zu Paris gedruckten Ausgabe seiner
sämmtlichen frühern Poesien, nun auch den dritten Theil seiner
„Dziady." ES sind diese neuen Gedichte eine Reihe dramatischer
Scenen, die sich vorzüglich auf die Verfolgungen der patriotischen
Jünglinge zu Wilna beziehen und die, wie ein deutscher Beurtheiler
richtig sagt, „das ganze Gebiet der Poesie von der bittern Satyre
bis zur glühenden Andacht mit kühnem Schwunge durchfliegend,
zu dem Trefflichsten gehören, was die neueste Literatur besitzt." Die
pariser Ausgabe seiner Gedichte zeichnet sich, beiläufig bemerkt, vor
allen andern früher und später in verschiedenen Städten Polens
und Rußlands erschienenen durch Eleganz und Correctheit aus.
In dem Vorworte derselben aiebt Mickiewicz einen geistreichen
Ueberblick der poetischen Literatur des neueren Europa, worin er
unter andern auch eine vertraute Bekanntschaft mit der deutschen
Literatur an den Tag legt.


Im folgenden Jahre 1833 vzrheirathete sich der Dichter mit
der Tochter der oben genannten polnischen Dame, Maria Przyma-
nowska, und hatte bald das Glück, Familienvater zu werden. Diese
neue Umgestaltung seiner Lebensverhältnisse blieb auch auf seine
Einbildungskraft nicht ohne Wirkung. Dieselbe ward nun ruhiger,
nahm eine positivere Wendung und beschäftigte sich nun nicht mehr
mit kriegerischen, sondern mit Scenen aus dem häuslichen und länd¬
lichen Leben seiner Nation. Einen Beweis hievon giebt das neue
Gedicht, das er im Jahre 1835 in zwei Bänden unter dem Titel
Herr Thaddäus in Paris herausgab. Diese Dichtung, in wel¬
cher weit mehr Beschreibung als Handlung ist, wird von den Polen
als ein Muster von naturgetreuer Wahrheit und als das zugleich
anziehendste und sprechend ähnlichste Bild des Privatlebens deS
lithauischen Adels betrachtet.,


Im Jahre 1839 bot die Akademie zu Lausanne unsrem Dichter
die Professur der alten Literatur an. In dieser neuen Stellung


[]

Hütte sich Mickiewicz schon allgemeinen Beifall erworben, die Akade¬
mie fühlte sich glücklich und stolz, einen solchen Mann unter ihre
Mitglieder zu zählen und hoffte ihn mit dauernden Banden an sich
geknüpft zu haben; aber ein weiterer Schauplatz für die Entwickelung
seiner Kräfte harrte des polnischen Sängers. Als Frankreichs Auf¬
ruf ertönte, hielt er es für eine gebieterische Pflicht, dahin zu gehen,
wo er seinem Lande am wirksamsten dienen konnte. Um aber un¬
sern Lesern einen Begriff zu geben, sowohl von dem lebhaften Be¬
dauern, das der Abgang Mickiewicz'S hervorgerufen, als auch
von den charakteristischen und eigenthümlichen Zügen, die ihn von
jedem gewöhnlichen Dutzend-Professor unterscheiden, glauben wir
nicht besser zu thun, als wenn nur dem zu Lausanne erscheinen¬
den Ourivr «Nisse einige Stellen eines Artikels entlehnen, der
von einem seiner College» als Nachruf geschrieben ward.


„Lange Zeit wird in unseren Herzen die Erinnerung leben
an diesen zugleich so ernsten und doch so anziehenden, mit einer so
edlen Einfachheit geschmückten Unterricht; die Erinnerung an diese
veranschaulichende, gewissermaßen inspirirte Kritik, in der die Syn-
thesis. der Analyse voranging oder sie überragte, und in der sich ein
eben so lebendiges als zartes, Gefühl für die Schönheiten der Kunst
zeigte; die Erinnerung an diese Vorträge über lateinische Literatur¬
geschichte, in denen alle andern Literaturen gewissermaßen zusammen¬
kamen auf den Ruf eines Lehrers, der mit allen bekannt, mit meh¬
reren vertraut war; die Erinnerung an seine markige, inhaltreiche
und doch durchsichtig klare Redeweise, an seinen antik-kräftigen, fast
lapidarischen Styl; die Erinnerung endlich an diesen gesunden
Menschenverstand, der so erhaben war, daß man ihn für die
schönste Einbildungskrast gehalten hätte, und an diese so unbefleckte
Phantasie, daß man sie für die edelste Vernunft hätte nehmen
können."


Fügen wir nun diesem Gemälde einige Züge hinzu, die
dem großen Dichter während seiner Vorträge am KoII«^« it« ti'rime»
abgelauscht sind und die unsern deutschen Lesern um so willkommner
sein dürsten, je weniger Gelegenheit sie haben, Mickiewicz selbst ein
Mal zu hören. Wir entlehnen dieselben theils Schilderungen sehr
wohl unterrichteter Personen in Paris, die fleißige Besucher seiner
Vorlesungen sind, theils eigener Anschauung während eines Behn-


[]

ches in Paris, wo wir nicht unterließen, einer Borlesung dieses so in¬
teressanten Professors beizuwohnen. Sein Vortrag, obzwar etwas schwer
und langsam, ist darum nicht minder anziehend; er ist zunächst durch¬
aus klar, durchaus rein und verständlich, und hat in seiner Fremdartigkeit
den Reiz einer seltenen Originalität. Das Wort kommt langsam aus
seinem Munde, aber dafür kommt auch immer das beste und passendste,
dem, was er sagen will, genau entsprechendste Wort. Einer seiner geist¬
reichsten Collegen, der ihm hierin ein wenig gleicht, sagte daher
auch von ihm» „ES ist wahr, er sucht, aber er findet auch."


Was seine Vorträge für die Zuhörer besonders anziehend macht,
daS sind jene alten polnischen, serbischen, böhmischen, russischen Lieder,
die der Dichter in ihrer Rauheit und fast homerischen Einfachheit
wiedergiebt und die in das Ohr der Hörenden in fremdartig klin¬
genden, abgebrochenen, gleichsam zerhackten, aber doch rhythmischen
und malerischen Worten dringen. Die Persönlichkeit und äußere
Erscheinung des Lehrers steht in voMommner Uebereinstimmung mit
dem Gegenstand seiner Vortrage. In diesem tiefsinnigen Blick und
in dieser traurigen, träumerischen Physiognomie ist der Zettstcmpel
unsrer Epoche deutlich ausgeprägt; in diesen eckigen Zügen dagegen,
in diesem hervorragenden, an beiden Winkeln gefurchten Mund,
in dieser Stimme mit ihren heftigen Betonungen der Worte liegt
etwas Altslavisches. Besonders bemerkenswerth aber ist der un¬
verrückbare Ernst seines Gesichtes, der gegen die Heiterkeit seiner Zu¬
hörer, welche oft durch eine oder die andere naive Aeußerung
eines böhmischen oder serbischen Helden des zehnten Jahrhunderts
hervorgerufen wird, scharf und eigenthümlich absticht. Man sollte
wahrlich meinen, der Dichter, der jene alten, heldenmütigen Ge¬
stalten aus ihren Gräbern hervorgerufen, habe in ihrer Mitte ge-.
lebt. Er besitzt zwar nicht ihren Riesenwuchs und ihre gewaltigen
Fäuste, aber er besitzt ihren kindlich warmen Glauben, ihre moralische
Thatkraft und jene einfache Größe, die in unsrem auf die äußere
Schaustellung berechneten Jahrhundert immer seltener wird.


Note: H. g.

[]

Pauperismus undColonisation
(Bon
Alexander Baronvon Bülow.)



I.


Es erben sich Gesetz und Rechte,
Wie eine co'ge Krankheit fort.
Sie schleppen von Geschlecht sich zu
Geschlechte,
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage,
Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider! nie die Frage.


Note: Göthe.

Seit einigen Jahren haben die socialen Fragen in den DiS-
cusstonen über Gegenstände des Gemeinwohls einen bedeutenden
Platz gewonnen. Lange Zeit hatten sie lediglich dem Gebiete der
abstracten Theorien angehört und waren namentlich in Deutschland
nur als träumerische, unpraktische Ausgeburten einiger unzufriedenen,
abenteuerlichen Geister betrachtet worden. Hin und wieder waren
freilich in einzelnen Zeitschriften diese Theorien besprochen worden,
aber nur schildernd, an eine Anwendung auf's Leben war nirgends
gedacht worden. In der letzten Zeit ist durch die Seiten, die Gutzkow


[]

in seinen Pariser Briefen dem FourrieriSmuö und Communismus
gewidmet bat und durch die Reklamationen der Pariser Fourrieri-
sten über ein Nichtvcrständniß von Seiten Gutzkow's, die Aufmerk¬
samkeit des deutschen Publikums auf diese socialistischen Bestrebungen
wieder hingelenkt worden. Ueberhaupt aber sind diese jetzt mehr als
je früher an'S offene, freie Tageslicht getreten, indem sie zu ihrer
Berechtigung auf die Bedürfnisse der Zeit hinwiesen, welche sie im
Voraus schon erkannt hatten und die sie befriedigen zu können glaub¬
ten. So sind aus chimärischen Utopien Theorien geworden, deren
Discussion von Nutzen ist und so sind sie aus dem Bereiche des
Phantastischen in das Gebiet der Wissenschaft übertrage!, worden.
Von da haben sie nun auch in die Cabinete der Staatsmänner und
Regierungsbeamten ihren Weg gesunden; wenigstens fürchten sich
diese nicht mehr, sie zu befragen und zuweilen verlangen sie sogar
einen guten Rath von ihnen. Die Nothwendigkeit der Oekonomie
als Wissenschaft und der Nutzen, den man aus einer aufmerksam¬
sten Prüfung selbst der gewagtesten Systeme in diesem Fache schö¬
pfen kann, sind heute unbestreitbar anerkannt und die ernstesten und
praktischsten Köpfe haben die Zeit nicht für verloren gehalten, welche
sie Untersuchungen der Art widmeten. Leider aber haben diese Stu¬
dien bisher nur einen beschränkten Vortheil gehabt. Denn wenn
die Reformatoren an den entscheidenden Wendepunkt gekommen wa¬
ren, wo sie praktische Vorschläge machen sollten, hatte sich in ihren
Ideen stets eine Verwirrung und eine Confusion eingeschlichen, die
davon herrührte, daß ihre, so lange sie das Bestehende schilderten
und analystrten, gefangen gehaltene Einbildungskraft nun plötzlich
einen gewaltigen Aufschwung nahm. Daher verloren sie sich denn
auch alle in den unbegrenzten Räumen des Unbestimmten, des Ide¬
alen, des Unmöglichen. So ging es Se. Simon, so Fourrier, so
Robert Owen mit ihren Systemen und Lehren. Sie beginnen mit
interessanten Untersuchungen über die Vergangenheit; sie geben eine
genaue Analyse unsrer Lage, sprechen mit warmer Beredsamkeit und
der Wahrheit getreu über die Leiden der arbeitenden Volksclassen
und schließen, jeder freilich mit ihm eigenthümlichen Modificirungen
in den Mitteln, aber alle damit, daß sie den Besitz und dessen Ver¬
erbung abgeschafft wissen wollen. Sie alle vernichten die Idee der
Familie und heben den Unterschied der Geschlechter auf. Sie über-


[]

sehen aber sämmtlich, daß ihre Mittel anwenden, nur hieße: der be¬
stehenden Verwirrung durch eine neue Unordnung, dem gegenwär¬
tigen Unglück durch eine Ungerechtigkeit und der augenblicklichen
Haltlosigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen durch eine Vernich¬
tung der ewigen Gesetze, aus die sie gegründet sind, abhelfen.
Daher haben diese Theorien, wo man sie in ihrer Unreife vorschnell
und verwegen in's Leben setzte, nur große Tumulte und viel Skan¬
dal zu Wege gebracht. Darum sind sie gerade in Deutschland, das
zwar das Land der Systeme, aber auch das der Stabilität ist, bis¬
her unbeachtet geblieben. Dagegen muß man sich aber auch hüten,
das Kind mit dem Bade zu verschütten. Denn, wie sich eben in
neuester Zeit herausstellt, haben diese ersten unreifen Versuche und
Fehlgeburten doch nützliche Forschungen hinterlassen; einigen edlen
Denkern ist ein neuer Impuls dadurch gegeben worden. Noch ist
zwar das Heilmittel für die Krankheit unseres Gesellschastskörpers
nicht gefunden, aber wenigstens ist doch der Sitz des Uebels nun
auf's deutlichste und bestimmteste angezeigt und die Illusionen, welche
es bisher vor den Augen so Vieler verbargen, sind geschwunden und
wir sehen freilich leider manchen tief klaffenden Abgrund.


Unter den zahlreichen Thatsachen, welche in Folge dieser Ana¬
lyse unserer gesellschaftlichen Zustände sich herausgestellt haben, ist
eine, von der alle übrigen beherrscht werden und deren verschiedene
Ursachen und Wirkungen daher mit besonderer Vorliebe auseinan¬
dergesetzt worden sind. ES ist dies die Thatsache des Elends der
arbeitenden Classen, der Pauperismus. Ein neues Wort, ein ener¬
gischer Ausdruck, der geschaffen ward, um von einer bisher unbe¬
kannten Situation ein vollständiges, wahres Bild zu geben. Wäh¬
rend bet den andern Thatsachen die höheren Stände unachtsam
blieben, wurden sie in Gegenwart dieses Uebels, das man ihnen
jetzt als einen herandrängenden, in seinem Rachedurst oder vielmehr
in seiner pressenden Noth unbarmherzigen Feind schilderte, plötzlich
aufmerksam. Die furchtsameren Gemüther ergaben sich von vorn¬
herein geduldig in ihr Schicksal; muthigere und verständigere Män¬
ner dieser Classen aber sahen ein, daß in solcher starren Unbeweg-
lichkeit kein Heil liegen könne. Sie machten sich daher an's Werk
und fingen an, nach Mitteln zu forschen, vermöge deren sie ohne
einen gewaltsamen Umsturz der jetzt bestehenden, nothwendigen Ort-


[]

mung der Dinge, den Forderungen und Interessen der unteren
Stände Genüge leisten und dadurch die eigene, in ihren Grundla¬
gen erschütterte Stellung wieder befestigen könnten. Denn in der
That verbindet eine enge Gemeinsamkeit der Interessen diese beiden
entgegengesetzten Lagen. Die Festigkeit der einen ist eine Bürgschaft
für die Dauer der andern. Das Grundeigenthum wird nicht eher
ein unerschütterlich Feststehendes sein, die beweglichen Capitalien
werden sich nicht eher in ihrem Umlauf völlig sicher fühlen, als bis
die Arbeiter und Gehülfen, welche von beiden angewandt werden,
sie nicht mehr, wie es bisher geschah, als Tyrannen betrachten wer¬
den, welche auf ihre, der Arbeiter, Kosten sich bereichern.


Wie aber die Dinge heutzutage stehen, so sind es gerade die
gegenwärtig herrschenden Verhältnisse, welche verhindern, daß die
Arbeiter eine andere Ansicht der Dinge gewinnen. Das anhaltende
Zunehmen der Bevölkerung während einer mehr als fünfundzwan¬
zigjährigen Friedenszeit, wie sie bisher in Europa fast noch nie
Statt gefunden, die noch größere Entwickelung der Production, die
fortwährende Verringerung des Arbeitslohnes und der immer nied¬
rigere Preis der Fabrikate haben jene so unheilvolle Spaltung der
Gesellschaft in zwei einander auf den Tod befeindete Parteien her¬
vorgerufen , die sich in einem falschen, von der Concurrenz ihnen
aufgezwungenen Zirkel beweg»n. Die Bedingungen, denen sich die
Producenten heutiger Zeit unterworfen sehen, nöthigen sie, die Con-
sequenzen eines Systems, dessen erste Opfer oft sie selbst werden,
von dem allein aber sie ihre Rettung erwarten können, bis auss
Aeußerste zu treiben. Ihr letzter Zweck muß ja immer die Unter¬
bringung ihrer Erzeugnisse sein; wie können sie diese aber bewerk¬
stelligen, wenn sie nicht vor ihren Concurrenten den Vortheil der
niedrigeren Preise voraus haben? Denn jetzt, da die wirklichen Be¬
dürfnisse der Consumenten weit geringer sind, als die Anzahl der
Gegenstände, welche Absatz erheischen, sind die Käufer wählerisch
geworden und entschließen sich nur nach Verhältniß der ihnen be¬
willigten Vortheile zum Ankauf. Der Producent muß also, um die
Consumenten an sich zu ziehen, einerseits seine Fabrikationöbcdürf-
nisse so niedrig als möglich zu stellen suchen, da er andrerseits trotz
der niedrigeren Verkaufspreise und des geringeren Gewinnes doch
die Qualität seiner Waaren nicht verschlechtern darf. Der größte


[]

Theil der Kosten nun, welche die Fabrikation verursacht, sind haupt¬
sächlich der Arbeitslohn, da der Werth der Rohstoffe meist unter¬
geordneter Natur ist. Jede Reduction trifft also zunächst direct den
Arbeiter. DaS ist für ihn die unvermeidliche Wirkung der Concur¬
renz zwischen Producenten und Producenten. Noch trauriger aber
wird seine Lage, wenn in Folge des Anwachses der Bevölkerung
die Concurrenz in die Reihen der Arbeiter selbst tritt, wenn diese
gegen einander eine feindliche Stellung annehmen und die Arbeit
dem Mindestfordernden zufällt, weil sie eine Waare geworden, also
dem gemeinsamen Gesetz aller Waare unterliegt, d. h. billiger wird,
weil sie in Masse Vorhanden ist, und ihr Preis sich nach der grö¬
ßeren Masse von Anbietender oder Verlangenden richtet. So wird
durch die doppelte Concurrenz der Producenten und der Arbeiter,
welche ihrerseits ein Erzeugniß der auseinandergesetzten Nothwen¬
digkeit ist, der Tagelohn derselben immer geringer. Endlich aber,
wenn er so tief gesunken ist, daß er hart am Rande des Nichts
steht, also nicht noch tiefer sinken kann, dann wird daS Elend, daS
schmerzlich weit ausgebreitete Elend offenbar, und in dieser größeren
Verbreitung und Ausdehnung über ganze Massen wird es zum
Pauperismus. Dann beginnen die großen Aufregungen; erst dumpf
und einen Augenblick von dem Zwange der Werkstätte niedergehal¬
ten, werden sie bald größer und treten aus dieser hinaus, um in der
Straße, gestachelt von dem wahnsinnig machenden Reizmittel, Hun¬
ger, jene blutigen Schlachten zu liefern, in denen ein Stück Brod
der Siegespreis ist. Nun ist die Eintracht zerstört, das Gleichge¬
wicht zwischen Arbeit und Capital ist gebrochen, und welcher Partei
auch immer der Sieg bleibt, immer ist Zerrüttung seine Folge.
Denn immer sind auf der einen Seite Leichname zu beerdigen, wäh¬
rend auf der andern Ruinen aufgerichtet und Trümmer von Ma¬
schinen weggeschafft werden müssen. Der Krieg hat also, obgleich
aus einer traurigen Nothwendigkeit hervorgegangen, dennoch nur
eine Vergrößerung des Uebelstandes zur Folge. Denn der Produ¬
cent muß nun doppelt so ökonomisch werden und strenger auf seinen
Vortheil bedacht sein, alö je, damit er sobald als möglich den erlit¬
tenen Schaden wieder gut machen kann; der Arbeiter dagegen ist
gezwungen, wenn er nicht Hungers sterben will, in seine Fabrik
zurückzukehren, und noch härtere Bedingungen «is bisher, so lang


[]

zu ertragen, bis seine Schmerzenslast von Neuem seinen wunden
Schultern zu schwer wird und er sie abwirft und neue Katastrophen
dadurch herbeiführt.


In dieser traurigen Alternative, in diesen gegenseitigen Ueber¬
griffen, in diesem Wechsel von Sieg und Niederlage bewegen sich
heut zu Tage die Industrie und die arbeitenden Classen. Der fort¬
dauernden Feindschaft nun dieser Hauptbestandtheile des öffentlichen
Reichthums ein friedliches Medium entgegenzustellen, in dem sie
einander begegnen können, ohne an einander anzustoßen, in dem sie
gegenseitige Dienste sich leisten, ohne daß einer dem andern geopfert
wird, das ist es, um was eS sich handelt. Mit einem Worte, eS
kommt darauf an, das Gesetz für die Organisation der Arbeit zir
entdecken; denn dieses Gesetz ist der geheimnißvolle Logos unsrer
Epoche, der Fleisch werden soll. An Anstrengungen für diese neue
Aufgabe hat es wenigstens in Frankreich, England und Belgien, die
freilich die bedeutendsten industriellen Staaten sind, — nicht gefehlt;
die Lehrstühle der Hochschulen haben sich ihrer bemächtigt, die Aka¬
demienhaben für die Lösung derselben ihre schönsten goldenen Medail¬
len schlagen lassen und die Publicisten, die sich damit beschäftigt, ha¬
ben sich ihre Anläufe von der öffentlichen Meinung hoch anschlagen
lassen. Was ist aber aus diesen Beschäftigungen so Bieter mit ei¬
nem Gegenstande für ein Resultat erwachsen? Ist auf die Analyse
der gegenwärtigen Lage eine neue Synthesis gefolgt? Leider müssen
wir mit Nein antworten. Mit Ausnahme einiger geistreichen Mo¬
nographien, die aber unter einander in keinem Zusammenhange
stehen, ist das Problem in seiner früheren Dunkelheit und unaufge¬
löst geblieben. Noch hat man nichts Besseres zu finden vermocht,
als die Principien, die Fourrier und Owen aufgestellt, d. h. das
Gehässige und das Unmögliche.


Es war aber indeß an einigen Orten das Uebel so gewaltig
geworden, daß man nicht länger warten konnte, sondern von der
Discussio« zu thatsächlichen Mitteln, von den Theorien zu ihren
Proben überzugehen sich genöthigt sah. Eine solche Nothwendigkeit
ist in England eingetreten. Dieses Land war aus den Höhepunkt
seiner industriellen Macht gelangt; es sah zu gleicher Zeit die An¬
zahl seiner Bevölkerung immer größer, die seiner Consumenten aber
immer geringer werden, weil fremde Concurrenz ihr die Märkte


[]

streitig machte. Alle jene Verlegenheiten, die wir oben beschrieben,
all die Kämpfe, die daraus entstehen, England hat sie periodisch,
fast von Jahr zu Jahr durchzumachen gehabt. Dieser Staat, einst
das classische Land des Reichthums und der Industrie, ward nun auch
der classische Boden deö Pauperismus und des Aufstandes und um
jene zu retten, mußte man sobald als möglich diese bekämpfen und
ihnen hemmende Schranken setzen. Man wählte anfangs daS ein¬
fachste und scheinbar gerechteste Mittel; den Retchen ward auferlegt,
für die Bedürfnisse der Armen zu sorgen und die Mildthätigkeit
ward aus einer Tugend des Privatlebens und des freien Willens,
indem sie Gegenstand eines Gesetzes wurde, eine öffentliche Verpflich¬
tung, eine heilige Schuld, eine Steuer. Aber dadurch ward die
Lage nur um ein Element verwickelter und die Milvherztgkeit, die
Gott nur für die wirklichen Leiden in'S Menschenherz gelegt, war
hier in den meisten Fällen zu einer, auf Unkosten der menschlichen
Würde, der Trägheit gegebenen Belohnung herabgesunken. Wenn
sie so ausgeübt wird, kann die Mildthätigkeit dem öffentlichen Elend
keinesweges abhelfen, weil sie dem Laster, woraus jenes entsteht,
von einem Tage zum andern leben hilft und die Arbeit, durch die
allein das Elend verringert werden kann, unnütz macht. Ja man
kann sogar behaupten, daß eine solche Wohlthätigkeit all ihren mo¬
ralischen Werth verliert, indem sie sich zu einer Beraubung von
Gütern hergiebt, aus deren Früchte lediglich die wirkliche Ohnmacht
und Kraftlosigkeit ein Recht hat; sie vergißt, daß, wenn ihr Name
im Gesetze Gottes sich geschrieben findet, das Wort Arbeit ebenfalls
darin steht, und zwar, als eine menschliche Stiftung in der Mitte
zwischen Gebet und Schuld sich findet.


Unter der Herrschaft dieses neuen Mittels konnte also, in Folge
der Natur desselben, Englands ökonomische Lage keine bessere wer¬
den; im Gegentheil wurden die Nachtheile desselben nur bald fühl¬
bar und man sah bald, daß dieses Heilmittel nur eine auflösende
Kraft habe und seinerseits wieder bekämpft werden müsse. In der
That hatte auch die Armentare zwar auf der einen Seite den Fa¬
brikanten und Manufacturisten einige geringe Erleichterung gewährt,
hatte aber auf der andern Seite die ackerbauenden Producenten, auf
denen sie vorzüglich lastete, erdrückt und der kleine Grundbesitz lag
unter dem Gewicht einer willkürlichen Steuer, welche ihm oft die


[]

beste Hälfte seiner schönsten Einkünfte raubte, gänzlich danieder.
Durch dieses dritte Element der Unordnung ward dieselbe übervoll'
ständig und England war nun in allen seinen Theilen, in seiner
industriellen Produktion, in seiner Bevölkerung und in seinem Grund¬
besitz von ein und demselben zehrenden Krebsschaden angefressen.
Man hatte zur Unterstützung der ersten beiden die Armentare ein¬
geführt; sie mußte nun abgeschafft werden, um letzteren zu retten
oder vielmehr man bewilligte sie fortan nur unter so harten Bedin»
gnügen, daß dadurch das freie Elend mit all seinem Jammer und
seinen Qualen noch etwas Vorzuziehendes däuchte. Die Einführung der
Wörtl-llcuseZ an die Stelle der von den Gemeinden ertheilten Ar-
menunterstützung hat keinen andern Zweck gehabt; diese Häuser ei¬
ner gezwungenen Arbeit, die dem Anscheine nach allen Unglück¬
lichen offen standen, haben sie in Wahrheit alle zurückgewiesen, in¬
dem sie eine Lebensweise zur Bedingung machten, deren Schmer¬
zen keine menschliche Geduld zu ertragen vermochte.


So hat sich denn der Pauperismus, der Unterstützung, die ihn
erhielt, beraubt und von der Schwelle des ihm offen stehenden Asy¬
les durch die Furcht vor demselben zurückgerissen, von Neuem er die
Straßen geflüchtet und erwartet den Platz in der Gesellschaft, den
ihm die Ohnmacht der Staatseinrichtungen nicht anzuweisen vermag,
jetzt nur noch von dem Willen der Gottheit. Das Erperiment, daS
England gemacht hat, ist also ohne Resultat geblieben; es ist, nach¬
dem es einen ungeheuern Kreis von Opfern und Versuchen durch¬
laufen, zu seinem Ausgangspunkte zurückgekehrt. Ausgegangen vom
Elend und der Unordnung, findet eS sich jetzt durch eben die Mittel,
welche es ihnen hat entgegenstellen wollen, wieder dahin zurückge¬
führt und wiederum ist ein innerer Krieg der einzelnen Gesellschafts-
classen sein letztes ZuftuchtSmittcl. Im Stich gelassen von allen
Theorien, hat England die des Gehen- des Vorübergeh en-
lassens erfunden und so sein Geschick, in das eS selbst die Ein¬
sicht verloren hat, dem Zufall, oder einer Art morgenländischen Fa¬
talismus anheimgestellt.


Englands Nachbarstaaten, die in diesen Weg ohne Ausgang
minder tief hineingerathen sind, aber nur weil sie ihn später betra¬
ten, haben sich noch nicht, gleich jenem Lande, auf das Feld
der Experimente gewagt. Bei ihnen steht die Nationalökonomie noch


[]

auf dem Standpunkte des Besprechet, PrüfenS und VorschlagenS;
an'S Anwenden dieser Vorschläge hat man sich noch nicht gemacht.
Die Gefahr aber ist unvermeidlich; denn wie wir vom auseinander¬
gesetzt, bestehen in diesen Ländern dieselben oder ähnliche Verhältnisse,
wie in England und gleiche Ursachen müssen gleich« Resultate her¬
beiführen. Die Bezüge zwischen Capital, Grundeigenthum, Arbeit,
immer anwachsender Bevölkerung und stets steigender Fabrikation
sind ebenfalls gestörte und in Unordnung gebrachte, müssen also
gleichermaßen zum Pauperismus oder zu einem völligen Umsturz
der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung führen.


Hat nicht Frankreich schon jetzt seine periodisch wiederkehrenden
Volksaufstände, und kann man über dem politischen Charakter, den sie
äußerlich annehmen, die materiellen Ursachen übersehen, die ihnen
in Wahrheit zu Grunde liegen und sie hervorrufen? Kann man
nicht sehen wollen, daß der Communismus, der eigentlich Nichts
als die Formel oder Vorbereitung des längst drohenden Krieges der
Armen gegen die Reichen ist, eine unvermeidliche Nothwendigkeit
geworden? Denn man glaube es nur, das Volk erhitzt sich zumeist
durch die Eingebungen jener traurigen Nachgeben», der Noth. Höhere
Ideen, staatsrechtliche Theorien haben nur insoweit einen Einfluß
auf seine Handlungen, als sie seinen Bedürfnissen entsprechen und
eS wird diejenige Staatsverfassung, welche dieselben am besten be-
friedigt, stets auch für die beste halten, möge sein Antheil an der¬
selben sein, welcher er immer wolle.


Wenn Belgien, von dessen Bevölkerung der größere Theil
durch Naturanlage und Temperament ruhiger und minder ungestüm
in seinem Benehmen ist, bisher noch keine dieser gewaltsamen Pro-
testationen der Armen erlebt hat, so ist es darum nicht minder unter
der Herrschaft jener oben angegebenen Ursachen der Auflösung aller
gesellschaftlichen Bande und es wird in geringerer oder größerer
Zeit am Rande ähnlichen Verderbens stehen. Ja es hat sogar
eine um so traurigere Aehnlichkeit mit Englands Loos zu befürchten/
da seine Industrie durch ihre eine Zeit lang so unverhältnißmäßige
Ausdehnung, weil es nicht dieselben weiten Ausfuhrwege als Eng¬
land hat, jetzt in einem Zustande des Schmachtens daniederliegt,
der die immer steigende Bevölkerung, von der zwei Drittheile, wie
in jenem Lande, auf die Industrie angewiesen sind, schon jetzt hart


[]

genug druckt. Diese fast gleiche Lage würde sicherlich auch schon ähnliche
Folgen herbeigeführt haben, wenn sie nicht aus jüngerer Zeit sich
herschriebe und wenn nicht, — dies ist ein Hauptgrund — der
glückliche Umstand des Baues seines großen Eisenbahn-Netzes eini¬
germaßen abgeholfen und viel Tausenden von Armen Beschäftigung
gegeben hätte. Aber dies letztere ist nur eine vorübergehende That¬
sache, deren Resultate in diesem Punkte nicht länger dauern werden,
als das Factum selbst, während daS Uebel und seine Ursachen un¬
verändert bleiben. Der Augenblick steht bevor, wo jene Kräfte, für
welche eine Zeit lang ein Spielraum gewonnen worden, diesen ver¬
lieren werden und es ist gar eine wichtige Aufgabe für Belgiens
Staatsmänner, daran zu denken, wie sie diesen Tausenden von
Eristenzen, welche jetzt durch die großen Staatsbauten beschäftigt
werden, eine neue Nahrung verschaffen können.


So ist es also durchaus wahr, daß auch Belgien, wenn gleich
für den Augenblick in geringerer Gefahr, als seine Nachbarn, doch
einer Zukunft voll stürmischer Wirren entgegen geht. Grundbesitz,
Capital und Arbeit stehen auch hier kämpfend einander gegenüber
und sind in fortwährendem Anstoß begriffen. Aus ihrem Ringen
wird dann ebenfalls jener äußerste Zustand des Pauperismus her¬
vorgehen, für den, wie wir gesehen, das waltende Geschick Mein
ein Heilmittel geben zu können scheint. Es ist also hohe Zeit, sich
zu beeilen, aus den vorbereitenden Bahnen herauözuschreiten, von
der theoretischen Besprechung zur praktischen Anwendung, von den
Ideen zu den Thatsachen überzugehen und die Erfahrungen, die
andere Nationen auf ihre Unkosten gesammelt haben, zu benutzen.


II.


Ganz abgesehen von den Ursachen, welche Moralisten und
Psychologen den Versuchen der modernen Reformatoren unterschieben,
giebt eS in den rein materiellen Zuständen unserer gesellschaft¬
lichen Lage Elemente genug, welche eine hinreichende Quelle für
Entstehung jener Versuche sein konnten. Anfangs waren sie meist
blos von dem Wunsche beseelt, an einigen isolirten Punkten beten-


[]

tende Verbesserungen und Umgestaltungen zu bewerkstelligen. Da
sie sich aber überzeugt hatten, daß auf eine allgemeinere Annahme
dieser Vorschläge durchaus nicht zu rechnen sei, da erst vergrößerten
diese kühnen Geister ihren Gesichtskreis und entschlossen sich, die
Welt ganz umzugestalten, damit auch sie ein Plätzchen darin fänden.
Es war dies eine unausweichliche Nothwendigkeit. Da das Me¬
dium ihrer Thätigkeit ein in sich abgeschlossener Organismus war,
so konnten sie, ohne diesen selbst durchgreifend zu verändern, die
theilweisen Reformen, die sie anfangs vorschlugen, nicht unter dessen
Schutz stellen; nicht etwa als ob dieselben unvernünftig oder unnütz
gewesen wären, sondern blos deshalb, weil innerhalb einer Reihe be¬
stehender Thatsachen, die so combinirt waren, daß man an keinem
Detail etwas ändern konnte, ohne ihren ganzen Zusammenhang zu
zerrütten, ihre Ausführung unmöglich war. Wie wollte man z. B.,
um beim nächstliegenden stehen zu bleiben, die Lage der Arbeiter
verbessern und zu einer Erhöhung deS Arbeitslohnes kommen, ohne
das Dasein der Industrie zu untergraben, die aus innern, oben er¬
klärten Nothwendigkeiten, von Tag zu Tag den Tagelohn herabzu¬
setzen sucht? Wie wollte man die möglichst größte Zahl an den
Genüssen deö Besitzes Theil nehmen lassen, ohne den heiligen Rech,
ten deS Bestehenden Abbruch zu thun? Wie wollte man endlich
neben alten Rechten neue begründen, ohne jenen einen Zwang an¬
zuthun? Hierin lag offenbar eine unübersteigbare Schwierigkeit,
und die Neuerer mußten, um ihren Ideen Erfolg zu verschaffen,
dieselben ausdehnen; sie mußten die Nothwendigkeit der bestehenden
Einrichtungen lüugnen, weil sie, physisch oder moralisch, nicht im
Stande gewesen, einen Vergleich mit ihnen zu schließen. Dies ist
und wird stets die nothwendige Schlußfolge aller Versuche sein, die
man gemacht hat oder noch machen wird, um den Zustand der schon
seit langer Zeit constituirten Gesellschaften in wesentlichen Punkten
umzugestalten. Selbst die nüchternsten, phantasielosesten Geister ha¬
ben sich diesen Folgen ihres Beginnens nicht ganz entziehen können
und, wenn sie auch nicht so weit gegangen sind, als ihre Vorläufer,
so sind sie doch auch gleich diesen auf wahre Confiscationen hin¬
ausgekommen, indem sie, die Einen den freien Gebrauch des Besitzes
beschränkten, die Andern in den Seitenlinien die Wirksamkeit des
Erbrechts aufhoben, immer also an den Punkten, wohin sie sich


38
[]

wandten, irgendwie an der Unverletzlichkeit schon erworbener und
bestehender Rechte sich vergriffen.


Man würde sich also nur denselben WechselfAllen von Unruhen
oder Irrthümern aussetzen, wenn man unter den Verhältnissen, in
denen wir leben, auf einem Terrain, das von allen Seiten durch
ehrwürdige Gebräuche besetzt, vyn unverjährbaren Gesetzen beschützt
und von dem rechtmäßigen Widerstande der bedrohten Interessen
vertheidigt ist, eine neue Organisation der Arbeit versuchen wollte.
Selbst die mit der größten Ungeduld von Allen herbeigewünschten
Verbesserungen könnten hier kein Glück machen; und wir glauben
kaum, daß es irgend einen Kapitalisten oder Fabrikherrn giebt, der
den Tarif des Geldes oder des Arbeitslohnes zu verändern im
Stande wäre, um dadurch den Leiden der von der Industrie an¬
gewandten Volksclassen abzuhelfen. ES bleibt, also Nichts übrig,
als zu den umgekehrten Mitteln seine Zuflucht zu nehmen uno
an Orten zu handeln, die von allen feindlich entgegenstehenden
Antecedentien frei, ausgedehnt genug sind, daß neue Interessen
sich hier behaglich und unbeschränkt einrichten können und zugleich
hinlängliche Vortheile besitzen, um diese Interessen zu befriedigen.
Um aber an solche Orte zu gelangen, bleibt kein andres Mittel,
als Kolonien anzulegen, nicht in der althergebrachten Bedeutung
dieses Wortes, sondern um den Menschen Ausgangspunkte zu er¬
öffnen, wodurch daS Heil unsrer eigenen Institutionen gesichert
wird, und um daselbst eine Organisation der Arbeit einzuführen,
die so combinirt ist, daß sie all den Elementen, welche jetzt unsren
bestehenden Verhältnissen bedrohlich gegenüberstehen, hinlänglichen
Spielraum gewährt.


ES ist dies, dem ersten Anscheine nach, kein neues Mittel;
aber die Art und Weise, wie es bisher angewandt worden, hat
feine Kraft dermaßen geschwächt, daß man sagen kann, es befinde
sich noch im Zustande völliger Kindheit und sei, wenigstens in Be¬
zug auf die heilsamen Wirkungen, die es haben kann, durchaus
noch unbekannt. Denn fast alle Auswanderungen sind bisher—und
besonders in Teutschland — lediglich dem Zufall anheimgestellt
und ohne alle Vorbereitungen in die fremden Gegenden hinaus¬
geschleudert worden, die sie sich zum künftigen Aufenthalt auser¬
sehen hatten. Meist lediglich der Speculation überlassen und auf


[]

eine jammervolle Weise von derselben ausgebeutet, sind diese
Auswanderungen aus einer Lebensfrage für das Wohl der Mensch¬
heit, zu der sie bei geschickter Leitung werden konnten, zu einem
Gegenstande gemeiner Selbstsucht und unwürdiger Blutsaugerei her-
abgesunken. Vom dringendsten Bedürfniß aus ihrem Vaterlande
vertrieben, haben diese Auswanderer das Elend, vor dem sie flohen,
nur an andern Orten wiedergefunden und England, Deutschland
und die Schweiz haben in Folge dieser nutzlosen Emigrationen un¬
zählbare Schaaren ihrer kräftigsten Jugend sich zerstreuen und jam¬
mervoll untergehen sehen. Wenn trotz so vieler Prüfungen und
Täuschungen die Auswanderungen noch nicht aufgehört haben, wenn
täglich neue Schaaren sich anschicken, die Verlornen Spuren ihrer
Vorgänger aufzusuchen, so liegt die Ursache, außer in mannig¬
fachen religiös-politischen Verhältnissen, deren Besprechung uns
hier zu weit abwärts führen würde, besonders in den unvermeid¬
lichen Folgen der fast überall eingetretenen Uebervöllcnmg, welche
nach außen hin sich Luft machen muß. ES ist also die Emigration
eine Nothwendigkeit unserer Zeit geworden, welche eben darum
eine höhere Fürsorge erheischt; sie ist eine neue Bewegung deö ge¬
sellschaftlichen Körpers, welche aber, wenn sie ihren Zweck erreichen
soll, geregelten und bestimmten Gesetzen unterworfen werden muß.
Es reicht über die Grenzen dieses Aussatzes und aufrichtig gestan¬
den, auch über die persönliche Befähigung des Verfassers hinaus,
diese Gesetze hier zu formuliren und hinzustellen, so wie dies über¬
haupt eine der schwierigsten Aufgaben unsrer Zeit sein möchte.
Aber wenn man das Ziel sich klar macht, das man mit den Emi¬
grationen erreichen will, so müssen die Gesetze derselben dem Geiste
einigermaßen vorschweben. Die Auswanderungen sollen, nach meiner
unmaßgeblichen Ansicht aber, einen doppelten Zweck erreiche». Sie
sollen zugleich den Ländern, von denen sie ausgehen und denen, wo
sie hin kommen, nützen, indem sie zwischen beiden Beziehungen an¬
knüpfen welche den Bedürfnissen eines jeden derselben entsprechen.
Beide Länder müssen daher durch neue Handels-Combinationen
mit einander verbunden und es muß auf der Basis ihrer gegensei¬
tigen Producte eine regelmäßige Bewegung von Beziehungen und
Austauschen in den Gang gebracht werden. Vor Allem aber muß
das Paterland der Auswanderer dafür sorgen, daß, indem es die


38 »
[]

Kinder, denen eS selbst ein Unterkommen zu verschaffen nicht ver-
mocht, in die Fremde sich zerstreuen läßt, es dennoch auch in der
Ferne sie noch unter seinem schützenden Fittich hält und daß diese
ihrerseits ihm dafür einen thätigen Dank abstatten können. Man
begreift aber leicht, daß so wie dieses letztere von der Lage und
dem Wohlstande der Auswanderer in ihrem neuen Wohnorte ab¬
hängt, diese selbst wieder im innigen Zusammenhange mit der
Kraft des Staats- und Arbeits-Organismus stehen, dem sie ein¬
verleibt worden sind. Diese und ähnliche Ideen haben offenbar
den Begründern eines Vereins vorgeschwebt, welcher sich unter dem
Namen Belgische Colvnisations-Compagnie constituirt und die Ge¬
nehmigung der Brüsseler Regierung für sich und seine Statuten
erhalten hat. An der Spitze der Compagnie stehen als Meistbe-
theiligte und kräftig Mitwirkende eine Anzahl Männer von vor-
theilhaftem bekanntem Charakter, wie der Staatsminister GrafMerode,
Graf Hompesch, ein Deutscher, Graf Arrivabene, ein nicht unvor-
theilhaft bekannter Schriftsteller im Gebiete der ökonomischen Wissen¬
schaften, und andere mehr. Die Compagnie hat ihr Augenmerk
zunächst auf den, District der Bai von Santo Thomas in der
Republik Guatemala in Central-Amerika gerichtet, der ihr unter
ziemlich günstigen Bedingungen abgetreten worden war. Hier be¬
fand sie sich auf einem Terrain, das noch jungfräulich, noch nicht
von mannigfach verwickelten Interessen eingenommen war. Hier
konnte sie also eine innere Einrichtung ganz nach ihrem Belieben
treffen. Und dies bezweckt sie auch. Von Herrn Louis Obere,
einem scharfsinnigen, erfahrenen Mann ist eine geistreiche Combina¬
tion der verschiedenen Elemente, die zur Colonisation eines Landes
erforderlich sind, ausgesonnen worden, welche alle betheiligten In¬
teressen gleich sehr zufrieden zu stellen vermag und deren ausführ¬
licher Besprechung die folgenden Seiten gewidmet sein sollen. Bor¬
her wollen wir nur noch zur Geschichte dieses Unternehmens be¬
merken, daß von der Compagnie eine aus Sachkundigen bestehende
Comtssion, der auch die belgische Regierung einen Comissair beigegeben,
hatte, an Ort und Stelle geschickt worden war. Die Untersuchun¬
gen, welche diese Compagnie anstellen sollte, betrafen die wichtigen
Punkte über Salubrität, Lage und Fruchtbarkeit des Landes, über,
dessen Producte und über die Möglichkeit, einen Tauschhandel zwi-


[]

schen den industriellen Fabricaten Belgiens und Europas einer —
und den rohen Naturerzeugnissen Central. Amerikas andrerseits
herzustellen, kurz über Alles, waS für den Zweck der Compagnie
„landwirthschaftliche, gewerbliche und ackerbauende Niederlassungen
zu begründen," von Wichtigkeit war. Diese Untersuchungs-Com¬
mission ist vor einigen Monaten zurückgekehrt und ihre seitdem ver¬
öffentlichten Berichte sind der Gegenstand einer gründlichen und
ernsthaften Besprechung nicht allein in belgischen, sondern auch in
deutschen Blättern gewordenOhne hier weiter auf dieselben
einzugehen, wollen wir nur bemerken, daß dieses ganze Unterneh¬
men von aller Spekulation auf unmittelbaren Geldgewinn durch
Verkauf von Ländereien weit entfernt ist. Im Gegentheil tritt
die sociale und menschheitliche Absicht der Compagnie deutlich her¬
vor durch das, was auch in anderer Beziehung ihre hervorstechendste,
beachtenswertheste Eigenthümlichkeit ist, durch die in ihren Regle¬
ments enthaltenen Anordnungen und neuen Mittel nämlich, vermöge
deren sie in dieser Kolonie, wo Nichts ihr hemmend entgegentritt,
eine neue Organisation der Arbeit begründen null.


Sehr weise hat hier die Compagnie daran gehandelt, daß sie
von vorn herein ihren praktischen Zweck fest im Auge haltend,
alle jene Ansprüche auf social-philosophische Bedeutsamkeit bei Seite
gelassen hat, mit denen bisher diese Frage über Organisation der
Arbeit gewöhnlich aufgetreten ist. Sie hat keinem System seine



[]

dogmatischen Formeln, keiner Schule ihre neue Terminologie entlehnt.
Sie hat all daS schwereGepäck des Socialismus hinter sich gelassen,
das doch zu Nichts weiter dient, als den Mangel an Ideen hinter
einem Purpurmantel hochtrabender Floskeln zu verbergen. Was
sollte sie auch mit diesem unnützen Wortaufwand machen, der eben
nur für die excentrischen Neuerer gut ist? Da sie Sitten und Ge¬
setze, Einrichtungen und Gebräuche unverändert so annahm, wie
sie dieselben vorfand, so mußte sie nothwendigerweise auch den Geist
und die Sprache derselben beibehalten. Sie ist von der Theorie
zu den Thatsachen übergegangen und sucht, indem sie sich mitten
auf den Markt des Geschäftölebenö stellt, das Verdienst ihrer Ideen
nur in deren praktischem Werthe. Nur Eins hat sie den ihr vor¬
angegangenen Systemen entlehnt, nämlich das Wort Association,
das ja eigentlich so alt als die bürgerliche Gesellschaft und dessen
Bedeutsamkeit allgemein anerkannt ist, ob zwar es bisher noch Nie¬
manden hat gelingen wollen, eS vernünftig anzuwenden. Wir wollen
nun betrachten, was in dem neuen uns vorliegenden Plane daraus
geworden ist.


Die Compagnie verbindet zu einer Gesellschaft mit einander
die drei Elemente des Grundbesitzes, des Kapitals und der Arbeit,
aber nur in den neuen Ländern, wo sie ihre Niederlassungen be¬
gründen will, weil dort keines jener unbesiegbaren und zahlreichen
Hindernisse der Verbindung entgegentritt, welche schon bestehende
gesellschaftliche Verhältnisse ihr in den Weg legen und weil man
dort, ohne bei jedem Schritt ängstlich auf alle Umgebungen ach¬
ten zu müssen, neuen Combinationen sich überlassen kann. Die
drei Mitglieder der Association liefern jedes eine ihm zugehörende
Einlage; der Grundbesitz, die Gründer der Compagnie, giebt die
von ihm erworbene Landstrecke her; das Kapital, die Mctionaire,
welche größere oder geringere Loose an sich bringen, giebt die Mit¬
tel zur Ausbeutung der Ländereien; die Arbeit endlich, die von der
Compagnie einzuführenden Colonisten, liefert ihren Beitrag, indem
sie die Bebauung der Ländereien übernimmt.


Der Fond der Gesellschaft, sowohl an beweglichem als an un¬
beweglichem Besitz, bleibt während der Dauer der ihn ausbeuten¬
den Gemeinde — die Association nimmt nämlich den Namen Oommu-
»ant«- tlo t'lluwu an — unveräußerlich. Der aus der Exploitation


[]

erwachsende Gewinn, — denn die Compagnie wird nicht allein land-
wirthschaftliche, sondern auch industrielle und Handels-Niederlassung
gen innerhalb der Gemeinde anlegen —, wird in drei gleiche Th^t?
zertheilt, die den Drei die Gesellschaft bildenden Hauptelementen
zufallen. Eine zweite Vertheilung dieses Gewinnes geschieht inner¬
halb der drei Kategorien unter die ihnen Angehörenden und zwar
erhalten die einzelnen Individuen einen ihrem Eingebrachten ent¬
sprechenden Antheil. So werden die Rechte der Grundbesitzer und
Kapitalisten, in ihren respectiven Classen, nach der Anzahl der
ihnen gehörenden Besitztitcl geordnet; für die der Arbeiter dagegen
ist als Maßstab ihr Tagelohn angenommen, der, indem er die
Summe und den Verdienst ihrer Arbeiten angiebt, zugleich die Be¬
deutsamkeit ihrer Einlage in die Association anzeigt.


Diese Eintheilung des Gewinnes, die so einfach und natürlich
ist, daß man erstaunt, ihr hier zum ersten Male zu begegnen, hat
das wesentliche Verdienst, daß sie alle Verwirrung bei einem Ge¬
genstand vermeidet, der ihrer voll ist und daß sie die wirkliche ge¬
genseitige Bedeutung des Grundbesitzes, des Kapitals und der Ar¬
beit klar feststellt. Besonders tritt dieses Verdienst in Bezug auf
die Arbeit hervor. (Wir nehmen hier, wie an andern Stellen die¬
ses Aufsatzes, das Wort Arbeit in seiner umfassendsten Bedeutung).


Bisher fehlte es für dieselbe an einem genauen Maßstabe, so
daß man sie nie nach ihrem wahren Werth, sondern immer ent¬
weder zu hoch oder zu niedrig anschlug. Das beste Mittel, sie
billig zu schätzen, besteht aber darin, daß man sie einer Stufenleiter
unterwirft, welche nach dem Verhältniß deS Grades der Arbeit auch
die Grade der Belohnung bestimmt. Diese Art und Weise nun
findet sich deutlich in der Bestimmung der Compagnie, wonach der
Antheil am Gewinn mit dem Tagelohne des Arbeiters steigt oder
fällt. Man sieht es wohl leicht ein, daß hier mit Hinweglassung
der in ihrer Allgemeinheit unklaren, hochtrabenden Phrasen die
berühmte an der Spitze des Se. Simonistischen Glaubensbekennt¬
nisses stehende Formel: Einem Jeden nach seiner Fähig¬
keit, einer jeden Fähigkeit nach ihren Werken, die im
Grunde freilich nur eine der wesentlichsten und darum allgemein-
giltigsten Formeln der menschlichen Gerechtigkeit ist, ihre praktische
Anwendung gefunden hat. Wir glauben, daß dieser Punkt der


[]

hervorragendste und interessanteste der neuen Organisation derselben
den allgemeinsten Beifall sichern wird; denn sie wird dadurch, ob¬
gleich ein Fortschritt im Geiste moderner Ideen, doch auch den
vernünftigen Freunden der bestehenden Ordnung annehmbar. Es
hat hier wieder ein Mal ein bei materiellen Dingen häufig ein¬
tretender Fall Statt gefunden. Alle Welt sah die Bedeutsamkeit
eines Principes voraus, aber man suchte vergebens nach einer
mechanischen Combination, um es in Gang zu bringen, bis man
endlich fand, daß es hiezu nur einer ganz einfachen Vervollkomm¬
nung bedürfe.


Nachdem die Compagnie diese Gemeinschaft der Interessen be¬
gründet, und die Rechte der Mitglieder dieser Association bestimmt
hat, setzt sie für die arbeitenden Classen auch noch Belohnungen
für einzelne Fälle aus, bewilligt sie ihnen besondere Gunstbezeugun¬
gen, die als neuer Sporn dienen sollen. Außerhalb dem Landge¬
btete der Gemeinde werden ihnen nämlich bestimmte Landstrecken
gegeben, entweder wenn ein Arbeiter einen längeren Zeitraum (1t)
bis 20 Jahre) als solcher in der Gemeinde verblieben ist, oder bei
seiner Verheirathung innerhalb derselben, oder endlich bet der Ge¬
burt von Kindern aus seiner Ehe. So wird der Arbeiter, außer
seinem Tagelohn und seinem Antheil am Reinertrage der Gemeinde,
noch persönlich Eigenthümer von Grund und Boden und mit den
wachsenden Lasten einer zahlreich werdenden Familie sieht er hier
auch seinen Wohlstand zunehmen. Nun ist er in allen nützlichen
Theilen des gesellschaftlichen Lebens selbst und unmittelbar betheiligt;
er steht innerhalb irgend einer Industrie, ist selbst Besitzer von Land
und Familienvater; diese dreifache Stellung macht ihn moralisch
besser und macht ihn geneigter, die Interessen dieser drei Gesellschafts¬
kategorien zu vertheidigen, weil er selbst einen Platz innerhalb der¬
selben hat. Unruhen und Unordnungen können fortan durchaus von
keinem Gewinne für ihn sein, wie sie auch bisher eigentlich den
Arbeitern nie genützt haben. Denn, wenn er auch vielleicht in Folge
des durch eine Revolution herbeigeführten Plätzewechsels auf der ei¬
nen Seite Etwas gewinnen könnte, so könnte er doch andrerseits
das verlieren, was er Liebstes besitzt, nämlich den Erwerb langjäh¬
riger Arbeit, den ein Jeder so gern bewahrt und so heiß vertheidigt,
weil es eben mit manchen Schmerzen und langer Ausdauer erkauft


[]

werden mußte. Freilich glauben wir nicht etwa, daß in dieser neuen
Colonie sich unter den Arbeitern keine menschlichen Leidenschaften
mehr regen werden. Da aber die Unruhen und Stürme, welche sie
heraufzubeschwören vermögen, nicht mehr in den wirklichen Ursachen
trauriger, erbitternder Noth ihre Begründung finden werden, so wird
man einerseits sie leichter beruhigen können und wird sich andrerseits
bei ihrer Bekämpfung nicht den Anklagen der Theilnahmlostgkeit
und Härte ausgesetzt sehen, weil man leicht wird darthun können,
daß die Feindseligkeit eine ungerechte und darum verbrecherischeist.


Da verschwindet zum Theil wenigstens das schroffe Gegenüber¬
stehen des Grundbesitzers, des Kapitalisten und deö Arbeiters. Der
Spielraum, den die Combination dieser drei Elemente bedürfte, ist
gefunden, ihre gegenseitige Bedeutung ist geordnet, einem jeden sein
Theil zugewiesen. Wie aber, durch welche gemeinsamen oder zer¬
theilten Anstrengungen soll dieses Resultat erreicht werden; wie sol¬
len die Arbeiten materiell organisirt werden? Wollte die Compagnie,
da sie das Princip der Verschmelzung der Interessen angenommen
hatte, ihrem Werke Einheit verleihen, so mußte sie in verstandeSge-
mäßer Folgerichtigkeit, auch zur Verschmelzung der Mittel, zur Ge->
meinschaftlichkeit der Arbeit sich verstehen. Es ist diese Art und
Weise übrigens bei Gründung von Colonien die einzig praktische;
nur die durch die Concentrirung erlangte Vervielfachung der Kräfte
kann zu den großen Arbeiten ausreichen, welche die Folge der An¬
legung einer Colonie sind und für welche die beschränkten Mittel
vereinzelter Individuen durchaus unzulänglich sind. Das Anlegen
von Straßen und Canälen, das Eindämmen von Strömen, das Ur¬
barmachen großer Urwälder, kurz alle für das Wohl einer großen
Gemeinschaft und für die Zukunft berechneten Unternehmungen ge¬
hören ausschließlich der Collectivarbeit ein. Denn um solche Bauten
und dergleichen durchzusetzen, bedarf es einer einigen Leitung, welche
über große Kräfte verfügt und nach den Bedürfnissen von Ort und
Zeit die ihr zu Gebote stehenden Hilfsmittel combintrt, zusammen¬
hält und vertheilt. Es ist dies eine Wahrheit, welche durch die
Erfahrung aller Gesellschaften, die nur im Verhältniß ihrer Cen¬
tralisation groß geworden sind, mehr als hinlänglich erwiesen ist.


Was aber von allen gesellschaftlichen Vereinen (auch dieses
Wort nehmen wir in seinem weitesten Umfang, wo es mit dem Be-


[]

griff deS Staates zusammenfällt) bisher unterlassen worden, das ist
eine enge Verbindung des Interesses derjenigen, welche durch ihre
persönlichen Anstrengungen die großen materiellen Arbeiten auszu¬
führen haben, mit den Resultaten dieser Arbeiten selbst. Im Gegen¬
theil haben diese Arbeiter bisher fast nie den Nutzen, wenigstens
nicht ihren persönlichen, an solchen Unternehmungen einsehen können
und haben daher auch nicht mit jenem Eifer dafür sich bemüht, den
eben nur das Bewußtsein einer persönlichen Betheiligung erregt.
Noch fühlbarer wird der Nachtheil dieser Abtrennung des Arbeiters,
wenn er aus dem Kreise der Unternehmungen für das Gemeinwohl
heraustritt und wenn sein Privatinteresse dem eben so schroff
isolirten des Producenten, sei es nun in landwirthschaftlicher oder
in gewerblicher Beziehung, gegenüber steht. Dann interesstrt den
Arbeiter nur noch die Frage über die Höhe deS TagclohnS; an das
Gedeihen oder Zugrundegehen der Fabrik oder der Pachtung liegt
ihm so wenig und er steht ihnen so fern, daß er sie sogar in den
Tagen seines Zornes plündert oder verbrennt. Wo aber eine auf
Gemeinschaft der Interessen zwischen den Arbeitern einer- und den
Grundbesitzern und Kapitalisten andrerseits beruhende Cvllectivarbeit
eintritt, da stellt sich auch sofort jene enge Verbindung heraus,
wodurch die Sicherheit des Einen der Eristenz des Andern und die
Macht des Ganzen der Wirksamkeit der einzelnen Theile unterge¬
ordnet ist. Es ist also die Association nicht blos den Arbeitern
nützlich, — denn in diesem Falle würde ihr Nutzen und sie selbst
bald aufhören, — sondern allen Gliedern, aus denen sie besteht.
Der Capitalist und der Grundeigenthümer finden darin eine Bürg¬
schaft für das ruhige Bestehen ihres Besitzes, indem sie nicht länger
für die Arbeiter ein Gegenstand feindlichen Neides sind. Zugleich
aber, — und dies ist bei ökonomischen Untersuchungen ein Haupt¬
punkt — wird die Gesammtkraft der Produktion dadurch zu einer
höheren Entwickelung befähigt, indem sie an der intelligenten Thä¬
tigkeit des Arbeiters, der sich ihr nun, da er am Erfolg betheiligt
ist, ganz widmet, ein neues befruchtendes Element erhält. Diese
natürliche Wirkung der Association macht sich aber eben so gut, als
in industriellen Unternehmungen, auch beim Ackerbau geltend. Denn,
wenn auch mit Verschiedenheiten in der Anwendung, immer ist doch
Capital oder Grundbesitz der Arbeit gegenüber gestellt und immer


[]

kommt es auf ihre Einigkeit an. Die Einkünfte eines Grundeigen-
thümers und der Gewinn eines Fabrikherrn hängen gleich sehr von
dem Verdienst und dem Eifer der Arbeiter ab und diese Eigenschaf¬
ten wiederum stehen im geraden Verhältniß zu den Banden, welche
den Arbeiter an das Grundstück oder die Werkstätte knüpfen. In
beiden Beziehungen wird sich zeigen, daß die Association, weil sie
den Arbeiter bei der Sache betheiligt, also seinen Wetteifer anregt,
die fruchtbringendste Combination ist. Denn sie beruht auf der auch
in den Gesetzgebungen der civilistrten Nationen geltenden psycholo¬
gischen Erfahrung, daß das Interesse an einer Handlung
der beste Maßstab für die Theilnahme daran ist.


[]

Ha «»bürg nach dem Brande.



Es ist nicht immer traurig auf Trümmern wandeln, unter
Ruinen träumen, die gesunkene Herrlichkeit der Erde hat auch
ihre helle Lichtseite. Es liegt ein tiefer Trost in der Vergänglichkeit
der Dinge, eine tiefe Poesie im Sturz der Palläste, im Fall der
Tempel, im Vergehen und Verwehen der Menschenwerke. Es ist
der Trost des Erhabenen, die Poesie des Unvergänglichen, die sich
wie ein innerster Kern aus der zerbrochenen Schale löset.


In diesem Wiederaufbaun, in diesem Erneuern, welch ein Trotz,
welch ein Kampf gegen die Macht deS großen Flusses, in dem
Alles strömt, Alles fließt, untergeht und auftaucht, zu Grabe geht
und wieder zu Tage kommt, sterbend hinwelkt, um blühend wieder
geboren zu werden. Es ist die große Wanderschaft der Idee, die
auch dem kalten Stein die Spur ihres Riesenschrittes einprägt; eS
ist der Schritt der großen Weltseele, der über die Gräber von
Memphis streift, durch die Urwälder am Missisippi rauscht. Ueber
Schutthaufen und Trümmern das glänzende Wolkenheer des Mor¬
genhimmels; über Aschen und Schlacken — die funkelnden Stern¬
bilder der blauen Nacht. Es ist nicht traurig unter Ruinen wan¬
deln; waS wäre die Welt ohne sie?


Wie einst Aeneas auf seinen Schultern AnchyseS und die
Hausgötter aus Trojas Flammen rettete, und mit Priam's blühender


[]

Tochter und ASkanius vom Berge Jda steigend, das ionische Meer
durchschiffte und im ladinischen Reich den Baustein zur römischen
Herrlichkeit zusammentrug, so wird auch dieser ungeheure Brand
ein Wendepunkt in der Geschichte der alten Hansastadt werden und
das Urgesetz vom ewig Neuen erhärten, das sich im Kleinen wie
im Großen kund giebt, an Menschen und Städten.


Das Leben in der großen Brand- und Baustätte erwacht täg¬
lich mehr, gießt sich in immer neue Formen; bald wird eS wieder
kräftig und eilend an diesen Stätten vorüberrauschen, aus denen
jetzt noch das Grauen und die Einsamkeit des Erstorbenen hervor¬
starrt. Bald werden diese Mauern, denen der erste Schnee des
Winters die letzte Spur der heißen Gluth genommen, wieder Alt
und Jung umschließen, Freud und Leid, Jubel und Klage; bald wird
wieder dieser Eingang, von dem nur noch wenig Stufen in die
leeren Räume ausgebrannter Wohnungen führen, zum Prunkgemach
und zur Dachkammer leiten; die Menschen werden wieder über und
neben einander wohnen, Tod und Leben werden sich wieder die
Hand zum Aus- und Eingehen reichen; der Bettler wird wieder
auf der Schwelle des Reichen kauern und das Toben der großen
Stadt wird wieder zu den neuen, hohen Dächern dringen. Statt
der krummen, engen Straßen wird der Fremde sich heimisch fühlen
in geraden, breiten Gängen, und die Söhne der Heimath werden
fremd sein in der eignen Vaterstadt. Der gerade Weg der beste,
das scheint der Grundsatz zu sein, nach welchem der Plan der
neuen Stadt angelegt und ausgeführt wird, und wo er nicht durch¬
geführt werden kann, darf man sich damit trösten, daß die gerade
Linie nicht immer die Schönheitslinie ist. Die Stadt wird sehr
schön werden. Noch nimmt die Enttrümmerung einen großen Theil
der Arbeit in Anspruch; der Schuttwage» knarrt noch von früh
bis spät, die mächtigen Taue reißen noch immer ein, nach und
nach treten die Grundlinien der Häuser nackt hervor, und was das
Feuer übrig ließ, das entmörtelt das Brecheisen. Die kleinen Fähn¬
lein an den Bau- und Richtstangen, die anfangs roth und weiß
waren, verbleichen im Sonnenlicht und Regen, aber hie und da
rankt sich die rothe Mauer schon kühn über sie empor; Häuser wer¬
den gerichtet und der Mauerkranz grünt im hohen Dachstuhl.
Möchte Freud' und Fried' in Menge unter den neuen Dächern wohnen,


[]

Größe und Einheit und Klarheit am neuen Herd, daß sich kein
böser Geist über die junge Schwelle schleiche!


Die beiden Niesentrümmer harren der neuen Zeit; die Hände
scheinen sich vor ihrer Berührung zu fürchten; wehmüthig ruht das
Auge auf den stummen Tempelresten, über deren offne Wunden die
Stürme hinbrauscn; auf die die Wolken herabweinen. An der
mächtigen Galerie des Nicolai Thurms (sie ist nicht wie Schleiden
sagt, von Holz, sondern von Sandstein) zaust der Wind,
und wirft von Zeit zu Zeit einen Steinblock herab; unheimlich
glitzern in der Abendsonne die spärlichen Neste der Kirchenfenster
im halbgeschmolzenen Gitter; zwischen den wehenden Kupferfetzen,
die wie röthliche Lappen — die Neste der Thurmbedcckung — über
die Galerie hin und her schwanken, reckt sich der offne Rachen der
Gießrinnen biegend hernieder, als lechzten sie nach Kühlung; der
Vollmond zeichnet grell die hohen gothischen Fensterbogen und Ge¬
wölbe auf den düstern Mauergrunv. An der Westseite zieht sich
ein schmaler, bandartiger Streifen von der obersten Brüstung bis aus
die Grundmauer herab, er bezeichnet den Platz, an welchem der Blitz¬
ableiter befestigt war, der in der Gluth abschmolz. Auf der äußer¬
sten Spitze des Mittelstücks steht ein einzelner Pfeiler von der steiner¬
nen Galerie; in der Dämmerung ist's, als wäre es eine Schilowache,
die dort einsam herabspäht, die eisernen Klammern scheinen müde
die bauchigten Mauern noch länger zusammenzuhalten; die Giebel
der Seitenkirchen drohen umzuknicken, und der oberste Mauerkranz lugt
mit seinen offnen Fenstern so sterbemüde und gramschwer herab, daß
man ihm anzusehen glaubt, wie sehnsüchtig er den Einsturz herbei¬
wünscht. Der Gedanke, daß diese Kirche bis auf den Boden abge¬
tragen werden muß, zieht das Auge immer wieder auf sie zurück;
sie ist massiver und schwerer in allen ihren Formen, gedrängter und
gedrückter in ihren Bögen, als die Petrikirche, aber sie ist eben so
kolossal und hat in ihrer Unbeholfenheit etwas tief Ergreifendes,
in ihrer moralischen Hinfälligkeit mehr Furchteinflößendes als jene,
die sich besser zum Malen und Beschreiben eignet. Sie scheint das
Mitleid zu verachten und die Hilfe zu verschmähen, die jener geboten
wird; es ist, als fühlte sie's, daß vielleicht an ihrer Stätte fromme
Hände zum letzten Mal zusammenlagen, daß vielleicht hinfort das
profane Leben über Altäre und Heiligenbilder siegen wird. Kein
christlicher Segen hinfort, keine Seelenbeichte, keine fromme Klage,
keine knieende Demuth mehr; statt der Orgeltöne schrille die ferne
Dampfpfeife durch die offnen Fenster, statt des Gesanges andächtiger
Gemeinde das Aechzen rollender Steine, das Dröhnen seufzender
Gräber; statt Himmelfahrt und Frohnleichnamsfest — lustige Erden¬
fahrten und fröhliche Leichnamseste. Wer weiß, ob nicht nach hun^-
dert Jahren an der Stätte des Gotteshauses ein witziger Gesell


[]

seinen Zechbrüdern erzählt, hier habe ein Mal ein Tempel gestanden,
an derselben Stelle habe ein Mal ein Priester gedroht mit Gottes
Zorn; da, wo Tanz und Jubel, habe einst eine büßende Seele in
Sack und Asche getrauert. Wer weiß, ob nicht, wo jetzt die Ge¬
beine modern, bald Rosen glühen und das Leben lacht; auf den
Schlacken der geschmolzenen Glocken — der Schmelz von Jugend
und Schönheit! — Noch röchelt das Echo seufzender gestorbener
Menschen durch diese Mauern, noch weht es den einsam nächtigen
Wandrer an wie Leichenduft und Brandgeruch; noch heben sich
zwischen den Trümmern — die Geister der entsetzlich Gefallenen —
nächtlich zwischen den, Nebeln, und die Wehklage winselt zu den
Sternen; Ohnmacht und Grauen wankt in den hohlen Tiefen;
bald ist keine Spur mehr von den Tagen des Schreckens, und das
Gedächtniß löscht eine Jammerknnde nach der andern von ihrer
Tafel. Wie viel Gedanken, Bilder und Erinnerungen gehen mit
einer Generation zu Grabe! Die Enkel streifen nur flüchtig am
Sarge ihrer Ahnen vorüber. — Stürze dich immerhin in dein
eignes gährendes Grab, du alter Frömmling aus Backsteinen; sie
werden' deiner noch lange gedenken und vielleicht kommen ihnen
Stunden der Wehmuth, in denen sie das Auge zu dir erheben, und
statt deiner Nichts sehen, als den kahlen Himmel; dann weinen sie
dir nach und sprechen eine moderne Elegie statt des Rosenkranzes.
Die Zeiten sind nicht mehr, da tausend Hände mühsam Steinchen
auf Steinchen häuften, beharrlich von nah und fern herbeischleppten
und für Ewigkeiten fest kitteten; heute muß Alles aufschießen, wach¬
sen in Einer Nacht, in Einem Nu; heute gießen wir eine Kirche
aus Eisen, Tempel aus einem Guß. Der alte Geist ist hinwegge¬
schmolzen, und der junge fließt wie klingende Glockenspeise im Feuer
einer großen schönen Sonne. Und am Ende wozu so hohe Thürme,
in einer ^eit der Nivellirung? Er hat seine Frist dahin, sein Leben
gelebt; laßt die Todten ruhn. Diesem alten müden Giganten steht
der letzte Schritt noch bevor. Bis jetzt hat man noch, nicht wie
auf dem Petrithurm seine Höhe erreichen können, fast scheint es,
keines Menschen Fuß werde dort oben je mehr Raum finden, keines
Sterblichen Auge von dort oben über die durstende Stadt
hinaus in die lachenden Fluren des leise rauschenden Elbstro-
nics spähen. Es würde Nichts besser in den Schlußact des großen
Dramas passen, das der alte Thurm selbst aufführt, als wenn er
den zagenden Händen der Menschen zuvorkäme und in einer Stur¬
mesnacht zusammenstürzte. Ich glaube fast, er thut's, denn gräm¬
licher und lebenssatter blickte nie ein lebendiger Stein.


Note: Georg Schirges.

[]

T a g e b u es.



Notizen.


Der wackere Eomponist des Nachtlager zu Granada, der in den letzten
zwei Jahren städtischer Capellmeister in Cöln war, ist nach Paris übersiedelt,
um dort — wie die kölnische Zeitung sich wohlwollend ausdrückt, das einzige
noch zu finden, was ihm bisher noch fehlte, nämlich einen erheblichen und
accredititcn Ausgangspunkt für seine dramarischen Tondichtungen, von welchem
aus, gleichsam nach bestandener Feuerprobe, sie sich nach fallen Seite» hin
schnell und erfolgreich verbreiten können- Die cölnische Zeitung , die sonst die
deutsche Nationalität mit vielem, oftmals sogar mit sehr weit ausgedehntem
Eifer vertheidigt, läßt sich diesmal offenbar durch Wohlwollen verleiten, aus
ihrer Rolle zu fallen. So arg steht es nicht in Deutschland, daß ein deutscher
Tondichter von Ruf genöthigt ist, wie ein schwäbischer Häusler auszuwandern.
Es ist nicht wahr, daß Creuzer in Paris Auswege für sein Talent suchen muß.
Um nur das jüngste Beispiel anzuführen, hat Lortzing —dem nicht so günstige
Mittel zu Gebote standen als Creutzer, nöthig gehabt, nach Paris zu ziehen?
Conradin Creuzer hatte mehr als eine Gelegenheit in Händen, „nach bestan¬
dener Feuerprobe seine Tondichtungen nach allen Seiten hin zu verbreiten." Er
war Kapellmeister im Kärnthnerthor-Theater in Wien, und alle Welt weiß,
daß von dort aus, wenn ein Tomvcrk nur Halbweg Lebenskraft besitzt, es am
leichtesten den Weg durch ganz Deutschland macht. Die wahre Ursache ist —
daß Creutzer von jenem unstäten Wandergeist besessen ist, der ihn wie man¬
chen Schauspieler nicht lange auf einem Punkte läßt, selbst bei den günstigsten
Umständen. Zudem ist Creutzer durchaus mehr Lieder- als dramatischer Kom¬
ponist. — Weil er sein Talent verkennt, verkennt er auch Deutschland und wir
fürchten — er verkennt auch Paris! —


— Was nützen uns all die schönen Deklamationen gegen die Uebersetzungen
französischer Stücke, mit welchen unsere Bühnen überschwc'und.sind ? Die Thea-
terdirektorcn in ihren undurchdringlichen Häuten kümmern sich sehr wenig darum
und leider müssen wir es sagen,, sie haben die Lacher auf ihrer Seite, das
Publikum nimmt Parthie für sie. Wie wäre es sonst möglich, daß z. B. in
diesem Augenblick zwei verschiedene Uebersetzungen von Scribe's Lustspielen zu
gleicher Zeit erschienen ? die eine in Stuttgart, die andere in Wien. Die Stutt¬
garter Uebersetzung ist im großen Vortheil gegen die Wiener, weil sie Alles,
sagen kann, was im Originale steht — was die Wiener Eensurverhältnisse nicht
gestatten. Herr Dralle, der Uebersetzer der Stuttgarter Ausgabe, hat dieselbe
dem dortigen Oberregisseur Moriz gewidmet. Französische Uebersetzungen einem
deutschen Regisseur zu widmen ist eine beißende Satyre auf unsere Theaterver-
hältnisse, trotz der hübschen Widmungsworte, die Herr Dralle dazu geschrieben hat.
— Gutzkow's „Werner" ist, in's Böhmische übersetzt, auf dem prager
Theater zur Aufführung gekommen. Ob Gutzkow wohl den Titel seines eignen
Stückes aussprechen kann? Er heißt: „8race a «>v6t sust, Mlenlcit s,
M^niivIKa."


— Ein ehemaliger Unterpräftlt eines Departements und Schriftsteller im
Gebiete des Romans, Hippolyte Lormelier wird jetzt Schauspieler am »eeonck
tkäutro tranoais.



[]
[]

z<


[]
[]

Appendix A

Notes
1
*> Unterkiefer Rubrik werden die Grenzboten eine Reihe von Charakte¬
ristiken unserer bedeutendsten Zeitgenosse» dem Leser vorführen.
2
*) Auf dem Gute eines Freundes, dessen Schwägerin er heirathete, in
Bruckbcrg bei Ansbach.
3
") Im Athenäum für Wissenschaft, Kunst und Leben. Nürnberg, März
1839. püx. 52.
4
' *) Die erstere ist mit einer Gcwrrbs- lind Bergschule, die andere mir
einer Civilgemeschule verbunden.
5
*) Prag. Kronücvger und Riwnac. 1842.
6
*) Vergleiche: I^of vt-ij>t-s illustres, viuxelles. 6,
7
*) Ilistoirs lin I^o^anas <Ich I^s-Vas -lexnis 1814 jus<in'su I83V
x-er 15. V. as (ZerweKo 3 Vol. I<!clition aiigmentve et eoirigLS 1842. Der
Verfasser dieses Werkes gehört zu den Reigen- und Stimmführern der katholi¬
schen Partei Belgiens. Als Mitglied der Generalstaaten des früheren König¬
reichs der Niederlande war er einer der Vorkämpfer der katholisch-liberalen
Opposition: nach der Revolution war er Präsident des belgischen National-
congrcsses und der Deputation, welche dem jetzigen König die Krone überreichte:
später dann eine Zeitlang Präsident der Deputirtenkammer. Jetzt ist er erster
Präsident des Cassationshofes und beschäftigt sich viel mit nationalhistorischen
Studien, wie er auch Vorstand der Geschichts-Commission Belgiens ist. Sein
Werk ist besonders wichtig wegen der vielen bisher unbenützten Urkunden und
andern Quellen und wegen der zahlreichen I-iöcss lustiticativvs, die der 3teBd.
enthält und die meist erst in der 2ten, gänzlich umgearbeiteten Auflage hinzu¬
gekommen sind. Die hier mitgetheilten Stellen sind dem ersten Bande entlehnt,
dessen größter Theil einleitend die Geschichte der Niederlande bis 1314 erzählt.
8
*) Die belgischen Schriftsteller sind in Bezug auf diesen Punkt so ein¬
stimmig, daß es unmöglich ist, ihr Zeugniß zurückzuweisen; die Spanier im
Gegentheil behaupten, daß er sich, besonders gegen die Adligen, sehr leutselig
benahm, indem er sich gern in ihre Feste und Tourniere mischte, die für einen
solchen Neuling in ritterlichen Uebungen, wie er es war, zuweilen sehr ge¬
fährlich abliefen. Bei dieser Gelegenheit erzählt Sepulveda (of rebu» gestis
Vs-roli ^uinti) ein trauriges Abenteuer, das ihm in einem öffentlichen Lan-
zcnbrechen in Brüssel zustieß. Da er, von Kopf bis auf die Füße bewaffnet,
gegen Louis Zuniga von Requcsens, einen seiner vertrautesten Freunde, eine
Lanze rennen wollte, erhielt er einen so heftigen Stoß an den Kopf, daß er
halb todt von seinem Pferde auf den Boden sank. Man trug ihn fort, ehe
9
er wieder zur Besinnung gekommen war. Karl V. von diesem Borfall beun¬
ruhigt, eilte, obgleich selbst krank, an das Bett seines Sohnes. Nachdem er
ihn mit milden Worte» ermuthigt hatte, sagte er lächelnd zu ihm. „Dachtest
Du, mein lieber Philipp, das) die Lanzen dieses Landes hier den spanischen
gleichen, welche zerbrechen, wenn man sie anrührt!" Man kann sich leicht
denken, daß dieser Vorfall nicht wenig dazu beitrug, den jungen Fürsten von
den militärischen Uebungen zu entfernen, gegen die er ohnedies) eine natür¬
liche Abneigung hatte. Sepulveda gesteht übrigens ein, daß während der
3 Jahre, die er in den Niederlanden verbrachte, er unaufhörlich von Spanien
sprach und sich dahin zurücksehnte.
10
Wir heutzutage würden freilich vorziehen, daß der Fürst die gesetzmä¬
ßigen Obrigkeiten handeln lasse; aber gerade dieser Zug malt den Charakter
Philipps, der durch Despotismus zur Gerechtigkeit kommen wollte und dessen
Auge und Ha»d sich überall fühlbar machen sollte».
11
*) Obgleich dieses Stück in dem schlechten, schwülstigen Geschmack jener Zeit
geschrieben ist, so theilen wir doch mehrere Stellen desselben mit, weil es ein
zeitgenössisches Zeugniß ablegt von dem Urtheil, das man damals in Belgien
über Philipp II. fällte, und we.it es, trotz der überladenen Sprache und des
schwerfälligen Styls und mancher rednerischen Uebertreibungen, doch viele sehr
richtige Bemerkungen über den Charakter und das Leben dieses Fürsten ent¬
Note: Anm. d. Verf. lt.
12
Wir unserer Seits haben dies Stück unsern Lesern um so weniger vor¬
enthalten zu dürfen geglaubt, da es überaus selten ist und in Deutschland bis¬
her gewiß nur sehr Wenigen bekannt war.
13
Wir geben diese, demselben Werke entlehnten Stellen über diesen
merkwürdigen Mann, der vierzig Jahre hindurch das Vertrauen des mi߬
trauischen Philipp II. besessen und der mit seinem Herrn das Schicksal einer
Darstellung mit sehr dunklen Farben theilt, gewissermaßen als Komplement '
zu der von Gerlache versuchten Zllustrirung Philipp's: auch für den Minister
spielt Gcrlache die Rolle des Advocaten.
14
') Siehe SiSclc vom ti. Juli.
15
*) Bei dieser Gelegenheit können wir nicht umhin, einer Aeußerung des regierenden
Königs von Preußen zu erwähnen, die derselbe gegen den König von Belgien bei
seinem letzten Aufenthalte in Brüssel in-lebte. „Mag man ein Partisan der Legiti¬
mität oder der Julidynastie sein, da« ausi man zugestehen, Frankreich besitzt einen
dieser hohen Mission gewachsenen Kronprinzen." Diese Aeußerung war uns schon
seit «ier Monaten bekannt; jetzt glauben wir sie, ohne Verdacht der Schmeichelei,
Note: Anm. d. Red. mittheilen zu können.
16
*) Es ist dies) und alles Folgende nicht etwa übertrieben, sondern buchstäb¬
lich w'ahr. Die Pariser Blätter berichten fast alltäglich Bestrafungen der
Epiciers, Fleischer, Bäcker u. s. w. um solcher wissenschaftlichen Experimente
Note: Anm. d. Verf. halber.
17
*) Da ich auch kein Chemiker von Profession bin, so will ich, falls sich
solche unter meinen Lesern finden sollten, dieselben hiermit gebeten haben, kleine
Verstöße gegen die wissenschaftliche Nomenclatur zu verzeihen.
18
*) Beim Tode des französischen Thronerben.
19
') Ostende nimmt mit jedem Jahre immer mehr >mi> mehr den Charakter einer
deutschen Badcstadr an. Ueber fünfhundert Deutsche fanden sich in diesem Sommer
hier versammelt. In dreißig Stunden bringt die Eisenbahn und die rauchende Kraft
der Dampfschiffe die Reisenden beancm und uncrniüdct von Frankfurt nach Ostrnde, von
der Mitte Deutschlands nach der Küste der Nordsee. Auch die deutsche Literatur fand
da ihre Vertreter. Aus dem Hafcndamm, der hier lang« dem Meeresufer sich hinzieht,
sah man in diesem Jahre einen Kreis v,n deutschen Männern, die eifrig-r als die übri¬
gen Badegäste von ihrem schönen Heimath»lande sich untcrlücltcn, von de» Schmerzen
»ut Freude» ihres Volkes, von dessen Fürsten, von dessen Dichtern, von seiner Zukunft
und seiner Vergangenheit. Der Zufall, der die Mcereswelle» znsammenbUst, hat hier
ans dem fremde» Boden ein Häuflein Menschen zusaumiengcwehr, die daheim zwar in
verschiedene» Kreisen sich bewegen, die aber dennoch einer gemeinschaftlichen Mutter an¬
gehören- der Literatur- Dr. Kolb, der Redakteur der Augsburger Allgemeinen, Pro¬
fessor Fucltcl aus Bern, Heinrich König, Franz Dingclstädt, Wild-im von Lüdemann,
Advokat Qeltkcr (Redakteur des Salons), Ein spekulativer, deutscher Buchhändler
hätte hier nur sein Netz in die Nordsee zu werfen brauchen nud er hätte manchen
Fisch herausgezogen, dessen Schuppe» und Floßfedern im Mcßkatalogc wohl bekannt
sind. Manch- der erwähnten Herren machten ihre gegenseitige Bekanntschaft hier zum
ersten Mal _ milde» i» der See. Die Verbeugungen gescliabcn mit triefenden Haaren
und sprudelndem Munde. Man konnte einander um so leichter entgegenkomme», als
man einander cntgcgcnschwamm. Lridcr sind solche Kälte selten. Unsere Literatur trifft
Note: D. Red. sich viel häufiger im Süsiwasscr als im Salzwasser.
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') Wir glauben »och immer, c» war kein Druckfehler.
21
*) Wir wissen sell'se den natürlichen, historischen Fortschritt sehr wohl von dem
forcirten und illusorische» z» und-rschciden, «ver man treibt gar z» großen Mißbrauch
Note: Am». ». E. mit den Worte».
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Herausgegcvcn von v,-. R. Marggraff. Zw-leer Jahrgang. München l8iZ.
Mit artistischen Beilagen.
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*) Diese erhalten zwar Löhnung und Kleidung, sind aber weder unifor-
mirt, noch bewaffnet, noch beritten.
24
*) Einen Beleg hiefür bietet die Spitzenfabrikation in England, die vor
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Ersindung des Wcrkstuhls nur etwa 2VVV Personen beschäftigte während sie
Note: ,
A. d. Aerf.
jetzt 20VVV0 Arbeitern Brod giebt.
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*) Wir geben hier einige Auszüge aus einem trefflichen Buche, welches
vor Kurzem unter dem Titel: „Herinneringen en Mcdcdeilingen van neuem
Landschcip-Schilder door B. C. Koekkoer" in Amsterdam erschienen ist.
brauchen wohl unsern Lesern nicht erst zu sagen, welchen hohen Rang der Ver¬
fasser in dem Reiche der lebenden Künstler einnimmt. Diejenigen, welche we¬
der ein Bild von Kockkock noch seine Würdigung in dem großen Werke des
Grafen Raczynski zu Gesicht bekamen, müssen wir auf das Conversationslcri-
kon der Gegenwart verweisen. Wenn Holland stolz auf den Künstler Koekkoek
ist und seine Bilder in gewisser Beziehung noch höher als die vieler alten be¬
rühmten Meister stellt, so rühmt der Reisende zugleich den Menschen und die
Lesewelt den Schriftsteller.
27
*) Nicht Note: D- R. vom Verfasser der beschaulichen Briefe aus Oesterreich.
28
^) Also nicht Herrn von Hammer.
29
*) Wir können nicht umhin, bei dieser Gelegenheit aus dem Werke des
Grafen Balerian Krasinsky „über die Geschichte der Reformation in Polen
u. s. w," eine hierher bezügliche Stelle unsern Lesern mitzutheilen. Sie lau¬
tet folgendermaßen: „Warum eiferte Rom gegen die Empörung katho¬
lischer Polen gegen den griechischen Herrn, da es doch nie gegen die Em¬
pörung Hegen lutherische oder calvinistische Herrn geeifert?" Und er sucht dies
folgendermaßen zu beantworten: ,Rom sieht mit seinem gewöhnlichen Scharf¬
blick, welche Gefahr seiner Herrschaft in Polen droht, wenn das Land wieder
„ein unabhängiger Staat werden sollte. Daher das bekannte Schreiben, das
„Gregor XVI. im Jahre 1832 an die polnischen Bischöfe richtete und worin
„er den Aufstand in den stärksten Ausdrücken verdammte. Dieses Schreiben
„bezieht sich auf ein anderes von gleichem Inhalt, das während des Kampfes
„abgesendet ward, aber, wie der Papst klagt, nicht an seine Bestimmung ge¬
langte. Diese Klage scheint nicht ganz gegründet zu sein, und obgleich das
„päpstliche Schreiben nicht veröffentlicht worden ist, so muß es doch unter der
„Geistlichkeit in Umlauf gekommen sein, da es eine bekannte Thatsache ist, daß
„die dem römischen Stuhle besonders ergebenen Mönche von dem Missionsorden
„den polnischen Soldaten die Lossprechung im Beichtstuhle versagten, weil sie
„gegen den Kaiser von Rußland gefochten hatten. Ubbo Lameiuiais behauptet
„in seiner bekannten Schrift: ^Mires <!v uvae, der Papst habe, besorgt, daß
„Oesterreich sich der Legationen bemächtigen möchte, von Rußland eine Gewähr¬
leistung jener Theile seines Gebietes erlangt, unter der Bedingung, daß das
„Schreiben an die Bischöfe erlassen werden sollte. Der Papst hatte allerdings
„Ursache, den glücklichen Erfolg des polnischen Aufstandes zu fürchten, da meh¬
rere jüngere Geistliche sich über einen Plan zur Befreiung und Verbesserung
„der polnischen Kirche verständigt hatten, der auf den Grundlagen ruhte, daß
„eine gänzliche Trennung von Rom erfolgen, die Landessprache bei dem Got¬
tesdienste eingeführt, die Priesterehe gestattet, die Hierarchie beibehalten, der
„Lehrsatz von der Brodverwandlung und der Ohrenbeichte dem Gewissen jedes
„Einzelnen überlassen werden sollte."
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*) So eben kommt uns die letzte Nummer der Kölnischen Zeitung zu,
worin wir aus Schwaben berichtet finden, das Petersburger Cabinet habe sich
beim bairischen Hofe über die Augsburger Allgemeine Zeitung beschwert, weil
sie es gewagt, die Allocution des Papstes zu veröffentlichen.
Einen besseren Beweis von der Wahrheit der Behauptungen unseres Peters¬
burger Correspondenten, konnte die russische Regierung nicht geben.
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*) Warum nicht gar? Wir ehren und theilen die Sympathien unseres
verehrten Herrn Corrcspondencen für das unglückliche Polen; seinen, politi¬
schen Combinationen können wir jedoch nicht beistimmen.
32
Durch die Tropfstein-Höhle von Heu, die dieser Bach durchflics-t.
'
33
^) Einige Tage darauf trat noch eine andere Ursache ein, um diese Be¬
stürzung unter der Kaufmannschaft zu erhöhen, da der Verstorbene durch seine
unbegrenzte Wohlthätigkeit seine Vermögensumstände in Zerrüttung hinter¬
ließ ; doch hat seine Familie Alles auf das ehrenvollste geordnet. Zu bedauern
ist es nur, daß durch dieses Unglück mehrere hundert Personen, welche dieser
thätige Jndustriel beschäftigt hatte, arbeitslos geworden sind. Diese Fabrik¬
arbeiter, Drucker, Färber :c. sind vielleicht der unruhigste Theil unserer Be¬
völkerung und die Behörde sieht nicht gleichgültig diese Horden durch die
Wirthshäuser brodlos schweifen. Die letzten Vorfälle in Liverpool und Man¬
chester sind ernste Mahner. Was würde aus diesen Leuten bei einem ZoUan-
schlufi werdend)
34
Unser werther Herr Korrespondent beantwortet sich ja diese Frage
selbst, in seinen folgenden Zeilen. Ein Land wie Böhmen, das auf!.>57 Qua-
dratmeilen kaum 4 Millionen Einwohner zählt, das einen so unschätzbaren,
nicht zur Hälfte ausgebeuteten Reichthum an Naturproducten be¬
sitzt, ist nicht auf die Industrie einiger Cattunfabrikcn angewiesen. Die indu¬
strielle Zukunft Böhmens liegt in seinen Wäldern und Feldern, in seinen Ber¬
gen und Gruben. Mag auch el» Zweig seiner Industrie bei dein Anschluß
an den Zollverein leiden, zwanzig andere werden dagegen aufblühen. Doch
i» einer Redactionsnote ist der Platz nicht zur Beleuchtung einer für Oester¬
reich, Böhmen und Deutschland so wichtigen Frage. Wir müssen den geehrten
35
Lcser auf die nächsten Hefte dieser Revue verweisen, wo diesem Gegenstand
«» passenderer Raum angewiesen ist.
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Man lacht selbst hier über jenen alten mecklenburgischen bürgerlichen
Gutsbesitzer, der vor einigcnJahrcn es plötzlich für nöthig fand, cinmalausden
Landtag zu steigen, dort im Borsaal die reichgallonirten Diener der Grafen
Hahn :c. vorfand, und nicht anders glaubte, als mitten in der famosen Stan¬
desversammlung zu sein. Dies war indes» Einer vom anvien i'ueiiii-z, unsre,
neuere Generation hier soll entschieden bessere Begriffe über Landtagsversamm¬
lungen und ihre c^-ita haben.
37
*) Ein in ganz entgegengesetztem Sinne sich aussprechender Aufsatz, den
die Grenzboten in einer ihrer nächsten Lieferungen bringen werden, weist mit
überwiegenden Gründen die Vortheile nach, die Oesterreich ftrbst on6 einem
Note: D. Red. Anschlusse an den Zollverein erwachsen würden. —
38
Was das letztere betrifft, so könnten die frommen Cölner sich behaglich
den Bauch streicheln und mit gottseliger Blicken ausrufen: So haben wir es
auch gemacht!
39
*) Dieses Wort bedeutet im Lithauischen ein zu Ehren der Todten ge¬
feiertes Volksfest; und in diesem Sinne hat es der Dichter gebraucht; seine
Note: Anm. d. Verf. wörtliche Bedeutung ist „die Ahnen."
40
*) Eine interessante, den Geist der Zeit charakterisirende, literarische Er¬
scheinung däucht uns das Zusammentreffen dieses Buches mit zwei andern
Werken, die um dieselbe Zeit, in ähnlichem Styl und mit gleicher, freilich nach
der Individualität der Verfasser verschieden nüancirter, historisch-philosophischer
Tendenz geschrieben wurden. Wir meinen das in Deutschland nur wenig be¬
kannte, aber sehr bedeutende Werk des tiefsinnigen Theosophcn Vallanche,
das unter dem Titel IIeI>aI kurz vor dem Mickiewicz'schen erschien und die
darauf veröffentlichten p-n-olss <>'un n'v^ut von Lamennais.
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Man sehe unter anderen mehrere Artikel i>ro et contra in der Köl¬
nischen Zeitung vom November d. I. Wer sich übrigens über diese ganze
Angelegenheit, die auch für Deutschlands unglückliche Auswanderer von höchster
Wichtigkeit werden kann, weiter belehren will, den verweisen wir auf eine
kleine Schrift, die nächstens unter dem Titel: „Belgische Compagnie zur Ko¬
lonisation des Districtes Santo Thomas in Guatemala" in Dresden in der
Waltherschen Hofbuchhandlung erscheinen wird. Sie ist nach den offiziellen
Dokumenten der Compagnie gearbeitet und giebt einen gedrängten Auszug
über die ganze Angelegenheit. Zugleich sind darin die Agenten der Compagnie
genannt, bei denen man sowohl die bisherigen sämmtlichen Berichte, Sta¬
tuten, Reglements und andern Publicationen des Vereins als auch jede an¬
dere Auskunft über die Sache erhalten kann. Von den Statuten und den,
wie wir im Verlaufe dieses Aussatzes ausführlich darthun werden, überaus
wichtigen und eigenthümlichen Reglements wird ebenfalls eine getreue deutsche
Note: Anm. d. Verf. Uebersetzung vorbereitet.

Dieses Werk ist gemeinfrei.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
dta@bbaw.de Die Grenzboten Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW) Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin Germany

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2017). Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.. Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.. Grenzboten. dta@bbaw.de Die Grenzboten Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW) Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin Germany. https://hdl.handle.net/21.11113/0000-000B-C285-3